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SONDERHEFT 22 WISSENSSOZIOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON NICO STEHR UND VOLKER ME] A
WESTDEUTSCHER VERLAG
Prof. Dr...
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I
SONDERHEFT 22 WISSENSSOZIOLOGIE
HERAUSGEGEBEN VON NICO STEHR UND VOLKER ME] A
WESTDEUTSCHER VERLAG
Prof. Dr. Friedhelm Neidhardt, Universität zu Köln, und Prof. Dr. Peter Christian Ludz t unter Mitwirkung von Prof. Dr. Günter Albrecht , Universität Bielefeld, Prof. Dr. Fritz Sack, Universität Hannover und Prof. Dr. Alphons Silbermann, Universität zu Köln Redaktionssekretär: Heine von Alemann , Forschungsinstitut für Soziologie der Universität zu Köln © 1981 by Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
REDAKTIONELLE BEMERKUNGEN Die Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie ist eine neue Folge der von 1921 bis 1934 in zwölf Jahrgängen erschienenen Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, deren erste beiden Jahrgänge unter dem Titel Kölner Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaft erschienen. Dieser 32. Jahrgang der "Zeitschrift" bildet in der Reihenfolge der "Vierteljahrshefte" den 44. Jahrgang. Alle redaktionellen Zuschriften und Sendungen bitten wir nur an die Redaktion der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Lindenburger Allee 15, D-5000 Köln 41, zu richten. Geschäftliche Zuschriften, Anzeigenaufträge usw. werden nur an den Westdeutschen Verlag, Postfach 5829, D-6200 Wiesbaden, erbeten. Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 10 vom 1. Januar 1976. Wir bitten, alle Besprechungsexemplare der neu erschienenen Werke der Soziologie und auch aus dem engeren Kreis der Nachbarwissenschaften nur an die Redaktion zu senden. Die Auswahl der Arbeiten zur Rezension behält sich die Redaktion vor. Rücksendungen unverlangter Bücher können nicht vorgenommen werden. Merkblätter für die Erstellung druckreifer Manuskripte stellt die Redaktion auf Anfrage zur Verfügung. Unverlangt eingesandte Manuskripte werden nicht zurückgeschickt. Alle Autoren sind daher gebeten, eine Kopie ihrer Arbeit für die eigenen Akten zurückzubehalten. - Jährlich erscheinen vier Hefte im Gesamtumfang von ca. 800 Seiten. Der Bezugspreis beträgt für das Einzelheft DM 32,-, Jahresbezugspreis DM 104,-, Jahresabonnement für Studenten gegen Studienbescheinigung DM 59,-, jeweils zuzüglich Versandkosten. Die angegebenen Bezugspreise enthalten die Mehrwertsteuer. Das Sonderheft des laufenden Jahrgangs wird je nach Umfang berechnet und den Jahresabonnenten bei Bezug im Jahr des Erscheinens mit einem Nachlaß gegen gesonderte Rechnung als Drucksache geliefert. Die Hefte sind durch jede Buchhandlung oder direkt beim Verlag zu beziehen. Bei Abbestellungen gilt eine Kündigungsfrist von 6 Wochen vor Jahresende. Die in der Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikrofilm oder andere Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder auf ähnlichem Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopien hergestellt werden. Jede im Bereich eines gewerblichen Unternehmens hergestellte oder benützte Kopie dient gewerblichen Zwecken gemäß § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Goethestr. 49, 8000 München 2, von der die Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Druck und Buchbinderei: Lengericher Handelsdruckerei, 4540 Lengerich/Westf. Die "Kölner Zeitschrift" wird in den folgenden Informationsdiensten erfaßt: Social Science Citation Index und Current Sociology, des Institute for Scientific Information (325 Chestnut Street, Philadelphia, Pa. 19106, USA); sociological abstracts (P.O. Box 22206, San Diego, Ca. 92122, USA); Bulletin Signalhique (Centre de Documentation Sciences Humaines, 54, Bd. Raspail, B.P 140, 75260 Paris); prd, Publizistikwissenschaftlicher Referatedienst (Institut für Publizistik und Dokumentationswissenschaft, Hagenstr. 56, 1000 Berlin 33); SRM, social research methodology abstracts (SRM-Documentation Centre, P.O. Box 1738, 3000 DR Rotterdam, Niederlande). Bestell-Nr. 11540
ISBN 3-531-11540-5
I. Teil: Einleitung Wissen und Gesellschaft. Von Prof. Dr. Nico Stehr, Edmonton, und Prof. Dr. Volker Meja, Toronto
7
lI. Teil: Zur Grundlegung der Wissenssoziologie Klassifikation und Wissenssoziologie: Durkheim und Mauss neu betrachtet. Von Dr. David Bloor, Edinburgh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
Wissen und Nutzen. Implikationen für die Wissenssoziologie. Von Dr. Michael Mulkay, Heslington, York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
52
IlI. Teil: Wissenssoziologie, Erkenntnistheorie und Philosophie Zur Strategie einer Soziologie der Erkenntnis. Von Prof. Dr. Günter Dux, Freiburg i. Br. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
73
Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn: Zur Genese von Wissenschaft. Von Prof. Dr. Niklas Luhmann, Bielefeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102
Die Eigenart der Geschichtsphilosophie aus der Sicht der Wissenssoziologie. Von Prof. Agnes Heller, Ph. D., Victoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
Wissenssoziologie der Naturwissenschaften: Bedingungen und Grenzen ihrer Möglichkeit. Von Dr. Gad Freudenthai, Paris . . . . . . . . . . . . . . . . .
153
IV. Teil: Theoretische Perspektiven in der Wissenssoziologie Über den konventionellen Charakter von Wissen und Erkenntnis. Von B. S. Barnes, Edinburgh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
Die dreifache Legitimation. Ein Modell für eine Soziologie des Wissens. Von Dr. Gerard Namer, Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191
Soziokulturelle Evolution. Ein epistemologisches Modell für die Analyse menschlicher Geschichte. Von Prof. Bernd Baldus, Ph. D., Toronto . . . . . . . . . . "
206
V. Teil: Wissen und Macht
Über Kultur und Macht: Die moderne Kultivierung des Wissens. Von Prof. Juan E. Corradi, Ph. D., New York . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
268
Gedankliche Realität und gesellschaftliche Macht. Von Prof. Dr. Johannes Weiß, Duisburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
286
VI. Teil: Geschichte und Kritik der Wissenssoziologie Wissenssoziologie als Selbstkritik. Von Prof. Dr. Werner Stark, Salzburg
303
Saint-Simon als Wissens- und Wissenschaftssoziologe. Von Prof. Dr. Richard Martinus Emge, Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
317
Gedanken zu Max Schelers "Erkenntnis und Arbeit". Von Prof. Dr. Kurt H. Wolff, Waltham, Mass. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
335
Max Scheler: Eine wissenssoziologische Alternative. Von Dr. Ilja Srubar, Konstanz ...
343
Mannheims Wissenssoziologie und C. W. Mills' soziologisches Wissen. Von Prof. Irving L. Horowitz, Ph. D., New Brunswick, N. J. . . . . . . . . . . . . . . . . ..
360
Lucien Goldmann als Leser Karl Mannheims. Von Prof. Dr. Joseph Gabel, Paris
384
VII. Teil: Empirische Wissenssoziologie Kausalität, Anschaulichkeit und Individualität. Oder: Wie Wesen und Thesen, die der Quantenmechanik zugeschrieben, durch kulturelle Werte vorgeschrieben wurden. Von Dr. Paul Forman, Washington . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
393
Strukturen des Wissens: Dinge, Geld, Personen. Von Prof. Robert Cumming, Ph. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. D., New York ...
407
Das Ideologieproblem 1D der Kunstsoziologie. Eine Fallstudie über Manchester im 19. Jahrhundert. Von Dr. Janet Wolff, Leeds . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
428
Wissenschaftliches und lebensweltliches Wissen am Beispiel der Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe. Von Prof. Dr. Gernot Böhme, Darmstadt
445
Zur Soziologieder formalen Logik. Von Prof. Dr. W. Baldamus, Leeds
464
WISSEN UND GESELLSCHAFT* Von Nico Stehr und Volk er Meja
Die Wissenssoziologie ist gerade heute ein in vieler Hinsicht eigenartiges und eher untypisches Spezialgebiet der Soziologie l . Spätestens seit Ende der zwanziger Jahre ist sie zwar ein unbestrittener Bestandteil der Soziologie, mehr als die Fragestellungen anderer soziologischer Spezialgebiete treffen die von der Wissenssoziologie aufgeworfenen Fragen jedoch auf das kritische Interesse einer Vielzahl sozial- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen. Fast in jedem Lehrprogramm oder allgemeinen soziologischen Text findet die Wissenssoziologie in irgendeiner Form Berücksichtigung. Oder noch genereller formuliert, die Wissenssoziologie repräsentiert eine Art "kopernikanische Revolution" in der Analyse kultureller Produkte. Gleichzeitig kann aber kein Zweifel darüber bestehen, daß sie bei aller, in vielen Fällen natürlich nur oberflächlichen Anerkennung als legitimer Bestandteil der Soziologie eine im Vergleich insbesondere zu den grundlegenden Spezialgebieten der Soziologie abweichende Position einnimmt. Dazu gehört etwa die Beobachtung, daß die intellektuelle Entwicklung der Wissenssoziologie über lange Zeitabschnitte eindeutig stagnierte, daß sich die Zahl der an der Wissenssoziologie interessierten Soziologen, gemessen am Wachstum der Soziologie insgesamt, in den vergangenen drei Jahrzehnten kaum entscheidend verändert hat 2 ; kurz, daß die Wissenssoziologie sich in eine Richtung entwickelte, in der sie eigentlich zunehmend nur von historischem Interesse war. Ein nicht leicht von der Hand zu weisender Eindruck ist deshalb, daß sich die Wissenssoziologie irgendwie selbst erschöpft hat, und zwar lange bevor sie ihr umfassendes Programm überhaupt erst einlösen konnte. Diese vorläufigen Feststellungen zum gegenwärtigen Stellenwert der Wissenssoziologie machen schon deutlich, daß die Ausdifferenzierung der Wissenssoziologie, ihre Ge•
Oie Herausgeber möchten an dieser Stelle einer Anzahl von Personen und Institutionen danken, ohne deren tatkräftige Unterstützung das Sonderheft in dieser außergewöhnlich kurzen Vorbereitungszeit nicht hätte fertiggestellt werden können. Unser keineswegs nur ritueller Dank gilt in erster Linie allen Mitarbeitern und übersetzern, die uns geholfen haben, diesen Band termingerecht fertigzustellen. Wir sind einer Reihe von Kollegen im In- und Ausland zu Dank verpflichtet, die uns als Gutachter unterstützt haben. Gleichzeitig war die Unterstützung der University of Alberta, der Universität Konstanz und der Memorial University of Newfoundland, insbesondere ihrer Fachbereiche für Soziologie, von großem Wert. Wir müssen außerdem Johann Nonac für seine technische Hilfe danken. Unser besonderer Dank gilt jedoch Professor Dr. Rene König, der nicht nur unsere Idee eines Sonderheftes zur Wissenssoziologie bereitwillig förderte, sondern auch wie immer bei der Realisierung des Bandes großzügig Hilfe leistete und uns die Arbeit entscheidend erleichterte.
menfassend zu diskutieren, die unserer Ansicht nach mit der bisherigen eigenartigen Entwicklung der Wissenssoziologie zusammenhängen und möglicherweise auch erklären helfen, warum es gegenwärtig eine Art Renaissance der Wissenssoziologie gibt. Das vorliegende Sonderheft ist, so glauben wir, ein Dokument und ein Beweis für diesen sich abzeichnenden, entscheidenden Umschwung in der intellektuellen Entwicklung der Wissenssoziologie. Da die verschiedenen Beiträge für sich selbst sprechen können und sollen, benutzen wir unsere einleitenden Bemerkungen, um näher auf die ungewöhnliche Geschichte der Wissenssoziologie einzugehen. Ohne uns strikt an eine der vielen Theorien der Entwicklung der Wissenschaft, wissenschaftlicher Disziplinen oder wissenschaftlicher Spezialgebiete zu halten 3 , greifen wir eine Reihe charakteristischer Merkmale der Wissenssoziologie heraus, um anhand dieser Merkmale den angedeuteten eigenartigen Verlauf und Stand der Wissenssoziologie kurz zu skizzieren. Ziel dieser Untersuchung ist außerdem aufzuzeigen, wie die Wissenssoziologie bestimmte Ausprägungen dieser Merkmale überwinden, d. h. den eigenartigen Verlauf ihrer Entwicklung verändern kann, um wieder zu einer lebendigen, dynamischen Kraft sowohl in der Soziologie wie darüber hinaus zu werden. Folgende Charakteristika der Wissenssoziologie sind hierbei von Interesse: 1. Die Entstehung der Wissenssoziologie sowie ihre intellektuelle Entwicklung und institutionelle Verankerung in der Soziologie; 2. die damit in engem Zt:sammenhang stehende Dogmengeschichte der Wissenssoziologie, wie man sie etwa in Textbüchern, Essays oder Aufsätzen findet, in denen versucht wird, einen Überblick über Entwicklung und Stand der Wissenssoziologie zu geben; 3. das Paradigma der Wissenssoziologie, d. h. die Struktur der für die Wissenssoziologie charakteristischen Fragesrellungen\ 4. die Grenzen und 5. die Möglichkeiten der Wissenssoziologie. Es geht uns zunächst darum, den Stand der Ansichten in der Wissenssoziologie zu jedem dieser Punkte zu referieren. Die besondere Ausprägung der Ansichten und Meinungen von Wissenssoziologen im engeren Sinn sowie von anderen Wissenschaftlern, die sich zur Wissenssoziologie geäußert haben, machen den eigenartigen Verlauf und gegenwärtigen Stand der Wissenssoziologie aus. An diese Bestandsaufnahme soll sich unsere Kritik an der dominanten Rekonstruktion der Wissenssoziologie in den vergangenen Jahrzehnten anschließen. Um eines der auffallendsten und wichtigsten Ergebnisse unserer Beschreibung der Rekonstruktion der Wissenssoziologie vorwegzunehmen: besonders verblüffend ist der relativ große Konsensus, den man zwischen den von verschiedenen Autoren verfaßten Rekonstruktionen des Entwicklungsstandes der Wissenssoziologie konstatieren kann s. Zumindest gilt dies bis in die jüngste Zeit. Der Konsensus in der Wissenssoziologie ist natürlich bei weitem nicht perfekt, dennoch ist die Übereinstimmung in Hinblick auf eine Reihe grundlegender Fragen der Wissenssoziologie im Vergleich zu anderen soziologischen Fachgebieten einmal über einen relativ großen Zeitraum aufrechterhalten worden und zum anderen fällt sie sehr viel eindeutiger aus. Eine Rekonstruktion der wichtigsten Eigenschaften der Wissenssoziologie läßt sich anhand einiger ausgewählter enzyklopädischer Artikel exemplifizieren, die ihrerseits das
gewichte bei der Schilderung der Eigenarten, Erkenntnisse, Grenzen und Möglichkeiten der Wissenssoziologie. Es fällt auf, daß sich die verschiedenen Autoren in erster Linie mit der Dogmengeschichte der Wissenssoziologie befassen. Ein weiteres deutliches Schwergewicht liegt auf der Beschreibung der Integration wissenssoziologischer Fragestellungen in andere soziologische Forschungsgebiete, wie zum Beispiel Rollentheorie, Massenkommunikationsforschung, Berufssoziologie, Religionssoziologie, Organisationssoziologie und Sozialpsychologie. Weitgehend unberücksichtigt bleiben dagegen traditionelle oder klassische Probleme der Wissenssoziologie, wie ihre erkenntnistheoretische Problematik oder Ansprüche in dieser Hinsicht, das Problem ideologischen Denkens, das Relativismusproblem, die Rolle bestimmter Wissensträger oder die historische Entwicklung von verschiedenen Wissensformen. Hierbei wird insbesondere die erkenntnistheoretische Problematik nur am Rande gestreift.
1. Die Entwicklung der Wissenssoziologie
Es fällt nicht nur auf, daß die verschiedenen Rekonstruktionen der Wissenssoziologie relativ große Übereinstimmung in dem zeigen, was sie zur und von der Wissenssoziologie berichten, sondern es hat auch den Anschein, als sei man sich darüber hinaus einig, daß bestimmte Fragen nur beiläufig oder Überhaupt nicht behandelt werden sollten. Zu den Fragen, denen nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt wird, gehört, wie wir noch ausführlicher . beschreiben werden, die mögliche erkenntnistheoretische Problematik der Wissenssoziologie. Fast unberücksichtigt bleibt die reflexive Beschäftigung mit den gesellschaftlichen Bedingungen, die die Entwicklung und die Möglichkeit der Wissenssoziologie beeinflussen. Karl Mannbeim verdanken wir eine detaillierte Schilderung der gesellschaftlichen Umstände und Prozesse, die die Entstehung, Ausdifferenzierung und den hohen Aufmerksamkeitsgrad, den man der Wissenssoziologie dann schenkte, bewirkten. Eine analoge Untersuchung der sozialen Bedingungen, die sich auf die daran anschließende Phase der Entwicklung der Wissenssoziologie ausgewirkt haben mögen, fehlt in den von uns analysierten Rekonstruktionen der Wissenssoziologie, obgleich es einen gelegentlichen Hinweis darauf gibt, daß diese Problematik zumindest relevant sein könnte. So fragt Robert K. Merton zum Beispiel, warum die in Deutschland begründete Wissenssoziologie in Amerika überhaupt Fuß fassen konnte, zumal die Rezeptionsbereitschaft amerikanischer Sozial- und Geisteswissenschaftler nicht allein durch die nach Beginn der Naziherrschaft eintretende Emigration deutschsprachiger Soziologen in die USA zu erklären ist. Merton behauptet deshalb, daß "American thought proved receptive to the sociology of knowledge largely because it dealt with problems, concepts, and theories which are increasingly pertinent to our contemporary social situation, because our society has come to have certain characteristics of those European societies in which the discipline was initially developed ,,7.
sozialen und ökonomischen Umständen sowie das sich an diese Periode anschließende und relativ lang anhaltende wirtschaftliche Wachstum deuten auf entgegengesetzte Umstände hin. Das heißt, die von Merton beschriebenen oder auch nur antizipierten sozialen Konflikte wurden zunächst einmal zu sekundären gesellschaftlichen Charakteristika. Dies gilt natürlich auch für die Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus ist es zweifellos besonders wichtig, nicht zu übersehen, daß die Diffusion und Rezeption der Wissenssoziologie nach und in Nordamerika nicht etwa als ein Prozeß ablief, der die Wissenssoziologie und das sich von ihr entwickelnde Bild unbeeinflußt gelassen hat. Vielmehr involviert diese Diffusion und Rezeption der Wissenssoziologie eine Transformation der Wissenssoziologie. Es muß nicht besonders betont werden, daß der Beginn der Naziherrschaft in vieler Hinsicht eine entscheidende Zäsur für die Wissenssoziologie bedeutet. Weniger Aufmerksamkeit hat dagegen die Tatsache der Transformation der Wissenssoziologie, insbesondere in den USA, gefunden, sowie die später folgende Rezeption der Wissenssoziologie in der Bundesrepublik, die ihrerseits diese Transformationen mit weniger auffälligen eigenen Änderungen übernahm. Schon deshalb kann man, bisher jedenfalls, einen relativ großen Konsensus in der Einschätzung der Wissenssoziologie in beiden Ländern konstatieren. Die hier angesprochene Transformation im Rezeptionsprozeß beginnt relativ früh, d. h. spätestens mit den einflußreichen Besprechungen der englischen Ausgabe von Mannheims "Ideologie und Utopie" durch Hans Speier im American Journal of Sociology und Alexander von Schelting in der American Sociological Review sowie Talcott Parsons' Besprechung des Buches "Max Webers Wissenschaftslehre" von Alexander von Schelting in der American Sociological Review Mitte der dreißiger Jahre. In diesen Besprechungen finden sich erste wichtige Anzeichen für den Versuch einer "Normalisierung" der Wissenssoziologie als soziologisches Spezialgebiet.
II. Dogmengeschichte Während die üblichen Texte zur Dogmengeschichte der Soziologie überaus große Unterschiede u. a. darüber aufweisen, wann die Soziologie als Soziologie entstanden ist, wer zu den wichtigsten oder weniger bedeutenden Theoretikern gehört, welche Forschungsergebnisse signifikant oder auch welche Fragestellungen von Wichtigkeit sind und wie eine Antwort auf diese Fragen strukturiert sein muß, fällt demgegenüber auf, daß die Rekonstruktion der intellektuellen Entwicklung der Wissenssoziologie offenbar weitgehend unproblematisch ist. Zwar geht der beobachtete Konsensus nicht so weit, daß eine Dogmengeschichte mit der anderen identisch ist; dennoch ist der Grad der Übereinstimmung umfassend. Konkret bedeutet dies, daß die intellektuelle Entwicklung der Wissenssoziologie, grob unterteilt, als iR drei Phasen stattfindend dargestellt werden kann.
reitern der Wissenssoziologie zählt man allgemein Francis Bacon, Auguste Comte, Karl Marx, aber auch Friedrich Nietzsehe, Vilfredo Pareto und Sigmund Freud 8 . Die zweite Phase umfaßt die Begründung der Wissenssoziologie als ein identifizierbares, selbständiges geisteswissenschaftliches Spezialgebiet durch Max Scheler und Karl Mannheim in Deutschland und wesentlich früher durch Emile Durkheim, Lucien Levy-Bruhl und Marcel Mauss in Frankreich. Auf die Phase der Begründung der Wissenssoziologie folgt eine weitere Entwicklungsphase, die in den von uns untersuchten Texten deutlich erkennbar ist, und zwar könnte man diese, durch die auf die Gründer folgende Generation bestimmte Phase die Phase der Normalisierung nennen. In dieser, in mancher Hinsicht bis in die Gegenwart andauernden Entwicklungsphase wird das Erkenntnisobjekt der Wissenssoziologie immer restriktiver ausgelegt, werden die Außenbeziehungen der Wissenssoziologie durch die Disziplin vermittelt (d.h. sie sind und sollen nicht mehr unmittelbare Beziehungen sein), wird eine Reihe von ursprünglich als relevant angesehenen Fragen als soziologisch nicht relevante Problemstellung ausgeklammert und arbeitsteilig anderen Fachgebieten zugewiesen oder überlassen; nicht zuletzt gehört zu dieser Phase die Einsicht, daß man eine Anzahl ursprünglich schwieriger, offener Fragen zu einer Lösung gebracht hat. Von nicht unerheblicher, fördernder Bedeutung für die Normalisierung der Wissenssoziologie ist der zu dieser Zeit vorherrschende Wissenschaftsbegriff, der den kognitiven Gehalt der Wissenschaft in erster Linie unter logischen und nicht historischen Gesichtspunkten interpretierte. Der besondere erkenntnistheoretische Status, den man wissenschaftlichem Wissen zuerkannte, führt natürlich dazu, daß Wissenschaft für die Wissenssoziologie zu einem speziellen Fall wurde. Erst in jüngster Zeit kommt es hier zu einer radikalen Neuorientierung in der Wissenssoziologie, und zwar wiederum aufgrund von erkenntnistheoretischen Arbeiten, die eine Revision des herkömmlichen Begriffs wissenschaftlichen Wissens umfassen. In vielen Fällen wird das Vokabular der Erkenntnistheorie zunehmend soziologisch. Jüngste Entwicklungen in der Wissenssoziologie werden sicher dazu führen, daß man sich erneut intensiv mit der Dogmengeschichte der Wissenssoziologie befaßt, sie möglicherweise in anderer Weise interpretiert. Auf jeden Fall wird man sich jedoch zumindest erneut für die Dogmengeschichte der Wissenssoziologie interessieren und sich fragen müssen, ob die in der Normalisierungsphase entstandenen Interpretationen revidiert werden müssen 9 .
III. Paradigma der Wissenssoziologie In fast allen Rekonstruktionen des Paradigmas der Wissenssoziologie, also der Struktur ihrer zentralen Fragestellungen, herrscht Übereinkunft, daß sich die Wissenssoziologie, und häufig ist dies bewußt ambivalent formuliert, mit der Seinsverbundenheit des Denkens befaßt oder, wie es einer der von uns analysierten Aufsätze beschreibt, mit der "Erforschung der zwischen Wissen und Gesellschaft bestehenden Relationen" 10.
Bedeutung und der Konsequenzen der Wissenssoziologie ist, so scheint es, eine der von Soziologen verwendeten Strategien der Legitimation, um die Wissenssoziologie als Wissenssoziologie akzeptabel zu machen 12. Mit anderen Worten, da sich die Wissenssoziologie wie jede andere Bindestrichsoziologie letztlich nur dadurch auszeichnet, daß sie ein besonderes Forschungsobjekt behandelt, ist jeder darüber hinausgehende Anspruch des Fachgebiets von vornherein ausgeschlossen. Zu diesen umfassenderen Ansprüchen und Konsequenzen der Wissenssoziologie gehört etwa die von Karl Mannheim generell für die Soziologie aufgestellte programmatische Forderung nach einem gleichberechtigten Zusammenwirken von Soziologie und Philosophie 13 (ähnliche Forderungen hat Mannheim auch speziell für die Wissenssoziologie vorgebracht). In der Antwort auf eine Kritik seiner soziologischen Programme schreibt Mannheim zum Beispiel: "Darin liegt aber das ganz Entscheidende, daß diese fast für alle jetzt lebenden Menschen bestehende Möglichkeit, das Weltbild zu erweitern und sich dabei der Methode der Soziologie zu bedienen, in Deutschland den Boden dieser einzel wissenschaftlichen Fragestellung am Ende durchstößt und die im engeren Sinn soziologische Problematik sich selbst in zwei Richtungen transzendiert: in der Richtung der Philosophie und in der Richtung der politisch aktiven Weltorientierung 14."
Und direkt auf die erkenntnistheoretische Relevanz der Wissenssoziologie eingehend, fordert Mannheim zum Beispiel: "über die Eigenart dieses (traditionellen) Wahrheitsbegriffes und über die jeweilige Erkenntnistheorie vermag die Wissenssoziologie eine eigentümliche Tatsachenbeobachtung mitzuteilen, deren erkenntnistheoretische Relevanz jede künftige Erkenntnistheorie zum Gegenstande ihrer überlegungen wird machen müssen lS."
Charakteristisch für die Rekonstruktion der Wissenssoziologie durch die Generation von Wissenssoziologen, die auf die Generation der Begründer der Wissenssoziologie folgte, ist daher die Begrenzung des Paradigmas der Wissenssoziologie, die Zurücknahme der Generalformel über den Objektbereich der Wissenssoziologie, und dies trotz der dabei auftretenden Widersprüche. So kann man zum Beispiel kaum gleichzeitig behaupten, daß das Forschungsobjekt der Wissenssoziologie nur eine Art Bindestrichsoziologie zur Folge hat bzw. aus der Sicht einer Bindestrichsoziologie betrieben werden kann, und davon sprechen, daß die Wissenssoziologie generell die Erforschung der Relation von Wissen und Gesellschaft zum Ziel hat: Der Zusammenhang von Denken im weitesten Sinn oder Kultur und sozialen Prozessen ist konstitutiv für menschliches Denken und Handeln. Damit im Zusammenhang stehende Fragen, wie etwa nach den sozialen Bedingungen abweichenden Verhaltens oder der Entwicklung bürokratischer Organisationen, können also wohl kaum den gleichen Stellenwert und die gleiche Konsequenz für die soziologische Theorie und Forschung haben. Die Bedeutung wissenssoziologischer Fragestellungen kann selbst bei oberflächlicher Betrachtung nicht auf den Status "abhängiger" theoretischer Fragestellungen sogenannter Bindestrichsoziologien reduziert werden. Im Gegenteil, die Wissenssoziologie kann eigentlich nur dann erfolgre!ch
"Es kann ... keineswegs davon die Rede sein, daß man auf die Dauer Problemstellungen am wesentlichsten Punkte abschnürt, nur weil dort angeblich die Sphärenkompetenz der Nachbarwissenschaft anhebt. (Eine typische Verhaltensweise des bürokratisiert institutionellen Wissens!)16"
Es ist denkbar, daß die in den vergangenen Jahren beobachtbare intellektuelle Stagnation der Wissenssoziologie nicht zuletzt dadurch gefördert worden ist, daß wissenssoziologische Fragen in die allgemeine Soziologie bzw. die theoretischen Perspektiven anderer soziologischer Spezialgebiete übernommen wurden und nicht mehr explizit als wissenssoziologische Fragen interpretiert und identifiziert werden. In diesem Sinn führt Lewis Coser für die USA aus: "As the sociology of knowledge has been incorporated into general sociological theory both in America and in Europe, it has often merged with other areas of research and is frequently no longer explicitly referred to as sociology of knowledge. I ts diffusion through partial incorporation has tended to make it lose so me of its distinctive characteristics. Thus, the works of Robert K. Merton and Bernard Barber in the sociology of science, the works of E. C. Hughes, T. H. MarshalI, Theodore Caplow, Oswald Hall, Talcott Parsons, and others in the sociology of the professions and occupations, and - even more generally - much of the research concerned with social roles may be related to, and in part derived from, the orientation of the sociology of knowledge. Many practitioners of what is in fact sociology of knowledge may at times be rather surprised when it is pointed out that, like Monsieur ]ourdain, they have been "talking prose" all along 17 ."
Die von Coser zweifellos richtig eingeschätzte Übernahme und Integration wissenssoziologischer Fragestellungen in andere soziologische Spezialgebiete 18 deutet aber zugleich an, daß man die Wissenssoziologie nur schwer als eine unter vielen anderen Bindestrichsoziologien begreifen kann. Hand in Hand mit der Eingliederung wissenssoziologischer Fragestellungen in andere Bereiche, insbesondere in Spezialgebiete, in denen umfangreiche empirische Forschung betrieben wurde, geht natürlich ein Zurückdrängen anderer, ursprünglich für äußerst wichtig angesehener Fragen der Begründer der Wissenssoziologie. Dazu gehört zum Beispiel die Zurückdrängung erkenntnistheoretischer Diskussionen in der Wissenssoziologie. Zu den zentralen Fragestellungen der Wissenssoziologie gehören zweifellos, wie bereits von Merton identifiziert 19 , folgende Probleme: a) Wo ist die existentiale Basis geistiger Produkte lokalisiert? b) Welche geistigen Produkte werden einer soziologischen Analyse unterworfen? c) In welchem Zusammenhang stehen geistige Produkte und existentiale Basis? d) Welche manifesten und latenten Konsequenzen haben Zusammenhänge dieser Art? e) Unter welchen Bedingungen bzw. zu welchem Zeitpunkt lassen sich die angenommenen Zusammenhänge beobachten? Es überrascht nicht, daß die konkrete Bestimmung der Seinsverbundenheit des Wissens zu Resultaten führt, die insgesamt den geringsten Grad von Übereinstimmung zeigen. Mit anderen Worten, die Wissenssoziologie ist zumindest in dieser Hinsicht selbst exemplifizierend. Der Vielfalt in ihrem Objektbereich entspricht eine Vielfalt von Antworten auf die von Merton angeführten zentralen Probleme der Wissenssoziologie.
Forschungsinteresses der Wissenssoziologie hingewiesen, und zwar auf die Formel von der Seinsverbundenheit des Denkens oder der Relation von Wissen und Gesellschaft 2o . Sie wird zwar oft uneingeschränkt vorgetragen, aber unmittelbar darauf oder an späterer Stelle erheblich eingeschränkt, so daß die ursprüngliche Formulierung problematisch wird. Die Mehrzahl der Rekonstruktionen der Wissenssoziologie, die in den vergangenen Jahrzehnten vorgenommen wurde, ist fast einmütig in der Annahme, daß sich die wissenssoziologische Analyse menschlicher Erkenntnisse und Ideen auf den offenbar kleiner werdenden Ausschnitt von Wissen beschränken muß, den man als "pathologisches Wissen" bezeichnen könnte 21 . Das heißt auf Wissen, das sich nicht dadurch auszeichnet, daß man es als wissenschaftliches Wissen kennzeichnen kann, oder, wie Hans-Joachim Lieber 22 es in seinem enzyklopädischen Artikel formuliert, das Erkenntnisobjekt der Wissenssoziologie ist auf "Weltanschauungswissen" beschränkt. Darüber hinaus wird zum Beispiel von Dietrich Rüschemeyer kurz darauf hingewiesen, daß die von der Wissenssoziologie angestrebte Untersuchung des Zusammenhanges zwischen Vorstellungen über die Wirklichkeit und existentialen Prozessen "die Gültigkeit dieser Vorstellungen nicht in Frage (stellt), wenn auch die Anfänge der Wissenssoziologie den gegenteiligen Eindruck erweckten, da hier die Erforschung der sozialen Bedingungen verzerrter und falscher Erkenntnis und die Ideologiekritik im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen"23. Schließlich verweist Coser in seinem Aufsatz auf eine dritte grundsätzliche Begrenzung der Wissenssoziologie, die man in der Kritik an der Wissenssoziologie typischerweise antrifft, und zwar auf die Relativismusproblematik bzw. den logischen Widerspruch, in den sich eine "radikale" Wissenssoziologie notwendigerweise verstrickt. Indem sich Coser explizit auf Mannheims Programm für die Wissenssoziologie bezieht, führt er aus, daß "to hirn all knowledge and ideas, although to different degrees, are "bound to a loeation" with the social strueture and the historieal proeess .... Frorn its ineeption Mannheirn's thesis eneountered a great deal of eriticisrn, expecially on the grounds that it led to universal relativisrn .... If it is assurned that all thought is existentially deterrnined and hence all truth but relative, Mannheirn's own thought cannot claim privileged exemption 24 ."
Damit trifft zu, daß trotz der von Mannheim immer wieder auf unterschiedliche Weise vorgenommenen Versuche, das von ihm formulierte wissenssoziologische Programm gegen den Vorwurf des Relativismus zu immunisieren, gerade dieser Vorwurf regelmäßig gegen ihn vorgebracht wurde. Mannheims wissenssoziologische Arbeiten zeigen, Lieber zufolge, "daß man selbst dort, wo man sich von dem Marxschen Ideologieverdacht zu befreien sucht, mit einer radikalen Soziologisierung des Geistes nur allzu leicht dem Problem des Relativismus verfallen kann"25. Generell kann man. jedoch sagen, daß alle Autoren die erkenntnistheoretische Problematik und die möglichen Konsequenzen wissenssoziologischer Untersuchungen für die Erkenntnistheorie, wenn überhaupt, dann nur in äußerst nebensächlicher Weise diskutieren. Diese Abstinenz fällt natürlich besonders ins Gewicht, wenn man bedenkt, welche zentrale Rolle Fragen dieser Art für die Begründer der Wissenssoziologie, insbesondere Karl Mannheim, gespielt
Merkmal der Entwicklung der Wissenssoziologie in den vergangenen drei Jahrzehnten gehört dann auch insbesondere die bewußte Abkoppelung der Wissenssoziologie von Fragen dieser Art. Die damit sanktionierte herkömmliche Arbeitsteilung in der Wissen·· schaft - hier Erkenntnistheorie, dort von ihr abhängige Einzeldisziplinen - impliziert aber wohl gleichzeitig, daß sich die Mehrzahl der Wissenssoziologen mit der von Philosophen, Erkenntnistheoretikern und anderen vorgebrachten Kritik der Wissenssoziologie identifizieren, sie also voll akzeptieren. Die Kritik wird zu einer Art Selbstverständlichkeit, auf die man schon deshalb nicht näher einzugehen braucht, weil sie sich darüber hinaus in erster Linie mit Problemen befaßt, die nicht von unmittelbarer Bedeutung für die Wissenssoziologie als soziologisches Spezialgebiet sind; dies erklärt, weshalb die Diskussion der Grenzen der Wissenssoziologie in diesen enzyklopädischen Artikeln nur am Rande geschieht. Die Grenzen der Wissenssoziologie sind identisch mit den Grenzen der Soziologie, die wiederum arbeitsteilig bestimmt sind. Die Legitimation der Wissenssoziologie wird deshalb vor allem einzelwissenschaftlich verstanden. Wie steril eine Abstinenz dieser Art unter Umständen sein kann, betont Niklas Luhmann, wenn er schreibt, daß die Abschirmung gegenüber philosophischen Fragen "ihrerseits zur Fessel (wird). Als Schutz der Forschungsfreiheit gegen eine übermächtige Tradition eingeführt, erzeugt die undurchlässige Grenze der Wissenschaft gegenüber der Philosophie heute, wo die Macht der Tradition gebrochen ist, Reflexionsschranken und Provinzialismus und nicht selten eine zu enge Interpretation dessen, was man eigen tlich schon denkt 27 ".
Die offene Neutralität der Rekonstruktion der Wissenssoziologie ist natürlich keine Unvoreingenommenheit, sondern die Anerkennung der verbreiteten Kritik an der Wissenssoziologie, wie sie teilweise von den Begründern konzipiert wurde. Es zeigt sich jedoch in zunehmendem Maße, daß die Loslösung wichtiger Probleme aus der Wissenssoziologie die unangenehme Folgeerscheinung der Stagnation und der mangelnden Rezeptionsbereitschaft gegenüber relevanten intellektuellen Entwicklungen in anderen Disziplinen stützt. Die Abschirmung der Wissenssoziologie ist allerdings völlig im Sinn einer Bindestrichsoziologie, d. h. die beobachtete beiläufige Aufmerksamkeit, die man in diesen Beiträgen erkenntnistheoretischen Fragen widmet, ist sicherlich nicht zufälliger Natur. Die jüngsten Entwicklungen in der Wissenssoziologie, wie sie im vorliegenden Band ihren Niederschlag gefunden haben, signalisieren den Beginn eines neuen Entwicklungsabschnittes in der Wissenssoziologie. Diese beginnende Phase ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, daß die Tabus, die Teil der Normalisierungsphase der Wissenssoziologie waren, schrittweise aufgehoben werden. Entscheidende Anstöße dafür boten Entwicklungen in der Erkenntnistheorie, die das herkömmliche Bild der Wissenschaft und der Entwicklung wissenschaftlichen Wissens in Frage gestellt haben 28 . Das sich dabei herauskristallisierende Bild wissenschaftlichen Wissens hat zur Folge, daß eine wissenssoziologische Analyse menschlicher Erkenntnis nicht länger auf einen begrenzten Ausschnitt menschlichen Denkens beschränkt sein muß. Das heißt, eine auch von den Begründern häufig in Frage gestellte Soziologie naturwissenschaftlichen und formalen Wissens wird zunehmend als realisierbar angesehen. Die lange Zeit unwiderspro-
und Rechtfertigungszusammenhang menschlicher Erkenntnis wird erneut ernsthaft diskutiert. Der Klang des Begriffes absolut verblüfft und zieht immer noch in Bann, dennoch ist beobachtbar, daß er allmählich seine Selbstverständlichkeit verliert29 .
V. Miiglichkeiten der Wissenssoziologie
Einer der wenigen Kommentatoren der Wissenssoziologie der vergangenen Jahrzehnte, der ursprüngliche Formulierungen und Forderungen der Begründer der Wissenssoziologie nicht als Belastung, sondern als Herausforderung ansieht, ist Lewis Coser. Er schließt seine Übersicht der Wissenssoziologie mit folgenden treffenden Bemerkungen: "The sociology of knowledge was marked in its early history by a tendency to set up grandiose hypothetical schemes. These contributed a number of extremely suggestive leads. Recently its practitioners have tended to withdraw from such ambitious underrakings and to restrict themselves to somewhat more manageable investigations. Although this tendency has been an antidote to earlier types of premature generalizations, it also carries with it the danger of trivializations. Per· haps the sociology of knowledge of the future will return to the more daring concerns of its founders, thus building upon the accumulation of careful and detailed investigations by preceding generations of researchers 30 ."
Allerdings ist die Frage der Möglichkeit oder der Fruchtbarkeit einer Rückbesinnung, die natürlich auch eine Transformation impliziert, auf Problemstellungen, die schon die Begründer der Wissenssoziologie in aller Deutlichkeit und ohne falsches Zögern gestellt haben mögen, nicht nur Ergebnis rein intellektueller Anstrengungen, sondern gerade auch, wie uns die Wissenssoziologie lehrt, eine von gesellschaftlichen Bedingungen abhängige Entwicklung. Wie zum Beispiel Merton in seinem Artikel hervorhebt, hängt das Interesse an der Wissenssoziologie von bestimmten gesamtgesellschaftlichen kulturellen und sozialen Bedingungen ab. Zu diesen gesamtgesellschaftlichen Umständen gehört zweifellos die Tatsache, daß "with increasing social conflict, differences in the values, attitudes and mo des of thought of groups develop to the point where the orientation which these groups previously had in common is overshadowed by incompatible differences. Not only do these develop different uni verses of discourse, but the existence of any one uni verse challenges the validity and legitimacy of the others. . .. Thought becomes functionalized 31 ."
Es muß deshalb zumindest darauf hingewiesen werden, daß die von uns dokumentierte Rekonstruktion der Wissens soziologie durch die auf die Generation der Begründer der Wissenssoziologie folgende Generation mit ökonomischen, politischen und sozialen gesamtgesellschaftlichen Bedingungen sowie universitären und disziplinären Umständen zusammenfiel, die sich in ihrer relativen Tranquillität entscheidend von den Krisenbedingungen etwa der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts unterschieden. Das gegenwärtige neue und erneuerte Interesse an wissenssoziologischen Fragestellungen dagegen "reflektiert", wie auch schon die frühere Periode, in der die Wissenssoziologie zuerst
Anmerkungen 1 Es trifft zweifellos zu, daß die Wissenssoziologie gegenwärtig durch bestimmte Eigenscbaften gekennzeichnet ist, die in dieser oder ähnlicher Weise auf eine Reihe weiterer soziologischer Forschungsbereiche zutreffen oder in der Vergangenheit zutrafen. Wissenschaftliche Fachgebiete einer bestimmten Disziplin entwickeln sich ungleichgewichtig. Kognitive Entwicklungen, die sich unmittelbar auf ein Spezialgebiet auswirken, beeinflussen andere Spezialgebiete oft nur mit großer Verzögerung oder auch gar nicht. Der Grad der Offenheit eines Spezialgebietes gegenüber kognitiven Innovationen in anderen, benachbarten Spezialgebieten oder in anderen Disziplinen hängt einmal vom vorherrschenden kognitiven Zustand des Spezialgebietes, etwa dem Grad der intellektuellen übereinstimmung der Mitglieder dieses Fachgebietes, zum anderen aber auch von den vorherrschenden sozialen Beziehungen in diesem Fachgebiet ab. Die Verzögerung der Aufnahme bestimmter Problemlösungen anderer Spezialgebiete in die Wissenssoziologie und der damit verbundene, immer noch deutlich werdende Eindruck eines Spezialgebietes der Soziologie, das relativ wenig dynamisch oder offen ist, sind deshalb nicht zuletzt Ergebnis bestimmter kognitiver und institutioneller Eigenschaften der Wissenssoziologie. Diese Eigenschaften sind narürlich keineswegs unumgängliche Merkmale der Wissenssoziologie, sondern nur einer bestimmten Form der Wissenssoziologie (vgl. Richard D. Whitley, Konkurrenzformen, Autonomie und Entwicklungsformen wissenschaftlicher Spezialgebiete, in: Nico Stehr und Rene König (Hrsg.), Wissenschaftsoziologie - Studien und Materialien, Sonderheft 18 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1975, S. 135-164; David O. Edge und Michael ]. Mulkay, Fallstudien zu wissenschaftlichen Spezialgebieten, in: Nico Stehr und Rene König (Hrsg.), a.a.O., S.197-229). 2 In Nordamerika deuten Zahlen für das Jahr 1970 an, daß die Wissenssoziologie im Vergleich zu einer Vielzahl anderer soziologischer Fachgebiete einen relativ geringen Rang einnimmt. Zwar sind die Zahlen nicht eindeutig, da man die Mitglieder der Amerikanischen Soziologischen Gesellschaft, um die es sich hier handelt, sowohl nach ihrem Interesse für die Wissens- als auch Wissenschaftssoziologie gefragt hat; dennoch kann man insgesamt den Schluß ziehen, daß die Zahl der Soziologen, die von sich behaupten, ein Interesse an der Wissenssoziologie zu haben, etwa der Zahl der Soziologen entspricht, die sich für die Untersuchung von Kleingruppen, ländliche Soziologie oder Industriesoziologie interessieren (vgl. Nico Stehr und Lyle Larson, The Rise and Decline of Areas of Specialization, in: The American Sociologist, 7, 1972, S. 3, 5-6). Für die Bundesrepublik gilt dies zweifellos ebenfalls. Anhand von Zahlen, über die Günther Lüschen jüngst berichtete, läßt sich zeigen, daß die Zahl der Zeitschriftenartikel zwischen 1948 und 1977 in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Soziale Welt und Zeitschrift für Soziologie, die sich "ausführlich" mit Wissenssoziologie beschäftigen, aus insgesamt siebzehn Beiträgen bestand. Selbst wenn man dieser Zahl diejenigen Artikel hinzurechnet, die sich Lüschen zufolge mit Themen wie "Ideologie" oder "Kultur" beschäftigen, bleibt der Eindruck erhalten, daß die Wissenssoziologie in der Nachkriegszeit und bis in die Gegenwart ein relativ vernachlässigtes Spezialgebiet in der Forschung ist. Die von Lüschen vorgenommene Periodisierung der soziologischen Publikationen nach Sachgebieten zeigt darüber hinaus, daß die Wissenssoziologie in dieser Zeit kein bemerkenswertes Auf und Ab an Interesse widerspiegelt. Für die ebenfalls untersuchten Buchpublikationen gilt ähnliches (vgl. Günther Lüschen, Die Entwicklung der deutschen Soziologie in ihrem Fachschrifttum, in: Ders. (Hrsg.), Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxis bezug, Sonderheft 21 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1979, S.169-192). Die von Rolf Klima durchgeführte Analyse der Entwicklung soziologischer Lehre an den Universitäten der Bundesrepublik zwischen 1950 und 1975 ergibt ein den Publikationen vergleichbares Bild, d.h. die Wissenssoziologie sowie ihr verwandte Themen spielen als solche eine untergeordnete Rolle (vgl. Rolf Klima, Die Entwicklung der soziologischen Lehre an den westdeutschen Universitäten 19501975, in: Günther Lüschen (Hrsg.), a.a.O., S. 221-256).
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Organisation von Sozialwissenschaft anwendbar sind oder sein sollen (vgl. Nico Stehr und Anthony Simmons, The Diversity of Modes of Discourse and the Development of Sociological Knowledge, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, 10, 1979, S. 141-161). Der Begriff Paradigma wird in diesem Zusammenhang deshalb im gleichen Sinn verwendet, wie dies in dem zuerst im Jahre 1945 veröffentlichten Aufsatz vOn Rohert K. Merton zur Wissenssoziologie geschieht (Robert K. Merton, The Sociology of Knowledge, in: George Gurvitch und Wilbert E. Moore (Hrsg.), Twentieth Century Sociology, New York 1945, S. 366-405. Wiederabdruck in: Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, New York, 1957, S. 456488). Merton stellt in diesem Aufsatz ein Paradigma der Wissenssoziologie vor, bei dem es sich im wesentlichen um einen knappen Katalog oder eine Schematisierung der wichtigsten Fragen handelt, die sich im Anschluß an die grundlegende These von der Seinsverbundenheit des Wissens stellen. Teil dieses Konsensus ist die häufig sowohl vOn Eingeweihten (d.h. Wissenssoziologen) als auch Außenseitern geteilte Meinung, daß die Wissenssoziologie, wie Mal)! Hesse es formuliert, .. is a notorious black spot for fatal accidents both sociological and philosophical. The theses connected with it are regarded by some as so clearly subversive of all good order and objectivity as to be beyond the pale of rational discussion, and by others as part and parcel of a variety of nonscientific commitments in ideology, morals and politics" (vgl. Mal)! Hesse, Revolutions and Reconstructions in the Philosophy of Science, Brighton 1980, S. 30). Wir haben die folgenden repräsentativen Aufsätze ausgewählt: Robert K. Merton, a.a.O.; Hans-Joachim Lieber, Wissenssoziologie, in: Wilhelm Bernsdorf und Friedrich Bülow (Hrsg.). Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1955, S. 629-633; Dietrich Rüschemeyer, Wissen, in: Rene König (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt am Main, 18. Auf!. 1981, S. 352-359; Lewis A. Coser, Sociology of Knowledge, in: International Encyclopedia of the Social Sciences, New York 1968, Band 8, S.428-435. Eine früher publizierte, aber weitgehend identische Fassung des Enzyklopädie-Artikels vOn Coser findet sich in Lewis A. Coser und Bernhard Rosenberg (Hrsg.), Sociological Theory, New York 1964, S. 667-684. Robert K. Merton, a. a. 0., 1945, S. 368. Ebd., S.367; Dietrich Rüschemeyer, a.a.O., S.353; Hans-JoachimLieber, a.a.O., S.631; Lewis A. Coser, a. a.O., S. 428-431. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist die Publikation bisher unveröffentlichter Beiträge zur klassischen Wissenssoziologie, so zum Beispiel David Kettler, Volk er Meja und Nico Stehr (Hrsg.), Kar! Mannheim: Strukruren des Denkens, Frankfurt am Main 1980. Hans-Joachim Lieber, a.a.O., S. 629. Ebd., S. 629. Eine Strategie der Legitimation, die die begrenzten und sich von anderen Bindestrichsoziologien nur unwesentlich unterscheidenden Ansprüche betont, ist für ein wissenschaftliches Spezialgebiet nicht ungewöhnlich, das, wie dies für die Wissenssoziologie der Fall war, weitgehend als ein Fachgebiet mit äußerst zweifelhafter Zukunft beschrieben worden war. Wir denken in diesem Zusammenhang etwa an die verbreitete Kritik an der Wissenssoziologie, die auf bestimmte logische Fehlschlüsse der Wissenssoziologie hinwies. Karl Mannheim, Zur Problematik der Soziologie in Deutschland, in: Neue Schweizer Rundschau, 22. November 1929, Wiederabdruck in: Kurt H. Wolff(Hrsg.), Kar! Mannheim: Wissenssoziologie, Neuwied 1964, S.615. Eine vergleichbare programmatische Formulierung Mannheims findet sich in einer von ihm verfaßten .. Ankündigung" aus Anlaß seiner übernahme der Herausgeberschaft der von Max Scheler begründeten Reihe .. Schriften zur Philosophie und Soziologie", die der Friedrich Cohen Verlag, Bonn, publizierte. Die .. Ankündigung" erschien im Jahr 1929: .. In der Zusammenarbeit beider Disziplinen sollen nicht die Grenzen verwischt, nur eine gegenseitige Befruchtung soll erstrebt werden. Weder eine Verdrängung des ursprünglich philosophischen Fragenzusammenhanges durch die Soziologie, noch die Verschüttung der empirischen Methoden durch leere Spekulation in der Gesellschaftswissenschaft kann erwünscht sein. Ein Zusammenwirken kann nur bezwecken, daß die philosophische Problematik ihren Anschluß an diese neueste Stufe der Weltorientierung in Wissenschaft und Leben findet und daß die Soziologie bei der empirischen Durchdringung der Wirklichkeit ihre Forschungsimpulse stets auf
14 Karl Mannheim, Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiet des Geistigen, Verhandlungen des sechsten deutschen Soziologentages vom 17. bis 19. September 1928 in Zürich, Tübingen 1929. Wiederabdruck in: Kurt H. Wolff (Hrsg.), a.a.O., S. 615. 15 Ebd., S. 611. 16 Ebd., S. 610. 17 Lewis A. Coser, a.a.O., S. 432; siehe auch Dietrich Rüschemeyer, a.a.O., S. 354-359. 18 Eine sicher nicht unbedeutende, fördernde Rolle in dieser Entwicklung in den USA spielte Robert K. Merton, insbesondere durch seine Arbeiten zur Massenkommunikationsforschung (in Zusammenhang mit Paul F. Lazarsfeld) und Wissenschaftssoziologie. (Vgl. insbesondere Robert K. Merton, Introduction: The Sociology of Knowledge and Mass Communications, in: ders.,a.a.O., 1957,S.439-455). 19 Robert K. Merton, a.a.O., 1945, S. 372. 20 Zum Beispiel LewisA. Coser, a.a.O., S.428 oder Hans-Joachim Lieber, a.a.O., S.629. 21 Mary Hesse, a.a.O., S. 32. 22 Hans-Joachim Lieber, a.a.O., S. 633. 23 Dietrich Rüscbemeyer, a. a. 0., S. 352. 24 Lewis A. Coser, a. a. 0., S. 430. 25 Hans-Joacbim Lieber, a.a.O., S. 633. 26 Der durch Mannbeim Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre ausgelöste heftige Streit um die Wissenssoziologie wird in einem in Kürze erscheinenden zweibändigen Buch von uns dokumentiert und kommentiert: Volker Meja und Nico Stehr (Hrsg.), Streit um die Wissenssoziologie, Frankfurt am Main 1981. 27 Niklas Lubmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Frankfurt am Main 1977, S. 9. 28 Wir können an dieser Stelle nur auf eine geringe Zahl relevanter Texte hinweisen. Zu den wichtigsten Beiträgen, die den lange dominanten Wissenschaftsbegriff von Carnap, Hempel, Nagel und Popper in Frage gestellt haben, gehören: Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1967; Paul K. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Frankfurt a.M. 1976; Imre Lakatos, The Methodology of Scientific Research Programmes, Cambridge 1978; Stephen Toulmin, Human Understanding, Princeton 1972. Zu den Arbeiten, die diese wissenschaftstheoretischen und -historischen überlegungen für die Wissenssoziologie fruchtbar gemacht haben, zählen: Barry Barnes, Scientific Knowledge and Sociological Theory, London 1974; ders., Interests and the Growth of Knowledge, London 1977; David Bloor, Knowledge and Social Imagery, London 1976, und Michael Mulkay, Science and the Sociology of Knowledge, London 1979. 29 Wie Fritz Mautbner zu Beginn dieses Jahrhunderts in seinem Wörterbuch der Philosophie beobachtet: "Nur die guten Leute und schlechten Musikanten unter den Philosophen, welche die absoluten und ewigen Wahrheiten der Moral zu verteidigen und zu entdecken sich vorgenommen haben, wollen von einer Relativität aller Erkenntnis nichts wissen; sie haben ihren Lohn dahin" (Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie, Band 11, Zürich 1980, S. 308. Erstausgabe 1910/11). 30 Lewis A. Coser, a. a. 0., S. 433. 31 Robert K. Merton, a. a. 0., 1945, S. 368.
KLASSIFIKATION UND WISSENSSOZIOLOGIE: DURKHEIM UND MAUSS NEU BETRACHTET Von David Bloor
I
Im Jahre 1903 formulierten Emile Durkheim und Marcel Mauss eine der wichtigsten Thesen der Wissenssoziologie. Sie sagten, mit der Klassifikation von Dingen werde die Klassifikation von Menschen reproduziert! . Indem sich Durkheim und Mauss auf Klassifizierungsprozesse konzentrierten, trafen sie den Kern der Sache. Alle Wissenssysteme, ob primitiv oder hochentwickelt, bestehen aus trennenden Unterscheidungen zwischen Arten oder Sorten von Dingen. Durch die Fähigkeit, Gleiches von Ungleichem unterscheiden zu können, darüber entscheiden zu können, was als gleich oder ungleich gilt, und die Folgen dieser Entscheidungen abwägen zu können wird unser Verstehen zu einer geregelten Angelegenheit. Mit der These, daß in solchen Klassifizierungsvorgängen das Muster sozialer Einbeziehungen und Ausschlüsse reproduziert wird, stellten Durkheim und Mauss einen kühnen einheitlichen Grundsatz auf. Denn wenn die Behauptung richtig ist, dann wäre sie für eine ganze Reihe von Disziplinen von größter Wichtigkeit: nicht nur für die Anthropologie und Soziologie sondern auch für die Wissenschaftsgeschichte und philosophische Theorien über das Wesen des Wissens. Leider wurden durch Durkheims und Mauss' Monographie De Quelques Formes Primitives de Classification mehr Zweifel erhoben als beseitigt. Sie war Ge6enstand der Kritik in einer Reihe von einflußreichen Artikeln von Gehlke, Dennes, Goldenweiser, Schaub, Benoit-Smullyan und Worsley 2. Ihre Argumente sind von Lukes in seiner umfassenden Analyse von Leben und Werk Durkheims 3 und von Needham in der Einleitung zu seiner wertvollen Übersetzung von De Quelques Formes erwähnt, unterstützt und ausgearbeitet worden. Needham macht in der Tat deutlich, daß das Werk von Durkheim und Mauss trotz seiner thematischen Bedeutung und methodologischen Vorzüge eher in den Bereich der Geschichte des soziologischen Denkens gehört als in den seiner praktischen Anwendung4 . Die kritischen Einwände lassen sich nach empirischen, theoretischen und logischen Gesichtspunkten einordnen. Durkheim und Mauss argumentieren zum Beispiel in Einklang mit ihrer Kernbehauptung, daß das siebenteilige Klassifikationssystem des WeItenraumes in der kosmischen Lehre der Zuni eine Folge ihres siebenteiligen sozialen Organisationssystems und der diesem System entsprechenden Anordnung der Wohnlager war s .
sind . Als zweiter folgt ein mehr theoretischer Einwand. Wie konnte die Behauptung von Durkbeim und Mauss überhaupt auf praktisches, erfolgreich angewendetes Wissen zutreffen? Echtes Wissen muß doch wohl die Struktur der Dinge an sich, der natürlichen Beschaffenheit der Dinge reproduzieren - wie konnte das geschehen, wenn es stattdessen die Struktur sozialer Ordnungen reproduzierte?? Drittens versuchen Durkbeim und Mauss eine Darstellung der wichtigsten "Kategorien" des Denkens zu geben. Ihr Werk ist als empirische Entwicklung und Berichtigung der Geistesphilosophie Kantscher Tradition gedacht 8 . Unter diesem Gesichtspunkt werden nun die Behauptungen von Durkbeim und Mauss auf Grund logischer Mängel kritisiert. Wie können soziale Vorgänge des Zusammenbringens und Trennens von Menschen generell angewandte Klassifizierungspraktiken erklären, wenn diese Vorgänge selbst von der Fähigkeit, Klassifikationen vornehmen zu können, abhängen? In dieser Erklärung wird vorausgesetzt, was eigentlich Gegenstand der Erklärung sein so1l9. Diesen Einwänden werde ich einen vierten hinzufügen, der bisher nicht genügend hervorgehoben wurde. Durkbeim und Mauss geben uns keine adäquate theoretische Grundlage für ihre Kernbehauptung. Weder die Formes primitives de Classi[ication noch Les [ormes elementaires de la vie religieuse liefert ein Allgemeinbild oder -modell des Klassifikationsprozesses. Diese Werke geben viele wertvolle Hinweise, die jedoch nie zu einer systematischen Darstellung zusammengefaßt wurden. Folglich ist die genaue Bedeutung der These von Durkbeim und Mauss im Grunde unklar - obwohl sie oberflächlich betrachtet klar verständlich erscheint. Was zum Beispiel bedeutet der Begriff "reproduzieren"? Müssen wir uns auf die Art von Beispiel beschränken, die wir im Text vorfinden, wie das unglücklich gewählte Zuni-Beispiel? Oder gibt es vielleicht andere, tiefere Bedeutungen, die die These von Durkbeim und Mauss näher erläutern könnten?10 Meine These wird sein, daß wir die Formel von Durkbeim und Mauss auf einer neuen theoretischen Grundlage rekonstruieren können. Dadurch wird uns ermöglicht, ihr neue Bedeutung zu geben und sie dann zu einem neuen Bereich von Faktenmaterial in Beziehung zu setzen. Hierfür aber ist ein allgemeingültiges Klassifikationsmodell nötig. Glücklicherweise existiert ein solches Modell. Es wird Netzwerk-Modell genannt und wurde von der Wissenschaftsphilosophin Mary Hesse im Anschluß an die Arbeiten von Dubem und Quine entwickelt ll . Ursprünglich als eine Analyse des wissenschaftlichen Folgerungsprozesses konzipiert, ist es sowohl auf mythisches Wissen oder Alltagswissen anwendbar als auch auf Wissenschaft selbst. Das Netzwerk-Modell besagt im Grunde, daß sich Wissen nicht aus getrennten, eigenständigen Fakten zusammensetzt, die Individualität und Status einzeln betrachtet beibehalten. Vielmehr ist Wissen organischer Natur. Die Organisation des Ganzen nimmt gegenüber Einzelteilen eine vorrangige Stellung ein und übt bei deren Anpassung und Berichtigung eine überwachende Funktion aus. Darüberhinaus wird in diesem Modell vorgeschlagen, daß die Strukturierung eines Klassifikationssystems nicht von der Beschaffenheit der Umwelt determi-
die These von Durkheim und Mauss plausibel machen kann. Sie werden veranschaulichen, wie die Behauptung überhaupt richtig sein kann, und worauf bei der Feststellung, ob sie tatsächlich richtig ist, geachtet werden muß. Für eine solche theoretische Grundlage wird es notwendig sein, das Netzwerk-Modell schrittweise zu erläutern und jeden Teil durch Beispiele und Einzelfälle zu verdeutlichen. Wegen der Bedeutung des Modells und als Beitrag zu seinem gründlichen Verständnis scheint eine genaue Darstellung seiner wesentlichen Merkmale gerechtfertigt, obwohl natürlich nicht alle Einzelheiten oder Auswirkungen des Modells diskutiert werden können. Ich werde zeigen, daß das Modell und die These von Durkheim und Mauss durch Faktenmaterial aus der Wissenschaftsgeschichte stark unterstützt wird. Schließlich werde ich die allgemeinüblichen, oben wiedergegebenen Einwände neu bewerten.
II
Hesses Darstellung des Netzwerk-Modells beginnt mit einer einfachen Zuordnung von Bezeichnungen. Für unsere Zwecke genügt es zu erklären, daß die Aufmerksamkeit dessen, der eine Sprache lernt - zum Beispiel ein Kind - auf im konventionellen Sinn unterschiedene Gegenstände oder Merkmale der Umgebung gelenkt wird, mit denen er/sie ein Wort zu assoziieren lernt. Lassen Sie mich diese konventionellen Punkte der Aufmerksamkeit "exemplarische Beispiele" nennen. Wir müssen als nächstes annehmen, daß der/die Lernende zu generalisieren vermag. Das bedeutet, daß jedesmal, wenn Objekte oder Merkmale scheinbar gleicher Art auftauchen, diese der gleichen Rubrik zugeordnet werden können. Hesse weist an dieser Stelle auf unsere primitive Vorstellung von Ähnlichkeit hin. Feinere Unterscheidungen werden dann durch Reaktionen des/der Lernenden entwickelt, die von erfahrenen Sprach benutzern positiv oder negativ sanktioniert werden. Unter diesen Voraussetzungen ist es möglich zu erklären, auf welche Weise Wörter wie "Tasse" oder "heiß" zuerst gelernt werden. Es kommt nicht darauf an, daß diese Wörter ganze Sätze bedeuten können, wie "gib mir die Tasse". Es kommt einzig darauf an, daß ihre Funktion als Bezeichnungen, prädikative Merkmale oder Klassifikationen auf diese Weise gelernt werden 12 . In ähnlicher Weise kann dargestellt werden, wie erfahrene Sprachbenutzer ein Klassifikationsschema erweitern, um neue Merkmale zu erfassen. Neue Fälle werden Präzedenzfällen gleichgestellt, mit denen sie bei unmittelbarem Vergleich einige Ähnlichkeit haben. Sogar der esoterische Vorgang des wissenschaftlichen Denkens vollzieht sich in der gleichen Weise. Wissenschaftliche Theorien tragen zum Verständnis neuer Phänomene bei, indem sie uns zeigen, wie diese als Erscheinungsformen vertrauter Prozesse betrachtet werden können. Die Rolle, die Modelle, Analogien, Metaphern und exemplarische Beispiele in der Wissenschaft einnehmen, ist deutlich gezeigt und beschrieben worden. So können wir das Wesen des Klangs begreifen, indem wir Ähnlichkeiten zwischen dem Klangverhalten und den zugänglicheren, sichtbareren Eigenschaf-
Bisher haben wir eine einfache "Sprache" beschrieben, die aus Begriffen besteht, die wiederum auf Grund einer subjektiven Ähnlichkeit mit exemplarischen Beispielen angewandt werden. Hesse nennt diesen Vorgang eine Erstklassifikation der Umgebung. Darunter ist jedoch nur ein Erklärungsmechanismus zu verstehen, nicht ein historischer Abschnitt in der Entwicklung des Wissens. Es ist ein brauchbarer Einfall, da das, was in der Darstellung fehlt, deutlich gemacht wird. Unser primitives Gefühl für Ähnlichkeit ist notwendiger Bestandteil der Vermittlung, des Gebrauchs und der Erweiterung von Wissen. Erklärungen darüber, wie ein wirkliches Klassifikationsschema funktioniert, sind überall zu finden, aber nicht ausreichend l4 . Das liegt daran, daß die sich aus dem Schema ergebenden Konsequenzen häufig übergangen werden müssen. Die Struktur gleichartiger Merkmale, die in der Umwelt zu finden sind, ist so reichhaltig und so widersprüchlich, daß sie selektiv behandelt werden müssen l5 . Wie dies erreicht wird, wird bei der Beschreibung des restlichen Teils des Modells deutlich werden. Allerdings ist schon jetzt klar, daß das Modell in jedem Punkt von der Kooperation zwischen einem psychologischen (dispositionalen) und einem soziologischen (konventionellen) Faktor abhängt, und die Zusammenarbeit der Faktoren nur Sinn hat, wenn wir Wissen als Teil einer Funktionsbeziehung mit den uns umgebenden materiellen Dingen verstehen. Im weiteren Ausbau des Modells wird dieser materialistische Standpunkt durch nichts gefährdet.
III
Die verschiedenen Arten von Merkmalen eines Klassifikationssystems kann man sich als durch elementare Gesetze miteinander in Beziehung stehend vorstellen, wie zum Beispiel in den Aussagen "Feuer ist heiß" oder "Holz schwimmt auf dem Wasser". In einer Hinsicht könnte man sagen, daß die Gesetze das jeweilige gemeinsame Vorhandensein oder Nichtvorhandensein jener Merkmale der Umwelt, auf die wir unser Augenmerk gerichtet haben, verlangen. Die Gesetze könnten dadurch entstehen, daß die (nach konventioneller Methode klassifizierten) auf das Gehirn einwirkenden Stimuli von diesem registriert werden. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen bestehen die Ge---setze aus sich ständig verändernden Wahrscheinlichkeitserwägungen: ist Stimulus X gegeben, kann Stimulus Y erwartet werden. In einem unveränderlichen Milieu würden diese Erwartungen allmählich bestimmten Aspekten der räumlichen, zeitlichen und kausalen Milieustruktur angepaßt werden. Ein kognitiver Grundriß der Wahrscheinlichkeitsbedingungen würde angefertigt werden. Auf diese Weise betrachtet gleicht das Netzwerk-Modell einer einfachen Fassung der Lerntheorie 16 . Man kann die Gesetze auch soziologisch und nicht nur psychologisch betrachten. Sie erhalten dann den Status konventioneller Typifikationen: zum Beispiel "Füchse sind schlau" oder "Diamenten sind hart". Diese Grundsätze können sich in der Erfahrung des Individuums bestätigen, im allgemeinen aber werden sie von anerkannten Autori-
keitserwägungen unterscheiden. Sie werden gleichartig und stereotypisiert sein und als Bezugspunkte und allen gemeinsame Ressourcen für die Formulierung von Erklärungen dienen. Sie werden Allgemeingut sein, also eher öffentlich zugänglich als in der Psyche des lernenden Individuums verhaftet sein. Im weiteren Verlauf werde ich mich hauptsächlich mit Gesetzen in dieser zweiten Bedeutung beschäftigen, in der sie, wie Durkheim sagen würde, "kollektive Darstellungen" sind 17 . Zwei Tatsachen über Gesetze sind von vornherein wichtig. Erstens erweitern sie den Bereich der Situationen, auf die eine Klassifikation überzeugend angewendet werden kann. Wenn man das Gesetz, daß Feuer heiß ist, kennt, können die Stimuli, die den Gebrauch des Begriffs "Feuer" bewirken, nun auch den Gebrauch des Begriffs "heiß" veranlassen. Zur Rechtfertigung der Behauptung ist eine unmittelbare Erfahrung über den betreffenden Fall nicht nötig. Auf diese Weise ermöglichen uns die Gesetze, über wissenschaftlich postulierte Phänomene zu reden, ohne direkt mit ihnen konfrontiert worden zu sein. Da die Interferenzwirkungen der Wellen erfahrungsgemäß bekannt waren, konnte gefolgert werden, daß Elektronen wie Wellen beschaffen sein mußten, weil sie in Experimenten ähnliche Wirkungen zeigten 18 . Zweitens muß man nicht glauben, daß Gesetze diese Funktion nur ausüben können, wenn sie richtig sind. Ein falsches Gesetz kann genauso wirksam als Handlungs- und Folgerungsbasis dienen wie ein richtiges 19 . Logisch gesehen ist es durchaus möglich, auf Grund falscher Prämissen zu richtigen Folgerungen zu gelangen und durch falsche Methoden die richtigen Antworten zu erhalten. Und wenn tatsächlich etwas fehlschlägt, sind die Zusammenhänge praktischen Handelns so kompliziert, daß die Fehlerquelle stets umstritten bleibt 2o . Eine große Entwicklung auf dem Gebiet der industriellen Technik, die auf der Erfindung der Dampfmaschine beruht, wurde durch Anwendung der Kalorientheorie der Wärmelehre auf adäquate Weise verständlich gemacht und verbessert. Heutzutage wird diese Theorie, die Wärme als ein den Flüssigkeitsgesetzen unterliegendes Phänomen betrachtete, abgelehnt 21 .
IV Als nächstes soll gezeigt werden, daß ebenso wie prädikative Aussagen und Klassifikationen immer in Form von Gesetzen ausgedrückt werden, die Gesetze selbst stets in Form von übergeordneten Systemen vorhanden sind. Sie bilden Netzwerke von Gesetzen. Das einfachste Netzwerk umfaßt zwei oder mehr Gesetze, die sich auf die gleiche Klassifikation beziehen. An dieser Stelle kommt das Modell zu seinem Recht, da Netzwerke einige interessante Merkmale besitzen. Man stelle sich ein ganz einfaches Klassifikationssystem vor, das besagt, daß "Fische" im Meer leben, "Vögel" in der Luft und verschiedene Gruppen "tierischer Lebewesen" auf dem Lande. Von den auf dem Land lebenden Tieren wurde von der Gruppe der "Säugetiere" eine Teilgruppe auf Grund der Tatsache abgesondert, daß sie ihre Jungen
manchmal bei der Bezugnahme auf die gleiche Klassifikation überschneiden. Diese Gesetze, so könnte man sagen, bilden ein Netzwerk, wenn man sich die Punkte der Überschneidung als die Knotenpunkte des Netzes und die Gesetze als die sie verbindenden Fäden vorstellt. Darüberhinaus dürfte dieses Netzwerk in vielen Fällen beim praktischen, für den Handelnden wichtigen Umgang mit der Umwelt als Mittel der Orientierung durchaus ausreichen. Angenommen die Benutzer dieses Netzwerks kommen nun mit einem neuen Lebewesen, zum Beispiel dem Wal, in Berührung. Er lebt und sieht aus wie ein riesiger Fisch, säugt jedoch seine Jungen - Tatsachen, die durch den routinemäßigen Gebrauch der Begriffe des Netzwerks festzustellen sind. Aber der Wal kann natürlich auch auf eine Art und Weise betrachtet werden, die für das Netzwerk Probleme schafft. Es könnte als Kriterium benutzt werden, daß man sich für eine der beiden folgenden Aussagen entscheiden muß: (1) nicht nur Säugetiere, sondern auch einige Fische säugen ihre Jungen oder (2) nicht alle Säugetiere leben auf dem Land. Mit anderen Worten, die richtige Anwendung der prädikativen Merkmale "Säugetier" und "Fisch" hängt davon ab, welches Gesetz des Netzwerks man beizubehalten beschließt. Die Tatsache der Ähnlichkeit allein führt in gegensätzliche Richtungen - die Wahl kann also nicht durch Erfahrung getroffen werden. Die Entscheidung für eines der beiden Gesetze wird in jedem Fall dem vorhandenen Wissen gerecht werden und eine akzeptable Art der Beziehung zur Umwelt wiederherstellen. Dieses Beispiel läßt erkennen, daß ein Begriff oder prädikatives Merkmal in seiner Funktion durch Ähnlichkeitsbeziehungen nicht vollkommen erklärt werden kann, sondern von den Gesetzen abhängt, deren Bestandteil diese Beziehungen sind. Im umgekehrten Sinn hängen die Gesetze von konventionellen Vorstellungen über die Begrenzungen der durch diese Gesetze verbundenen Kategorien ab. In diesem reziproken Abhängigkeitsverhältnis sind der Spielraum, den es zuläßt, und der Entscheidungszwang, den es ausübt, zwei völlig allgemein zu verstehende Phänomene. Sie sind nicht nur auf neue, problematische Fälle anwendbar, die - wie der Wal im Beispiel- erst noch einer Kategorie zugeordnet werden müssen. Das Prinzip läßt sich auf bereits bestehende Klassifikationssysteme anwenden und kann zu deren Neubewertung führen. Neue Zusammenhänge können stets den Anlaß zu rückwirkenden Korrekturen geben.
v Um dies zu demonstrieren, werde ich solche Fälle betrachten, auf die diese Behaup~ tung eigentlich am wenigsten zutreffen sollte: die exemplarischen Beispiele einer Kategorie. Da sie spezielle oder paradigmatische Fälle definieren, könnte der Anschein entstehen, daß sie keineswegs den Gesetzen unterliegen, deren Bestandteil sie sind. Wie könnte ein exemplarisches Beispiel der Kategorie der X-Merkmale kein X-Merkmal sein, wenn die Kategorisierung als X-Merkmal bedeutet, "wie das exemplarische Beispiel zu
durchmachen können. Das folgende Beispiel wird zeigen, was hieran falsch ist. Chemiker pflegten Glase, Legierungen und Lösungen zusammen mit solchen Substanzen wie Salzsäure und dem gewöhnlichen Salz als chemische Verbindungen einzuordnen. Alle diese Substanzen sind das Ergebnis der vollständigen Verschmelzung ihrer Bestandteile. Es findet ein echter Verbindungsprozeß statt, nicht nur ein bloßes Vermischen. Der einzige Unterschied liegt darin, daß zum Beispiel die Verbindung von chemischen Lösungen aus anteilmäßig verschieden großen Bestandteilen möglich ist, während reine Proben von Säuren nur aus festgelegten konstanten Anteilen gewonnen werden können. Etwa im Jahre 1800 wurde das Gesetz der konstanten Anteile für chemische Verbindungen konzipiert. Das bedeutete, daß Lösungen, Legierungen und Glase in Wirklichkeit gar keine chemische Verbindungen waren. Eine Debatte folgte. Bewiesen Phänomene wie Lösungen, Legierungen und Glase, daß das angebliche Gesetz der konstanten Anteile gar kein Gesetz war, wie Bertbollet behauptete? Oder waren die Gegenbeispiele in Wirklichkeit keine chemischen Verbindungen, wie Proust behauptete? Schließlich wurde das Gesetz als Definitionsmerkmal einer Verbindung akzeptiert. Proust ging als Sieger aus der Debatte hervor, doch dauerte es noch lange, bis überhaupt unabhängige Gründe zur Rechtfertigung der Unterscheidung auftauchten 22 . Für uns ist hier nur wichtig, daß vor Akzeptierung des Gesetzes ein Stück Glas oder eine chemische Lösung wie Salzwasser zur Verdeutlichung des Unterschieds zwischen einer echten chemischen Verbindung unu anderen Verbindungsformen hätte benutzt werden können. Einem Neuling konnte der Unterschied zwischen einer echten Verbindung und einer bloßen Mischung anhand jener Phänomene gezeigt werden. Wir könnten uns sogar vorstellen, daß Lösungen und Glase die allerersten chemischen Verbindungen waren, die von Chemikern beschrieben wurden. Die übrigen Merkmale gehörten der Kategorie nur auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit den beiden Phänomenen an. Aber selbst die stärksten historischen Ansprüche und die längste Liste von ähnlichen Fällen in der Vergangenheit wäre keine Garantie dagegen gewesen, daß sie schließlich von der Kategorie der chemischen Verbindungen ausgeschlossen wurden. Denn nur der gegenwärtige Zustand des Netzwerks ist von Bedeutung. Einigen Chemikern kam der Ruf nach dem Ausschluß gelegen. Ihre besonderen Interessen und die besondere Situation ihres Berufszweiges nahmen gegenüber der Tradition eine vorrangige Stellung ein. Das Gesetz der konstanten Anteile paßte gut in das neue atomare Bild von der Materie und ließ sich mit einigen der Zahlenverhältnisse verbinden, die - mit etwas Phantasie - in den empirischen Daten zu entdecken waren. All dies auf - einigen Chemikern gering erscheinenden - Kosten einiger weniger chemischer Verbindungen, die zu Nicht-Verbindungen degradiert wurden. Auf diese Art undWeise könnten selbst exemplarische Beispiele überflüssig werden - ähnlich wie die erste Welle von Revolutionären, die durch die von ihnen selbst in Bewegung gesetzten Entwicklungen weggespült werden. Anstelle einer bildhaften dürfte eine formale Darstellung dieses wichtigen Punktes nützlich sein. Nehmen wir irgendein Merkmal als Beispiel für eine Kategorie, die wir die Ka-
einfachen Gesetz im Wege steht, ist die kleine Anzahl von X-Merkmalen, die nicht YMerkmale sind. Verschiedene Strategien können angewandt werden, um angesichts dieses Restbestandes ein derartiges Gesetz zu formulieren. Man könnte sich dazu entschließen, die Y-Merkmale zu Definitionsmerkmalen der X-Merkmale zu machen, wie das Gesetz der konstanten Anteile Teil der Definition einer chemischen Verbindung wurde. Oder, was noch interessanter ist, eine Untersuchung der abweichenden X-Merkmale könnte ergeben, daß sie eine andere Eigenschaft Z besitzen, die sie von den "gehorsamen" X-Merkmalen unterscheidet. Dieses Ergebnis ermöglicht den Ausschluß der abweichenden Merkmale auf Grund der Tatsache, daß sie nicht genügend Ähnlichkeit mit den anderen X-Merkmalen haben, wobei das Kriterium der Ähnlichkeit jetzt auch die bisher unbedeutende Eigenschaft Zumfaßt. Oder aber es könnte entdeckt werden, daß Zugehörigkeit zu den X-Merkmalen eine Frage des Einstufungsgrades ist, so wie mehr oder weniger heiß oder mehr oder weniger intensiv rot. Wenn man von den abweichenden X-Merkmalen sagen kann, daß sich ihre X-Eigenschaft gradmäßig von der der anderen X-Merkmale unterscheidet, dann könnte diese Aussage der Grund dafür sein, daß man sie ausschließt und damit das Gesetz bewahrt. Mary Hesse weist auf diese verschiedenartigen Umgehungsmöglichkeiten als Methode dafür hin, die Schwelle eines Klassifikationssystems zu bestimmen. Diese Behauptung gilt ganz deutlich selbst dann, wenn eines der abweichenden X-Merkmale ein exemplarisches Beispiel sein sollte. Es gibt apriori keinen Grund anzunehmen, dies könne nicht geschehen. An keiner Stelle der schrittweisen Entwicklung der Behauptung trifft sie weniger gut auf exemplarische Beispiele zu als auf irgendein anderes Element der Kategorie. Die Behauptung ist völlig allgemeingültig. So kann also das exemplarische Beispiel aus seiner zentralen Position in der Kategorie in eine problematische Position am Rande geraten und schließlich ganz ausgeschlossen werden. Dieser Statuswandel zeigt, daß selbst exemplarische Beispiele von dem sie umgebenden Netz von Gesetzen abhängig sind, und umgekehrt, daß Gesetze, die exemplarische Beispiele betreffen, genauso unsicher sind wie irgendein anderes 22a .
VI
Das Argument kann noch weiter geführt werden, um die holistische Art und Weise herauszukristallisieren, in der Gesetze miteinander in Beziehung stehen. Das Schicksal eines Klassifikationssystems kann von äußerst geringfügigen Zufällen abhängen. Im Prinzip könnte sich eine Änderung oder Neuerung rückwirkend auf jeden anderen Teil des Netzwerks auswirken. Dieser Punkt kann ebenfalls anhand einer einfachen Episode aus der historischen Entwicklung der atomaren Theorie erläutert werden. Im Jahre 1811 formulierte Avogadro seine berühmte Hypothese, daß die Partikel bestimmter Gase, wie zum Beispiel Sauer-
Theorie über die Verbindung von Gasen zu beseitigen, stieß jedoch frontal mit Vorstellungen über die Elektrolyse zusammen, die zu dem Zeitpunkt vorherrschten. Die Elektrolyse ist ein Prozeß, in dem ein elektrischer Strom durch eine Flüssigkeit geleitet wird, um diese in ihre Bestandteile zu zerlegen. Zum Beispiel ergibt die Elektrolyse des Wassers die Bestandteile Sauerstoff und Wasserstoff. Zu Avogadros Zeit wurde dieser neue aufregende Prozeß damit erklärt, daß Sauerstoff und Wasserstoff im Wasser elektrisch gegensätzlich aufgeladen sein müssen. Da sich Gegensätze gegenseitig anziehen, wird Wasser durch elektrische Kräfte zusammengehalten, die dann in der Elektrolyse durch den elektrischen Strom aufgehoben werden. Aus dieser Theorie folgt jedoch, daß Atome der gleichen Substanz elektrisch gleich aufgeladen sind und sich abstoßen müssen. Wie war es daher möglich, daß sich zwei Atome zu einem Gasmolekül verbanden, wie Avogadro behauptete? Sie würden auseinanderfliegen und nichts würde sie zusammenhalten können. Ehe Avogadros Entdeckung akzeptiert werden konnte, mußte die Unterstützung für diese Theorie der Elektrolyse nachlassen, was auch schließlich geschah. Diese Episode ist typisch für die historische Entwicklung der atomaren Theorie. Die ganze Entwicklung besteht aus kniffligen Abwägungen zwischen verschiedenen Bereichen experimenteller Tatsache und Interpretation. Wie im vorliegenden Fall bereiteten die Lösungen von Problemen auf einem Gebiet auf anderen Gebieten Schwierigkeiten 23 . Für eine formale Darstellung des Arguments wollen wir wie zuvor mit einer Klassifizierung der Umwelt beginnen, die besagt, daß die meisten X-Merkmale V-Merkmale sind. Vielleicht nehmen wir sogar an, daß die Kategorien X und Y eine rein "externe" Beziehung zueinander haben: die Tatsache der Zuordnung eines X-Merkmals hat mit der Tatsache der Zuordnung eines V-Merkmals nichts zu tun. Dann wird der Vorschlag gemacht, daß alle X-Merkmale V-Merkmale sind. Um das Gesetz, das zwischen den Merkmalen X und Y eine Beziehung herzustellen scheint, zu vervollständigen - oder auch zu untergraben -, wird die Zuordnung von Merkmalen zur Kategorie X unter Berücksichtigung ihrer gleichzeitigen Eigenschaft als V-Merkmale vorgenommen. Die Beziehung wird eine "interne,,24. Aber diese ganze Geschichte über das X-Merkmal trifft auch für das V-Merkmal zu. Dieses Merkmal kann genauso wenig als unveränderlich, unproblematisch oder auf seinen Anwendungsbereich festgelegt behandelt werden. Auch die Schwelle dieses Merkmals kann angepaßt, seine exemplarischen Beispiele können ausgeworfen werden. Die Beziehung des V-Merkmals zu anderen Kategorien neben der X-Kategorie wird ebenfalls zu Gesetzen angeregt und Anpassungen ausgelöst haben. Diese Gesetze könnten sich durchaus auf unser erstes Gesetz beziehen, das die Merkmale X und Y verband. Die ursprüngliche grobe Korrelation zwischen X und Y kann hoch oder niedrig ausfallen, weil man sich bereits für die Anderung einer anderen Korrelation Y betreffend entschieden hatte. Natürlich könnten Entscheidungen über den Anwendungsbereich des Merkmals Y eine Anderung der Schwelle von Merkmal X mehr oder weniger erschweren, da andersartige X-Merkmale als anomal gelten. Das Problem, wie ihr Ausschluß aus der Kategorie der X-Merkmale zu rechtfertigen ist, wird
Es ergibt sich nun folgendes Gesamtbild. Die angemessene verbale Beschreibung eines Merkmals ist immer Sache des Kontexts und der direkten Konfrontation. Es gibt keine "direkte" verbale Schilderung von Erfahrung: sie wird immer durch ein Netzwerk von Gesetzen vermittelt. Wie Analogien und Metaphern, die lediglich Sonderfälle darstellen, reparieren Gesetze den fragmentarischen Charakter des Erfahrungserlebnisses; sie heben darin reale oder imaginäre Strukturen hervor und bewirken und rechtfertigen Anpassungen der Merkmalsschwelle. Sie fungieren als Auswahlfilter und erlauben uns gleichzeitig, Dingen ein eigenes Wesen zu unterstellen - so wie die Analogie mit der Wasserströmung eine Zeitlang das Wesen der Wärme erklärte und die Gesetze, denen sie angeblich unterlag, definierte. Alle Bestandteile dieses Netzwerks von Klassifikationssystemen sind Anpassungsprozessen ausgesetzt- und ebenso das Ergebnis dieser Prozesse. Zu jedem bestimmten Zeitpunkt wird das Netzwerk im Ausmaß begrenzt sein und einen sehr begrenzten Erfahrungsbereich strukturieren. Es wird daher unbekannten Zufällen ausgeliefert sein und kann auf Grund der für den jeweiligen Fall getroffenen Entscheidungen grundlegende Veränderungen durchmachen. Jedes Gesetz wird historisch dimensioniert sein; denn das Netzwerk-Modell ist nur Register oder Index der benutzten prädikativen Merkmale, der angestellten Vergleiche, der an der Erschaffung des Netzwerks beteiligten metaphorischen Beschreibungen und glossenhaften Erklärungen und der Entscheidungen darüber, welche Gesetze zu schützen oder welche zu opfern sind 2s .
VII Trotz all dieses Spielraums für interne Anpassung ist das Netzwerk-Modell kein frei schwebendes Denksystem. Klassifizierende Entscheidungen werden in Bezug auf die Umwelt und auf Grund von Erfahrung getroffen. Die Stärke dieser Verbindung zur Umwelt liegt in der Gewohnheit und der routinemäßigen Anwendung von prädikativen Merkmalen auf Grund ihrer Ähnlichkeit mit den jeweils vorhandenen exemplarischen Beispielen. Überlegungen dieser Art werden von Mary Hesse unter der Bezeichnung "Übereinstimmungspostulate " zusammengefaß t. Im Kontext des Netzwerk-Modells jedoch bezieht sich die Bezeichnung "Übereinstimmung" auf jede beliebige anhaltende Beziehung, die zur Umwelt hergestellt werden kann. All die üblichen Begriffsinhalte der strukturellen Identität oder der perfekten Realitätswiedergabe durch das Wissen müssen fallengelassen werden. Und zwar deshalb, weil sich das Modell auf der Annahme entwickelt, daß die Realität unendlich komplex ist 2sa . Alle Klassifizierungssysteme vereinfachen das von ihnen dargestellte, wodurch die Möglichkeit einer "Identität" zwischen Wissen und Umwelt genommen wird. Es gibt daher stets endlos viele Möglichkeiten der Reklassifizierung. Während also Hesses Übereinstimmungspostulat eine Verbindung zwischen Wissen und Umwelt geltend
An dieser Stelle kann ein Zweifel erhoben werden. Im Umgang mit bekannten Merkmalen sind uns manchmal deren Eigenschaften so vertraut geworden, daß die Behauptung zulässig ist, daß wir diese Eigenschaften einfach genau kennen. Realitätsanforderungen werden irreführende Denkgewohnheiten aussortieren und ein verläßliches Reaktionsmuster zurücklassen. Ebenso verlockend ist die Annahme, daß uns unsere Sinneserfahrung von der Umwelt in einigen Situationen ein unmittelbares Verstehen der dinglichen Eigenschaften gibt. Wenn diese Behauptungen stimmen, dann unterliegen nicht alle Teile unseres Netzwerks des Wissens Veränderungen. Einige Teile werden so eng mit der Umwelt verstrickt sein, daß die Netzwerkgesetze Gesetze der Dinge selbst genannt werden können. Diese Überlegung läßt vermuten, daß vielleicht doch eine stärkere Art von" Übereinstimmung" nötig ist 26 . Es scheint durchaus einleuchtend darauf zu bestehen, daß es in unserer kognitiven Beziehung zur Umwelt stabile Faktoren gibt, und diese Faktoren in Prozessen unserer motorischen Sinneserfahrung und Handhabung der Umwelt zu suchen. Sie leiten sich zweifellos aus der Entstehungsgeschichte von Augen, Händen und Nervensystem ab 27 . Es wird jedoch genügen zu argumentieren, daß der Soziologe wenigstens das NetzwerkModell in völlig uneingeschränkter Form dazu benutzen kann, jede beliebige explizite Definition der Realität oder jedes entwickelte System verbalisierten theoretischen Wissens zu beschreiben. Betrachten wir zum Beispiel unseren praktischen Umgang mit der Umwelt. Man kann dies als einen rein mechanischen Vorgang sehen: bestimmte Verhaltensformen haben bestimmte Wirkungen. Solch ein Repertoir von Verhaltensweisen kann tatsächlich konstante, wiederholbare Charakteristika aufweisen, kommt aber wohl kaum dem expliziten Wissen gleich, es sei denn, es gewinnt eine Art Eigenständigkeit. Zum Beispiel: in welchen Kategorien ist das überlieferte technische Wissen verschlüsselt? Wie wird es intern vermittelt und verbal überliefert? Welche Vorstellungen bestehen über Beziehungen zu anderen Denk- und Handelsmustern? Wie wird Versagen erklärt? Wie verhält es sich im Hinblick auf Behauptungen über Wahrheit und Unwahrheit? Wie wird es in Bezug auf ein anerkanntes Realitätsbild vernunftmäßig erklärt und beschrieben? Wenn wir Fragen dieser Art stellen und beantworten, können wir sicher sein, daß wir es mit Wissen im vollen Sinn des Wortes zu tun haben, mit Kollektivdarstellungen, und daß hier eine unqualifizierte Form des Netzwerk-Modells genügt. Denn so tiefgreifend sind die Veränderungen, die in unserem Denken über Ursache, Kraft, Materie, Körper und Seele stattgefunden haben, daß wir sicher sein können, daß keine jener Vorstellungen gegen Wandel immun ist oder durch die Realität allein gebremst werden kann 28 . Offensichtlich macht diese Antwort eine andere Frage umso dringlicher. Wie erklärt sich dann die bekannte Stabilität unseres expliziten theoretischen Wissens? Für den Soziologen ist die Antwort einfach.
entscheidungen der Schöpfer und Benutzer des Systems. Sie leitet sich aus der aktiven Schutzmaßnahme für Teile des Netzwerkes ab, das heißt aus der Bedingung, daß bestimmte Gesetze und Klassifizierungen intakt gehalten und alle Anpassungen und Änderungen an anderer Stelle vorgenommen werden. Der übrige Teil des Netzwerks wird dann zu einem Gebiet von Ressourcen für diesen Zweck - ein Bereich, wo Schwellen relativ einfach verschoben werden können, wo die Ursachen für Komplikationen oder Mißerfolge oder wo problematische Fälle untergebracht werden können. Wir müssen nicht annehmen, daß ein Gesetz oder Klassifikationssystem wegen irgendwelcher wesentlicher Kriterien wie Wahrheit, Selbstverständlichkeit oder Glaubwürdigkeit geschützt wird. Natürlich werden ihnen derartige Kriterien zugeschrieben, aber das bedeutet dann eher eine Rechtfertigung für die Sonderbehandlung als deren Ursache. In solchen Fällen, wo der bereits vorher vorhandene Glaube an den Wahrheitsgehalt eines Gesetzes der Grund für den Schutz dieses Gesetzes ist, ist der Glaubenszustand die Ursache und nicht irgendein Kriterium, das zum Gesetz gehört. Die besonders geschützten und daher unveränderlichen Teile des Netzwerks können etwa in zwei Arten unterteilt werden. Erstens gibt es bevorzugte theoretische Modelle, Metaphern und Analogien. Ihre wiederholte Anwendung verleiht dem Netzwerk Einheit und schafft Resonanz zwischen den Teilen. Zweitens gibt es bevorzugte Grenzen oder Trennungslinien. Diese trennen die verschiedenen Modelle oder Metaphern ab und geben deren genaue Anwendungsbegrenzungen an. Ein Beispiel für die erste Art ist die Präferenz für die Vorstellung von zirkularen Umlaufbahnen, die in der Astronomie vorzuherrschen pflegte. Hier lag eine Vorstellung vor, die Beobachtungen bestätigen sollte und die tatkräftig erforscht wurde. Es war eine Prämisse, die zur Interpretation des Datenmaterials diente, und keine Hypothese, die durch das Material getestet werden solle. Als es schwierig wurde, Anomalien zu ignorieren, wurde die Vorstellung vom Kreis zwar beibehalten, aber durch die Einführung von Epizyklen, Ekzentern und Äquanten erschwert 29 . Ein anderes Beispiel ist die Darstellung der Theorie über den Verbrennungs- und Verkalkungsprozeß aus dem 18. ] ahrhundert. Man hielt ein Metall für die chemische Verbindung von einer einfachen Substanz, dem Metallkalk, und einer Dosis Phlogiston. Die Tatsache, daß alle Metalle Phlogiston enthielten, erklärte deren Ähnlichkeit zueinander. Wenn ein Metall verglühte, ging Phlogiston verloren und der Metallkalk oder das, was wir Oxyd nennen würden, blieb übrig. Durch Wiegen entdeckte man jedoch, daß der Metallkalk schwerer war als das Metall im ursprünglichen Zustand. Wenn ein Metall Phlogiston verlor, nahm es an Gewicht zu. Anstatt die Theorie wegen dieses Problems abzulehnen, machten sich die Vertreter dieser Theorie daran, sie in ihr Netzwerk einzubauen, indem neue Gesetze als gegeben vorausgesetzt wurden. Sie schlugen vor, daß der Verlust von Phlogiston kein einfacher Entzugsprozeß war. Vielmehr wurde das Phlogiston, eine relativ leichte Substanz, durch Wasser ersetzt, das etwas schwerer ist. Immer dann, wenn Phlogiston verlorenging, trat Wasser an dessen Stelle und war dann im Kalk eher in Form von kristallisierte m Wasser vorhanden. Daher die Gewichtszu-
Als Beispiel für konstant gehaltene Grenzen denke man an die entschlossen durchge führte Verteidigung der Trennung zwischen dem Organischen und Anorganischen, zw schen lebender und toter Materie. In verschiedenen europäischen Ländern und zu ver schiedenen Zeitpunkten nahm diese Trennungslinie unterschiedlich große Bedeutun an. Im konservativen Frankreich des Zweiten Kaiserreichs wurde die Idee der sponta nen Entstehung von organischem Leben, die die Grenze zwischen lebender und tote Materie verletzt hätte, als eine theologisch gesehen schädliche, vom politischen Stand punkt gefährliche und in wissenschaftlicher Hinsicht falsche These abgelehnt. Da Netzwerk des Wissens wurde entsprechend angepaßt, um die gewünschte Wirkung auf rechtzuerhalten. Immer dann, wenn sich organisches Leben spontan aus einer im Labo präparierten toten Materie zu entwickeln schien, wurde als gegeben vorausgesetzt, da unbekannte, unsichtbare Lebewesen bereits vorhanden gewesen waren oder sich einge schlichen hatten, um so die Beobachtung erklären zu können. Tatsächlich galt da Nicht-Auftreten von organischem Leben bei solchen Versuchen als Maß dafür, daß si korrekt durchgeführt worden waren. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Art und We se, mit der Pasteur die "inkompetenten" Versuche Poucbets abtun konnte, als dies spontane Entstehung zu zeigen schienen 3 ! . Somit ist der Versuch unnötig, Stabilität mit einem Apell an Wahrheit und Realität z erklären. Aktiver Schutz ist ein gut dokumentiertes Phänomen und Erklärung genug Die Geschichte der Wissenschaft ist voll von Beispielen. Angesichts von Problemen is es in der Wissenschaft wie auch anderswo ein Routinevorgang, eine akzeptierte Theo rie und Vorgehensweise durch Ausbau des Netzwerks zu schützen - daher die Konti nuität von Forschungsprogrammen und Theorientraditionen 32 .
IX
Es wäre wünschenswert, mehr über die Faktoren zu wissen, die darüber entscheiden welche Teile eines Netzwerks die Benutzer konstant halten wollen. Was schützen wi wenn wir unser Netzwerk des Wissens selektiv manipulieren und einige bestimmte Ge setze abschirmen? Ein Teil der Antwort lautet, daß wir die schwer gewonnene Fähigkeit schützen, mit un serer Umwelt fertigzuwerden. Wir müssen uns jedoch kein allzu enges Bild von diese Tätigkeit machen. Das Netzwerk-Modell hat gezeigt, daß alle Klassifikationsschemata wie stark sie auch immer auf die Praxis ausgerichtet sein mögen, in jedem Punkt durc soziale Prozesse aufrechterhalten werden müssen. Ein steter Strom von Entscheidun gen ist hinsichtlich der Klassifikationsgrenzen erforderlich: Entscheidungen darüber welche Gesetze beibehalten werden sollen, wenn die Erfahrung widersprüchliche Er gebnisse liefert oder wenn wir durch gegensätzliche Interpretationen auf die Probe ge stellt werden. Konventionelle Faktoren sind vorhanden und notwendig im gesamte Netzwerk. Strategische Entscheidungen müssen die vielen taktischen Entscheidunge
Als Bezeichnung und Erklärung für unsere Schutzmaßnahmen schlägt Mary Hesse den Begriff der "Kohärenzbedingungen" vor. Es sind Bedingungen, die einem Netzwerk von Gesetzen auferlegt werden, ohne selbst Gesetze darzustellen. Eine Behandlung gerade dieses Themas dürfte uns unsere Frage ausführlicher beantworten. Leider enthält "The Structure of Scientific Inference" nur ein Kapitel über Ursprung und Wesen der Kohärenzbedingungen. Wir erfahren, daß es zwei Arten gibt: "physical constraints ... which may have been selected during the evolution of learning organisms" und "perhaps culturally conditioned metaphysical principles"33. Ich werde wie bisher vorgehen, den biologischen Beitrag zu diesem Thema beiseitelassen und mich auf die im sozialen Bereich entstandenen Kohärenzbedingungen beschränken 34 . Der Satz "kulturell bedingte metaphysische Grundregeln" soll offenbar nur als Hinweis auf Sachverhalte sozialer Art gelten. Trotzdem klingt er völlig falsch. Metaphysische Grundregeln bedürfen genauso der Erklärung wie die kognitiven Präferenzen, die sie hervorbringen sollen, und dasselbe gilt für die kulturellen Faktoren, die dann wiederum als deren Ursache bezeichnet werden. Ich wiederhole also, die Bezugnahme auf den Prozeß der Konditionierung, wenn auch nur in schwacher Form, läßt vermuten, daß metaphysische Grundregeln passiv aufgenommen werden und dann unser Denken dominieren und bestimmen. Dies ist eine unwahrscheinliche Darstellung des menschlichen Handeins und schafft außerdem noch ein Problem, das den Ursprung des Konditionierungsvorgangs betrifft 35 . Glücklicherweise gibt es eine Behandlung dieses Themas, die alle diese Fallen vermeidet. Die Anthropologin Mary Douglas schlug vor, daß metaphysische Grundregeln und konzeptionelle Vorstellungen über die Natur als polemische Waffen benutzt werden bei dem Versuch, unsere Mitmenschen zu kontrollieren 36 . Wesen und Wirken der Natur liefern uns ein Repertoire von Legitimationen und Rechtfertigungen; Gefahrenquellen dienen als Mittel der Drohung und Schuldursache; und Vorstellungen von Ordnung geben uns Halt. Bei der Verfolgung unserer sozialen Ziele ist es von Nutzen, die Natur in solcher Weise als ein Symbol zu verwenden, und in einem gegebenen Kontext werden bestimmte Naturgesetze für diese Aufgabe besonders gut geeignet sein. Da der Wunsch der Vater des Gedankens ist, werden diese Gesetze apriori mit einer hohen Erfolgswahrscheinlichkeit belegt und so behandelt, als wären sie eigenständig oder notwendig. Mary Douglas schlägt vor, daß "Apprehending a general pattern of what is right and necessary in social relations is the basis of society: this apprehension generated whatever apriori or set of necessary causes is going to be found in nature 37 ." Hiermit ergibt sich eine Erklärungsmöglichkeit dafür, wie Kohärenzbedingungen entstehen können. Sie können sich daraus ergeben, daß die Natur für sowohl soziale als auch praktische Zwecke genutzt wird. Bestimmte Gesetze werden geschützt und als unveränderlich erklärt, weil angenommen wird, daß sie für Zwecke der Rechtfertigung, Legitimation und als soziale Überzeugungskraft von Nutzen sind. Da diese Maßnahmen Interessen fördern sollen, können wir sagen, daß Interessen Kohärenzbedingungen sind.
Um diese Überlegungen in der Praxis vorzuführen, werde ich eine Reihe von Vorfällen betrachten, die im Mittelpunkt der historischen Entwicklung der physikalischen Theorie Newtons stehen. Die Wahl eines esoterischen Wissenschaftsbereiches ist willkürlich. Damit wird die Tatsache hervorgehoben, daß das Interesse für Möglichkeiten der Vorhersage und Kontrolle über die Natur nicht automatisch aufgegeben wird, wenn man sie für moralische Zwecke einsetzt. Gleichzeitig werden wir sehen können, daß das Interesse an sozialer Kontrolle die bestimmte Art und Weise, in der sich ein Wissensbereich über die Natur entwickelt, besonders tief beeinflußt. Die in den Beispielen berührten Sachverhalte sind an sich nicht technischer Natur, ihre Auswirkungen für die Technik aber sind einschneidend.
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Wissenschaftshistoriker haben uns eine faszinierende Darstellung dessen gegeben, was die atomistische oder mechanische Philosophie genannt wird 38 . Robert Boyle und die Gruppe, die später den Nukleus der Royal Society of London bilden sollte, übernahmen und verbesserten diese Theorie Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre des 17. Jahrhunderts. Gemäß der atomistischen Philosophie wurde Natur im Sinne von Partikeln einer unbeweglichen Materie verstanden, die blind den Bewegungsgesetzen gehorchten und auf die solche Kräfte wie die Anziehungskraft einwirkten 39 . Diese Theoretiker bestanden insbesondere darauf, daß das Prinzip der aktiven Bewegung in den Materiepartikeln selbst nicht enthalten war. Materie war ein Rohzustand, unbeweglich und ohne Denkvermögen, und konnte sich weder aus eigenem Antrieb bewegen noch strukturieren. In einer kritischen Bemerkung über Lucretius sagt Boyle: "He supposes his eternal atoms to have from eternity been their own movers, whereas it is plain, that motion is no way necessary to the essen ce of matter ... Nor has any man, that I know, satisfactorily made out how matter can move itself40 ." Die atomistische Philosophie war eine Erwiderung auf die allgemein gebräuchlichen und allgemein anerkannten Vorstellungen von der Natur4 ! . Im großen und ganzen stellte Boyle diese Vorstellungen den Lehrmeinungen des Aristoteles gleich, aber außerdem waren noch zwei andere bedeutende Themenkreise Ziel seiner Kritik. Einer dieser Themenkreise war, wie wir gesehen haben, die Form der Lehre vom Atom, die von den heidnischen Denkern der Antike entwickelt worden war. Das andere war die Populäralchemie, wie sie von Helmont und Paracelsus gelehrt wurde. Boyle behauptete, daß alle diese Theorien auf demselben Fehler beruhten. Jede setzte auf ihre Weise voraus, daß die Bewegungsursache in der Materie selbst läge. Sie alle behandelten Natur, als sei sie ein vom Wesen her aktives, sich selbst strukturierendes Phänomen. Boyle nahm als Beispiel die akzeptierte Erklärung dafür, warum Wasser in einem Strohhalm hochsteigt, wenn die Luft herausgesaugt worden ist. Dieser Vorgang beruhe, so
fully provides for the safety of the universe ; or that a brute or inanirnate cre atu re , as water, not only has apower to rnove its heavy body upwards, contrary (to speak in their language) to the tendency of its particular nature, but knows both that air has been sucked out of the reed, and that unless it succeed the attracted air, there will follow a vacuurn; and that his water is with all so generous, as by ascending, to act .... like a noble patriot, that sacrifices his private in te rests to the publiek ones of his country42 ."
Die korrekte Betrachtungsweise, sagt Boyle, besteht darin, jeden Hinweis auf diese Seele der Natur zu vermeiden und nur vom Gewicht oder Druck der Luft zu sprechen. Allgemein ausgedrückt, wir müssen uns nur auf Größe, Form und Beschaffenheit von Materiepartikeln berufen und Ursachen für Aktivität und Bewegung so erklären, daß daraus hervorgeht, daß sie stets von außen auf die Materie einwirken. Sie gehören nicht zur Materie als solche. Wie sollen wir verstehen, daß man in gewissen wissenschaftlichen Kreisen ziemlich plötzlich die Idee einer unbeweglichen, passiven Materie der Vorstellung von einer aktiven, sich aus eigenem Antrieb bewegenden Materie vorzuziehen begann? Es gab im Grunde nichts Widersprüchliches an den abgelehnten Meinungen, über das man hätte debattieren können. Tatsächlich waren Boyle und andere Vertreter der atomistischen Philosophie wie Charleton erst kurze Zeit zuvor selbst Anhänger solcher Theorien gewesen und hatten sie auch weiterhin selektiv und unsystematisch benutzt43 . Um den Wandel erklären zu können, schien es den Historikern angebracht, den sozialen Kontext zu betrachten. In der Zeit zwischen Bürgerkrieg und Restauration war in England die Maschinerie der sozialen Kontrolle zusammengebrochen. Gleichzeitig hatte eine wucherhafte Verbreitung von radikalen religiösen Gruppen und Sekten wie den Diggers oder True Levellers, den Ranters, Seekers und Familiasts stattgefunden. Diese störenden und oft bizarren "Fanatiker" leiteten ihre Religions- und Moralvorstellung aus eigenen Offenbarungen und dem eigenen Gewissen ab. Sie gewannen Anhänger unter der wachsenden Anzahl von "Männern ohne Dienstherren" und den Überresten der Cromwellschen Armee und drohten, von innerer Erleuchtung angetrieben, die Welt auf den Kopf zu stellen 44 . Denn trotz des stark persönlichen Charakters ihrer Wissensquellen enthielten ihre Offenbarungen eine Botschaft, die in ihrer allgemeingültigen Form beunruhigte: Widerstand gegen Kirchen-Tythes, die Entstaatlichung der Kirche, Neuverteilung von Eigentum, politische und soziale Gleichheit - und Einführung des Laienpredigerturns. Die Art der Organisation sollte ihrem Ermessen überlassen sein. Diese noch nie dagewesene Forderung nach Autonomie schien in theologischer Hinsicht durch die Unmittelbarkeit des Kontaktes der Sektierer mit Gott gerechtfertigt. Das Göttliche, so predigten sie, war als Möglichkeit in allen Menschen und der Natur vorhanden. Es war in dem Boden, den sie pflügten, in der Allmende, die sie als ihr Eigentum forderten, und es konnte direkt erfahren werden. Es war für das Auge erkennbar45 . Gott war identisch geworden mit dem Naturreich und das Naturreich war göttlich geworden. Diese Vorstellung tritt deutlich in den Schriften Gerrard Winstanleys
halb seiner Schöpfung ." Für die Sektierer ist Gott die Seele der Welt. Der Hon. Robert Boyle und die zukünftigen führenden Mitglieder der Royal Society hatten andere soziale Ziele im Sinn und ihre Interessen unterschieden sich sehr von denen der Sektierer. Ihr persönliches Geschick hing eng mit der Forderung nach festen sozialen Formen zusammen. Im Jahre 1646 hatte Boyle mit Bestürzung festgestellt, daß London "nicht weniger als 200 verschiedene religiöse Gruppen ... beherbergt", und er wollte "den zunehmenden Schwindeleien der Sektierer Einhalt gebieten, die diese verstörte Stadt zu ihrem Treffpunkt gemacht haben"47. Boyle hatte während des Bürgerkriegs finanzielle Einbußen erlitten (seine Güter in Irland waren verlorengegangen); er hatte sich jedoch voll und ganz mit der neuen Republik verbunden und genoß jetzt die Vorteile aus dieser Verbindung, Vorteile, die durch die anhaltenden Unruhen gefährdet waren. Viele Jahre lang, selbst nach der Restaurationszeit, beschäftigten ihn weiterhin die Sektierer und die Gefahr des Wiederauflebens ihrer Bewegung, genauso wie ihm die Gefahr von Seiten der Römischen Kirche weiterhin Sorgen machte. Zum Beispiel hatte die Krise, die aus dem erfolglosen Versuch entstand, fames von der Thronfolge auszuschließen, und die Möglichkeit, daß der König Katholiken und Dissidenten Glaubensfreiheit gewähren könnte, die Veröffentlichung von Boyles Free Enquiry into tbe Vulgarly Received Notions of Nature 48 zur Folge. Darin schreibt er:
"There is lately sprung up a sect of men, as weil professing Christianity, as pretending to philosophy, who ... do very much symbolize with the ancient Heathens, and talk much indeed of God, but mean such a one, as is not really distinct from the animated and intelligent universe 49 ."
An die Stelle dieses lebendigen, denkfähigen Universums setzte Boyle die mechanische Philosophie mit ihrer toten, denkunfähigen Materie. Diese Vorstellung diente dann als Unterstützung für die sozialen und politischen Programme, die er und sein Kreis vertraten, und wurde "Freidenkertum" genannt. Ziel war weder volle Meinungsfreiheit noch direkte Unterdrückung. Ein Programm der Unterdrückung, so nahm man an, sei zum Scheitern verurteilt und habe dann die gleichen katastrophalen Folgen wie das Programm der Meinungsfreiheit. Ein Programm der Mitte war erforderlich, das Dissent einbezog und auf den religiösen Bereich beschränkte. Fanatismus sollte durch eine Ethik des fleißigen, zeitraubenden Arbeitens verhindert werden, während Inspiration dem langsamen Prozeß der Anhäufung von Wissen durch Studium und Experiment weichen sollte. Hierdurch sollte den Sektierern die Initiative genommen und dorthin zurückgegeben werden, wo sie hingehörte. Die Kirche würde so neuen Aufschwung bekommen, als Werkzeug Gottes anerkannt werden und bei der Durchführung sozialer Programme eine führende Rolle zuerteilt bekommen - ebenso wie die Gruppe, die dieses ganze Programm vertrat. Ein Empfinden dafür, wie das Phänomen Natur für ideologische Zwecke ausgenutzt werden konnte, war zu Boyles Zeiten weit verbreitet und spielte in derzeitigen Polemiken eine zentrale Rolle. So wurden die sektiererischen Anhänger von Paracelsus und Helmont angegriffen wegen des "Familiasticall-Levelling-Magicall Temper" ihrer Grund-
and their qualities for letters 51 ". Wenn wir Boyles Einladung Folge leisten - was sicherlich seinen Absichten entsprechen würde - und die atomistische Philosophie als ein" real hieroglyphick" verstehen, dann müßte es uns gelingen, zwischen der Idee des Freidenkertums und der Tatsache, daß er die leblose Materie einer aktiven, sich selbst strukturierenden Natur vorzieht, eine Verbindung zu schaffen. Die Sektierer hatten den Kosmos so konzipiert, daß für professionelle Vermittler oder Interpreten des göttlichen Willens keine Rolle vorgesehen war. Der Glaube, daß die Sinneserfahrung einen direkten Zugang zur Realität bot und die Erfahrung durch die Offenbarung vermittelt wurde, diente ihnen als ausreichende Quelle des Wissens und der Orientierung. Die These von der Eigentätigkeit in der Natur unterstützte die Forderung nach Autonomie, denn gemäß dieser These waren alle Ursachen dieser Tätigkeit im Weltlichen zu finden, wo sie verstanden werden konnten. In der These steht Tätigkeit sozusagen unten und nicht oben. Im Zusammenbruch natürlicher Hierarchien sahen sie Rechtfertigung für das Einreißen sozialer Hierarchien. Die Behauptung, daß Materie sich selbst organisieren könne, enthielt die Botschaft, daß auch Menschen dazu fähig waren. Im Gegensatz dazu machte die Behauptung, daß Materie leblos sei und von nicht-materiellen aktiven Gesetzen abhänge, die Natur zum Träger der gegenteiligen Botschaft. Danach galt die Welt als Vorbild für eine bürgerliche Gesellschaft, die von der auf allen Gebieten tätigen, dominierenden Anglikanischen Kirche abhängig war. Die Kirche wurde als Werkzeug Gottes im sozialen Bereich dargestellt. Sie übte Kontrolle aus über soziale Bewegung, wie geistige Kräfte und aktive Naturgesetze Kontrolle über die Bewegung von Materie ausübten 52 . Die Liste von Begriffen und deren Bedeutungen, die im großen Buch der Natur vorkommen, fällt daher einfach und kurz aus. Für leblose Materie setze man "Menschen", für aktives Gesetz und Kraft "Anglikanische Kirche", für natürliche Hierarchie von Materie und Geist setze man "soziale Hierarchie". Abzustreiten, daß sich Materie bewegen und selbst strukturieren kann, heißt zu leugnen, daß (gewisse) Menschen sich selbst organisieren können.
XI
Die Richtigkeit dieser Begriffsauslegung wird noch bekräftigt, wenn wir die Geschichte der atomistischen Philosophie verfolgen und die Art und Weise betrachten, in der sie von Newton und seinen Anhängern 53 für wissenschaftliche und soziale Zwecke zugleich ausgebaut wurde. Zum Beispiel gab im Jahre 1667 Sprats History of the Royal Society eine zeitgemäße Erklärung darüber, wie mit Hilfe der Wissenschaft bei den Untertanen eines Herrschers die Haltung der Unterwürfigkeit hervorgerufen werden kann.
herrschen. Wissenschaft, so sagt Sprat, , ,shows us the difficulty of ordering the very motion of senseless and irrational things; and therefore how much harder it is to rule the restless minds of men 54 ." Eine berühmte Vortragsreihe, aus Boyles Hinterlassenschaft finanziert, wurde von Newtons Anhängern dazu benutzt, die atomistische Philosophie zur Anwendung zu bringen. Die Boyle-Vorträge wurden als eine Grundlage für die Verbreitung der freidenkerischen Idee benutzt. Ziel war zwar immer noch, Fanatismus und Katholizismus zu bekämpfen, inzwischen aber war eine Rechtfertigung der Glorreichen Revolution von 1688 notwendig geworden. Außerdem mußte man sich mit den immer einflußreicher werdenden Männern des Geschäftslebens ("business and dispatch "), der aufsteigenden kapitalistischen Klasse einigen. Die Revolution wurde daher als das Werk göttlicher Vorsehung dargestellt, während die Kapitalisten unterstützt und umworben wurden - unter der einzigen Bedingung, daß der Anglikanischen Kirche eine führende Rolle eingeräumt wurde. Das bedeutete zum Beispiel eine Ablehnung der Hobbesschen Vorstellung, daß wirtschaftliche Rationalität ein System darstellt, das sich selbst strukturiert und genügt. Bezeichnenderweise wurden auch Hobbes' metaphysische Grundideen über Materie und Bewegung für falsch erklärt; denn auch er behauptete, daß sich Materie aus eigenem Antrieb bewegen konnte 55 . Der Sinn des Ganzen ist klar zu verstehen. Newtons Freund Samuel Clarke drückte es in sein.:m Boyle-Vortrag so aus: "The generality of men must not by any means be left wholly to the workings of their own minds, to the use of their natural faculties 56 ." Sehen wir uns Newtons Außerungen an, so entdecken wir, daß auch er darauf bestand, Gott sei der Herr der Schöpfung, nicht die Seele der Welt. Er schrieb zum Beispiel im General Scholium zu den Mathematical Principles, "the word God is a relative Term, and has Reference to Servants, and Deity is the Dominion of God, not (such as a Soul has) over a Body of its own, which is the notions of those who make God the Soul of the World; but (such as a Governor has) over Servants 57 ." Auch er nahm an, daß "we find almost no other reason for atheism than this notion of bodies having, as it were, a complete, absolute and independent reality in themselves 58 ." Um es noch einmal zu sagen, Newton hielt in seinen wissenschaftlichen Werken immer daran fest, daß sich Materie nicht aus eigenem Antrieb bewegen konnte. In seinen Optic ks sagte er:
"The Vis inertiae is a passive Principle by which Bodies persists in their Motion or Rest, receive Motion in proportion to the Force impressing it, and resist as much as they are resisted. By this Principle alone there never could have been any Motion in the World. Some other Principle was necessary for putting Bodies inta Motion; and now they are in Motion, some other Principle is necessary for conserving the Motion 59."
"he sought one means after another to avoid attributing activity and agency to matter,,60. In unserer Terminologie war das passive Verhalten der Materie ein geschütztes Gesetz, eine Vorstellung, die von Vertretern der mechanischen Philosophie geteilt wurde. Hinter dem Gesetz muß eine Kohärenzbedingung stehen, also ein Interesse und ein sozialer Zweck. Wir wissen, daß Newton und seine Anhänger in die politischen Angelegenheiten des protestantisch-pietistischen Teils der Kirche Englands verwickelt waren, und kennen ihr besonderes Interesse für das Anliegen der Whigs und die ideologische Kontinuität der Ideenentwicklung von Boyles Freidenkertum bis zu ihrem eigenen. Newton drückte dies so aus, als er seinem Schützling Bentley bei der Vorbereitung auf einen Boyle-Vortrag half: er "war überglücklich", seine Naturphilosophie in solcher Weise angewendet zu sehen, denn "when I wrote my treatise upon our system, I had an eye upon such principles"61 . Natürlich wird man weder bei Boyle und Newton noch bei ihren freidenkerischen Widersachern die Aussage finden, daß sie ihren jeweiligen Standpunkt nur wegen der politischen Auswirkungen vertreten, obwohl sie sich sehr mit diesen Auswirkungen befaßten. Beide Seiten vertreten ihre Standpunkte, weil Erfahrung, Vernunft oder die Bibel sie davon überzeugte. Wir aber wissen genug über die auseinandergehenden Interessen beider Seiten, um erklären zu können, warum all diese Quellen rationaler Beweisführung zu derart gegenteiligen Folgerungen führten 62 . Beide Gruppen verfaßten die grundlegenden Gesetze und Klassifikationen ihres Naturwissens derart, daß sie auf kunstvolle Weise mit ihren sozialen Zielen in Einklang gebracht waren. Der politische Kontext wurde dazu benutzt, verschiedene Vorstellungen von der physischen Welt aufzubauen. Die Ressourcen des Netzwerks von Gesetzen wurden eingesetzt, um das Netzwerk angesichts neuer Aufgaben und Fakten zu erhalten. Wie wir gesehen haben, war das Endergebnis in beiden Fällen die Bestätigung der These, daß die Klassifikation von Dingen die Klassifikation von Menschen reproduziert 63 .
XII
Um diese Schlußfolgerungen zu bekräftigen, werde ich nun zu der herkömmlichen Kritik an Durkheim und Mauss zurückkehren. Erstens habe ich keinen Versuch unternommen, die von Kritikern unter den Anthropologen erhobenen empirischen Einwände zu diskutieren. Stattdessen habe ich einen neuen Bereich von Fakten dargelegt, die die in den Formes primitives de classification enthaltene These bestätigen. Auf einer derart sicheren empirischen Grundlage gilt es dann, den Wirkungsbereich der Behauptung zu finden. Es wäre sicher nicht schwer, weitaus mehr faktisches Beweismaterial zu liefern, als das hier geschehen ist 64 .
te Version der Theorie Gültigkeit haben. Betrachten wir zum Beispiel den von Benoit Smullyan angeregten theoretischen Einwand. Er behauptet, daß unsere Konzepte in er ster Linie darauf hinzielen, uns die Anpassung an die Umwelt zu ermöglichen, und "i they simply reflected the organisation of a particular society, they would not so wel fit the physical world ,,65. Diesem Einwand liegt die Annahme zugrunde, daß Natur und Gesellschaft zwei in ge gensätzliche Richtungen wirkende Kräfte sind. Bejahung der einen Kraft bedeute Verneinung der anderen. Durkheim war dieses Problem bekannt. In den ersten und letzten Kapiteln von Les formes elementaires stellt er die Frage, wie es möglich sein kann, daß sich nach sozialen Strukturen gebildete Konzepte auch auf die Natur anwen den lassen? Er beantwortet diese Frage damit, daß Gesellschaft immerhin "Teil der Na tur" ist und daher deren allgemeine Charakteristika teilt. Die Voraussetzungen diese Behauptung sind richtig, aber der Grundgedanke ist zu vage, um eine überzeugende Lö sung des Problems zu geben 66 . Angesichts der Unzulänglichkeit dieser Erwiderung überrascht es vielleicht nicht, daß sich Durkheim die Freiheit nahm, "wissenschaftlich erarbeitete, kritisch betrachtete Konzepte" aus dem Rahmen seiner Analyse auszuschließen 67 . Auf dieser schwachen Grundlage für die Behauptung, daß Konzepte Natur und Gesellschaft gleichzeitig wi derspiegeln können, würde natürlich ein Respektiuen der Wissenschaft die Minimali sierung des sozialen Faktors bedeuten. Folglich wird behauptet, daß sich wissenschaft liche Konzepte allmählich dem Zugriff der Gesellschaft entziehen und nur noch auf die Natur reagieren 68 . Durkheim behauptet dann einfach, diese Ausnahmen zu seiner Theo rie seien ohne Bedeutung, da wissenschaftliche Konzepte nur eine "sehr geringe Min derheit" darstellten 69 . Natürlich ist dieses Problem von Bedeutung. Es ist ein prinzipielles Zugeständnis. Es verweigert der Wissenssoziologie den Zutritt zu den Wissensgebieten, die uns am ernst haftesten interessieren. Durkheims Zugeständnis war jedoch verfrüht. Die von mir an geführten wissenschaftlichen Beispiele und das Netzwerk-Modell zeigen, daß Wissens systeme durchaus in der Lage sein können, die Gesellschaft zu reflektieren und sich gleichzeitig an die Natur zu richten. Einfach ausgedrückt liegt die Lösung des Problems darin, daß der soziale Faktor eine der Kohärenzbedingungen darstellt, während die Elastizität des Netzwerks die Ressourcen für eine Verbindung dieser Anforderungen mit dem Erfahrungsbeitrag liefert. Die Vorstellung, daß auf dem Wege des Wissens zwe Mitteilungen gleichzeitig weitergegeben werden können, erfordert die Ablehnung de These, daß Natur und Gesellschaft extreme Gegensätze sind. Sie erfordert außerdem von uns weniger Selbstgefälligkeit gegenüber der Frage, was es heißt, "in die physische Welt zu passen". In diesem Punkt ist das Netzwerk-Modell von entscheidender Bedeu tung. Der letzte logische Einwand richtet sich an den Kern der Durkheimschen soziologi schen Theorie des Wissens. Er betrifft Durkheims Behandlung der sogenannten "Kate gorien" des Denkens. Mit dem Begriff "Kategorie" meint Durkheim die Vorstellungen
Er nennt sie "die Modellierformen des geistigen Lebens". Sie "sind wie der feste Rahmen, der alles Denken umschließt". Um es noch einmal zu sagen, sie "zwängen unsere Intelligenz ein" und es scheint so, als würde der Denkprozeß ohne sie abbrechen. Während "andere Vorstellungen bedingt und schwankend" sind, besitzen die Kategorien "eine besondere Art moralischer Notwendigkeit, die für den Intellekt die gleiche Bedeutung hat wie die moralische Verpflichtung für den Willen" 70 . Wir können aus Durkheims Beschreibung sofort erkennen, daß seine "Kategorien" Teile des Netzwerks sind, die durch Kohärenzbedingungen konstant gehalten werden. Denn diese sind die Teile unseres Wissenssystems, die dessen Einzelheiten dominieren, die einen Rahmen bilden und auf das System ausgeübte Zwänge signalisieren 71. Sie können nicht nur aus der Erfahrung gebildet werden, und ihre unbedingte Garantie für Stabilität verleiht ihnen eine besondere Notwendigkeit. In Zukunft werde ich davon ausgehen, daß, wenn Durkheim den Begriff "Kategorie" gebraucht, dieser Begriff sich auf ein besonders hervortretendes, geschütztes Gesetz bezieht, ähnlich wie Boyles und Newtons Annahme, daß sich Materie passiv verhält 72 • Im Jahre 1915 argumentierte Gehlke, daß Durkheims gesamte Behandlung dieser Frage durch die Verwechslung von kapazitiven Eigenschaften des Geistes mit dem Inhalt des Geistes beeinträchtigt wird 73. Eine "kapazitive Eigenschaft" ist eine Fähigkeit, Befähigung oder Eignung - während sich "Inhalt" auf eine ganz bestimmte Glaubensvorstellung, Idee oder Darstellung bezieht. Zum Beispiel unterscheidet sich die Fähigkeit, in räumlichen Begriffen denken zu können, und die Befähigung, Erfahrenserlebnisse räumlich einordnen zu können, völlig von irgendeiner besonderen Glaubensvorstellung über das Wesen des Raumes, wie zum Beispiel die Vorstellung von Raum im Euklidschen Sinn. Gehlkes Überlegung wird dann von Dennes zu Ende geführt, der argumentiert, daß: "Durkheim's theory of the origin of the categories depends upon his ambiguous eoneeption of mind. If he takes mind in the Kantian sense, the sense usual in epistemology, as the subjeet's system of eognitive faeulties, it is ridieulous to say that the eategories of the mind are in any sense transferenees from social organisation. The eategory of quantity would have to exist and to operate in order that an individual mind should even reeognise the one, the many and the whole, of the divisions of his social group. And again, it is only by the mind's pereeiving its data in the form of sueeession that the periodicity of religious rites eould have been known at all .... If, on the other hand, Durkheim means by mind a mere aggregation of representations or ideas, there is sense in supposing that the first ideas of time may have been of the periodieity of primitive religious rites, the first ideas of quantity, of the divisions of the tribe, ete. But the supposition is then of merely historical importance .... It has no direet bearing upon either the epistemologie al or the psyehologieal study of the nature or status of the eategories of mind 74."
Das Argument lautet, daß Durkheims Theorie von den Kategorien im Kreis verläuft, weil eine Gruppe von sozialen Akteuren vorausgesetzt wird, die bereits mit gerade diesen Kategorien ausgestattet sind. Dieser Vorwurf ist völlig unbegründet. Zunächst einmal reden die kritischen Betrachter an Durkheim vorbei. Sie wenden den Begriff "Kategorie" in einer bestimmten Bedeutung an, er in einer anderen. Die kriti-
was Soziales. In seiner Diskussion über den Unterschied zwischen unserem subjektiven Zeitgefühl und der objektiven Kategorie von Zeit erklärt er, daß eine Kategorie "in sich ... eine echte soziale Institution" ist 75. Er benutzt den Begriff "Kategorie" bei der Beschreibung von öffentlichen Wissenssystemen: "Sie sind im Grunde kollektive Systeme 76." Der Begriff bezieht sich auf ein Merkmal unseres mit anderen geteilten Wissens und bezeichnet den Sonderstatus, der einem Teil des Systems gegenüber den restlichen Teilen verliehen wird. Die Kategorien sind die Teile, denen die Rolle des a priori Vorhandenseins zu erteilt wird. Trotz seiner evolutionären und historischen Betrachtungsweise macht Durkheim ganz deutlich, daß das apriori Vorhandensein beim Wissen nicht mit dem Vorhandensein im biologischen oder psychologischen Sinne gleichzusetzen ist 77. Vorhandensein im hier diskutierten Sinn ist unpersönlich und objektiv, und wird immer als zeitlich ungebunden verstanden 78. Kein Wunder also, daß kritische Betrachter glauben, Durkheim setze das voraus, wofür er Beweise liefern solle, wenn sie seine Untersuchung wie eine Studie über das Wesen des menschlichen Geistes behandeln. Man erklärt uns zum Beispiel, daß, obwohl Les formes primitives de classification den Untertitel trägt "ein Beitrag zur Untersuchung von Kollektivsystemen ", Durkheims und Mauss' "wahres Interesse die ganze Zeit hindurch darin besteht, eine Fähigkeit des menschlichen Geistes zu untersuchen"79. Tatsächlich äußern sich Durkheim und Mauss ganz deutlich über die Fähigkeiten, die sie Individuen zuerkennen, und stellen mit absoluter Bestimmtheit fest, daß das, worum es in ihrer Erklärung geht, etwas anderes ist. Wenn die von den kritischen Betrachtern selbst geschaffenen Verwirrungen beiseite geräumt worden sind, ist eine völlig konsistente Beweisführung zu erkennen, in der keineswegs Fähigkeiten und Inhalt durcheinandergeworfen werden. Es ist in der Tat genau die gleiche Beweisführung, wie sie bei der Entwicklung des Netzwerk-Modells angewandt wurde. Durkheim und Mauss teilen uns mit, daß der menschliche Geist fähig ist, beim Erfahrungsablauf rudimentäre Unterscheidungen zu treffen: er kann Ähnlichkeiten entdekken, er besitzt räumlichen und zeitlichen Orientierungssinn und er kann Erwartungen entwickeln, die eine Vorstellung von theoretischen Überlegungen über Ursache und Wirkung ermöglichen 8o . So viel - was der Mensch übrigens mit der geistigen Beschaffenheit anderer Tiere gemeinsam hat - wird in der Tat durch das Leben in Gesellschaft vorherbestimmt und kann nicht damit erklärt werden. Was aber, so fragen kritische Betrachter, gibt es dann noch zu erklären, "wenn so viele Zugeständnisse gemacht werden ,,?81 Auch Durkheim und Mauss sind bemüht daraufhinzuweisen, daß es eine Menge zu erklären gibt. Worauf sie hinauswollen ist, daß das, "woraus sich tatsächlich eine Klassifikation zusammensetzt", über Merkmale verfügt, die sich unmöglich aus derartigen individuellen, kognitiven Fähigkeiten ergeben können, wie sie gerade "zugestanden" wurden. Wie aus dem Netzwerk-Modell ersichtlich, enthalten öffentliche Wissenssysteme Organisationsgesetze und -regeln, die bindend und maßgebend sind 82 . Diese haben die Eigenschaft, "eine externe Norm" zu sein, "die über der fließenden Menge
re moralische Konzepte damit erklären, daß sie an die individuellen psychologischen Veranlagungen appellieren. Die Annahme, daß individuelle Klassifikationsneigungen irgendeinem Produkt solcher Klassifikationen Autorität verleihen könnten, kommt der Annahme gleich, daß ein isoliert lebendes Individuum sich selbst eine moralische Verpflichtung auferlegen kann (als ob das Verlangen, etwas zu tun, voraussetzt, daß man verpflichtet ist, es zu tun; oder als ob Abscheu ein Verbot in embryonalem Stadium darstellt). Genauso wie die Moralitätsfrage erörtert werden kann, gleich welcher Art unsere als gegeben angenommenen, natürlichen Neigungen sind, so kann auch die Frage der notwendigen, apriori vorhandenen Teile des Wissens erörtert werden, gleich welche Fähigkeiten wir besitzen. Jede natürliche kognitive Neigung kann überwunden und als Irrtum oder Täuschung bezeichnet werden, wie das Netzwerk-Modell zeigte. Der berühmte Vorwurf der zirkulären Beweisführung beruht daher auf einem groben Schnitzer. Er verwechselt Eigenschaften des Individuums mit etwas im spezifischen Sinne Sozialen 8S .
XIII
Meine wichtigsten Überlegungen können nun zusammengefaßt werden. Aus der historischen Entwicklung der Physik ergaben sich Beispiele, die die Behauptung von Durkheim und Mauss bestätigen. Aus der atomistischen Philosophie ersahen wir, daß die Klassifikation von Dingen die Klassifikation von Menschen reproduziert. Die Idee der sozialen Verwertbarkeit der Natur zeigt uns dann, wie es zur Bestätigung der These kommt. Sie liefert uns die Ursache, deren Wirkung die Homologien von Durkheim und Mauss sind 86 . Schließlich hat uns das Netzwerk-Modell gezeigt, wie es möglich ist, daß die These von Durkheim und Mauss richtig sein kann. Es hat uns von dem, was Wissen ist, eine Darstellung gegeben, die frühere Ergebnisse natürlich und verständlich macht. Es ermöglicht außerdem eine Überwindung der theoretischen Vorbehalte, die Les Formes primitives de classification bisher hartnäckig verfolgten. Tatsächlich hat es die wichtige Funktion, dem Soziologen eine gebrauchsfähige Darstellung von Wissen zu liefern, die ihn über alle wesentlichen sozialen Merkmale des Wissens informiert, wobei nicht nur die Art und Weise der Wissensbeeinflussung durch die Gesellschaft dargelegt wird, sondern auch inwiefern sie selbst Bestandteil des Wissens ist. Alle wesentlichen Überlegungen zu diesem Thema ergänzen und unterstützen sich also gegenseitig. Es ist allmählich an der Zeit, die Formes primitives de classification wie ein Museumsstück zu behandeln. Anstatt uns· herablassend zu verhalten, sollten wir diese Arbeit ernst nehmen. Das heißt, sie selektiv und revidierend verarbeiten. Aus diesem Grund hatte ich kein Interesse daran, mich mit ihren Mängeln oder Zweideutigkeiten aufzuhalten. Ich habe mich auf die wesentliche Wirkungskraft der Auseinandersetzung konzentriert und nur die Frage gestellt, was daraus zu lernen ist. Alles, was nicht diesem Zweck dienlich schien, wurde ohne Bedenken weggelassen 87 . Unter diesen Umständen
Anmerkungen
Die Anzahl der Kollegen, denen ich mit diesem Artikel zu Dank verpflichtet bin, ist zu groß, um sie hier alle einzeln zu erwähnen. Verschiedene Entwürfe wurden mit wertvoller Kritik und wertvollem Kommentar bedacht von: Michael Barfoot, Barry Barnes, Celia Bloor, Peter Caws, Mary Douglas, David Edge, jon Harwood, Mary Hesse, Stephen jacyna, lohn Law, Donald Mackenzie, Rodney Needham, Malcolm Nicolson, Martin Rudwick, Peter Worsley und Brian Wynne. Ich danke ihnen insbesondere für die Zeit und Mühe, die sie investiert haben. Ich muß wohl kaum hinzufü~en, daß sie für die überlegungen, die ich anzustellen versuchte, nicht verantwortlich zeichnen und auch nicht unbedingt einer Meinung mit mir sind.
Emile Durkheim und Marcel Mauss, De quelques formes primitives de classification, Annee Sociologique, 1901-2 (1903), Englische übers. und Einltg. von Rodney Needham, Primitive Classifications, London 1963, S. 11. 2 Emile Benoit-Smullyan, The Sociologism of Emile Durkheim and his School, in: H. E. Barnes (Hrsg.), An lntroduction to the History of Sociology, Chicago 1948, Kap. XXVII. W. R. Dennes, The Methods and Presuppositions of Group Psychology, in: University of California Publications in Philosophy, 6, Nr. 1, 1924, S. 1-182. C. E. Gehlke, Emile Durkheim's Contributions to Socological Theory, in: Columbia University Studies in History, Economics and Public Law, LXII, Nr. 1, 1915, S. 1-188. A. A. Goldenweiser, Methods and Principles, in: American Anthropologist, 17, 1915, S. 719-735. E. L. Schaub, A Sociological Theory ofKnowledge, in: Philosophical Review, 29, 1920, S. 319-339. Peter M. Worsley, Emile Durkheim's Theory of Knowledge, in: Sociological Review, 4,1956, S. 47-62. 3 S. Lukes, Emile Durkheim - his Life and Work; a Historical and Critical Study, London 1973. 4 Rodney Needham, a. a. 0., Teil BI. 5 Emile Durkheim und Marcel Mauss, a. a. 0., Kap. 3. 6 Für eine Zusammenfassung der wesentlichen empirischen Einwände siehe Rodney Needham, a. a. 0., Teil II, und S. Lukes, a. a. 0., Kap. 22. 7 Emile Benoit-Smullyan, a. a. 0., S. 533. 8 Emile Durkheim, The Elementary Forms of Religious Life, New York, 1961 (zuerst 1912), S. 23, S. 494. Vgl. S. Lukes, a. a. 0., S. 435. 9 W. R. Dennes, a. a. 0., S. 39. E. L. Schaub, a. a. 0., S. 336. 10 Obwohl Primitive Classifications (z. B. auf S. 15) Andeutungen auf eine bessere Theorie enthält, hat Merton sicherlich Recht, wenn er sich darüber beschwert, daß Durkheims Verwendung des Begriffs "reproduzieren" eine naive "Abbild"-Theorie vermuten läßt. 11 Mary B. Hesse, The Structure of Scientific lnference, London 1974, Kap. 1 und 2. P. Duhem, The Aim and Structure of Physical Theory, Princeton 1954 (zuerst 1906). W. V. O. Quine, Two Dogmas of Empiricism, in: From a Logical Point of View, Cambridge, Mass., 1953. 12 Einige der psychologischen Zusammenhänge der Beziehungen zwischen Wörtern und Sätzen und des Generalisierungsprozesses werden behandelt in: L. S. Vygotsky, Thought and Language, Cambridge, Mass. 1962; A. R. Luria, The Role of Speech in the Regulation of Normal and Abnormal Behaviour, Oxford 1961. 13 M. Black, Models and Metaphors, New York 1962; Mary B. Hesse, Models and Analogies in Science, London 1963; Mary B. Hesse, The explanatory function of metaphor, in: Y. BarHillel (Hrsg.), Logic, Methodology, and Philosophy of Science, Amsterdam 1965; David Schon, Displacement of Concepts, London 1963. Die Ansicht, daß eine wissenschaftliche Erklärung darin besteht, ein Phänomen "verständlich" zu machen, und dies durch Verwendung von Analogien und Modellen geschieht, wird explizit dargestellt in: N. R. Campbell, Physics: the Elements, Cambridge 1920. Eine klassische Beschreibung der Rolle von "exemplarischen Beispielen" in der Wissenschaft, die als Modelle oder metaphorische Hilfen verstanden werden können bietet Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962. Wenn die Gleichsetzung von alltäglichen Beurteilungen über das, was als ähnlich bezeichnet werden
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bei der Benutzung eines wissenschaftlichen Modells willkürlicher geschehen mag, und 2. selbst unser instinktives Gefühl für Ähnlichkeit eine Reaktion auf die Strukturierung der Beziehungen zwischen den Stimuli und deren absoluten Werten ist. Zum Beispiel haben die Gestalt-Psychologen immer hervorgehoben, daß selbst Tiere lernen können, auf das leichtere von zwei Stimuli zu reagieren. Siehe Anmerkung 34. Durkheim und Mauss stimmen dem zu. Auf Seite 4 greifen sie Psychologen an, die glauben, Assoziationsgesetze reichten als Erklärung der Klassifikation aus. Durkheim drückt dies in The Elementary Forms so aus: "To recognise the fact that one thing resembles another which we have already experienced, it is in no way necessary that we arrange them all in groups and species .... The impression that a certain thing has already been seen or experienced implies no classification" (S. 491). In der Sprache der Logik läßt sich das Problem durch die Tatsache ausdrücken, daß "Ähnlichkeit" keine Beziehung im transitiven Sinn ist. A kann Ähnlichkeit mit B haben; B kann Ähnlichkeit mit C haben; aber A und C haben möglicherweise keine Ähnlichkeit miteinander. Sollten wir auf Grund des Ähnlichkeitsfaktors zu entscheiden versuchen, ob C zu A oder B gehört, würde das Resultat widersprüchlich sein. Neben dem Ähnlichkeitsfaktor muß ein anderer Faktor eingreifen. Wittgenstein weist in dieser Beziehung darauf hin, daß Elemente des gleichen Konzepts eine Vielzahl von "Gruppenähnlichkeiten" besitzen und nicht ein einziges, allen gemeinsames Merkmal. Damit werden wir in unserer Behauptung bestärkt: wo die Grenze gezogen wird hängt nicht von der Vorstellung von einem gemeinsamen Merkmal ab, das sie in gewisser Hinsicht alle ähnlich macht. Ludwig Wittgenstein, Philosophical Investigations, Oxford 1958, Abschnitt 66, 67; die Verbindung zwischen dem Netzwerk-Modell und Wittgensteins überlegungen wird diskutiert in Kapitel 2 von "The Structure of Scientific Inference". In der Lerntheorie gibt es eine riesige Anzahl von Untersuchungen; zwei relativ frühe Arbeiten, die offensichtlich mit einer psychologischen Interpretation der Theorie von Hesse in Verbindung stehen, sind S. J. Bruner, On Perceptual Readiness, in: Psychological Review, 64,1957, S. 123-152; D. O. Hebb, The Organisation of Behaviour, a Neuropsychological Theory, London 1949. Emile Durkheim, Individual and Collective Representations, in: D. F. Pocock (übers.), Sociology and Philosophy, New York 1974, S. 1-34 (zuerst 1898). Auf welche Art und Weise die Ähnlichkeit experimenteller Ergebnisse als Basis für theoretische Folgerungen und als Vehikel der übertragung von Rechentechniken dient, wird deutlich in W. Heitler, Elementary Ware Mechanics, Oxford 1945, S. 3. Mary Hesse weist darauf hin, daß alle Begriffe, die in das theoretische Vokabular der Wissenschaft eingehen, wie "Partikel", "Welle", "anziehen", "abstoßen" etc., gelegentlich auch in der Praxis Verwendung finden, wenn sie sich auf beobachtbare Objekte oder Prozesse beziehen. Hierdurch lernen wir die "Gesetze", denen sie unterliegen, und wie sie ihre Bedeutung vor der Verwendung in theoretischen Zusammenhängen erlangen; vgl. ebd., Structure of Scientific Inference, S. 28-32. Im Jahre 1804 erwarb der Ingenieur Arthur Woolf aus Cornwall das Patent für eine neue Art von Dampfmaschine. Die Grundlage dieses Patents bildete ein Gesetz über die Ausdehnung von Dampf, das dem Anschein nach völlig falsch sein müßte. Nach einigen geglückten und mißglückten Versuchen brachte Woolfs Maschine im Jahre 1814 Leistungen, die sich nach Ansicht eines neuzeitlichen Experten "wie eine hundertprozentige Verbesserung der besten Leistung der Wattsehen Unterdruckmaschine ausnahmen!"; D. Cardwell, From Watt to Clausius. The Rise of Thermodynamics in the Early Industrial Age, London 1971, S. 155-156. Ich behaupte nicht, daß jedes angebliche Gesetz in allen Situationen funktioniert. Wichtig ist, daß wir nicht jedes Gesetz in Isolation prüfen können und sich die praktischen Anforderungen, die wir an unsere Glaubensvorstellungen stellen, an Gruppen von Gesetzen richten. Die entscheidende Tatsache über die Zweideutigkeit der Fehlerzuordnung wird in der DuhemQuine-These ausgedrückt. Wenn die beiden Voraussetzungen A und B den Schluß C zulassen und C falsch ist, dann wissen wir nur, daß entweder A falsch ist oder B falsch ist oder beide falsch sind. Insofern steht es uns frei, die Fehlerquelle dort zu suchen, wo wir wollen. Carnots klassische thermodynamische Analyse des Wärmemotors basierte auf einer Analogie mit hydraulischen Maschinen, auf die sich sein Vater spezialisiert hatte. Carnot schrieb im Jah-
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J. B. Conant, The Atomic Molecular Theoty, in:}. B. Conant und L. K. Nasb (Hrsg.), Harvard
Case Histories in Experimental Science, Band 1, Cambridge, Mass. 1966. 22a Für ein reales Beispiel siehe G. Al/an, Hugo de Vries and the "Mutation Theory", in: Journal of the History of Biology, 2, 1969, S. 55-87. (Ich habe Barry Barnes dafür zu danken, daß er mieh auf dieses Beispiel aufmerksam machte.). 23 J. B. Conant, a. a. O. 24 Der Gedanke der "internen" Beziehungen zwischen Fakten und der Vorstellung von Wissen als "organischem" Ganzen stammt von Anhängern der Idealphilosophie. Arbeiten auf diesem Gebiet weisen viel Ähnlichkeit auf mit dem Netzwerk-Modell; siehe H. }oacbim, The Nature of Truth, Oxford 1906. 25 Wertvolle, ausführliche Beispiele für diese Prozesse der "negotiations" in der Wissenschaft sind zu finden in Martin}. Rudwick, The Devonian: A System Born in Conflict, in: M. R. House et al. (Hrsg.), The Devonian System, London 1979; M.P. Winsor, Barnacle Larvae in the Nineteenth Century: A Case Study in Taxonomie Theory, in: Journal of the History of Medicine, 24, 1969, S. 294-309; A.}. Desmond, Designing the Dinosaur: Richard Owen's response to Robert Edmond Grant, in: Isis, 70, Nr. 252,1979, S. 224-234. 25a Für eine Beschreibung der inneren Zusammenhänge wissenschaftlicher Fakten, von einem Wissenschaftler selbst durchgeführt und mit detaillierten Illustrationen aus der Mikrobiologie angereichert, siehe die maßgebende Darstellung von L. Fleck, Generation and Development of a Scientific Fact, in: T.}. Trenn und Robert K. Merton (Hrsg.), ebd., Chicago 1979, S. 114116. 26 Diese Kritik ist gegen das Netzwerk-Modell erhoben worden von E. Nagel, Theoty and Observation, in: E. Nagel, S. Bromberger und A. Grunbaum (Hrsg.), Observation and Theoty in Science, Baltimore 1971. Ein besonders interessantes Beispiel ist durch die Stabilität von Farbkategorien gegeben, zum Beispiel in B. Berlin und P. Kay, Basic Color Terms: Their Universality and Evolution, Berkeley 1969. Berlin und Kay ordneten die natürlichen Sprachen in einer Reihenfolge an, die sich nach der Anzahl der in der Sprache enthaltenen Begriffe für Grundfarben richtete. Es ergibt sich, daß in der Art, in der die Farben in der Reihenfolge erscheinen, eine Regelmäßigkeit besteht: zuerst schwarz und weiß, dann rot, dann gelb oder grün, dann blau etc. Die Farbbegriffe sind alle an ähnlichen Stellen im Spektrum konzentriert, so daß exemplarische Beispiele für "rot" in allen Kulturbereichen ungefahr gleich sind. 27 Berlin und Kays Ergebnisse könnten als positiver Beweis dafür angeführt werden, daß wir in der Tat über einen instinktiven Sinn für Ähnlichkeit verfügen. In dieser Hinsicht unterstützen sie das Netzwerk-Modell. 28 Eine ähnliche Antwort kann in Bezug auf Farbbegriffe gegeben werden, vgl. die Diskussion über "entrenchment" in Kap. 1 von Mary B. Hesse, a. a. 0., und M. Sablins, Colors and Cultures, in: Semiotica, 16, 1976, S. 1-22. 29 Tbomas S. Kubn, The Copemican Revolution, Cambridge, Mass. 1957. 30 }. B. Conant, The Overthrow of the Phlogiston Theory. The Chemical Revolution of 17751789, in:}. B. Conant und L. K. Nasb, a. a. 0., S. 65-115. 31 }. Farley, The Spontaneous Generation Controversy from Descartes to Oparin, Baltimore 1977; }. Farley und G. L. Geison, Science, Politics and Spontaneous Generation in Nineteenth Century France: The Pasteur-Pouchet Debate, in: Bulletin of the History of Medicine, 48,1974, S. 161-198. 32 Vgl. das Konzept "normale Wissenschaft" in Tbomas S. Kubn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962. Neueren Angriffen auf Kubn, zum Beispiel von Lakatos, ist es nicht geglückt, dieses Konzept in Mißkredit zu bringen. Im Gegenteil, sie haben einfach Kubnsche Einblicke in ein rationalistischeres, und minderwertigeres, Idiom umgeformt. I. Lakatos, Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes, in: I. Lakatos und A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge, Cambridge, Mass. 1970; David Bloor, Two Paradigms for Scientific Knowledge?, in: Science Studies (jetzt Social Studies of Science), 1, 1971, S. 101-115. 33 Ebd., S. 52. 34 Als Beispiel für eine biologisch begründete Kohärenzbedingung nennt Mary Hesse linguistische Tiefenstrukturen. Ein weniger modischer, aber leichter erfaßbarer Anwärter wären die Merk-
Analogien sind dann auf kognitive Vorgänge wie Erinnern, logisches Denken und Problemlösungen erweitert worden. Siehe K. Koffka, Principles of Gestalt Psychology, London 1936, Kap. IV; W. Köhler, Gestalt Psychology, London 1930;M. Wertheimer, Productive Thinking, London 1961. 35 Karl Marx, Theses on Feuerbach, in: Karl Marx und Frederick Engels: Selected Works, Moscow 1962, Band 11, S. 403. 36 Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1966, Kap. 5; dies., Natural Symbols. Explorations in Cosmology, Harmondsworth 1973; dies., Implicit Meanings. Essays in Anthropology, London 1975, Teil 3; dies., Cultural Bias, Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland, Occasional Paper Nr. 34, 1978. 37 Mary Do uglas, Implicit Meanings, S. 281. Aus dem Kontext geht hervor, daß sich der Begriff "Verstehen" auf einen aktiven, nicht auf einen passiven Prozeß bezieht. 38 P. M. Rattansi, Paracelsus and the Puritan Revolution, in: Ambix, XI, 1963, S. 24-32; ders., The Intellectual Origins of the Royal Society, in: Notes and Records of the Royal Society of London, 23, 1968, S. 129-143,]. R. ]acob, The Ideological Origins of Robert Boyle's Natural Philosophy, in: Journal of European Studies, 2, 1972, S. 1-21; ders., Robert Boyle and Subversive Religion in the Early Restoration, in: Albion, 6,1974, S. 175-193, ders., Boyle's Circle in the Protectorate: Revelation, Politics and the Millenium, in: Journal of the History of Ideas, 38, 1977, S. 131-140; ders., Robert Boyle and the English Revolution. A Study in Social and Intellectual Change, New Vork 1977; ders., Boyle's Atomism and the Restoration Assault on Pagan Naturalism, in: Sodal Studies of Science, 8, 1978, S. 211-233. Für diesen und den nächsten Abschnitt bin ich zu großem Dank verpflichtet S. Shapin, Social Uses of Science 1660-1800, in: R. S. Porter und G. S. Rousseau (Hrsg.), The Ferment of Knowledge: Changing Perspectives of Eighteenth-Century Science, Cambridge, Mass. 1980. 39 Robert Boyle, Some Considerations Touching the Usefulness of Experimental Natural Philosophy, in: The Works of the Honourable Robert Boyle, London, Band 1, 1744. Auf Seite 446 sagt Boyle: "God ... having resolved, before the creation, to make such a world as this of ours, did divide ... that matter, which he had provided, into an innumerable multitude of variously figured corpusdes, and both connected those partides into such textures or particular bodies, and placed them in such situations, and put them into such motions, that by the assistence of his ordinary preserving concourse, the phaenomena, wh ich he intended should appear in the universe, must as orderly follow, and be exhibited by the bodies necessarily acting according to those impressions or laws, though they understand them not at a1l ... " 40 Robert Boyle, a. a. 0., Band 1, S. 448. 41 Daher sein "A free enquiry into the vulgarly received notion ofnature", Robert Boyle, a. a.O, Band 4, S. 358-424. 42 Robert Boyle, a. a. 0., Band 1, S. 445. 43 P. M. Rattansi, a. a. 0., 1968, S. 139. 44 C. Hili, The World Turnes Upside Down. Radical Ideas During the English Revolution, Harmondsworth 1975. 45 Gerrard Winstanley sagte hierzu: "I tell you, this great mistery is begun to appear, and it must be seen by the eyes of flesh: and those five sen ses that is in man shall partake of this glory". Zitiert von C. Hili, a. a. 0., S. 149. 46 Zitiert von C. Hill, a. a. 0., S. 206 und 219. 47 Aus einem Brief von Boyle mit dem Datum des 22 Oktober 1646, zitiert von P. M. Rattansi, a. a. 0., 1968, S. 136 und]. R. ]acob, a. a. 0., 1972, S. 3. 48 Eine detaillierte Darstellung des Geschehens und des politischen Kontexts gibt]. R. ]acob, a.a.O., 1978. 49 Robert Boyle, a.a.O., Band 4, S. 376. 50 P. M. Rattansi, a. a. 0., 1963, S. 29. 51 Robert Boyle, a. a. 0., Band 1, S. 439. 52 Eine allgemeine Zusammenfassung des Beweismaterials über eine Verbindung zwischen Sektierern und Anhängern des Paracelsus und die Geschichte der zwischen ihnen bestehenden
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lican Origins of Modern Science. The Metaphysical Foundations of the Whig Constitution, in: Isis, 71, 1980, in Arbeit. Natürlich können hier nur die wesentlichen Umrisse dieses detaillierten, stets gültigen Stückes Wissenssoziologie wiedergegeben werden. Zitiert in M. C. Jacob, a. a. 0., S. 184. Diese wurde Boyle als Möglichkeit empfohlen, Hobbes' gefährliche Ansichten zum Thema Religion als irrtümlich bezeichnen zu können. Zitiert in M. C. Jacob, a. a. 0., S. 184. Ich habe William Whistons übersetzung benutzt in F. E. Manuel, The Religion of Isaac Newton, Oxford 1974, S 16. A. R. Hall und M. B. Hall (Hrsg.), Unpublished Scientific Papers of Isaac Newton, Cambridge, Mass. 1962, S. 144. Isaac Newton, Opticks, 1730,4. Auflage, Frage 31 (Nachdruck London, 1931, S. 397). E. McMullin, Newton on Matter and Activity, London 1978, S. 103. Die Tatsache, daß McMuliins ausgezeichnetes Buch weder j. R. noch M. C. Jacobs Arbeiten über die ideologische Bedeutung der Passivität von Materie erwähnt, sagt viel über den gegenwärtigen Stand akademischer Grenzen aus. Anstatt auf die soziale Anwendung dieses Prinzips einzugehen, wird es lediglich mit einer metaphysischen "Wirkung" und theologischen "Tradition" in Verbindung gebracht, als wenn diese Einflüsse irgendwie keiner Erklärung bedürften oder von sich aus fortbestünden. Zitiert in M. C. Jacob, a. a. 0., S. 156. Das Zitat geht weiter: "I had my eye on such Principles as might work with considering men for the belief of a Deity, and nothing can rejoice me more ... " Es wäre falsch anzunehmen, daß Newton an irgendeiner Art von echtem Glaubensbekennmis zu Gott dachte. Viele solcher Bekennmisse waren für Newton nichts anderes als Atheismus, zum Beispiel der Glaube an Gott als die Seele der Welt. Sein Anliegen, wie auch Boyles, bestand darin, die Menschen zu einer spezifischen religiösen Haltung zu bringen, wie sie zum Beispiel in der Gottesverehrung der Freidenker ausgedrückt wurde. Eine der bahnbrechenden Untersuchungen auf dem Gebiet der Wissenssoziologie befaßte sich ebenfalls mit der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts, mit Boyle und der Royal Society, siehe Robert K. Merton, Science, Technology and Society in Seventeenth Century England, in: Osiris, Studies on the History and Philosophy of Science, Brügge 1938. Kapitel 5 ist neu erschienen als Robert K. Merton, The Puritan Spur to Science, a. a. 0.,1973, Kap. 11, S. 233. Es ist interessant, Mertons Methode der hier angewandten gegenüberzustellen. Der Hauptunterschied besteht darin, wie Glaubensbekennmisse behandelt werden. Auf die Gefahr hin, zu stark zu vereinfachen, könnte man sagen, daß Merton Glaubensäußerungen als Teil seiner Erklärung betrachtet, während sie für die beiden Jacobs Teil des Problems sind. Merton sieht in den frommen Sprüchen der damaligen Zeit Indikatoren für das Vorhandensein von "Werten", und jenen Werten wird die Rolle einer "treibenden Kraft" oder eines "Ansporns" für die Wissenschaft zuerteilt. Hesses Modell verlangt, daß jene frommen Sprüche lediglich als ein weiterer Faktor im Netzwerk des öffentlichen Wissens behandelt werden, ohne kausale Wirkungskraft oder Erklärungspriorität gegenüber irgendeinem anderen Teil des Modells. Siehe Anmerkung 71. Für eine zwingende kritische Auseinandersetzung mit Webers Arbeit über die protestantische Ethik - die in ihrer allgemeinen Fassung Ahnlichkeit mit Mertons Behandlung zu haben scheint - siehe Barry Barnes, Interests and the Growth of Knowledge, London 1977, S.72-80. Eine sehr ähnliche Debatte entstand genau nach Beendigung der Newtonschen Tradition um 1900. Zu dem Zeitpunkt war die Rolle der Newtonschen Aktionsprinzipien und -kräfte vom Konzept des lichtspendenden Himmelsraums übernommen worden. Für die "Cambridge School" der Stokes, Rayleigh, j. j. Thomson, Larmor, Tait, Stewart, Lodge und Fitzgerald spielte der Himmelsraum nicht nur eine technische Rolle, sondern hatte auch eine sehr starke theologische Bedeutung. Er war ein "unsichtbares Universum" mit sowohl spirituellen als auch physischen Attributen, worin er sich sehr von Gewichtsmaterie unterschied. Lodge drückte es so aus: der Himmelsraum war "a different order of being - an order wh ich dominates the material". Im Gegensatz zu dieser Materie-Geist-Hierarchie argumentierten Wissenschaftler wie Karl Pearson, daß nur eine Sinneserfahrung vorläge. Pearson und Clifford und
Wissenschaftlern, die sich nicht der Kirche unterordnen wollten, sondern Autonomie und Anerkennung als neue Experten verlangten. So sind gleichartige Versionen von Autonomie und sozialer Hierarchie Begleiterscheinungen gleichartiger Haltungen zu natürlichen Hierarchien und Klassifikationen. Für eine Beschreibung und Dokumentation dieses faszinierenden Falles, in dem die Klassifikation von Dingen wieder die Klassifikation von Menschen reproduziert, siehe Brian Wynne, Physics and Psychics; Sdence, Symbolic Action and Sodal Control in Late Victorian England, in: Barry Barnes und S. Sbapin (Hrsg.), Natural Order. Historical Studies of Scientific Culture, London 1979, Kap. 7. 64 Zum Beispiel könnte sich eine ganze Fallstudie damit beschäftigen, wie sich die Formel von Durkbeim und Mauss auf die gegensätzlichen Theorien der Anatomie des Gehirns anwenden läßt, die im Edinburgh des frühen 19. Jahrhunderts debattiert wurden. Die akademische Elite, die die schottische Philosophie vom "gesunden Menschenverstand" befürwortete und darum bemüht war, die soziale Harmonie zu erhalten, betrachtete das Gehirn als einheitliches Ganzes. Die aufsteigenden Mittelklassen, die sich mit Phrenologie beschäftigten, betrachteten die Gesellschaft als eine Anzahl verschiedenartiger rivalisierender Gruppen und übertrugen diese Vorstellung auf das segmentäre Bild, das sie sich vom Gehirn machten. Beide Seiten verfügten über Experten auf dem Gebiet der Anatomie, die das Gehirn genauestens beobachteten und zu widersprüchlichen Ergebnissen hinsichtlich der Faserstruktur und -verbindungen kamen. Die Klassifikation der Gehirnteile war ein Abbild der Klassifikation des Menschen. Vgl. S. Sbapin, Phrenological Knowledge and the Social Structure of Early Nineteenth-Century Edinburgh, in: Annals of Science, 32, 1975, S. 219-243; ders., The Politics of Observation: Cerebral Anatomy and Sodal Interests in the Edinburgh Phrenology Disputes, in: R. Wallis (Hrsg.), On the Margins of Science: The Sodal Construction of Rejected Knowledge, Sodological Review Monographs, Keele 1979, S. 139-178; ders., Homophrenologicus: Anthropological Perspectives on an Historical Problem, in: Barry Barnes und S. Sbapin (Hrsg.), Natural Order. Historical Studies of Scientific Culture, London 1979, Kap. 2. In einem unveröffentlichten Artikel hat Barbara A. Kimmeiman eine Reihe von historischen Studien untersucht, die Beweise dafür liefern, daß besondere Fachinteressen genauso wirkungsvolle Kohärenzbedingungen abgeben wie die viel allgemeineren Interessen, die bei den beiden jacobs und Sbapin vorkommen. Sie zeigt, daß durch diese enggefaßten fachlichen Interessen die sozialen Klassifikationen in Form von Thementrennung, Beurteilungen über Bereiche des Interesses und der Kompetenz, Entscheidungen über korrekte Methoden und Vorgehensweisen und natürlich Beurteilungen hinsichtlich des wissenschaftlichen Inhalts, wie zum Beispiel, welche Theorien richtig sind, vorgenommen wurden. Vgl. Barbara A. Kimmeiman, Professional Vested Interests: Their Role in the Construction of Scientific Knowledge (unveröffentlicht). Durch diese Erweiterung des Arguments lassen sich zum Beispiel auch die folgenden Studien in die Analyse einbeziehen: j. Dean, Controversy over Classification: A Case Study From the History of Botany, in: Barry Barnes und S. Sbapin (Hrsg.), a. a. 0., S. 211-230;jon Harwood, The Race-Intelligence Controversy: A Sociological Approach. I - Professional Factors; 11 External Factors, in: Sodal Studies of Science, 6,1976, S. 369-394 und 7,1977, S. 1-30; Donald Mackenzie, Statistical Theory and Social Interests: A Case Study, in: Sodal Studies of Science, 8, 1978, S. 35-83; D. Ospervat, Perfect Adaptation and Teleological Explanation: Approaches to the Problem of the History of Life in the Mid Nineteenth-Century, in: Studies in the History of Biology, 2, 1978, S. 33-56; F. M. Turner, The Victorian Conflict between Science and Religion: A Professional Dimension, in: Isis, 69,1978, S. 356-376. 65 Emile Benoit-Smullyan, a. a. 0., S. 53 .. 66 Emile Durkbeim, a. a. 0., 1912, S. 31 und 488. Die Vorstellung, daß Gesellschaft ein Teil der Natur ist, könnte die materialistische Version von Durkbeims Beantwortung der Problemfrage genannt werden. Auf Seite 490 gibt er seiner Beantwortung eine idealistische Wendung, indem er sagt, daß die Natur Teil der Gesellschaft ist - Teil ihrer "inneren Existenz". Aber keine der beiden Formeln ist präzise genug, um eine Lösung des Problems darzustellen. 67 Emile Durkbeim, a. a. 0., 1912, S. 486. 68 Ders., a. a. 0., 1912, S. 493.
Man beachte, daß nicht das Netzwerk einengend wirkt. Es signalisiert Zwänge mittels seiner Stabilität. Wissen engt nicht ein, Menschen tun es. Was unserer Freiheit Kategoriengrenzen zu verändern Grenzen setzt, sind die gegenteiligen Interessen, die andere Menschen an ihnen haben. Was Wissen kohärent macht, liegt außerhalb des Wissens. Wir dürfen niemals das Netzwerk als Erkliirung für seine eigene Anwendung, seinen Einsatz oder seine Entwicklung benutzen: es ist eine Beschreibung. Dies wird sehr gut behandelt in Donald Mackenzie und Barry Barnes, Scientific Judgement: The Biometrician Mendelism Controversy, in: Barry Barnes und S. Shapin_ (Hrsg.), a. a. 0.,1919, Kap. 8. 72 Dies ist narürlich eine völlig korrekte Verwendung des Begriffs "Kategorie". Kategorie ist eine Begriffsvorstellung, die in der Philosophie eine umstrittene geschichtliche Entwicklung durchgemacht hat und im Systemkontext eines jeden Philosophen spezielle Bedeutungen erhält. Durkheims Anwendung und meine Deutung derselben kommt der Bedeutung von "Kategorie" sehr nahe, wie sie heutzutage in der analytischen Philosophie erscheint. Dort bezieht es sich auf jede Klassifikation, die für so wichtig gehalten wird, daß ein Verstoß besonders sanktioniert werden muß, zum Beispiel indem er als unsinnig oder unverständlich bezeichnet wird und nicht nur als falsch. (Für Durkheim ist natürlich die Begriffsvorstellung des Unsinns relativ: es scheint so, als vernichte das Denken sich selbst, wenn gegen Kategorien verstoßen wird, a.a.O., 1912, S. 22.) Für eine Beschreibung der verschiedenen Anwendungen des Begriffs "Kategorie" und der Schwierigkeiten, die Philosophen bei der Rechtfertigung ihrer Eingebungen haben, daß bestimmte Ideen, die ihnen nicht gefallen, "Kategorienfehler" sind, siehe M. Thomson, Categories, in: P. Edwards (Hrsg.), The Encyclopedia of Philosophy, London 1967, Band 2, S. 46-53;J. Passmore, Allocation to Categories, in: Philosophical Reasoning, Lonon 1961, Kap. 7. 73 C. E. Gehlke, a. a. 0., S. 52-53. 74 W. R. Dennes, a. a. 0., S. 39. 75 Emile Durkheim, a. a. 0., 1912, S. 23, Fußnote 6. 76 Ders., a. a. 0.,1912, S. 28. 77 Ders., a. a. 0., 1912, S. 28, Fußnote 16. 78 Ders., a. a. 0., 1912, S. 484. "Logical thinking is always impersonal thinking, and is also thought sub specie aeternitatis - as though for all times. " Man könnte sagen, daß Durkheim eine Theorie des objektiven menschlichen Geistes formulierte oder eine Erkenntnistheorie ohne einen Wissenden. Damit lassen sich die offensichtlichen Parallelen zwischen seiner Konzeption von Wissen und Poppers Darstellung der sogenannten "world three" des objektiven Wissens erklären. Für eine Erklärung dieser Ähnlichkeiten und eine soziologische Umwandlung von Poppers stark konkretisierter Theorie siehe David Bloor, Popper's Mystification of Objective Knowledge, in: Science Studies (jetzt Social Studies of Science), 4, 1974, S. 65-76. 79 Rodney Needham, a.a.O., S. XXVI; es tritt auf Seite XXVIII sehr deutlich hervor, daß diese "angeborenen Fähigkeiten" Eigenschaften des "individuellen Geistes" sind. 80 Emile Durkheim und MarcelMauss, a. a. 0., S. 7 und 81, Fußnote 1; Emile Durkheim, a. a. 0., 1912, S. 411, 489 und 491. 81 Rodney Needham, a.a.O., S. XXVIII. 82 Emile Durkheim und Marcel Mauss, a.a.O., S. 8. 83 Ders., a. a. 0.,1912, S. 482, Fußnote 10. 85 Individualität und Einstellung zur Empirie treten unter Durkheims Kritikern deutlich hervor. So argumentiert Gehlke (a. a. 0., S. 105-106), daß die Eigenschaften des "sozialen Geistes" lediglich Merkrnale des Geistes von Individuen in vergrößerter Form sind. Die überschneidungsgebiete "stärken sich gegenseitig", so daß der Unterschied eher quantitativer als qualitativer Art ist. Goldenweiser (a. a. 0., S. 73) führt aus, daß "Kategorien in der Geisteswelt eines jeden einzelnen Individuums entstehen" und ihre "Ursachen in der Erfahrung oder der psychologischen Konstitution des Menschen" haben. Ähnlich sieht Schaub (a. a. 0., S. 333) die Kategorien als "in instinktiven Reaktionen und der Sinneserfahrung verwurzelt". Worsley (a. a. 0., S. 59) räumt zwar dem sozialen Interesse eine Rolle ein, behauptet dann aber, daß "sich die Universalität und Notwendigkeit der Kategorien ... aus der gemeinsamen, aber 71
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Veröffentlichungen beträchtlich geändert hat, zum Beispiel in Peter Worsley, Groote Eylandt Totemism and Le Totemisme aujourd'hui, in: E. Leacb (Hrsg.), The Structural Study of Myth and Totemism, A. S. A. monographs, 5, London 1967, S. 141-159). In Bezug auf diese Theorie stehen sich die beiden von Durkbeim und Mauss in Beziehung gesetzten Strukturen nicht genau wie Ursache und Wirkung gegenüber. Vielmehr ist die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Wissen und Gesellschaft selbst die Wirkung der sozialen Verwendung der Natur. Sie stellt die wahre Ursache dar. Wie sich Interessen ändern, so ändern sich, wie wir gesehen haben, die sich ergebenden Muster sozialer Beziehungen und auch das sich ergebende Muster des Wissens. Wenn sich nicht durch die soziale Verwendung der Natur Interessen ausdrückten, dann würden vielleicht keine Homologien entstehen zwischen sozialen und kognitiven Strukturen. Verändert man die Ursache, so verändert man die Wirkung; entfällt die Ursache, so entfällt die Wirkung. Zum Beispiel habe ich die "intellektualistische" Vorgehensweise von Durkbeim und Mauss abgelehnt. Sie unterstreichen den "rein spekulativen Zweck" der primitiven kosmischen Lehren und sagen, daß sie nicht "mit der Absicht der Regulierung von ... Verhalten" verfaßt wurden. Diese Maßnahme, so behaupten sie, unterstütze ihre These im Hinblick auf die von ihnen propagierte Kontinuität von primitiven und wissenschaftlichen Klassifikationen (a. a. 0., S. 81-82, Fußnote 1). Ich würde ihre Beweisführung umdrehen und Kontinuität darin sehen, daß beide eine Rolle bei der Regulierung des Verhaltens spielen. Der nächste Schritt wäre eine Verallgemeinerung der Theorie. Zum Beispiel: ist es möglich, eine Typologie aller möglichen Interessenstrukturen zu entwickeln? Wenn ja, dann haben wir damit gleichfalls eine Typologie von Kohärenzbedingungen für das Wissen formuliert. Um eine solche Theorie funktionsfähig zu machen, ist es notwendig, soziale Strukturen derart darzustellen, daß sie sich auf eine kleine Anzahl immer wiederkehrender Formen verteilen. Dann wird es möglich sein, Regelmäßigkeiten zu entdecken und Gesetze zu verfassen. Eine derartige Theorie wird gegenwärtig von Mary Douglas in ihrer Darstellung der "grid & group"-Dimensionen der sozialen Struktur entwickelt; siehe Anmerkung 36. Für eine kurze Darstellung dieser Theorie in (spekulativer) Anwendung auf Stoff aus der Geschichte der mathematischen Wissenschaft siehe David Bloor, Polyhedra and the Abominations of Leviticus, in: British Journal of the History of Science, XI, Teil 3, Nr. 39, 1978, S. 254-272. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Welge.
Von Michael Mulkay
Seit einigen Jahren gibt es gewisse Anzeichen für ein Wiederaufleben des Interesses an der Wissenssoziologie. Hauptsächlich ist dies auf neuere Entwicklungen in der Wissen schaftssoziologie zurückzuführen. Die Lebenskraft dieser beiden Zweige der soziologi schen Analyse steht notwendigerweise in einer Wechselbeziehung. Die Hauptursache für diese gegenseitige Abhängigkeit liegt darin, daß die Wissenschaft in modernen In dustriegesellschaften in überwältigender Weise zur dominierenden Form des Wissens ge worden ist. Deshalb wäre eine Soziologie des Wissens, die Wissenschaft ausschließt praktisch ein Widerspruch in sich selbst. Genau dies jedoch ist die Lage der Wissensso ziologie im ganzen Verlauf ihrer Entwicklungsgeschichte gewesen. Marx, Durkheim und Mannheim behandelten in verschiedenem Maße Wissenschaft als einen "Spezial fall", der nicht voll in den Bereich der soziologischen Analyse gebracht werden konnte weil das betreffende Wissen als universal und vom sozialen Kontext unabhängig ver standen wurde. Selbst neuere Versuche, die konzeptionelle Grundlage der traditionel len soziologischen Einstellung zum Wissen zu rekonstruieren, wie zum Beispiel in de Arbeit von Berger und Luckmann 1 , haben an dieser Lage nichts geändert, denn im Mittelpunkt der neuen Perspektive stand Wissen im Sinne von Allgemein- oder Alltags wissen und nicht im Sinne von Wissen als spezialisiertem Kulturprodukt wie Religion Kunst und Wissenschaft. So fanden sich Wissenssoziologen in der ungewöhnlichen Lage freiwillig den Hauptbereich der Wissenserzeugung in modernen Gesellschaften aufgege ben zu haben. Im wahrsten Sinne des Wortes behandelten Wissenssoziologen jeden Be reich der Kulturproduktion in modernen Gesellschaften mit Ausnahme genau des Be reiches, der das von ihnen als unverfälschtes angesehene Wissen erzeugt. Die Konsequenzen dieser von Soziologen behaupteten Annahme, daß die Wissenschaf ein "Sonderfall" sei, waren für die Wissenssoziologie kaum weniger verheerend. Wäh rend jedes neue politische System Daten für weitere soziologische Analysen politische Ideen lieferte, während jede neue Kunstrichtung die soziologische Interpretation von künstlerischen Stilen anregte, und so die gesamte Reihe nicht-wissenschaftlicher Kultur produkte hindurch, wurden selbst die radikalen Umwälzungen im wissenschaftlichen Denken lediglich als Teil der kumulativen Weiterentwicklung objektiven Wissens ver standen und keineswegs als Indikator für unerforschte soziale Prozesse. Man sah natür lich, daß es nur einen begrenzten Bereich soziologischer Fragen gab, die an die Wissen schaft gerichtet werden konnten. So konnte man nach den besonderen sozialen Um ständen fragen, die zum Entstehen einer echten Wissenschaftlergemeinschaft in moder
schungsvorhaben negativ beeinflußten und zur Erzeugung von verzerrten, falschen Ergebnissen führten. Schon Durkheim, Marx und auch Weber hatten bereits Hinweise darauf gegeben, wie solche Fragen beantwortet werden könnten. Aber vor dem Beginn der sechziger Jahre beschäftigten sich nur wenige Soziologen mit diesen Themen und auch dann nur, um ziemlich enttäuscht zu erleben, daß ihre Bemühungen vom Rest der Soziologengemeinschaft fast völlig ignoriert wurden 4 . Ein wichtiger Grund hierfür, glaube ich, ist, daß der begrenzte Komplex von Fragen, die in bezug auf "echte Wissenschaft" zulässig waren, notwendig von den Hauptthemen der Wissenssoziologie geschieden war und keine Beziehung zu ihnen hatte - solche Themen wie die Art und Weise, in der soziale Faktoren an Wissensansprüchen beteiligt waren und eine Beurteilung ihrer Gültigkeit beeinflußten. Mannheim zufolge, zum Beispiel, beschäftigte sich die Wissenssoziologie mit der Frage, "wann und wo in Aussagestrukturen historische-soziale Strukturen hineinragen, und in welchem Sinne die letzteren die ersteren in concreto bestimmen können"s. Eine solche Konzeption von wissenssoziologischen Grundsatzfragen verbunden mit der Überzeugung, c\aß gerade Fragen dieser Art für die Wissenschaft ungeeignet waren, bewirkte, daß die soziologische Untersuchung der Wissenschaft nur geringe analytische Bedeutung haben konnte. So trennte sich allmählich die Wissenschaftssoziologie von der Wissenssoziologie . Darüberhinaus war die Wissenschaftssoziologie ein entschieden weniger interessantes Forschungsgebiet, da der Einfluß sozialer Faktoren auf die Wissenserzeugung für relativ geringfügig gehalten wurde, was wiederum die soziologischen Erklärungsmöglichkeiten einschränkte. Seit kurzem hat sich in dieser Hinsicht vieles geändert. Insbesondere haben Soziologen Methoden zu entwickeln versucht, die den Inhalt wissenschaftlichen Wissens in ihre Analyse einbeziehen. Einige dieser Versuche sind auf der Grundlage allgemeiner programmatischer Aussagen unternommen worden, zum Beispiel das sogenannte "strang programme" in der Wissenssoziologie 6 . Außerdem gibt es eine wachsende Anzahl spezifischer Fallstudien von Forschungszweigen und "anthropologische" Untersuchungen über die Wissenserzeugung auf bestimmten wissenschaftlichen Gebieten. Diese mannigfaltige Entwicklung in Richtung einer Analyse der sozialen Erzeugung wissenschaftlichen Wissens hat die Wissenschaftssoziologie als geistiges Gebiet transformiert. Sie hat es ermöglicht, daß es zum ersten Mal möglich ist, dieses Spezialfach im wesentlichen als einen Zweig der Wissenssoziologie zu betrachten. Folglich besteht Grund zur Annahme, daß die seit langem bestehende Anomalie in der Wissenssoziologie endlich beseitigt worden ist. Trotzdem besteht meiner Meinung nach die Tendenz, die kürzlich erzielten Fortschritte in der Wissenschaftssoziologie überzubewerten. Noch finden sich allzu viele Mängel in den vorhandenen empirischen Untersuchungen, und noch bleiben allzu viele bedeutende Themen in den programmatischen Aussagen unberücksichtigt. Ziel dieser Arbeit ist es, auf ein Hauptproblem aufmerksam zu machen, das für eine Soziologie des wissenschaftlichen Wissens von entscheidender Bedeutung ist, das jedoch kaum je einer genauen Betrachtung unterzogen worden ist. Diese Arbeit entstand
gebracht werden kann. Ich kam dort zu dem Schluß, daß es drei sehr überzeugend scheinende Einwände gibt. Der erste Einwand bezieht sich auf die in der Wissenssoziologie implizit enthaltene kognitive Relativität. Dieser Einwand ist, da er einen grundlegenden logischen Trugschluß aufzudecken vorgibt, elegant, einfach, einleuchtend und (einmal erst behauptet) scheinbar vernichtend. Er ist daher viel diskutiert worden. Mir scheint er jedoch aus weiter unten erwähnten Gründen kein starker Einwand zu sein. Folglich werde ich in der folgenden Diskussion nur kurz auf ihn eingehen. Der zweite Einwand beruht auf der Annahme, daß wissenschaftliches Wissen gleiche Form anzunehmen scheint, unabhängig von seinem Entstehungsort. Oft scheint es zum Beispiel der Fall zu sein, daß Wissenschaftler in kulturell völlig verschiedenen Gesellschaften unabhängig voneinander identische Theorien hervorbringen. Von dieser Beobachtung her kann behauptet werden, daß die kulturellen Produkte der Wissenschaft in hohem Grade autonom, vom sozialen Kontext unabhängig sind. Dieser zunächst anscheinend einfache Einwand erweist sich bei genauer Betrachtung als hoch kompliziert, und ich will ihn hier nicht weiter untersuchen. Ein dritter möglicher Grund, wissenschaftliches Wissen von der soziologischen Analyse auszuklammern, beruht auf der Überzeugung, daß die besondere Wirksamkeit der Wissenschaft in der Versorgung der Menschen mit erfolgreichen praktischen Anwendungsmöglichkeiten oder mit leistungsfähigen technischen Entwicklungen liegt. Der größte Teil dieser Arbeit wird sich der Untersuchung der Frage widmen, inwieweit sich aus der praktischen Anwendbarkeit von Wissenschaft erkennen läßt, daß wissenschaftliches Wissen ein "spezieller soziologischer Fall" ist.
1. Zwei soziologische Standpunkte zum Thema Wissenschaft
Ich werde meine Analyse mit einer kurzen Zusammenfassung der beiden gegensätzlichen Standpunkte beginnen, die in der soziologischen Literatur über Wissenschaft zu finden sind.
Erster Standpunkt: Dies ist der vorherrschende Standpunkt, der Wissenschaft als einen soziologischen Sonderfall behandelt. Wissenschaftliches Wissen wird im epitemologischen Sinn als einzigartig angesehen - als wesentlich aus durch Beobachtung gewonnen Aussagen bestehend, die durch die kontrollierten, rigorosen Verfahren der wissenschaftlichen Methode fest etabliert worden sind. Der Korpus des anerkannten wissenschaftlichen Wissens ergebe, so wird hier angenommen, mit zunehmender Genauigkeit und Vollständigkeit eine wahrheitsgemäße Darstellung der physischen Zusammenhänge der Welt. Da wissenschaftliches Wissen als eine objektive Darstellung der real existierenden Welt angesehen wird, geht man davon aus, daß die soziologische Analyse dann haltmachen muß, wenn sie gezeigt hat, wie die soziale Organisation der Wissenschaft den Wissenschaftlern ein objektives Beobachten und Berichterstatten der Umwelt ermöglicht, ohne größere Anzeichen solcher Vorurteile und Verzerrungen, wie
schaftlichen Wissens fast völlig den Wissenschaftsphilosophen und Ideengeschichtlern überlassen werden. Ein direkter Beitrag von Soziologen zur Analyse wissenschaftlicher Ergebnisse wird nur in solchen Fällen möglich sein, wo soziale Faktoren an der Beseitigung der Hindernisse, die bisher die Auffassung der Wissenschaftler von WahrheitS störten, beteiligt waren, oder wo ein Irrtum vorlag. Werner Stark drückt diese Ansicht so aus: ,,(S)ocial developments do not determine the content of (genuinely valid) scientific developments, simply because they do not determine natural facts, but they may weil open the eyes of the scientist to natural facts which, though pre-existent and always there, had not been discovered before" ".
Von diesem Standpunkt aus gesehen scheinen soziale Einflüsse in den eigentlichen intellektuellen Inhalt der Wissenschaft nur dann eindringen zu können, wenn diese durch nicht-wissenschaftliche Zwänge verzerrt worden ist. Soziologen, die an der Erzeugung von wissenschaftlichem Wissen als vom wissenschaftlichen Irrtum unterschieden interessiert sind, haben sich daher nicht auf den intellektuellen Inhalt der Wissenschaft konzentriert, sondern auf die normative Struktur, die, so nimmt man an, objektives Wissen möglich macht. Die Normen der Wissenschaft sind in der Regel als Schutzwall aufgestellt worden, der die Wissenschaftlergemeinschaft vor verzerrenden Einflüssen auf den geistigen Inhalt schützt und der dadurch den Wissenschaftlern ermöglicht, Forschungsergebnisse einzig und allein nach den eindeutigen bereits etablierten technischen Kriterien auszuwerten, die für eine Gültigkeitserklärung empirischer Wissensansprüche geeignet sind. Allgemeine Anpassung an solche normativen Grundsätze wie Unvoreingenommenheit, emotionale Neutralität und insbesondere Universalität wird als notwendige Implikation der Eigenart des wissenschaftlichen Wissens angesehen. Wenn Wissenschaftler von solchen Vorschriften abweichen, werden sie, so wird argumentiert, in ihren Beobachtungen und Beurteilungen von Überlegungen beeinflußt werden, die nicht in der physischen Welt selbst entstehen. Von diesem Standpunkt aus ist dann die soziologische Analyse der Wissenschaft auf der Prämisse gegründet, daß die harten Ergebnisse der Wissenschaft durch den physischen und nicht den sozialen Bereich bestimmt werden, daß der Inhalt wissenschaftlichen Wissens der soziologischen Untersuchung nicht zugänglich ist und daß die Kohäsion und Effizienz der Wissenschaftlergemeinschaft von der Beibehaltung einer höchst universalistischen ethischen Norm abhängt, ohne die "objekt-konzentriertes" Wissen nicht regelmäßig produzierbar wäre.
Zweiter Standpunkt: Es gibt allerdings einen anderen Standpunkt, von dem aus argumentiert wird, daß die Verfahren und Schlußfolgerungen der Wissenschaft ebenso wie alle anderen Kulturprodukte das mögliche Ergebnis von verstehbaren, sozialen Handlungen sind 10. Es wird behauptet, daß die empirischen Ergebnisse der Wissenschaft eigentlich keine Beweiskraft haben und daß sowohl faktische als auch theoretische wissenschaftliche Behauptungen von spekulativen und sozial abgeleiteten Postulaten
blick auf bestimmte intellektuelle Bindungen der Wissenschaftler und in Beziehung zu besonderen verstehbaren sozialen Kontexten interpretiert werden. Hinzukommt die Behauptung, daß die Handlungen von Wissenschaftlern innerhalb einer Forschungsgemeinschaft nicht von universalistischen sozialen Normen, wie sie Soziologen traditionsgemäß angenommen haben, geleitet werden. Vielmehr wird vorgeschlagen, daß das, was man für die institutionalisierten Normen der Wissenschaft hielt, lediglich ein Teil eines viel breiteren Repertoires sozialer Formulierungen ist, welche die Wissenschaftler als Ressourcen verwenden, wenn es um die Akzeptierung spezifischer Wissensansprüche geht l l . So ist es die zentrale Behauptung dieses Standpunkts, daß die physische Welt auf wissenschaftliche Ergebnisse zwar Zwang ausübt, sie diese Ergebnisse jedoch niemals allein determiniert 12 . Wissenschaftliche Forschung besteht niemals nur in der Registrierung des Objektiven. Sie enthält stets die Aufgabe, komplexen Reihen von Anhaltspunkten, die durch Tätigkeit des Wissenschaftlers auf physischem Gebiet gewonnen wurden, einen Sinn zu geben. Eine solche Sinngebung wird nicht in einem sozialen Vakuum ausgeführt, das durch eine Reihe von starren moralischen Vorschriften aufrechterhalten wird. Vielmehr ist die technische Sinngebung immer untrennbar mit jenen Prozessen der sozialen Interaktion verbunden, wobei die sozialen Eigenschaften der Agierenden und deren Ansprüche in Betracht gezogen werden. Wissenschaftlich vermittelte Ergebnisse (established through scientific negotiations) werden nicht als definitive Aussagen über die physische Welt angesehen. Auch wird nicht akzeptiert, daß sie sich zu jeder Zeit für alle Gruppen durch die Anwendung unveränderlicher technischer Kriterien als gültig erwiesen haben, obwohl natürlich Wissenschaftler ihre Ergebnisse oft so zu behandeln scheinen. Stattdessen werden die von Wissenschaftlern vorgebrachten Vorschläge in soziologischer Hinsicht als Ansprüche betrachtet, die von bestimmten Gruppen von Handelnden in spezifischen sozialen, kulturellen Kontexten als angemessen erachtet wurden.Von diesem zweiten Standpunkt aus gesehen wird akzeptiert, daß es gute Gründe dafür gibt, den Bereich Wissenschaft ganz in die Wissenssoziologie einzubeziehen und detailliert zu untersuchen, auf welch verschiedene Weise sich den Wissenschaftlern in unterschiedlichen sozialen Milieus die Untersuchungsgegenstände präsentieren, wie Wissenschaftler in verschiedenen sozialen Positionen verschiedene Arten von Wissensansprüchen formulieren und akzeptieren und wie "soziale" (d. h. nicht-technische) Überlegungen in die Struktur des wissenschaftlichen Wissens eindringen 13 .
II. Die beiden Standpunkte und das Problem der Relativität
Bis vor kurzem überwog in der Wissenssoziologie deutlich - und in der Tat völlig unangefochten - der erste dieser beiden hier kurz umrissenen Standpunkte. In den vergangenen Jahren jedoch hat der andere Standpunkt an Boden gewonnen. Folglich haben
der Relativität scheitert. Von diesem Standpunkt aus werden sowohl alle Bewertungen von Wissensansprüchen wie auch deren eigentliche Bedeutung als bedingte Produkte sozialer Prozesse gesehen. Bisher hatte die Mehrzahl der Wissenssoziologen eine solche Ansicht als "relativistisch" und daher als sich selbst widerlegend abgelehnt: sie betrachteten sie als eine zu umgehende "Falle", nicht zuletzt der Gefahr wegen, die sie für ihre eigenen Wissensansprüche darzustellen schien. Sie akzeptierten im allgemeinen ohne weiteres, daß ihre eigenen Analysen als bloße Nebenprodukte sozialer Prozesse, und damit als null und nichtig, erscheinen müßten, falls es ihnen nicht gelinge, einen besonderen epistemologischen Status für eine bestimmte Gruppe von Postulaten beizubehalten, die nicht sozial oder existenziell "determiniert" sind. So führte jede extreme Version der Wissenssoziologie, die es unterließ, einige Wissensansprüche als außerhalb ihrer Kompentenz liegend zu definieren, zu intellektuellem Chaos. In den vergangenen Jahren jedoch ist diese Argumentationsmethode noch einmal untersucht worden 14. Es wurde darauf hingewiesen, daß dieser Teufelskreis nur solange funktioniert, wie man davon ausgeht, daß sozial determinierte Vorstellungen keine Gültigkeit haben können. Wenn wir daher zu der Schlußfolgerung verleitet wurden, daß alle Vorstellungen sozialen Ursprungs sind und ihre Bedeutung sozial bedingt ist, können wir dem Relativitätsproblem einfach durch das Fallenlassen dieser Prämisse ausweichen. Ist man nun einmal fest davon überzeugt, daß alles Wissen sozialen Ursprungs ist, dann entpuppt sich diese traditionelle Prämisse als "haltlose Annahme" und repräsentiert "an unrealistic demand. If knowledge does depend on avantage point outside society and if truth does depend on stepping above the causal nexus of social relations, then we may give them up as lostlS ." Kurz, angesichts der Relativitäts"falle" können wir stets unsere Vorstellungen von Gültigkeit ändern, an statt einen soziologischen Zugang zur Wissensschöpfung aufzugeben. In dem eben zitierten Abschnitt bittet David BIoar, die Annahme neu zu überdenken, daß Vorstellungen falsch sein müssen, wenn sie ein sozial verursachtes Produkt sind. Es bleibt jedoch schwierig, diese Annahme aufzugeben, solange wir auch weiterhin die Art von kausaler Terminologie benutzen, wie sie in der Wissenssoziologie gebräuchlich ist. Im Rahmen dieser Tradition haben Soziologen über Vorstellungen (oder Wissensansprüche) geschrieben, als seien sie auf nahezu gleiche Weise durch soziale Faktoren determiniert wie die Bewegung eines Billardballes vom Stoß des Queue bestimmt ist. Angesichts einer solchen kausalen Metapher ist es besonders schwierig, eine Vorstellung als sozial determiniert und dennoch gültig zu akzeptieren; denn die Eigenart der Vorstellung scheint allein von der Art der Ursache abhängig und scheint kaum etwas oder gar nichts mit dem Gegenstand der Vorstellung zu tun zu haben. Aber diese Art Kausalsprache muß in der soziologischen Betrachtung der Wissenserzeugung nicht unbedingt eine Rolle spielen. Daher ließ ich in meiner kurzen Beschreibung des zweiten soziologischen Standpunktes Ursachen oder soziale Determinanten unerwähnt und sprach stattdessen von sozialen Akteuren, die sich für die Interpretation von sozial produzierten Beobachtungen in spezifischen Kontexten kultureller Ressourcen bedienen. Die
die traditionsgemäß diesem Problem einen irreführenden Anschein von Unlösbarkeit gibt 16 • Eine verstehende Formulierung des zweiten Standpunkts gegenüber Wissenschaft führt uns nicht ins intellektuelle Chaos. Wir sind weder dazu gezwungen, alle Gültigkeitskriterien fallen zulassen , noch alle Wissensansprüche als epistemologisch gleichberechtigt zu akzeptieren. Was wir allerdings akzeptieren müssen, ist die Tatsache, daß Gültigkeitskriterien weder von vornherein festgelegt, noch ewig oder universal sind. Sie sind kulturelle Ressourcen, deren Bedeutung im Verlauf des sozialen Lebens ständig neu interpretiert und neu formuliert werden muß 17.
Ill. Wissen, Nutzen und erster Standpunkt
Ich werde hier das Relativitätsthema nicht weiter verfolgen. Ich habe es zum Teil nur deshalb erwähnt, um vorzuschlagen, daß das "Problem der Relativität" den zweiten Standpunkt nicht unbedingt von der Betrachtung ausklammert, und um außerdem zu zeigen, daß die nachfolgende Diskussion von einem anderen Gesichtspunkt zur Debatte beiträgt. Ich wende mich nun einem ebenso grundsätzlichen Thema zu, das zwar auch für die Soziologie des wissenschaftlichen Wissens weitreichende Implikationen hat, bisher aber weit weniger beachtet wurde: das Problem der Beziehung von Wissen und Praxis. Diese Frage ist für unsere Entscheidung zugunsten einer der beiden Standpunkte genauso wichtig wie die der Relativität. Der Widerwille nämlich gegen den Versuch einer soziologischen Analyse wissenschaftlichen Wissens ist oft mit der unangezweifelten Überzeugung verbunden, daß ein solches Wissen epistemologisch einzigartig und von sozialen Zusammenhängen unabhängig sein muß, weil es eine so unvergleichlich fruchtbare Quelle erfolgreicher technologischer Anwendbarkeit ist. Anders ausgedrückt, während das Relativitätsproblem Soziologen zur Suche nach einer Gruppe von Wissensansprüchen veranlaßte, die epistemologisch gesehen privilegiert und somit der soziologischen Analyse unzugänglich ist, veranlaßte sie die behauptete Verbindung zwischen Wissenschaft und Technologie häufig dazu, diese Gruppe privilegierter Sätze mit wissenschaftlichem Wissen gleichzusetzen. Ich möchte drei soziologische Vertreter dieser Argumentationsweise als erläuternde Beispiele anführen. Der erste ist Werner Stark, der vor ungefähr zwanzig Jahren behauptete, daß ,,(S)o far as nature is coneerned, the main guiding value has ever been the same, namely, to achieve an understanding and control over her ... and henee in all ages attention has been paid to the same aspects of the realm of nature - those which promise us a foothold in and a whiphand over her ... Whether (man) likes it or not, he must, under all cultural circumstanees, pursue, among others, the economic and technological values, the values of scienee." Und gleichermaßen: " ... whereas man has more than onee shifted his vantage point for the consideration of social facts so that these facts appear to hirn in ever new and often surprising outlines, he has always kept to the same spot for surveying the facts of nature ... so that these latter have always offered to him the self-same surface. He has merely learned to look more closely 18 • "
Fähigkeit, wirkungsvolle praktische Kontrolle auszuüben, allgemein durchgesetzt hat. Ein zweites neueres Beispiel liefert Elias, der schreibt, daß das Wissen der Menschen über die physische Welt "has reached a comparatively high degree of object-orientation, of fitness to (its) objects ... and men have acquired a correspondingly high capacity for controlling the course of events in that sphere"19. Er argumentiert weiter, daß wir im Interesse der Entwicklung einer allgemeinen Wissenssoziologie erkennen müssen, daß sich unsere Analyse der Erzeugung eines solchen relativ objektiven Wissens deutlich von unserer Analyse des subjekt-orientierten Wissens unterscheiden muß. Mittelpunkt dieser Analyse muß, so hebt er hervor, die Tatsache sein, daß wissenschaftliches Denken in zunehmendem Maße von sozialen Einflüssen getrennt wurde und seine Ergebnisse dadurch von Variationen im sozialen Kontext unabhängig blieben. Elias' Argument ist von besonderem Interesse, da er als einziges Kriterium zur Identifikation von objektorientiertem Wissen dessen "Fähigkeit den Verlauf der Dinge zu kontrollieren" angibt; und da objekt-orientiertes Wissen als synonym mit Wissenschaft und Technologie behandelt wird. So formuliert, wird also wirkungsvolle praktische Kontrolle als bestimmendes Charakteristikum der Gesamtheit des für gültig erklärten und sozial autonomen wissenschaftlichen Wissens angesehen. Wichtig ist die Erkenntnis, daß weder Elias noch Stark ausschließlich von der Art von Kontrolle über Geschehnisse sprechen, die im Verlauf von Experiment und systematischer Beobachtung durch Wissenschaftler im Labor ausgeübt wird. Diese Autoren heben besonders hervor, daß die Allgemeingültigkeit von wissenschaftlichen Ergebnissen für den Laien durch den Erfolg der Wissenschaft in praktischen Dingen des Alltags hergestellt wird. So betont Elias, daß die Objektorientierung des wissenschaftlichen Wissens in dem Beitrag deutlich wird, den es ihren Besitzern in deren Anstrengungen im Daseinskampf leistet. Wahrscheinlich meint er damit den Beitrag der Wissenschaft zur wirtschaftlichen Technologie, zur militärischen Ausrüstung und zur Krankheitskontrolle. Diese Ansicht über die praktische Wirksamkeit der Wissenschaft drückt Johnston am klarsten aus: "When we say that science 'works', what we mean is that it provides us with the capability to manipulate and control nature ... (T)he enormous attainments of modern natural seien ces, which are supported not only by the work of the scientists themselves, but, even more importantly, by the millions of experiments going on in the real world when objects are constructed or predictions made based on scientific theories, represent a fairly conclusive proof of their mastery of a segment of reality and a clear demonstration of their superiority over all other knowledge invented by man 20."
Diese Beweisführung kann für einen größeren Angriff auf den zweiten, soziologischen Standpunkt zur Wissenschaft benutzt werden und auf dessen Hauptthesen, daß wissenschaftliches Wissen sozial bedingt ist, daß sein Inhalt von Veränderungen im sozialen Kontext beeinflußt wird und daß die Interpretation der Kriterien, die zur Gültigkeitserklärung von wissenschaftlichem Wissen benutzt werden, auch sozial variabel sind. Denn wie wir gerade gesehen haben, kann man durchaus vernünftig argumentieren, daß
wirkt, die jeder akzeptieren muß: es scheint in dem Sinne objektiv gültig zu sein, da es uns wirksame Kontrolle über viele Aspekte physischer Zusammenhänge gibt. Es is schwierig zu verstehen, wie dies vom Kontext abhängige Formulierungen tun würden Daher hat es den Anschein, daß "jede neue Technologie Zeugnis ablegt" nicht nu "für die Integrität des Wissenschaftlers"21, sondern auch für die Objektivität seine Wissens und seine Unabhängigkeit von sozialen Einflüssen. Kurz, die praktische Wirk samkeit des wissenschaftlichen Wissens gibt ihm seinen besonderen epistemologische Status; und sein besonderer epistemologischer Status wiederum begründet Unabhängig keit vom sozialen Kontext und Ausschluß aus dem Rahmen der soziologischen Analyse In den nächsten beiden Abschnitten werde ich diese Beweisführung einer kritischen Be wertung unterziehen, um herauszufinden, wie stark sie den zweiten soziologische Standpunkt untergräbt. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die folgenden kurzen Be merkungen die zur Diskussion stehenden komplexen Sachverhalte klären werden Meine Absicht ist daher eine relativ bescheidene, nämlich das Augenmerk auf die Tat sache zu lenken, daß eine Diskussion der Beziehung zwischen Wissenschaft und Tech nik für die Soziologie des wissenschaftlichen Wissens bedeutende Auswirkungen hat und zu zeigen, daß die Ansicht über diese Beziehung, die in der dominierenden Tradi tion des soziologischen Gedankenguts über das Thema Wissenschaft enthalten ist, zu mindest Fragen aufwirft. Ich beabsichtige also, eine Diskussion dieser Themenpunkt auszulösen, und nicht jede weitere Auseinanderse~zung mittels einer endgültig ab schließenden Analyse vorwegzunehmen.
IV. Wie stark ist die moderne Technik von der Wissenschaft abhängig?
Wenn wir behaupten, daß die besondere epistemologische und daher soziologisch Stellung der Wissenschaft durch die technologische Produktivität der modernen Gesell schaft begründet ist, scheinen wir vorauszusetzen, daß die größte Anzahl der heute ent wickelten, wirksamen praktischen Techniken ein ziemlich direktes Produkt des wissen schaflichen Wissens ist und daß der größte Teil wissenschaftlichen Wissens in der Ta solche Techniken hervorbringt. Die Terminologie selbst, die Soziologen neben andere für die Beschreibung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Technik anwenden drückt diese Voraussetzungen deutlich aus. So wurden die Prozesse der Wissensproduk tion und -operation typischerweise als ein Kontinuum dargestellt, das von "Basis(oder "reiner" oder "grundlegender") Forschung zu "angewandter" Forschung, z "technologischer Entwicklung" reicht. Wie wir gesehen haben, neigten Wissenssoziolo gen zu der selbstverständlichen Annahme, daß die am "Basis"-Ende des Kontinuum erzielten Ergebnisse im allgemeinen durch die praktische Tätigkeit am "Entwicklungs" Ende für gültig erklärt werden. Wenn wir uns jedoch das für diesen Sachverhalt relevant empirische Beweismaterial einmal ansehen, finden wir nur geringe Anzeichen für irgend
daß auf jedem beliebigen wissenschaftlichen Gebiet die größte Anzahl von Wissensansprüchen überhaupt nicht zu "funktionieren" scheint (außer vielleicht als Gegenstand des "curriculum vitae"). Die Mehrzahl der Ansprüche wird von anderen Wissenschaftlern weder zitiert (noch wird ihr irgendwelche Beachtung geschenkt). Die Ansprüche scheinen lediglich als Archivmaterial zu existieren 22 . Außerdem wird bestimmten Bereichen der wissenschaftlichen Forschung (z. B. der Sternenspektroskopie) von Beteiligten oder Nicht-Beteiligten irgendeine Relevanz für eine praktische Anwendbarkeit gar nicht zuerkannt. Wenn wir folglich davon sprechen, daß die Objektivität wissenschaftlichen Wissens durch erfolgreiche Anwendbarkeit demonstriert wird, so ist höchstens eine Minderheit von wissenschaftlichen Wissensansprüchen innerhalb einer begrenzten Anzahl von Forschungsgebieten gemeint. Wir können daher dieses Argument nicht als Beweis dafür benutzen, daß die geistigen Produkte der Wissenschaft im allgemeinen einen besonderen epistemologischen Status innehaben. Diese negative Folgerung wird durch die Tatsache bestärkt, daß das jeweilige "Schrifttum" von Wissenschaft und Technik eher fein säuberlich getrennt bleibt mit wenig gegenseitiger Bezugnahme und deutlich verschiedenen Methoden des Zitierens innerhalb der eigenen Disziplin. Soweit aus der Zitatenanalyse zu ersehen ist, scheint Wissenschaft hauptsächlich auf der Grundlage vergangener Wissenschaft anzuwachsen und Technik in erster Linie auf der Basis vergangener Technik 23 • Die Ansicht, daß die Beziehung zwischen akademischer Forschung und Praxis schwach und indirekt ist, findet durch verschiedenartige Fallstudien über die technische Entwicklung weitere Bestätigung. Es wurde zum Beispiel in den frühen sechziger Jahren eine Reihe von Untersuchungen über jüngste Neuerungen auf dem Gebiet von "Materialien" ausgeführt, die von dem Materials Advisory Board o[ tbe US National Academy o[ Sciences gefördert wurde 24 . Der Board konstruierte ein siebenstufiges Modell des Entwicklungsablaufes einer technischen Neuerung, das eine geordnete Reihenfolge von Grundlagenforschung bis zur Praxis darstellte. Es erwies sich jedoch als unmöglich, die empirischen Ergebnisse in Einklang mit diesem Modell zu interpretieren. In keinem der untersuchten Fälle konnte man die Neuerung als direktes Ergebnis der Fortschritte in der Grundlagenforschung ansehen. In den meisten Fällen schien sich die Neuerung direkt aus früheren Arbeiten auf dem Gebiet der Technik zu entwickeln. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine spätere britische Untersuchung über die vierundachtzig technischen Neuerungen, die den Queen's Award in den Jahren 1966 und 1967 erhielten. Die Autoren schreiben: "We have paid particular attention to the relation of basic science to innovation ... (O)ur failure to find more than a small handful of direct connections is the more striking for the fact that we set out deliberately to look for them 25 ." In seiner vor kurzem erschienen Besprechung der sich mit diesem Thema befassenden Literatur faßt Layton seine Folgerungen mit der Aussage zusammen, daß "the old view that the basic sciences generate all the knowledge which technologists then apply will simply not help in understanding contemporary technology"26.
Dies wird in den Ergebnissen von Blumes und Sinclairs Untersuchung über das Belohnungssystem unter Chemikern an britischen Universitäten 27 deutlich. Diese Autoren zeigen, daß sich nur eine Minderheit von britischen Chemikern an den Universitäten für die Probleme der Praxis interessiert und daß diejenigen, die ein solches Interesse zeigen, weder besonders produktiv sind noch hohes Ansehen unter ihren Kollegen genießen. Darüberhinaus finden diejenigen mit starkem Interesse für die Industrie im Universitätsbereich für eine bestimmte Anzahl von Veröffentlichungen beträchtlich weniger Anerkennung. Die chemische Industrie in Großbritannien scheint die Beachtung eines kleinen, relativ unproduktiven Sektors der akademischen Forschergemeinschaft zu finden - zum Teil zumindest aus dem Grund, weil durch das Belohnungssystem im akademischen Bereich die Interessen der Beteiligten von der Praxis weggelenkt werden. Dies, so sollte betont werden, geschieht in der wissenschaftlichen Disziplin, deren Kontakt mit der Industrie am längsten besteht. Wir dürfen die hier vorgeschlagene Beweisführung nicht übertreiben. Es gibt einige bemerkenswerte, gut dokumentierte Fälle, wo akademische Forschung nach grundlegendem wissenschaftlichen Wissen direkt zu erfolgreicher Anwendung in der Praxis geführt hat. Außerdem gibt es das Phänomen der "Einverleibung" ("embodiment"). Das geschieht dann, wenn wissenschaftliches Wissen in den speziellen Arbeitsvorgang oder den Gegenstand, wie zum Beispiel ein Transistor, eingeht, der dann für die Produktion weiterer technischer Entwicklungen benutzt wird. In solchen Fällen besteht die Tendenz, die zweite Generation technischer Entwicklungen so zu behandeln, als wäre sie aus der vorherigen allein entstanden, und den ursprünglichen wissenschaftlichen Beitrag zu übergehen. Es besteht außerdem die Schwierigkeit beurteilen zu können, inwieweit grundlegende Wissenschaft durch zwanglose Interaktion und als Resultat der Grundausbildung, die die meisten in der angewandten Wissen~chaft tätigen Wissenschaftler in akademischer Umgebung erhielten, zu technischem Fortschritt beiträgt. Dennoch erscheint die einfache Ansicht, daß die reiche technische Entwicklung der Industriegesellschaften das direkte Beiprodukt einer anwachsenden Sammlung von grundlegendem wissenschaftlichen Wissen ist, durch die Art des von mir zusammengefaßten Beweismaterials problematisch. Es trifft natürlich zu, daß es eine wachsende Anzahl von "technologischen Wissenschaften" gibt, die ausdrücklich um Probleme angelegt wurden, die sich aus der Verfolgung praktischer Ziele ergeben. Diese Unterdisziplinen befinden sich hauptsächlich im akademischen Bereich, wo sie jedoch enge Verbindungen zur Industrie beibehalten. Diese technischen Wissenschaften unterscheiden sich jedoch sowohl in geistiger als auch in sozialer Hinsicht von den selbständigen Allgemeinwissenschaften, die Soziologen für die Hauptspeicher des anerkannten wissenschaftlichen Wissens gehalten haben. Sie sind insbesondere
..... less abstract, less idealized. Thus, the theory of structures is less abstract than physics, for example, in incorporating idealized versions of manmade devices. But in turn, structural design, which has become scientific in some repects, is much less abstract than structural theory. That is,
scheint ihr kognitiver Inhalt von den Universalformulierungen der wissenschaftlichen Grunddisziplinen abzuweichen. Immer dann, wenn grundlegende Wissenschaft als Grundlage für technische Wissenschaft (und somit für die Produktion von Technik) benutzt wird, ist ein beträchtliches Maß an Umformulierung erforderlich. Um grundlegende Wissenschaft "funktionsfähig" zu machen, muß sie in Übereinstimmung mit den Anforderungen des sozialen Kontexts der Anwendung in der Praxis völlig neu interpretiert werden 29 . Dies scheint nicht deutlich zu machen, daß praktischer Nutzen ein objektives Kriterium der universalen Gültigkeit wissenschaftlicher Vorschläge liefert, sondern vielmehr, daß sich Urteile über die kognitive Adäquanz mit dem sozialen Kontext ändern. Es macht sicherlich alles andere als deutlich, daß wir den praktischen Erfolg von Technik oder angewandter Wissenschaft als Gültigkeitserklärung für die Formulierungen der grundlegenden Wissenschaft behandeln können; denn diese Formulierungen machen größere Bedeutungswandlungen durch, während sie sich dem Anwendungsbereich nähern. Bisher habe ich mich auf die Verbindung oder eher die fehlende Verbindung zwischen Technik und grundlegender Wissenschaft konzentriert. Aber selbst wenn wir die Basiswissenschaft einen Moment lang beiseite lassen und unser Augenmerk stattdessen auf den von der angewandten Wissenschaft geleisteten Beitrag zur praktischen Technik richten, ist immer noch zweifelhaft, ob die Gesamtheit der modernen Technik auf irgendeine direkte Weise vom wissenschaftlichen Wissen abzuleiten ist. "The rapid growth and the scientific glamour of research-intensive industries tend to obscure the fact that most industries are not research-intensive, and that much technological work is relatively unsophisticated ... The first design in a new field of industry may be quite cmde and totally outside science. R. G. LeTourneau, the inventor of the bulldozer, quite typically was a practical mechanic without formal technical education. The prototype machine was assembled from kown components using an acetylene torch ... (As in this example) a major portion of modern industry is quite unrelated to the science-technology complex 30 ."
Betrachtet man jene Anwendungen in der Praxis, die tatsächlich in der wissenschaftlichen Forschung entstanden zu sein scheinen, so ist wichtig, nicht zu vergessen, daß die meisten (und möglicherweise alle) Wissenssysteme erfolgreiche praktische Anwendungen hervorgebracht haben - selbst Systeme wie die mythologische Astronomie der Babylonier 31 , dessen allgemeine Grundsätze wir heute eindeutig für falsch halten. Auf Grund dessen und der Tatsache, daß Industriegesellschaften einen ständig wachsenden Anteil ihres immensen "Mehrwertes" speziell für die Produktion von systematischem Wissen verwandt haben, wäre eine dramatische Entwicklung der auf Wissen bezogenen Technik in der modernen Gesellschaft zu erwarten, ohne voraussetzen zu müssen, daß sich die epistemologische Eigenschaft des Wissens mit Erscheinen der modernen Wissenschaft geändert hat, Es besteht kein Anlaß zu der Annahme, daß sich wissenschaftliches Wissen in der Sache von vor-wissenschaftlichem oder handwerklichem Wissen unterscheidet, oder daß die "Rate des praktischen Ertrages" für wissenschaftliches Wissen besonders hoch ist 32 . Es mag wahrscheinlich einfach daran liegen, daß systematisches
Die kumulative Zunahme in der Wissensproduktionsrate hat die bemerkenswerte Folg gehabt, daß mehr und mehr bisher nicht für möglich gehaltene, untersuchenswerte Er scheinungsformen und Bereiche identifiziert und genauestens erforscht worden sind 33 Viele der eindeutigsten, einflußreichsten praktischen Erfolge der Wissenschaft sind au der Verwertung der Ergebnisse dieser neuen Gebiete entstanden; das trifft zum Beispie in Beziehung auf die Bereiche der Elektrizität, Bakterien und subatomare Partikel zu Derartige Anwendungen in der Praxis schienen besonders dramatisch, da man über di betreffenden Phänomene bisher wenig oder gar nichts wußte. Folglich konnte un wurde selbst die gröbste Art des praktischen Eingriffs, wie zum Beispiel die erste Impfversuche, als Beweis für die spezielle Wirksamkeit des wissenschaftlichen Wissen interpretiert. Wissenschaftler und Populärwissenschaftler benutzten diese Entdeckun gen dazu, ein Fluidum des Wunderbaren und der Unfehlbarkeit zu verbreiten, das ihr Forderungen nach noch mehr Personal, Geld und sozialer Unterstützung zu stärke half. Geht man aber davon aus, daß der größte Teil der Denksysteme, die sich mit de natürlichen Welt beschäftigen, erfolgreiche praktische Anwendungen hervorgebrach hat, so liefert die praktische Nutzung neuer Gebiete der wissenschaftlichen Forschung entstanden durch die Zunahme in Ausmaß und Stärke der wissenschaftlichen Unter nehmung, keinen Grund dafür, wissenschaftliches Wissen als epistemologische Einze heit zu behandeln oder als nehme es eine privilegierte Stellung in der Soziologie ein. Wichtig ist außerdem die Einsicht, daß in den meisten Bereichen, in denen wissen schaftliche Forschung als Grundlage für die Anwendung in der Praxis beibehalten wird der technische Mißerfolg im Gegensatz zum technischen Erfolg gewöhnlich für de Laien unsichtbar und von ihm unbeachtet bleibt. Wollen wir argumentieren, daß prak tischer Erfolg wissenschaftliches Wissen für gültig erklärt, dann müssen wir akzeptieren daß der praktische Mißerfolg ein Anzeichen für das Gegenteil ist. Leider wissen wi sehr wenig über Umfang und Umstände der Vorfälle technischen Mißerfolgs - vielleich teilweise aus dem Grund, weil seine mögliche Bedeutung für herkömmliche soziolog sche Annahmen über das wissenschaftliche Wissen bisher nicht beachtet worden is Wir scheinen jedoch dem wenigen, das wir wissen, entnehmen zu können, daß unvor hergesehenes Versagen, die technische Entwicklung mit Hilfe der Nutzung wissen schaftlichen Wissens voranzutreiben, bei weitem nicht selten ist 34 . Ohne ausreichende Beweismaterial können wir zu keinem festen Schluß über die Häufigkeit des techni schen Mißerfolgs kommen. Aber ohne den systematischen Versuch, Erfolg gegen Miß erfolg abzuwägen, können wir wohl kaum die technische Produktivität der moderne Gesellschaft als Grund dafür benutzen, wissenschaftliches Wissen aus der soziolog schen Analyse auszuklammern. Schließlich ist die Tatsache erwähnenswert, daß dort, wo die Wissenschaft einen bedeu tenden Beitrag zur Praxis geleistet hat, dieser Beitrag sehr überbewertet werden kan und dadurch volkstümlichen Annahmen falsche Schützenhilfe leistet. Wir haben scho gesehen, daß Soziologen zu der selbstverständlichen Annahme neigen, daß die Wirk samkeit der modernen Medizin eine der deutlichsten Darstellungen dafür ist, auf welch Weise sich die Wissenschaft in praktischer Hinsicht bezahlt macht. In der Tat ist dies
direkt aus Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung ableiten 35 . Diese Ansicht sitzt so fest, daß es sich lohnt, das systematische Beweismaterial ziemlich genau zu untersuchen. Werfen wir kurz einen Blick auf einige der bedeutenderen Infektionskrankheiten. Betrachten wir als erstes die Tuberkulose, die die häufigste direkte Todesursache im 19. Jahrhundert war und deren nahezu völlige Ausmerzung seitdem fast ein Fünftel des gesamten Rückgangs der Sterblichkeitsquote ausmacht. Es ist klar ersichtlich, daß in England und Wales die Todesrate für Fälle der Lungentuberkulose von 1850 bis 1970 ständig zurückging. Wirkungsvolle Chemotherapie aber begann nicht vor 1947 mit der Einführung von Streptomyzin, und eine Schutzimpfung wurde auf breiter Basis erst seit 1954 durchgeführt. "By these dates mortality from tuberculosis had fallen to a small fraction of its level in 1848-54; indeed most of the decline (57 %) had taken place before the beginning of the present century36 . " Dieser Ablauf wiederholt sich im Fall fast aller größeren Infektionskrankheiten. "üf the total decline of mortality between 1848-54 and 1971, bronchitis, pneumonia and influenza contributed nearly a tenth; of the fall in the present century they contributed a fifth. Most of this decrease occurred before the introduction of sulphapyridine 37 ."
Die Sterblichkeitsrate für Keuchhustenfälle begann von den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts an zurückzugehen. Eine Behandlung mit Sulphonamiden und später Antibiotika gab es vor 1938 nicht, und selbst heute ist ihre Wirkung auf den Verlauf der Krankheit zweifelhaft. "Clearly almost the whole of the decline of mortality from whooping cough occurred before the introduction of an effective medical measure 38 ." Die Sterbeziffer für Cholera und ähnliche Krankheiten fing Ende des 19. Jahrhunderts an zu fallen, und zum Zeitpunkt der Einführung der intravenösen Behandlung hatte 95 Prozent der gesamten Verbesserung stattgefunden. Ahnlieh gilt: "mortality from thypus fell rapidly towards the end of the last century and there have been few deaths in the twentieth. It can be said without hesitation that specific medical measures had no influence on this decline 39."
Der Rückgang der Sterblichkeitsrate unter den Infektionskrankheiten ist die bedeutendste medizinische Leistung der Neuzeit. Allgemein wird angenommen, daß diese Leistung in erster Linie das Produkt der angewandten Wissenschaft ist; diese Annahme über die Wirkungskraft der medizinischen Wissenschaft hat die Überzeugung von Soziologen gestärkt, daß wissenschaftliches Wissen eine besondere Art von Wissen ist. Eine genaue Untersuchung des geschichtlichen Beweismaterials scheint dagegen unzweideutig zu zeigen, daß die medizinische Wissenschaft nur einen Randbeitrag zu dieser praktischen Errungenschaft leistete. Falls dieser Bereich der Praxis überhaupt repräsentativ ist, dann dürfte vieles von dem, was wir über die praktische Wirksamkeit der Wissenschaft als selbstverständlich hinnehmen, ziemlich illusorisch sein. Gehen wir davon aus, daß die Produktion von wissenschaftlichen Wissensansprüchen in der Neuzeit ständig und kumulativ angewachsen ist, so wird jeder weltliche Trend im Bereich der Praxis in Kor-
diese Art Verbindung als selbstverständlich hinzunehmen, und uns dazu bringen, Beweismaterial und Argumente (dargestellt zu Beginn dieses Abschnitts), die den "gesunden Menschenverstand" mit der Behauptung herausfordern, daß die Verbindungen zwischen wissenschaftlichem Wissen und praktischer Anwendung relativ schwach sind, ernsthaft zu behandeln. In diesem Abschnitt habe ich mich auf die Stärke der Beziehung zwischen Wissenschaft und Technik konzentriert. Ich habe die Frage, ob die praktische Anwendung von Wissen, selbst im Fall einer bestehenden direkten Verbindung, tatsächlich als Gültißkeitskriterium dienen kann, nur am Rande behandelt. Dies werde ich ausführlicher im nächsten Abschnitt tun.
V. Kann eine erfolgreiche praktische Anwendung Gültigkeitskriterium für eine wissenschaftliche Theorie sein?
Wie wir gesehen haben, wurde herkömmlicherweise als selbstverständlich angenommen, daß, wenn eine Theorie tatsächlich als Grundlage für eine erfolgreiche praktische Handlung benutzt wird, dies notwendigerweise die Theorie validiert. Es gibt jedoch gute Gründe für die Behauptung, daß die wirkungsvolle praktische Anwendung ein unzureichendes Kriterium für eine solche Gültigkeitserklärung ist. Dieser Sachverhalt ist mit besonderer Berücksichtigung der modernen Wissenschaft und Technik von Mario Bunge untersucht worden; die nachfolgende Diskussion nimmt seine Analyse als Ausgangspunkt4o . Die uns beschäftigende Frage kann folgendermaßen neu formuliert werden: Ist es möglich, daß eine falsche oder teilweise falsche Theorie in praktischer Hinsicht erfolgreich sein kann? Bunde argumentiert, daß dies aus verschiedenen Gründen möglich ist. Als erstes müssen wir anerkennen, daß eine jede Theorie aus einer Anzahl von Thesen besteht. Es besteht immer die Möglichkeit, daß nur einige dieser Thesen in signifikantem Maße zu der erfolgreichen praktischen Anwendung dieser Theorie beitragen. Daher scheint bei einer praktischen wirkungsvollen Anwendung einer Theorie allenfalls der Schluß zulässig, daß irgendein Teil dieser Theorie gültig oder annähernd gültig ist. Dieser Schluß muß jedoch näher qualifiziert werden. Das komplexe Ineinandergreifen alltäglicher praktischer Situationen und die Unmöglichkeit, alle relevanten Variablen kontrollieren zu können, tragen zu der Schwierigkeit bei, auf der Grundlage von praktischem Erfolg deutliche theoretische Folgerungen aufzustellen. Im Vergleich dazu steht die relative Deutlichkeit, mit der eine Schlußfolgerung im Labor oder ähnlichen Situationen erzielt werden kann, wo es oft möglich ist, irgendeine annähernd enge Verbindung mit den idealisierten Beziehungen der in der wissenschaftlichen Theorie behandelten Phänomene herzustellen.
na te among variables and weigh their relative importance, do we control them either by manipulation or by measurement, and do we check our hypotheses and inferences. This is why factual theories, whether scientific or technological, substantive or operative, are empirically tested in the laboratory and not in the battlefield, the consulting office, or the market place 41 ."
Hieraus folgt, daß es gewöhnlich unmöglich ist, mittels der erfolgreichen praktischen Handlung allein zu identifizieren, welche Bestandteile einer Theorie für das erfolgreiche Ergebnis verantwortlich waren und somit durch das Ergebnis Gültigkeit erlangten. Es ist daher irreführend, von einer Gültigkeitserklärung des wissenschaftlichen Wissens durch "die Millionen von Experimenten, die in der realen Welt durchgeführt werden", zu sprechen. Eine weitere wichtige Betrachtung, die diese Folgerungen unterstützt, ist die, daß die idealisierten Formulierungen der wissenschaftlichen Theorie stets nicht nur neu formuliert, sondern auch mit anderen kognitiven Faktoren kombiniert werden müssen, wenn sie auf die "Gegebenheiten der Alltagswirklichkeit" angewendet werden, mit denen sich der Mensch in seinen praktischen Angelegenheiten beschäftigt. Zum Beispiel "the relativistic theory of gravitation might be applied to the design of generators of antigravity fields ... which in turn might be used to facilitate the launching of spaceships. But, of course, relativity theory is not particularly concerned with either field generators or astronautics; it just pravides some of the knowledge relevant to the design and manufacture of antigravity generators" ."
Die Konstruktion von wirkungsvollen Antischwerkraftgeneratoren würde demnach nicht unbedingt irgendeinen Teil der ursprünglichen akademischen Version der Relativitätstheorie entscheidend unterstützen, zum Teil weil diese Theorie gemäß der speziellen Anforderungen dieses Gebietes praktischer Tätigkeit möglicherweise revidiert, neu interpretiert und wahrscheinlich beträchtlich vereinfacht worden ist, und außerdem weil womöglich viele ergänzende Konzeptionen hinzugefügt wurden, die für den praktischen Erfolg von entscheidender Bedeutung gewesen sein könnten. Wichtig erscheint außerdem, daß die Genauigkeitsanforderungen der Praxis sehr verschieden von und im allgemeinen weit weniger streng sind als Anforderungen von Forschungsvorhaben ohne unmittelbares praktisches Ziel. Eine annähernde, einfache Theorie reicht oft für praktische Zwecke aus, selbst wenn bekannt ist, daß sie in wissenschaftlicher Hinsicht unzureichend ist. Angewandte Physiker zum Beispiel, die sich mit dem Bau optischer Instrumente beschäftigen, kommen größtenteils mit Theorien der Optik aus der Mitte des 17. Jahrhunderts aus. In vielen Fällen wird die Unfertigkeit der für praktische Zwecke verwandten Theorien vor dem Laien durch die breiten Fehlerspannen versteckt, die beim technischen Produkt einberechnet sind. "Safety coefficients will mask the finer details predicted by an accurate and deep theory anyway, and such coefficients are characteristic of technological theory because this must adapt itself to conditions that can vary within arnpie bounds. Think of the variable loads a bridge can be subjected to or of the varying individuals that may consume a drug. The engineer and the physician are
research, is pointless or even encumbering in practice in most cases 43 ."
Die weiter oben erwähnten Überlegungen - das heißt Umformulierung von Theorie in praktischen Kontexten, nur teilweise Benutzung einer Theorie, niedrige Genauig keitsanforderungen und das komplexe Ineinandergreifen von praktischen Situatione - zeigen, daß "unendlich viele mögliche, rivalisierende Theorien" Ergebnisse bringe können, die in praktischer Hinsicht identisch sind, und es ohne Zweifel möglich is daß eine falsche oder teilweise falsche Theorie praktisch wirkungsvoll ist. Mit andere Worten, wir scheinen zu dem Entschluß gekommen zu sein, daß eine erfolgreich praktische Anwendung als Gültigkeitskriterium keine überzeugende Kraft besitzt Dieser Schlußfolgerung könnte jedoch noch aus dem Grund widersprochen werden daß handwerkliches Wissen allein gültiges Wissen ist. Bunde drückt dies folgenderma ßen aus: es könnte jedoch "be argued that a man who knows how to do something i thereby showing that he knows that something"44 . Untersuchen wir diese Behauptun in Verbindung mit dem folgenden Beispiel einer erfolgreichen praktischen Handlung Das Beispiel wird zu der Einsicht beitragen, daß die Behauptung entweder eine Tauto logie oder beweisbar falsch ist.
"An African tribai remedy, using strips of paw-paw fruit, successfully cleared post-operativ infection in a kidney transplant patient after antibiotics had failed, doctors disclosed yesterday The remedy for infection was suggested by Dr. Christopher Rudge, a junior member of the trans plant team, who had seen it used in the South African bush on ulcers and wounds. The fruit wa bought from Fortnum and Mason, the Picadilly grocers. He said he had used it before in difficu cases, and feit it could be useful in treating routine healing problems. It is not awfully scientific: do not know why it works 45 ."
Man könnte argumentieren wollen, daß sich Dr. Rudges Wissen über die heilenden Wir kungen der Paw-Paw-Frucht durch seinen praktischen Erfolg als gültig erwies. Es steh sicherlich fest, daß Dr. Rudge vorher wußte, daß das Auflegen von Paw-Paw-Streife auf die Wunde manchmal einen Rückgang der Infektion zur Folge hatte. Es steh außerdem fest, daß die Behandlung in diesem Falle als erfolgreich verlaufend betrach tet wurde. Aber "Erfolg" und irgendeine Art von "Wissen" werden im vorliegende Fall vorausgesetzt; denn wäre irgendeiner dieser beiden Faktoren nicht vorhanden würde sich das Problem der Gültigkeitserklärung nicht ergeben. So kann die Behaup tung, daß "ein Mensch, der weiß wie etwas gemacht wird, über dieses Etwas etwa weiß", auf solche Fälle angewandt, zu einer reinen Tautologie werden. Sie kann nur i der Bedeutung benutzt werden, daß, wie in dem hier untersuchten Fall, ein Mensc eine praktische Handlung beschrieb, die nach der Ausführung als erfolgreich betrachte wurde. Die Beschaffenheit solcher Fälle aber verlangt eine Verbindung zwischen de ursprünglichen Beschreibung und dem praktischen Ergebnis. In dieser dürftigen Aus legung also ist die Behauptung inhaltslos. Wenn wir aber die Behauptung tiefergehen interpretieren und zum Beispiel verlangen, daß der Akteur nicht nur behauptet, da etwas funktioniert, sondern auch eine angemessene Darstellung darüber liefert, wie e
Behauptung umgekehrt folgendermaßen formuliert wird: "Wenn ein Mensch etwas über X weiß, dann muß er wissen, wie X gemacht oder hergestellt wird." Diese Aussage scheint nicht auf alle Fälle anwendbar. Wir wissen (oder glauben zu wissen) zum Beispiel wie geologische Formationen durch natürliche Vorgänge gebildet werden, sind jedoch außerstande, sie selbst zu reproduzieren. Desgleichen sind Astronomen davon überzeugt, daß sie eine enorme Menge gültigen Wissens über das Wesen des Sternensystems, die Anordnung der Galaxen und so weiter besitzen, ohne diese Objekte überhaupt in irgendeiner Weise beeinflussen zu können. Unsere Unfähigkeit in praktischer Hinsicht schwächt unser Vertrauen in die Gültigkeit des geologischen oder astronomischen Wissens keineswegs. Darüberhinaus können wir nicht nur unser Wissen auf diesen Gebieten für die Darstellung benutzen, warum ein praktisches Eingreifen unmöglich ist; auch ältere Theorien könnten in dieser Weise benutzt werden, so wie die Theorien der mittelalterlichen Astronomie, die wir heutzutage als falsch betrachten. Unsere Fähigkeit, natürliche Phänomene zu kontrollieren, zu regulieren oder zu reproduzieren scheint nicht entscheidend dafür zu sein, daß wir ein gültiges Wissen über solche Phänomene beanspruchen können; ebensowenig ist die Fähigkeit, diesen Mangel an praktischer Wirksamkeit im eigenen analytischen Rahmen der Theorie zu erklären, entscheidend für die Unterscheidung zwischen falschen und richtigen Theorien. Wir können also zu dem Schluß kommen, daß die erfolgreiche Anwendung von wissenschaftlichen Theorien weder deren Gültigkeit noch deren privilegierten epistemologisschen Status etabliert. Diese Schlußfolgerung bekräftigt den zweiten soziologischen Standpunkt zur Wissenschaft, indem sie eine der Hauptvoraussetzungen des dominierenden Systems schwächt: sie stimmt außerdem besser mit der vom zweiten Standpunkt gelieferten Analyse der Wissenschaft überein. Von dem dominierenden Standpunkt aus gesehen wird für gültig erklärtes Wissen als Wissen verstanden, das durch die Anwendung von unveränderlichen Angemessenheitskriterien als allgemeingültig bestimmt wurde; es ist daher ziemlich schwer zu verstehen, warum es sich als derart schwierig erweisen sollte, theoretisches Wissen mittels des anscheinend unveränderlichen Kriteriums des praktischen Erfolgs für gültig zu erklären. Im Gegensatz hierzu enthält der zweite Standpunkt die These, daß Wissen je nach sich ändernden Interessen, Absichten, Konventionen und Angemessenheitskriterien in verschiedenen sozialen Kontexten oder Gruppen verschieden beschaffen ist, und daß Urteile über die kognitive "Richtigkeit" notwendigerweise vom Kontext abhängig sein werden; hieraus folgt, daß Urteile über die praktische Wirksamkeit nicht problemlos als Gültigkeitskriterien für Wissensansprüche dienen können, die im Zusammenhang mit verschiedenen, der Interpretation offenstehenden Kontexten und in bezug auf verschiedene, sozial definierte Ziele vorgebracht werden.
liches Wissen der soziologischen Analyse zu unterziehen, zu erweitern gesucht. Ich habe darzustellen versucht, daß Soziologen, indem sie wissenschaftliches Wissen als epistemo logischen Sonderfall ansahen,und aus der soziologischen Analyse ausklammerten, zu zwei Grundannahmen neigten, die bisher wenig systematisch untersucht wurden: daß wissenschaftliche Theorien durch erfolgreiche praktische Anwendung eindeutig validier werden können und daß die allgemeinen theoretischen Formulierungen der Wissen schaft regelmäßig solche praktischen Anwendungen verursachen. Ich argumentiere hier daß beide Annahmen sehr zweifelhaft sind. Bei der Darlegung dieses Argumentes wurde ich dazu verleitet, den zweiten soziologischen Standpunkt zur Wissenschaft zu verteidigen, in dem wissenschaftliches Wissen als der soziologischen Analyse zugänglich gesehen wird, und zu zeigen, daß dieser Standpunkt den grundlegenden Problemen ge wachsen ist, die sich aus einer Betrachtung der Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis ergeben 46 . Es gibt jedoch zumindest einen wichtigen Aspekt, in dem mein Argument unvollstän dig bleibt. Denn ich habe vermieden zu fragen, ob und auf welche Weise "praktische Wirksamkeit" an sich sozial konstruiert ist. Während der ganzen oben durchgeführten Analyse habe ich die Bezeichnung "praktischer Erfolg" als einen in soziologische Hinsicht unproblematischen Begriff benutzt - als eine nicht untersuchte Interpreta tionsressource. In dieser Hinsicht blieb ich im Rahmen der soziologischen Tradition die gewöhnlich angenommen hat, daß die Wirksamkeit gewisser Arten der praktischen Handlung selbstverständlich ist, nicht sozial vermittelt ist und keiner gesellschaftlichen Variation unterliegt. Trotz meiner Zurückhaltung in dieser Frage scheint es meiner An sicht nach tatsdchliche Bereiche zu geben, wo sich bestimmte praktische Handlungen im technischen Sinn als soziales Konstrukt, sozial variabel und kontext-abhängig be weisen lassen 47 . Dies wird sehr gut dargestellt in Michael Bloors Untersuchung über die Diagnose von Fällen, die für eine Polypen- und Mandeloperation vorgesehen sind 48 Trotzdem gibt es nur wenige Untersuchungen dieser Art und keine einzige darüber, wie die technische Bedeutung von "hard technology" sozial konstruiert wird. Solange eine solche Analyse nicht durchgeführt ist, wird der zweite soziologische Standpunk unvollständig bleiben; denn dieser Standpunkt impliziert deutlich, daß kein Bereich des Wissens (sei es formal, wissenschaftlich oder praktisch) der soziologischen Inter pretation verschlossen ist. Ich schlage daher vor, daß dieser Diskussionsbereich eben falls in die Auseinandersetzung aufgenommen werden sollte; im Augenblick jedoch habe ich nicht die Absicht, Konkreteres zu diesem Thema beizutragen als diese allge meine, dringende Empfehlung.
Anmerkungen 1 Peter Berger und Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality, London 1967. 2 Robert K. Merton, Science, Technology and Society in Seventeenth Century England, New York and London 1970.
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David Bloor, Knowledge and Social Imagery, London 1956. Michael Mulkay, Science and the Sociology of Knowledge, London 1979. Barry Barnes, Scientific Knowledge and Sociological Theory, London 1974. Werner Stark, The Sociology of Knowledge, London 1958, S. 17l. Siehe zum Beispiel: ]. Law und D. French, Normative and Interpretive Sociologies of Science, in: Sociological Review, 22, 1974, S. 581-95; H. M. Collings, The Seven Sexes: A Study of the Sociology of a Phenomenon or the Replication of Experiments in Physics, in: So ciology , 9, 1975, S. 205-24; G. N. Gilbert, The Transformation of Research Findings into Scientific Knowledge, in: Social Studies of Science, 6,1976, S. 281-306;B. Wynne, C. G. Barkla and the J Phenomenon: A Case Study in the Treatment of Deviance in Physics, ebd., S. 307-47. 11 Michael]. Mulkay, Norms and Ideology in Science, in: Social Science Information, 15, 1976, 637-56. 12 Barry Barnes, Interests and the Growth of Knowledge, London 1977. 13 Hier wird Karl Mannheims Allgemeinformel paraphrasiert; siehe sein Ideology and Utopia, London 1936, S. 265. 14 Siehe Barry Barnes, a.a.O., Anmerkung 1; David Bloor, a.a.O.; H. M. Collins und Graham Cox, Recovering Relativity, in: Social Studies of Science, 6, 1976, S. 423-44;]. Law, Prophecy Failed (for the Actors): A Note on "Recovering Relativity", in: Social Studies of Science, 7, 1977, S. 367-71; H. M. Collins und G. Cox, Relativity Revisited, in: Social Studies of Science, 7, 1977, S. 371-80; Hugo Neynell, On the Limits of the Sociology of Knowledge, in: Social Studies of Science, 7, 1977, S. 489-500; Eric Millstone, A Framework for the Sociology of Knowledge, in: Social Studies of Science, 8, 1978, S. 111-26. 15 David Bloor, a.a.O., Fußnote 6, S. 14. 16 Eine ähnliche überlegung wird von Millstone angestellt, a.a.O., Fußnote 14. Es ist erwähnenswert, daß Barnes und Bloor beide bei der eigentlichen Durchführung einer soziologischen Analyse soziale Kauslität im Sinne von Aktionskräften interpretieren, die verschiedene Arten interpretativer Mittel zur Erreichung sozial definierter Zwecke einsetzen. 17 Siehe Barry Barnes, a.a.O., Fußnote 12. 18 Werner Stark, a.a.O., Fußnote 9, S. 166. 19 Norbert Elias, Sociology of Knowledge: New Perspectives, Pt. 1, in: Sociology, 5,1971, S. 163; siehe auch Teil 2, ebd., S. 355-70. 20 Ron Johnston, Science and Rationality, Pt. 2, Manchester, SISCON (Department of Liberal Studies in Science, Manchester University), 1977, S. 23-24; siehe auch Teil 1 von Julie Shepherd und Ron Johnston. Obwohl Johnston diese angebliche Beziehung zwischen Wissenschaft und praktischer Anwendung sehr deutlich und auf ähnliche Weise wie Stark und Elias erwähnt, kommt er nicht zu dem Schluß, daß wissenschaftliches Wissen von der soziologischen Analyse auszuschließen ist. Siehe auch Ron Johnston, Contextual Knowledge, in: Australian and New Zealand Journal of Sociology, 12, 1976, S. 193-203. 21 Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, New York 1957, S. 560. 22 Siehe zum Beispiel S. und]. Cole, Social Stratification in Science, Chicago und London 1973. 23 Derek ]. de Solla Price, Is Technology Historically Independent of Science?, in: Technology and Culture, 6, 1965, S. 553-67; und ders., The Structures of Publication in Science and Technology, in: W. Gruber und G. Marquis (Hrsg.), Factors in the Transfer of Technology, Cambridge, Mass., 1969, S. 91-104. 24 Materials Advisory Board, Report of the Ad Hoc Committee on Principles of Research-Engineering Interaction, Washington, D. C., 1966. Ähnliche Bemerkungen könnten über die gut dokumentierten Studien der Untersuchungsprojekte "Project Hindsight" und "TRACES" gemacht werden. Für einen sehr gegenteiligen Kommentar siehe K. Kreilkamp, Project Hindsight and the Real World of Science Policy, in: Science Studies, 1, 1971, S. 43-66. 25]. Langrish et al., Wealth from Knowledge, London 1972, xii. 26 E. Layton, Conditions of Technological Development, in: I. Spiegel-Rösing und]. de Solla Price (Hrsg.), Science, Technology and Society, London und Beverly Hills, Ca!. 1977, S. 210. 27 S. Blume und R. Sinclair, Chemists in British Universities, in: American Sociological Review, 38, 1973, S. 126-38. 28 E. Layton, a.a.O., Fußnote 26, S. 210.
31 Siehe S. Toulmin und J. Goodfield, The Fabric of the Heavens, Harmondsworth, Middx. 1963 Kap.!. 32 H. Inhaber, Scientists and Economic Growth, in: Socia! Studies of Science, 7, 1977, S. 517-24 33 Michael I Mulkay, Three Models of Scientific Development, in: Sociological Review, 23, S. 509-26. 34 H. M. Sapolky, Science, Technology and Military Policy, in: I. Spiegel-Rösing und D.]. de Solta Price (Hrsg.), a.a.O., Fußnote 26, S. 452-53. 35 T. McKeown, The Modern Rise of Population, London 1976. Ich gehe von der Annahme aus, daß die Ziffern für andere westliche Länder denen für England und Wales gleichen. 36 Ebd., S. 93. 37 Ebd., S. 94-95. 38 Ebd., S. 97. 39 Ebd., S. 102. 40 M. Bunge, Technology as Applied Science, in: Technology and Culture, 7, 1976, S. 329-47. 41 Ebd., S. 336 (Hervorhebung im Original). 42 Ebd., S. 331 (Hervorhebung im Original). 43 Ebd., S. 334-35. 44 Ebd., S. 336. 45 The Daily Telegraph, London, 14. April, 1977, S. 3. 46 Siehe auch MichaelI Mulkay, a.a.O., 1979. 47 Es ist wichtig zu sehen, daß die schwierige Aufgabe, vor die sich der Soziologe hier gestellt sieht, darin liegt, eine Analyse der technischen Bedeutung im Gegensatz zur im weiten Sinn gefaßten sozialen Bedeutung von Technik zu liefern. So ist es ziemlich einfach zu zeigen, daß sich die soziale Bedeutung des Fernsehens mit dem sozialen Kontext, in dem es eingesetzt wird, ändert und von ihm abhängt. Aber es ist viel schwieriger zu zeigen, daß das, was als ein "funktionierender Fernsehapparat" gelten soll, in ähnlicher Weise in irgendeiner Hinsicht vom Kontext abhängig ist. 48 M. Bloor, Bishop Berkeley and the Adenotonsillectomy Enigma, in: Sociology, 10, 1976, S. 43-61. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Welge
ZUR STRATEGIE EINER SOZIOLOGIE DER ERKENNTNIS Von Günter Dux
I. Das Bewußtsein der Konvergenz
Die Neuzeit hat für die Theorie der Erkenntnis eine strategische Einsicht gebracht. Sie war lange vorbereitet. In der griechischen Antike schon kam sie im 5. Jahrhundert zum Bewußtsein, zögernd jedoch und alsbald abgefangen von den großen Systemen der Metaphysik. Radikal wurde sie erst im 16. und 17. Jahrhundert: Die Welt des Menschen konvergiert auf den Menschen. Das will sagen: Irgendwie müssen die Bedingungen dafür, daß die Welt für den Menschen ist, wie sie ist, im Menschen selbst gelegen sein. Die Einsicht in die Konvergenz erstreckt sich auf beide Bereiche, den der Natur und den der Sozialwelt. Es gibt gute Gründe anzunehmen, daß es vor allem Entwicklungen in der Sozialwelt waren, die sie zuerst entstehen ließen, ihr zuerst auch zum Durchbruch verhalfen. In der Sozialwelt hatte die Konvergenz der Verhältnisse auf den Menschen einen handfesten Sinn: Herrschaft hatte seit nahezu 4 Jahrtausenden die Sozialstruktur durchsetzt und in der Gewalttätigkeit der Herrschenden nach innen ebenso wie in den ständigen Kriegen nach außen das Bewußtsein der Konvergenz auf die Haut geschrieben. Das hatte Rückwirkungen auf das Selbstbewußtsein. Auch insoweit ging die Antike voran. Der Klassenkampf des 8. und 7. Jahrhunderts hatte wesentlichen Anteil an der Ausbildung des historischen Bewußtseins und der Philosophie seit dem 6. Jahrhundert. Entwicklungsprozesse in der Sozialwelt von historischer Bedeutung haben zu allen Zeiten die Natur mitbetroffen. Das hat einen einfachen Grund: Seit Herrschaft die Geschichte bestimmt und das heißt: seit sie nach der neolitischen Revolution überhaupt erst recht in Bewegung gekommen ist, ist auch die Herrschaft über die Natur erweitert worden. Die Gründe sind vielfältig. Allein schon der Bedarf an Gütern, um Herrschaft zu genießen und gleichwohl die Expropriierten am Leben zu halten, hat diesen Effekt gezeitigt. Die Unersättlichkeit der Macht und Machtdemonstration hat das ihre dazu beigetragen. Über die Diversifikation der Gratifikationen an den Herrschaftsstab sind in breiter Front Bedürfnisse nachgewachsen, die gleichfalls nur durch eine intensivere und extensivere Ausbeutung der Natur befriedigt werden konnten. Kurz, Herrschaft hat das in Gang gesetzt, was wir den zivilisatorischen Prozeß nennen. Die darin involvierte Ausweitung der Inanspruchnahme der natürlichen Ressourcen war nur auf einem
gisch verwertbarem Herrschaftspotential. Herrschaft distanziert Herrscher und Beherrschte, Subjekt und Objekt. Sie läßt das Objekt auf das Subjekt konvergieren. Prinzipiell verstärkt jeder Zuwachs an Wissen, vor allem aber jedes technologisch auch umgesetzte Wissen die Konvergenz der Welt auf den Menschen. Am Anfang der Neuzeit kam das Bewußtsein zum Durchbruch. Die Akkumulation an Wissen über die Natur hatte einen Schwellenwert erreicht. Das Naturverständnis mußte umgestellt werden. Das hatte Folgen. Prinzipiell nämlich impliziert jeder Zuwachs an Wissen auch eine Revision an Wissen. Wenn sich aber dauerhaft zeigt, daß das, was gestern galt, heute überholt ist, dann muß das irgendwann zu der Einsicht führen, daß Wissen überhaupt nur das ist, was der Mensch sich mit seinen Mitteln erwerben kann und erworben hat. Die ontologische Naivität, mit dem Wissen von der Sache die Sache selbst zu haben, ist dahin. Genau dieses Bewußtsein radikalisierte sich am Anfang der Neuzeit zur Erkenntniskritik. Ausdruck ist zunächst das Bewußtsein der Methoden. Die prinzipiellere Kritik folgte auf dem Fuße. Ich erinnere daran, daß die abendländische Erkenntniskritik des 16. bis 18. Jahrhunderts als Erkenntniskritik der Naturwissenschaften entstanden ist, wenn sie sich auch universal gerierte. Bacon, Descartes, Kant sind Zeugen.
1. Die Fragen
Die Einsicht in die Konvergenz der Welt auf den Menschen, der Natur insbesondere, mußte die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Konvergenz entstehen lassen. Jedem, der irgend anfängt, überhaupt über die Bedingung von Wissen und sicherem Wissen nachzudenken, muß sich die Frage aufdrängen, wie es möglich sein soll, die Bedingungen für Wissen ins Subjekt zu verlegen und gleichwohl etwas vom Gegenstand zu erkennen. Die Frage ist beunruhigend, ihre Brisanz nicht zu übersehen: Wenn die Welt des Menschen auf den Menschen konvergiert, in ihm die Bedingungen dafür liegen, Wissen zu haben und zu erwerben, wer garantiert dann, den Gegenstand, von dem etwas zu wissen vorgegeben wird, auch wirklich zu erreichen? Wer sagt mit anderen Worten, daß wahres Wissen eingeholt wird in die Systeme der Welt? Was hat Wahrheit unter dieser Prämisse für einen Status? Läßt sich irgend ein Hinweis finden, der einsichtig macht, weshalb Wissen gerade in den Formen erworben wird, in denen es in der Vielzahl der Gesellschaften auf den verschiedenen Stufen der historischen Entwicklung vorgefunden wird? Und läßt sich begründen, weshalb gerade diese Formen leistungsfähig sind in der Vermittlung zur Wirklichkeit? Ersichtlich werden mit diesen Fragen die Grundfragen der Erkenntnistheorie aufgenommen. Das ist notwendig. Unter der Bedingung der Unsicherheit ist der Mensch darauf angewiesen, Wissen ausweisbar und sicher zu machen. Unsicherheit des Wissens ist aber das Stigma der Neuzeit. Die Wissenschaften nehmen sich ihrer an. Eben deshalb kommt die Frage der Methode nicht zur Ruhe, darf es auch nicht.
bleibt, daß die Welt des Menschen auf den Menschen konvergiert, stellen sich beide: die Natur wie die Sozialwelt so dar, als seien sie schließlich das Produkt eines letztlich nicht einsehbaren weltenschaffenden Vermögens. Gewiß sind der Wissenserwerb über die Natur und die Konstitution von Gesellschaft zwei Prozesse, die unterschieden werden müssen. Aber beide sind ineinander verstrickt. Es muß geklärt werden, wie der Mensch überhaupt dazu kommt, Wissen zu erwerben, wenn geklärt werden soll, in welcher Weise er seine Lebenswelten aufbaut. Und es muß geklärt werden, in welcher Weise er seine Lebenswelten aufbaut, wenn geklärt werden soll, auf welchem Wege sich eine Wissenschaft mit den ihr eigenen Methoden Kenntnis von eben diesen Lebenswelten verschaffen kann. 2. Die Soziologie bringt eine Zuständigkeit kraft Sachkompetenz mit. Es ist mittlerweile eine Binsenweisheit zu sagen, daß die einzelnen Systeme des Wissens ebenso wie die Lebenswelten insgesamt einzig als soziale Systeme und soziale Welten aufgebaut werden können. Wenn man deshalb überhaupt annimmt, daß die Bedingungen das Resultat bestimmen und also das Resultat aus seinen Bedingungen verständlich gemacht werden muß, so ist der Schluß schlechterdings unabweisbar, daß niemand als die Sozialwissenschaftler selbst diese Aufgabe übernehmen müssen. Tatsächlich hat denn ja auch die Soziologie am Anfang ihrer Geschichte diese Aufgabe für sich reklamiert. Mehr: sie versprach, die philosophischen Probleme quasi im Handstreich dadurch zu erledigen, daß sie die Philosophie vom Kopf auf die Füße stellte. Gemeint war: die reale empirische Grundlage des Wissens in der Gesellschaft zu erweisen. Jeder weiß, der Handstreich ist nicht gelungen. Die soziologischen Theorien und Bruchstücke von Theorien bewegen sich so gut im Schlepptau der philosophischen Traditionsmasse wie alles übrige Denken auch. Gleichwohl besteht kein Grund, den Anspruch fallen zu lassen. Im Gegenteil: Er ist zu erneuern. Dabei allerdings können die Schwierigkeiten, die einer Soziologie der Erkenntnis im Wege gestanden haben und immer noch stehen, nicht unberücksichtigt bleiben. Sie müssen dem erneuten Versuch dadurch nutzbar gemacht werden, daß sie als Teil jenes historischen Entwicklungsprozesses begriffen werden, um dessen Erfassung es zugleich geht. Die Soziologie ist von allem Anfang an mit dem Programm aufgetreten, die menschlichen Lebensformen als Resultat historischer Entwicklung zu begreifen. Auch ihre eigene Position sollte in eben dieser Weise historisch metatheoretisch hintergangen werden. Wir wissen, daß sie diese Position erkenntnistheoretisch als eine Phase der Ablösung einer idealistischen durch eine materialistische Erkenntnistheorie charakterisiert. Nun, wenn sich diese Ablösung als schwieriger erwiesen hat, als zunächst angenommen wurde, so versteht es sich, daß auch diese Schwierigkeiten zur Logik des Erkenntnisprozesses gehören. Mir scheint es deshalb ratsam, vor der Inangriffnahme einer soziologischen Erkenntnistheorie selbst, diesen Ablösungsprozeß zu rekonstruieren. Das Verfahren hat zwei Vorteile zumindest: Zum einen muß einsichtig werden, wo die Schwierigkeiten liegen, mit einer Theorie der Erkenntnis voranzukommen. Zum anderen ist es das geeignete Verfahren, um zu bestimmen, wie eine soziologische Theorie gegenwärtig vorzugehen hat. Ich
kenntnis, wird festgehalten von einer absolutistischen Logik, die immer wieder Wissen vorgibt. - Die Soziologie hat am Anfang ihrer Geschichte zwar die Verruferklärung der ideali stischen Erkenntnistheorie übernommen. Sie war jedoch nicht in der Lage, die Basis ei ner materialistischen Erkenntnistheorie gleich mitzuliefern. - Die Grundlagen einer materialistischen Erkenntnistheorie sind inzwischen nachgearbeitet worden. Sie liegen in der Anthropologie. Der Rahmen wurde zunächst in de philosophischen Anthropologie abgesteckt. Mittlerweile ist das erkenntnistheoretische Fundament empirisch präziser aus einer Theorie der Evolution zu bestimmen. - Eine materialistische Erkenntnistheorie ist notwendig eine evolutionistische, eine evolutionistische notwendig eine genetische. Die genetische Erkenntnistheorie Piagets hat diese Konsequenz gezogen. Sie hat jedoch die soziologische Dimension nicht zu integrieren vermocht. - Eine revidierte genetische Erkenntnistheorie liefert den Schlüssel zum Aufbau des Wissens nicht nur für die Ontogenese. Auch die Geistesgeschichte der Gattung muß aus der Ontogenese heraus rekonstruiert werden. Die Absicht, als erstes den gegenwärtigen Standort der Erkenntnistheorie durch Rekonstruktion der historischen Entwicklung zu bestimmen, die bislang eine ausgearbei tete Soziologie der Erkenntnis unmöglich gemacht haben, uns hinfort aber in die Lage versetzen, die Ausarbeitung in Angriff zu nehmen, schreibt den Gang der weiteren Er örterung vor: Da eine Kritik der Erkenntnis nur an den Elaboraten der Erkenntnis durchgeführt werden kann, halte ich mich an die, die inzwischen Repräsentationswer für ihre Zeit erlangt haben. Die erste These suche ich deshalb dadurch zu belegen, daß ich auf jene Philosophie zurückgreife, die im Umbruch zur Neuzeit entstanden ist, an der sich das Dilemma ihrer inneren Logik auch am ~indruckvollsten demonstrieren läßt: die Cartesische. Das Dilemma selbst hält sich im Fortschritt des Denkens übe Descartes hinaus durch.
2. Denken als "premier principe" (Descartes)
Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß Wissen sich aus einem Zustand erfahrene Widerständigkeit bildet: Widerständige Erfahrungen müssen verarbeitet werden, wei anders der, der sie macht, nicht leben könnte. Das gilt auch für die Entwicklung kog nitiver Systeme insgesamt. Sie sind nicht erfahrungsresistent, wenn auch das, was verarbeitet werden kann, abhängig ist von dem, was zuvor schon an Wissen in verfüg bare Formen eingearbeitet wurde. Das jedenfalls war die Situation, in der Descartes sich vorfand. Er konstatierte, daß ihm in seinen Schul- und Studienjahren sicheres Wissen versprochen worden war. Als Ergebnis jedoch mußte er feststellen, daß die Philosophie zwar ermöglichte, mit einem Schein von Wahrheit über alles zu reden daß aber kein einziger ihrer Sätze länger als gesichert gelten durfte (A-T VI, 6,8)1.
men. Eben das ist es, was Descartes darlegt. Er legt die Schritte offen, die zu tun sind. Der erste ist, das Geschäft des Denkens in die eigene Hand zu nehmen. "Und so fand ich mich denn", stellt er fest, "gleichsam gezwungen, es selbst zu übernehmen, mich zu leiten; - et je me trouvai comme contraint d'entreprendre moi-meme de me conduire" (A-T VI, 16). Deutlicher kann man die Konvergenz des Wissens auf den Menschen nicht zum Ausdruck bringen als Descartes es in seiner ersten Schrift, dem Discours de La Methode, getan hat. Natürlich gilt auch für das auf sich selbst zurückgeworfene Denken, daß es dabei die Logik immer schon mitbringt. In der Anlage seiner Argumentation fragt Descartes nach der Gewißheit ganz in der gleichen Weise, in der Jahrtausende vor ihm gefragt haben: Er sucht als Ausweg aus der Unsicherheit seiner Zeit einen Fixpunkt, der absolut sicher ist, von dem deshalb alles weitere her begründet und abgeleitet werden kann. "Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen; und so darf auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das Geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist" (A-T VII, 24). Wie stellt Descartes es an, diesen Fixpunkt zu finden? Die Frage zielt nicht auf die Explikation, mit der Descartes seinen Gedankengang präsentiert (dazu alsbald), sie zielt auf die unterliegende Logik: Problematisch ist Wissen. Ergo muß zurückgegangen werden in der Suche nach seinem Grund, bis man auf den Urgrund, seinen Ursprung stößt, aus dem es hervorgegangen ist. Das logische Verfahren ist eindeutig: Das, was ist, muß hergeleitet werden, aus dem, woraus es entstanden ist, seinem Ursprung. Die Bestimmung des Ursprungs ist durch das Wissen der Zeit vorstrukturiert: Irgendwie muß dieser Ursprung in der Subjektivität dessen, der denkt, gelegen sein. Dieses Wissen bildete ja den Ausgang der Operation. Erst auf der Folie dieser logischen Vorgabe wird die explizite Argumentation voll verständlich. Sie ist bekannt. Descartes stilisiert den Zweifel zur Methode und stößt so auf die Gewißheit nicht des Zweifels, sondern des Zweifelns als Erkenntnisakt des Subjekts. Hier also, im Denken des Subjekts haben wir den Ursprung, nach dem Descartes fragt. Als Ursprung erscheint das Denken als Substanz, so wie der absolute Anfang seit eh und je substanzhaft gedacht wurde, res cogitans. Die Lösung ist gefunden, das Dilemma ist komplett. Inwiefern? Die Bewegung des Denkens, die die Rückwendung auf das Subjekt erzwungen hat, ist vom empirischen Subjekt, vom empirischen Ich ausgegangen. Und sie hat auch auf das empirische Subjekt rückverwiesen, - zunächst jedenfalls. Selbst noch in der Versicherung seiner Absolutheit im Zweifel ist das empirische Ich zumindest involviert. Die Reduktion, die als Antwort auf die Frage getrieben wird: "Was aber bin ich ", ist gerade eine Reduktion, die am empirischen Ich ansetzt. Es wäre danach Aberwitz, wollte man in der berühmten Formel der Selbstversicherung nicht auch das empirische Ich wiederfinden. "Nun, wenn er mich täuscht, so ist es also unzweifelhaft, daß ich bin haud dubie igitur ego etiam sum, si me fallit" (A-T VII, 25). Solange aber das empirische Ich in den Blick gefaßt wird, ist aus der Gewißheit seiner Existenz noch keine Gewißheit der Wahrheit des Wissens zu gewinnen, über das das Ich verfügt, oder das es
Wissen zu haben, von Gott nehmen . Er braucht Gott, um sicher zu sein, daß das, was dare et distincte erkannt ist, auch wahr ist. In der 3. Meditation überläßt er sich der Radikalität des Zweifels, selbst die klarsten logischen Einsichten könnten ihm als Irrtümer von einem betrügerischen Gott eingegeben sein. Zwar ist dieser Zweifel schwach. "Um aber", so fährt er fort, "auch ihn zu beheben, muß ich, sobald sich Gelegenheit bietet, untersuchen, ob es einen Gott gibt, und wenn, ob er ein Betrüger sein kann. Denn solange das unbekannt ist, glaube ich nicht, daß ich über irgend etwas anderes jemals völlig gewiß sein kann" (A-T VII, 36). Das Ergebnis ist bekannt: Gott existiert und ist kein Betrüger. Das nun ist auch der Grund, um den grundlegendsten aller Zweifel am Wissen von der Welt zur Ruhe kommen zu lassen: Man kann sicher sein, daß auch die körperlichen Dinge existieren Ac proinde res corporeae existunt (A-T VII, 80). Das, worauf es im gegenwärtigen Zusammenhang ankommt, ist nicht etwa der Nachweis, Descartes habe sich in diesem oder jenem Punkt seiner Beweisführung geirrt. Im Gegenteil! Descartes meditierte völlig stringent: Wenn man unter der Prämisse eines unsicher gewordenen Wissens daran festhält, Begründungen auf der Folie einer Ursprungslogik zu liefern, muß die Sicherheit des Wissens in einem Absoluten gesucht werden, das im empirischen Subjekt gerade nicht zu haben ist. Diese Logik zwingt zum Überstieg, und sei es auch nur bis hin zu einem transzendentalen Subjekt, in dem Wissen seinen Anfang und seine Einheit findet.
II. Der Verzicht
In der Gegenwart hat sich das Wissen um die Konvergenz der Welt auf den Menschen noch verstärkt. Die Welt ist zu seinem Konstrukt geworden. Mit Leichtigkeit hat sich diese Vorstellung durchsetzen lassen. Und das nimmt nicht Wunder. Denn alle frühere Erkenntnistheorie, alle Metaphysik und Ontologie war auf der gleichen kognitiven Struktur, eben der Handlungsstruktur, aufgebaut. Ich vereinfache, aber der Kern ist richtig, auch wenn das Handlungsmoment in den Schematisierungen der Logik nicht immer deutlich zum Vorschein kam. Die Konvergenz auf den Menschen konnte sich deshalb der gleichen Struktur bedienen. Mehr noch: Sie konnte die Logik der bisherigen Explikate auf ihren wahren Kern zurückführen. Die ungebrochene Fortsetzung der Handlungslogik aus der Position des empirischen Subjekts heraus hat ihren Preis. Unter der Prämisse dieser explikativen Matrix nämlich läßt sich keine der oben gestellten Fragen mit Aussicht auf Erfolg beantworten. Denn wenn die Welt des Menschen auf den Menschen konvergiert, wird der Mensch unter der Prämisse dieser einsinnigen Beziehung zum eigentlichen Schöpfer, wahrhaft zum Demiurgen. Das Subjekt des Geschehens wird damit zugleich zu seinem letzten Zurechnungspunkt. Der Mensch selbst läßt sich nicht länger hintergehen. Denn was immer er ersinnt an kleinen und großen Theorien, es ist immer er, der sie ersinnt. Immer
absolut gesetzt. Im Absoluten aber gibt es nichts zu erkennen, aus ihm ist nichts abzuleiten, was nicht schon zuvor bekannt gewesen wäre. Das hat schon Kant gesehen. Und um mit Hegel zu reden: In der Nacht des Absoluten sind alle Katzen grau. Die Weiterung ist ebenfalls nicht zu übersehen: Wenn der Mensch sich in diesem seinem weltenschöpferischen Vermögen der Einsicht entzieht, dann entzieht sich damit auch der von ihm erst geschaffene Entwurf der Welt. Die Welt, so wie sie für den Menschen ist, läßt sich dann allenfalls beschreiben, erklären warum sie ist, wie sie ist, läßt sie sich nicht. Das Dilemma brachte sich zunächst im Verhältnis zur Natur zu Bewußtsein. Ausgerechnet in dem weltgeschichtlichen Augenblick, in dem der Mensch sich in einer Weise Einblick in die Natur verschafft, von der frühere Zeiten nicht einmal träumen konnten, versagt hinter aller Methodologie die erkenntnistheoretische Absicherung des Gewußten. Das Defizit wiegt hier um so schwerer, als gerade die Eigenständigkeit der Natur gebieterisch eine Erklärung verlangt, wieso mit den im Menschen gelegenen Bedingungen überhaupt etwas auszurichten ist im Umgang mit ihr. Mittlerweile freilich hat sich die Beunruhigung gelegt. Die Naturwissenschaften können sich an dem dilatorischen Formelkompromiß genügen lassen, nicht mit der Natur selbst, sondern nur mit den Konstrukten von ihr befaßt zu sein 3 . In der Praxis der Forschung dominiert das Bewußtsein, die Natur selbst im Griff zu haben, in der technologischen Umsetzung ohnehin. Anders sieht es in den Sozialwissenschaften aus. In ihnen ist nicht nur nicht auszumachen, wieso die Welt des Menschen ist, wie sie ist, dunkel bleibt auch, wie der Mensch sich den Zugang zu fremden Welten verschaffen und fremde Welten verstehen kann. Der Rekurs auf eine historisch durchsetzte Hermeneutik führt nicht eben weit. Er sichert allenfalls Verstehen im Traditionszusammenhang der eigenen Kultur. J enseits ihrer baut sich eine fremde Welt mit dem auf, was für die, die in ihr leben, Wirklichkeit ist. Eine Brücke zwischen ihrer und unserer gibt es nicht. Eigentlich dürften wir mit fremden Welten, primitiven Gesellschaften z. B., gar nicht befaßt sein 4 . Würden die Sozialwissenschaften mit dem konstruktiven Absolutismus Ernst machen, wären sie am Ende. Und der Ausweg? Die Soziologie, ich erwähnte es schon, versprach ihn. Sie wollte schon am Anfang ihrer Geschichte nicht einfach Wissenschaft der Sozialstruktur sein. Sie konnte es auch gar nicht. Denn selbst in den handfesten Beziehungen und Positionsbestimmungen auf der sozialstrukturellen Ebene oppositioneller Interessen findet sich Interpretation und Denken. In ihnen ist das vertrackte Verhältnis von Satz und Tatsache zur Härte der Organisation verfestigt. Wenn sie die Situation klären wollte, dann vor allem dadurch, daß sie das Denken klärte. Selbstredend ist die entscheidende Frage auch für sie: Wie? Es war kaum zu erwarten, daß diese Frage im ersten Anlauf bewältigt werden konnte. Umso wichtiger war, daß die Stoßrichtung der Argumentation klar erkannt wurde und zwar gerade in ihrer historischen Dimension. Die Soziologie machte Front gegen ein idealistisches Weltbild. Sie wandte sich damit in Wahrheit gegen eine Jahrtausende alte Logik. Denn der Idealismus hat zu allen Zeiten in der
löste die Vorrangstellung des Denkens auf und machte es selbst dadurch zum Explikandum, daß sie es unter ihm fremde Bedingungen stellte. Es scheint mir keine Frage, läßt sich auch belegen, daß einzig so eine Erkenntnistheorie angesetzt werden kann, die das Wissen der Gegenwart über den Menschen integriert. Allein, in der Durchführung blieb die Soziologie zunächst einmal stecken. Der Rekurs auf Gesellschaft als eigentlicher Determinante führte in eine neue Aporie: 1. Gesellschaft ist immer schon über Denken gebildet; 2. Die Logik des Denkens ist eigenständig und nicht einfach Abbild sozialstruktureller Verhältnisse. Es ist ratsam, sich die Schwierigkeiten, in die die Soziologie anfangs geriet, zunächst klar zu machen. Sie werden immer noch mitgeschleppt. Und das, obgleich der Ansatz, von dem aus sie zu überwinden sind, längst gemacht ist.
III. Die Entsetzung der Philosophie
Als die Soziologie das Feld der Erörterung betrat, verkündete sie als erstes das Ende der Philosophie, das Ende der selbständigen Philosophie, um es genauer zu formulieren (MEW 3, 9 ff.)6. Die Proklamation scheint anmaßend. Sie fußt auf zwei Feststellungen: 1. Philosophie hat das Deutungssystem der Welt, den Menschen eingeschlossen, immer von einem Absoluten her gedacht und dieses Absolute in irgendeiner Form als Subjekt und Geist begriffen; 2. Die Deutungssysteme sind selbst nur Produkt des Denkens des Menschen. Sie entstehen aus einer Hypostasierung seiner Daseinsweise und seines Geistes, aus einer Art isomorpher Transformation in den Kosmos. Auch das Absolute, das Absolute als Subjekt, ist nichts anderes. Bekanntlich wurde diese Kritik bereits von Feuerbach vorgetragen. Seine einfache Feststellung, das Geheimnis der Theologie sei die Anthropologie, suchte die gewaltigen metaphysischen und ontologischen Systeme der Philosophie vom Himmel auf die Erde zurückzuholen. Denn es versteht sich: In der Wendung gegen die Theologie war die Philosophie als eine Art schrittweise entnervter Theologie mitgemeint. Feuerbach freilich hatte kaum klare Vorstellungen darüber, wie denn die Eigenheiten menschlichen Daseins und menschlicher Lebensführung an den Himmel der Theologie und Philosophie kamen. Er scheint sich den Vorgang als eine Art Projektion vorgestellt zu haben, für die dann mancherlei Gründe gefunden werden konnten. Das braucht uns gegenwärtig nicht zu interessieren. Entscheidend ist eines: Hier wird das Bewußtsein der Konvergenz zum ersten Mal in einer Weise aufgenommen, daß es sich gegen die ganze bisherige Geschichte des Geistes richtet. Der Begriff der Kritik selbst bekommt einen anderen Sinn. Wenn denn das Denken des Menschen auf den Menschen konvergiert, die Bedingungen an sich trägt, unter denen er es in Form gebracht hat, dann muß diese Einsicht auch die Grundformen erfassen, unter denen Philosophie ihr Geschäft betreibt. Sie muß von ihren Bedingungen her aufgerollt werden. Eben das war es, was die Entzauberung der absolutistischen Logik bewirkte. Auch wenn die Soziologie in der
haltsebene als absolutes Subjekt und absoluter Geist zu erkennen gab. "Es handelt sich allerdings", stellen Marx und Engels die historische Entwicklung ihrer Zeit reflektierend fest, "um ein interessantes Ereignis: um den Verfaulungsprozeß des absoluten Geistes" (MEW 3, 17). Man muß genau hinsehen, um festzustellen, worin der Fortschritt der Erkenntnistheorie am Anfang der Soziologie liegt. Auf die Bedingungen zu reflektieren, war schließlich schon das Postulat der transzendentalen Erkenntniskritik. Der Schritt, der darüber hinaus getan werden mußte, war, diese Bedingungen nicht einfach in einer SubjektSubstanz vorzugeben, die in einer eigenartigen, nur aus der Logik der historischen Entwicklung zu verstehenden Weise zwischen dem empirischen und dem absoluten Subjekt schwankte. Notwendig war vielmehr, diesen Menschen mitsamt seinen Welten schaffenden Vermögen selbst noch unter Bedingungen zu stellen. Einzig unter dieser Prämisse ließ sich der Angriff auf die abolutistische Logik führen, einzig unter dieser Prämisse der erkenntnistheoretische Zirkel durchbrechen. Sehen wir ihn uns noch einmal an: Wenn man aus der Einsicht in die Konvergenz des Wissens auf den Menschen den Schluß zieht, daß damit der Mensch selbst zum absoluten und nicht weiter zu hintergehenden Fixpunkt der Argumentation wird, so gilt dieser Schluß deshalb, weil das Wissen vom Menschen wieder Wissen ist, und auch dieses Wissen auf den Menschen zurückführt. Der Folgeschluß aber, daß Wissen über den Menschen, weil es wieder Wissen ist, keinen Schritt in der Grundlagenerklärung weiterführt, ist nur zwingend, wenn man vorgibt, daß Einsichten, die auf Einsichten gerichtet sind, an den Anfang zurückführen. Dieser Satz aber ist durch nichts belegt, - außer durch eine metaphysische Vorstrukturierung, derzufolge Gleiches in gleicher Substanz beschlossen liegt und aus ihr hervorgeht. Die absolutistische Logik ist bekanntlich eine Substanzlogik. Der Mensch kann aber als einzelner empirischer Mensch nicht wirklich absolut gesetzt werden, nicht einmal im Denken. Der Anfang in ihm verweist notwendig auf ein Absolutes, das in ihm faßbar wird, aber nicht aufgeht. Die Absolutsetzung des Wissens im Menschen läßt sich deshalb nur so lange halten, als sie durch eine umfassende absolutistische Logik aufgefangen wird. Das war, wie schon erwähnt, auch noch in der transzendentalen Erkenntniskritik Kants der Fall. Wenn aber reklamiert wird, daß 1. die absolutistische Vorgabe nur die Widerspiegelung der menschlichen Lebensform darstellt und 2. diese Lebensform von ihren Bedingungen her aufgerollt werden kann, in der diese Vorgaben gerade nicht vorkommen, dann ist damit die Erkenntnistheorie auf einen neuen Boden gestellt. Wissen läßt sich hinterfragen, ohne deshalb schon Wissen vorgeben zu müssen. Die Argumentation läuft jetzt umgekehrt wie zuvor: Der, der rückfragt auf das Wissen, bringt dabei zwar immer schon Wissen mit, allein das, was er mitbringt, wird ebenfalls eingestellt in die Masse dessen, was zu erklären ist. In der Perspektive der Erkenntniskritik ist dies der entscheidende Schritt, den Marx über Feuerbach hinaus tat, als er forderte, es komme entscheidend darauf an, auf die Bedingungen zu sehen, unter denen der Mensch bei seinem demiurgischen Tun stehe. Im Grunde wird damit nur einge-
struktur festgelegt war, die Begründungen als substanzhafte Ableitungen lieferte, mußte Denken, Geist, Vernunft in letzter Instanz als kosmische Potenz vorgegeben werden und dem Menschen quasi von außen zukommen. Erst die Radikalisierung des historischen Bewußtseins im Verlauf der Neuzeit radikalisierte auch das Bewußtsein von der Bedingtheit des Wissens in einer Weise, daß wenigstens das Postulat erhoben werden konnte, seine Vorgaben nicht wieder in Wissen zu suchen. Es ist allerdings zunächst ein recht gobaler Verweis auf das, was als sogenannte materialistische Basis die idealistischen Vorgaben ablösen sollte. Die materialistische Erkenntniskritik ist, wie Marx erklärt, "nicht voraussetzungslos. Sie geht von den wirklichen Voraussetzungen aus, sie verläßt sie keinen Augenblick. Ihre Voraussetzungen sind die Menschen nicht in irgendeiner phantastischen Abgeschlossenheit und Fixierung, sondern in ihrem wirklichen, empirischen, anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen" (MEW 3, 27). Und welches sind die konkreten empirischen Bedingungen? Marx nennt augenblicks zwei: als erste die körperliche Organisation des Menschen und ihr dadurch gegebenes Verhältnis zur Natur und gleich im Anschluß daran als zweite, aber erste geschichtliche Tat die Produktion der Lebensmittel, von der dann alles weitere abhängt (MEW 3, 20, 23). Ersichtlich klafft zwischen beiden eine Lücke. Wie es von der körperlichen Organisation zur ersten geschichtlichen Tat kommt, ist nirgends auszumachen. Tatsächlich sitzen mit dieser Bestimmung zunächst Marx und Engels selber, nach ihnen aber die ganze, sich soziologisch darstellende Erkenntnistheorie fest.
Leben und Bewußtsein
Wenn die Kopernikanische Wende in der Philosophie die Welt des Menschen auf den Menschen konvergieren ließ, so ließ die soziologische Wende den Menschen mitsamt seiner Welt aus einer Geschichte hervorgehen, die in ihren eigenen Bedingungen erst noch zu eruieren war. Eben deshalb wollten Marx und Engels nur eine einzige Wissenschaft kennen, die der Geschichte (MEW 3, 18). Entschiedener kann der Cartesianischen Forderung, ganz von vorne anzufangen, das Gerüst der Welt von seinen Grundlagen her neu aufzubauen, nicht gefolgt werden. Die Deutsche Ideologie ist ein Chaos an Gedankenführung, aber sie ist darin ein Dokument, daß sie exakt diese Aufgabe neu formuliert und auch alsbald in Angriff nimmt: Wenn fortan etwas ausgerichtet werden soll in der Frage nach der Bedingung der Möglichkeit des Denkens, dann einzig dadurch, daß auf die Bedingungen der Möglichkeit seiner geistigen Existenz überhaupt zurückgefragt wird. Das aber war unter dem Eindruck der Radikalität des Wissens um die Historizität des Menschen die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Geschichte. Und wenn man diese Frage auf dem Boden der Empirie lassen und nicht in die geschichtsphilosophische Spekulation abdrängen will, dann wird sie mit der gleichen Stringenz zu einer Frage nach der Möglichkeit ihres Anfangs.
fang der Geschichte, das Verfahren auch ihrer Rekonstruktion, beginnt mit der Produktion. Unbekümmert um das, was an Problemen dazwischen liegt, konzentrieren Marx und Engels ihr ganzes Interesse auf einen "empirischen Menschen", der schon als vergesellschafteter Mensch dasteht. Von ihm aus beginnen sie ihre Ideologiekritik oder genauer: von der Produktionsweise, mit der die Menschen ihr Leben zu fristen wissen. Die weitere Argumentation ist durchsichtig: Wenn man die realen empirischen Bedingungen in der Produktionsweise sieht und mit ihnen anfängt, verschafft man ihnen zumindest in der aktuellen Argumentationskette den Status, ein erstes zu sein, und sei es auch nur ein erstes in der Geschichte. Folgeweise ist dann alles weitere ein zweites. Gedanken, Ideen, Theorien folgen nach, sind abgeleitet. Eben so haben Marx und Engels es gesehen, jedenfalls haben sie es so dargestellt. Mit Fleiß formulieren sie die Antithese gegen die idealistische Philosophie als Umkehrrelation. Die Stelle ist bekannt, verdient jedoch noch einmal zur Gänze zitiert zu werden; ihr kommt nämlich testamentarische Bedeutung zu. Es heißt dort: "Auch die Nebelbildungen im Gehirn der Menschen sind notwendige Sublimate ihres materiellen, empirisch-konstatierbaren und an materielle Voraussetzungen geknüpften Lebensprozesses. Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein. In der ersten Betrachtungsweise geht man von dem Bewußtsein als dem lebendigen Individuum aus, in der zweiten, dem wirklichen Leben entsprechenden, von den wirklichen lebendigen Individuen selbst und betrachtet das Bewußtsein nur als ihr Bewußtsein" (MEW 3, 26 f.).
Wie sehr Marx und Engels diese Bestimmung haben gelten lassen, zeigt sich daran, daß Marx sie eineinhalb Jahrzehnte später noch einmal wiederholt. Dabei ist deutlicher noch die Produktionsweise als die wirklich erste der Bedingungen für die ganze Daseinsweise des Menschen genannt. "Die Produktionsweise des materiellen Lebens", heißt es dort, "bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, daß ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt" (MEW 13,8 f.).
Beide Äußerungen sind zu massiv, um nicht zunächst einmal so genommen zu werden, wie sie dastehen, auch wenn Marx und Engels alle Wenn und Aber, die daran haften, kannten. So, wie sie dastehen, ist, um es zu wiederholen, die Produktionsweise das Bedingende, das Denken das Bedingte. Anders läßt sich die Intention der Aussage schlechterdings nicht begreifen. Mit dieser Fassung aber ist nichts anzufangen, mit der bloßen Umkehrung erkenntnistheoretisch nichts auszurichten. Sie führt in ein offenkundiges Dilemma: Leben ist immer schon bewußtes Leben. Die Produktionsweise des materiellen Lebens wird immer schon von vergesellschafteten Individuen bestimmt. Natürlich wußten Marx und Engels das. Ausdrücklich wird in der Deutschen Ideologie auch die umgekehrte Richtung: der Einfluß der geistigen Faktoren auf die Daseins-
wußtsein und nicht umgekehrt das Bewußtsein das Sein, zu einem leerlaufenden intel lektuellen Kraftakt. Wenn Sein immer schon bewußtes Sein ist, wenn Gesellschaf immer schon von vergesellschafteten Individuen gemacht wird, dann ist erkenntnis theoretisch die entscheidende Frage: wie es zum Sein als Bewußtsein ebenso zur ge sellschaftlichen Lage überhaupt kommt. Die Grundlegung jeder künftigen Erkenntnis theorie muß mit anderen Worten exakt durch jenen Schritt erfolgen, den Marx un Engels ausgespart haben: den von der körperlichen Organisation zur geistigen Lebens form. Womit sonst soll denn auch der Anfang einer materialistischen Erkenntnistheo rie gemacht werden? Erst wenn dieser Schritt geklärt ist, der Formierungsprozeß de geistigen Gebilde aus einer naturalen Basis heraus entschlüsselt wurde, läßt sich auc sagen, wie Erkenntnis, Wissen in der Sozialstruktur mit ihren eigenen Determinante und Subsystemen in Ökonomie und Politik verbunden sind. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ist das Problem dort aufgenommen, wo e im 19. Jahrhundert stecken geblieben war: eben im Ausgang von der biologischen Or ganisation des Lebens. Die Arbeit wird zunächst noch im Traditionsfeld der Philoso phie vorangetragen. Sie firmiert als philosophische Anthropologie. Bei einer rein geistes geschichtlichen Betrachtung würde man wohl kaum bereit sein, ausgerechnet die phi losophische Anthropologie an die marxistische Theorie anzuschließen. Allein die Lo gik in der Entwicklung des Geistes kümmert sich nicht darum, in welchem Kontex Problemlösungen vorangetrieben werden. Die Frage der Nahtstellen zwischen biolo gischer und geistig-kultureller Organisation mußte geklärt werden, gleich von wem un gleich in welchem Traditionszusammenhang.
IV. Leistung und Grenzen der philosophischen Anthropologie
Der geistesgeschichtliche Standort der philosophischen Anthropologie ist unschwer zu bestimmen. Sie bildet sich im Fortschritt des Wissens über die Cartesische Alternativ von Geist und Körper, Seele und Leib. Seit feststand, daß Denken, Geist, Seele nich einer eigenen reinen Substanz zugeschrieben werden konnten, seit sich ihre Bedingt heiten Aufmerksamkeit verschafften, weil gerade sie zum Problem zu werden drohten Sinnlichkeit, Macht, Politik, wurde ein Ausweg aus der Cartesianischen Alternativ zum gebieterischen Postulat. Mit Descartes abrechnen, das war es, war ihr eigentliche Begründer, Plessner, wollte 7. Wie alle Anthropologie beginnt auch die philosophische mit der Organisation des Men schen. Allein, sie läßt sich dabei von einer anderen Erkenntnisabsicht leiten als die phy siologische. Ihre Absicht ist, bereits im biologischen Organisationsplan die Anlage au die geistigen und das heißt sozio-kulturellen Lebensformen hin zu erweisen. Einem Mißverständnis, dem die philosophische Anthropologie seither immer wieder ausge setzt gewesen ist, läßt sich deshalb bereits an dieser Stelle begegnen: Der Aufweis eine anthropologischen Basis hat nicht zum Ziel, den Menschen dadurch in seinen kulturel
anthropologischen Organisationsplan bereits die Anlage auf eine geistig-kulturelle Lebensform zu erweisen, dann gerade für die historische Dynamik, die dieser Lebensform eignet 8 . Der verbreiteste Entwurf einer philosophischen Anthropologie, der ebenso den Erkenntnisfortschritt wie das Defizitäre seiner Erklärungsleistungen dokumentiert, stammt von Gehlen. Gehlen zeichnet den Menschen als ein in seiner biologischen Substanz weithin von Instinkten entbundenes Lebewesen. Entbunden von den Instinkten ist der Mensch als Naturwesen ein hoffnungslos mangelhaftes, unangepaßtes, unspezialisiertes Wesen (31 ff.)9. Damit ist zunächst eine negative Bestimmung gegeben, aber eine entscheidend wichtige. Und das aus zwei Gründen: Zum einen hält sie sich strikt an die biologische Ebene, setzt das Problem des Anfangs also wirklich dort an, wo es, nach allem, was zuvor erörtert wurde, angesetzt werden muß. Zum andern aber kommt damit überhaupt erst die gewaltige Aufbauleistung in den Blick, die der Mensch in seinen kognitiven Systemen erbringen muß. Auf dieser Basis kann mit Aussicht auf Erfolg gefragt werden, wodurch der Mensch in die Lage versetzt wird, diese Leistung zu vollbringen. Gehlen fragt so. Allein, die Antworten sind defizitär. Das hat einsichtige Gründe: Die negative Bestimmung des anthropologischen Organisationsplanes an der Instinktentbundenheit bestätigt die Vorstellung von einem Lebewesen, das in einer geradezu absoluten Souveränität mit den ihm verfügbaren Mitteln sich seine Welt schafft. Die für Gehlens Anthropologie beherrschende Frage ist: Wie muß ein Antriebssystem beschaffen sein, damit der Mensch die Mängel seiner Konstitution, welche unter natürlichen Bedingungen eine höchste Belastung seiner Lebensfähigkeit darstellten, handelnd zu Mitteln seiner Existenz macht (37)? Wichtigste Prämisse ist, daß die Handlungen, durch die die Aufbauleistungen erbracht werden, abgehängt sind von Bedürfnissen, entlastet von elementaren Antrieben (54 f.). Einzig durch die antriebsmäßige Entlastung läßt sich nach Gehlen ein sachlicher Umgang mit den Dingen der Außenwelt sicherstellen. Ersichtlich ist mit dieser anthropologischen Konstitution das Erkenntnisproblem entschärft, das Bewußtsein der Konvergenz neutralisiert. Daß Wissen entlastet von Antrieben erworben wird, läßt die Frage nach seiner spezifisch humanen Bedingtheit obsolet werden. Gewiß hat der Mensch auch für Gehlen die Dinge nur eingeschmolzen in die Vielfalt seiner Tätigkeiten. Allein, das bedeutet kaum mehr als die objektiven Gegebenheiten handlich gemacht zu haben für sein eigenes Begreifen. Nicht die Bedingtheit menschlichen Lebens ist für Gehlen das Problem, sondern seine Unbedingtheit. Sie macht Sorgen. Wenn der Mensch von allen Antrieben und Bedürfnissen abekoppelt wird, ist nicht einsichtig, wie er jemals zur Ruhe einer Welt finden soll, in der er die Chance seiner geistig kulturellen Daseinsweise auch genießen kann. Gehlen antwortet darauf mit einer These, die eine eigentümliche Mischung aus empirischer Analyse und moralischer Beschwörung darstellt: Die menschlichen Handlungen folgen nicht den Bedürfnissen, vielmehr die Bedürfnisse den Handlungen. Sie finden an ihnen überhaupt erst die Möglichkeit, sich zu konkreten Bedürfnissen und Interes-
ger als ein Attentat auf die Menschheit selbst. Ersichtlich wird das, was als Aufriß eines weltoffenen Lebewesens begonnen hat, in den kompensatorisch aufgebaulen Institutionen der Sozialwelt zur Härte einer zweiten Natur festgeschrieben. Geschichte kann sich eigentlich nur kontrafaktisch vollziehen. Es gibt sie. Gehlen macht sich sogar den Begriff des Fortschritts zu eigen: An einer Welt, die der Mensch sich selbst schafft, wird er sich in einer Weise zum Thema, die ihn über sich hinaus führt (348). Weiß der Himmel, warum das so ist; und weiß der Himmel, warum er über sich hinausgehen soll, wenn doch seine Bedürfnisse an der Welt, so wie sie ist, ihre Stabilisierung erfahren, mehr: sich allererst an ihr ausbilden. Rom, sagt man, ist nicht an einem Tage erbaut worden. Der Fortschritt der Erkenntnis, immer zugleich ein Fortschritt im Selbstbewußtsein des Menschen, ist aber ein weit schwierigeres Geschäft. Er muß nämlich exakt mit der Logik und den Vorstellungen erarbeitet werden, über die hinausgegangen werden soll. Verlangt man nicht gleich die ganze Lösung, dann kann eines nicht zweifelhaft sein: Die philosophische Anthropologie nimmt im Ansatz ihrer Erklärungsstrategie exakt jene Problematik auf und arbeitet sie aus, die wir bei Marx und Engels zwar vorfanden, von ihnen aber ohne weitere systematische Bearbeitung liegen gelassen worden waren. Hier ist dem neuzeitlichen Bewußtsein, daß Menschen die Verhältnisse machen, die anthropologische Basis nachgeliefert. Damit ist ein neuer Entwicklungsstand in der Erkenntnistheorie erreicht. Das gilt zunächst für die prinzipielle Argumentationsebene, an der inskünftig nicht mehr vorbeizukommen ist: Plessner wie Gehlen belegen, daß schon der biologische Organisationsplan auf eine geistig-kulturelle Daseinsweise angelegt ist. Kann es irgend zweifelhaft sein, worin die prinzipielle Bedeutung dieser Beweisführung liegt? Der biologische Organisationsplan stellt sich in den Grenzen einer Natur dar, aus der jeder Geist nach Art des menschlichen Geistes, jedes Denken in den Kategorien menschlichen Denkens verbannt ist. Wenn der biologische Organisationsplan auf eine geistig-kulturelle Lebensform "angelegt" ist, nota bene: ohne sie selbst schon zu enthalten, dann muß sich diese Lebensform mitsamt allem, was an Wissen und Denken in sie eingegangen ist, als ein Anschlußprodukt erweisen lassen. Ebenso stellen Plessner wie Gehlen sie auch dar. Dabei aber wird gerade nicht vorgegeben, was bislang immer vorgegeben wurde: absoluter Geist in einem absoluten Subjekt. Die philosophische Anthropologie war keineswegs darauf aus, einer materialistischen Erkenntnistheorie zum Erfolg zu verhelfen. Der Sache nach betrieb sie ihr Geschäft 10 • Inzwischen ist die philosophische Anthropologie fast schon Geschichte. Das, worum es ihr vor allem zu tun war, den biologischen Organisationsplan als Basis jeder kulturellen Lebensform zu erweisen, ist mittlerweile durch eine naturwissenschaftliche Beweisführung untermauert worden. Plessner schon hatte den Organisationsplan in einer naturalen Entwicklungslogik dargestellt. Natürlich stand auch dabei das Wissen um den realen Prozeß der Evolution im Hintergrund. Es wurde jedoch durch die phänomenologische Methode zugedeckt. Es ist mehr als nützlich, sich dieser naturgeschichtlichen
V. Die Richtung der Evolution: Autonomie Menschen stehen in einer langen Geschichte der Lebewesen. Ihr biologischer Organisationsplan ist das Resultat einer Evolution, deren Mechanismus gewiß weiter aufklärungsbedürftig ist, an der selbst aber nicht länger gezweifelt werden kann. Diese Feststellung hat eine Weiterung, die für die Erkenntnistheorie von höchstem Interesse ist. Sie hat sich bereits zuvor bei der Erörterung des Erkenntnisfortschritts in der philosophischen Anthropologie gezeigt: Wenn denn der Mensch bereits in seinem biologischen Organisationsplan auf eine geistig-kulturelle Lebensweise hin angelegt ist, dann muß sich diese Lebensweise auch als quasi natürliche Konsequenz seiner Geschichte, nota bene: seiner Naturgeschichte erweisen. Und so ist es. Ich verkürze die Entwicklungsperspektive, die hin zur geistig-kulturellen Daseinsweise des Menschen führt in einer Weise, die kaum noch zulässig ist, wenn es darum geht, die Schritte selbst zu bestimmen, die aber, wie mir jedenfalls scheint, die strukturelle Konsequenz des Gesamtverlaufs umso eindrucksvoller hervortreten läßt.
1. Evolution und Autonomie
Lebewesen sind selbstregulative offene Systeme. Das Merkmal der Selbstregulation will sagen, daß Dauer und Integrität des Körpers durch ein innerhalb der Körpergrenzen gelegenes dynamisches System sichergestellt wird. Offenheit will sagen, daß der lebenswichtige Verkehr mit der Außenwelt, der Stoffwechselprozeß insbesondere, ebenfalls durch die Binnenorganisation gesteuert wird. Das Strukturprinzip der Selbstregulation läßt sich danach auch als Autonomie bezeichnen. Die Struktur der Lebewesen, erklärt Monod, "beweist eine klare und uneingeschränkte Selbstbestimmung, die eine quasi totale ,Freiheit' gegenüber äußeren Kräften und Bedingungen einschließt"ll . Ein derartiges Prinzip läßt sich nur realisieren, wenn Binnenorganisation und Außenbeziehung system-spezifisch aneinander gebunden sind. So ist es. Die Strategie, Binnenorganisation und Umwelt system spezifisch aneinander zu binden, gilt bereits für die organische Entwicklung. Der Aufbauprozeß des Organismus wird durch die Außenrelation mitbestimmt. Sie gilt erst recht für die Verhaltensweisen. Die sind überhaupt nur aus der Innen-Außen-Relation verständlich. Organismus und Außenwelt sind im Verhalten funktional sinnhaft aneinander gekoppelt. Lebewesen müssen deshalb in ihren Lebensformen aus der Beziehung des Organismus zu seiner artspezifischen Umwelt verständlich gemacht werden. Das organisatorische Strukturprinzip jedes Lebewesens: Selbstregulation oder Autonomie, ist zugleich das Prinzip der Evolution. Die naturgeschichtliche Evolution ist insofern eine wirkliche Höherentwicklung, als sie die im
nur eine Entwicklung in den Grenzen der Struktur. Das bewirkt die Tendenz, die Entwicklung in Richtung der Struktur zu verstärken; 2. aber verschafft eine erhöhte Steigerung der Autonomie eine erhöhte Überlebenschance der Population. Sie ermöglicht nämlich adäquater, wenn man so will; sachgerechter auf die Umwelt zu reagieren. Wir kennen das Mittel, durch das die Steigerung der Autonomie erfolgt ist: die Ausweitung des Lernens auf Kosten instinktiver Fixierung. Lernen gibt es bereits auf den frühsten Stufen der Evolution, eingeschachtelt in die instinktiven Verhaltensmuster 13 • Es hat zunehmend zu Lasten der instinktiven Rigorismen erweitert werden können. Es bedarf keiner ausführlichen Erörterung, weshalb Lernen das Mittel ist, um die Autonomie zu erweitern: Lernen ist ein Verfahren, mit dessen Hilfe Erfahrungen, die am Gegenstand, von dem etwas gelernt wird, gewonnen wurden, in einer Weise verarbeitet werden, die es ermöglicht, sie in künftigen Situationen lebensdienlich zu verwenden. Dem Organisationsplan des Menschen zufolge ist Lernen eine bis ins Extrem vorangetriebene Notwendigkeit. Das, was man die Weltoffenheit des Menschen genannt hat, ist eine Offenheit, sich selbst das Wissen über die Welt erst aus Erfahrung und Einsicht zu verschaffen. Erkenntnistheoretisch ist eine erste Konsequenz zu ziehen. Sie ist von strategischer Bedeutung: Die Ersetzung instinktiver Verhaltensfixierungen durch erlernte Verhaltensweisen ändert nicht nur nicht die für das Verständnis der Lebewesen strategische Innen-Außen-Relation. Sie bringt sie erst recht zur Geltung. Eben deshalb gilt sie auch für den Menschen. Die Logik der Evolution verlangt sie ihr ab. Eben deshalb aber müssen die kognitiven kategorialen Formen verstanden werden als Mittel, die der Mensch entwickelt, um mit einer vorfindlichen Wirklichkeit fertig zu werden 14. Wenn man wissen will, warum sie sind, wie sie sind, muß man auf die Erfahrungen achten, die in sie eingehen und den Prozeß rekonstruieren, in dem diese Erfahrungen verarbeitet werden. So wichtig es danach ist, sich die naturgeschichtliche Perspektive bei der Aufschlüsselung auch der Erkenntnisformen des Menschen zu eigen zu machen, sie enthält eine Falle. Wir haben sie bereits kennengelernt: Gehlen ist hineingetappt, als er annahm, der Mensch schaffe sich seine Welt, entlastet von Antrieben und Bedürfnissen in einer Art unmittelbarer Sachlichkeit. So ist es gerade nicht. Der Mensch entwickelt nämlich die kognitiven Formen aus einer höchst eigenartigen Lage heraus: einer ab origine sozietären. Das bestimmt die Konstrukte. Ihre Genese geht in sie ein. Um verständlich zu machen, in welcher Weise das geschieht, ist die Bedeutung der Sozietät für den Entwicklungsprozeß kognitiver Konstrukte kurz zu umreißen.
2. Die sozietäre Lage Lernen als vitale Indikation ist prekär. Das gilt umso mehr, als es in eben dem Objektbereich erfolgen muß, der einerseits von vitalem Interesse andererseits aber unbekannt
Primaten, in hohem Maße auf Lernen angewiesen sind, haben entwickeln können 15 . Nota bene: dieser Wert kommt schon den tierischen Sozietäten, genauer denen der Primaten zu. Ohne tierische, keine menschliche Sozietät. Bei der Feststellung, die evolutive Funktion der Gesellschaft sei es, Schutzwall zu sein, um Lernen zu ermöglichen, stehen Schutz- und Sorgefunktionen während der Aufzucht im Vordergrund. Bereits dabei trägt in der Regel eines der Gesellschaftsmitglieder, überwiegend die Mutter, die Hauptlast. Das gilt erst recht für die Entwicklung der Kognition. Und es gilt in exzessiver Weise für den Menschen. Für das Neugeborene ist die Mutter oder die sie ersetzende sorgende Bezugsperson dasjenige Objekt, an dem das Kind seine Primärerfahrungen machen und also die kategorialen Formen ausbilden muß. Für es ist, mit Erikson zu reden, die Mutter die Natur 16 . Erst verbunden mit der soziologischen Perspektive verschafft die naturgeschichtliche Perspektive der Erkenntniskritik Boden und umgekehrt: Die Pointe einer soziologischen Erkenntniskritik ist nicht, den ganzen Prozeß des Aufbaus der kognitiven Konstrukte auf die Gesellschaft abzuwälzen. Das führt keinen Schritt über die philosophischen Aporien hinaus. Die Pointe einer soziologischen Erkenntniskritik ist, den Formbildungsprozeß so anzusetzen, daß sich die kognitiven Formen, Wissen überhaupt, als Produkt der Erfahrung im Umgang mit einer immer schon vorgegebenen Objektwelt bilden. Dabei aber muß in Rechnung gestellt werden, daß das primäre Objekt in diesem Formbildungsprozeß ein kompetenterer, weil erwachsener anderer ist. Die kategoriale Ausbildung des Objekt- und Ereignisschemas hängt ebenso daran wie die Ausbildung der Formen von Raum und Zeit. Einzig unter dieser Perspektive wird verständlich, wieso der Mensch den naturgeschichtlichen entscheidenden Schritt zur Entwicklung geistig-kultureller Lebenswelten aus der Ontogenese heraus tun konnte. Natürlich hat man die Funktion der Mutter respektive der sorgenden Bezugsperson, ebenso der engeren und weiteren Gesellschaft für die Entwicklung des Kindes zu allen Zeiten gesehen. Aber sie ist bis in unsere Tage falsch gedeutet worden. Immer sah es so aus, als müsse das Kind von den Erwachsenen dazu angehalten werden, von ihnen zu übernehmen, worüber sie bereits verfügen. Bei einer derart traditionalistisch ansetzenden Erkenntnistheorie muß ewig unklar bleiben, wodurch das Kind in die Lage versetzt wird, diese Leistung zu erbringen. Es versteht anfangs ja nichts. Ebenso muß unklar bleiben, wie die Formen, die vermittelt werden, ihrerseits zustande kamen. Eine traditionalistische Lehre verläuft unumgänglich in einem unendlichen Regress. Erst wenn man die Perspektive ändert, wahrnimmt, daß die Organisationskompetenz beim nachwachsenden einzelnen liegt, wird der Vorgang verständlich.
VI. Der genetische Naturalismus Die entwicklungslogische Konstellation im Fortschritt der Erkenntnistheorie ist mittlerweile aufgegriffen. Einmal mehr hat sich gezeigt, daß in der Geschichte des Denkens
sie ist es exakt in dem Sinne, in dem ein Naturalismus des Denkens heute einzig ge dacht werden kann: nicht als Reduktion des Denkens auf die Bewegungsgesetze von Materie, sondern als Entwicklungsprodukt, bei dem im Ausgang gerade noch nicht ent halten ist, was sich im Resultat zeigt. Piaget hat diesen Status seiner Theorie dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er im Rückblick auf seine Arbeiten erklärt: Sie seien na turalistisch, ohne in den Positivismus zu verfallen 17. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist einzig die Strategie selbst von Interesse: die Anlage der Argumentation und ihre Konsequenzen.
1. Die naturalistische Ausgangslage
Eine naturalistische Erkenntnistheorie muß wie jede andere Vorgaben machen. Aus nichts kommt nichts. Entscheidend jedoch ist, womit der Anfang gemacht wird. Inso weit ist Piaget unzweideutig: Der Anfang wird mit einem Organismus gemacht, dessen biologische Organisationsprinzipien hinreichend leistungsfähig sind, um den Aufbau prozeß der kognitiven Formen in Gang zu setzen. Die biologischen Organisationsprin zipien reichen phylogenetisch weit zurück. Sie sind eingeschlossen in das Strukturprin zip jedweden Lebens: Selbstregulation. Piaget macht sich damit bewußt jene natur geschichtliche Perspektive zu eigen, die wir oben dargelegt haben l8 . Wenn Lebewesen über das Strukturprinzip der Selbstregulation organisiert sind, dann darf und muß man die konkreteren Lebensformen als Mittel und Resultat dieses Prinzips in einem verste hen; - als Mittel insofern, als der Organismus einzig durch sie lebensfähig wird und seine Autonomie realisiert, als Resultat insofern, als sich in ihnen Autonomie über haupt erst konstituiert. Nota bene: dieses Prinzip gilt bereits auf der organischen Ebene. Allein es setzt sich in der Ebene des Denkens fort.
"Jede biologische Organisation setzt auf allen Stufen Selbstregelung voraus, und das bleibt, wi möchten sogar sagen, a fortiori, auch für den Bereich des Verhaltens gültig. Unter diesem Gesichts punkt wären die kognitiven Funktionen also die Spezialorgane für die Selbstregelung der Aus tauschprozesse im Verhalten 19."
Die funktionale Kontinuität zwischen den organischen und kognitiven Organisations formen erlaubt ein Verfahren bei der Aufschlüsselung der letzteren, das anders er kenntnistheoretisch nicht zu rechtfertigen wäre: Die Ausbildung der kognitiven For men läßt sich als einfache Fortsetzung einer organisch bereits eingeleiteten Strategie darstellen.
"Das Wesentliche an den vorangehenden Bemerkungen ist aber, daß diese kognitiven Schemata kei nen absoluten Anfang haben und sich durch zunehmende Äquilibrations- und Selbstregulationspro zesse entwickeln. - Einen absoluten Anfang, etwas durch Einwirkung einer von der Umwelt ausge henden äußeren Ursache, haben sie deshalb nicht, weil solche formenden Einwirkungen an frühere Schemata assimiliert werden, die sie einfach differenzieren. So entwickeln sich die kognitiven Sche mata allmählich eines aus dem anderen. Verfolgt man diese Entwicklung ganz zurück, so stößt man
nicht deutlich sichtbar ist: die radikale Negation jeder metaphysischen Erkenntnistheorie. Das läßt sich am ehesten dadurch zeigen, daß man versucht, die Strategie metaphysisch zu vereinnahmen. Wenn, so könnte man argumentieren, Denken, Geist keinen Anfang im Denken des empirischen Menschen finden, dann müssen Denken, Geist also irgendwie schon im vorhinein da sein, eingebaut in das Organisationsprinzip von Materie, wenn auch in anderer Form. Würde man Piaget in dieser Weise lesen, hätte die Aussage epistemologisch genau den entgegengesetzten Inhalt haben müssen: Denken hat einen absoluten Anfang; nur liegt dieser Anfang jenseits jeder Empirie. Einmal mehr wäre danach der Rückgriff auf eine transzendentale oder auch transzendente Subjektivität nötig. Gemeint, das jedenfalls sollte vor jeder metatheoretischen Subversion festgehalten werden, ist etwas anderes: Wenn Denken ebenso in seinen einzelnen Formen wie in seiner Gesamtoperationalität begriffen werden muß als Fortsetzung von Strategien, die bereits auf der organischen Ebene angelegt sind, dann heißt das, daß der Anfang in der Erklärung des Denkens gerade nicht schon mit Denken gemacht wird. Wenn die kognitiven Aufbauprozesse an naturale Organisationsformen anknüpfen, so muß mit diesen naturalen Organisationsformen ein Naturverständnis mitgedacht werden, in dessen subhumaner Gesamtorganisation die spezifisch humanen Organisationsformen des Geistes gerade nicht wiederzufinden sind. Mitgedacht werden muß ferner ein Prozeßbegriff, der nicht in der Substanz-Kategorie von Ableitungszusammenhängen konzipiert ist. Das will sagen: In der Evolution entstehen Organisationsformen, deren spezifische Strukturen nicht schon von allem Anfang an in ihr vorprogrammiert waren 21 . Naturalistisch ist die Piagetsche Erkenntnistheorie danach in einem prägnanten Sinne: Sie gibt in der Erklärung des Denkens nicht wieder Denken vor, sondern Materie, der Denken nicht immanent ist. Zweckmäßig wäre es danach, die Kontinuität der kognitiven Formen mit den naturalen Verhaltensvorgaben in einer Weise deutlich zu machen, die das Evolutionsprinzip auch zum Ausdruck bringt. Für die kognitiven Formen gilt, was für die geistig-kulturelle Lebenswelt des Menschen insgesamt gilt: Sie setzt die Linie der Evolution fort, aber es ist eine Fortsetzung über einen Hiatus hinweg.
2. Konstruktiver Realismus Die Strategie emes genetischen Naturalismus bringt das Kernproblem aller neuzeitlichen Erkenntnistheorien: das Subjekt-Objekt-Verhältnis auf eine geradezu verblüffende Weise zum Erliegen. Wir haben oben gesehen, daß die Aporie dieses Verhältnisses darin besteht, bei aller Reflexion auf die Bedingungen des Denkens immer schon Denken vorgeben zu müssen. Das Subjekt geht gerade in seinen Erkenntnisleistungen dem Objekt immer voraus. Die marxistische Kritik hatte die Gegenstrategie bereits postuliert: Wenn der Anfang mit einer biologischen Organisation gemacht wird, ist der Ausgangspunkt nicht Denken, nicht Geist, sondern eine Organisationsform von Materie 22 .
tegoriale Formen der Erfahrung gerade nicht schon vorweg, verweisen deshalb auc nicht auf ein vorgegebenes Subjekt, nicht auf ein transzendentales, nicht auf ein trans zendentes. Der Vorgang nimmt sich auf den ersten Blick wie eine Fortsetzung de Kantschen Kritik aus, eine Radikalisierung im Blick auf die kategorialen Ausgangs formen. Allein wenn es eine Radikalisierung ist, dann besteht sie exakt darin, di auch in der transzendentalen Erkenntniskritik noch festgehaltenen Restbestände de metaphysischen Erkenntnistheorie zu eliminieren. Das zeigt sich nirgends deutliche als an dem, was hier und dort vorgegeben wird. Die Vorgabe nämlich, die ein genet scher Konstruktivismus, denn darum handelt es sich, macht, unterscheiden sich grund legend von denen der transzendentalen Erkenntniskritik. Vorgegeben werden neutral Organisationsleistungen des Organismus: eine leistungsstarke Sensorik, eine Motori sowie ein Zentralnervensystem mit einer beachtlichen Kapazität des Gehirns. Nich vorgegeben aber werden jene Formen kognitiver Wirklichkeitswahrnehmung, wie si später im enkulturierten Stadium vorfindbar sind. Die werden erst ausgebildet. Weshalb also läßt sich behaupten, daß bei dieser Ausgangslage im Erwerbsproze kognitiver Formen das leidige Subjekt-Objekt-Problem auf die Seite gesetzt werde Die Antwort ist mehr als einfach: Wenn die kognitiven Formen, auch soweit es sic um die kategorialen Grundformen handelt, erst aus Erfahrung ausgebildet werde müssen, dann ist eine Frage hinfällig geworden: ob sich mit ihnen das Objekt auch er reichen läßt und wieso mit ihnen in der realen Welt etwas auszurichten ist. Die kate gorialen Formen: das Objektschema, das Ereignisschema, die Formen von Raum Zeit etc. halten wieder- und wiederkehrende Erfahrungen im Umgang mit der imme schon vorfindlichen Realität fest. Sie selbst sind nicht Formen, denen der Inhalt ers nachkommt, sondern Formen, die aus Inhalten erarbeitet worden sind. Sie sind m einem Wort sachhaltig; in sie integriert sind Sacherfahrungen im Umgang mit de Außenwelt. Realismus, das ist es, was diesem Konstruktivismus vindiziert werde muß. Ein genetischer Konstruktivismus, dem Realismus vindiziert werden muß, löst zu gleich das wohl subtilste Problem, das in der Subjekt-Objekt-Aporie enthalten war das von Interesse und Objektivität. Es ist keine Frage, daß der Konstruktionsproze auf der Seite derer, die ihn in Gang setzen, von deren Interesse bestimmt wird. Di Chance, die mit dem Abbau einer instinktentbundenen Außenwelt gegeben ist, be steht gerade darin, die für den Menschen bis dahin nicht durchorganisierte Außenwe nach handlungsrelevanten Kriterien durchzuorganisieren. Die kognitiven Formen sin deshalb in der Tat ein Konstrukt, nicht unmittelbare reine Sachlichkeit. Allein, da hindert nicht, reale Außendaten einzuholen in die Konstrukte. Im Gegenteil! Das an fangs vorherrschende kognitive Interesse zielt darauf ab, die kleinen und großen Ak tions-Interessen des Alltags in einer fremden Außenwelt durchzusetzen. Das aber i nur möglich, wenn im Verfolg dieser Interessen die Realität in dem für sie relevante Ausschnitt faßbar gemacht wird. Der Vorgang nimmt sich bei abstrakter Erörterun
rung, daß sich derart wiederkehrende Relationen feststellen lassen, wie des Interesses, derartige Erfahrungen auch tatsächlich festzuhalten, weil anders nicht umzugehen ist mit der Wirklichkeit. Ebenso ist die begriffliche Art, Objekte über Eigenschaften zu bestimmen, beherrscht von der leibhaften Situation des Menschen und seinen Handlungsinteressen. Hoch und tief, süß und sauer, hart und weich sind leib bezogene Klassifikationen. Allein, das hindert nicht im geringsten, reale Außenweltdaten in diese Konstrukte einzuholen. Mehr noch: ein Lebewesen, das nicht schon von Natur aus auf die Umgangsformen mit der Außenwelt festgelegt ist, und eben deshalb auch keine von Natur aus nach verhaltensrelevanten Kriterien durchorganisierte Umwelt hat, steht unter dem andauernden Imperativ, seine Lebensführungsinteressen über die möglichst sachgerechte Einholung der Außenwelt zu realisieren. Konstruktiver Realismus, das ist mit einem Wort die erkenntnistheoretische Strategie, die der Mensch verfolgt. Die Gemengelage zwischen beiden ist prinzipiell nicht auflösbar. Um Mißverständissen vorzubeugen: Wenn wir feststellen, daß mit dem genetischkonstruktiven Realismus die neuzeitlichen Aporien der Erkenntnistheorien zum Erliegen gebracht werden, so heißt das selbstredend nicht, daß damit die erkenntnistheoretischen Probleme überhaupt gelöst seien. Im Gegenteil! Wie immer, wenn eine neue Theorie sich Geltung verschafft, beginnt die Arbeit erst. Nur das also ist gemeint: Die bisherige aporetische Situation von Subjekt und Objekt ist überwunden. Zu den neu in Ansatz zu bringenden Konstituentien im Aufbauprozeß der Erkenntnis gehört auch die Rolle der Gesellschaft. Ich habe oben schon darauf verwiesen.
VII. Die Gesellschaft im Aufbau des Wissens Die Ausbildung sozietärer Lebensweise kann zunächst einmal als ein Verfahren begriffen werden, mit der die Überlebenschance der Population unter dem Druck der Ökologie erhöht wird. Eine effizientere Verteidigung gegen Freßfreinde, eine erhöhte Fähigkeit, sich gegen Konkurrenten durchzusetzen, eine größere Fähigkeit, Futterstellen auszunutzen und einige andere Vorteile mehr lassen sie zu einem der "prime movers" der Evolution werden 23. Allein wir haben bereits noch eine ganz andere Bedeutung kennengelernt: Gesellschaften schaffen die Voraussetzungen, um Lernen im großen Maße in den Organisationsplan einzubauen. Eben dadurch werden sie es, die den Richtungssinn in der Evolution bestimmen. Im Übergang von der subhumanen zur humanen Stufe der Evolution ändert sich die Bedeutung von Lernen. Lernen ist mit anderen Worten selbst ein evolutives Phänomen. Während Lernen auf der subhumanen Stufe im wesentlichen darin bestand, genetisch vorstrukturierte Verhaltensmuster zu konkretisieren, im Spiel vor allem, besteht die Aufgabe auf der humanen Stufe darin, diese Verhaltensweisen als die künftigen Formen des Lebensvollzuges überhaupt erst auszubilden. Das aber kann nur ge-
Verhaltensformen und Umwelten zu konkretisieren, muß der Erwerbsprozeß des Wis sens wirklich ab origine "am Objekt" selbst erfolgen. Die kategorialen Formen müssen im Zusammenstoß mit diesem Objekt ausgebildet werden. Das schlechterdings domi nante Objekt aber, an dem die Erfahrungen gemacht werden, ist die sorgende Bezugs person, in aller Regel also die Mutter. Das hat zwei dramatische Weiterungen: Hätt der soziale Nasciturus seine Außenweltschemata an beliebigen naturalen Objekten aus zubilden, so wäre kaum vorstellbar, wie er unter der Prämisse nahezu vollständiger In kompetenz das außerordentliche Frustrationspotential bewältigen könnte. Die Bezugs person aber ist immer verhaltenskompetenter als er. Sie richtet ihr Verhalten so ein daß für das nachwachsende Kind überhaupt die Chance entsteht, Erfahrungen zu ma chen, die es mit den ihm verfügbaren Mitteln verarbeiten kann, und so seine Kompeten zu entfalten. Dafür gibt es eine Anzahl von Techniken; sie sind in jedem Umgang eine fürsorglichen Mutter mit ihrem Kind zu beobachten. Einige davon sind mittlerweil . zum Gegenstand der Forschung gemacht 24 . Darüber hinaus paralysiert die Mutter auch emotional die Vielfalt der Frustrationen, die nun einmal unvermeidbar im Lernprozeß auflaufen. Bei einer naturalistischen Betrachtung, nota bene einer, die gerade den Pro zeßcharakter der Naturgeschichte hervorkehrt, gewinnt die Gesellschaft nach allem ei nen gänzlich anderen Status für die Enkulturation des Menschen als ihr in der ältere Theorie zugeschrieben wurde. Die älteren Theorien waren darauf beschränkt, lediglic zu konstatieren, daß die kognitiven Konstrukte, die geistig-kulturellen Lebensforme überhaupt, ihren Ursprung irgendwie in der Gesellschaft haben müssen 25 . Aus der Ge staltungskompetenz eines in schierer Einzelheit gedachten einzelnen konnten sie nich stammen. Auf eben diese Weise avancierte die Gesellschaft zum Subjekt sui generi oder, wie man auch sagte, zum uneigentlichen Subjekt des Prozesses. Es ist diese Ar Substanzialisierung der Gesellschaft zum Subjekt, die die Soziologie so ineffizient i der Erkenntnistheorie hat werden lassen und ihr den Vorwurf des Soziologismus zuge zogen hat. Mit Recht. Denn daran kann kein Zweifel sein: Die Rede von der Gesell schaft als uneigentlichem Subjekt mystifiziert den Vorgang. Es .ist schlechterding nicht einsichtig, wie "die Gesellschaft" es anstellt, geistig-kulturelle Formen auszubil den. Ganz anders in der hier verfolgten naturalistischen Perspektive: Für die Ausbil dung der geistig-kulturellen Lebenswelt ist die Gesellschaft deshalb konstitutiv, wei einzig an einem kompetenten anderen der soziale Nasciturus die Chance hat, die kate gorialen Grundformen auszubilden. Durch sie läßt sich auf der Erwachseneneben der Wissenserwerbsprozeß fortsetzen. Die naturalistische Konstellation, wie sie hier dargelegt ist, schlägt sich in den katego rialen Formen selbst nieder. Die Genese geht mit anderen Worten in das Resultat, di ausgearbeiteten kognitiven Konstrukte, ein. Das läßt sich auf eindruckvolle Weise am frühen Weltbild des Kindes belegen.
einfache Weise bestimmen sollte, dann müßte man sagen: Es muß vor allem eines: Objekt- und Ereignisschemata ausbilden, mit denen sich in effizienter Weise mit der Außenwelt, der sozialen wie der naturalen, verkehren läßt. Von dieser Aufgabe werden alle übrigen Leistungen impliziert. Aller Kompetenzerwerb auch wird von der Bewältigung dieser Aufgabe angetrieben. Die Frage ist naturgemäß, wie das geschieht. Wir haben zwei strategische Bedingungen bereits genannt: 1. kann der Konstitutionsprozeß nur am Objekt selbst erfolgen, - das ist das naturalistische Moment. Und 2. ist das Objekt ein alter, - das ist das spezifisch soziologische Moment. Exakt diese beiden Bedingungen sind es, die in auffälliger Weise das Resultat bestimmen. Eben weil kategoriale Formen am Objekt selbst ausgebildet werden müssen, gehen die spezifischen Erfahrungen, die das Kind gerade mit dem Objekt macht, an dem sie ausgebildet werden, in sie ein. Das Resultat ist unzweideutig: Objekt und Ereignisschema tragen unübersehbar das Stigma, an einem verhaltens- respektive handlungskompetenteren Subjekt ausgebildet worden zu sein. Alle Objekte werden so aufgefaßt, als würden sie von einer zentrischen Kraft bestimmt, die sie sich in bestimmter Weise darstellen und agieren läßt; alle Ereignisschemata sind motivational durchsetzt 26 . Ich habe diese Strukturierung anderweitig auf die knappe Formel gebracht. Das kategoriale Grundschema für Objekte und Ereignisse ist subjektivisch. Kategoriale Formen sind operante Mechanismen. Wenn sie einmal ausgebildet sind, schlagen sie die Wirklichkeitswahrnehmung in ihren Bann. Das ist der Grund, weshalb die primordiale Welt des Kindes in seiner Grundstruktur durchgehend subjektivisch ist. Natürlich hat man die Eigenart, daß Kinder die Dinge und Ereignisse im subjektivischen Schema wahrnehmen, seit langem bemerkt. Aber sie ist noch immer falsch gedeutet worden.
1. Projektionen
Vielfach wird die subjektivische Deutung der anfänglichen Lebenswelt als ganz selbstverständlich hingenommen, zuweilen, wie bei Feuerbach, mit einem Hauch philosophischen Tiefsinns, oder, wie bei Dilthey, hermeneutischer Phantasie bedacht. Wenn eine Erklärung geboten wird, ist die wahrscheinlich häufigste Deutung, die das Phänomen eines subjektivischen oder, wie auch gesagt wird, anthropomorphen kindlichen Weltbildes erfahren hat, die Annahme, es beruhe auf einer Projektion des eigenen Ich in die gesamte Wirklichkeit um das Ich herum 35 . Das freilich ist eine Erklärung, die zumindest mißverständlich ist. Und was ärger ist, sie deckt alle Probleme zu. Erstens nämlich gibt es dieses Ich garnicht, das projiziert werden könnte. Zweitens gibt es die Außenwelt nicht, in die hinein das Ich projiziert werden könnte. Drittens aber wird nicht klar, weshalb diese Projektion erfolgen sollte. Die Wahrheit ist, daß Ich und Außenwelt erst aufgebaut werden müssen und daß dabei allerdings das univer-
Erklärung der subjektivisch aufgebauten Welt ist aufs engste mit dem unglückseligen Begriff des "Egozentrismus" verbunden.
2. Der Piagetsche Egozentrismus
Piaget kennzeichnet die Ausgangssituation beim Aufbau der Welt als "egozentrisch"
Der Begriff scheint zu signalisieren, daß das Kind die Welt auf sich als schon ausgebil detes Ego konvergieren lasse, um sie dann als unendliche Wiederholung des Ich zu deu ten. Eben das meint Piaget nicht. Es gehört zu dem wahrhaft strategischen Ansatz sei ner Entwicklungspsychologie, darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß für das neu geborene Kind der Dualismus zwischen dem agierenden Organismus und der Außen welt nicht existiert. Das Kind hat ein geradezu protoplasmatisches Bewußtsein, da keinen Unterschied zwischen dem Ich und den Dingen macht (192, passim). Eben des halb werden die Objekte der Umgebung in die Aktionsabläufe integriert, ohne daß di Differenz irgend zu Bewußtsein käme. Wenn Piaget von "Egozentrismus" spricht, so läßt er sich dabei von der Vorstellung leiten, die Intentionen des Kindes, gleich von welchen Antrieben sie herrühren, reichten über die Grenzen seines Körpers hinaus Eben weil diese Grenze in der Selbstwahrnehmung nicht existiert, setzt sich der An trieb sozusagen ins Unermeßliche fort (130 f.). Die Subjektivismen der Außenwel sind Verlängerungen der eigenen Ich-Befindlichkeit und der eigenen Antriebe. Da Kind trägt danach seine Subjektivismen nicht in eine gegenüberliegende Welt hinein Die gibt es nicht. Es hat diese gegenüberliegende Welt ganz einfach noch nicht abge koppelt von sich selbst. Deshalb nimmt sich die Welt so subjektivisch/animistisch au wie das eigene Tun. Piaget unterstreicht das, indem er erklärt, der Animismus müss weithin auch als affektiver Animismus verstanden werden; es sei ein sympathetische Animismus, bei dem sich das Ich noch nicht in sich selbst zurückgezogen habe. De Egozentrismus besteht, folgt man Piaget, "in der Vermengung des eigenen Denken mit dem Denken der anderen und in der Vermengung des Ichs mit der äußeren Welt (141). Animismus und Artifizialismus sind Ausprägung dieser mangelnden Differen zwischen Ich und Außenwelt. Sie leiten sich aus der Partizipation des Ichs an der Au ßenwelt und der Außenwelt am Ich her und nicht umgekehrt (114). Weil die Ding nicht auseinandergehalten werden, kommt es zum Animismus (194). Ersichtlich liegt Piaget mit dieser Erklärung weiter auf der Linie der Projektionstheo rien. Denn das, was die, die sich der These der Projektion bedienen, sagen wollen, is ja im Grunde auch nur dies: Die Grenzen des Ich werden nicht eingehalten; das Ich wird nach außen gesetzt in eine für uns, aber nicht für es andere Wirklichkeit. Piage macht denn auch gelegentlich selbst vom Projektionsbegriff Gebrauch, so sehr er sic gegen seine krude Fassung als Hypostasierung des Ich stemmt. Das systematische De fizit läßt sich bis in die sprachlichen Wendungen hinein verfolgen, - es ist übrigens von Piaget selbst wahrgenommen worden (199). Einerseits macht er Front gegen alle über tragungsvorstellungen.
spricht ohne Zögern sogar von der Übertragung von Haltungen auf die physikalische Welt (128). Folgt man Piaget, so vollzieht sich im 2. Lebensjahr eine Wende. Das Kind lernt, ~ie eigenen Handlungen zu dirigieren und verschiedene Handlungen zu koordinieren. Mit dieser Kompetenz bildet es zugleich sich selbst als Subjekt seiner Handlungen aus. Im systematischen Zusammenhang damit werden die Objekte substanzialisiert. Sie erhalten Dauer und Eigenständigkeit. Alle diese intellektuellen Leistungen bleiben jedoch an die tatsächlichen Handlungen gebunden, solange sie keine begriffliche Repräsentation erfahren haben. Dieser Prozeß der Verinnerlichung der Handlungen zu begrifflichen Repräsentationen setzt mit der ersten Stufe des sogenannten präoperationalen Denkens im Alter von 2 bis 4 Jahren ein. Er resultiert aus den Fortschritten in der Interaktionskompetenz, ebenso mit der Folge einer weiteren Stärkung des Ichs als dem Urheber der eigenen Aktionen auf der einen als der weiteren Durchorganisation der Objektwelt auf der anderen Seite. Allein, auch in dieser Phase bleibt die Bindung an die vom Kind beherrschten Handlungsschemata erhalten. Das Kind ist mit anderen Worten noch nicht in der Lage, in der mentalen Repräsentation so frei und so souverän zu operieren, wie es bei der Ausbildung von wirklichen Begriffen und Begriffssystemen der Fall ist. Und eben dieser "nur halben Begrifflichkeit" schreibt Piaget die psychomorphe Auffassungsweise, das, was wir hier die Auffassungsweise im subjektivischen Schema oder einfach auch die subjektivische Auffassungsweise nennen, zu. Sie hält sich auf den folgenden Stufen der kognitiven Entwicklung durch. Bis zum Alter von 6-7 Jahren ist alles mit Bewußtsein ausgestattet. Der Egozentrismus ist per se animistisch. Dann beginnt der Rückbildungsprozeß. Im zweiten animistischen Stadium (6%-8% Jahre) wird nur noch den beweglichen Gegenständen Bewußtsein zuerkannt. Nach einem Übergangsstadium, dem dritten animistischen, von 8%-11 % Jahren, wird schließlich im vierten Stadium der Animismus aus dem kindlichen Denken ausgemerzt. So sagt es Piaget (145 ff.). Nahezu alles, was in den letzten Jahrzehnten an Fortschritt in der kognitiven Entwicklungspsychologie erreicht worden ist, hängt an dem Durchbruch, den die genetische Erkenntnistheorie Piagets erzielt hat. Allein hier ist der Durchbruch steckengeblieben.
1. Der innere Widerspruch im Egozentrismus. Der strategische Ansatz ist richtig: der Hiatus zwischen dem Organismus und der Objektwelt ist anfangs nicht ausgebildet. Verbunden damit fehlen auf beiden Seiten die eigentlichen Bezugsgrößen Subjekt und Objekt. Allein, wenn und solange das so ist, ist schlechterdings nicht einzusehen, wieso sich auf der Objektseite deutlich ausgebildete Subjekt-Strukturen finden. Solange sie auf der Subjektseite nicht ausgebildet sind, können sie auf der Objektseite nicht erscheinen. Wenn Piagets Erklärung plausibel sein soll, muß man annehmen, das Kind verfüge über seine eigene Aktionsform. Nur dann nämlich kann es sie als kognitive Form verwenden. Anderes bleibt so uneinsichtig wie bei jeder der zuvor erörterten Pro-
Maße aber, in dem es seiner eigenen Aktionsstruktur in ne wird, wird es auch der Ob jekte als fremder inne, hat es Distanz also schon ausgebildet. Die Logik der Piagetsche Erklärung würde verlangen, daß die subjektivische Welt des Kindes von Anfang an nu als Abbauprozeß wahrgenommen werden könnte: Je mehr die Objektwelt in eine Ge genlage zu der mit ausgebildeten Subjektstruktur zu liegen käme, desto stärker müßt die subjektivische Deutung zurückgehen. So ist es aber nicht. Die subjektivischen Deu tungen bauen sich in der ersten Phase erst recht auf. Sie liegen denn auch im Grund viel zu spät, um mit dem Mangel an Dissoziation zwischen Subjekt und Objekt erklä werden zu können.
2. Der Ausfall der Sozialwelt. Unter einer wissenssoziologischen Perspektive ist das De fizit leicht zu orten: Piaget läßt es exakt an dem fehlen, worauf es in einer genetische Entwicklungstheorie entscheidend ankommt: darauf, den Entwicklungsprozeß de kindlichen Weltbildes und das heißt der kindlichen Objekt- und Ereignisdeutung a einen Vorgang zu interpretieren, bei dem sich die Deutungsschemata als realistisch Verarbeitung der Erfahrung mit dem dominanten Objekt und dem dominanten Erei nissen des kindlichen Umfeldes ausbilden. Dabei ist Piaget selbst nicht müde geworden den Aufbauprozeß als Assimilation an eine vorfindliche Wirklichkeit zu deuten. E wäre also nicht mehr notwendig gewesen, als diese Wirklichkeit konkreter zu fassen Um den inkriminierten Mangel der Piagetschen Analyse so scharf wie möglich hervorzu kehren: Für Piaget ist das kindliche Weltbild gerade in seinen so überaus signifikante Zügen der animistischen, artifizialistischen, magischen Deutung immer noch Selbstaus legung. Die Piagetsche Terminologie mit ihrem Zentralbegriff des Egozentrismu kommt nicht von ungefähr. Auch das, was Piaget den Realismus des Kindes nennt, i der Realismus einer Vorstellungswelt, die das kindliche Innere nach außen setzt. Di egozentrischen Schemata sind Schemata, die, wie Piaget sagt, durch innere Erfahrun hervorgebracht worden sind (113). Eben so ist es aber nicht. Das kindliche Weltbil ist, um es zu wiederholen, in seinen Interpretamenten Ausdruck realer Erfahrungen die zur höchst realistischen interpretativen Schemata verarbeitet werden. Unsere Korrektur kehrt auch das Verständnis der Sozialisation um, wie es bei Piag gelegentlich durchscheint. Für Piaget ist der Egozentrismus angeboren (39). Die Or ginalität des kindlichen Denkens sträubt sich gegen die Sozialisation und wirkt ihr en gegen. Der Zwang der Erwachsenen ist schließlich stärker (34)37. Umgekehrt ist e richtig. Das Kind findet die Erwachsenen vor samt ihren kulturellen Lebensformen Gewiß, es ist nicht seine Welt, es kann sie ja nicht begreifen. Allein, es assimiliert sie so gut es geht. Die kognitiven Schemata sind ein und zwar ein nachhaltiges Produk dieser Bemühungen. Sie sind formale Schemata, aber solche, in denen Inhalte festge halten sind 38 . Die Kritik an der Herleitung des subjektivischen Deutungsmusters durch Piaget hatt vor allem den Sinn, durch den Widerspruch noch klarer zu machen, woher das an sic
- Kognitive Formen müssen vom Menschen erst entwickelt werden. - Die Entwicklung des Objekt- und Ereignisschemas ist von überragender Bedeutung. Sie kann so gut wie jedes andere kategoriale Schema nur an der vorfindlichen Wirklichkeit erfolgen. - Das dominante Objekt im Umfeld des Kindes ist die sorgende Bezugsperson. Objektund Ereignisschema werden deshalb im Umgang mit der sorgenden Bezugsperson entwickelt. Die Ausbildung des subjektivischen Schemas ist deshalb ein Verfahren realistischer Verarbeitung von realen Erfahrungen.
IX. Weiterungen: Gattungsgeschichte des Geistes Die Reflexion auf die soziale Bedingung, unter der geistige Konstrukte ausgebildet werden, hat auf eine ebenso verschwiegene wie eindringliche Weise klargestellt, auf welchem Wege der Zugang zu ihrem Verständnis gewonnen werden kann: über die Analyse ihres Aufbaus in der frühen Phase der Ontogenese. Dieser Zugang hat Weiterungen, an denen nicht vorbeizukommen ist: Der Aufbauprozeß der geistig-kulturellen Lebenswelt, der kognitiven Formen insbesondere, ist zu allen Zeiten der Geschichte des homo sapiens aus der gleichen anthropologischen Ausgangslage in Gang gesetzt worden. Er hat, was die anfänglichen kategorialen Formen angeht, zu allen Zeiten unter den gleichen Bedingungen gestanden. Und er ist zu allen Zeiten auf der Ebene der Erwachsenenwelten weiter vorangetrieben worden, - je nach historischer Entwicklung unterschiedlich weit. Eben weil das so ist, kann und muß die Gattungsgeschichte des Geistes rekonstruiert werden in der Entwicklungslinie ontogenetisch angesetzter Strukturen. Die jeweiligen Lebenswelten auf den unterschiedlichen Stufen der Geschichte können nichts anderes sein als die unterschiedlich weit entwickelten Konstrukte, die in früher Kindheit angesetzt sind. Vorsicht ist angezeigt. Wir wissen einstweilen nicht, wieweit die uns noch zugänglichen Erwachsenenwelten auf der Entwicklungslinie von Sammlern und Jägern bis hin zu industrialisierten Gesellschaften die kognitiven Grundstrukturen entwickelt haben. Noch weniger ist jenseits größter Umrisse der Zusammenhang bekannt, der zwischen den operationalen kognitiven Grundstrukturen und der semantischen Ebene, den ausformulierten Weltbildern also, besteht. Allein die Entwicklungslinie selbst ist nicht zu bestreiten. Sie muß das Programm künftiger Forschung bestimmen.
X. Resümee
Menschen stehen in einer naturgeschichtlichen Evolution. Sie stellen in ihrem biologischen Organisationsplan insofern eine wirkliche Spitze dieser Evolution dar, als in ihm das Strukturprinzip der Organisation von Lebewesen überhaupt - Autonomie -
auf den Menschen ist danach eine wirkliche Entdeckung. Ihre Basis liegt in der anthro pologischen Organisation. Die naturgeschichtliche Perspektive zwingt dazu, den Aufbau der Welt als Lernprozeß an einer immer schon vorfindlichen Wirklichkeit zu begreifen. An der Widerständigkei der Objektwelt müssen insbesondere die kategorialen Formen entwickelt werden. Jed künftige Erkenntnistheorie, die als Wissenschaft will auftreten können, muß in diesem Sinne als naturalistische oder materialistische ansetzen. Das will sagen: Sie beginn nicht schon mit Denken und Wissen, sie beginnt mit der Natur und der naturalen Or ganisation eines Lebewesens, das insoweit streng in den Grenzen naturwissenschaftli cher Deutung begriffen wird. Programmatisch formuliert wurde die erkenntnistheoretische Strategie bereits im 19 Jahrhundert, nach dem Zusammenbruch der Metaphysik. Einlösbar wurde sie erst, al die naturwissenschaftliche Revolution in der Biologie den Prozeßcharakter der Natu freigelegt und in der Evolutionstheorie zumindest die Grundlage für das Verständni der Entwicklung des Menschen geschaffen hatte. An die Analyse des naturalen Organi sationsplanes ließ sich die erkenntnistheoretische Problematik anschließen: Die Aufga be ist, einsichtig zu machen, wie unter den Bedingungen dieses Organisationsplane die geistig-kulturellen Lebensformen, die kognitiven vor allem, ausgebildet werden konnten. Eben diese Programmatik hat die genetische Erkenntnistheorie Piagets auf genommen. Piaget wollte eine naturale Erkenntnistheorie, - und war eben deshalb so ungemein erfolgreich. Unglücklicherweise hat Piaget die soziale Lebenslage dem Konstruktionsprozeß nich wirklich zu integrieren gewußt. Überhaupt lassen insbesondere seine anfänglichen Ar beiten kaum erkennen, inwiefern der Entwicklungsprozeß der kognitiven Formen vo den konkreten Objekterfahrungen abgenötigt wird 30 . Das macht die Deutung der Be funde in erheblichem Maße spekulativ. Dabei wäre lediglich eines nötig gewesen: di naturgeschichtliche Perspektive fortiter hervorzukehren, zugleich aber in Ansatz z bringen, daß Menschen die kategorialen Formen aus einer sozietären Lebenslage herau entwickeln. Gerade unter dieser Perspektive hätte sich zeigen lassen, worauf es auc Piaget entscheidend ankommt: daß die kategorialen Formen weder mitgebracht noc einfach übernommen, sondern vom sozialen Nasciturus wirklich geschaffen werden Besser als jede andere hätte die genetische Erkenntnistheorie Piagets die Gesellschaf zu integrieren vermocht: Die Gesellschaft kommt als erstes über die soziale Bezugsper son ins Spiel, und zwar als wirkliches Objekt, freilich als eines, das immer schon ver mögender ist als der, der nachwächst. Macht man sich diese Perspektive zu eigen, erklärt sich das Weltbild des Kindes au überraschend einfache Weise: Es ist in seiner kognitiven Grundstruktur subjektivisch einfach deshalb, weil es an fortgeschritteneren Subjekten ausgebildet wurde. Nich minder effizient ist die Perspektive bei der Analyse der Geistesgeschichte der Gattung Erwachsenenwelten, gleich wo und unter welchen Bedingungen der Geschichte sie sich entwickelt haben, sind und können nichts anderes sein, als die fortentwickelten kog nitiven Strukturen der frühen Ontogenese.
gitimation, Freiburg 1976, 153 ff. 3 W. Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1955, S. 19. 4 Wineh, der sich vor allem diesem Idealismus der Konstruktionen verschrieben hat, scheint diese Konsequenz zu übersehen, jedenfalls wird er nicht mit ihr fertig. Vgl. P. Wineh, Understanding a Primitive Society, Americ. Philosoph. Quaterly 4,1964, 307 ff. 5 Zum Beleg dieser Behauptung verweise ich auf die ausführliche Erörterung in: Die Logik der Weltbilder, 1981, sowie die Studien, insbesondere zu Hegel, in Strukturwandel der Legitimation, Freiburg 1976. 6 Die folgenden Angaben beziehen sich auf Die deutsche Ideologie von Marx und Engels. Zugrunde liegt der Band 3 der Ausgabe im Dietz Verlag, Berlin 1969,9 ff. 7 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928), Berlin 21965. 8 Gerade diese "Anlage auf Geschichte" hat Plessner herauszuarbeiten verstanden. Vgl. insbesondere Conditio Humana, Pfullingen 1964. 9 Die folgenden Angaben beziehen sich auf A. Gehlen, Der Mensch (1940), Frankfurt 81966. 10 Ich habe diese historische Schwellenlage der philosophischen Anthropologie bereits früher herauszuarbeiten versucht. H. Plessners philosophische Anthropologie im Prospekt, in: H. Plessner, Philosophische Anthropologie, Frankfurt 1970, S. 255-329. 11 Monod, Jaeques, Zufall und Notwendigkeit (1970), München 21975, S. 28. 12 Vgl. B. Renseh, Neuere Probleme der Abstammungslehre, Stuttgart 1972, S. 304 und die dort angeführte Literatur. 13 Vgl. H.F. Harlow, Die Evolution des Lernens, in: G.G. Simpson (Hrsg.), Evolution und Verhalten (1958), Frankfurt 1969, S. 70-99. 14 Vgl. C.H. Waddington, The Ethical Animal, London 1960. 15 Auf diese Funktion der Sozietäten hat besonders H. Miller aufmerksam gemacht. Hugh Miller, Progress and Decline. The Group in Evolution, Oxford 1964. 16 E.H. Erikson, Einsicht und Verantwortung. Die Rolle des Ethischen in der Psychoanalyse, Frankfurt 1971, S. 102. 17]. Piaget, Abriß der genetischen Erkenntnistheorie (1970), Olten und Freiburg 1974, S. 28. 18]. Piaget, Biologie und Erkenntnis (1967), Frankfurt 1974, S. 27 ff. 19 Ebd., S. 35. 20 Ebd., S. 14. 21 Auf die Notwendigkeit, die Kategorie der "Ableitung" preiszugeben, verweist auch Monod, 53. Vgl. im übrigen Piaget, ebd., S. 14 ff. 22 Piaget hat diese Programmatik sehr wohl zur Kenntnis genommen. Vgl. Biologie und Erkenntnis, S. 46, Anm. 5. 23 Wilson, Edward 0., Sociobiology, Cambridge 2 1978, 32 ff. 24 Vgl. das viel erörterte Beispiel des Regelerwerbs innerhalb der Interaktionskompetenz am Peekaboo-Spiel. ].S. Bruner und V. Sherwood, Peekaboo and the Learning of Rule Structures, in: ].S. Bruner, A. Jolly, K. Sylva (Hrsg.), Play - Its Role in Development and Evolution, Harmondsworth, Penguin 1976, S. 277-285. 25 Prototypisch E. Durkheim, Les formes elementaires des la vie religieuse (1912), Paris 41960. 26]. Piaget, Das Weltbild des Kindes (1926), Stuttgart 1978, S. 175. 27 L. Feuerbach, Sämtliche Werke Bd. 11, Stuttgart 2 1959, S. 296: "Der Begriff des Objekts ist ursprünglich gar nichts anderes als der Begriff des anderen Ich - so faßt der Mensch in der Kindheit alle Dinge als freitätige willkürliche Wesen auf - daher ist der Begriff des Objekts überhaupt vermittelt durch den Begriff des Du, des gegenständlichen Ich. " W. Dilthey, Weltanschauungslehre. Gesammelte Schriften Bd. VIII, Göttingen 41968: "Das Deutliche wird zum Erklärungsmittel für das Unfaßliche." Sprache muß her. - Prototypisch im Sinne des Projektionstheorems ist Freud, Totem und Tabu (1913), Gesammelte Werke (Imago) Bd. IX, Frankfurt 31961. 28 Piaget, Das Weltbild des Kindes, 191 ff. Die folgenden Zitate beziehen sich auf dieses Werk. 29 Es sei nicht unerwähnt, daß die Sozialisationstheorie und in ihr die Rolle des Erwachsenen und des von den Erwachsenen ausgeübten Zwanges auch in der Untersuchung zur moralischen Urteilsbildung einer Revision, zumindest einer Präzisierung bedürfen. ]. Piaget, Das moralische" Urteil beim Kinde (1932), Frankfurt 1973. 30 Der Gegensatz von Form und Inhalt, wie er bei Piaget, Das Weltbild des Kindes, 13, auftaucht, aber nicht durchgehalten werden kann (ebd. 157), verschwindet.
Von Niklas Luhmann
I
Aus mehreren Gründen sollte man die Frage nach einer soziologischen Theorie der Erkenntnis wieder aufgreifen und mit den heute zur Verfügung stehenden Mitteln neu formulieren. Ein Grund liegt schon in der irritierenden Ungelöstheit des klassischen Problems der Wissenssoziologie: der Frage nach dem Wahrheitswert der soziologischen Erklärung von Wahrheit beanspruchender Erkennmis. Ein zweiter Grund liegt in der zunehmenden Soziologisierung der Wissenschaftstheorie, auffällig besonders dort, wo sie historische Analysen der Theorieentwicklung einbezieht, sich sozusagen mit dem Historismus verbündend 1 . Es kommt hinzu, daß inzwischen auch andere empirische Disziplinen den Anspruch anmelden, eine Epistemologie mit universellem Gültigkeitsanspruch zu begründen, so vor allem Neurophysiologie, Biologie, Evolutionstheorie 2 . Aus einem ganz anderen Forschungsbereich wären die Forschungen von Gotthard Günther zu nennen, die die Geschichte des Prinzips der Zweiwertigkeit und die es sprengenden Probleme der Multisubjektivität betreffen 3 . Sie lassen den heute verbreiteten Gebrauch von Begriffen wie Diskurs oder Dialog zur Bezeichnung des Prozesses, der Wissen konstituiert, als eher oberflächlich, jedenfalls klärungsbedürftig erscheinen4 . Enge Beziehungen dieser Logikforschung bestehen dagegen zu einem neuartigen Interesse an Selbstreferenz sowohl in der Logik als auch in der Systemtheories . Die traditionelle Wissenschaftstheorie erscheint von hier aus in all ihren sachlich-zeitlich-sozialen Varianten - als Prinzipienapriorismus, als Prozeßapriorismus, als Sozialapriorismus als geprägt durch die (logisch begründete) Furcht vor dem selbstreferentiellen Zirkel. Irgendein Apriori schien ihr unerläßlich zu sein auf Grund der Annahme, daß, kantisch formuliert, die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung nicht selber Gegenstände der Erfahrung sein, nicht selber im Bereich der Erfahrung aufgesucht werden könnten. Aber mußte das dann nicht auch heißen: daß es auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Vernunft keine vernünftige Antwort geben könne? Wie dem auch sei: Es scheint diese gut begründete, scheinbar zwingende Abwehrhaltung zu sein, die das klassische Problem der Wissenssoziologie unlösbar macht, die dazu zwingt, den Begriff des Diskurses theoretisch unfundiert einzuführen und die der Anlaß dafür ist, die Wissenschaftstheorie auf problematische Apriorismen (Kant) oder auf Langfristhoffnungen (Popper) zu stellen. Unterstützt und abgerundet wurde diese Problemfassung "Vermeidung der Selbstreferenz" durch die Annahme, daß Selbstreferenzen nur im Bewußtsein auftauchen. Man konnte dann das Bewußtsein auf Grund der cartesischen Selbstanalyse zum "Subjekt"
rung, die in der Bindung an Bewußtsein liegt. Jedenfalls löste diese Assoziation von Selbstreferenz und Bewußtsein, die mit hoher Plausibilität in der Selbsterfahrung des modernen Menschen verankert werden konnte, transzendierende (transzendentalisierende) Strategien aus als Versuche, eine ausschließlich subjektimmanente (also: bewußseinsimmanente) Begründung des Wissens zu vermeiden. Die Geschichte dieser Versuche zeigt eine Abfolge von sachlichen, zeitlichen und sozialen Apriorismen; sie versucht es mit Orientierungsprinzipien (Kant), mit der Subjektivität (besser: Subjektität) des sich selbst aufarbeitenden historischen Prozesses (Hege!) und schließlich mit der These des aller Vernunft immanenten Sozialapriori (Adler und wohl auch Habermas). Diese vom Subjekt aus anvisierte Aprioristik hat die ältere Unterscheidung von Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung überspült 6 und die Begrifflichkeit von "Bestand" und "Erhaltung" ins konservative Abseits gedrängt. Gerade erkenntnistheoretisch interessierte Soziologen haben denn auch zunächst durchweg nach Rekonstruktionen des A priori gesucht 7 . Diese Gesamtverkettung der Begriffe und Theorien hat heute ihr historisch begründetes Eigengewicht. Aber sie hängt von einer Problemfassung ab, die in dem Maße, als Alternativen denkbar werden, an Überzeugungskraft verliert. Wenn man sieht, daß diese erkenntnistheoriegeschichtlich akkumulierte Semantik auf Schwierigkeiten aufläuft, die sie selbst nicht mehr lösen kann, und wenn man außerdem sieht, daß diese Formation den Weg zu einer adäquaten Soziologie der Erkenntnis behindert, mag es reizvoll erscheinen, sich erneut mit dem Ausgangsproblem dieser Entwicklung zu befassen. Wir hatten es "Vermeidung von Selbstreferenz" genannt. Die folgenden Überlegungen schließen hier an. Sie suchen einen Ausweg nicht in der Form einer Gegenthese, nicht in der Form einer einfachen Negation der klassischen Prämisse und der Behauptung des Gegenteils. Es kann schließlich nicht ignoriert werden, daß pure Selbstreferenz mit Beliebigkeit korreliert und keine Limitationalität liefert. Aber die eingangs erwähnten Veränderungen im Theoriepotential der Gegenwart regen doch eine tiefgreifende Umkontextierung des Vermeidungsgebots an. Wir werden die Assoziation von Selbstreferenz und (subjektivem) Bewußtsein kappen bzw. auf einen Sonderfall unter vielen anderen reduzieren und statt dessen von einer Theorie selbstreferentieller Systeme ausgehen, die mehrere verschiedenartige Realisationen zuläßt. Als Realisation interessiert uns dann speziell der Bereich sozialer Systeme und hier wiederum speziell der Fall der modernen Gesellschaft mit einem auf Wissenschaft spezialisierten Subsystem.
II
Im Kontext einer allgemeinen Systemtheorie muß man drei verschiedene Bedeutungen von "Selbstreferenz" unterscheiden je nach dem, was als "Selbst" der Referenz fungiert. Die erste Bedeutung ergibt sich, wenn man von den Elementen bzw. elementaren
mitwirken kann, daß es sich durch seine Beziehung auf andere Ereignisse auf sich selbs rückbezieht; wenn es also in diesem Sinne einen Kontext braucht, um sich selbst iden tifizieren und Relationen zu anderem wählen zu können. Wir wollen in diesem Sinn von basaler Selbstreferenz sprechen. Ein zweiter Sinn ergibt sich, wenn Ereignisse sich durch wechselseitige Selektion in de Zeitfolge zu Prozessen verknüpfen. Prozesse können, wenn sie gerichtet und identifi zierbar sind, ihrerseits als ein "Selbst" der Referenz fungieren. Dann wollen wir von Reflexivität oder reflexiven Prozessen sprechen 8 . Reflexive Prozesse richten sich au sich selbst, bevor sie sich auf ein Objekt richten, und gewinnen dadurch Steuerungska pazität. Beispiele aus unserem Themenkreis sind: Denken des Denkens, Erkennen de Erkennens, Forschen über Forschung. Davon zu unterscheiden ist der Fall, in dem das System selbst, in dem Ereignisse un Prozesse stattfinden, als das "Selbst" der Referenz fungiert. Diesen Fall wollen wir Re flexion nennen. Er besagt, daß das System die Orientierung an der eigenen Identitä benutzt, um sich selbst zu steuern. Dafür ist die Absetzung gegen eine nicht dazugehö rige Umwelt, also der systeminterne Gebrauch der Differenz von System und Umwel unerläßlich. Nicht alle basal-selbstreferentiellen Systeme entwickeln eine Reflexions identität. So verfügt zum Beispiel das neurophysiologische System des Gehirns zwa über basale Selbstreferenz und über prozessuale Reflexivität, mit der es Sequenzen un Frequenzen steigern und als solche wirken lassen kann; es verfügt aber nicht über di Möglichkeit, die Reflexion der eigenen Differenz zur Umwelt als Mittel der Selbstselek tion einzusetzen 9 . Dafür muß es Bewußtsein erzeugen. (Die erst hier, erst beim Bewußt sein ansetzende Theorie hat denn auch zunächst keinen Anlaß gesehen, die verschiede nen Formen von Selbstreferenz deutlich zu unterscheiden und begrifflich zu trennen.) Die verschiedenen Formen der Selbstreferenz hängen mit Komplexitätsproblemen zu sammen. Komplexität zwingt zur Selektion, wenn ein System so viele Elemente zusam menhält, daß es nicht mehr jedes Element mit jedem anderen verknüpfen kann. Di dann notwendige Selektion kann durch Selbstreferenz kontrolliert werden, indem di (mögliche) Rückbeziehung auf das Selbst als Kriterium der Diskriminierung benutz wird. Je größer die Anforderungen, desto anspruchsvollere Formen der Selbstreferen müssen eingesetzt werden. Größer werden die Anforderungen mit zunehmender Selek tivität, weil dann Selektionen riskanter werden und sich gegen mehr andere Möglichkei ten durchsetzen müssen. Man kann deshalb annehmen (und wir werden dies am Beispie der ausdifferenzierten Wissenschaft zu belegen versuchen), daß bei zunehmender Kom plexität und damit zunehmender Selektivität zusätzlich auch die anderen Formen de Selbstreferenz eingesetzt, also Reflexivität und Reflexion nachentwickelt werden müs sen, soll die "control complexity" nicht allzu weit hinter der "design complexity" zu rückbleiben 10 . Aller basalen Selbstreferenz liegt ein zirkulärer Verweisungszusammenhang zu Grunde Das in ihm wirkende Element ist über die Orientierung an anderen Elementen sic selbst wieder zugänglich. In Systemen mit temporalisierter Komplexität und zeitpunkt
eine Mehrzahl von Prozessoren und in diesem Sinne eine multiple, "mutualistische", dialoghafte Systemkonstitution. Bei modellhaften Vereinfachungen geht man zuweilen von einem Mindestmaß (aber das ist ein illusionäres Minimum) von zwei Prozessoren als Bedingung für Selbstreferenz aus l4 . In der Theorie sozialer Systeme symbolisiert man diese Mindestanforderung durch die Abstracta Ego und Alter. Man kann sich dieser Terminologie getrost bedienen, nachdem klargestellt ist, daß damit weder institutionalisierte Rollen noch gar konkrete Personen gemeint sind, sondern eben Mindestbedingungen für die Konstitution selbstreferentieller Systeme im Sonderbereich sozialer Systeme. Um eine selbstreferentielle Organisation der Elemente des Systems produzieren zu können, müssen die Prozessoren zirkulär verknüpft sein. Diese Struktur ist am Falle von Ego und Alter häufig dargestellt worden, wir können uns also auf die Wiedergabe wohlbekannter Theorieannahmen beschränken. Der Zirkel kommt in jedem Prozessor mit Hilfe des anderen zustande, und dies deshalb, weil jeder Prozessor separat Ereignisse produziert. Ego richtet sich in seinen Verhaltenswahlen nach dem, was er von sich selbst und was nach seiner Erwartung Alter von ihm erwartet. Er erfährt, um diese Gegenerwartungen materialisieren zu können, Alter als alter Ego. Damit drängt sich die Unterstellung auf, daß auch Alter als Ego prozessiert, da sich die Figur des Ego in ihm redupliziert. Also erwartet Ego auch, daß sein alter Ego ihn als Alter erfährt und sich ebenfalls nach sich selbst und nach dem anderen zu richten bemüht. Der Zirkel liegt also nicht nur in dem Sichabhängigwissen von den Wahlen des Anderen; er liegt in dem Sichabhängigwissen von dem Sichabhängigwissen beider. Nur so hat er, zeitlich gesehen, eine momenthafte (und nicht schon sequenzierte und dadurch asymmetrische) Existenz, und nur so prägt er sich in jedem Prozessor von Moment zu Moment den Ereignissen auf.
III
Es mag nützlich sein, dieses heute übliche Modell der zirkulären Sozialität mit Hilfe eines historischen Beispiels etwas konkreter zu fassen. In der Literatur des 17. Jahrhunderts über geselliges Verhalten, insbesondere Konversation, hat man neben Detailrezepten und personenbezogenen Idealfiguren (honnete homme etc.) vor allem die Maxime des Gefallens (plaire) ausgearbeitet 15 : Man solle sich bemühen, anderen zu gefallen unter Zurückstellung eigener Impulse. In diesem Zusammenhang gewann ein Sonderrezept zentrale Bedeutung: Man könne einem anderen besonders dadurch gefallen, daß man ihm die Möglichkeit bietet, selbst zu gefallen 16. Damit dreht sich der doux commerce des geselligen Verhaltens im Kreise, um das wechselseitige Einanderzuschieben von Gefallens-Chancen zu optimieren. Dafür ist Leichtigkeit der Behandlung und ständiger Wechsel der Themen erforderlich. So heißt es in der Encyclopedie, eine
liberte et comme il veut ou comme il peut ." Zugleich stößt dieser Gefallenszirkel nach der Einsicht der Zeitgenossen mancherlei Inkompatibles aus, zum Beispiel exaltierte Individualität, genau und intensiv zu diskutierendes Wissen oder heikle, zu Widerspruch reizende Themen anderer Art, etwa Religion und Politik. Obwohl selbstreferentiell geschlossen, wirkt der Zirkel also selektiv und damit systembildend; er konstituiert geradezu die Differenz von System und Umwelt, nämlich das, was als biense an ce zugelassen, gegen das, was abgewiesen wird. Die gesellige Konversation hat Eigenarten und stellt Anforderungen, die gen au wie das Bewußtsein des Denkens quer stehen zur Dichotomie von wahr und falsch - eine bisher kaum beachtete Parallele. Wie die Analyse Descartes' zeigt, bestätigt das Selbstbewußtsein sich mit wahren und mit falschen Vorstellungen. Ebenso steht aber auch die Konversation unter der Notwendigkeit, Wahres zu verschweigen oder auch Verstellung zu praktizieren, damit sie als Kommunikation erhalten bleibt und nicht abgebrochen wird 18 . Das heißt: Die Ausdifferenzierung von sozialer Kommunikation als solcher führt keineswegs zur Vermehrung der Erkenntnis; sie läßt nur schärfer bewußt werden, was beachtet werden muß, wenn man den Kontakt und das wechselseitige Sich-Gefallen fortsetzen will. Die Probleme eines kurzgeschlossenen selbstreferentiellen Zirkels, die Probleme einer nur mit sich selbst beschäftigten Zweierbeziehung werden durchaus gesehen. Die Selbstreferenz, auch die soziale, führt zur Langeweile, wenn sie nicht ihren Wein aus den Reben der Welt ziehen kann. "L'union de deux personnes attaches entierement l'une avec l'autre cette belle union a besoin des choses etrangeres qui excitent le gout du plaisir, et le sentiment de la joie ... C'est dans le monde, et dans un melange de divertissement et d'affaires, que les liaisons les plus agreables et les plus utiles sont formes 19 ." Aber diese Welt scheint noch unproblematisch zur Verfügung zu stehen, und es genügt irgendeine Welt, solange sie den Anforderungen der guten Gesellschaft entspricht, um für Freundschaft die unentbehrliche Umwelt zu bilden. Sowohl ein solches System als auch seine Umweltvoraussetzung sind, im allgemeinen Kontext schichtspezifischer Anforderungen, auf Unspezialisiertsein spezialisiert. Dies erste ausgearbeitete Modell eines zirkulären Typs20 hatte mithin schon deutlich ausgearbeitete, aber ebenso deutlich antiwissenschaftliche Züge. Es selegierte das, was für eine Erhaltung der Bereitschaft zur Fortsetzung des Kontaktes und (zu diesem Zwecke) zum laufenden Wechsel der Themen der Unterhaltung wesentlich war. Daraus ergab sich, daß es im Themenbereich nicht auf die Erzielung von Ergebnissen ankam; daß deshalb die Forcierung von Entweder/Oder-Zumutungen vermieden werden konnte und, da sozial unangenehm 21 , auch vermieden werden mußte; und daß überhaupt jeder Widerspruch gegen geäußerte Meinungen als Problem, wenn nicht als Fehlverhalten angesehen wurde 22 . Kein vorgetragener Gedanke darf verworfen werden, denn man muß Rücksicht darauf nehmen, daß verletzliche Personen hinter ihm stehen; man kann ihn also nur kommentieren, aus anderer Sicht beleuchten, vorsichtig auskühlen, umgehen. Was als Diskurs möglich ist, wird dadurch bestimmt, daß eben der Diskurs und nur er Grund dafür ist, daß Personen verschiedenster Art an ihm teilnehmen.
Kräfte des Einzelnen geht und ein Gemeinschaftsunternehmen erfordert 23 . Die Ausdifferenzierung besonderer, für Förderung der Wissenschaft geeigneter Kommunikationszusammenhänge wird bewußt betrieben. Während die gesellige Kommunikation wissenschaftliche Kommunikation als inkompatibel abstößt, ist für die wissenschaftliche Kommunikation selbst vor allem ihr Verhältnis zur Religion ein Problem; denn sie kann in Wahrheitsfragen weder klerikale Vermittlung noch Immediatoffenbarung an den Einzelnen akzeptieren, sondern will ihr eigenes Netz entscheiden lassen 24 . Daraus werden eine Reihe von Forderungen abgeleitet, insbesondere: (1) empirische Beweisführung, die jedermann einleuchtet; (2) nicht notwendig logisch strenge, sondern in weiten Bereichen nur "moralische" (= sozial plausible) Gewißheit als Maßstab 25 ; (3) Verständlichkeit als Anforderung an sprachliche Darstellung; (4) hypothetischer, ohne apodiktischen Anspruch auf Zustimmung vorgetragener Charakter der Theorien und Systementwürfe 26 ; und (5) Vorkehrungen für eine Organisation der Zusammenarbeit, besonders in wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien. Diese Fassung des Problems war bestimmt durch die Frage nach den Bedingungen eines Erkenntnisfortschritts27. In dieser Perspektive lag kein Anlaß, auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt zurückzugehen, geschweige denn: diese Bedingungen im Bereich des Sozialen zu suchen. Die Wissenschaftsentwicklung hatte sich vielmehr zunächst an das Faktum schon vorhandenen Wissens und an die Gegenstände des Wissens zu halten; denn darin lag die Berechtigung ihres Daseins. Dies wird auch im 18. Jahrhundert nicht prinzipiell anders. Im Gegenteil: Die soziale Komponente im Wissenschaftsverständnis tritt zurück in dem Maße, als man zu sehen beginnt, daß der "common sense" und die Objekt-Empirie als Basis der Wissenschaft nicht ausreichen; und in dem Maße, als man auf schon konsolidiertes Wissenschaftswissen zu reflektieren beginnt und es in den Bedingungen seiner Möglichkeit zu begreifen versucht. Das 18. Jahrhundert schaltet, in der oben angebotenen Terminologie formuliert, von basaler und kommunikativer Selbstreferenz auf Reflexionstheorien um. An Hand der Frage, wie Wissen über die Bedingungen von Erkenntnis überhaupt möglich ist, wenn es sich bei jeder Bemühung selbst voraussetzen muß, sucht man die Identität des Wissenschaftssystems zu bestimmen und im gleichen Zuge eine Theorie für operative Anweisungen an wissenschaftliche Forschungen zu entwickeln. Bei dieser Ausrichtung mußte das Problem der Einheit in der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand auftauchen. Die Frage nach dem "Träger" der Erkenntnis als Prozeß und als Besitz war mit dem Hinweis auf das "Subjekt" einstweilen zufriedenstellend beantwortet. An Hand der Aversionen, die annähernd gleichzeitig im Modell der geselligen Konversation ausgearbeitet werden, kann man jedoch deutlich Fragen erkennen, die damit unbeantwortet bleiben. Dies sind zugleich Fragen, die wieder auftauchen müssen, wenn in der neueren soziologischen Theorieentwicklung die "doppelte Kontingenz" in der Sozialbeziehung von Ego und Alter erkannt und als Grundproblem der allgemeinen Theorie sozialer Systeme ausgearbeitet wird. Sie setzen beim Problem der Selbstreferenz in
sagt, was Ego hören will, Erkenntnis entstehen?
IV
Untersuchungen zu der Frage, wie es zu der modernen Wissenschaft gekommen ist, wa sie vor älteren Bemühungen um Erkenntnis auszeichnet, und ob es in der Zeit vo Galilei bis Newton eine Art "wissenschaftliche Revolution" gegeben habe, sind bish vornehmlich auf der Ebene eines Vergleichs von Theorien und Methoden geführt wo den. So konnte man sich fragen, ob und wie weit das Kontingenzbewußtsein des spä mittelalterlichen Nominalismus und seine Tendenz zu einer Art Singularien-Empir die moderne Wissenschaft vorbereitet habe. Einen Schritt weiter führt die Frage, o sich im Übergang zur Neuzeit nicht primär die Erwartungen geändert haben, die ma mit Theorien und vor allem mit Methoden verbindet 28 . Eine Änderung auf dieser Eb ne kann dann mit Kontinuität und mit Diskontinuität auf der Ebene der Theorien un Methoden selbst kompatibel sein; denn es ändert sich dann primär die selektive Einste lung zu diesem Material. Neben den Theorien und Methoden, deren Vielfalt man tol rieren konnte, waren im 16. und 17. Jahrhundert ja auch die mit ihnen verbundene Gewißheitsansprüche und Entscheidungsmöglichkeiten - und vor allem sie! - kontro vers. Es bleibt dann aber immer noch zu erklären, weshalb die Erwartungen und An sprüche sich geändert haben, und was sich geändert haben mußte, damit dies möglic war. Mit dieser Erweiterung der Fragebasis ist einerseits die Gesellschaftstheorie angespro chen; andererseits erfordert sie auch ein vertieftes Verständnis des Erkenntnisprozesse selbst, der nicht ausreichend begriffen ist, wenn man ihn nur als Gebrauch von Theo rien und Methoden charakterisiert und es dabei beläßt. Wir sehen die entscheidend Veränderung, wie im vorigen Abschnitt angedeutet, in einer stärkeren Ausdifferenzi rung von speziell auf Erkenntnisgewinn gerichteten Kommunikationszusammenhängen die mehr und mehr in eigene Regie übernehmen, was von Theorien und Methoden e wartet werden kann. Die bekannte These der Ausdifferenzierung und Autonomisierung besonderer, auf E kenntnisgewinn gerichteter Diskurse 29 nennt zunächst aber nur formale Rahmenbe dingungen, die sich aus dem allgemeinen Prozeß funktionaler Differenzierung des G sellschaftssystems ergeben. Damit ist noch nicht geklärt, wie diese Ausdifferenzierun sich selbst ermöglicht, indem sie zugleich die gesellschaftlichen Bedingungen änder die sie tragen. Um dies klären zu können, müssen wir auf das Faktum der Selbstref renz zurückgehen, das einerseits Bedingung für jede Sozialität ist und andererseits zi kuläre, kurzschlüssige und damit unfruchtbare Tautologie. Reduziert auf die rein Form und spezialisiert auf sich selbst, heißt das: unabschließbare Beliebigkeit. Gena das war Sinn und Ziel der Konversation. Will man das vermeiden, muß man das Sy
Konditionierung ist eine ganz allgemeine, vielleicht die allgemeinste Form der systeminternen Behandlung von Selbstreferenz 3o . Sie kann auch als Repression oder Inhibierung von Möglichkeiten charakterisiert werden; in unserem Falle als Inhibierung der sofortigen und umstandslosen Rückkehr zu sich selbst. Der Gebrauch der Möglichkeiten, die sich bieten, wird von Bedingungen abhängig gemacht, die ihrerseits nicht unbedingt, aber zum Beispiel bis zu einer bestimmten Belastungsgrenze gelten. Deshalb kann man Konditionen, die das kurzschlüssige Tautologisch-Werden der Selbstreferenz verhindern, ihrerseits selbstreferentiell begründen. Dies Enttautologisieren durch Konditionierungen kann auf sehr verschiedene Weise erfolgen. Ein Modell hatten wir schon vorgeführt: Man benutzt "un meJange de divertissement et d'affaires", um Freundschaften von der Langeweile der reinen Selbstreferenz zu befreien 3 !. Dasselbe Problem steuert die Ausdifferenzierung funktionsspezifischer Subsysteme in der Gesellschaft. Will man Systeme auf Erkenntnisgewinn spezialisieren, muß ihre Enttautologisierung auf diese Funktion eingestellt sein; es müssen dann die Konditionierungen, die dies gewährleisten sollen, entsprechend gewählt werden. Wie dies geschieht - mit dieser Frage erschließt man die sachlichen und die historischen Bedingungen der Möglichkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis. In der klassischen Tradition hatte man diese Aufgabe der Logik und ihrer metaphysischen Fundierung zugewiesen. Für die zum Erkenntnisgewinn eingesetzten Operationen gab es je spezifische Axiome, und zwar für Begriffsbildung den Satz der Identität, für Urteile den Satz vom verbotenen Widerspruch und für Schlußfolgerungen den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, wozu später noch der Satz vom zureichenden Grunde hinzukam, der diese Axiomatik als geschlossenes System des Begründens von Erkenntnis reflektiert 32 . Damit waren Konditionen genannt, die Beliebigkeit aussperren und für Bestimmtes sensibilisieren sollten. Diese Leistung ist und bleibt unentbehrlich. Die Form, in der sie axiomatisiert wurde, hatte jedoch die Differenz von Sein und Denken (und entsprechend: von Metaphysik und Logik) vorausgesetzt und nur die Lenkung des Negierens im Denken als ihr Problem betrachtet. Deshalb: Identischhalten der Begriffe, speziell beim Übergang zur Negation; Vermeidung von Widersprüchen, obwohl sie dem Denken unterlaufen können; und Regulierung der Schlußformen zur Vermeidung logischer "Fehler". Dabei wurde das Angewiesensein auf Externes vorausgesetzt und nicht eigens problematisiert. Die Axiomatik hatte demnach zwei Differenzen zu betreuen: die von Sein und Denken und die von wahr und falsch, und sie tat dies mit einem Instrument: mit dem binären Schematismus der Logik 33 . Dem entsprach auf Seiten des Denkens ein zu einfach gewählter Reflexionsbegriff ohne deutliche Unterscheidung von basaler Selbstreferenz, Prozeßrefiexivität und Identitätsreflexion, - eine Zusammenfassung, die von der Möglichkeit lebte, dem Sein (oder sogar: der Welt) entgegengesetzt zu werden. Auf dieser Grundlage ging dann die Metaphysik des Subjekts davon aus, daß es dem Subjekt im Verhältnis zum Sein nur (!) darum gehen könne, zu sich selbst zurückzufinden, und nannte das: Reflexion.
operationsfähig zu bleiben, und wie es (2) in einer Weise, die damit kompatibel ist Konditionen setzt, die diese Selbstreferenz enttautologisieren und funktional spezifi zieren. Wenn unsere Diagnose den Punkt trifft, an dem die traditionelle Axiomatik zu kompakt ansetzt, liegt es nahe, an dieser Stelle deutlicher zu unterscheiden. Das be trifft das Verhältnis von Sein und Denken auf der einen und Wahrheit und Falschhei auf der anderen Seite. Beide Dichotomien müssen deutlicher getrennt und beide als sy steminterne Strategien mit Bezug auf das Grundproblem der Selbstreferenz dargestell werden. Wir werden in diesem Sinne daher zwischen Externalisierung und biniirer Sche matisierung unterscheiden und wollen zu zeigen versuchen, daß die eine Strategie de Unterbrechung, die andere der Erleichterung des selbstreferentiellen Operierens dient. Das erste Prinzip der Selbstkonditionierung und Spezifikation führt Externalisierungen und damit Asymmetrien ein. Dem Bedarf für Externalisierungen kommt vor allem die Subjekt-Prädikat-Struktur der Sprache entgegen. Sie erweckt in der Kommunikation (! den Eindruck, als ob das Objekt (Satzsubjekt) für seine Eigenschaften selbst verant wortlich sei - und nicht der, der über es redet und ihm Eigenschaften beilegt 34 . Im Kommunikationsprozeß wird so der Eindruck externaler Referenzen gefestigt, da e eine sehr aufwendige Kommunikation über Kommunikation erfordern würde, um ihm entgegenzutreten. Mit Hilfe solcher Sprachformen können informationsverarbeitende Prozesse sich ab hängig machen von etwas, was sie nicht selbst sind und nicht selbst hergestellt haben Sie projektieren eine Umwelt, von der sie - obwohl es ihre Projektion ist! - ausgehen können. Dies gilt als Regel für alle Prozessoren im System, für Ego und für Alter, so daß man darüber immer schon verständigt ist, wenn man im System handelt. Will man auf Erkenntnisgewinn hinaus, kann dies jedoch nicht bedeuten, daß man die Umwel in der Form von Tatsachen, Gegebenheiten, Daten voraussetzt. Mit Ontologie ist zu viel festgelegt. Ebenso wenig reicht es aus, dem Sein die eigene Subjektivität (die man doch gerade fremdreferenzieren will) entgegenzusetzen und den Eigenanteil an de Projektion der Fakten zu betonen. Und auch die "transzendentale" oder "dialektische Versöhnung des Objektiven mit dem Subjektiven bringt nichts, wenn beide Versionen schon für sich verfehlt sind. Das Problem liegt vielmehr in der Frage, auf was sich die Externalisierung bezieht. Über die traditionelle Unterscheidung von Sein und Denken oder dann Objekt und Sub jekt führt es hinaus, wenn man das Problem auf die Zurechnung von Sele.ktionen be zieht 35 . Damit werden Faktenannahmen jeder Art potentiell aufgelöst und für Rekom binationen freigegeben, ohne daß dies auf Subjektivierung hinausliefe. Entscheidend ist daß die Selektion (oder wie man häufig auch sagt: die Information): daß dies und etwas anderes der Fall ist, der Umwelt und nicht dem System zugerechnet wird und daß die Selektion systemi~tern deshalb als Erleben und nicht als Handeln geführt wird Daß die Semantik, die Sprache, die Begrifflichkeit, in die das Erleben gefaßt ist und die als Vehikel systeminterner Verständigung dient, nur intern "gilt", steht dabei auße
und unabhängig von den ins Auge gefaßten Alternativen gar nicht fixieren läßt, und auch unabhängig davon, ob das System selbst die Entscheidung provoziert und herbeiführt oder ob es sie nur beobachtet. Im geschichtlichen Wandel der Semantik wirkt sich diese Umstellung auf (nur) erlebnisorientierte Selektionszurechnung als "Entzauberung" oder genauer: als Entmythisierung der Welt aus. Die Auslegung des Geschehens als Handeln, ihre Modelldarstellung in Mythen, Epen, Legenden wird abgebaut, weil in der Darstellung als Handeln zu viel Aufforderung steckt, mit eigenem Handeln nachahmend oder korrespondierend sich zu binden. Die mythischen Handlungsmodelle werden abgebaut und dann rekonstruiert als etwas, was "nur symbolisch" gemeint war: als Allegorie, als Zeichen für etwas anderes, als Metapher 36 . So kann, etwa für das 15. und 16. Jahrhundert, als Nachfolge des Mythos beides nebeneinander gelten: Wissenschaft und Mythologie. Die Mythologie entwickelt sich von erzählbaren Handlungsmodellen zu einem handlungsintensi~en Weltverständnis mit unmittelbaren Korrespondenzen, situativen Konstellationen, Sympathien und Antipathien 37 • In dieser Form wird zunächst eine attraktiv und zukunftsreich erscheinende Alternative zum begriffsuniversalistisch orientierten Aristotelismus, der die Schulen beherrscht, aufgebaut. Aber dann qualifiziert die neu sich entwickelnde Naturwissenschaft diesen Weg als dunkel und mystisch ab, und zwar genau in den Hinsichten, in denen Handlungsunterstellungen eine Rolle spielen. Die Differenzierung von Handeln und Erleben entscheidet über den Weg, den die Ausdifferenzierung der Wissenschaft nehmen kann. Jedenfalls wird im Laufe des 17. Jahrhunderts der Welt die Handlungskomponente entzogen und als Ausdifferenzierung von Handlungssystemen vors Erleben gebracht. Die Wissenschaft folgt ihrerseits dieser Ausdifferenzierung und gewinnt dadurch Positionen, von denen aus sie entscheiden kann, ob sie Erleben oder Handeln erlebt. Sie projiziert keine Welt, die ihrerseits durch Handeln zum Handeln, durch Normierung zum Gehorsam, durch Liebe zur Liebe auffordert; sondern allenfalls eine Gesellschaft, in der auch für den ausdifferenzierten Wissenschaftsbetrieb gewisse übergreifende Verantwortungen angemahnt werden. Als Kurzfassung dieser Analyse verwenden wir die Formel, daß die Ausdifferenzierung spezifisch wissenschaftlicher Diskurse durch eine Reduktion auf die Zurechnungsform des Erlebens erreicht wird. Ego und Alter unterstellen sich wechselseitig ein Verhalten mit diesem externalisierenden Zurechnungsmodus. Darauf spezialisiert, wird ein besonderes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium für Wahrheit gebildet, an dem das wechselseitige Unterstellen sich orientieren kann 38 . Durch diese Form der Externalisierung unterscheidet sich Wahrheit von allen anderen Kommunikationsmedien, die für Ego oder für Alter oder für beide Handlungszurechnungen zulassen 39 . Die Ausdifferenzierung auf der Interaktionsebene wird durch die Ausdifferenzierung eines entsprechenden Mediums unterstützt und über die einzelne Interaktion unter Anwesenden hinaus generalisiert.
siehst, und nur ich sehe dies. Die Konditionierung auf die gemeinsam unterstellte Form des Erlebens löst dieses Problem. Sie gewährleistet damit noch keineswegs Überein stimmung des Erlebens im Sinne intersubjektiv zwingender Gewißheit; aber sie ist Vor aussetzung dafür, daß solche Übereinstimmungen im Erleben erarbeitet werden kön nen. Dabei wird die basale Selbstreferenz keineswegs aufgegeben. Die Kurzschließun bleibt möglich. Aber sie wird jetzt in die Form der Kritik gebracht und für Sonderla gen reserviert - etwa für den Fall, daß es darauf ankommt, nachzuweisen, daß das Er leben des anderen mit seinen Prämissen steht und fällt und man dieselbe Informatio auch anders begreifen kann. Während Externalisierungen dieser Art zu eng gebaute Interdependenzen im selbstre ferentiellen System unterbrechen, haben binäre Schematismen den genau umgekehrte Sinn: Kurzschlüsse zu erleichtern und sie in eine omnipräsente, laufend mitgeführt Form zu bringen. Dazu wird die Gesamtheit der Themen dupliziert: Alles erhält ein Ja-Fassung und eine Nein-Fassung. Jede Annahme einer Ja-Fassung profiliert sich da mit gegen die zugeordnete Nein-Fassung und wird so zur Selektion. Dasselbe gilt im umgekehrten Fall für die Nein-Fassungen. Wir nennen diese Duplikation "Codierung und entsprechend präparierte symbolische Einrichtungen "Codes". Codes ermögliche es, in jedem ihnen zugeordneten Kontext (also: im gesamten Zuständigkeitsbereic des Schematismus) Jas und Neins als möglich zu erwarten, und sie überbrücken durc eben diese Ermöglichung des Erwartens von Möglichkeitsorientierungen doppelte Kon tingenz. In diesem Sinne ist schon Sprache ein Code, auch wenn sie nicht immer un nicht nur in dieser Eigenschaft benutzt wird. Kommunikationsmedien entstehen durc eine Wiederholung dieses Vorgangs der Codierung auf der Ebene der "Werte" bzw Präferenzen, die Selektionen steuern. Ja-Fassungen und Nein-Fassungen können wah oder unwahr sein. Auch hier gilt, daß der binäre Schematismus universell praktizier und stets mitgeführt werden kann. Er ist als Dual so einfach gebaut, daß er die Auf merksamkeit nicht überfordert, so daß jedes Ego auch für jedes Alter unterstellen kann daß beide Werte zugleich präsent sind 4o . Nur auf dieser Grundlage kann Selektivitä des Erlebens sozial funktionierende Unterstellung sein. Die Funktion der binären Codierung und ihre Steigerung in der Form leicht handhab barer Schematismen erfordern demnach eine Annäherung des Entgegengesetzten, ein Erleichterung des Umschlagens vom einen ins andere. Anders als man es von der quali tativen Bevorzugung der Wahrheit vor der Unwahrheit her erwarten könnte, wird di Beziehung logisch symmetrisiert, und Negation wird zum Operator, der diese Symme trie in der Form von Austauschbarkeit technisch gewährleistet41 . Das läuft auf ein Verdichtung der basalen Selbstreferenz hinaus in dem Sinne, daß die Bejahung sich i der Verneinung desselben Themas wiedererblickt und sich in ihr bestätigt findet. De Beweis für das Ja läuft dann über die Unmöglichkeit des Gegenteils 42 . Basale Selbstre ferenz wird nicht nur zugelassen, sie wird forciert unter der Bedingung, daß sie sich de Form des binären Schematismus fügt und in ihr aufgehoben werden kann.
Form einer Interpretation des Seins. Wir sprechen von "soziologischer" Erkenntnistheorie daher auch in der Annahme, daß es möglich sein müßte, innerhalb der Wissenschaft eine (auf sie beschränkte) Funktionsnachfolge für Metaphysik zu organisieren. Wissenssoziologisch gesehen entspricht dem die Annahme, daß die hierarchische Form der Problemlösung durch Überordnung einer Idee in unserer Gesellschaft nicht mehr überzeugend wirken kann43 . Schließlich noch eine Bemerkung zur Technisierung binärer Codes - Technisierung im Sinne der Erleichterung des Vollzugs selbstreferentieller Operationen. In Anfängen ihrer Entwicklung und in konkreteren gesellschaftlichen Lagen sind die beiden Werte des Codes zumeist qualitativ besetzt und deshalb nicht durch bloße Negation ineinander überführbar. So ist schon auf organischer Ebene die Differenz von Lust und Unlust als Verhaltenscode angelegt - aber so, daß Lust nicht einfach durch Negation von Unlust zu gewinnen ist und ebensowenig Unlust durch Negation von Lust44 . Qualitative Duale dieser Art verweisen zugleich auf die Umwelt, organisieren für das System den Umweltkontakt und fungieren so als Externalisierungen. Sie sind deshalb nicht umkehrbar, weil sie zugleich externe Gründe mitrepräsentieren. Die Funktionskreise der Externalisierung und der Binarisierung sind nicht getrennt realisierbar; fast fühlt man sich erinnert an das, was oben über die klassische Axiomatik der Logik gesagt worden ist. Fortschritte in Richtung der Formalisierung und Technisierung des Bereichs, in dem Selbstreferenz benutzt wird, sind daher nur zu erwarten, wenn für Externalisierung anderweitig gesorgt wird. Eben deshalb führen die Entwicklungen der Logik seit dem Mittelalter unausweichlich vor die Frage nach dem Status der Objekte der Erkenntnis und schließlich zu Reflexionstheorien, die genau diese Frage zu betreuen haben und sich um die Logik nicht mehr zu kümmern brauchen. Wenn dann aber die Motivation weiterhin nur über qualitative Duale vermittelt werden kann, wenn also, mit anderen Worten, die logisch technisierte Differenz von wahren und unwahren Aussagen nicht schon als solche motivierend wirkt, entsteht ein Motivationsdefizit, das besondere Einrichtungen erforderlich macht, soll eine Bemühung um Erkenntnisgewinn weiterhin vorkommen. Der moderne Wissenschaftsbetrieb ist hier weithin auf finanzielle Anreize angewiesen. Er benutzt aber auch einen eigenständig entwickelten Nebencode der Reputation, in dem Reputationswerte stellvertretend für Wahrheiten zirkulieren und motivationale Effekte auslösen, die durch Wahrheit selbst nicht mehr zu erwirken sind45 . Diese erste Reihe von Überlegungen zu einer Theorie der auf Erkenntnisgewinn spezialisierten selbstreferentiellen Sozialsysteme läßt sich in einer Skizze zusammenfassen: Externaliserung (Asymmetrisierung)
binäre Schematisierung (Symmetrisierung)
~wahrheit~
teraktionssysteme, schließlich eines besonderen gesellschaftlichen Teilsystems für Erkenntnisgewinn; es führt andererseits zur Technisierung des binären Schematismus, zur Artikulation der Probleme, die sich daraus im Gegenstandsverhältnis ergeben, und zur Entwicklung eigentümlicher motivationaler Ressourcen, die auf einer Ausbeutung von Erkenntnisgewinnen für Reputationszwecke beruhen. Hält man an einem emphatischen Wahrheitsbegriff oder an einem auf "Sinnfülle" gestellten Subjektbegriff fest, mag diese Gesamtentwicklung als "Krise", wenn nicht als Fehlentwicklung spezifisch europäischer Rationalität erscheinen 46 . Aber was zwingt uns, einen solchen Ausgangspunkt der Bewertung zu Grunde zu legen?
v Sobald man damit rechnen kann, daß ein Diskurssystem sich von der Umwelt seiner Gegenstände unterscheiden kann, und sobald dieses System beginnt, über binär strukturierte Fragestellungen Entscheidungen herbeizuführen, sind Weiterungen wahrscheinlich. Die Fragestellung sucht Konsens mit Alter über die Umwelt unter der Kondition "Erleben". Das heißt: daß nur die Umwelt die Frage beantworten kann und daß Alter eben deshalb zustimmen wird. Aber die Umwelt antwortet nicht ohne weiteres. Also muß das System in der Lage sein, die Thematik zu variieren, um sie an das heranzusteuern, was die Umwelt beantworten kann. Die Themen müssen solange dekomponiert werden, bis man zu entscheidbaren Fragestellungen kommt. Das System nimmt den Weg analytischer Abstraktion. Die erste faßbare Ausdifferenzierung selbstreferentieller Forschung benutzt als ihr Organisationsmittel die soziale Situation und die in sie eingebaute Selbstreferenz. Das hieß im antiken Sinne "Dialektik". Sie setzt einen Fragenden und einen Antwortenden voraus und erwartet, daß der A.ntwortende auf die Fragen antwortet und der Fragende im Hinblick auf Antworten und im Anschluß an Antworten fragt. Dies genügt, um einen Prozeß der Selbstlimitierung in Gang zu setzen, der zur Wahrheit führt, wenn der Fragende Philosoph, und zur Unwahrheit, wenn er Sophist ist. Am Anfang ist also, wie die Überlieferung zeigt47 , die Frage noch an den Partner gerichtet. Die ursprüngliche Gemeinsamkeit des Weltlebens wird in sozialer Richtung aufgelöst. Der Partner wird unter Vorgabe einer binär konstruierten Alternative an die Umwelt herangeführt. Ein schon Wissender überzeugt einen Nichtwissenden 48 . Die Persuasivtechnik wird an der Umwelt entlanggeführt und setzt deshalb Sachkenntnis voraus. Aber dies ist für die "Philosophie", die sich den Dingen selbst widmet, schon bloß noch Sophistik, oder aber für Lehrzwecke: Dialektik 49 . Mit der gesellschaftsweiten Verfügung über (alphabetisierte, universell verwendbare) Schrift beginnt der Sachbezug zu dominieren 50 , und die Persuasivtechnik sucht sich ihre eigene Domäne, etwa in der Adelserziehung. Der Dialog wird zur Form literarischer Gestaltung. Die dialek-
spiel durch Dekomposition des Seins in das, was man dann "Kategorien" nennt 52 . In Verfolgung dieser Tendenz zur Dekomposition auf Ja/Nein-Entscheidungen hin differenziert das sich formende Wissenschaftssystem Theorien und Methoden. Diese Unterscheidung liegt schon nicht mehr auf der konstitutiven Ebene, die die Ausdifferenzierung ermöglicht, sondern betrifft die Programmierung des operativen Vollzugs unter dem Gesichtspunkt von Bedingungen der Richtigkeit des Verhaltens. Theorien knüpfen an die Kondition der Externalisierung an. Sie beziehen sich auf Informationen, die als gegenstandsfähig externalisiert werden können. Sie "binden" sozusagen Informationen zu dauerhaft verfügbarem, reproduzierbarem Sinn. Der entscheidende Schritt in der Ausdifferenzierung eines besonderen Theoriebewußtseins dürfte, längst vor aller Transzendentalphilosophie, darin bestanden haben, daß Verständlichkeit und Konstruierbarkeit im Theoriezusammenhang nicht mehr als Existenzbedingung der Dinge gesehen, daß also die Vorstellung eines übergreifenden Rationalitätskontinuums aufgegeben wird. Das heißt natürlich nicht: jegliche Beziehungen zwischen Theorie und Realität zu bestreiten. Aber die Funktion des Externalisierens selbstreferentieller Theoriezusammenhänge wird nur freigesetzt, wenn nicht vorweg schon gesichert ist, daß nur vorkommen kann, was die Theorie dann nur noch zu betrachten hat. Boyle "see(s) no necessity that intelligibility to a human understanding should be necessary to the truth or existence of a thing"53 . Damit ist die Welt für unendliche, nicht mehr abbildbare Komplexität freigegeben, während man andererseits darauf verzichten kann anzunehmen, daß es in der Welt Geheimnisse gebe, die dem Auge des Menschen auf ewig verborgen bleiben sollen. Auch Forschung über Erkenntnis und über Wissenschaft steht unter diesem Externalisierungszwang, muß also das Erkennen selbst in die Welt seiner Gegenstände transponieren und muß postulieren, daß das Erkennen sich selbst im Bereich seiner Gegenstände antreffen, sich selbst im strengen Sinne "erleben" und anderen Erlebnissen zuordnen kann. Nur unter dieser Bedingung ist Theorie als Form universell verwendbar. Damit allein ist es jedoch nicht getan. Es muß außerdem für binäre Schematisierbarkeit Sorge getragen werden; denn das, was nach den Annahmen der Theorie der Fall ist, muß abgrenzbar sein gegen das, was nicht der Fall ist. Auf der Ebene von Theorie gewinnt dieses allgemeine Gebot zusätzlich die Form von Limitationalität: Es wird - gegen alle Wahrscheinlichkeit - eine begrenzte Zahl von Möglichkeiten postuliert, so daß mit der Negation einer Möglichkeit die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens anderer vergrößert werden kann 54 • Eine direkt hier anschließende Theorietechnik arbeitet mit dichotomisch konstruierten Kreuztabellen und der Prätention, der Tabelle (aus Gründen, die durch die Randvariablen artikuliert sein müssen) alle möglichen Fälle zuordnen zu können 55 . Zu den dramatischsten Analysen, die mit dieser binären und deshalb klassifikatorischen Theorietechnik gearbeitet sind, gehört die Begründung der Selbstreferenz in der Form des Denkens des Denkens bei Aristoteles 56 • Das Denken könnte gedacht werden als
relationaler Begriff. Trotz dieses Resultats stehen zunächst und für lange Zeit keine anderen Theoriemittel zur Verfügung, und man gewöhnte sich deshalb daran, Selbstreferenz als eine Art Abschlußparadoxie festzustellen und hinzunehmen. Dies Beispiel zeigt, wie Methodik im Dienst von Theorie operiert, und das leitet zum zweiten Bereich, zur Methodologie im engeren Sinne über. Ein Methodenbewußtsein war im Zusammenhang mit einer Spezialisierung von Bemühungen und Kommunikationen auf Erkenntnisgewinn entstanden. Wenn man dabei schrittweise vorgeht, bedarf der Zusammenhang des Vorgehens der Überlegung. Seit dem 17. Jahrhundert kann man jedoch eine stärkere Ausdifferenzierung dieses Aspektes feststellen. Vor allem wird die Methodologie gegen erkenntnistheoretische Prämissen, gegen die Epistemologie im allgemeinen differenziert. Statt auf Begriffe vom Menschen, seinen Fähigkeiten, seinen allgemeinen Weltkorrespondenzen wird die rechte Methode jetzt auf praktische Problemlagen und Vorstellungen über erreichbare Forschungsziele gegründet (und verfugt sich auf dieser Ebene mit sachbezogenen Theorien, nicht mit Erkenntnistheorie). Methoden sind, so kann man das Resultat dieser Entwicklung formulieren, Operationsanweisungen, die direkt an den binären Schematismus anschließen und ihn in Entscheidungssequenzen überführen. Sie nehmen, anders als Theorie, Zeit in Anspruch, um durch sequentielles Operieren Komplexität abzuarbeiten, indem sie sich die Eigenart der binären Struktur zu eigen machen, daß jede Selektion ein bestimmtes Ergebnis erzeugt 57 . Man weiß allerdings inzwischen, daß sich eine Vielzahl von Gesichtspunkten (und in diesem Sinne: Komplexität) nur unter sehr unwahrscheinlichen Bedingungen in einer Ja/Nein-Entscheidung zusammenfassen läßt 58 ; aber das weist in unserem Zusammenhang nur darauf hin, daß Methode stets auf Kooperation mit Theorie angewiesen ist und nur beide zusammen intuitives Wissen ersetzen und überbieten können. Methoden können, mit anderen Worten, sich nicht damit begnügen, nur Artikulationen der binär rekonstruierten Selbstreferenz zu sein, die als solche das System für Beliebigkeit öffnet - für Beliebigkeit, gegen die man dann aber eben strukturieren und wählen können muß. Auch Methoden müssen, um Resultate erreichen zu können, Limitationalität voraussetzen als Bedingung der operativen Ergiebigkeit ihrer Verfahren. In dieser Hinsicht sind sie auf Theorieimporte angewiesen; oder genauer formuliert: auf Grundvorstellungen, die im Kontext von Theorie und im Kontext von Methode zugleich fungieren. Das gilt im klassischen Wissenschaftsverständnis vor allem für den Begriff der Kausalität, heute besonders für die Unterscheidung von unabhängigen und abhängigen Variablen in allen Forschungsdesigns und für die Unterscheidung von Bezugsproblem und (funktional äquivalenten) Lösungsalternativen, die sowohl der Wirklichkeit unterlegt als auch in der Methodologie vergleichender Analysen vorausgesetzt wird.
- - - - Wahrheit------Theorie
~ ~Methode ~L'" ImltatlOna1 Itat ' ' ' /
So wie Wahrheit die Einheit in der Differenz von Externalisierung und binärer Schematisierung herstellt und ein soziales System über dieses Kommunikationsmedium nur ausdifferenziert werden kann, wenn diese Verknüpfung gelingt, so fungieren Theorie und Methode dann als operative Einheit, wenn sie gemeinsame Limitationalitätsprämissen verwenden. Der erstgenannte Zusammenhang ermöglicht die Ausdifferenzierung, der zweite die Operationalisierung eines auf Erkenntnisgewinn gerichteten selbstreferentiellen Systems.
VI Sowohl Theorien als auch Methoden setzen mithin Limitationalität und in dieser Weise sich wechselseitig selbst voraus. Man kann deshalb annehmen, daß durch die Art, wie Limitationalität begriffen wird, auch das Verhältnis von Theorien und Methoden reguliert und insbesondere der Grad möglicher Differenzierung beider gegeneinander gesteuert wird. Ein hohes Maß wechselseitiger Interdependenz haben wir am traditionsreichen Verfahren binär-schematisierender Klassifikation ablesen können mitsamt der Konsequenz, daß das Problem der Selbstreferenz marginalisiert werden mußte. Ist und bleibt dies die einzige Möglichkeit? Diese Überlegungen führen uns vor die Notwendigkeit, den Begriff der Limitationalität, für den es wenig Vorbilder gibt, genauer zu umreißen. Von Limitationalität spricht man in Bezug auf Gegensätze oder in Bezug auf Alternativen S9 , wenn die Bestimmung eines Elements der Relation zur Bestimmung des anderen beiträgt; oder anders formuliert: wenn die Bestimmung des einen Elements der Relation den Spielraum für die Bestimmung des anderen einschränkt. Das Problem der Limitationalität stellt sich also schon auf der Ebene basaler Selbstreferenz: Die Bestimmung eines Elements, zum Beispiel eine Entscheidung, muß sich reflektieren als etwas, das den Spielraum für andere einschränkt. Von der Funktion her gesehen, sichert Limitationalität, daß, je nach dem: Selektionen oder kombinatorische Relationierungen (zum Beispiel: Kombination von Produktionsfaktoren), es mit einer begrenzten Zahl von Möglichkeiten zu tun haben. Aber wie begründet sich diese Begrenzung, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, daß es mehr Möglichkeiten gibt?
für kontingent erklärte, so war damit gemeint, daß die Welt auch anders hätte geschaffen werden können. Mischformen gehörten zur Pathologie der Welt und zogen in der Form von "Monstren" Interesse auf sich als Sündenfälle der Natur 6o . Schon Fontenelle bemerkt allerdings, die Geschichte der Monstren sei "infinie et peu instructive"61. Das dahinter sich verbergende Problem unendlicher Variationsmöglichkeiten meldet sich - und wird zunächst durch Ablehnung des neugierigen Interesses an Monstren abgewehrt. Auf anderen Wegen wird die Selbstreferenz, die sich für Beliebigkeit öffnet, als monströs erfahren 62 . Das Ergebnis der Selbstdiagnose: das Sich-selbst-nicht-limitierenKönnen, wird mit dem Titel "Monstre" bedacht, der die Limitationalität der Welt von den Fehlformen her plausibel zu machen hatte. Je mehr jedoch Selbstreferenz zur Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis avanciert (so wie in anderem Bereich Selbstliebe zur Bedingung der Möglichkeit des Liebens), und das heißt: je mehr diese Bedingung zur Ausdifferenzierung eines auf Erkenntnisgewinn spezialisierten Systems benutzt wird, desto mehr drängt es sich auf, die Einführung von Limitationalität ihrerseits zu thematisieren. Man muß dann zwischen verbannten und erfaßten, ausgeklammerten und zugelassenen Möglichkeiten unterscheiden und die Differenz auf die eigene Kappe nehmen. "Man muß den limitativen Gegensatz nicht akzeptieren", heißt es in einem neueren Text, "wenn man keine Begründung von Bestimmtheit möchte; er ist ein spekulativer. Insofern ist er und bleibt er Funktion des Zwecks der Theorie 63 ." Es geht von jetzt ab explizit um eine Limitierung des Möglichen gegen einen sie transzendierenden Möglichkeitsentwurf, der durch das selbstreferentielle System miterzeugt wird, ja sogar genaues Korrelat der zirkulären Selbstreferenz ist. Mit einem allgemein gefaßten Begriff kann jede Sinngebung, die diese Abgrenzung leistet, als Kontingenzformel bezeichnet werden. Kontingenzformeln entstehen mit der Ausdifferenzierung von Funktionss"ystemen, die einerseits eine Generalisierung der Weltbezüge, andererseits Respezifikationsanleitungen erfordert 64 . Sie operieren doppelgesichtig: einerseits in Richtung auf eine Unendlichkeit immer weiterer, immer anderer Möglichkeiten, und andererseits in Richtung auf die Programme für im System abschließbare Operationen. Was in einem noch allgemeineren Sinne die "Horizonte" sinnhaften Erlebens und Handelns leisten (nämlich: Grenze zu sein und nicht zu sein), wird hier einer Formel abverlangt, und die Funktion dieser Kondensierung ist es, funktionsspezifische Ausdifferenzierungen zu steuern. Hieraus ergeben sich zwei Hypothesen: daß Kontingenzformeln sich im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung und Autonomisierung von gesellschaftlichen Funktionssystemen entwickeln, und daß diese Entwicklung gerichtet ist auf eine zunehmende Spezifikation der Umschaltfunktion vom Beliebigen ins Bestimmbare für jeweils besondere Funktionsbereiche. Der Begriff der Limitationalität soll uns als Bezeichnung für die auf Wissenschaft zugeschnittene Kontingenzformel gelten 65 . In der Geschichte der Wissenschaft sind vor allem gattungslogische oder typologische Konstrukte benutzt worden, um auf der Ebene
wissenschaften, das Gewicht auf die zuletzt genannte Technik verlagert, wobei gegen Ende des 19. Jahrhunderts jenseits von allen "erkenntnistheoretischen" Positionen auch deutlich wurde, daß es sich hier ebenfalls um ein Ausgrenzen unlimitierter Kontingenzen handelt 66 . Dieses klassische Repertoire ist in den letzten Jahrzehnten um zwei neue Varianten erweitert worden: um das methodologische Prinzip der Falsifikation, das irgendeine Art von Limitationalität voraussetzt, aber nicht angibt, welche, und um die funktionalvergleichende Analyse. Diese beiden Zugewinne reagieren anscheinend auf eine verstärkte Differenzierung des Wissenschaftssystems entlang der Unterscheidung von Methoden und Theorien. Beim Prinzip der Falsifikation handelt es sich um ein Methodenprinzip, das die Theoriebildung nicht (oder nur minimal) präjudiziert. Dagegen hat sich die funktionale Analyse mehr auf dem Gebiet der Theoriebildung bewährt, während ihre Leistung als Methode unklar und umstritten geblieben ist 67 . Die Theoriebautechnik des Funktionalismus, die davon ausgeht, daß es hinter den Erscheinungen Probleme gibt, die auch anders (aber eben nicht: beliebig anders) gelöst werden können, vermag ihr eigenes Vorgehen zu reflektieren; aber von einer Methodologie vergleichender Analyse ist man trotz immer neuer Versuche noch weit entfernt, wenn Methodologie heißen soll: Lehre von Methoden, die mit Hilfe binärer Schematismen Ergebnisse erzielen, an die weitere Schritte anschließen können. Fünf verschiedene Möglichkeiten also, Limitationalität einzuführen: Gattungslogik, Typologik (insbesondere Kreuztabellierung), gesetzesförmige oder statistische Regelmäßigkeiten, Falsifikationsprinzip und funktionaler Vergleich. Die Möglichkeiten überschneiden sich im historischen Verlauf, folgen aber nicht aufeinander in dem Sinne, daß eine weitere erst zum Zuge kommt, wenn ihre Vorgängerin abgemustert hat. Und anscheinend ist ein gleichzeitiger Gebrauch mehrerer Formen der Limitierung deshalb ratsam, weil die Gegenstandsfelder der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen sehr unterschiedliche Chancen und Schwierigkeiten bieten und weil Theoriebildung und Methodologie deutlich heterogene Anforderungen stellen.
VII Alle Erkenntnis setzt Erkenntnis voraus und kann nur dadurch Erkenntnis sein, daß sie diese Voraussetzung auf sich selbst zurückbezieht. Auf der Ebene der Einzelereignisse, der Prozesse und der Systeme ist und bleibt Erkenntnis an Selbstreferenz gebunden. Das ist ein mit den Strukturen von Sinn gegebener, nirgends durchbrechbarer, ausnahmsloser Sachverhalt. Für ein selbstreferentiell-geschlossenes System ist daher "Wahrheit" immer schon gegeben als vorhandene Banalität. Deshalb ist es zunächst immer wahrscheinlich, daß die schon vorhandene, schon bewährte Erkenntnis sich um sich selbst herum stabilisiert, anderes heranassoziiert und Störungen abweist oder einkap-
rung muß allerdings die in der Normalität liegende Unwahrscheinlichkeitsschwelle überwinden. Dies geschieht in der gesellschaftsstrukturellen Entwicklung durch Evolution und zwar durch Ausdifferenzierung von selbstreferentiellen Systemen innerhalb von selbstreferentiellen Systemen. Auf der Ebene der Erkenntnisdarstellung und der Handlungsmotivation erscheint der gleiche Prozeß als Verbesserung oder als Zugewinn von Erkenntnis. (Erst in der jüngsten Zeit zeichnen sich in beiden Hinsichten Umdispositio nen ab: Man bemüht sich, Evolution durch Planung zu ersetzen, und zugleich zer bricht der Fortschrittsoptimismus in der Darstellung von Änderungen als Verbesserungen. Diese noch unausgereiften, auch im Verhältnis zueinander unbalancierten Neuerungen - sind sie ihrerseits evolutionär bedingte Verbesserungen der Erkenntnis? -lassen wir zunächst einmal außer Acht.) Daß Anlässe für ein Interesse hinreichend oft vorkommen, um Evolution zu ermöglichen, davon kann man ausgehen, da in allem sinn haften Erleben und erst recht in aller sprachlichen Codierung Kontingenz mitpräsentiert ist. Unter welchen Bedingungen können aber solche Anlässe einen zusammenhängenden Erkenntnisfortschritt auslösen - einen Prozeß, in dem ein Erkenntnisgewinn so gespeichert wird, daß er weitere ermöglicht; einen Prozeß, der sich selbst aufbauen, auf sich selbst reagieren, sich selbs beschleunigen kann? Eine Evolution in Richtung auf Ausdifferenzierung von besonderen, auf Zugewinn von Erkenntnis spezialisierten Sozialsystemen hat vermutlich allgemeine kommunikationstechnische Voraussetzungen. Die Alphabetisierung und weite Verbreitung von Schrif hatten wir als Errungenschaft der Griechen und als Bedingung eines nicht mehr nur narrativen Sachverhältnisses zu Themen schon erwähnt. Im Übergang zur Neuzei kommt die Erfindung des Buchdrucks hinzu, die in vielen Bereichen (zum Beispiel in Bezug auf "Technologien") erstmalig einen literarischen Zusammenschluß der Kommunikation ermöglichte 69 und die vor allem zunehmend Anlaß bot, das Neue gegen das Alte zu profilieren - zunächst im Sinne des Einholens, ab Mitte des 16. Jahrhunderts auch im Sinne des Überbietens. Zu diesen kommunikationstechnischen Voraussetzungen müssen jedoch weitere Bedingungen hinzutreten: Es müssen in konkreten Situationen Möglichkeiten des Abweichens von vorhandenem Wissen oder Möglichkeiten des Erwerbs von nichtvorhandenem Wissen hinreichend attraktiverfahrbar sein und diese Möglichkeiten müssen sich nicht nur auf Dinge (Wo habe ich meine Brille gelassen?), sondern auf Erwartungsstrukturen beziehen; sie müssen die Typen, die Vorstellungen betreffen, mit deren Hilfe man suchen und feststellen kann, was der Fall ist. Diese Bedingungen sind wiederum nicht unabhängig vom schon gewußten Wissen denkbar. Auch in dieser Hinsicht muß also die Theorie auf die Selbstreferenz ihres Gegenstandsbezugs Rücksicht nehmen und verständlich zu machen versuchen, wie das Vorhandene trotzdem über sich hinausgehen kann. Einen ersten und vielleicht wichtigsten Komplex von Bedingungen wollen wir als Differenzierung kognitiver gegen normative Erwartungen bezeichnen 70. Die Unterschei-
solche normative Erwartungseinstellung blockiert die Lernbereitschaft. Das Gegenteil gilt, wenn Erwartungen explizit als kognitiv stilisiert werden; dann gibt man mit der Form des Erwartens schon sich selbst und anderen vorweg die Erlaubnis, die Erwartung zu ändern, wenn sie durch widersprechende Sachverhalte widerlegt werden sollte. Die Differenz von normativem und kognitivem Erwarten spaltet den Erwartungshorizont nicht absolut. Sie kann sich überhaupt nur dort entwickeln, wo Enttäuschungen miterwartet und Auffangeinstellungen für diesen Fall mitvorbereitet werden, obwohl man sich zugleich auf eine bestimmte Erwartungsrichtung festlegt. Für den normalen Lebensvollzug ist dies ein Ausnahmefall, der eine ungewöhnliche Spezifikation des Erwartens voraussetzt. Der Normalitätshorizont des Alltagslebens - Husserl würde sagen: der Boden der Lebenswelt - ist in jeder dieser Spezifikationen immer schon vorausgesetzt, kann also nie als Ganzes halbiert werden in eine kognitive und eine normative Seite; denn so viel Enttäuschungen, wie dem aktual-unendlichen Horizont des In-derWelt-Lebens entsprechen würden, kann man gar nicht antezipieren. Nur auf dieser Grundlage können spezifische Sensibilitäten entwickelt und gesteigert werden, und nur diese stehen für eine Differenzierung von normativem und kognitivem Erwartungsstil zur Verfügung. Die Ausdifferenzierung spezifisch kognitiver und damit spezifisch lernbereiter Erwartungseinstellungen profiliert sich demnach in zweifacher Richtung: Sie ist einerseits Ausdifferenzierung aus dem Normalbereich des Erwartens, das Kontingenz nur marginal miterlebt und keine spezifische Vorsorge trifft; sie ist andererseits Differenzierung gegen den normativen Erwartungsstil, der die entgegengesetzte Funktion der Blockierung des Lernens übernimmt und artikuliert. Nur wenn man beide Aspekte zusammen im Blick behält, gewinnt man ein zureichendes soziologisches Verständnis für die Probleme, die im Laufe der evolutionären Ausdifferenzierung von spezifisch auf Erkenntnis gerichteten sozialen Systemen bis hin zur Konsolidierung eines entsprechenden Teilsystems der Gesellschaft für "Wissenschaft" zu lösen waren. In der alteuropäischen Tradition hat vor allem der Begriff "Natur" als semantisches Korrelat dieser Entwicklung und als Bezugspunkt ihrer Differenzierungen gedient 71 . Der Ursprungssinn dieses Begriffs, der das von sich aus Wachsende bzw. Gewachsene meinte, ermöglichte es, sowohl den tragenden Grund aller Differenzierungen als auch die Einheit des sie ermöglichenden Prinzips zum Ausdruck zu bringen. Die christliche Darstellung der Natur als (kontingente) Schöpfung Gottes hatte daran nichts geändert. Die Neuzeit verstärkt zunächst diese Berufung auf Natur mit der Intention, die benötigte Einheitsgarantie der kirchlich-religiösen Dogmatik zu entwinden und der Religion die Interpretation für deren eigene Zwecke anheimzustellen 72 . Dabei ist Natur seit Bacon im wissenschaftlichen Kontext nicht so sehr Selbstzweck als vielmehr Ausgangspunkt für Veränderung, für "improvement"73 . Als Gegenbewegung dazu hat die romantische Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts nochmals versucht, mit dem Begriff der Natur ein Prinzip der Einheit des Differenten zu revitalisieren und ihm normative
terpretierbarkeit dazu beigetragen, diese Position des Naturbegriffs zu eliminieren. Wil man etwas Ähnliches ausdrücken und normativ wirkende Hintergrundspostulate zu Geltung bringen, sagt man etwa "Umwelt". Damit ist zugleich dokumentiert, daß nor mative Kontrollen einer sich selbst rein kognitiv stimulierenden Forschung einer beson deren Begründung bedürfen, die sich nicht aus einer letzten, heiligen Unantastbarkei des Gegenstandes ergibt, sondern aus Problemen, die das Gesellschaftssystem mit sei ner Umwelt hat. Ein zweiter Gesichtspunkt betrifft Legitimationsmöglichkeiten für Neues. Solang Neues sich als Abweichung vom Anerkannten begründen und durchsetzen muß, stehen die Chancen schlecht. Diesen Sinn des "Abweichenden" behält der Gedanke des Neuen bis über das Mittelalter hinaus 7S . Noch im 17. Jahrhundert drückt der Begriff des Fana tismus diese Abwehr von Neuerungen als Abweichung von der richtigen Meinung aus im 18. Jahrhundert dann nur noch: als Abwehr des Gebrauchs einer unzulässigen Me thode (nämlich des Berufens auf private Evidenzen und Intuitionen) beim Einführe von Neuerungen 76. Diese wenigen Hinweise scheinen zu belegen, daß im Zuge der Aus differenzierung von Wissenschaft zunehmend auch die Zeitdimension benutzt wird, um Erkenntnisgewinn durchzubringen. Das Neue wird nicht mehr nur als Widerspruch i der sachlichen Aussage auf das Alte bezogen; es gewinnt als "jetzt erst mögliche" Er kenntnis, die sich zum Beispiel auf zwischenzeitliche Entdeckungen, Berichte, Experi mente berufen kann, einen zeitlichen Abstand zum bereits vorhandenen Wissen. We Neues behauptet, ruiniert damit nicht notwendigerweise die Verdienste älterer Denke und Forscher; er verhält sich nicht notwendigerweise pietätlos, wenngleich er nicht ver meiden kann, die Autorität in Frage zu stellen, die den Älteren gegenüber den Neuere zugeschrieben worden war 77 . Aus diesen - und vielleicht anderen - Vorgaben, die selber im Prozeß entstehen, ent wickeln sich Möglichkeiten für Erkenntniszugewinne, auf sich selbst zu reagieren. I der Zeitdimension heißt das: Beschleunigung. Das Tempo der Veränderung läßt sic verändern - zum Beispiel, wie man im 16. Jahrhundert bereits sieht und anpreist, da Tempo des Lernens durch den Buchdruck 78. Vor allem aber nimmt der Erkenntnisfort schritt den Gewinn neuer Erkenntnisse in Eigenregie. Das betrifft in erster Linie di Formulierung der Probleme, die in der Forschung zu lösen sind. Sie werden der Begriff lichkeit und dem Erkenntnisstand der Wissenschaft selbst entnommen. Eben deshal sieht man sich, etwa seit Bacon, vor der Notwendigkeit, die Suche nach neuen Erkennt nissen durch ihren (gesellschaftlichen) Nutzen zu rechtfertigen, sich also in der Form einer Relation auf die Gesellschaft zurückzubeziehen. Mit all dem verändert sich die Struktur von Selbstreferenz; sie wird sozusagen mulitpli ziert. Erkenntnis setzt Erkenntnis voraus, das bleibt. Aber es kommt hinzu, daß der Er kenntniszuwachs den Prozeß des Erkenntniszuwachses voraussetzt, an dem er teilnimm und den er mitbedingt; und das alles wird mit Hilfe eines Wechsels auf die Zukunft i Gang gehalten, den einlösen zu können man sich nach aller bisherigen Erfahrung zu
VIII
Wie man weiß, ist das, was im 17. Jahrhundert noch hoffnungsvolle Projektion war, zur Realität geworden. Dieses Faktum der Realisation wirkt seinerseits als erfahrene Realität auf die Semantik zurück, mit der die Wissenschaft ihre eigene Ausdifferenzierung begreift. Die Selbstdiagnose ist, soziologisch gesehen, nicht unbedingt zuverlässige Erkenntnis; aber es ist jedenfalls interessant festzuhalten, wie sie mit dem Erfolg variiert. Im 17. Jahrhundert waren Probleme der Ausdifferenzierung auf zwei Ebenen aktuell. Die drängendsten Fragen bezogen sich auf die Vermeidung oder Umgehung eines theologischen Zugriffs auf wichtige Begriffe. Die theoretischen Dispositionen mußten unabhängig werden von religiös-dogmatischer Präjudizierung, und ebenso mußte dem Wissenschaftler unabhängig von seiner durch Forschung bedingten Begriffsdisposition die persönliche Religiosität garantiert sein. Hier war Entlastung von allzu vielen wechselseitigen Implikationen nötig. Außerdem konnte das beginnende Tempo der wissenschaftlichen Entwicklung einer begriffsdogmatisch gefestigten Religion nicht bekommen, und auch deshalb war Distanzierung das Gebot der Stunde. Diese viel diskutierte Dissoziierung von Religion und Wissenschaft lassen wir hier beiseite 81 ; denn diese Problematik hat heute keine Nachfolge. Wir beschrär.ken uns auf die zweite und tiefer liegende Ebene, nämlich auf die Frage, welchen Status sich spezifisch wissenschaftliche Kommunikation im Verhältnis zu gesamtgesellschaftlich üblicher Kommunikation zumutet. Diese Frage wurde im 17. Jahrhundert als Problem der überzeugenden Demonstration und Verbreitung neuen Wissens gesehen. Seit langem hatte man Erfahru~gen mit wissenschaftlichen Idealisierungen, die ohne jeden Bezug auf Personen oder kommunikative Verhältnisse von der Sache her einleuchteten. Solche typisch durch die Mathematik präsentierten Idealisierungen der galileisch-cartesischen Wissenschaft waren jedoch von zwei Seiten her begrenzt. Einerseits setzte der binäre Schematismus der Wahrheit Bezugnahme auf einen Entscheider voraus. Er wurde seit Descartes in einem neuen Sinne als "Subjekt" identifiziert. Andererseits war nicht der gesamte Wissenschaftsbereich mathematisierbar. Descartes sah sich deshalb genötigt, certitude morale und certitude plus que morale zu unterscheiden 82 . Die erstere, suffisante po ur regler nos moeurs, bezieht sich nicht nur auf die Moral selbst, sondern auf alles Wissen, an dem die Lebensführung sich zweifelsfrei orientieren kann (Beispiel: Rom ist eine Stadt in Italien), ohne daß man es zwingend und ohne Bezugnahme auf das Wissen anderer Menschen beweisen könnte. Leibniz bringt diesen Begriff in Zusammenhang mit dem Induktionsproblem 83 . "Moral certitude" wird im Anschluß daran zum Ausgangspunkt für Forderungen an wissenschaftliches Kommunikationsverhalten, speziell was Orientierungen an common sense, verständliche Sprache und Empirienähe betrifft. Auch die organisato-
Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens vorausgesetzt werden müssen 84 . Betrachtet man diese Situation rückblickend mit den Augen Husserls 85 , dann verschie ben sich die Perspektiven in kennzeichnender Weise. Husserl bezeichnet die gegenwär tige Situation der mathematisch idealisierenden Wissenschaft galileischer Provenienz al "Krisis". Als Krisis wird genau das empfunden, was die einst gerühmte certitude plu que morale ausmachte: die Fähigkeit, ohne Subjektreferenz etwas zu besagen, und i diesem Sinne: die technische Verwendbarkeit. Sie ergibt sich bei der Überführung de Formalwissenschaften in Formen des Umgangs mit der wirklichen Welt. Diese führ da nicht recht verstanden, zu einer "Verwandlung ursprünglich lebendiger Sinnbil dung"86, zur Sinnentleerung durch "Technisierung", zum Verlust des ursprüngliche Wahrheitssinnes der wirklichen Welt. Dieser ursprüngliche Sinn ist Sinn für das leiblich personal in der anschaulichen Welt lebende Subjekt. Die diesem Subjekt zunächst gege bene Welt heißt Lebenswelt. So besteht die Krisis der europäischen Wissenschaften im Vergessen ihres lebensweltlichen Fundaments als Boden auch für jegliche Idealisierung Mathematisierung, Technisierung. Gefordert wird dementsprechend ein Rückgang au die ursprünglich sinnstiftenden Leistungen der konkret lebenden Subjektivität und i diesem Sinne: ein Rückgang auf die Lebenswelt 87 ; denn "das an sich Erste ist die Sub jektivität, und zwar als die das Sein der Welt naiv vorgebende und dann rationalisieren de oder, was gleich gilt: objektivierende"88. Wenn man nun davon absieht, daß die Subjektivität hier, was nur Philosophen zusteht zum "Ersten" erklärt wird: was ist dann "Lebenswelt"? Die Formulierung hat als Wor prägung Karriere gemacht 89 , ohne daß der Begriff hätte geklärt werden können. Es fäll auf, daß besonders bei soziologischen Verwendungen alternativ der Begriff der com mon-sense world auftaucht 9o . Ist damit angedeutet, daß man zu dem Gewißheitsbe griff des 17. Jahrhunderts zurückkehrt? daß man in der damals nur zweitbesten Lösun nun das eigentliche Fundament sieht? Diese Überlegung zeigt zwar genau den Wandel an, greift aber im Begrifflichen doc wohl zu kurz und kann sich selbst daher nicht begreifen. Das Krisis-Bewußtsein ist da Bewußtsein, daß die auf ihre besondere Funktion hin spezialisierten Systeme allei nicht genügen, und zwar weder je für sich allein noch alle zusammen. Die Summe de Funktionssysteme ist nicht schon die Summe der Lebensverhältnisse; allein schon des halb nicht, weil sich keineswegs alle kommunikative Interaktion einem und nur einem Funktionssystem zuordnen läßt. Es bleibt ein Residualbereich des nicht eindeutig zu zuordnenden Alltagshandelns, aber auch des bei aller Funktionsausrichtung mitlaufen den "Sonst-noch-Bewußtseins", da keine funktionale Spezifikation von Sinn Verwei sungen auf andere Möglichkeiten eliminieren kann. Bei der Überfühung des Begriffs de Lebenswelt aus der transzendental-theoretischen Phänomenologie in die Soziologi scheint - der Vorgang ist selbst nie zureichend geklärt worden - der Begriff der Le benswelt mit dieser Vorstellung von unspezialisierter Alltäglichkeit verschmolzen wor den zu sein; jedenfalls ist dies die einzige Möglichkeit einer für die Soziologie sinnvo
wenn "Kritik" heißen soll: Anmahnen des Einlösens von Verbesserungserwartungen. Die Tradition einer solchen Kritik ist damit an ihr Ende gekommen. Die Kritik hatte begonnen mit einer Auflösung der teleologischen Einheit des Dienstes für Gottes Ruhm und der Menschen Nutzen durch den Anthropozentrismus des 18. Jahrhunderts. Auf dessen Grundlage und vor dem Hintergrund der sich ausdifferenzierenden Funktionssysteme erschien zuerst ein Gegensatz zwischen dem, was dem Menschen als Menschen zukommt, und der Nützlichkeit und Brauchbarkeit in der Gesellschaft 91 . Dieser zunächst als pädagogisch vermittelbar gedachte Gegensatz wurde dann in der Kritik der politischen Ökonomie durch Hegel und Marx in die historische Entwicklung umprojiziert und zugleich auf eines der Funktionssysteme, die Wirtschaft, konzentriert. Husserl schließlich hat das Thema der Kritik gewechselt, nämlich statt Wirtschaft Wissenschaft attackiert, ohne die Form der Kritik von einer überwindenden Gegenbegrifflichkeit aus in Frage zu stellen. Einerseits muß aber die Theorie der Endlösung immer fragwürdiger werden, je mehr Funktionssysteme als menschlich unzulänglich vorgeführt werden; und andererseits ist die Soziologie inzwischen herangereift. Ihr Begriff der Alltagsorientierung, der Lebenswelt, des common sense und des Immer-schon-Verständigt-Seins als Boden für alle Besonderungen und Extravaganzen eignet sich jedenfalls nicht als Zielpunkt für eine Kritik der Funktionssysteme. Aber er relativiert die Einschätzung der Funktionsorientierungen, indem er vor die Frage führt, wie und wie weit so unwahrscheinliche Spezialisierungen auf dem Boden und in den Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt möglich sind. Diese Zwischenschaltung von Überlegungen zum Reflexionsbegriff der Lebenswelt macht zugleich deutlich, inwiefern sich die Situation seit dem 17. Jahrhundert durch Verstärkung der Ausdifferenzierung der Funktionssysteme gewandelt hat. Die semantische Begleitung der gesellschaftsstrukturellen Entwicklung stellt sich von Förderung auf Kritik um - allerdings auf Kritik im Hinblick auf ein (utopisches) Höchstmaß an Förderung humaner Selbstverwirklichung, die das Wachsen der Funktionssysteme ihrerseits antreibt, ohne sich in ihnen verwirklichen zu können. In der Soziologie beginnt, eine zeitlang nebenherlaufend, eine neue Linie des Denkens. Schon bei Vilfredo Pareto wird den durch den Rationalitätsstil der Moderne begünstigten Handlungsbereichen die nichtlogische Handlung und ihre Residuen, Derivate und Derivationen gegenübergestellt 92 . Talcott Parsons hat diese Kontrastierung als Indikator für ein überindividuelles Niveau der Emergenz sozialer Rationalität genommen 93 - mit der Folge, daß der Gedanke rückstandslos ins analytische System funktionaler Differenzierung eingehen konnte 94 . Die neue Lebenswelt-Romantik fand verlassenes Gebiet vor; sie konnte und braucht sich mit der Parsons'schen Theorie nicht zu arrangieren 95 . Wenn aber eine Verbindung des Konzepts funktionaler Differenzierung mit dem durch Begriffe wie nichtlogisches Handeln, Residuen, Alltagsorientierung, Lebenswelt markierten Theoriekomplex gelingen könnte, wäre die Soziologie damit in der Lage, in ihrer Gesellschaftstheorie eine Position zu formulieren, die eine Selbstanalyse der modernen Gesellschaft als
Man muß diesen breiteren Theoriehintergrund mit im Auge behalten; dann sieht man daß die Kritik der spezifisch-wissenschaftlichen Erkenntnisweise (1) nur ein Fall de Kritik funktionsbezogener Sonderleistungen neben anderen ist; und daß sie (2) als Kri tik die gesellschaftliche Entwicklung in einer historischen Situation reflektiert, in de weder der Erkenntnisfortschritt als solcher, noch die mit ihm oder gegen ihn durchge setzte Vollhumanisierung des Menschen einen ausreichenden Bezugspunkt bieten. Da analytische Interesse verschiebt sich dann auf die Frage, ob und wie eine Gesellschaf mit so sehr ins Unwahrscheinliche getriebenen Strukturformen überhaupt möglich ist wenn sie durch ihre Erfolge ihre Umwelt und ihre lebensweltlichen Verkehrsforme erodiert oder doch so verändert, daß die Folgen dieser Veränderung mit den Mitteln die sie auslösen, nicht mehr zu kontrollieren sind.
IX
Will man dieser gesellschaftsgeschichtlichen Situation und den auf sie antwortende Theoriemöglichkeiten gerecht werden, muß man zwei verschiedene Wahrheitsbegriff unterscheiden, je nach dem ob allgemein-Iebensweltliche Erkenntis oder ob wissen schaftliche Erkenntnis gemeint ist. Die Unterscheidung wird nicht orientiert an de Frage, ob die Wahrheit von sozialen Bedingungen ihrer Ermittlung oder ihrer Geltun abhängt oder nicht; sie setzt also nicht die alte Unterscheidung von dialektischer (to pischer) und analytischer Logik oder die Unterscheidung von certitude morale un certitude plus que morale fort. Vielmehr bezieht die Unterscheidung sich auf soziales auf kommunikatives Verhalten 96 . Für dieses Verhalten ist Wahrheit eine Frage der Er folgswahrscheinlichkeit (Annahmewahrscheinlichkeit) von Kommunikationen. Je nac dem, worauf diese Wahrscheinlichkeit sich stützt, kann man lebensweltlich gesichert und dadurch selbstverständliche Wahrheiten (Descartes' Beispiel: Rom ist eine Stadt i Italien) und wissenschaftlich gesicherte oder zu sichernde Wahrheiten unterscheiden wobei die Grenze unscharf ist und viele wissenschaftliche Wahrheiten im Laufe de Zeit zu lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten werden. Im Rahmen des traditionellen logisch-ontologischen Weltkonzepts wäre eine solch Doppelung des Wahrheitsbegriffs nicht akzeptierbar gewesen, weil hier Wahrheit al Relation des Denkens zum Sein, als adaequatio intellectus ad rem begriffen war un diese Beziehung nach logischen Regeln nur entweder bejaht oder verneint werden konn te. Jede Doppelung hätte, nur so hat sie ja Sinn, Widersprüche im Wahrheitsbegriff zu gelassen und damit Wahrheit als Wahrheit aufgelöst. Man konnte allenfalls akzeptieren daß Wahrheit eine Möglichkeit des Denkens sei, die vom Objekt her zu spezifiziere ist, so daß es auf Grund der unterschiedlichen Arten von Objekten unterschiedlich Formen und Gewißheitsstufen der Wahrheit gebe. Aber diese Ansicht, daß das Sei selbst unterschiedliche Wahrheitsangebote mache, hat sich ebenso aufgelöst wie di
lich eine Fassung gewinnen, mit der auch noch dies: daß er variiert, als wahr begriffen werden kann. Eine in dieser Situation noch mögliche Semantik zu liefern, ist Aufgabe einer Soziologie der Erkenntnis. Sie stützt sich, wenn man den hier ausgebreiteten Theorievorschlägen folgt, nicht primär auf eine Reflexion der Reflexionsleistungen der Erkenntnistheorie selbst 97 , sondern auf Theoriestücke, die sich außerhalb des besonderen Problemfeldes der Erkenntnistheorie bewährt haben, nämlich auf die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien und auf die Theorie selbstreferemieller Systeme 98 . Entsprechend wird Wahrheit als ein ausdifferenziertes symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium unter anderen, Wissenschaft als ein ausdifferenziertes und dadurch selbstreferentielles Sozialsystem unter anderen begriffen. Damit rückt der Begriff der Ausdifferenzierung (was heißt: Steigerung der Unabhängigkeit von Beliebigem und der Abhängigkeit von Bestimmtem, oder: Steigerung von Indifferenz und Sensibilität) in die Position, von der aus (unter anderem) die Erkenntnistheorie zu konstruieren ist. Lebensweltlich fungierende Wahrheit stützt ihre Annahmeerwartungen auf vorausgesetzte Übereinstimmung 99 . Diese Voraussetzung dient als Begleitsicherheit im täglichen Prozessieren von Situation zu Situation. Dabei wird Quelle und Inhalt der Kommunikation als Geltungsgrund für Wahrheit nicht streng geschieden, so daß Fragwürdiges mit Rücksicht auf den Mitteilenden doch geglaubt werden kann und Fehler auf den Mitteilenden (seine Motive, seine Dummheit, seine Unwahrhaftigkeit) zurückinterpretiert werden können. Entsprechend gibt sozialer Status der Quelle, einer Kommunikation gesteigerte Chancen, als wahr zu passieren - ein für geschichtete Gesellschaften unentbehrliches, wenn nicht sogar ausreichendes Mittel der Sicherung kommunikativer Erfolge. Entsprechend sind die Anlässe für eine Problematisierung des kognitiven Gehalts einer Kommunikation vielgestaltig und nicht notwendigerweise durch ein theoretisch vorbereitetes Erkenntnisinteresse bedingt. Noch bis in die Neuzeit hinein war zum Beispiel die Kostbarkeit des Materials ein Gesichtspunkt, es im Forschungsprozeß für besonders beachtlich zu halten. Für auftauchende Probleme genügt dann im allgemeinen eine Bereinigung der Situation im Sinne der Wiederherstellung jener Rundumplausibilität, von der man ausgegangen war. Es ist keine Frage, daß jede wissenschaftliche Aktivität in ihrem faktischen Vollzug lebensweltliche Wahrheiten dieser Art in Anspruch nimmt und reproduziert. Das Schreiben auf der Schreibmaschine erfordert keine Berechnung des benötigten Fingerdrucks, ja nicht einmal eine Vorstellung darüber, wie Muskeln überhaupt funktionieren oder wie die Maschine es fertigbringt, die Richtung des Drucks abzuwinkeln. Entscheidend ist nur: daß spezifische Sinnbezüge gegen unkontrollierte Interferenzen aus dem Bereich lebensweltlich akzeptierter Wahrheiten isoliert werden können. Genau dies geschieht durch Etablierung selbstreferentieller Zirkel, die zunächst geschlossen und dann in der angegebenen Weise enttautologisiert werden. Damit werden Quelle und Inhalt der Kommunikation differenziert, indem beides in unterschiedlicher Weise vom
Nur im Rückgriff auf die Selbstreferenz und damit: auf die zirkuläre Struktur des wis senschaftlichen Prozessierens ist begreiflich zu machen, was hier geschieht. Weder zieh die Wissenschaft sich auf ein bloßes Traktieren eigener Artefakte (Begriffe) zurück noch konstituiert sie in der Lebenswelt besondere, ihr genehme Gegenstände, die vor her nicht da waren (neben natürlicher Kohle jetzt wissenschaftliche Kohle) 102 . Dem selbstreferentiellen Diskurs unter den spezifischen Konditionen des Wissenschaftssy stems entspricht in der Umwelt eine Auflösung von Einheiten in Relationen 103 . Was le bensweltlich zunächst dinghaft oder ereignismäßig kompakt gegeben ist und so diffu Konsens garantiert, wird als Komplex von Relationen rekonstruiert. Diese Auflösun und Rekombination vergrößert das Variationspotential, da man in einem relationale Gefüge oft einiges ändern und anderes konstant halten kann. Vor allem aber wird di Umwelt unter selektiven Gesichtspunkten komplexer, wenn immer neue Einheiten schließlich sogar Seelen und Atome, unter theoriegeleiteten Gesichtspunkten in Rela tionen zwischen noch einfacheren Elementen aufgelöst werden. Seit dem 17. Jahrhundert löst sich im Zuge dieser Entwicklung - und es ist kein Zu fall, daß dies zeitlich mit einer Steigerung der funktionalen Ausdifferenzierung von Wi senschaft zusammenfällt, - der alte Begriff der Welt als einer universitas rerum, eine aggregatio corporum auf, und die Welt wird neu konzipiert als unendlicher Horizon möglichen Fortschreitens sinnhafter Thematisierung, was speziell für die Wissenscha eben heißt: möglicher Auflösung und Rekombination. Zugleich wird die Vernunft einst ein hierarchisch übergeordnetes Erkenntnisvermögen - im Bereich der Wissen schaft auf ein Relationierungsvermögen reduziert 104 , dem man keine Vergewisserun der Sachverhalte selbst mehr abverlangen kann. Im Ergebnis wird damit die Annahme von Letztelementen relativiert auf den jeweil gen ForschungsstandlOS , und das Ansetzen von Elementen und Relationen wird ab hängig von der Frage, welches Emergenzniveau der Realität - und es gibt kein unter stes! - man anvisiert 106 . Diese Offenheit wird nicht durch ihr Objekt beschränkt, da sich als widerständig erweist gegen weitere gedankliche Dekomposition; ihre Schrank liegt rein pragmatisch in der Möglichkeit, vom gegenwärtigen Forschungsstand un seiner technischen Instrumentierung aus Einheiten weiter aufzulösen und zu Grund liegende Relationen zu postulieren, die sich forschungstechnisch als behandelbar e weisen 107 . Die alteuropäische Metaphysik hatte im letzten Moment noch versucht, diese Auflö sung ins Beliebige durch den Satz vom Grunde zu stoppen, mit dem gemeint war, da auch die Entscheidung zwischen Sein und Nichtsein einen Grund haben müsse, d nichts ohne Grund seilOB . Auf dem Boden der Lebenswelt, der immer Grund genug is stellt sich diese Frage jedoch nicht, da ihr Fragen sie schon beantwortet hat. Man kan gleichwohl die Frage nach dem Grunde als Sache der Ersten Philosophie respektieren Für die Wissenschaft stellt sich das erste Problem nicht als Frage nach einer zureichen den Begründung, sondern als Frage nach der lebensweltlichen Etablierung und Steige
ner Umwelt. Es bleibt immer eine lebensweltliche Operation, das Auflösen auf diese letzte Relation zurückzutreiben, und sie gibt immer einen Grund, weil sie instabil ist; weil sie höchste Redundanz, nämlich funktionale Aquivalenz aller Informationen präsentiert; weil sie jedem Ereignis, das dann in der Lebenswelt vorkommt, die Funktion der Enttautologisierung gibt 109 .
x Das Auflöse- und Rekombinationsvermögen des wissenschaftlichen Diskurses ist gerichtet, so können wir zusammenfassen, auf die Grenzvorstellung eines geschlossenselbstreferentiellen Systems (Ich denke, was Du denkst, wenn Du denkst, was ich denke) in beliebiger Umwelt. In der wirklichen Welt des realen Lebensvollzugs ist aber geschlossene Selbstreferenz ebensowenig möglich wie beliebige Umwelt llO . Die Formulierung: die Kybernetik befasse sich mit Systemen, "that are open to energy but closed to information and control" 111 , zeigt an, daß eine Ebenendifferenzierung im Weltaufbau vorausgesetzt ist, die es ermöglicht, zwischen Energiezufuhr und Informationsaufnahme zu unterscheiden, und daß alle Organisation von Geschlossenheit sich nur auf ebenenspezifische Prozesse beziehen kann. Für den Bereich sinnhaft konstituierter Systeme, in denen aller Sinn über die Systemgrenzen hinaus- oder hereinverweist und es Geschlossenheit daher nur mit Hilfe von Regeln geben kann, die die Behandlung dieser Verweisungen regulieren - für diesen Bereich ist das Operieren im selbstreferentiellen Kontakt in besonderer Weise an eine vorauszusetzende Ordnung gebunden. Wie findet, wie identifiziert man diese Ordnung, die Geschlossenheit und Offenheit, Selbst- und Fremdreferenz des Erkenntnisprozesses unterscheidet und vermittelt? Auf Grund der uns leitenden Ausgangsannahmen sind diese Fragen sowie etwaige Möglichkeiten, sie zu beantworten, selbst Teilmomente wissenschaftlicher Bemühungen, also ihrerseits abhängig vom evolutionären Prozeß gesellschaftlicher Entwicklung im allgemeinen und von der Ausdifferenzierung eines Funktionssystems für wissenschaftliche Erkenntnis im besonderen. Bemühungen dieser Art befassen sich mit der Identität eines gesellschaftlich ausdifferenzierten Systems. Wir nennen sie, wie oben vorgeschlagen l12 , Reflexion und ihren Ertrag Reflexionstheorien l13 . Die für unsere Zwecke wichtigen Reflexionsbemühungen beginnen im 18. Jahrhundert, nachdem sich die Ausdifferenzierung einer autonom operierenden wissenschaftlichen Forschung bereits abzeichnet und als Faktum zu denken gibt. In dieser Situation verblassen die Kontroversen, die im 17. Jahrhundert zwischen eher dogmatischen und eher skeptizistischen Tendenzen geführt worden waren, da beide dem Anliegen und den Erfolgen der Forschung nicht gerecht zu werden vermögen. Außerdem ist das seit langem bestrittene Konzept der "angeborenen Ideen" dank der Kritik durch Locke
sur mehr, die perfekte von korrupten Bereichen trennte; und der Mathematisierba keit scheinen keine prinzipiellen, sondern allenfalls methodische und im Stande de Forschung begründete Grenzen gesetzt zu sein. Die Verlagerung von Einheit auf Rela tion gibt aber dem Problem der Erkenntnisgewißheit eine um so dringlichere Relevan Zugleich entfallen für den Gewißheitsgewinn all die Zustimmungsqualitäten, die in de hohen Geburt und im sozialen Status gelegen hatten. Der Idee nach haben alle Perso nen den gleichen Konsenswert und von allen wird persönliche, selbst vollzogene Ein sicht verlangt. Die Wissenschaft richtet sich auf Inklusion der Gesamtbevölkerung ei und kann hierbei nur noch sich selbst, nur noch wissenschaftliches Wissen als differen zierenden Faktor anerkennen. Damit entfallen jegliche außerwissenschaftliche Stütze einer "moral certitude". So spitzt sich für das 18. Jahrhundert die Frage zu: Was kan jetzt noch Fundamentales, noch Einheit des Mannigfaltigen und vor allem: noc Einheit in der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand garantieren? Das, was in dieser Blickbahn als Problem der Induktion oder als Problem der Synthes auftaucht, wird unter zwei Bedingungen gestellt, die die akzeptabel erscheinenden Lö sungsstrategien dirigieren. Die eine Bedingung spiegelt die Differenz von Lebenswel orientierung und strenger, rein aus sich heraus einleuchtender Erkenntnis als Differen zweier subjektiver Vermögen: als Differenz von Erfahrung und Vernunft 114 . Die zwe te Bedingung setzt als Regel, selbstreferentielle Erkenntnisbegründungen zu vermeide Das Zusammenwirken dieser Theorievorgaben führt zu der These, daß die Bedingunge der Möglichkeit der Erfahrung nicht der Erfahrung selbst entnommen werden können und führt damit zum kantischen Begriff des Apriori. Es muß, bewegt man sich auf de Bahn dieses Denkens, ein Apriori geben, da es ja Erfahrung gibt, und also etwas gib was sie ermöglicht und nicht selbst Erfahrung ist. Es geht im weiteren nur darum, da Apriori so zu fassen und so zu lokalisieren, daß seine Leistung der Erkenntnisbegrün dung verständlich gemacht werden kann. Dabei denkt man zunächst nur an den Sach bezug der Erkenntnis. Ihre Temporalstruktur bleibt, wenn man vom Schematismus-K pitel der Kritik der reinen Vernunft absieht, relativ unausgearbeitet und ihre Soziald mension wird durch Generalisierung von Begriffen wie Subjekt, Bewußtsein, Vernunf also über Gattungsbegriffe mitabgedeckt. Die von Kant eingeführte Verschärfung des A priori-Begriffs 115 hat sich durchgeset und hat ihrerseits Schule gemacht, ohne daß die sie leitenden Vorentscheidungen offe gehalten wurden. Den Schwierigkeiten, auf die sich die Erkenntnistheorie nun einla sen mußte, wurde vielmehr durch eine Inflationierung der A prioris begegnet. Hier set der eindrucksvolle Methodenstreit um die Psychologisierung der Erkenntnisgrundlage an, hier rücken Unbewußtes (Fichte), Emotionales (Scheler), Religiöses (Dtto), G schichtliches (Simmel), Soziales (Adler), Werthaftes (Rickert, Scheler) ein. Die Theo rieentwicklung sprengt den strengen erkenntnistheoretischen Rahmen, ohne durch Zu gewinne für die Erkenntnistheorie (oder gar: für die Selbstreflexion des Wissenschaft systems) Wesentliches beitragen zu können. Nur in diesem Sinne werden auch die Zei
benswelt zum Apriori zu erklären. Der Begriff produziert in sich selbst die Selbstreferenz, die zu vermeiden er bestimmt war, indem er sich mit seinem Gegenbegriff identifiziert. Es ist auch für Zwecke soziologischer Analyse nicht unwichtig zu sehen, wohin sich ein Denken bewegt, das genau am Problem der Identität ansetzt und sich so um Reflexion im strengen Sinne bemüht. Diese unter dem Titel "Erkenntnistheorie" gelaufene Geschichte hat wenig Kontakt mit der wissenschaftlichen Entwicklung gehalten 1l6 . Das Verdienst der kontinuierenden erkenntnistheoretischen Diskussion lag mehr darin, eine Bewußtseinslage präsent zu halten, die einen Rückfall in unreflektierten Objektivismus ausschloß - zumindest als Gesamtbegriff von Wissenschaft ausschloß. So war und blieb es immer wieder möglich, Forschungserfahrungen, die auf eine Selbstbeteiligung des Forschers bei der Konstitution (nicht nur: bei der Selektion!) seiner Gegenstände hindeuteten, hoch zu transformieren und auf einer allgemeineren Ebene der Diskussion verfügbar zu halten. Man denke nur an die von Heisenberg formulierte Unbestimmtheitsrelation, an die Unentscheidbarkeitsprobleme der Logik oder an die tagtäglichen Erfahrungen der sozialwissenschaftlichen Empirie. All dies war dank erkenntnistheoretischer Vorbildung mehr als nur eine punktuell anfallende methodische Verlegenheit; es konnte und mußte als Argernis der nicht zu eliminierenden Selbstreferenz der eigenen Praxis erfahren werden.
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Vgl. insb. Thomas S. Kuhn, Die Entstehung des Neuen: Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt 1977. Vgl. auch Werner Diederich (Hrsg.), Theorien der Wissenschaftsgeschichte: Beiträge zur diachronen Wissenschaftstheorie, Frankfurt 1974; Volker Bialas, Grundprobleme der Wissenschaftsgeschichte, in: Nico Stehr und Rene König (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie: Studien und Materialien, Sonderheft 18 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1975, S. 122-134. Für eine empirische Untersuchung mit wissenschaftstheoretischem Anspruch vgl. Karin D. Knorr, The Manufacture of Knowledge, Oxford (im Druck). Hierzu z. B. auf Grund der Thesen von Maturana Peter Hejl, Wolfram K. Köck, Gerhard Roth (Hrsg.), Wahrnehmung und Kommunikation, Frankfurt 1978, ferner etwa Donald T. Campbell, Evolutionary Epistemology, in: Paul Arthur Schilpp (Hrsg.), The Philosophy of Kar! Popper, La Salle, Ill. 1974, Bd. I, S. 412-463. Siehe jetzt zusammenfassend: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, 3 Bde. Hamburg 1976 bis 1980. Siehe auch Günther selbst in: Kritische Bemerkungen zur gegenwärtigen Wissenschaftstheorie, Soziale Welt 19 (1968), S. 328-341, neu gedruckt a. a. 0., Bd. 2, S. 157-170. Siehe nur Francisco ]. Varela, A Calculus for Self-Reference, International Journal of General Systems 2 (1975), S. 5-24; Heinz von Fo erster , The Curious Behavior of Complex Systems: Lessons from Biology, in: Harold A. Linstone, W. H. Clive Simmonds (Hrsg.), Futures Research: New Directions, Reading, Mass. 1977, S. 104-113. Ohne daß Vorstellungen eines Primats der Selbsterhaltung ganz unterdrückt werden konnten. Hierzu besonders Dieter Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie (mit einem Anhang über Selbstbewußtsein und Selbsterhaltung) in: Hans Ebeling (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung: Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt 1976, S. 97-143. Auch die Gegenströmung, die sich seit dem späten 17. Jahrhundert durch die Begriffe "Genuß" und dann "Existenz" führen läßt, wäre bei einer sorgfältigeren Analyse mitzuberücksichtigen.
8 Siehe auch Niklas Lubmann, Reflexive Mechanismen, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd. 1 4. Auf!. Köln-Opladen 1974, S. 92-112. 9 Interessanterweise hält Maturana, der sich an diesem Modellfall orientiert, deshalb ein Umwel bewußtsein in geschlossenen Systemen überhaupt für unmöglich und schreibt deshalb jed Wahrnehmung einer Differenz von System und Umwelt einem Beobachter zu. Vergl. Hum berto R. Maturana, Cognition, in: Hejl et al., a.a.O., S. 29-49 (36 f.). 10 Zu dieser Unterscheidung Hans W. Gottinger, Complexity and Information Technology in Dy namic Systems, Kybernetes 4 (1975), S. 129-141; ders., Notes on Dynamic Systems and So cial Processes, General Systems 20 (1975), S. 121-134; ders., Problems in Large-Sca!e Socia Economic Systems, Journal of Peace Research 15 (1978), S. 131-151. 11 Vgl. Niklas Lubmann, Temporalization of Complexity, in: R. Felix GeyerlJobannes van de Zouwen (Hrsg.), Sociocybernetics, Bd. 2, Leiden 1978, S. 95-111. 12 Daß dies komplizierte Zeitstrukturen, insbesondere die Unterscheidung zweier Arten von Ge genwart voraussetzt, habe ich zu zeigen versucht in Niklas Lubmann, Temporalstrukturen vo Handlungssystemen: Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie, in: Wolfgan Scblucbter (Hrsg.), Verhalten, Handeln und System: Talcott Parsons' Beitrag zur Entwick lung der Sozialwissenschaften, Frankfurt 1980, S. 32-67. 13 Vg!. Alfred Korzybski, Science and Sanity: An Introduction to Non-aristotelian Systems an General Semantics, Lancaster, Pa. 1933, 3. Aufl. Lakeville Conn. 1949 - übrigens auch hier i einem engen, heute nur noch selten erwähnten Verbund mit einer Analyse selbstreferentielle Verhältnisse. Vg!. dazu auch Robert P. Pula, General Semantics as a General System whic Explicitly Includes the System Maker, in: Donald E. WasbburnlDennis R. Smitb (Hrsg. Coping with Increasing Complexity: Implications of General Semantics and General System Theory, New York 1974, S. 69-81. 14 So explizit W. Ross Asbby, Principles of the Self-Organizing System, in: Walter Buckle (Hrsg.), Modern Systems Research for the Behavioral Scientist: A Sourcebook, Chicago 1968 S. 108-118. 15 Die Gründe für die Generalisierung gerade dieses Prinzips bedürften genauerer Klärung. Ein sehr suggestive Hypothese findet sich bei Cbristopb Strosetzki, Konversation: Ein Kapitel g sellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, Frankfu 1978, S. 95 ff. Die Maxime wird generalisiert, da in der höfischen Gesellschaft nicht mehr nu die Damen sich bemühen müssen, den Herren zu gefallen, sondern umgekehrt die Bemühun der Herren um die Damen den Vorrang hat. Das zwinge zur Symmetrisierung der Figur. 16 Strosetzki, a. a. 0., S. 105 f. gibt Hinweise auf Literatur aus den letzten beiden Dekaden de 17. Jahrhunderts. In den deutschen Moralischen Wochenschriften des frühen 18. Jahrhunder stößt man wiederholt auf denselben Topos. 17 Art. Conversation, Encyclopedie ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metier Bd. IV, Paris 1754, Neudruck Stuttgart 1966, S. 165. 18 Vg!. z.B. den Abschnitt über conversation in: Jacques Du Bosq, L'honneste fernrne, Neuau lage Rouen 1939, S. SOff. 19 Saint-Evremond, L'amitie sans amitie, in: OEuvres Bd. 1, Paris 1927, S. 69-78 (74). Er nach Intimisierung der Zweierbeziehungen und nach Entdeckung der unausschöpfbaren In nentiefe der Einzelperson kommt es zur umgekehrten These: Zwei Personen garantieren sic wechselseitig genug Realität und können eben damit das "Außerdem" "dem Grenzwert Nu nähern", wie Simmel, a.a.O., S. 26 formuliert. 20 Zur historischen Entwicklung vgl. eingehend: Interaktion in Oberschichten, in: Niklas Lub mann, Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen G sellschaft Bd. I, Frankfurt 1980, S. 72-161. 21 Siehe hierzu George A. Ke lly , Man's Construction of His Alternatives, in: Gardner Lindze (Hrsg.), Assessment of Human Motives, New York 1958, S. 33-64; vg!. auch G. E. R. Lloyd Polarity and Analogy: Two Types of Argumentation in Early Greak Thought, Cambridge Eng!. 1966, Neudruck 1971, insb. S. 111 H. zur sophistischen Technik des Forcierens von b nären Fragestellungen als Voraussetzung der Führung in Richtung auf beabsichtigte Folge rungen.
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auch dieser Entwicklung und ihres Sozialverständnisses Wolfgang van den Daele, Die soziale Konstruktion der Wissenschaft: Institutionalisierung und Definition der positiven Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele und Wolfgang Krohn, Experimentelle Philosophie: Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt 1977, S. 129-182. Ein eindrucksvolles Zeugnis für die ausführliche, intensive, als sehr nötig empfundene Wiederherstellung der Kompatibilität von Wissenschaft und Religion auf der Grundlage stärkerer kommunikativer Differenzierung bietet Robert Boyle, Of the Usefulness of Natural Philosophy, 1663, insb. Teil I (geschrieben ungefähr 1650, also lange vor der Gründung der Royal Society), zit. nach der Ausgabe in: The Works (ed. Thomas Birch), London 1772, Neudruck Hi!desheim 1966, Bd. 11, S. 1-246. Dort S. 61 die Ansicht, daß Gott kaum durch Sendung guter Engel oder durch nächtliche Visionen die Geheimnisse der Chemie offenbare, wie Anhänger von Helmont oder Paracelsus glauben; daß er aber sehr wohl die menschliche Kommunikation begünstige und die Wissenden für andere abgabe bereit mache, "by whose friendly communication they may often leam that in a few moments, which cost the imparters many a year's toi! and study". Man sieht hier übrigens zugleich, daß wissenschaftliche Kommunikation auch gegen ökonomisches Verhalten in der Ausnutzung des eigenen Wissensvorsprungs differenziert werden muß. Hierzu Henry G. van Leeuwen, The Problem of Certainty in English Thought 1630-1690, 2. Aufl. Den Haag 1970. Dieser Punkt des nur Subjektiven und Entwurfhaften aller Theorieansprüche und Systematiken hat seinerseits starke Berührungen mit dem Konversationsideal des Unverbindlichen. Es ist denn auch kein Zufall, daß dieser Aspekt mehr in Frankreich als in England (Newton lehnt ihn explizit ab) gepflegt wird. Vgl. z. B. Friedrich Kambartei, "System" und "Begründung" als wissenschaftliche und philosophische Ordnungsbegriffe bei und vor Kant, in: Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter (Hrsg.), Philosophie und Rechtswissenschaft: Zum Problem ihrer BeziehungeE im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1969, S. 99-113 (101 f.). Und dies vor dem Hintergrund der um 1600 aufkommenden Frage, ob die moderne Entwicklung die Kultur und den Wissensstand der Antike überbieten könne. Siehe hierzu Richard F. Jones, Ancient and Modems: A Study of the Rise of the Scientific Movement in SeventeenthCentury England, 2. Aufl. St. Louis 1961, Neudruck Berkeley - Los Angeles 1965. So Ernan McMullin, Empiricism and the Scientific Revolution, in: Charles S. Singleton (Hrsg.), Art, Science, and Hisrory in the Renaissance, Baltimore 1967, S. 331-369 (332). Vgl. auch ders., Medieval and Modern Science: Continuity or Discontinuity?, International Philosophical Quarterly 5 (1965), S. 103-129. Siehe nut Gernot Böhme, Die Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Diskurse, in: Nico Stehr, Rene Kön?! (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie: Studien und Materialien, Sonderheft 18 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1975, S. 231-253. Vgl. auch Ashby, a. a. 0., S. 108 f. Vgl. oben S. 106. Ich folge in der Darstellung (allerdings nicht in der Verwendung des Reflexionsbegriffs) hier Gotthard Günther, Metaphysik, Logik und die Theorie der Reflexion, Archiv für Philosophie 7 (1957), S. 1-44, neu gedruckt in Günther, a.a.O., Bd. 1, S. 31-74. Gotthard Günther moniert mit Recht diese metaphysische OberanstrengJlng der zweiwertigen Logik und sieht auch zutreffend, daß diese Axiomatik sich für ein System mit multiplen Prozessoren (einer Mehrheit von "Subjekten") nicht eignet. Allerdings basiert diese Kritik letztlich noch auf der transzendentalen Theorie und versucht nur, das Eigenrecht der subjektiven Reflexionsidentität zu formulieren. Die soziologische Relevanz dieser Kritik hat als erster wohl Helmut Schelsky geahnt. Es gibt natürlich auch Fälle, in denen diese Normalablenkung nicht funktioniert, ja sogar erwartbar nicht funktioniert. So, wenn man sich gehalten fühlt, jemandem mitzuteilen, daß seine Kleidung derangiert oder sonst etwas Peinliches an ihm sichtbar sei. Das sind dann Fälle, in denen die Zurechnung auf das Objekt (Satzsubjekt) auf den zurückgelenkt wird, der es für nötig hält, über dies Thema zu kommunizieren.
rien - interdisziplinär Bd. 11, 1, München 1978, S. 235-253. 36 Auch dieser Prozeß ist dann wieder für Rekonstruktion verfügbar, für "Arbeit am Mythos" um den Leitgedanken von Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt 1979 aufzuneh men. 37 Zu der in diesem Zusammenhang wichtigen hermetischen Tradition vg\. Frances A. Yates Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964; P. M. Rattansi, The Social Inter pretation of Science in the Seventeenth Century, in: Peter Matbias (Hrsg.), Science and So ciety 1600-1900, Cambridge Eng\. 1972, S. 1-32; Tbomas Scbnelle und W. Baldamus, So ciological Reflections on the Strange Survival of the Occult Within the Rational Mechanisti World View, Zeitschrift für Soziologie 7 (1978), S. 251-266. Siehe ferner: Robert Lenoble Mersenne ou la naissance du mecanisme, Paris 2. Auf!. 1971, insb. S. 83 ff.; Brian P. Copen baver, Symphorien Champier and the Reception of the Occultist Tradition in Renaissanc France, Den Haag 1978. 38 Hierzu im Kontext des allgemeinen Konzepts symbolisch generalisierter Kommunikationsrne dien Niklas Lubmann, Systemtheoretische Argumentationen, in: ]ÜTgen Habermas und Nikla Lubmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt 1971, S. 291-405 (342 ff.); ders., Einführende Bemerkungen zu einer Theorie sym bolisch generalisierter Kommunikationsmedien, in: ders., Soziologische Aufklärung Bd. 2, Op laden 1975, S. 170-192. 39 Man wird fragen, wie denn Selbstreferenzen behandelt werden können, wenn, wie im Fall politischer Macht, Ego und Alter mit Handlungszurechnung engagiert sind. An die Stelle vo Externalisierungen tritt dann eine Ausweitung des Zirkels, eine Umleitung von Macht, di dem Politiker Macht üher die Verwaltung, dieser Macht über das Publikum und diesem wiede Macht über die Politiker zuweist, so daß in jeder Phase dieses Zirkels die anderen beiden al extern gegeben unterstellt werden können. Entsprechend unterscheiden sich die Reflexions theorien. Sie haben im Falle von Wissenschaft ihr Problem als Identität in der Differenz vo Erkenntnis und Gegenstand, im Falle von Politik dagegen ihr Problem als Identität in der Dif ferenz von Machthabern und Machtunterworfenen. 40 Schon bei einem dreiwertigen Profil würden immer wieder Unklarheiten darüber entstehen gegen welche Alternative ein Partner seine Selektionen primär orientiert. Daß die vorgeschrie bene Zweiwertigkeit dies Problem nicht endgültig löst, versteht sich von selbst. Zahllose un gerade auch fruchtbare Mißverständnisse entstehen im wissenschaftlichen Diskurs dadurch daß die Vergleichshorizonte der Partner divergieren, gegen die ihre Aussagen abgehoben sind. 41 Psychologisch gesehen bleibt es natürlich dabei: Die Negation von Unwahrheiten ist kein volle Äquivalent für Wahrheiten. Vg\. hierzu P. N. ]obnson-Laird und ]obanna Tagart, How Impl cation is Understood, American Journal of Psychology 82 (1969), S. 367-373; David E Kanouse, Language, Labeling, and Attribution, in: Edward E. ]ones et al., Attribution: Pe ceiving the Causes of Behavior, Morristown N. J. 1971, S. 121--135 mit interessanten überle gungen über Rückwirkungen auf den Attributionsprozeß. 42 Für Pascal war dieser Umweg über das Gegenteil noch Mängelzeichen, nicht Steigerungsprin zip; nämlich Notlösung angesichts der Tatsache, daß dem Menschen die direkte Wahrheitsin tuition fehle. Siehe De I'esprit geometrique et de I'art de persuader, in: CEuvres (ed. de l P\c~iade), Paris 1950, S. 358-386 (369). 43 Vg\. auch die Kritik dieser "heute langsam im Verschwinden begriffenen weltanschauliche Attitüde" bei Gottbard Güntber, Das Janusgesicht der Dialektik, in: W. R. Beyer (Hrsg.), He gel-Jahrbuch 1974, Köln 1975, S. 89-117 (90); neu gedruckt in ders. a.a.O., Bd. 2, S. 307 335 (308). 44 Vg\. z. B. Neal G. Miller, Central Stimulation and Other New Approaches to Motivation an Reward, American Psychologist 13 (1958), S. 100-108. 45 Speziell hierzu Niklas Lubmann, Selbststeuerung der Wissenschaft, in: ders., Soziologisch Aufklärung Bd. 1,4. Aufl., Opladen 1974, S. 232-252. 46 Gemeint ist hier: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die trans zendentale Phänomenologie, Husserliana Bd. VI, Den Haag 1954.
der Identität in der Differenz von Erkenntnis und Gegenstand. 49 Plato konstruiert auch diese Unterscheidung Sophist/Philosoph wiederum binär, und zwar danach, ob man sich am Nichtsein oder am Sein orientiert (Sophistes 254 A), wodurch der das Sein schon kennende Philosoph in eine Stellung gerät, die ihn der sozialen Dialektik entzieht und ihn sie nur noch handhaben läßt. Damit ist der übergang zu einer nicht mehr dialektischen Analytik vorbereitet, die man dann später Logik nennen wird. 50 VgI. Eric A. Havelock, Preface to Plato, Cambridge, Mass. 1963; ders., The Greek Concept of Justice: From Its Shadows in Homer to Its Substance in Plato, Cambridge, Mass.1978. Bemerkenswert auch Jack Goody und [an Watt, The Consequences of Literacy, Comparative Studies in Society and History 5 (1963), S. 304-345. 51 Dies ist an Hand der wissenschaftlichen Biographie des Aristoteles gut zu belegen: Die Topik ist vor den Analytiken geschrieben worden. Vgl. Ernst Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Dt. übers., Göttingen 1965, S. 7 ff. Vgl. auch die genau entsprechenden Ausführungen zu Epagoge/Induktion S. 89 ff. 52 Wobei die Geschichte des Begriffs, der aus dem Gerichtsverfahren stammt und ursprünglich Anklage bedeutete, in der Form negierbarer Prädikate das Inquisitorische eines zweiwertigen Frageschemas noch festhält, auch wenn nicht mehr der Befragte, sondern das Sein zu antworten hat. 53 Works (ed. Thomas Birch), Bd. IV., S. 450, zitiert nach McMullin, a.a.O. (1967), S. 354. 54 Dies wiederum ist eine Voraussetzung der Symmetrisierung im binären Schematismus; denn nur so kann man die Bemühung um die Feststellung von Unwahrheiten (oder um "Falsifikation") für gleichbedeutsam halten wie die Bemühung um die Feststellung von Wahrheiten. 55 Von Plato über die stoische und neustoische Ethik, über Agrippa von Nettesheim bis hin zu Parsons lassen sich viele Varianten dieses Vorgehens entdecken. Als Rahmenkonstruktion für empirische Forschungen besitzt es ungetrübte Attraktivität. Selbst Max Weber findet sich neuerdings mit Erfolg in diese Form gebracht - durch Wollgang Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979. Die theoretische Ableitung der Randvariablen läßt jedoch, bei allem Fortschritt im Vergleich zu den mehr naturalen Ausgangsannahmen der Antike, immer noch zu wünschen übrig. Vgl. dazu auch Niklas Luhmann, Talcott Parsons: Zur Zukunft eines Theorieprogramms, Zeitschrift für Soziologie 9 (1980), S. 5-17. 56 Siehe Metaphysik, Lambda 9 (1074 b 15 ff.). Vgl. dazu auch Klaus Oehler, Aristotle on SelfKnowledge. Proceedings of the American Philosophical Society 118 (1974), S. 493-506 (insb. 503). 57 Eben deshalb wird in der Fachliteratur die Anzahl der notwendigen Schritte auch als ein Maß für Komplexität (computational complexity) vorgeschlagen. 58 Vg!. Kenneth Arrow, Social Choice and Individual Values, 2. Aufl. New Vork 1963. 59 Die erste Variante ist eher in der Philosophie, die zweite in der Wirtschaftstheorie (mit Bezug auf Produktionsfaktoren) gebräuchlich. 60 Errata naturae, die aber der Bestätigung der normalen Ordnung dienen, bei Fortunius Licetus, De monstris, zit. nach der Neuauflage Amsterdam 1665, S. 5, 29. Siehe für das breite, über die Zoologie weit hinausgehende Interesse an monströsen Erscheinungen auch De La Mothe le Vayer, Des Monstres, in: Opuscules ou Petits Traittez, Paris 1647, S. 342-384. 61 zitiert nach Jacques Roger, Les sciences de la vie dans la pensee fran~aise du XVIlIe siecIe, 2. Auf!. Paris 1971, S. 389. 62 "Je n'ay veu monstre et miracIe au monde plus expres que moy-mesme", notiert Montaigne, Essais 111, XI, ed. de la Pleiade, Paris 1950, S. 1154. 63 Klaus Hartmann, Zur neuesten Dialektik-Kritik, Archiv für Geschichte der Philosophie 55 (1973), S. 220-242 (229). 64 Für andere Beispiele siehe Niklas Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt 1977, S. 126 ff., 200 ff.; Niklas Luhmann und Karl Eberhard Schorr, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Stuttgart 1979, S. 58 ff. 65 Hiergegen ließe sich einwenden, daß auch die Wirtschaftstheorie diesen Begriff verwendet. Aber sie tut dies mit dem Ziel - vgl. Erich Schneider, Einführung in die Wirtschaftstheorie
66 Dies ist das Verdienst des sog. "Kontingentismus". Siehe Emile Boutroux, De la conti gence des lois de nature, Paris 1874, zit. nach der 8. Aufl. Paris 1915. Vgl. auch Ferdinand P likan, Entstehung und Entwicklung des Kontingentismus, Berlin 1915. 67 Das gilt besonders für das Verhältnis zu klassischen Methodenzielen der Erklärung und Pro nose; aber auch ganz allgemein für die operative Verwendung des binären Schematismus, d den Funktionalisten, allen voran Parsons, zumeist in Theorieform erscheint. 68 Früher hatte man einen zweiten Begriff: "Annihilation", der als Gegenbegriff zu Schöpfu den darüber hinausgehenden Fall: die Aufhebung der Weltkontinuität, bezeichnen sollte. W können uns statt dessen heute eine von anderen Ebenen der Systembildung ausgehende ph sikalische oder chemische Annihilation der sinnhaft konstituierten Welt vorstellen. 69 Hierzu besonders Michael Giesecke, Schriftsprache als Entwicklungsfaktor in Sprach- un Begriffsgeschichte, in: ReinhartKoselleck (Hrsg.), Historische Semantik und Begriffsg schichte, Stuttgart 1979, S. 262-302. 70 Dazu unter dem Gesichtspunkt der Ausdifferenzierung von spezifisch normativen Erwartung strukturen auchNiklasLuhmann,Rechtssoziologie, 2 Bde., Reinbek 1972, insb. Bd. 1, S. 40ff. 71 Eine für diese theoretischen Zwecke ausreichende Aufarbeitung der Begriffs- und Problemg schichte von "Natur" steht noch aus. Die wichtigsten Beiträge fassen einzelne historische Ep chen ins Auge. Für einen knappen Gesamtüberblick vgl. Heinrich Schipperes, Natur, in: G schichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutsc land, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 215-244. Zu der für unser Thema besonders wichtigen neu ren Entwicklung vgl. [ta Osske, Ganzheit, Unendlichkeit und Form: Studien zu Shaftesbur Naturbegriff, Berlin 1939; RogerMercier, La rehabilitation de la nature humaine (1700-1750 Villemomble (Seine) 1960; Jean Ehrard, L'idee de nature en France dans la premiere moit du XVIIIe siede, Paris 1963; Robert Spaemann, Genetisches zum Naturbegriff des 18. Jah hunderts, Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 59-74; Heribert M. Nobis, Frühne zeitliche Verständnisweisen der Natur und ihr Wandel bis zum 18. Jahrhundert, Archiv f Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 37-58; ders., Die Umwandlung der mittelalterlichen Natu vorstellung, Archiv für Begriffsgeschichte 13 (1969), S. 34-57. 72 Gut ablesbar an einer Formulierung von Joseph Glanvill, The Vanity of Dogmatizing, Londo 1661, Nachdruck Hove, Sussex 1970, S. 180: "Nature works by an iQ.visible hand in all things Diesen Aspekt einer religionsunabhängigen, aber doch quasi-religiösen Sicherung (im Unte schied zu schlichtem Skeptizismus) betont auch Benjamin Nelson, Der Ursprung der M derne: Vergleichende Studien zum Zivilisationsprozeß, Frankfurt 1977, insb. S. 94 ff., 165 f 73 Siehe das interessante Argument bei Francis Hutcheson, An Essay on the Nature and Co duct of the Passions and Affections, London 1728, Preface S. VII f.: Man könne trotz f scher Meinungen über die Optik gut sehen, trotz falscher Meinungen über die Moral gut ha deln, "True Opinions, however, about both, may enable us to improve our natural Power and to rectify accidental Disorders incident into them." Nur der Fortschritt erfordert als s nen archimedischen Punkt Anhalt in einer Erkenntnis der Natur. 7 4 Für ein solches überleben und Wiederaufleben älterer Traditionen, die fundierende Einhei vorsteIlungen gegenüber "moderneren" Entwicklungen festzuhalten suchen und dann a "okkult", als "mystisch" etc. abqualifiziert werden, ist die auch "hermetische" Lehre e kennzeichnendes Beispiel. Siehe die Hinweise oben Anm. 37. 75 Vgl. Walter Freund, Modernus und andere Zeitbegriffedes Mittelalters, Köln - Graz 1957. 76 Hierzu Robert Spaemann, Fanatisch, Fanatismus, in: Historisches Wörterbuch der Philos phie, Bd. 2, Basel-Stuttgart 1972, S. 904-908. 77 Der Streit über die relativen Verdienste der älteren bzw. neueren Wissenschaft im 16./1 Jahrhundert hat sich denn auch vornehmlich auf Autoritätszuschreibungen bezogen, und diesem Zusammenhang muß man es sehen, daß den Älteren schließlich sogar ihr Alter bestr ten wurde mit dem Argument, daß sie eigentlich in einer jüngeren Epoche der historisch Entwicklung gelebt haben und insofern jünger sind als die jetzt Lebenden. (Das Argume juventas mundi antiquitas saeculi scheint von Giordano Bruno über Bacon nach Engla gewandert zu sein, vgl. auchJones, a. a. 0., S. 44).
Ausbildung, der Gerichtsprozesse usw.). 79 "The Aristotelian Philosophy is inept for New Discoveries; and therefore of no accomodation to the use of life", heißt es bei Glanvill, a. a. 0., S. 178. 80 "Most of our Rarities have been found by casual Emergency; and have been works of time and chance rather than of Philosophy" (Glanvill, a. a. 0., S. 179). 81 Vg!. etwa Henri Busson, La religion des dassiques (1660-1685), Paris 1948; Richard S. Westfall, Science and Religion in Seventeenth-<:entury England, New Haven 1958; Theodore K. Rabb, Religion and the Rise of Modern Science, Past and Present 31 (1965), S. 111-126; Rainer Specht, Innovation und Folgelast: Beispiele aus der neueren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1972; Charles Webster (Hrsg.), The Intellectual Revolution of the Seventeenth Century, London 1974. 82 Principes de la philosophie 205 und 206 «Euvres et Lettres, ed. de la Pleiade, Paris 1952, S. 668 ff.). Für Hobbes liegt eine analog formulierte Unterscheidung ganz innerhalb kommunikativer Verhältnisse: "The signes of Sdence, are some certain and infallible; some uncertain. Certain, when he that pretendeth the Science of any thing, can teach the same; that is to say, demonstrate the truth thereof perspicuously to another: Uncertain, when onely some particular events answer to his pretence, and upon many occasions prove so as he sayes they must" (Leviathan I 5, zit. nach der Ausgabe der Everyman's Library, London 1953, S. 22). 83 "Omne quod multis indiciis confirmatur, quae vix concurre possunt nisi in vero, est moraliter certurn"; so in Opuscules et Fragments inedits de Leibniz (ed. Louis Couturat), Paris 1903, Neudruck Hildesheim 1966, S. 515. 84 In diesem Zusammenhang gibt es längst vor Hume das Wissen, daß es kein gesichertes Kausalwissen geben kann und daß somit alle empirische Wissenschaft auf moral certitude rekurrieren muß. Siehe z. B. Glanvill, a. a. 0., S. 188 ff. Damit waren nicht zuletzt den Tendenzen Schranken gezogen, die mechanistische Philosophie als letzte Antwort auf alle Fragen zu akzeptieren. 85 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana Bd. VI, Den Haag 1954. 86 A. a. O. S. 57. 87 Siehe auch Erfahrung und Urteil: Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1948, S. 38 ff. 88 Krisis a. a. O. S. 70. 89 Vg!. unter anderem Hubert Hohl, Lebenswelt und Geschichte: Grundzüge der Spätphilosophie E. Husserls, Freiburg 1962; lose Gaos, Ludwig Landgrebe, Enzo Paci und john Wild, Symposium sobre la nodon Husserliana de la Lebenswelt, Mexico 1963; Stephan Strasser, Phänomenologie und Erfahrungswissenschaft vom Menschen: Grundgedanken zu einem neuen Ideal der Wissenschaftlichkeit, Berlin 1964, S. 61 ff.;john C. McKinney, Typification, Typologies, and Social Theory, Sodal Forces 48 (1969), S. 1-12; Paul janssen, Geschichte und Lebenswelt: Ein Beitrag zur Diskussion von Husserls Spätwerk, Den Haag 1970; Gerd Brand, Die Lebenswelt: Eine Philosophie des konkreten Apriori, Berlin 1971; Fred Kersten, The LifeWorld Revisited, Research in Phenomenology 1 (1971), S. 33-62; Karl Vlmer, Philosophie der modernen Lebenswelt, Tübingen 1972; Lester Embree (Hrsg.), Life-World and Conscious.ness, Evanston 1972; Lothar Eley, Life-World Constitution of Proposition al Logic and Elementary Predicate Logic, Philosophy and Phenomenological Research 32 (1972), S. 322340; Gerhard Funke, Phänomenologie - Metaphysik oder Methode, 2. Auf!. Bonn 1972, insb. S. 97 ff., 136 ff.; Alfred Schütz und Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Neuwied 1975; Achille Ardigo, Crisi di governabiliti e mondi vitali, Bologna 1980. 90 So in den Aufsätzen von Alfred Schütz, gesammelt in: Collected Papers, 3 Bde., Den Haag 1962-1970. Vg!. auch Aaron Gurwitsch, The Common-sense World as Sodal Reality: A Discourse on Alfred Schütz, Social Research 29 (1962), S. 50-72; Peter Berger, Invitation to Sociology: A Humanistic Perspective, Garden City N.Y. 1963, S. 66 ff. Dagegen sind Begriffe wie Alltagsleben, Alltagsorientierung auch außerhalb dieses Theoriezusammenhanges in Gebrauch, und zwar schon im Mittelalter im Sinne dessen, was jedermann auffallen muß (quotidiana dispositio).
93 The Structure of Social Action, New Vork 1937, S. 178 ff. 94 So nimmt es denn auch nicht Wunder, daß Pareto unter den "founding fathers" der Parson schen Theorie im Laufe der Zeit zurücktritt. 95 Zu einem stecken gebliebenen Versuch siehe Richard Grathoff (Hrsg.), The Theory of Soc Action: The Correspondence of Alfred Schutz and Talcott Parsons, Bloomington Ind. 1978. 96 Aber dies wiederum nicht im Sinne der vordergründigen Unterscheidung von Monolog u Dialog wie bei Plato oder Habermas (Sophistes 217 C-D). 97 Diesen Weg sucht Gotthard Günther im überwinden der iterativen durch eine die Iteration aktuale Unendlichkeit einbeziehende Reflexion. Vgl. Metaphysik, Logik und die Theorie d Reflexion a. a. O. Das führt auch Günther auf die Sozialdimension - aber wiederum nur: a der Perspektive des Subjekts, das in der Reflexion auf die Reflexion ein alter Ego deduziert. 98 Wenn ich formuliere: "die" Theorie, so überzieht das den Grad an Vereinheitlichung, der den derzeit vorhandenen Forschungen faktisch zu finden ist. Das ist zuzugestehen. Die unte stellte Einheit ist nur ein Postulat. Aber angesichts einer so rasch nicht zu ändernden offen Situation kann es auch nützlich sein, vor Augen zu führen, welche Bedeutung eine konsolidie te Theorie hätte, wenn es sie gäbe, und eine Weile mit Krediten zu arbeiten. 99 Ein Frontalangriff auf diese Voraussetzung führt bekanntlich die "Ethnomethodologie", oh damit allerdings wesentlich über die Feststellung eben dieser Voraussetzung selbst hinausg kommen zu sein. Vgl. Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Englewood Cli N.]. 1967. Das Ziel dieser Forschung bleibt unklar, solange das Verhältnis von Lebenswe und Wissenschaft nicht geklärt ist. Das Bemühen, die Lebenswelt auf wissenschaftliche B griffe zu bringen, scheint damit zu enden, daß die Wissenschaft auf eine lebensweltliche Pr xis reduziert und nur noch als solche reflektiert wird. 100 Daß diese Quellenabhängigkeit (und damit: vorausgesetzte Asymmetrie) in den platonisch Dialogen noch präsent ist, hatten wir oben (S. 116) durchblicken lassen. Zugleich ist hier ab auch die Situation des Umbruchs faßbar. Der Fragende ist im Kommunikationsprozeß zuglei Quelle der Erkenntnis, und je nach dem, ob er als Philosoph oder als Sophist vorausgese wird, läuft der dialektische Prozeß ins Wahre oder ins Unwahre. Genau diese Differenz wi aber ihrerseits zum Thema der dialektischen (!) Untersuchung, weil von ihr Gebrauch od Mißbrauch der Dialektik selbst abhängt. Einerseits ist also die Quelle als Status des Fragend noch vorausgesetzt; und andererseits asymmetrisiert sich das selbstreferentielle System sch selbst dadurch, daß es mit eigenen Mitteln über diesen Status, von dem es sich abhängig wei entscheidet. Die Entscheidung ihrerseits hat dann aber wieder die Form der Zuschreibung ner außerhalb der Sachbezüge liegenden Quellenqualität: Der Sophist wird bestimmt als W sen vortäuschender Nachahmer (Sophistes 267 E - 268 D). 101 Mit diesem Prozeß beginnt die Behandlung des gleichen Themas bei Gernot Böhme a. a. S. 237 ff.; sie bleibt damit zu stark abhängig von der Vorstellung der "Diskurs-Theorie": d es besondere Formen der Argumentation seien, die eine wissenschaftliche Einstellung zur L benswelt herbeiführten. 102 Daß auf Grund der Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung Gegenstände hergestellt we den können, für die es in der Natur kein Vorbild gibt, soll damit selbstverständlich nicht b stritten sein; aber das ist ein ganz anderes Problem als das der wissenschaftsspezifischen Gege standskonstitution. 103 Hierzu sowohl historisch wie in der Sache: Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsb griff, Berlin 1910. 104 Erstmals wohl durch Marin Mersenne. Vgl. Robert Lenoble, Mersenne ou la naissance du m canisme, 2. Aufl. Paris 1971, S. 316, 320. 105 Vgl. Ranulph Glanville, The Nature of Fundamentals, Applied to the Fundamentals of Natur in: George]. Klir (Hrsg.), Applied General Systems Research: Recent Developments an Trends, New Vork 1978, S. 401-409. 106 Siehe Talcott Parsons, The Structure of Social Action, New Vork 1937, S. 43 ff. 107 Man denke nur an die Probleme, die die Dekomposition des Handlungsbegriffs durch Parso der empirischen Forschung mit ihrem gegenwärtig praktizierten Instrumentarium aufgibt.
110 Das ist auch in der Theorie selbstreferentieller Systeme wohl unbestritten. Vgl. etwa W. Ross Asbby, Principles of the Self-Organizing System, in: Heinz von Foerster und George w. Zopf (Hrsg.), Principles of Self-Organizations, New York 1962, S. 255-278, neu gedruckt in Walter Buckley (Hrsg.), Modern Systems Research for the Behavioral Scientist, Chicago 1968, S. 108-118 (114). 111 w. Ross Asbby, An Introduction to Cybernetics, London 1956, S. 4. 112 Vgl. S. 104. 113 Für Paralleluntersuchungen im Bereich anderer Funktionssysteme vgl. Niklas Lubmann und Karl Eberbard ScborT, Reflexionsprobleme im Erziehungssystem, Stuttgart 1979; Niklas Lubmann, Selbstreflexion des Rechtssystems: Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive, Rechtstheorie 10 (1979), S. 159-185. 114 Diese Version wurzelt ihrerseits in der Ablehnung der Vorstellung, daß der menschliche Geist ein geschlossen-selbstreferentielles System sei, und in der entsprechenden Unterscheidung zweier Vermögen, bei Locke z. B. "sensations" und "reflections". Als radikale Kritik der Möglichkeit einer solchen Entscheidung siehe schließlich Edmund Husserl, Erste Philosophie I, Husserliana Bd. 7, Den Haag 1956, S. 78 ff. Die Diskussion dieser Frage (und das überflüssigwerden jener Differenz) steht in engem Zusammenhang mit der Umlagerung der Einheitsgarantie aus dem Objekt über simple ideas in die Intention. 115 Statt "aus der Vernunft stammend" heißt es seit Kant: "schlechterdings und ohne alle Beimischung von Erfahrung aus der Vernunft stammend", und diese Verschärfung ist im Hinblick auf Erkenntnistheorie gewählt. Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 2 f. 116 Der ohne Kant nicht denkbare "Methodenstreit" der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende ist eine Ausnahme von dieser Regel, und vielleicht nicht einmal eine Ausnahme. Die Folgen für die Wissenschaftsentwicklung bedürften rückblickend einer genaueren Untersuchung. So sehr die stimulierende Bedeutung für Max Weber und andere auf der Hand liegt: in der Alternative von eher psychologischer oder entpsychologisierter (aber dann noch "subjektiver") Begrifflichkeit der Methodologie lag kein Thema, dessen Entscheidung die Sozialwissenschaften hätten voranbringen können. Anders urteilt Toby E. Huff, On the Methodology of the Social Sciences: A Review Essay, Ms. 1979.
Von Agnes Heller
Geschichtsphilosophie ist an sich ein historisches Problem und ein Problem der W senssoziologie. Sowohl die wissenschaftliche Historiographie als auch die Geschich philosophie sind Ausdruck neuzeitlichen Geschichtsbewußtseins und gleichzeitig O jektivationen, die ebenfalls Anspruch auf Wahrheit erheben. Die Antinomie zwisch der Norm des authentischen Selbstausdrucks unserer Historizität und zwischen d Norm, wahre Theorien über geschichtliche Vergangenheit zu präsentieren, kann v der Historiographie gelöst werden, nicht aber von der Geschichtsphilosophie. Die kann die erste Norm und nicht die zweite erfüllen. Die Frage ist jedoch, und sie mu beantwortet werden, warum wahres Wissen um die Gegenwart über zwei Jahrhunder als wahres Wissen der Geschichte als solche dargestellt wurde; welchen Bedürfniss diese genügte und ob diese Bedürfnisse, denen sie genügte, ihren Anspruch auf Wah heit legitimieren. Und eben gerade das ist eine Frage der Wissenssoziologie.
I
Über die Genese menschlicher Existenz wurde in etlichen Philosophien immer refle tiert; Reflexion über die Genese menschlicher Existenz ist daher nicht spezifisch g schichtsphilosophisch. Ähnlich ist das Entstehen verschiedener sozialer Institutionen schon immer Spekul tionsgegenstand etlicher Philosophen gewesen. Fragen, wie und warum sich ein b stimmter Herrschaftstyp entwickelte oder wie eine bestimmte Art von Eigentumsve hältnis entstand, wurden seit Plato von Philosophen ständig aufgeworfen. Reflexio über die Genese konkreter, sozialer Institutionen ist daher wiederum nicht spezifis geschichtsphilosophisch. . Philosophen haben sich beständig über Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens g äußert. Sie stellten kausale Wechselbeziehungen fest und wandten diese auf sozia Phänomene ihrer eigenen Zeit an. Sie formulierten ebenso generalisierte Aussagen üb die Gesellschaft. Sie ist die Idee von Sozialgesetzen, die Anwendung von Typologi und Generalisierung bestimmter struktureller und zeitlicher Wechselbeziehungen zw schen Sozialmustern nicht spezifisch geschichtsphilosophisch. Die zentrale Kategorie der Geschichtsphilosophie ist Geschichte, und zwar Geschich als solche ("Universalgeschichte"), die einerseits die Vergangenheit, Gegenwart un Zukunft, andererseits alle Sonderzweige der Geschichte umfaßt. Jede Geschichte un
gen oder Manifestationen der" Universalgeschichte" in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die universelle Tendenz wird entweder als Fortschritt oder als Rückschritt oder als Wiederkehr derselben Entwicklungsmuster der "Universalgeschichte" gesehen. Generalisierte Aussagen werden formuliert mit Bezug auf" Universalgeschichte" als Ganzes. Selbst die Aussage, daß es "keine allgemeinen Gesetze in der Geschichte gibt" ist eine generalisierte Aussage über Geschichte als solche (über" Universalgeschichte "). In der Geschichtsphilosophie sind Kausalerklärungen nicht primär auf bestimmte Ereignisse, Strukturen oder Haltungen ausgerichtet; es ist die "Universalgeschichte" als solche, die durch einen kausalen Nexus oder einen finalen Nexus oder durch beides erklärt wird. Die Aussagen, daß geschichtlicher Wandel das Ergebnis individueller Entscheidungen ist, oder daß geschichtliche Entwicklung das Resultat zufälliger Faktoren ist, sind ebenso sehr Erklärungen der Geschichte als solche wie der Vorschlag, daß Geschichte die Selbstentwicklung des Weltgeistes ist. Alle verschiedenen Geschichtszweige müssen irgendwie arrangiert und zusammengefügt werden. Dabei müssen die Geschichtsphilosophen ein allgemeingültiges Maß auf alle Sonderzweige anwenden. Es ist dieses allgemeingültige Maß, das angibt, welchen Platz eine Kultur oder eine Kulturperiode innerhalb der "Universalgeschichte" einnimmt. Die meisten Geschichtsphilosophen arbeiten mit einem Indikator, einige mit zweien. Je nach Geschichtsphilosophien können sie Indikatoren des Fortschritts, des Rückschritts oder der ewigen Wiederkehr sein. Der gleiche Indikator kann dazu benutzt werden, Fortschritt oder Rückschritt anzuzeigen, je nach dem Wertsystem des betreffenden Philosophen (wie z. B. die Industrieentwicklung oder der Anstieg der Gleichheit). Der Indikator wird gewöhnlich mit einer unabhängigen Variablen der geschichtlichen Entwicklung identifiziert (wie bei G. W. F. Hegel) , aber dazu gibt es viele Ausnahmen (eine repräsentative ist Emile Durkheim). Die, die mit zwei Indikatoren arbeiten (wie Antoine de Condorcet oder Karl Marx) identifizieren im allgemeinen die unabhängige Variable mit einem der beiden. In der Geschichtsphilosophie bedeutet Genese der Existenz Genese der Geschichte. Das Universum ist entweder gar nicht in die Analyse miteinbezogen oder nur in seiner Fähigkeit der Vorgeschichte zur "Universalgeschichte" und oft einfach als dessen Voraussetzung oder Beschränkung. Das gilt selbst für Sigmund Freud. Immanuel Kants kopernikanische Wendung legte den Weg für die Geschichtsphilosophie frei, aber deren Entstehung fiel ebenso mit der "Entzauberung der Welt" zusammen. Die Emanzipation der Naturwissenschaften von der Philosophie, deren Methodologie, die darauf abgezielt ist, die Natur als bloßes Objekt zu konstruieren, wurde von der Geschichtsphilosophie begrüßt. Die Konstruktion der" Universalgeschichte" mit ihren Indikatoren und unabhängigen Variablen war ebenfalls als Anwendung wirklich wissenschaftlicher Methode auf die Philosophie gedacht. Wer in der Geschichtsphilosophie nur eine säkularisierte Form von Religion sieht, übersieht diesen wichtigen Punkt.
mischt. Die Idee, daß jemand, der gegen historische Gesetze verstößt, zugrunde gehen wird, hat mehr gemein mit der letzteren als mit der vorhergenannten Vorstellung von "Gesetz", sowie auch jene Idee, nach der das Gesetz Handlungsfreiheit "einräumt". Der Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit, von Notwendigkeit und Zufall ist inzipient in allen Geschichtsphilosophien. Die Geschichtsphilosophie ist natürlich nur ein besonderer Zweig der Philosophie überhaupt. Grundsätzlich folgt sie den allgemeinen Mustern aller Philosophien. Sie kontrastiert das Sollen mit dem Sein, sie konstituiert ihre Ideen nach diesem Muster und folgert das Sollen aus dem Sein. In dem gegebenen Fall enthält Sein "Universalgeschichte" und Historizität, Sozialentwicklung und individuelles Dasein - beide zeitlich gesehen; das Sollen enthält entweder beides oder nur Historizität, im ersten Fall als Zukunft der Gesellschaft, im zweiten als Schicksal individueller Existenz. So kann das Sollen also als ein neuer zukünftiger Schritt im historischen Fortschritt gesehen werden oder als Selbstbewußtsein der Historizität. Aber in beiden Fällen, wie in allen Philosophien, wird das Sollen als die Einheit des Guten und Wahren, also als Wahrheit begriffen. Wird jedoch Dasein als Historizität verstanden und "condition humaine" als Geschichte, dann kann Wahrheit mit Wahrheit in der Geschichte oder Wahrheit der Geschichte identifiziert werden. Wie Hegel es ausdrückte, es ist Wahrheit in der Geschichte, die durch die Geschichtsphilosophie gesetzt ist. Die andere mögliche Lösung, nämlich Identifikation der Wahrheit mit Historizität und der Unwahrheit mit Geschichte, ist lediglich eine Spielart der Geschichtsphilosophie. Die Ideale der Philosophie sind immer die höchsten Werte. Sein wird nach dem Maßstab dieser höchsten Werte gemessen. In der Geschichtsphilosophie sind diese höchsten Werte in die Zukunft oder in die Vergangenheit der "Universalgeschichte" und der Historizität hypostasiert. Wahrheit und folglich auch die höchsten Werte sind damit verzeitlicht. Die Wahrheit der Geschichte zeigt sich in der Zukunft: in der Zukunft der Geschichte oder Historizität oder in beiden. Sie zeigt sich in der Zukunft, auch wenn die höchsten Werte nicht in der Zukunft verzeitlicht sind. "Universalgeschichte", diese Konstruktion der Geschichtsphilosophie, ist keine Rekonstruktion der Vergangenheit. Sie ist die Rekonstruktion der Gegenwart, die die Vergangenheit und die Zukunft (der "Universalgeschichte" und der Historizität) enthält. Um wieder Heget zu zitieren: "Geschichte ist im Sinne der absoluten Gegenwart! ." Sollte diese absolute Gegenwart das Sein und Sollen der "Universalgeschichte" (und nicht nur der Historizität) enthalten, dann stellt sich die Gegenwart als Bindeglied dar. Die Gegenwart verkörpert die geschichtliche Vergangenheit und ist ebenso die Wiege der Zukunft. Sie ist genau der Moment, in dem alle Schlußfolgerungen der" Universalgeschichte" im Einklang mit der Wahrheit in der Geschichte getroffen werden müssen. In der Geschichtsphilosophie ist Zeit immer der kritische Augenblick. Die gleiche Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft enthalten sind, ist die Zäsur in der Geschichte. Das Ende jeglicher Geschichte steht nun auf dem Plan - oder aber
goldene Zeitalter der Menschheit liegt keinesfalls hinter uns, sondern vor uns ... unsere Väter sahen es nicht, aber unsere Kinder werden es eines Tages erreichen; es ist an uns, ihnen den Weg zu bereiten 2 ." So hat die "Universalgeschichte" der Geschichtsphilosophie also nicht mit der Vergangenheit zu tun. Anders als die Historiographie befaßt sich die Geschichtsphilosophie nicht mit der Vergangenheit, sondern mit der Gegenwart, mit der "Vergangenheit der Gegenwart" und der "Zukunft der Gegenwart". Sie verschafft uns keine neuen Informationen über die Vergangenheit. Die von anderen Objektivationen beschafften Informationspunkte, so von den Wissenschaften, von der Religion, von der Kunst, und am bedeutendsten von der Geschichtsschreibung, organisiert und arrangiert sie neu vom Standpunkt ihrer höchsten Werte, ihrer eigenen Wahrheit aus. Sie erzählt uns keine Geschichten. Sie befriedigt nicht unsere Neugier, wie es die Geschichtsschreibung tut. Sie führt uns nicht einmal dazu, mit der Vergangenheit zu kommunizieren. Sie ist in einer praktischen Absicht formuliert. Totalrezeption der Geschichtsphilosophie ist eine Verpflichtung, nach den höchsten in ihr verkörperten Werten zu handeln, zu leben und zu denken. Sie ist der Ausdruck unseres Geschichtsbewußtseins, des Geschichtsbewußtseins der Neuzeit; sie befriedigt Bedürfnisse, die tief in ihr verwurzelt sind. Die Frage ist: welche Art von Bedürfnissen?
II
G. B. Vico bemerkte zu Recht, daß jede Theorie dort ansetzen muß, wo der zu behandelnde Gegenstand zuerst Gestalt gewann. Der Begriff von" Universalgeschichte" begann zuerst ungefähr am Ende des 18. Jahrhunderts Gestalt anzunehmen. Es ist recht und billig anzunehmen, daß "Universalgeschichte" nichts als das Projekt einer um die Zeit der Französischen Revolution geborenen Zivilisation ist. Das Projekt drückt die Lebenserfahrungen gerade dieser Zivilisation aus: ihre Hoffnungen und Hoffnungslosigkeiten, ihre Siege und Niederlagen, ihre Haßgefühle und Zuneigungen, ihre Zweifel und Überzeugungen, ihre Erhöhungen und Erniedrigungen, ihre Spannungen und Widersprüche, ihre Katastrophen und die Fähigkeiten, solche zu überwinden, ihre Schuld und Sühne, ihr Heldentum und ihre Kleinmut, ihre Werte. Der Begriff der "Universalgeschichte" in all ihren Interpretationen, ist eine adäquate Rekonstruktion einer konkreten historischen Periode. Die Geschichte als solche, als eine die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende Menschheitsgeschichte, ist nur eine geistige Konstruktion einer Existenzform, die der Neuzeit und ihrer Geschichte. Sie ist wahres Bewußtsein unseres Seins, indem sie unser Sein in der Geschichte formuliert, aber sie ist gleichzeitig ebenso falsches Bewußtsein, indem sie anstelle der Vergangenheit der Gegenwart die geschichtliche Vergangenheit und gleichermaßen anstelle der Zukunft der Gegenwart die geschichtliche Zukunft (von der wir nichts wissen) setzt. Die Kon-
ohne das Universum auszukommen, und wandte sich eher der Geschichte zu. Spekula tion über die Geschichte der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist die Metaphy sik einer Epoche, die "Universalgeschichte" ist. Das Bedürfnis für gen au diese A Metaphysik ist tief in unserer Existenz verwurzelt und wir können sie nicht loswerden nur über sie reflektieren. Es sollte bedacht werden, daß Geschichte als solche ("Universalgeschichte") die Ge schichte unserer westeuropäischen Zivilisation ist, die zu Beginn aus einer Handvo Ländern bestand. Der Großteil unserer Weltbevölkerung lebte ihre jeweils eigene Geschichten und strebte danach, sie gegen Einmischung unversehrt zu erhalten. "De Marsch der Weltgeschichte" hieß für sie der Marsch von Armeen, die sich anschickten ihre Kulturen und ihren Lebensstil zu zerstören, und sie waren weit davon entfern diese Notwendigkeit als ihre Freiheit zu erkennen, geschweige denn als Ertrag de "Fortschritts" im Vergleich zu der "niedrigeren" Entwicklungsstufe, zu der sie angeb lich gehörten. Doch ist Geschichte als solche ("Universalgeschichte") allerdings ei dialektischer Vorgang. Diese gleiche Handvoll an Völkern, die ihre eigene Kultur a Ziel und Ergebnis eines welthistorischen Prozesses postulierten und schließlich ander durch das Schwert "zivilisierten", waren ebenso die ersten Völker, die bereit waren jede menschliche Kultur als gleich menschlich zu betrachten. Ehemalige "Barbaren und "Ungläubige" wurden die Objekte ihres vorurteilsfreien Interesses. Kein Wunde dann, daß die Idee der Überlegenheit unserer Zivilisation zusammen mit der Idee ihre Minderwertigkeit entstand. Georg Lukacs sah in den Werken beider Autoren, Walte Scott und Duff Cooper, die ersten literarischen Ausdrücke eines welthistorischen B wußtseins - und mit Recht. Geschichte als solche ("Universalgeschichte") ist als eine Existenzform der Neuze beschrieben worden. "Neuzeit" ist jedoch ein viel zu vager Ausdruck. Ihren Gehalt z klären erfordert Aufzählung ihrer Konstituenten. Von denen gibt es drei: "bürgerlich Gesellschaft" (im Sinne der civil society) , Kapitalismus und Großindustrie. Die Genes der "Universalgeschichte" ist das Entstehen dieser drei Konstituenten. Ich ziehe vo hier dahingestellt zu lassen, welche der drei Konstituenten die Entwicklung der ande ren zwei bestimmte. Diese Frage muß von der Geschichtsschreibung beantwortet we den, und wir mögen in der Annahme Recht haben, daß gänzlich unterschiedlich Erklärungen sich als ebenfalls haltbar erwiesen. Sobald diese Grundkategorien en stehen (die nach Marx "Existenzformen", "Seinsbestimmungen" sind), besitzen dies Kategorien ihre eigene interne Logik. Es sind eben diese verschiedenen Bündel interne Logik, die in Geschichtsphilosophien als die interne Logik der ganzen Menschheitsg schichte generalisiert worden sind. Es ist eine angemessene Annahme, daß alle Geschichten ihre eigene distinkte intern Logik gehabt haben. Die interne Logik der" Universalgeschichte" unterscheidet sic jedoch von diesen etlichen distinkten internen Logiken der besonderen Geschichten. I den besonderen Geschichten ist die interne Logik der Gesellschaftsstrukturen grund
immer zu) - aber das ist keinesfalls eine "Notwendigkeit". Die grundsätzlichen konstitutiven Kategorien der modernen Gesellschaft sind jedoch heterogen, sogar widersprüchlich. Kurz, es gibt nicht eine einzige Logik in dieser Gesellschaft, sondern eher mehrere; so hat sie strukturell viele Entwicklungsmöglichkeiten. Ihre Alternativen werden von den verschiedenen Akteuren dieser Geschichte getragen. Die moderne Gesellschaft ("bürgerlich", industriell, kapitalistisch) ist die einzige, in der die gelegentlich zusammenstoßenden soziopolitischen Gruppen (nicht nur Klassen) alternative Logiken desselben Systems zu repräsentieren und fördern vermögen (was sie auch meist tun). Die moderne ist die einzig offene Gesellschaft, in der die Zukunft der Gegenwart in großem Maß von den Akteuren der Gegenwart abhängt, denn sie verstärken eine spezifische Logik dieser Geschichte gegenüber einer anderen innerhalb desselben Systems. Der hier gesteckte Rahmen verbietet eine Analyse aller Hauptwidersprüche der Neuzeit. Ein kurzer Blick auf den grundsätzlichen wird genügen. Die relative Unabhängigkeit und relative Autonomie der bürgerlichen Gesellschaft veranlaßt in sich zwei interne Logiken. Sie macht die relative Unabhängigkeit der privat-ökonomischen Sphäre aus. So zielt, einerseits, eine ihrer Logiken auf die Universalisierung des Marktes, mit gesteigert exklusivem Privateigentum, mit der Aneignung sozialen Reichtums durch einige wenige, mit einem Anstieg an Ungleichheit und Beherrschung. Andererseits sichert die relative Unabhängigkeit der bürgerlichen Gesellschaft die Freiheit der einzelnen, so zielt ihre zweite Logik auf die Durchführung und Universalisierung dieser Freiheit in dem Prozeß der Demokratisierung, des Ausgleichs und der Dezentralisierung der Macht. ~ie Großindustrie erzeugt in immer gesteigertem Maße einen dritten Typ von Logik, nämlich den der Beschränkung der Marktkräfte und die in Staatshand wachsende Zentralisierung der Zuweisung sozio-ökonomischer Vorräte. Die wiederholten und zeitlich begrenzten Lösungen der oben erwähnten Widersprüche mögen zu der einen oder anderen Lösung tendieren. Die sozialistische Konzeption einer selbstverwalteten Gesellschaft ist an die Förderung der zweiten Logik der bürgerlichen Gesellschaft gebunden. Wenn Geschichtsphilosophen verkünden, daß "die Stunde geschlagen hat", daß "der kritische Augenblick" gekommen ist, mobilisieren sie tatsächlich für oder gegen die eine oder andere Logik der Neuzeit, der " Universalgeschichte ". Natürlich hat "die Stunde" in der Tat "geschlagen", da sie immer schlägt (für gewisse Aufgaben und nicht für andere). Sie "schlägt" nicht nur in der Gegenwart, sondern schlug ebenso in der Vergangenheit unserer Gegenwart und wird wieder in der Zukunft unserer Gegenwart schlagen. All das bedeutet nicht, daß gewisse "reife" Momente des Bindeglieds nicht richtiger sind als andere. Dennoch sind Aussagen wie "die Stunde hat geschlagen" wesentliche Selbstausdrücke unserer Gegenwart, unserer Geschichte, der" Universalgeschichte" .
unserer eigenen Geschichte. Kategorien universalen Fortschritts oder Rückschritts sin dann Existenzformen unserer Zivilisation. Die bisher einzige Geschichte, die als pro gressiv oder regressiv gesehen werden kann, ist unsere. Geschichtsphilosophen habe manchmal betont, daß die Eigenart unserer Geschichte das Erkennen der Allgemein tendenz des Fortschritts (oder Rückschritts) durch die "Universalgeschichte" hindurc gestattet. Aber einen Indikator des Fortschritts zu wählen und diesen dann als Maßsta für die Einteilung verschiedener Geschichten und Kulturen in eine hierarchische Ord nung zu bringen, heißt, uns selbst die Position des Absoluten, die Position Gottes anzumaßen. Indem wir das tun, stellen wir uns außerhalb der Geschichten, obwohl w selbst Geschichte, sind. Das gilt gleichermaßen von den Indikatoren des Rückschritt und von der Wiederholungstheorie. Als Sören A. Kierkegaard die Hegeische Vorste lung von einem Weltgeist ablehnte und in der Geschichte ein Marionetten-Theater sah in dem die die Akteure-Marionetten bewegenden Fäden in Gottes Hand sind, gab er di Konzeption seines großen Gegners zu einem geringeren Grad auf, als er selbst dachte R. G. Collingwood schreibt, wenn "es Gewinn ohne entsprechende Verluste gibt, dan ist das Fortschritt. Und unter keiner anderen Bedingung kann es Fortschritt geben Gibt es irgendeinen Verlust, so ist das Problem, Verlust gegen Gewinn abzuwägen unlösbar 3 ." Zweifellos sind wir nicht von einer "höheren Instanz" befugt worden, de einen oder anderen Gewinn auszuwählen und zu erklären, daß die Verluste von zweit rangiger Bedeutung oder sogar irrelevant sind. Noch haben wir die Befugnis, bestimmt Verluste auszuwählen und aufgrund derer zu sagen, daß die Gewinne von zweitrangige Bedeutung oder irrelvant sind. Aus dem einfachen Grunde, daß alle Verluste mensch liches Leiden und alle Gewinne menschliche Freude implizieren, bedeutet jeder Ver gleich von besonderen Geschichten anhand von Indikatoren des Fortschritts ode Rückschritts den Gebrauch anderer Menschen als bloßes Mittel. Wenn man für di zweite Logik der "bürgerlichen Gesellschaft" eintritt, wenn man, wie ich es tue, für di Entfaltung der Freiheit aller spricht, muß man alle theoretischen Vorschläge zurück weisen, die den Gebrauch anderer Menschen als bloßes Mittel implizieren. Soweit e mich betrifft, ist meine Übereinstimmung mit Collingwoods Aussage, daß Fortschrit Gewinne ohne Verluste sind, absolut. Es folgert jedoch aus der vorangegangenen Analyse, daß selbst die Entwicklung unsere Kultur, unserer Gesellschaft, der "Universalgeschichte", nicht adäquat durch Fort schritt oder Rückschritt beschrieben werden kann. Es hat immer Gewinne und ent sprechende Verluste gegeben. Wir sind nicht befugt zu der Aussage, daß es nur auf di Gewinne ankam oder umgekehrt. Wenn man jedoch annimmt, daß die Konstitutio der universalen Geschichte der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nichts weite ist als die Universalisierung einer Logik unserer Geschichte, dann entscheiden all Geschichtsphilosophien über genau diese Frage. Halten sie die Gewinne für entschei dend in unserer Kultur, vermerken sie universellen Fortschritt durch die ganze" Uni versalgeschichte", halten sie die Verluste für überwiegend, zeigen sie die universell
andere Möglichkeit gegeben: nämlich diesen Fortschritt selbst zu schaffen. Denn Fortschritt ist nicht durch geschichtliches Denken lediglich zu entdeckende Tatsache: durch geschichtliches Denken vielmehr entsteht er erst4 ." Einerseits legte ich dar, daß es auch in der modernen Gesellschaft keinen Fortschritt oder Rückschritt gibt, da sie Gewinne und Verluste aufweist, die unvergleichbar sind, falls wir Menschen nicht als bloßes Mittel gebrauchen, was wir nicht tun dürfen. Andererseits betonte ich, daß es Fortschritt und Rückschritt in unserer Geschichte doch gibt, obwohl es sie in allen anderen Geschichten nicht gab, weil die Idee des Fortschritts und Rückschritts in unserer Geschichte hervorgebracht wurde und sie ihre Existenzform ausdrückt. Die Idee des Fortschritts und Rückschritts reflektiert auf die widersprüchlichen Logiken, auf die Offenheit und das unstete Gleichgewicht unserer Geschichte und sie ist ko-konstitutiv in allen Handlungen, die für oder gegen die Verwirklichung einer ihrer Logiken geschehen. Obwohl heide Ideen, des Fortschritts und des Rückschritts, zum zugerechneten Bewußtsein unserer geschichtlichen Existenz gehören, haben sie verschiedene praktische Funktionen. Die Idee des Fortschritts gibt uns eine Norm in die Hand, mit der wir Fortschritt erzeugen können, wohingegen die Idee des Rückschritts uns mit der Norm für einen Lebensstil in einer sich verdunkelnden Welt versieht. So kann die in der Idee des Fortschritts inhärente Norm Anspruch auf Universalität erheben (selbst wenn nicht alle Theorien des Fortschritts das tun), wohingegen die in der Idee des Rückschritts inhärente Norm schon aus Prinzip nicht universalisiert werden kann. Die in der Idee des Fortschritts inhärente Norm kann als eine für die gesamte Menschheit bindende gesehen werden, die in der Idee des Rückschritts inhärente Norm nur als bindend für eine auserwählte Elite. Somit sind Fortschritt und Rückschritt in unserer Geschichte nicht faktisch, aber sie sind auch keine Illusion. Ferner, der Wille, Fortschritt zu erzeugen, ist Fortschritt. Er ist; er ist der "kritische Augenblick"; er ist ein Gewinn. Wenn alle die zum Fortschritt Bereiten die Auffassung des Fortschritts als "Gewinne ohne entsprechende Verluste" akzeptieren, dann wäre allein schon diese Bereitschaft ein Gewinn ohne entsprechende Verluste.
IV
Die Geschichtsphilosophie konstituiert die Vorstellung der" Universalgeschichte" der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Somit schließt die Formulierung wahrer Aussagen über Geschichte als solche (" Universalgeschichte") mit ein, wahre Aussagen über die Zukunft, über die universalgeschichtliche Zukunft zu formulieren. Wie erwähnt, folgern Geschichtsphilosophen (wie alle Philosophen) ihr Sollen und Sein. Wenn sie sich an die Theorie universellen Fortschritts halten, dann sehen sie ihr Tun-Sollen und Sein-Sollen als Schlußfolgerungen geschichtlicher Evolution. Werden jedoch das Tun-
getan worden" oder als "es wird getan werden" (als "es ist noch nicht getan aber wir getan werden"). Das Sollen ist somit in die Zeit der Gegenwart und Zukunft des Sein übersetzt. Die verschiedenen Indikatoren des Fortschritts (oder Rückschritts) und ihr unabhängigen Variablen sind so begriffen, daß diese Deduktion möglich wird. Zuers wird das Bild einer glorreichen (oder düsteren) Zukunft konstruiert (gemäß der Bewe tung der Gegenwart), als nächstes werden die Indikatoren (oder ein Indikator) de Fortschritts oder Rückschritts entworfen, und dann wird einer der Indikatoren als di unabhängige Variable des Fortschritts oder Rückschritts der" Universalgeschichte" aus gesondert. "Universalgeschichte", so konstruiert, führt genau zu der Zukunft, die z Anbeginn postuliert worden ist. Es ist augenscheinlich, daß die unabhängige Variabl der Geschichtsphilosophie eine unabhängige Variable besonderer Art ist. Die folgend Aussage kann richtigerweise gemacht werden: wenn sich X ändert, ändert sich Y ebenfalls, oder wenn sich X ändert und Y ist konstant, ändert sich Z ebenso. Das i die Formel der Prognostik, nicht die der Geschichtsphilosophie. Ebenso kann di folgende Aussage gemacht werden: X wird geschehen, weil Y geschah, oder X wir geschehen falls Y weiterhin geschieht. Das ist die Formel der Weissagung und nicht di der Geschichtsphilosophie. Die Formel der Geschichtsphilosophie ist die folgende: X wandelte sich (mehrmals) in der" Universalgeschichte" und führte jedesmal, wenn si sich wandelte, die Umformung aller grundsätzlichen sozialen Komponenten herbe (zum Vor- oder Nachteil); alle Wandel aller Grundsozialmuster (zum Vor- oder Nach teil) sind immer Folgen des Wandels der X. Komponente, und in dieser Weise wird e auch in der Zukunft geschehen. Es wäre jedoch ein Mißverständnis nun nahezulegen daß die Geschichtsphilosophie ihre Formel durch die der Prognose ersetzen sollte. Ma könnte zum Beispiel sagen, daß sich jedesmal, wenn sich der Input erhöhte und all anderen Bedingungen konstant blieben, der Output ebenfalls erhöhte - und daß es au diese Weise auch in der Zukunft geschehen wird. Solche und ähnliche Aussagen sin jedoch Platitüden und völlig leer. Aber die unabhängigen Variablen und die Aussage über die Zukunft in den Geschichtsphilosophien sind nicht leer und weit davon ent fernt, Platitüden zu sein. Sie sind versteckte Bewertungen. Sie sind Bewertungen, we sie die höchsten Werte, das Sollen der Philosphie, setzen, und sie sind versteckt Bewertungen, weil das Sollen als das Sein der Zukunft ontologisiert und durch di Rekonstruktion der" Universalgeschichte" wieder verstärkt ist.
v
Alle Philosophen stellen die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz. Menschlich Existenz ist über die letzten zweihundert Jahre als geschichtliche Existenz erfahre worden. Geschichtsphilosophien beantworten Fragen über den Sinn geschichtliche Existenz und befriedigen so die Bedürfnisse der Akteure unserer Geschichte. Nach dem
Sinn kann entweder Aussagen oder Handlungen beigemessen werden. Aber" Universalgeschichte" kann nicht als Aussage erfaßt werden. Eine Handlung ist "sinnvoll", wenn sie bestimmte Normen und Werte berücksichtigt, oder wenn sie auf die Verwirklichung von Zielen gemäß dem Willen und Plan des Autors abzielt. Sofern man nicht eine höhere Intelligenz postuliert, deren Ziel durch die geschichtlichen Akteure verwirklicht ist, kann die These über den "Sinn der Geschichte" in diesem Unternehmen auch nicht aufrecht erhalten werden. Die einzige Geschichtsphilosophie, in der Antworten auf die Frage über den Sinn der Geschichte fest begründet waren, war die Hegels. Opposition gegen Hegels Philosophie führte zu einer alternativen Lösung deren Funktion es war, die Aussage, daß "Geschichte einen versteckten Sinn" hat (oder daß Geschichte sinnlos ist, was auf das Gleiche hinausläuft), durch eine andere zu ersetzen, nach der "wir der Geschichte einen Sinn geben". Dieser verschämte Hegelianismus offenbart ganz unmißverständlich, daß der Sinn der (individuellen) geschichtlichen Existenzen durch "Sinn der Geschichte" ersetzt worden ist. "Die Sinngebung der Geschichte" ist nämlich implizite eine unzulässige Erweiterung der menschlichen Lebenserfahrung auf das "Leben der Menschengattung". Wenn das Leben eines Menschen eine positive Balance hat, kann er oder sie im Rückblick.auf vergangene Leiden wirklich sagen: alles ist jetzt sinnvoll, weil es mir gelungen ist, meinem eigenen Leben Sinn zu geben. Aber wie kann ich durch meine Handlungen (oder: wie können wir durch unsere Handlungen) vergangenen Generationen einen Sinn geben? Verringern wir deren Leiden? Ändern wir deren Schicksal? Wir können "Sinn der Geschichte" nur dann geben, falls wir beweisen können, daß wir das Ziel und Ergebnis der Geschichte sind, und nur falls wir rückwirkend alles Vorgefallene durch gerade unsere bloße Existenz rechtfertigen können. Aber das können wir nicht. In allen Philosophien sind die höchsten Werte (die Wahrheit) die Träger des Sinns menschlicher Existenz. In der Geschichtsphilosophie werden die höchsten Werte entweder als geschichtliche begriffen oder als Verkörperungen des einzigen menschenwürdigen Bezugs zu unserer Umgebung als historisches Produkt. Somit sind die höchsten Werte in der Geschichtsphilosophie die Wahrheit menschlicher Existenz als . Historizität, d. h. die Wahrheit unserer geschichtlichen Existenz. Indem die Frage über den Sinn menschlicher Existenz in eine den Sinn geschichtlicher Existenz betreffende Frage umgewandelt ist, bringen Geschichtsphilosophen tatsächlich das Geschichtsbewußtsein einer Zeit zum Ausdruck, in der sich Menschen der Historizität ihrer Existenz als Einzelne und als Gattung selbstbewußt geworden sind. Natürlich drückten alle Stadien des Geschichtsbewußtseins Historizität aus, sonst wären wir nicht berechtigt, Historizität als condition humaine überhaupt zu universalieren. Aber nur die Epoche, die die Idee der Menschheit konstituierte, die jedem menschlichen Wesen Freiheit und Verstand zuschrieb, war fähig, über Historizität in einer universellen Weise zu reflektieren. Diese Tendenz der Universalierung ist das Bewußtsein der zweiten Logik der bürgerlichen Gesellschaft. Somit ist die Geschichtsphilosophie die Philosophie reflek-
befriedigen gleichfalls die Bedürfnisse unserer Gegenwart. Sie beantworten gen au di einfachen Fragen all derer, die in den letzten zweihundert Jahren ihrem Leben eine Sinn geben sollten und noch wollen. Geschichtsphilosophen empfanden dieselben Be dürfnisse wie jeder andere und deshalb verpflichteten sie sich, die gestellten Fragen z beantworten. Und sie wollten ein hieb- und stichfestes Argument entwickeln und ein machtvolle Antwort geben. Diejenigen, die sich zur Beantwortung der Fragen verpflichten, sind nicht wenige Historizität als die, die sie nur stellen, leben, erdulden. Die Antwort der Historizität i eine Antwort in der Geschichte. Die Werte der Historizität sind weder künstlich kon struiert noch irrational gewählt. Sie beziehen sich wenigstens auf einen gültigen, kon sensuell akzeptierten Wert in der Lebenswelt. Sollen ist nicht weniger das Sollen eine besonderen Raum-Zeit Koordinatensystems als Sein. Über Sein geschichtlich zu reflek tieren und ein Sollen als eine als Sein der Zukunft verkleidete universelle Wahrhe darzustellen, widerspricht sich selbst. Alles, was Karl Mannheim von Marx sagte, kan von allen Geschichtsphilosophen gesagt werden, selbst wenn der gleiche Widerspruch i gewissen anderen Fällen weniger transparent, wenn auch nicht weniger präsent ist. B dem Versuch, ein hieb- und stichfestes Argument für ihr Sollen zu entwickeln, sahe sich Geschichtsphilosophen genötigt, das Sollen als eine Aufuewahrungsstätte der un versellen Wahrheit, der Wahrheit der Geschichte zu präsentieren. Indem sie das taten formulierten sie ihre Antworten auf die Frage bezüglich des Sinns geschichtlich Existenz als wären sie Antworten auf die Frage nach dem Sinn der "Universalg schichte" (oder Behauptungen, nach denen sie ohne Sinn ist). Sie leiteten die Zukun von der Gegenwart und die Gegenwart von der Vergangenheit ab. Von diesem Stand punkt aus ist es wirklich gleichgültig, ob die so abgeleitete Zukunft als Rettung, Unte gang oder als ewige Wiederkehr begriffen wird. In allen Fällen suchen Geschichtsphilo sophien nach Lösungen für ein Problem, das in mehrfacher Weise gelöst werden kan (das Problem des Sinns des geschichtlichen Seins), aber sie überdeterminieren ihr Argumente, um ein Problem zu lösen, das von der Philosophie prinzipiell nicht gelö werden kann, nämlich das Problem der Vermittlung zwischen der Gegenwart und de Zukunft der Menschheit. Es braucht nicht betont zu werden, daß die Aussage, d Menschheit hätte keine Zukunft (und ihre philosophische Verifikation), an den gle chen Mängeln krankt wie jede andere positive Formulierung. Die Geschichtsphilosophie ist hier offensichtlich in einem weiteren Sinne definie worden als gemeinhin üblich. Der Gebrauch dieses Konzepts ist oft nur auf Philoso phien mit Ansprüchen auf universalen Fortschritt beschränkt. Es lag jedoch in meine Absicht zu erörtern, daß etliche Philosophien, die gegen die Philosophien des For schritts konstant Krieg geführt haben und sie als Geschichtsphilosophien denunzierten in all ihren grundsätzlichen Aspekten derselben Herkunft waren. Die Geschichtsphilo sophie ist kein besonderes Unternehmen, das mit Hegel beginnt und (möglicherweise mit Marx abschließt, sondern eine allgemeine Tendenz über die letzten zwei Jahrhun
einziges Modell angesehen werden. Natürlich können nicht alle Aspekte und Neigungen der Geschichtsphilosophie in jedem System aufgezeigt werden. Es wäre eine vergebliche Anstrengung, dies auch nur zu versuchen. Aber die Mehrzahl dieser Grundcharakteristika sind für jede Geschichtsphilosophie (im weiteren Sinne des Wortes) wesentliche Bestandteile, wenn auch deren Kombination variieren mag.
VI F. Watkins schrieb: "Geschichtsphilosophien versuchen, Zukunft einzufangen, ohne zu
sehen, daß wir Gegenwart kontrollieren könnten, wenn wir die Zukunft kennten, und daher solche Entdeckungen nutzlos wären 5 ." Mit der Aussage faßt Watkins das falsche Bewußtsein der Geschichtsphilosophie als ihr wahres Wesen auf. Obwohl die Geschichtsphilosophie bemüht ist, "Zukunft einzufangen", tut sie das tatsächlich doch nie, denn es kann nicht getan werden. Sie versucht, die Zukunft einzufangen, weil sie bei der Beantwortung der Fragen über den Sinn geschichtlichen Seins ein hieb- und stichfestes Argument entwickeln will. Indem sie das tut und somit den Bedürfnissen unserer Zeit genügt, überdeterminiert sie die Antwort auf genau diese Frage, indem sie die Zukunft als wiedergewonnenes oder verlorenes Paradies schildert. Aber die Überdetermination, dieser Kantsche transcensus ist weit davon entfernt, ein nutzloses Unterfangen zu sein. Die Antwort auf die Frage über geschichtlichen Sinn impliziert Zukunftsorientiertheit. Die widersprüchlichen Logiken unserer neuzeitlichen Geschichte, der Universalgeschichte, schufen eine mit unterschiedlichen Zukunftsprospekten trächtige Situation, und es hängt von den Akteuren ab, die die Verwirklichung besonderer Logiken fördern oder hindern, welche dieser Logiken die wirkliche Zukunft sein wird. Sie müssen wissen, wofür oder wogegen sie agieren, sie brauchen regulative Ideen für ihre Handlungen. Die Verfechtung der einen oder anderen Handlung, oder selbst der Hoffnungslosigkeit des Handelns überhaupt, setzt ein Bild von der Zukunft als Verheißung oder Mahnung oder beides voraus. Zu verheißen oder zu mahnen ist genau die Funktion des von den Geschichtsphilosophien konstituierten Bilds der Zukunft. Überdetermination macht Verheißung und Mahnung mächtig, und sowohl Verheißung wie auch Mahnung sind dringend vonnöten. Wenn sich Philosophie nur dazu anschickte, die Frage nach dem Sinn geschichtlichen Seins zu beantworten, könnte sie falsches Bewußtsein und die Überdetermination der Geschichtsphilosophien ausmerzen. Sie würde uns auch nicht mit falschen Verheißungen und Mahnungen bedenken. Sie würde aufhören, über den "Sinn der Geschichte" zu grübeln. Sie würde dadurch aber auch unfähig werden, ihr Sollen aus ihrem Sein abzuleiten. Da die Folgerung des Sollen aus Sein zur Philosophie als ein Unterfangen gehört, würde Absage daran aus jeder Philosophie eine unvollständige machen. Ist Reflexion über den Sinn geschichtlichen Seins der Überdetermination des transcensus,
gefährlichen und destruktiven Unternehmen resultiert. Die falschen Mahnungen de Geschichtsphilosophie haben oft zu Selbstgefälligkeit geführt und zu Verzweiflung Deshalb hat sich das Bedürfnis und der Entschluß, die Geschichtsphilosophie durc eine in ihren Ansprüchen bescheidenere und in ihren Perspektiven realistischer Geschichtstheorie zu ersetzen, in unserer Zeit, besonders seit dem Ende des zweite Weltkriegs, immer mehr verbreitet. Die Bestandteile aller Geschichtsphilosophie geschichtlich zu definieren ist in sich selbst ein Ausdruck dieses Bedürfnisses und diese Entschlusses. Aber es ist besser, auf einem "Sinn der Geschichte" zu bestehen und "Sinn der Ge schichte" zu geben, als das Bestreben nach dem Sinn für unsere Handlungen und unse aller Leben aufzugeben. Es ist besser, auf der "Wahrheit der Geschichte" zu bestehen als auf die Suche nach Wahrheit zu verzichten. Es ist vorzuziehen, die Antwort auf di Frage über den Sinn unseres geschichtlichen Seins zu überdeterminieren und Verhe ßung und Mahnung Gewicht zu geben, als jegliche Bemühung, zu verheißen und z warnen, aufzugeben. Aus all diesen Gründen und trotz der heftigen Kritik über das falsche Bewußtsein de Geschichtsphilosophie, trotz der berechtigten Skepsis bezüglich ihrer Leistungen, auc wenn man sich all der in einem solchen Unternehmen inhärenten Gefahren theoret scher und praktischer Art bewußt ist, muß man doch den Herderschen Titel wiede holen: "Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit."
Anmerkungen
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, I, Berlin, S. 182. 2 C. H. de Saint-Simon, La physiologie sociale, Oeuvres choisis, Paris 1965, S. 71. 3 R. G. Collingwood, The Idea of History, Oxford 1963, S. 329. 4 R. G. Collingwood, a.a.O., S. 33. 5 F. Watkins, zitiert in: A. C. Danto, Analytical Philosophy of History, Cambridge 1965, S. 284. Aus dem Englischen von Gisela Tiedemann-Kapla
Seit einigen Jahren mehren sich Denkansätze, die auch die modernen Naturwissenschaften einer wissenssoziologischen Analyse zugänglich machen wollen, und ihnen somit einen nur relativen Erkenntniswert zuerkennen. Diese Richtung schöpft aus zunächst unabhängigen Entwicklungen auf drei Gebieten - Wissenschaftstheorie, Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Anthropologie -, deren Ergebnisse wissenssoziologisch interpretiert auf die Naturwissenschaften angewendet werden, um nicht nur deren äußerliche Aspekte, sondern auch - und vor allem - ihren Inhalt soziologisch zu erklären. Eine Naturwissenschaft aber, die sich soziologisch erklären läßt, deren Wahrheit also nicht erkenntnistheoretisch gegründet ist, verliert ihren absoluten Erkenntnisanspruch, wird zu einer relativen Wahrheit; diese Position ist - philosophisch gesprochen - relativistisch. In diesem Aufsatz geht es mir vor allem darum, einen erkenntnistheoretischen Rahmen zu skizzieren, der den Ergebnissen der Wissenschaftstheorie und der Wissenschaftsgeschichte voll Rechnung trägt, gleichzeitig jedoch aufzeigt, daß relativistische Schlußfolgerungen keineswegs notwendig sind. Anders ausgedrückt: die Ergebnisse dieser Disziplinen lassen sich erkenntnistheoretisch so interpretieren, daß der objektive Wahrheitsanspruch der Naturwissenschaften unberührt bleibt. Eine philosophische Reflexion auf der Metaebene soll also dem Wissenschaftstheoretiker und -historiker aufzeigen, daß die Konsequenzen, die er zuweilen aus seinen Forschungen' zu ziehen vermeint, keineswegs notwendig folgen. Gleichzeitig soll sie den Verfechtern einer Wissenssoziologie der Naturwissenschaften einerseits darlegen, wo die Grenzen ihres Unternehmens liegen, andererseits für ihre Analyse - wo möglich - ein erkenntnistheoretisches Fundament liefern.
I
Die klassische Wissenssoziologie hatte die Naturwissenschaften aus ihrem Bereich ausdrücklich ausgeschlossen: Autoren wie Marx, Durkheim, Mannheim oder Stark betrachten die Naturwissenschaften als auf festen Tatsachen beruhend und somit einer soziologischen, sich auf den Inhalt beziehenden Untersuchung nicht zugänglich: wenn es die materielle Realität ist, welche die Ideen formt, wenn die Aussagen der Naturwissenschaften die Wirklichkeit direkt oder indirekt widerspiegeln, dann können soziale Faktoren auf den Inhalt der Anschauungen keinen Einfluß ausüben! . Dieser Auffassung
entthronen die alten nicht, sie sind keine alternativen Erkenntnisformen, sondern er weitern diese und inkorporieren sie als Spezialfälle. Die Naturwissenschaften näher sich also sukzessiv der Wirklichkeit - gleichberechtigte "Alternativen" gibt es nicht und können daher auch nicht möglicher Gegenstand wissenssoziologischer Untersu chung sein 2 . Diese von der klassischen Wissenssoziologie nicht weiter problematisierte, naiv a selbstverständlich vorausgesetzte Vorstellung, wurde vom logischen Positivismus, dem Wittgenstein des Tractatus folgend, zur offiziellen Doktrin proklamiert. Daß die theo retische Sprache, samt der in ihr formulierten Aussagen, auf die Beobachtungssprach und deren Protokollsätze logisch zurückgeführt werden kann: war einer der Leitgedan ken, dessen detaillierte und technische Ausführung sich der Wien er Kreis zum Pro gramm machte. Die Naturwissenschaften, so hieß es, überschreiten nicht die Grenze des empirisch Gesicherten: das sinnlich Gegebene und die auf ihm fundierten theore tischen Aussagen bilden eine Kontinuität. Bei ihrem Versuch, die Flut des Irrationalis mus der zwanziger Jahre einzudämmen, kürten die logischen Positivisten die Natur wissenschaften zum Ideal des Sinnvollen und des Rationalen: in ihnen, so meinten sie sei die (empirische) Basis sicher, und es gäbe keine Kluft zwischen ihr und den theore tischen Aussagen, in die sich irrationale Einflüsse "einschleichen" könnten. Die Rati onalität sollte also gewährleistet bleiben, indem die Welt - "die Gesamtheit der Tat sachen" - von den Naturwissenschaften beschrieben wird, während vom Rest galt "Wovon man nicht (wissenschaftlich) sprechen kann, darüber muß man schweigen." Diese als deskriptiv und normativ verstandene Position ist heute allgemein aufgegebe worden. Unterschiedliche, jedoch konvergierende Entwicklungen führten dazu. Zu nächst war es die innere Dynamik des logischen Positivismus selbst, die (durch Kriti von außen - z. B. Poppers - beschleunigt) die Unhaltbarkeit der ursprünglichen Stand punkte aufzeigte. Eine rigorose logische Analyse des Verhältnisses von Beobachtungs sprache und theoretischer Sprache führte zur Einsicht, daß theoretische Terme in de Beobachtungssprache nicht definiert werden können, sondern ihren empirischen Ge halt durch sogenannte "Brückenprinzipien" auf einer viel lockereren Art und Weise er halten. Brückenprinzipien sind Sätze, die sowohl theoretische als auch "zuvor verfüg bare" (z. B. mehr oder weniger empirische) Terme enthalten und es somit möglich ma chen, aus rein theoretischen Prinzipien (d. h. solchen, die nur theoretische enthalten empirisch überprüfbare Sätze (Voraussagen) abzuleiten. Ein theoretischer Term hat al so keine unveränderliche, ein für alle Male festgesetzte "Bedeutung": neu ersonnen Test-Implikationen (Voraussagen), die aus der Theorie abgeleitet werden, neue empi rische Gesetze und experimentelle Verfahren liefern neue Brückenprinzipien, die di theoretischen mit der Realität in neuer Weise "verknüpfen". Brückenprinzipien werde zuweilen auch aufgegeben, wenn es sich herausstellt, daß sie durch andere ersetzt wer den können, die das gesamte theoretische System in besseren Einklang mit der Empiri bringen.
Nehmen wir als Beispiel den Begriff der Länge und sehen wir, wohin Bridgmans Vorstellungen, konsequent verfolgt, führen. Wir übergehen vorwissenschaftliche Definitionen (in denen die Längeneinheit, z. B. in Bezug auf die Armlänge einer bestimmten Person definiert wurde) und stellen uns vor, daß die Längeneinheit als die Länge eines bestimmten Stabes, der sich z. B. in Paris befindet, definiert worden ist. Nun würde sich nach einer gewissen Zeit herausstellen, daß, wenn der Winter in Paris einbricht (und die Temperatur sinkt), die Entfernung zwischen Paris und London größer wird. Würden wir an unserer operationalen Definition festhalten wollen, so müßten wir dieses eigentümliche empirische Gesetz akzeptieren: wir könnten doch von unserem Maßstab, der die Länge ja definiert, nicht sagen, er habe sich verkürzt! Die Wissenschaft geht natürlich nicht diesen Weg: vielmehr wurde eine konstante Temperatur am Aufbewahrungsort in die Definition des Einheitsmeters mit aufgenommen. Dieses Beispiel ist lehrreich: es zeigt, daß der Wissenschaftler bereit ist, im Interesse der Einfachheit, Systematik, Kohärenz usw. seines ganzen Systems, Begriffe und deren Definitionen abzuändern. Anstelle der festen Struktur des frühen logischen Positivismus entstand Ende der fünfziger Jahre das Bild eines relativ lockeren Netzes von theoretischen und empirischen Begriffen, die durch Brückenprinzipien verbunden sind, eines Netzes, das durch das Interesse an Genauigkeit, Einfachheit und Systematik stets nicht nur einer Erweiterung, sondern auch Änderungen unterworfen ist. Die Unzulänglichkeit des Operationalismus hängt genau damit zusammen, daß er diesem Systemcharakter der Wissenschaft keine Rechnung trägt. In Einklang mit dieser neuen Auffassung der Art und Weise, in der die theoretischen Begriffe empirisch interpretiert werden, entstand auch die Erkenntnis, daß Sätze oder Hypothesen gar nicht einzeln überprüfbar sind, daß es vielmehr jeweils ein ganzes theoretisches System ist, das an die Realität herangetragen und mit ihr "verglichen" werden kann. Dem mit einem negativen Resultat konfrontierten Wissenschaftler stehen stets verschiedene Möglichkeiten offen, sein theoretisches System so zu ändern, daß aus dem ganzen System die beobachteten Resultate folgen. Anders ausgedrückt: für jede gegebene Menge empirischer Information gibt es stets mehrere theoretische Systeme, die mit ihr übereinstimmen. (Dies ist die sogenannte Duhem-Quine These.)3 Die Relevanz dieser Entwicklungen für unser Problem ist offenkundig: wenn die Empirie dem Wissenschaftler bei der Formung seiner Begriffe und bei der Akzeptierung oder Ablehnung von Hypothesen und Theorien einen Spielraum läßt, wenn ihm also stets einige Möglichkeiten offen stehen, zwischen denen eine Wahl zu treffen ist, dann ist apriori die Möglichkeit gegeben, dass diese Wahl von "externen" und somit soziologisch analysierbaren Faktoren (mit-)beeinflußt wird. Gegen eine weit verbreitete Meinung ist also festzustellen, daß ab Ende der fünziger Jahre der (liberalisierte) logische Empirizismus mit einer sich den Naturwissenschaften zuwendenden Wissenssoziologie prinzipiell nicht mehr im Widerspruch stand. Diese theoretisch gegebene Möglichkeit blieb jedoch zunächst unberücksichtigt. Erst eine Weiterführung dieser Gedanken im Rahmen der analytischen Philosophie und vor
schaftlichen Theorien als mit außerwissenschaftlichen intellektuellen Entwicklungen untrennbar gekoppelt darstellten, traten in den Vordergrund, während Autoren wie Sarton, die die Geschichte der Wissenschaften vor allem als die Geschichte der Entdek kung von "harten Fakten" auffaßten, als "positivistisch begrenzt" kritisiert wurden4 Obwohl diese (alt-) neue Historiographie zunächst den Einfluß auf die Entwicklung der Wissenschaft von lediglich intellektuellen und nicht sozialen Faktoren hervorhob war ihr allgemeiner Ansatz den Bestrebungen einer Wissenssoziologie der Naturwissen schaften offensichtlich potentiell aufgeschlossen. Beide Strömungen flossen schließlich Anfang der sechziger Jahre in der sogenannten "neuen Wissenschaftstheorie" zusammen: bezeichnend für diesen Ansatz ist die Kon vergenz der Einstellungen von Autoren, die ursprünglich Wissenschaftstheoretiker wa ren (z. B. Feyerabend), und solchen, die zu ihren Anschauungen über die Wissenschafts geschichte gelangten (z. B. Kuhn). Allen ist die Auffassung gemein, daß die Wissen schaft kein akkumulativer, induktiver Prozeß ist, daß das, was als "empirisch gegeben gilt, von der Theorie (mit-)abhängig ist, daß die Entscheidungen der Wissenschaftle daher stets ein "Ganzes" (eine Theorie mit ihren Brückenprinzipien, nicht einzelne theoretische oder empirische Sätze) betreffen und daß die Akzeptierung oder Ableh nung von Theorien in einem erheblichen Maße von "subjektiven" Faktoren abhängig ist. Der letzte Aspekt ihrer Theorien brachte den Neuerern den Vorwurf ein, sie propa gierten einen Subjektivismus in der Wissenschaft und ihre Wissenschaftsmethodologie reduziere sich auf Massenpsychologie. Genau dieser Aspekt jedoch war es, welcher ei nige Soziologen und Wissenschaftshistoriker zu Untersuchungen anregte, die die Wir kung der vermuteten subjektiven Faktoren anhand von historischen Fallstudien aufzei gen sollten. Insbesondere sollte nachgewiesen werden, daß diese Faktoren zum Tei dem Einfluß sozialer Umstände unterliegen. Obwohl es schon der logische Empirizis mus war, der (implizite) die Existenz eines Freiraumes für eine Wissenssoziologie de Naturwissenschaften apriori theoretisch aufdeckte, war es erst die neue Wissenschafts theorie, die diese Möglichkeit in das Blickfeld der Historiker und der Soziologen rücktes.
II
Wir wenden uns nun der Frage zu, inwiefern der von der Wissenschaftstheorie und -geschichtsschreibung freigegebene theoretische Raum von der Wissenssoziologie und -geschichte tatsächlich benutzt wurde: ist gezeigt worden, daß die "Freiheitsgrade" die dem Wissenschaftler logisch offen stehen, wenn er der Empirie eine Theorie "auf setzt", in der Tat von sozialen Faktoren besetzt werden, und daß so der Inhalt de Theorie vom Sozialen mitbestimmt wird? In anderen Worten: konnten die Ansprüche der klassischen Wissenssoziologie auf die Naturwissenschaften ausgedehnt werden, so daß unsere Vorstellungen von der physischen Wirklichkeit als sozial konstruiert zu gel ten haben?
bung anzugehören, und sind sich in der Ablehnung der "üblichen" Wissenschaftstheorie und -soziologie einig. Andererseits brachte 'diese Richtung (noch?) keine eigene, positiv formulierte Theorie hervor. Die meisten Arbeiten begnügen sich damit, in einer bestimmten geschichtlichen Episode einen Aspekt der Entwicklung hervorzuheben, von dem behauptet wird, er widerspräche der "üblichen" Darstellung der Wissenschaft als rationalem Unternehmen. Meistens geht aus ihnen jedoch nicht klar hevor, auf welcher Ebene die externen Einflüsse ihre angebliche Wirkung tun, und wo genau das behauptete a-rationale Element in den Inhalt der Wissenschaft Eingang findet. Es ist somit nicht leicht, den systematischen Beitrag dieser neuen Richtung abzuschätzen. Unter diesem Vorbehalt möchte ich jedoch Mulkay folgen 7 und tentativ annehmen, daß sich innerhalb der genannten Richung vor allem ein Leitmotiv mit einem wissenssoziologischen Anspruch abzeichnet: dieses wird mit dem Begriff "Verhandlung" (negotiation) belegt, und im Folgenden soll versucht werden, seinen Stellenwert innerhalb einer Wissenssoziologie zu bestimmen 8 . "Ein entscheidender Fehler in der orthodoxen soziologischen Darstellung der Hervorbringung wissenschaftlicher Erkenntnis", schreibt Mulkay 9, "ist das Fehlen jeder Idee von Interpretation oder Verhandlung": welches Resultat akzeptiert werden soll, welches Experiment als gültig zu gelten hat, welcher Apparat für ein Gebiet angemessen ist, über diese (und andere) Fragen wird in der wissenschaftlichen Gemeinschaft einer Disziplin ständig verhandelt. "Durch diesen Vorgang errichten Wissenschaftler ihre Darstellungen der physikalischen Welt 10 ." Da nun die Verhandlungen und deren Ergebnisse von sozialen Faktoren abhängig sein können, ergibt sich zumindest die Möglichkeit, daß die Objekte der Wissenschaft durch das Soziale mitgeformt werden. Was folgt aus diesen Behauptungen? Untermauern sie den Anspruch einer neuen Wissenssoziologie der Naturwissenschaften gegen die Orthodoxie? Dies ist m.E. nicht der Fall. Richtig verstanden leisten die verschiedenen Fallstudien folgendes: sie liefern die soziologische Beschreibung des Vorganges, der vom logischen Empirizismus bereits (implizite) vorausgesagt und gedeutet wurde. Wie oben kurz ausgeführt, legte der logische Empirizismus dar, daß es in der Wissenschaft stets um ein ganzes theoretisches System geht und daß in jeder Problemsituation, z. B. der einer Diskrepanz zwischen den Voraussagen und den empirischen Resultaten, dem Wissenschaftler verschiedene Möglichkeiten offen stehen. Der entscheidende Punkt ist nun, daß in einer solchen Situation die Entscheidung nicht Beweisen, sondern Argumenten unterliegt; es gilt also nicht, die richtigen von den falschen Lösungsversuchen auszusondern, als vielmehr die Vorzüge und Nachteile einer jeden möglichen Lösung abzuwägen. Das bedeutet jedoch, daß, bevor ein Konsens hergestellt werden kann, ein Stadium der Erörterung notwendig ist, in dem die nicht immer sofort übersehbaren Folgen einer jeden möglichen Entscheidung auf das ganze System eruiert werden. Es ist nun zu erwarten, daß diese Etappe, deren Notwendigkeit eine logische Konsequenz des Systemcharakters einer wissenschaftlichen Theorie ist, sozial die Form einer Diskussion annimmt, in der ver-
" Verhandlung" identisch ist. Die Fallstudien, die Verhandlungen dieser Art beschrei ben, leisten somit folgendes: sie beschreiben konkret, historisch und evtl. auch sozio logisch ein Phänomen, dessen Existenz zuvor nur abstrakt, auf Grund einer logische
Analyse, behauptet wurde. Die Verfasser dieser zweifellos wichtigen Studien hätte also ein falsches Selbstverständnis, wenn sie meinten, allein die Tatsache, daß sie eine soziologischen Aspekt der Entstehung der wissenschaftlichen Begriffe beschreiben setze sie ipso facto in einen Gegensatz zur "üblichen" analytischen Wissenschafts theorie. Ein wesentlicher Punkt muß noch erörtert werden: wie werden die erwähnten Ver handlungen entschieden? Dem logischen Empirizismus zufolge wird ein theoretische System immer dahingehend modifiziert, daß seine Erklärungsvermögen, Einfachheit Systematik, Geschlossenheit usw. erhöht werden. Diese werden als objektive Eigen schaften aufgefaßt: die wissenschaftliche Gemeinschaft gelangt zu einem Konsen (obwohl dieser nicht logisch erzwungen werden kann), weil sie sich sowohl über dies Werte selbst, als auch über die Bewertung der verschiedenen Alternativen einig werde kann und weil sie rational handelt. Die Frage, ob dies tatsächlich der Fall ist, war be kanntlich einer der wichtigsten Streitpunkte in der Diskussion um Kuhns Wissenschafts theorie und sie liefert heute das wesentlichste Unterscheidungsmerkmal zwischen de extrem relativistischen (Feyerabend u. a.) und der "orthodoxeren" Wissenschaftstheo rie (zu dessen Vertretern mittlerweile auch Kuhn zu zählen ist). Welches ist nun in die ser Hinsicht die Stellung der neuen Wissenschaftssoziologie? Sie widerspräche dem lo gischen Empirizismus offensichtlich, wenn, und nur wenn, gezeigt würde, daß der Aus gang der von ihr dargestellten Verhandlungen von rein subjektiven, nur soziologisc analysierbaren Faktoren (mit-) abhängt. Dann, und nur dann, wäre der Inhalt de wissenschaftlichen Theorien tatsächlich vom Sozialen mitbestimmt, so daß ma berechtigterweise von einer Wissenssoziologie der Naturwissenschaften spreche könnte. Es scheint jedoch, daß der Beweis hierfür noch nicht erbracht werden konnte So schreibt selbst Mulkay:
"Although social negotiation in seien ce has been little studied as yet, it seems likely that its ou come is influenced by factors as members' interests, their intellectual and technical commitments members' contral over valued information and research facilities and the strength of their claim t scientific authority " ."
Wir müssen also feststellen, daß am entscheidenden Punkt, an dem sich die Wege de traditionellen Wissenschaftstheorie und der neuen Wissenssoziologie scheiden würden die Behauptungen der letzteren zumindest vorerst lediglich auf Vermutungen beruhen Solange neue Beweise nicht erbracht werden, muß m. E. geschlossen werden, daß di angeführten Verhandlungen lediglich die soziale Erscheinungsform eines von interne Kriterien und Werten bestimmten Wissenschaftsbetriebs ist. Ein letzter Punkt: die Vermutung der neuen Wissenssoziologie, der Ausgang von Ver handlungen sei von sozialen Faktoren mitbestimmt, kann nicht apriori widerlegt wer
dieser Ebene wirksam sein kann. Diese Behauptung kann durch folgende, sich nur auf eine logische Analyse stützende und von einer bestimmten Erkenntnistheorie unabhängigen Überlegung gegründet werden: da die Wissenschaft ein sehr weitläufiges, mit vielen Querverbindungen versehenes System ist, verursacht jede getroffene Entscheidung (Akzeptierung eines Meßverfahrens, eines Experiments usw., d. i. neuer Brückenprinzipien ; Modifizierung eines theoretischen Postulats; usw.) Wirkungen an mehreren Punkten des Systems. Die Auswirkungen einer Entscheidung, die in einem Teilgebiet getroffen wird, sind wohl niemals auf diese begrenzt. Nun kann man sich zwar vorstellen, daß ein bestimmtes wissenschaftliches Teilgebiet an einem bestimmten Zeitpunkt von einer "pressure group" dominiert sein könnte, und daß diese den Ausgang von Verhandlungen in diesem Teilgebiet bestimmt. Falls diese Entscheidungen jedoch subjektiv wären, würden sie mit den in anderen Gebieten als wahr geltende Aussagen in Widerspruch geraten. Der Systemcharakter der Wissenschaft macht es also unmöglich, daß in einer immerhin grosso modo konsistenten Wissenschaft Entscheidungen, die subjektiv beeinflußt wurden, über lange Zeitspannen beibehalten werden 13 .
III
Das Selbstverständnis derjenigen Autoren, die sich als Vertreter einer neuen Wissenssoziologie der Naturwissenschaften bezeichnen, ist hauptsächlich negativ konstituiert - nämlich durch Abgrenzung gegenüber den Auffassungen, die sie der "üblichen" Wissenschaftstheorie zuschreiben. Die obige Skizze einiger Aspekte der Entwicklung des logischen Empirizismus zeigt m. E., daß dieses Selbstverständnis verfehlt ist: die genannten Soziologen richten ihre Kritik gegen eine bestimmte Vorstellung von der Wissenschaft - nämlich gegen die klassische positivistische Idee, nach der wissenschaftliche Erkenntnis aus festen, ein für alle Male entdeckten Tatsachen besteht. Diese Idee lieferte zwar einen der zentralen ursprünglichen Leitgedanken des logischen Positivismus, mußte jedoch aufgegeben werden, als die rigorose logische Analyse aufzeigte, daß sich zwischen den" Tatsachen" und den "Theorien" stets und unvermeidlich ein Hiatus auftut. Das Projekt, eine wissenschaftliche Philosophie zu gestalten, die jedem "Irrationalismus" durch die logische Analyse der Sprache den Weg verbauen würde, war somit gescheitert. Eine Wissenschaftstheorie oder Wissenssoziologie, die heute den klassischen Positivismus angreift und sich bemüht, eine Bresche zwischen die Tatsachen und die Theorien zu schlagen, um sich dadurch von anderen theoretischen Ansätzen abzugrenzen, kämpft also gegen einen längst abgetretenen Gegner. Da der Weg von den Tatsachen zu den Theorien weder ein ein einziger noch ein eingleisiger ist, da die Wirklichkeit verschieden begrifflich erfaßt werden kann, stellt sich die Frage, wie die Wahl zwischen den unterschiedlichen legitimen Alternativen getroffen wird: die Wissenschaft bleibt doch Eine. Dem logischen Empirizismus zufolge sind
zismus in einem realen Widerspruch zu stehen, lieferten also die sog. neue Wissenssozio logie der Naturwissenschaften vielmehr die konkrete Beschreibung eines Vorganges der vom logischen Empirizismus bereits abstrakt konzeptualisiert wurde. Es folgt aus dieser Überlegung, daß diese" Verhandlungen" nicht das Thema einer Wissenssoziologie der Naturwissenschaften im strikten Sinn sein können: ihre Erscheinungsform ist zwa sozial, aber ihr Ausgang - und damit der Inhalt der Wissenschaft - wird nicht vom So zialen bestimmt. Ipso facto entfallen auch die relativistischen Konsequenzen, die zu weilen aus den Schilderungen der "Verhandlung" gezogen werden. Auf der von uns bisher besprochenen Ebene - der Konstituierung von Begriffen und Theorien innerhalb der modernen Naturwissenschaften - scheint mir somit eine Wissenssoziologie gegenstandslos zu sein. Auf einer anderen (höheren) Abstraktionsebene könnte sich jedoch eine Wissenssoziologie fruchtbaren und philosophisch wichtigen Fragestellungen in Bezug auf die Naturwissenschaften zuwenden: sie könnte fragen, ob und inwiefern die moderne Naturwissenschaft als Ganzes ein einer bestimmten geschichtlichen Gesellschaft eigenes Kulturphänomen ist, und sie könnte versuchen Vergleiche mit anderen Kulturen und deren Denksysteme aufzustellen. In der Tat wurden philosophische und anthropologische Überlegungen in dieser Richtung bereits angestellt: einerseits versuchten Philosophen, die modernen Naturwissenschaften als ein geschichtlich kontingentes Phänomen aufzufassen, zu welchem sich "Alternativen" denken lassen 15 , andererseits stellten Anthropologen die These auf, die modernen ("westlichen") Naturwissenschaften seien mit traditionalen Denksystemen (die eben falls die Aufgabe haben, die Welt zu erklären) vergleichbar 16 . Beide Ansätze öffnen (vor allem zusammengenommen) einer Wissenssoziologie der Naturwissenschaften die Perspektive fruchtbarer Fragestellungen: diese könnte versuchen, vergleichende Be trachtungen über das Entstehen von Erklärungssystemen der physischen Welt in verschiedenen Gesellschaftsformationen anzustellen. Solche Betrachtungen versprechen nicht nur Aufklärung über traditionale Gesellschaften, sondern auch über unsere eigene Gesellschaft, unsere Wissenschaft und unser Verhältnis zur Natur.
Anmerkungen
1 Eine Darstellung der Standpunkte der genannten Autoren gibt Kapitell vonM. Mulkay, Science and the Soeiology of Knowledge, London 1979, S. 1-26. 2 Vgl. Mulkay, ebenda, Kapitel 2, S. 27-62. 3 Innerhalb des logischen Positivismus (der sich später in den logischen Empirizismus verwandelte) war es vor allem Carl G. Hempel, der die in den letzten vier Absätzen skizzierte "Liberalisierung" verfocht. Vgl. z. B. C. G. Hempel, Fundamentals of Concept Formation in Empirical Seience (International Encyclopedia of Unified Science, Bd. 11, Nr. 7), Chicago 1952; "Empirieist Criteria of Cognitive Significance: Problems and Changes" abgedruckt in C. G. Hempel, Apspects of Scientific Explanation and Other Essays in the Philosophy of Seience, New Vork 1965. (Eine deutsche übersetzung einer früheren Fassung dieses Aufsatzes befindet sich in J. Sinnreich (Hrsg.), Zur Philosophie der idealen Sprache, München 1972.) Eine weniger techni-
phy of Seience (History and Theory, Beiheft 2), The Hague 1963. 5 Mulkay, a.a.O., S. 60-62 beschreibt das Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Wissenssoziologie zwar prinzipiell richtig, irrt jedoch, wenn er meint, die Bedingungen für die Möglichkeit einer Wissenssoziologie der Naturwissenschaften seien erst durch die "neue Wissenschaftstheorie" hergestellt worden. 6 Siehe die Literaturübersichten in G. Böhme, Models for the Development of Seience, in: 1. Spiegel-Rösing und Derek de Solla Price (Hrsg.), Science, Technology and Society, London und Beverly Hills 1977, S. 319-351; R. MacLeod, Changing Perspectives in the History of Science in: I. Spiegel-Rösing und Derek de Solla Price (Hrsg.), a.a.O., S. 149-195; undM. Mulkay, a.a.O., S. 73-110. 7 M. MuJkay, a.a.O., S. 63-95. 8 Mulkay (ebenda) bespricht in diesem Zusammenhang noch ein anderes Thema, nämlich die soziale Beeinflussung der Ideen, um welche die Theorien konstruiert werden. Es scheint jedoch, daß die entsprechenden historischen Untersuchungen nicht mehr zeigen, als daß in bestimmten historischen Situationen eine gewisse, sich als nützlich erweisende Heuristik externen Ursprungs ist. Diese Untersuchungen weisen also keine systematische soziale Beeinflussung der Theoriebildung nach, und obwohl sie gewiß hochinteressante Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte liefern, so sind sie doch keine Wissenssoziologie. Siehe dazu]. Ben-David, The Seientist's Role in Society, EnglewoodCliffs 1971, S. 7-11. 9 Mulkay, a.a.O., S. 93. 10 Ebenda, S. 95. Mulkay bespricht die Notwendigkeit von Interpretation und Verhandlung in Zusammenhang mit der These, allgemeine Normen bedürften stets der Interpretation, um auf eine bestimmte konkrete Situation überhaupt angewendet werden zu können. Ich lasse diese Frage hier gänzlich unbeachtet, denn sie betrifft nicht nur die Wissens- (oder Wissenschafts-) soziologie, sondern den Begriff und die Anwendbarkeit einer Norm überhaupt. Es sei noch bemerkt, daß das Verhältnis einer Norm zu einer bestimmten Situation im Prinzip mit dem einer wissenschaftlichen Theorie zu einem ihrer "Fälle" identisch ist: auch letztere muß, um anwendbar zu sein, interpretiert werden, und zwar durch die bereits erwähnten Brückenprinzipien. In beiden Fällen hängt die Interpretation von der Beschreibung der "Randbedingungen" ab, so daß jede Situation auf mehr als eine Weise interpretiert werden kann. 11 Mulkay, a.a.O., S. 94; von mir hervorgehoben. 12 Mulkay übersieht, daß die Existenz von Verhandlungen mit einer internalistischen Geschichtsschreibung nicht notwendigerweise in einem Widerspruch steht und daß Verhandlungen also in eine internalistisch begriffene Wissenschaftsmethodologie zumindest passen könnten. Er bemerkt daher auch nicht, daß, um zu zeigen, daß dies nicht der Fall ist, er genau jene Behauptung hätte beweisen müssen, von der er sich genötigt sieht, lediglich zu sagen, sie sei "likely" (siehe Anm. 11). Ganz genau den gleichen Fehler begeht bezeichnenderweise David Bloor; vgl. D. Bloor, Knowledge and Social Imagery, London 1976, und meine Kritik: G. Freudenthai, How Strong is Dr. Bloor's 'Strong Programme'?, Studies in History and Philosphy of Science, Jg. 10, 1979, S. 67-83, besonders S. 79-82. 13 Vgl. Hempel, Philosophy of Natural S.cience, a.a.O., S. 97 (dt. Philosophie der Naturwissenschaften, a.a.O., S.136-137) für eine analoge Argumentation in einem anderen Zusammenhang. Der entsprechende soziologische Mechanismus wird von J. Ben-David in seinem Aufsatz, ,Organization, Soeial Control, and Cognitive Change in Science" in: ]. Ben-David und T. N. Clark (Hrsg.), Culture and Its Creators, Chicago 1977, S. 244-265, besonders S. 258-262 beschrieben. 14 Einige Fortführer des logischen Empirizismus sind heute bereit, selbst die Bedeutung von Prädikaten der Beobachtungssprache als veränderlich anzusehen. Solche Veränderungen können ebenfalls als das Ergebnis von "Verhandlungen" begriffen werden, die allerdings wiederum der Forderung unterliegen, daß die Einfachheit, Kohärenz usw. des gesamten Systems (der Sprache und der in ihr formulierten Theorien) erhöht werden. Vgl. M. Hesse, Theory and Observation, in: M. Hesse, The Structure of Inference, London 1974, S. 9-44. 15 Vgl. z. B. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967, Kapitel 6 und die Kritik in J. Habermas, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', in: ]. Habermas, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt 1968, S. 48-103.
schaftstheoretische und teilweise auch wissenssoziologische überlegungen zu Hortons Thesen befinden sich in Y. Elkana, The Distinctiveness and Universality of Science: Reflections on the Work of Professor Robin Horton, Minerva, ]g. 15, 1977, S. 155-173.
ERKENNTNIS * Von B. S. Barnes
1. Einleitung
Die Wissenssoziologie hat eine etwas ungewöhnliche Geschichte. Gleich nach dem Krieg sah es so aus, als sollte sie völlig verschwinden; Soziologen und Erkenntnistheoretiker teilten die pelagischen Vorurteile der Zeit und ließen sich zu verfrühten Nachrufen verführen. Wie verfrüht dies war, wird heute immer deutlicher. Im Verlauf der vergangenen zehn Jahre erfreut sich das Forschungsgebiet eines verbreiteten und intensiven Wiederauflebens, so daß an seinem Fortbestehen und an seiner Bedeutung kaum noch gezweifelt werden kann. Die Fragestellungen der Wissenssoziologie sind zu bevorzugten Problemen für die empirische Forschung und die theoretische Analyse geworden. Gleichzeitig ist die Wissenssoziologie heute endlich in zufriedenstellender Weise Teil der allgemeinen soziologischen Praxis. In ihrer gegenwärtigen Konzeption ist die Wissenssoziologie weniger restriktiv formuliert, als dies früher der Fall war. Sie versucht nicht länger, den Inhalt des Erkennens ohne Bezug zu kognitiven Prozessen und deren Kontexte zu erforschen. Noch teilt sie die Differenzierung von Wissen und Glauben. Traditionelle Vorurteile gegen Fragen nach dem zu stellen, was wahr oder gültig oder rational gerechtfertigt ist, sind überwunden. Wissen als Ganzes wird als gesellschaftlich bedingt betrachtet und ist daher ein angemessenes Objekt soziologischer Forschung. In der Tat, die zeitgenössische Naturwissenschaft selbst ist ein bedeutendes Forschungsobjekt - ein Objekt empirische Untersuchungen über Genese, Bewertung und Verwendung der Kultur der Wissenschaft, die keine apriori Begrenzungen ihrer Vorgehensweisen akzeptiert. Während frühe wissenssoziologische Untersuchungen (paradoxerweise) von der Notwendigkeit ausgingen, falsche oder verzerrte Erkenntnis zu analysieren, ist heute das vorherrschende Forschungsziel, unsere routinemäßigen, "rationellen" kognitiven Prozesse zu untersuchen: unsere Neugier über uns selbst ist damit weitaus authentischer geworden 1 . Es steht ferner fest, daß die wichtigen Entwickhmgen in der Wissenssoziologie auf empirische Forschung und auf vergleichbare Untersuchungen in so unterschiedlichen, aber dennoch in enger Beziehung stehenden Disziplinen wie Kulturanthropologie und Wis•
Ich danke den vielen Kollegen in meinem Fachbereich an der Universität Edinburgh und anderswo, die frühere Fassungen dieses Aufsatzes hilfreich kommentiert und kritisiert haben.
So wird die gesellschaftliche Konstitution von Wissen zum Beispiel nicht von allen Wissenschaftlern anerkannt. Sogar in der Wissenssoziologie selbst bleibt, obwohl man den sozialen Charakter von Wissen routinemäßig akzeptiert, die genaue Implikation dieser Annahme unklar, und frühere, überholte Konzeptionen werden immer noch vertreten. Der soziale Charakter von Wissen wird immer noch als etwas Ungewöhnliches beschrieben oder, alternativ, als etwas, das im Gegensatz zum Wissen als Abbild der Realität steht. Es besteht die Notwendigkeit, so präzise wie nur möglich zu formulieren, was es ist, das Wissen allgemein, einschließlich wissenschaftlichen Wissens, seinen unvermeidlich sozialen, kollektiven Charakter gibt. Auf der Basis einer solchen Analyse besteht dann die Notwendigkeit, sie zu illustrieren und exemplifizieren, bis sie vollkommen einleuchtend, sogar selbstverständlich ist. Nur auf diese Art und Weise wird es möglich sein, eine Routine für weitere Forschungen zu entwickeln, die von früheren, individualistischeren Überlegungen unbeeinflußt ist. Der vorliegende Aufsatz versucht, einen Beitrag zu diesen Zielen zu leisten. Die Schwierigkeiten eines Versuchs, Wissen als Ganzes zu betrachten und seine generellen Eigenschaften zu umschreiben, liegen auf der Hand. Es ist besonders schwierig, den unbegrenzten Rahmen einer Analyse dieser Art zu bestimmen und Gründe dafür zu find~n, daß sie zum Beispiel auf die theoretische Physik oder den dialektischen Materialismus, oder jede andere konkrete Doktrin, die zu Beginn der Untersuchung nicht tatsächlich im Detail bestimmt wird, anwendbar ist. Glücklicherweise wird die Schwierigkeit dieses Problems durch die Tatsache gemildert, daß keine absolute Trennung zwischen theoretischen und Beobachtungskonzepten und Aussagen möglich ist. Dieses Ergebnis hat man in vergangenen Jahren immer wieder detailliert untersucht und es wird jetzt als selbstverständlich akzeptiert. Diese Schlußfolgerung ist besonders sorgfältig von Mary Hesse in ihrem Buch "The Structure of Scientific Inference" untersucht und bestätigt worden. Hesses Arbeit deutet auf eine allgemeine Analogie zwischen einer umfangreichen Zahl von Begriffen und Wissensformen, einschließlich von empirischen Alltagswissen und esoterischer wissenschaftlicher Theorie, hin. Daraus kann man folgern, daß die Untersuchung allgemein verständlicher Begriffe Schlüsse von allgemeiner Bedeutung zulassen. Die Aufhebung der Unterscheidung von Tatsachen und Theorie verleiht der Untersuchung von einfachen Beispielen des Erlernens und der Verwendung von Begriffen größere Bedeutsamkeit 2 . Im folgenden sind begriffliche Unterscheidungen von Tierarten und deren Eigenschaften Grundlage der Diskussion. Sie eignen sich gut als Illustrationsmaterial für viele meiner Aussagen, und ihre unmittelbare Verständlichkeit ist ausreichende Kompensation in solchen Fällen, in denen esoterische und technische Begriffe als einleuchtendere und bedeutsamere Beispiele gedient haben könnten. Die erarbeiteten Schlußfolgerungen sollen jedoch für Begriffe und Wissensansprüche allgemein gelten, und diejenigen, die ihre Anwendbarkeit einschränken oder Ausnahmen machen würden, müssen akzeptieren, daß sie die Last der Rechtfertigung tragen, obwohl das Problem der Generalisierbarkeit in diesem Aufsatz nur kurz angeschnitten wird 3 .
artikuliertes Wissen ist, muß sie sich mit den verbalen Außerungen verschiedener Gruppen befassen. Als Ausgangspunkt kann man diese Außerungen als Beispiel der Anwendung von Begriffen oder als Glaubensinhalte und Wissensansprüche analysieren. Die zuerstgenannte Vorgehensweise wird hier in erster Linie verwendet, obwohl sich zeigen wird, daß die ursprüngliche Methode, für die man sich entscheidet, um das Forschungsmaterial zu organisieren, auf längere Sicht gesehen unerheblich ist. Zentrale Frage ist daher hier, wie man ein besseres Verständnis der Verwendung von Begriffen erreichen kann 4 . Es liegt auf der Hand, daß man beginnt, indem man versucht zu verstehen, wie Menschen lernen, Begriffe zu verwenden - und das bedeutet, wie sie zu klassifizieren lernen. Es ist deshalb sinnvoll, einige wichtige Randbedingungen des Lernkontextes zu umschreiben. Erstens lernen Menschen, während sie sich in einer ihnen bewußten, unbegrenzt komplexen natürlichen Umwelt bewegen. Das Lernen vollzieht sich im Verlauf der Rezeption komplexer Inputs von Informationen auf Grund von "Erfahrung" oder der Konfrontation mit "der Welt" oder der "Realität" oder welchen anderen Begriff man immer vollziehen mag. Zweitens ereignet sich das Lernen ursprünglich immer in einem sozialen Kontext; Klassifizieren zu lernen bedeutet, die Klassifikationen irgendeiner Gemeinschaft oder Kultur zu erlernen und dies erfordert die soziale Interaktion mit kompetenten Mitgliedern der Kultur. Beide Annahmen sind von so großer Bedeutung für die weitere Diskussion, daß es sinnvoll erscheint, sie als Teil einer rudimentären Vorstellung oder eines Abbilds des Lernkontextes zu konzipieren. Stellen wir uns deshalb einen Novizen vor, der nur bemüht ist, die gegenwärtig von seiner Kultur akzeptierten Klassifikationsformen der natürlichen Umwelt zu erlernen. Wir können ihn als den inkompententen Lernenden L charakterisieren, der in einer bestimmten Umgebung mit einem kompetenten Mitglied oder Lehrer T interagiert. Zwei Prozesse können zur Anwendung kommen: Zeigen (ostension) und Generalisieren.
III. Zeigen
Jeden Versuch, eine direkte Beziehung zwischen einem Begriff und einem Objekt, einem Ereignis oder einem in der Umwelt evidenten Prozeß herzustellen, werde ich als einen Akt des Zeigens ansehen. Da ich Tierarten untersuchen werde, ist die Vorstellung des Ansagens und des Anzeigens im Kontext dieser Überlegungen das am besten geeignete Symbol für einen Akt dieser Art. Man stelle sich T vor, der den Gebrauch des Wortes "x" klarzumachen versucht, indem er wiederholt auf etwas bestimmtes zeigt und gleichzeitig "x" sagt. Ergebnis ist, daß L an eine Anzahl von Einheiten erinnert, die alle mit "x" in Verbindung stehen: praktisch bedeutet dies, daß er sich an soundsoviele "x" erinnert. T kann zum Beispiel auf eine Anzahl bestimmter Vögel hinweisen und in jedem Fall "Vogel" sagen. L wird damit mit einer Reihe akzeptierter Beispiele des Begriffes "Vogel" vertraut und wird diese Beispiele einfach als Vögel verstehenS .
den Prozeß des Zeigens verzichten; denn wenn die Bedingungen der Anwendung eines Begriffes oder Konzeptes nur auf Grund verbaler Regeln spezifiziert worden sind, ergeben sich neue Probleme der angemessenen Verwendung von Begriffen auf Grund dieser Regeln. Eine potentiell unendliche Zahl von Fragen zur angemessenen Anwendung von Begriffen entsteht. Dieser Prozeß endet in der Praxis nur deshalb, weil Hinweise durch Anzeigen auf die angemessene Verwendung der Begriffe die Verwirrung beenden (siehe auch XVI).
IV. Generalisierung Generalisierungen verbinden Begriffe miteinander und deuten auf Assoziation zwischen Beispielen der Begriffe hin. Die von T gemachten Generalisierungen geben L daher standardisierte Erwartungen, ob ein Beispiel eines Begriffs auch Beispiel eines anderen Begriffs ist oder noch werden kann oder in bestimmter Weise in einer Bezieh}mg steht zu einem Beispiel eines anderen Begriffes: "Vögel sind Eierleger" , "Vögel können fliegen", "Vögel haben Federn" sind einleuchtende Beispiele dafür. Wie schon das Zeigen so ist auch die Generalisierung ein wesentlicher Teil des verbal vermittelten Lernens. Generalisierungen schaffen Erwartungen für die Erfahrung. Sie sind es, die dazu beitragen, daß wir eine Kultur als eine Wissensform und nicht als eine Taxonomie ansehen. Die Struktur der Generalisierung ist variabel, und sie kann benutzt werden, um die Art oder die Intensität der Assoziation von Beispielen ihrer Begriffe zu vermitteln. Im Fall der Klassifikation von Tierarten sind Verweise auf die Wahrscheinlichkeit typischerweise ein bedeutendes Merkmal der Generalisierung. Die Häufigkeit der Beziehung kann auf folgende Weise angedeutet werden: "Vögel können normalerweise fliegen"; oder die Zuverlässigkeit: "Wir sind davon überzeugt, daß alle Vögel einen Schnabel haben"; oder der Grad der Genauigkeit, in diesem Fall wird eine Aussage nur mit großer Sicherheit gemacht: "Vögel sind nur gefiederte Zweifüßler". (Für die folgenden Überlegungen ist die Struktur der Generalisierung unbedeutend, obwohl Hinweise auf Wahrscheinlichkeiten von einigem Interesse sind, ist ihr spezifischer Wert nicht bedeutsam. Infolgedessen verwenden wir zwar das Symbol p für Generalisierung G als einen Hinweis auf die (in welchem Sinn auch immer) mit G in Verbindung gebrachten Wahrscheinlichkeiten, gehen aber davon aus, daß wir es im Kontext der folgenden Überlegungen mit Generalisierungen von großer Wahrscheinlichkeit bzw. Genauigkeit zu tun haben. Unsere Folgerungen würden umso eher zutreffen, wenn es sich um Generalisierungen mit geringer Wahrscheinlichkeit handeln würde.)
V. Das Hesse-Netz Für die Deskription verbal vermittelten Lernens sind die Prozesse des Zeigens und des Generalisierens nicht nur notwendig, sie sind wahrscheinlich auch hinreichend. Um auf
in einem umfassenden Sinn um den Prozeß der Generalisierung handeln. Man kann sich nur schwer weitere, T zur Verfügung stehende Strategien vorstellen. Für den Zweck dieser Diskussion gehe ich davon aus, daß es keine weiteren gibt. Sofern dies zutrifft, erlernt L sämtliche Informationen seiner Gruppe über Begriffe auf Grund dieser beiden Prozesse. Und, da jeder T einmal ein L war, folgt, daß alle kompetenten Mitglieder der fraglichen Gemeinschaft ihr Wissen auf der Basis dieser Prozesse erworben haben. Es ist daher möglich, das Wissen eines kompetenten Mitglieds durch ein Schema modellhaft wiederzugeben. Ich nenne dieses Schema das Hesse-Netz 6 . Das Hesse-Netz kann man sich vorstellen als eine Anzahl von Begriffen C, die durch Generalisierungen G verbunden sind, und jede Generalisierung wiederum steht in Verbindung mit einer "Wahrscheinlichkeit" p. Man sollte sich das Netz so vorstellen, daß es über das Schema hinausreicht und mehr und mehr Begriffe umfaßt, bis es letztendlich alle kulturellen Ressourcen eines Individuums als Teil des Ganzen umfaßt. (Eine größere Zahl der Begriffe in einem Netz umfassen infolgedessen nicht Klassifikationen natürlicher Arten, sondern beziehen sich auf Prozesse oder Eigenschaften. Dadurch werden allerdings keine zusätzlichen Probleme geschaffen. Begriffe dieser Art funktionieren in ähnlicher Weise im Prozeß der Generalisierung. Es ist schwieriger, einen Begriff mit einem bestimmten Verhalten oder einer Eigenschaft durch Zeigen in Verbindung zu bringen, als einen Begriff mit einem Objekt zu assoziieren.) Schließlich muß darauf verwiesen werden, daß jedes Konzept mit einer bestimmten Zahl von Beispielen in Verbindung gebracht wird. Diese Beispiele bezeichne ich als Spannung (tension) des damit in Verbindung stehenden Begriffes 7 . Eine Spannung kann ausschließlich auf das Zeigen zurückgehen. Sie kann aber auch verbal durch besonders wirksame Formen der Generalisierung synthetisiert werden. Die Spannung des Wortes "Tier" kann zum Beispiel mit Hilfe von Aussagen wie "Kühe sind Tiere" oder "Schweine sind Tiere" konstruiert werden, also auf Grund der Spannung von "Kuh", "Schwein" usw. Es ist jedoch jederzeit möglich, Tiere direkt zu zeigen und auf diese Art und Weise zur Spannung des Wortes "Tier" durch Zeigen beizutragen. Begriffe, deren Spannung auf Zeigen bzw. verbalen Methoden beruht, sind nicht inhärent unterschiedliche Begriffsformen. Im Gegenteil, es gibt verschiedene Präferenzen für den Umfang des Gebrauchs von Zeigen und verbalen Lehrmethoden; Präferenzen, die kontextabhängig sind. Darüberhinaus beruhen diese Präferenzen nicht auf der Bevorzugung von Zeigen oder verbalen Strategien der Definition, sie stehen vielmehr in Beziehung zu einer direkten oder indirekten Bevorzugung von Zeigen. In jedem Netzwerk müssen einige Spannungen auf Grund von Zeigen zustandekommen. Andere Spannungen, die verbal auf diese aufbauen, werden vorangehendes Zeigen in sich aufnehmen. Die Spannungen eines Netzwerks stehen daher formal gesehen in Äquivalenz zu einander, sie sind grundsätzlich alle identisch. Sie stellen auf vielfältige Weise Verbindungen her, die das Netz an die natürliche Umwelt binden. Das Hesse-Netz ist letztlich nur eine Reifikation, ein grobes Abbild, das auf sprachliche Verhaltensweisen zurückgeht. Dennoch ist die Struktur des Netzes, sobald man sie in-
auf Grund eines Beispieles merken kann. Es gibt keinen Grund, weiter auf die vollkommen formale Repräsentation des Beispieles einzugehen.)
VI. Die Anwendung von Begriffen Das Netz ist als ein Modell der begrifflichen Ressourcen beschrieben worden, das ein Individuum im Verlauf seiner Sozialisation erlernt. Es ist die Summe dessen, was man über die angemessene Verwendung eines Begriffs lehren kann. Es ist wichtig zu erkennen, daß der Erwerb der Summe dessen, was die Kultur vermitteln kann, die zukünftige Anwendung von Begriffen unterdeterminieren und offenlassen kann. Es ist unvermeidlich, daß Begriffe sukzessive auf Einzelheiten angewandt werden, die sich im Detail voneinander unterscheiden. Die angemessene Kompetenz läßt sich in einer Art und Weise der Verwendung erkennen, die über die ursprünglich gelehrte hinausgeht. L zum Beispiel zeigt, daß er weiß, was ein Hund ist, indem er Hunde generell in seiner Umgebung korrekt identifizieren kann und nicht nur die einzelnen Beispiele des Begriffs "Hund", die ihm T gab. Auf welche Art und Weise gelingt diese Identifikation? Zur Lösung dieser Frage stelle man sich zunächst eine neue Einzelheit 0 vor, die als Beispiel von C, oder auch nicht, einfach auf der Basis der Spannung des Begriffs C eingeordnet werden muß. In diesem Fall kommt es in erster Linie auf den Grad der Übereinstimmung zwischen 0 und den einzelnen Beispielen der Spannung von C an. Allerdings ist das Konzept "Grad der Übereinstimmung" nicht unproblematisch. Jeder funktionierende kognitive Apparat ist in der Lage, eine Vielzahl von Unterschieden und Ähnlichkeiten zwischen 0 und den existierenden Beispielen von C auszumachen. Dies trifft auch dann zu, wenn Erkenntnisvermögen und Perzeption durch Lernprozesse strukturiert sind. 0 ist immer sowohl ähnlich als auch unterschiedlich im Vergleich zu vorangegangener Perzeption. Die These von der Ähnlichkeit, und darum handelt es sich im vorliegenden Fall der Verwendung eines Begriffs, impliziert daher, daß die Ähnlichkeiten die Unterschiede übertreffen. Es gibt allerdings keine Skala, um das Gewicht der Ähnlichkeiten gegenüber dem Gewicht der Unterschiede, die entweder in der Realität vorkommen oder die sich auf Grund inhärenter Eigenschaften des Denkens ergaben, zu messen. Es ist sehr gut möglich, daß eine Person behauptet, daß mangelnde Ähnlichkeit vorliegt und daß die Anwendung des fraglichen Begriffs, soweit es die Realität oder Denkvorgänge betrifft, nicht sinnvoll ist. Daraus folgt, daß die Spannung eines Begriffs wie "Hund" eine unzureichende Determinante seines späteren Gebrauchs ist. Dies trifft sogar dann zu, wenn eine Person das überwältigende psychologische Gefühl hat, daß die Ähnlichkeit besonders eindeutig ist. Eine Überzeugung dieser Art ergibt sich nicht aus dem "Sinn" eines Begriffs, sondern aus dem routinemäßigen Funktionieren der Perzeption einer Person, die kontingent und reversibel ist.
auch, daß die Prozesse, durch die Beispiele nacheinander zur Spannung hinzugefügt werden, Prozesse sind, durch die gesellschaftlich bedingte Urteile beeinflußt werden. Anders ausgedrückt, die Anwendung von Begriffen ist keine soziale Aktivität in dem Sinn, daß sie durch eine kulturell gegebene Klassifikation der Realität bestimmt ist, sondern eine soziale Aktivitiät, auf Grund derer bestimmte Muster dieser Klassifikationen möglich und entwickelt werden. Das Muster erklärt die Aktivität nicht, sondern die Aktivität ist für das Muster verantwortlich. Es trifft zu, daß ein Konzept immer Teil eines Netzes und die Anwendung mehr als nur den Verweis auf bestimmte Beispiele umfaßt, von denen man weiß, daß sie Teil der Spannung des Begriffs sind. Berücksichtigt man diesen Zusammenhang, so stellt sich heraus, daß die Schlußfolgerung der einfachen Analyse weiter zutrifft. Als Teil eines Netzes verwendet man einen Begriff normalerweise nicht auf Grund einer einzelnen Ähnlichkeitsrelation. Sofern man sich entscheidet, daß 0 ein Hund ist, geht man davon aus, daß es den vorhandenen Beispielen von "Hund" eher ähnlich ist als den Beispielen von "Wolf" oder vergleichbaren Begriffen. Es handelt sich um die höchste perzipierte Ähnlichkeit aus einer Serie von Vergleichen, die von besonderem Gewicht ist (siehe auch Abschnitt VII). Aber dadurch erhöht sich nur der Umfang, in dem Gewichtungen von Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten gemacht werden müssen, und dies erhöht damit nur die Bedeutung der schon angeführten Folgerungen. Wie verhält es sich aber mit dem Netzwerk verbaler Generalisierungen (einschließlich vielleicht von Definitionen), zu denen ein Begriff gehört? Zweifellos dürften Generalisierungen dieser Art einen wichtigen Einfluß auf die Verwendung von Begriffen haben, allerdings dürften sie auf keinen Fall die Schwierigkeit der mangelnden Determination von Begriffen lösen. Man kann von ihnen nur erwarten, daß sie das Problem der Ähnlichkeitsbestimmung verschieben. Die Generalisierung "Hunde haben immer Haare" zum Beispiel führt uns nur zu einem weiteren Begriff, nämlich "Haar", bei dem das Problem der Ähnlichkeit erneut auftritt. Was auch immer man im Fall des Beispiels 0 als Anzeichen für Haar ansieht, es wird gegenüber den Beispielen der Spannung von "Haar" perzipierbare Gemeinsamkeiten und Unterschiede geben. Analog zu einer Anzahl von Generalisierungen, sogar wenn sie sich explizit als notwendige Bedingungen für die Anwendung eines Begriffs präsentieren, ist das grundlegende Problem damit nicht gelöst. "Die Definition eigener Begriffe" ist keine Strategie, die eine hinreichende Basis für ihren späteren Gebrauch bilden kann. Unsere Neigung, einen Begriff in einem bestimmten Fall zu verwenden, mag durch den Verweis auf verbale Generalisierungen, in denen er auftritt, sowie die Spannungen der Begriffe, zu denen er damit in Verbindung gebracht wird, gestärkt werden. Aber keine Definitionsstrategie kann eine umfassende problematische Ähnlichkeit durch ein unproblematisches "tatsächliches" Messen der Ähnlichkeit eines bestimmten Aspektes ersetzen. Definitionsstrategien erweisen sich als unbrauchbar, da sie nur zu einer Anzahl von einzelnen Beispielen eines Begriffes führen, das heißt zu einer Spannung, in der die Schwierigkeiten der Ähnlichkeitsrelation erneut auftreten. Spannungen sind die
Die vergangene Verwendung eines Begriffs kann nur dann die hinreichende Basis für die zukünftige Verwendung bilden, wenn die Ähnlichkeitsrelation durch eine vollkommene Identitätsrelation abgelöst wird. Dies impliziert das Vorhandensein von Begriffen, die nur auf identische Beispiele, zwischen denen man nicht diskriminieren kann, anwendbar sind. Die Anwendung von Begriffen dieser Art wäre unproblematisch und ihr Vorkommen in verbalen Generalisierungen könnte dazu dienen, die Anwendung von anderen Begriffen unproblematisch zu machen. Man könnte behaupten, daß "alle Hunde und nur Hunde Hundeartigkeit manifestieren", woraufhin die Verwendung von "Hund" unproblematisch wäre, wenn eine Spannung "Hundeartigkeit" vorhanden ist, die nur vollkommen identische Beispiele umfaßt. (In einem solchen Fall würde die Spannung natürlich nur ein Beispiel enthalten, das auf die Natur von Hundeartigkeit verweisen würde oder sie selbst wäre.) Eine essentialistische Bestimmung dieser Art würde, sofern man sie akzeptiert, der in diesem Aufsatz vertretenen Position der Anwendung von Begriffen widersprechen. Trotz der Attraktion, die die essentialistische Ontologie für viele Philosophen hat, gibt es glücklicherweise jedoch keine empirischen Daten, die diese Position untermauern. Essenzen dienen offenbar nicht als Magneten für unsere Begriffe. Die tatsächlich beobachtbaren Prozesse der Anwendung von Begriffen schließen die Identität nicht ein: wir sind in der Lage, ohne sie auszukommen. Die offenbleibende Verwendung von natürlichen Begriffen geschieht unter Zuhilfenahme der Ähnlichkeit von Beispielen, und es gibt keine Möglichkeiten, die Konsequenzen dieser Vorgehensweise für die Begriffe zu vermeiden. Die von uns für notwendig erachteten Umrisse der Konzeption der Anwendung von Begriffen ist damit ausgearbeitet. Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Begriffe erlernt man von kompetenten Quellen in einer bestimmten natürlichen Umwelt; die Lernprozesse, das Zeigen und die Generalisierung führen dazu, daß ein Muster von Assoziationen aufgebaut wird, das als ein Hesse-Netz konzipiert werden kann; schließlich ist von besonderer Bedeutung, daß sich die Entwicklung der Muster auf Grund von Ähnlichkeitsrelationen und nicht auf Grund von Identität vollzieht. Wir sind damit in der Lage, eine Reihe der Implikationen dieser Position zu analysieren. Präziser ausgedrückt, eine Anzahl der schon angeschnittenen Fragen kann jetzt detaillierter untersucht werden. Dabei überrascht zu sehen, wieviel sich von diesem relativ einfachen Ausgangspunkt ableiten läßt.
VII. Implikation A: Delokalisierung Man stelle sich den Fall vor, in dem T und L damit beschäftigt sind, eine für beide neue Einzelheit O. L zu klassifizieren; L hat als Lernender noch nicht alle in seiner Gemeinschaft vorhandenen Begriffe erlernt. Man kann sich dieses Problem in Form einer Kultur mit drei Begriffen vorstellen, in der L noch einen der drei Begriffe erlernen muß. L kommt zu dem Schluß, daß 0 den einzelnen Beispielen von C z mehr ähnelt als
in Kenntnis gesetzt, daß 0 tatsächlich ein C3 ist; damit lernt Leinen neuen Begriff auf Grund des Prozesses des Zeigens. Nur und ausdrücklich nur weil L den Begriff C3 nicht gekannt hat, ist L im Gebrauch von C2 weniger kompetent als T. In dieser einfachen Episode wird die korrekte Verwendung von Begriffen durch Prozesse der sozialen Kontrolle in Verbindung mit Verweisen auf Erfahrungszusammenhänge bestimmt. Häufig unterscheidet man zwischen Lernen durch Beobachtung und direkter Konfrontation mit der Umwelt und Lernen auf Grund der Konformität mit Autoritäten und Tradition. Dieser Gegensatz ist falsch: um den Lernprozeß verstehen zu können, muß man die interdependente Operation der einander gegenübergestellten Faktoren kennenlernen. Diese oben dargestellte Interdependenz ist Grundlage aller Lernprozesse. In der Tat läßt sich behaupten, daß das oben dargestellte Modell selbst ein akzeptables Beispiel tatsächlicher Prozesse der Erlernung von Begriffen ist. Ein von Thomas S. Kuhn beschriebenes Beispiel ist folgendermaßen zu veranschaulichen: Ein Junge, dem die Konzepte "Ente" und "Gans" ein Begriff sind, nennt einen großen weißen Vogel eine Gans. Er wird von seinem Vater korrigiert, der auf die angemessene Bezeichnung "Schwan" hinweist. Im gleichen Maß wie die Erfahrung des Jungen mit Schwänen zunimmt, nimmt seine Kompetenz im Gebrauch des Begriffs "Schwan" zu. Darüber hinaus ist nur schwer verständlich, wie die Zunahme dieser Kompetenz entweder allein verbal oder auf Grund weiteren Zeigens von akzeptierten Beispielen des Begriffs "Gans" hätte erhöht werden können. Offenbar ist es der Fall, daß man eine Gans kennen muß, um zu wissen, was ein Schwan ist. Die zutreffende Verwendung des Begriffs "Gans" setzt voraus, daß man die akzeptierten Beispiele von "Schwan" kennt. Auf Grund einer Generalisierung dieser Überlegungen kommen wir zu dem interessanten Schluß, daß der kompetente Gebrauch eines Begriffs im idealen Fall die Kenntnis aller Begriffe des damit in Verbindung stehenden Netzes erfordert. Atomistische Theorien der Verwendung von Begriffen (und daher des Sinns von Begriffen), die nur die Beziehung von einem isolierten Konzept und dem, auf das es anwendbar ist, betrachten, sind inadäquat. Es ist notwendig, delokalisierte Ansätze, die sich mit untereinander in Verbindung stehenden Begriffen als Ganzes beschäftigen, zu entwickeln. In einigen Fällen wird angenommen, daß Ansätze dieser Art nur auf spezielle Ausschnitte der verbalen Kultur anwendbar sind, nämlich Sektoren, die mit kommunikativer Interaktion zu tun haben und die auf Grund hermeneutischer und interpretativer Methoden analysiert werden. Es wird ein Gegensatz hergestellt zwischen wissenschaftlichen oder alltäglichen deskriptiven Konzepten und solchen Konzepten, die man in der Geschichte, der Philosophie oder sogar in der face-to-face-Interaktion anwendet. Man geht davon aus, daß der Sinn der erstgenannten Begriffe atomistisch verstanden wird, im Sinn einer Korrespondenz mit dem, was sie beschreiben. Die zuletztgenannten Begriffe stellen dagegen miteinander in Verbindung stehende Sinnsysteme dar, deren holistische Eigenschaften die Anwendung hermeneutischer Techniken erfordern. Tatsächlich läßt sich jedoch sagen, daß atomistische Konzeptionen von "Sinn" keine Rele-
Methoden auf die kulturell-spezifischen Formen verweisen, in denen Begriffe zusammenhängend organisiert sind, und es steht außer Zweifel, daß man sie nur wenig in der Untersuchung von Wissenschaft verwendet hat, weil sie die konventionellen Eigenschaften von Wissen auf diese Weise betonen.)
VIII. Implikation B: Die Anwendung eines Begriffes ist bereits ein Urteil Wenn ein Individuum, um zu entscheiden, wie eine neue Einzelheit genannt werden soll, sich auf vorangehende Verwendungen bezieht, konfrontiert es eine komplexe Zahl von Ahnlichkeiten und Unterschieden. Sogar dann, wenn diese Person in guter Absicht handelt und sich als eine normale "rationale" Person verhält, kann sie darin keine hinreichende Basis für die Entscheidung finden, den einen oder den anderen Begriff zu wählen oder sogar die These "C", nicht aber "Nicht-C". Der vorangehende Gebrauch stellt Gründe für jede Entscheidung bereit: welchen Begriff man auch immer wählen mag, dies kann in Verbindung mit vorhergehendem Gebrauch geschehen. Die tatsächliche Benennung einer Einzelheit muß daher, formal gesehen, als ein kontingentes Urteil der in Frage kommenden Personen angesehen werden. Begriffe tragen keine Kennzeichen, umfassen keine Instruktionen, aus denen hervorgeht, wie man sie verwendet. Wir bestimmen den Gebrauch und stützen uns dabei auf vorhergehenden Gebrauch als Präzedenzfall. Darüber hinaus sind Präzedenzfälle korrigierbar, da sie selbst Produkt von Urteilen sind. Man kann immer behaupten, daß der vorherige Gebrauch falsch ist, daß man Ahnlichkeiten und Unterschiede falsch gewichtet hat und daß er revidiert werden muß. Arten können neu klassifiziert werden, so daß sogar frühere paradigmatische Beispiele der angemessenen Verwendung eines Begriffs einem anderen Konzept zugeschlagen werden. Die Verwendung von Begriffen entwickelt sich somit aus on the spot-Urteile~, jedes Urteil fügt zur Spannung eines Begriffs ein Beispiel hinzu (oder wenn der vorangehende Gebrauch verändert wird, eliminiert ein Beispiel). Daraus folgt, daß es falsch ist anzunehmen, daß der Gebrauch von Sinn, Regeln, Normen, Logik oder ähnlichen Phänomenen bestimmt wird - zumindest trifft dies auf Begriffe zu, die eine empirische Signifikanz haben. Eine zutreffende Metapher, die diese Zusammenhänge aufhellt, würde Konzepte als von Personen zur Zieldefinition verwandte Ressourcen beschreiben. Die Spannung eines Begriffs repräsentiert eine konventionelle Gleichheitsbeziehung zwischen ihren einzelnen Beispielen. Wenn Personen den Begriff auf eine weitere Einzelheit anwenden, so muß man fragen, welchen Sinn es hat, daß eine Gleichheitsbeziehung in dieser Art und Weise entwickelt wird. Man könnte sich denken, daß die hier entwickelte Vorstellung des Gebrauchs von Begriffen kaum auf den Fall des fast unbewußten, routinemäßigen Gebrauchs von Worten zutrifft. Formal gesehen trifft sie jedoch zu, genauso wie es angemessen ist zu sagen, daß sich Individuen entscheiden, sich morgens anzuziehen und
halten im Zusammenhang mit seinem Ziel verstanden werden muß, das heißt mit Hilfe von Konzepten wie "Interesse" oder "Ziel" (siehe XIV und XV unten).
IX. Implikation C: Angemessener Gebrauch bedeutet Gebrauch durch Übereinstimmung In der Regel verwenden Individuen Klassifikationen ohne Zögern; sie sind sich sicher, daß ihre Verwendung korrekt ist und daß sie von den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft als korrekt verifiziert werden. Im Großen und Ganzen werden solche Verwendungen auch verifiziert. Man kann jedoch annehmen, daß sich zwei Individuen in einer Gemeinschaft über die routinemäßige Anwendung eines Begriffs nicht einig sind. Für die erste Person ist eine Kreatur ganz offensichtlich und zweifelsfrei ein Hund, für die zweite ist es eine Katze. Keine Diskussion kann daran etwas ändern. Was dem einen als Knurren vorkommt, hört sich für den anderen wie Schnurren an. Und obwohl sie sich einig sind, den Füßen katzenartige Eigenschaften zuzurechnen und dem Kopf hundeartige, ist es für den einen klar, daß die zuletztgenannten überwiegen, während der andere nicht in der Lage ist zu verstehen, wie ein vernünftiger Mensch das wirklich bedeutsame Aussehen der Füße vernachlässigen und triviale Aspekte wie Gesicht und Kopf betonen kann.' Möglicherweise entwickelten beide Ahnlichkeitsvorstellungen aus unterschiedlichen Zielsetzungen, oder vielleicht besaßen sie radikal unterschiedliche, angeborene Fähigkeiten der Perzeption und des Erkennens. Untersuchen wir nun die Frage, welche der beiden Personen die Kreatur korrekt bezeichnet hat. Es gibt kein absolutes Kriterium. Sollte es jedoch der Fall sein, daß in einer bestimmten Gemeinschaft alle anderen kompetenten Mitglieder mit der Bezeichnung "Hund" übereinstimmen, dann ist das für uns die korrekte Bezeichnung. Ihr gemeinsames Verhalten spiegelt zweifellos dieses gemeinsame Urteil wider. Darüber hinaus dürfte dieses Urteil der Korrektheit das einzige gemeinsame Urteil sein, das in dem in Frage stehenden Kontext empirische Folgen hat. Aus diesem Grund handelt es sich bei diesem Urteil um das einzige für Soziologen interessante Urteil. Im Zusammenhang dieser Überlegungen ist angemessener Gebrauch weitgehend der Gebrauch, auf den man sich geeinigt hat. Er wird durch die Praxis der relevanten Gemeinschaft evident l l . Externe Bewertungen der Verwendung von Begriffen, wie sie zum Beispiel von einem Erkenntnistheoretiker auf den Diskurs einer fremden Kultur angewandt werden konnten, haben keine soziologische Relevanz. Es ist natürlich eine empirische Frage, ob und wieweit das Gefühl für einen angemessenen Gebrauch von Begriffen aufrechterhalten werden kann. Es kann keine Garantie dafür geben, daß der Konsensus unproblematisch andauert oder daß Dispute über den Gebrauch immer durch direkten Verweis auf die gemeinsame Autorität gelöst werden können. Sofern sich die Mitglieder einer Gemeinschaft über die angemessene Verwendung eines Begriffs uneinig sind und die gemeinschaftliche Autorität keine Lösung bie-
denzfall der künftige offenbleibende Gebrauch weniger problematisch wird. Die Parteien können sich zum Beispiel darauf einigen, sei es als Konvention oder Nomenklatur, daß bestimmte problematische Tierarten "Motte" und nicht "Schmetterling" heißen sollen. Als Ergebnis können sie erwarten, daß die zukünftige Benennung "ähnlicher" Tierarten ohne das Problem des Konsensus möglich ist. Manchmal ist man der Überzeugung, daß Probleme dieser Art aus einem mangelnden Wissen des "tatsächlichen Sinns" der Begriffe selbst resultieren, und das Erzielen eines Konsensus in diesen Fällen wird von Zeit zu Zeit als "Entdeckung" des "tatsächlichen Sinns" dargestellt. Ein Konsensus manifestiert aber nur die erfolgreiche Aushandlung einer Ausweitung des Gebrauchs.
X. Implikation D: Aquivalenz
Insofern man eine Klassifikation, oder Wissen, als ein Hesse Netz darstellen kann, impliziert dies eine Äquivalenz aller Formen, die in dieser Weise dargestellt werden können. Es folgt, daß eine Äquivalenz impliziert ist zwischen unserem System der Tierarten und solchen anderer Kulturen oder Sub-Kulturen, die durch Vorfahren, Fremde, Kriminelle und Experten aufrechterhalten werden. Darüber hinaus habe ich generell behauptet, daß alle Systeme verbaler Kultur als Hesse-Netze darge~tellt werden können (siehe Abschnitt V), und dies hat, sofern es richtig ist, zur Folge, daß die Art angenommener Äquivalenz von noch größerem Interesse ist. Unterschiedliche Hesse-Netze sind in zweifacher Hinsicht immer äquivalent. Erstens kann man die unterschiedlichen Spannungen zweier beliebiger Netze betrachten. Sie repräsentieren verschiedene Möglichkeiten der Strukturierung von einzelnen Beispielen. Allerdings handelt es sich bei der Strukturierung um etwas, das wir mit Beispielen tun, nicht um etwas, das schon in der "Realität" vorfindbar ist. Die Realität ist ganz einfach die unwahrscheinlich komplexe Serie von nicht-verbalisierten Informationen, die wir strukturieren. Dies bedeutet, daß unterschiedliche Netze in einer äquivalenten Beziehung zur "Realität" oder zur physischen Umwelt stehen. Als nächstes kann man die kognitiven Prozesse betrachten, die für die Entwicklung, das Lernen und die Revision von Netzwerken in Betracht kommen. Diese Erkenntnisprozesse treffen auf jedes Netzwerk zu, sie können daher nicht als Grundlage für die Wahl zwischen Netzwerken dienen. Dies zeigt besonders deutlich, daß die verschiedenen Netzwerke iiquivalent sind, was die Möglichkeit ihrer "rationalen Rechtfertigung" angeht. Alle Systeme verbaler Kultur werden gleichwertig rational vertreten: jede soziologische Untersuchung der Rationalität von Gemeinschaften, die unterschiedliche oder sogar gegenteilige Netzwerke kennzeichnen, sollten in jedem Einzelfall zum gleichen Ergebnis führen. Beide Äquivalenzen (sie werden im Detail in Abschnitt XI diskutiert) zeigen an, daß alternative Klassifikationen Konventionen sind, zwischen denen weder "Realität" noch die "reine Vernunft" diskriminieren kann. Akzeptierte Klassifikationssysteme sind gesellschaftlich aufrechterhaltende Institutionen.
wiesen und manchmal sogar für unverständlich gehalten. Es ist unverständlich, wieso "gute" Klassifikationen oder "rational vertretene" Glaubensansprüche, die mit Hilfe solcher Klassifikationen formuliert werden, überhaupt gesellschaftliche Eigenschaften haben können. Stattdessen werden gesellschaftlich bedingte Glaubensansprüche und Klassifikationen mit solchen kontrastiert, die auf Grund rationaler Erarbeitung der Erfahrung oder der Realität entstehen. Sofern man etwas als eine Konvention oder als eine Institution analysiert, wird dies als eine Art Phantasie konzipiert, das heißt ohne eine Beziehung zur Wirklichkeit (oder möglicherweise als eine umgekehrte oder unzutreffende Verbindung). Es trifft aber nicht zu, daß Klassifikationen Konventionen im Gegensatz zu adäquaten Abbildungen der Welt sind. Im Gegenteil, es handelt sich gerade um konventionelle Abbildungen der Welt. Der irreführende Gegensatz zwischen "rational" und "sozial" oder zwischen Natur und Kultur ist nur sehr schwer zu überwinden. Diese Unterscheidung findet sich auch in den Arbeiten derjenigen, die wichtige Beiträge zur Entwicklung einer angemessen unvoreingenommenen Wissenssoziologie geleistet haben. Ich werde deshalb versuchen, die oben ausgearbeiteten Überlegungen durch die Ausarbeitung eines konkreten Beispiels zu untermauern. Es handelt sich um ein Beispiel aus der Sozialanthropologie, in der es eine Anzahl hochinteressanter Untersuchungen zur Tierklassifikation gibt und in der die Entwicklung zu einer angemessenen relativistischen Analyse von Wissen und Kultur fortgeschritten ist. Es muß jedoch betont werden, daß mit den Hinweis auf ganz bestimmte immer noch verbleibende ethnozentrische Interpretationen in den angeführten Arbeiten und auf deren Tendenz, unsere eigene Klassifikationen von natürlichen Arten als Besonderheit darzustellen, keine allgemeine Kritik der empirischen Qualität oder der theoretischen Signifikanz dieser Arbeit impliziert werden soll. Man betrachte Bulmers Untersuchung der Tiertaxonomie der Karam 12 . Diese Arbeit versucht zu klären, warum der Cassowary einen speziellen "taxonomischen Status" einnimmt, indem er der speziellen Klasse Kobtiy zugeordnet wird, und sich dadurch von der Klasse der Yakt von Vögeln und Fledermäusen abhebt. Bulmer formuliert die Frage wie folgt: "Warum ist für die Karam der Cassowary kein Vogel?" Die Antwort darauf ist angeblich, daß die Cassowaries für die Kultur der Karam eine spezifische Funktion als Symbol für Kreuz-Vettern ausüben. Die Beziehungen des Menschen zu Cassowaries sind parallel zu den Beziehungen von Kreuz-Vettern strukturiert; und die besonderen Aktivitäten, die dadurch im Hinblick auf den Cassowary angemessen erscheinen, rechtfertigen den "besonderen taxonomischen Status" des Tieres. Hier ist diese Erklärung zunächst nicht weiter von Bedeutung. Wir können sie als plausibel akzeptieren und annehmen, daß sie auf einer zuverlässigen Feldarbeit beruht. Von unmittelbarem Interesse ist dagegen der theoretische Erklärungszusammenhang. Es wird angenommen, daß die Kultur und die Natur einen voneinander unabhängigen Einfluß auf das Wissen der Karam haben. Die Frage, inwieweit ihr Wissen eine angemessene Reflektion der Naturzusammenhänge ist, sowie eine Methode, die die Rolle der Kultur begrenzt, wird daher zuerst diskutiert. Nur deshalb, weil die Natur den be-
Karam mit der Natur fest? Er tut dies, indem er ihre Taxonomie mit der unsrigen vergleicht, genauer: indem e~ sie mit der Taxonomie unserer Spezialisten in der Zoologie und Naturgeschichte vergleicht. Es wird angenommen, daß unsere natürlichen Arten diejenigen sind, die den tatsächlichen Unterteilungen der N~tur entsprechen. Dies hat zur Folge, daß die Übereinstimmung der Taxonomie der Karam mit unserer Taxonomie bedeutet, daß sie durch einen Verweis auf die Natur verständlich wird; stimmt sie nicht überein, so wird sie auf Grund der Kultur verständlich. Die angedeuteten Erklärungszusammenhänge werden in dem folgenden Zitat sehr deutlich: "At (the level of terminal taxa) Karam show an enormous, detailed and on the whole highly accurate knowledge ofnatural history, and ... though, even with vertebrate animals, their terminal taxa only correspond weil in about 60 per cent of cases with the species recognised by the scientific zoologist, they are nevertheless in general weil aware of species differences among larger and more familiar creatures. At the upper level of Karam taxonomy, however, objective biological facts no langer dominate the scene. They are still important, but they allow a far greater, almost infinitely varied, set of possibilities to the taxonomist. This is the level at which culture takes over and determines the selection of taxonomically significant characters 13 ."
Ein vergleichbarer Kontrast läßt sich in den Arbeiten von Mary Douglas beobachten, auch wenn sie auf die Entwicklung eines relativistischen Ansatzes der Klassifikation einen so großen Einfluß gehabt hat. Im Zusammenhang mit einer Beurteilung einer Anzahl von Untersuchungen zur Klassifikation der physischen Natur, einschließlich des Aufsatzes von Bulmer aus dem Jahre 1967, schreibt Douglas: "Physical nature is masticated and driven through the cognitive meshes to satisfy social demands for clarity which compete with logical demands for consistency14." (Auszeichnung von mir.)
Die Vorstellung, daß es eine Konkurrenz zwischen dem, was logisch und natürlich ist einerseits, und dem, was kulturell oder gesellschaftlich bedingt ist andererseits, gibt, ist eine tiefverwurzelte Überzeugung. Klassifikationen können entweder mit den objektiven Tatsachen der Natur übereinstimmen oder mit kulturellen Notwendigkeiten. Sie können logisch oder sozial sein. Eine sorgfältige Analyse zeigt jedoch das entgegengesetzte Ergebnis: es ist notwendig, daß wir von symbiotischen Vorstellungen, nicht von einer Konkurrenz ausgehen. Bulmers Aufsatz deutet an, daß man sich die alternativen zoologischen Taxonomien der Karam und von uns als alternative Hesse-Netze vorstellen kann. Beide Netze können in zufrieden stellender Weise auf die Realität angewandt werden (im Sinn der natürlichen Umwelt). Es ist nicht so, daß das eine oder andere Netz die Realität mehr verzerrt. Wie ist es möglich, daß die Struktur eines Netzes die Realität verzerren kann? Im Gegenteil, die Realität stellt die in beiden Netzen zum Ausdruck kommende Information bereit: sie hat keine Präferenz für eines der Netze. Es folgt, daß die Realität keiner der Methoden der Klassifizierung eine priviligierte Position zuweist; sie haben keine besondere anthropologische Signifikanz. Was für die Realität gilt, gilt auch für
Indem er von der Annahme eines privilegierten Status unserer Taxonomie ausgeht, macht Rulmer eine falsche Frage zur zentralen Problematik seines bemerkenswerten Aufsatzes. Es ist irreführend zu fragen, warum der Cassowary in der Taxonomie der Karam kein Vogel ist. Diese Frage ist analog zur Frage: "Warum sind Kobtiy für die Engländer Yakt?"; diese Frage könnte leicht zu Pseudoproblemen über die logische Inkompetenz des westlichen Intellekts führen 15 . Die wirklichen Probleme in beiden Fällen sind, "warum sind Kobtiy für die Karam nicht Yakt" und "warum sind Cassowaries für die Briten Vögel 16 "?
XI. Induktion
Bisher habe ich die verschiedenen Generalisierungen eines Netzwerks und die damit in Verbindung stehenden Wahrscheinlichkeiten nicht detailliert untersucht. Dennoch konstituieren sie das, was tatsächlich von der Welt geglaubt wird. Die Diskussion der Äquivalenz von Netzwerken ohne Berücksichtigung von Generalisierungen und Wahrscheinlichkeiten war verfrüht, und sollte umgehend korrigiert werden. Dabei wird sich jedoch herausstellen, daß nichts von dem bisher Gesagten als Resultat modifiziert werden muß. Die Wahrscheinlichkeiten von Generalisierungen sind von uns ursprünglich als gegebene Tatsachen und als Eigenschaften, die auf Grund der Autorität von Mitgliedern der Gemeinschaft weitergegeben werden, in unsere Überlegungen aufgenommen worden. Dennoch müssen direkte Kenntnis und andauernde Untersuchungen einer bestimmten Umwelt mit Sicherheit einen Einfluß auf den Grad der Wahrscheinlichkeit einer Generalisierung haben. Es stellt sich deshalb die Frage, wie die von den Vorfahren tradierten Wahrscheinlichkeiten zu den von der Umwelt bereitgestellten Informationen in Verbindung stehen. Die hier angesprochenen Prozesse der Inferenz sind universell entweder assoziativer oder induktiver Art 17 . Individuen folgern oder rechtfertigen erwartete zukünftige Assoziationen auf Grund der Enge vergangener Assoziationen dieser Art: je enger bestimmte Einzelheiten in der Vergangenheit in Verbindung stehen, desto größer ist die Erwartung, daß sie auch in Zukunft in einer engen Assoziation stehen werden. Diese induktive oder assoziative Eigenschaft des Erkenntnisvermögens läßt sich auf den unterschiedlichsten Ebenen aufzeigen. Generelle assoziative Prozesse sind die Grundlage einfachen, unbewußten, nicht-verbalen Lernens, das wir mit einer gewissen Automatik kontinuierlich ausüben, wenn sich Organismen durch die physische Umwelt bewegen. Darüber hinaus gibt es experimentelle Daten zu grundlegenden induktiven Erkenntnisprozessen in bewußten, aber primär nicht-verbalen Entscheidungssituationen 18 . Im Hinblick auf die verbale Kultur ist häufig bemerkt worden, daß Äußerungen nur dann Information übermitteln können, wenn die verwendeten Begriffe einige der bei früherem Gebrauch angenommenen Assoziationen enthalten. Induktive Prozesse sind Teil
lich, wie zum Beispiel: "I no longer believe that ducks have webbed feet, since all the ducks I have seen recently have had webbed feet l9 ." In den verschiedensten Formen von Diskurs und Inferenz tragen als zutreffend definierte Beispiele dazu bei, die Wahrscheinlichkeit einer Generalisierung zu erhöhen und als zutreffend akzeptierte Gegenbeispiele diese zu verringern. Eine gegensätzliche Stilform verursacht Verwirrung, so daß zum Beispiel der Gebrauch von "since" im oben angeführten Zitat sehr wahrscheinlich in den meisten Kontexten grundlegende Schwierigkeiten machen dürfte. Auf der Basis dieser Überlegungen kann man nur sehr schwer argumentieren, daß fundamentale induktive Fähigkeiten erlernt oder daß sie konventioneller bzw. kontingenter Art sind. Induktion ist eine Eigenschaft, die wir vor dem Lernen besitzen, sie ist Voraussetzung für das Lernen. Sogar Lernprozesse, die besonders eindeutig gesellschaftlich bedingt sind, hängen von schon vorhandenen induktiven Fähigkeiten ab, die die Operationsformen, durch die verbale Aussagen entziffert und diesen Informationen entnommen werden, strukturieren. Wir sollten nicht davor zurückschrecken, zuzugeben, daß unsere kognitiven Prozesse wie induktive Lernmaschinen operieren 2o . Diese vereinfachte Formulierung dient dazu zu betonen, daß induktive Fähigkeiten inhärente Eigenschaften unseres Organismus sind. Sie sind die Struktur unseres kognitiven Apparates, nicht Konventionen, die von diesem Apparat erlernt wurden. In welcher Beziehung stehen unsere induktiven Fähigkeiten zu den vorhandenen Wahrscheinlichkeiten der von uns akzeptierten Generalisierung? Es ist sinnvoll, aber dennoch irreführend, die beiden Faktoren als Gegensatz zu konzipieren, und zukünftige Folgerungen aus Erfahrungen eine ständige Gefahr für bereits bestehende und von Autoritäten abgeleitete Wahrscheinlichkeiten zu machen. Wie es schon im Fall der Begriffsanwendung keinen inhärenten Konflikt zwischen externer Natur und Kultur gab, so verhält es sich auch mit den Wahrscheinlichkeiten von Generalisierungen: es gibt keinen inhärenten Konflikt zwischen unserer inneren Natur und der Kultur. In beiden Fällen sind die Argumente identisch: bei der Art und Weise, mit der wir Begriffe akzeptieren, und dem Grad, zu dem wir Generalisierungen akzeptieren, handelt es sich um die beiden Seiten der gleichen Münze. Es trifft zu, daß wir die Wahrscheinlichkeit modifizieren, wenn wir etwas als bestätigend oder nicht-bestätigend ansehen. Aber genauso wie die Klassifikation von diesem und jenem letztlich ein kontingentes Urteil ist (siehe Abschnitt VIII), trifft dies auch auf die Bestätigung einer bestimmten Generalsierung von etwas zu. Und genau wie der Gebrauch eines Begriffs die Berücksichtigung aller Begriffe des Netzes umfaßt, so umfaßt die Bestätigung einer Generalisierung die Berücksichtigung aller Generalisierungen und der damit in Verbindung stehenden Wahrscheinlichkeiten. Indem wir uns an die relativ unspezifizierte Eigenschaft des Gebrauchs von Begriffen erinnern, wird klar, daß sich ein einmal gegebenes System von Generalisierungen und Wahrscheinlichkeiten niemals in unproblematischer Weise als unvereinbar mit der Erfahrung herausstellen kann. In diesem Sinn stehen die verschiedenen Generalisierungen und/oder die damit in Verbindung stehenden verschiedenen Wahrscheinlichkeiten, die in unterschiedlichen Kulturen vorfindbar sind, auf einer Ebene. Betrachten
Generalisierungen der Karam über Kobtiy scheinen zuverlässig zu sein und genauso mit induktiven Eigenschaften vereinbar wie unsere Generalisierungen über Cassowaries. Weder die externe noch die innere Natur läßt die Systeme scheitern. Um zu vermeiden, daß die hier vorgetragenen Argumente als These mißverstanden werden, daß Glaubensansprüche und Überzeugungenvphmtaristischer ArJ sind oder sogar spielerisch aufgenommen und verworfen werden können, ist es wichtig, auf die Grenzen dieser Überlegungen zu verweisen. Die von uns vorgetragenen Thesen zeigen in der Tat, daß man ein Objekt hypothetisch als alles darstellen kann, ohne daß dabei irgendwelche formalen Unterschiede auftreten. Allerdings bedeutet dies nicht, daß eine Person unter gegebenen Umständen in der Lage ist, alles mögliche zu glauben. Etwas hypothetisch zu behaupten, ist eine Sache, es zu glauben eine andere. Ein Glaube mag zwar formal die Eigenschaft eines Urteils haben, Urteile werden aber durch Umstände bestimmt: es steht außer Frage, einen Adler eine Handsäge zu nennen, genau wie es außer Frage steht, sich auf selbstmörderisches Handeln einzulassen. Ziel dieser Überlegungen ist nicht zu zeigen, daß Individuen jedes zufällige Ding, das sie erleben, glauben können, sondern aufzuweisen, daß die Generalisierungen und die mit ihnen in Verbindung stehenden Wahrscheinlichkeiten vorhandener Netzwerke als solche niemals in einem Gegensatz zur Erfahrung stehen. In Wirklichkeit sind der Gebrauch von Begriffen und die Bestätigung von Generalisierungen alternative Abstraktionen des gleichen kognitiven Prozesses, die selbst wiederum Teil von fortlaufenden und umfassenden Strukturen von Aktivitäten sind. Unter stabilen Bedingungen bestätigen Sprechakte, die einzelne Beispiele der Spannung von Begriffen zuordnen, die Wahrscheinlichkeiten von Generalisierungen, in denen Begriffe verwandt werden. In einem Netzwerkmodell des verbalen Aspekts der Kultur einer stabilen sozialen Gruppe sind die Wahrscheinlichkeiten des Netzwerkes dasjenige, was die kognitiven Operationen der Gruppe bestimmt. Die Wahrscheinlichkeiten sind kompatibel mit einer Interaktionsform und Erfahrungen mit der Umwelt, da sie von einer Gemeinschaft mit dieser Interaktionsform und Erfahrung aufrechterhalten werden. In einer stabilen Kultur nutzen und bestätigen die Wahrscheinlichkeiten des Hesse-Netzes den bevorzugten Gebrauch von Begriffen und die induktiven Folgerungen, die in der gegebenen Umwelt der Kultur ausgeführt werden. Im Gegensatz dazu ist in einer sich wandelnden Kultur eine Disparität von existierenden induktiven Folgerungen und vorhandenen Wahrscheinlichkeiten nur ein Konflikt zwischen praktizierten induktiven Strategien und denen der Vorfahren. Man kann sich sehr wohl vorstellen, daß in stabilen Umwehen die induktiven Fähigkeiten tatsächlich so organisiert werden, daß sie Teil der Struktur des Schemas werden und nicht dem gemeinsamen akzeptierten Schema gefährlich werden. Dennoch muß man fragen, welche Bedeutung einer sich wandelnden Umwelt zukommt: Kommen die induktiven Folgerungen in einen Konflikt mit der akzeptierten Autorität, wenn sich die natürliche Umwelt verändert? Man kann auf diese Frage unmittelbar mit "Nein" antworten, indem man auf die früheren Überlegungen zum Ähnlichkeits-
ungewöhnlichen Beispielen oder unerwarteten Vorkommnissen ergeben sich keine zusätzlichen Einsichten in die allgemeinen Eigenschaften von Netzwerken oder vielmehr in die von Netzwerken repräsentierten Prozesse. Ein häufig genanntes Beispiel mag diese Schlußfolgerung sowie die schon angesprochene Beziehung zwischen dem Gebrauch von Begriffen und der Bestätigung illustrieren. Man stelle sich eine Gemeinschaft vor, in der Tierarten informell in ähnlicher Weise geordnet werden, wie wir es tun, in der aber der Bekanntheitsgrad mit diesen Arten etwas geringer ist als bei uns. Man stelle sich weiter vor, daß sich die Mitglieder dieser Kultur zum ersten Mal, wie wir sagen würden, einer Kreatur gegenüber sehen, die wir mit dem Begriff "Wal" bezeichnen würden. Es ist von Wert, wenigstens eine Anzahl der vielen Möglichkeiten aufzuzählen, mit deren Hilfe man kognitiv mit diesem Ereignis fertig werden kann 21 • Eine der Möglichkeiten besteht darin, sich auf Grund der sichtbaren Erscheinung der Kreatur für die Bezeichnung "Fisch" zu entscheiden. Würde man die Kreatur jedoch auch routinemäßig als ein Wesen klassifizieren, das Luft atmet und lebend gebärt, so würde dies akzeptierten Generalisierungen widersprechen, die lauten, daß "Fische Eier legen" und daß "Fische keine Luft atmen können". Alternativ kann man den Begriff "Tier" verwenden. Ein solches Vorgehen würde etwaige Schwierigkeiten von allen Generalisierungen über Fische vermeiden, allerdings wohl nur auf Kosten anderer, wie zum Beispiel "alle Tiere leben auf dem Land" und "Tiere haben keine Flossen". Darüber hinaus ist möglich, daß die routinemäßige visuelle Identifizierung von Tieren und Fischen, die auf nicht-verbalisierten Intuitionen über Ähnlichkeiten und Unterschiede basiert, nach einer Kennzeichnung dieser Art problematisch wird. Eine andere Möglichkeit, die für die hier vertretene These von besonderer Bedeutsamkeit ist, kommt darin zum Ausdruck, daß man die völlig "neuen" Eigenschaften der Kreatur betont. Man könnte zum Beispiel behaupten, sie sei weder Fisch noch Tier, sondern eine andersartige Kreatur, etwa ein "Wal". Durch diese Strategie werden keine der vorhandenen Generalisierungen berührt. Und da man sich dieser Strategie immer bedienen kann, folgt, wie schon angedeutet, daß eine sich wandelnde physische Umwelt niemals eine Gefahr für existierende Klassifikationen sein muß. Entscheidungen dieser Art werden von Akteuren im Verlauf ihres Soziallebens dauernd getroffen, allerdings werden sie nicht immer implizit als solche erkannt. Von Fall zu Fall machen wir unser Wissen für das von uns zu Verantwortende verantwortlich, oder wir loben seine Immunität gegen das, wovon wir es selbst geheilt haben. So ist denkbar, daß eine Gemeinschaft, die eine neue Art - den "Wal" - entdeckt hat, sich davon überzeugt, daß die Gesamtheit ihres traditionellen Wissens vollkommen angemessen war und daß dieses Wissen niemals Walfische umfaßte. Die gleiche Gemeinschaft würde nun in einem Gefühl der Bilderstürmerei davon sprechen, die alte, unangemessene Konzeption Fisch (einschließlich Walfische) durch eine zufrieden stellende Konzeption Fisch sowie eine neue Konzeption "Wal" abzulösen. Im Kontext einer solchen ex post facta Analyse umfaßte der ursprüngliche Begriff "Fisch" entweder keine Beispiele, die man
je nach Geschmack die Gemeinsamkeiten mit den Vorfahren oder Überlegenheit gegenüber diesen zu betonen.
XII. Kohärenz Zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte einer Kultur, mag sie auch noch so stabil sein, gibt es überaus zahlreiche Möglichkeiten, um Informationen der Umwelt deduktiv zu verarbeiten. Sofern diese Entwicklungen ausschließlich Resultat völlig voneinander unabhängiger individueller Entscheidungen wären, die nur einen Teil der Möglichkeiten der Assoziation umfassen würden, so wäre es bald unmöglich, von einer gemeinsamen verbalen Kultur zu sprechen; es käme zu einem massiven Abbruch der Kommunikationsmöglichkeiten, und ein fortdauernder Austausch von Informationen wäre nicht länger denkbar. Es gibt sicher keine apriori Ursache, warum dies nicht eintreten sollte, allerdings gibt es Fälle, in denen es tatsächlich nicht beobachtbar war; zu ihnen zählen die Karam und wir, sowie fast alles, was wir als Kultur zu bezeichnen pflegen. Es ist eindeutig, daß in allen vorhandenen Kulturen Ableitungen strukturiert sind und daher in irgendeiner Form begrenzt sind. Allerdings werden die Begrenzungen weder durch die Realität noch durch grundlegende individuelle induktive Eigenschaften notwendig. Es handelt sich dabei, wie im Fall der akzeptierten Anwendung von Begriffen, um Praktiken einer Gemeinschaft, um Institutionen. Genauso wie die Begriffsverwendung institutionalisiert ist, ist es das induktive Schließen: in der Tat handelt es sich, wie wir gezeigt haben, in beiden Fällen nur um alternative Darstellungen der gleichen Prozesse. Prozesse dieser Art sind in einer relativ stabilen Kultur in kohärenter Weise strukturiert. Eine der Möglichkeiten, die Struktur zu kennzeichnen, ist davon zu sprechen, daß die Mitglieder einer Kultur eine Theorie. teilen. Wir können zum Beispiel sagen, daß wir von unseren Vorfahren eine Theorie der "Arten" übernommen haben. Es handelt sich dabei um eine treffende, ökonomische Art und Weise, die Struktur unserer Schlüsse über Tierarten zu kennzeichnen: unsere tief verwurzelten Dispositionen, alle von uns angetroffenen Beispiele als Teil einer bestehenden Liste von Arten zu verstehen; unsere Organisation von Beispielen in der Form von Lebensabläufen, unsere Annahmen über Beziehungen zwischen Arten; unsere Verweise auf abartige, hybride und mißgebildete Arten und ähnliches. Gegen eine ökonomische Deskription unserer Glaubensannahmen und unserer logischen Schlüsse über Tierarten als eine Darstellung unserer Theorie der Arten ist eigentlich nichts einzuwenden. Allerdings ist es nur ein kurzer Schritt von dieser Deskription zu einem gewichtigen Fehlschluß, den man immer wieder in der Soziologie, der Geschichte und Philosophie als idealistische Erklärung antrifft. Der Fehler besteht darin, daß man die den Akteuren zugerechnete Theorie als die Erklärung der Einzelheiten ihrer
Auf Grund der vorangegangenen Ausführungen erweist sich diese Position als eindeuti absurd. Wir haben behauptet, daß es keine inhärenten Beschränkungen der Begriffsver wendung oder der Schlußfolgerungen aus einer Generalisierung gibt. Eine Theorie is aber selbst eine Folge von Begriffen und Generalisierungen. Und da es keine inhärente Grenzen der Begriffsverwendung und der logischen Schlüsse gibt (und damit der mögli chen Implikationen einer Theorie) wäre jeder Versuch, eine Theorie als Erklärun heranzuziehen, ein Fehlschluß. Dennoch kann es keine Zweifel an der Popularität idea listischer Erklärungsweisen geben noch an der Versuchung, tatsächliche Erkenntniss als Ergebnis einer theoretischen Überzeugung zu erklären. Eine Theorie ist nicht die Erklärung restriktiver kultureller Erkenntnis; sie ist die re striktive Erkenntnis 22 : Die kohärente Eigenschaft einer Erkenntnisform als Ausdruc der Begrenzung in der Bandbreite beobachteter kognitiver Strategien zu beschreiben, is eine tolerierbare Art der Darstellung, diese Restriktionen dann aber als Erklärung de Kohärenz zu verwenden, ist Ausdruck zirkulären Denkens. Kohärente, restriktive ge meinschaftliche Denkweisen sind Institutionen. Bei der Beschreibung bestimmter E genschaften unserer Konzeption natürlicher Arten, im Gegensatz zu denen der Karam handelt es sich um die Darstellung alternativer Institutionen. Das Problem der Erklä rung - "warum diese Institution in diesem Kontext"? - taucht in der Soziologie imme wieder auf. Genau wie es üblicherweise in der Soziologie absurd wäre, eine gegeben Handlungsstruktur durch die Struktur, durch die sie Ausdruck findet, zu erklären, triff dies für eine bestimmte Erkenntnisstruktur zu (oder um es genauer auszudrücken, a Ergebnis einer bestimmten Erkenntnisstruktur, da Erkenntnis nicht unabhängig von sondern Aspekt des Handelns ist).
XIII. Netzwerke, Ziele und Interessen
Wenn die vorangegangenen Überlegungen zutreffen, zeigen sie, daß Wissen institutiona lisierte Erkenntnis ist. Insofern die Darstellung verständlich ist, deutet sie an, wie E kenntnis institutionalisiert wird, und damit in eindeutiger Weise, weshalb Wissen ei soziales Phänomen ist. Dies waren die expliziten Ziele des Aufsatzes. Die weitergehen de Frage - "warum diese Institution in diesem Kontext"? - ist ein allgemeines Pro blem soziologischer Theorie, d. h. an dieser Stelle beginnt die Wissenssoziologie sic mit der generellen Forschungsproblematik der Soziologie zu vereinen. Dennoch möch te ich die Frage etwas weiter verfolgen und versuchen, den Beginn einer Antwort z skizzieren. Eine Betrachtung der sprachlichen Routinen in einer relativ stabilen Kultur zeigt, da es sich dabei um von Herrschaft und sozialer Kontrolle getragene Institutionen handel Institutionen dieser Art haben für eine Kultur oder für einige ihrer Sektoren bestimmt Vorteile; sie dienen Interessen und tragen zur Verwirklichung von Zielen bei. Darübe hinaus repräsentieren sie einen eher diffusen kollektiven Vorteil, der sich aus der Rou
kann zur Grundlage der Kommunikation, der Übermittlung von Information und daher der Voraussage werden, die nur vom allgemeinen Erhalt routinemäßiger Verwendungsformen abhängt. Wenn uns jemand "Cassowaries kommen" zuruft, oder wenn unter den Karam jemand so etwas wie "Kobtiy kommen" ausruft, können auf Grund der übermittelten Informationen Voraussagen gemacht werden. In beiden Fällen wird die Information aber nur dann erfolgreich übermittelt, wenn sowohl Sender als auch Empfänger mit Hilfe der gleichen routinemäßigen, habitualisierten kognitiven Prozesse arbeiten. Die Verkodung und Entkodung der Inhalte der Kommunikation in stabilen Kontexten geschieht auf der Basis größter kognitiver Unaufmerksamkeit. In jedem Kontext, in dem Informationen übertragen wurden, muß die Tendenz vorliegen, die En tkodung von Kommunikationsinhalten anfänglich auf der Grundlage routinemäßiger , habitualisierter kognitiver Operationen vorzunehmen. Ohne diese Tendenz zur kognitiven Unaufmerksamkeit wären unzählige alternative Konzeptionen von Ähnlichkeit/ Unterschied gleich plausibel. Im idealen Fall einer völlig stabilen Kultur werden linguistische Routinen durch eine Kombination von bestimmten Interessen oder Zielen und verbreiteten "vested interests" aufrechterhalten. Analog dazu resultieren Veränderungen solcher Routinen aus damit in Verbindung stehenden veränderten Interessen oder durch die Fähigkeit einer Gruppe der Gemeinschaft, ihre Interessen auf Kosten einer anderen Gruppe durchzusetzen. Ganz allgemein gesehen ist es notwendig, die Dynamik von Institutionen im Zusammenhang mit Interessen zu verstehen, und dies gilt für linguistische Routinen ebenso wie für routinehaftes Verhalten. Die Spannungen und Wahrscheinlichkeiten eines Hesse-Netzes ändern sich mit der Zeit, so daß dadurch gemeinsame Interessen besser zur Geltung kommen. Der Prozeß der Wissensbewertung, des Wissenswandels und der erneuten Bewertung schließt immer einen Bezug auf gemeinsame Ziele und Interessen ein. Unter diesen Zielen sind aber bestimmte, sozial vermittelte, technische und prognostische Notwendigkeiten: es ist nicht hinreichend, daß sich Akteure nur in bezug auf Ziele und Interessen, nicht aber auf empirische Angemessenheit orientieren. Im Gegenteil, ihr Sinn für empirische Angemessenheit läßt sich nur im Hinblick auf kontingente Ziele und Interessen interpretieren. Zwar handelt es sich bei dieser Aussage um keine neue oder sehr ungewöhnliche Hypothese, man hat ihr allerdings nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Der Verweis auf Interessen wird in der Regel nur im Zusammenhang mit "Ideologie", nicht aber im Zusammenhang mit Wissen von der Natur als angemessen angesehen, Wissen dieser Art wird in der Regel im Sinn eines Images desinteressierter Kontemplation verstanden. Nur die Pragmatisten, sowie in jüngster Zeit Habermas und seine Anhänger, haben den Versuch unternommen, eine grundlegende Verbindung zwischen Interessen und der Bewertung von Wissen zu identifizieren. Infolgedessen sind fast alle gegenwärtig geltenden Ansichten der Verbindung äußerst vorläufiger Art und erfordern mit großer Wahrscheinlichkeit erhebliche Modifikationen im Verlauf einer weiteren Beschäftigung mit diesem Thema.
ten der Prognose eine einflußreiche Rolle spielen. Obwohl es eine Anzahl leicht ver ständlicher und zutreffender Beispiele von Begriffen natürlicher Arten gibt 23 , erfor dern diese jedoch eine ausführlichere Beurteilung als das hier möglich wäre. Aus die sem Grunde werde ich das hypothetische Beispiel der menschlichen Geschlechtsbe griffe "Mann" und "Frau" verwenden. Der Leser, so hoffe ich, ist schon mit einer Rei he von Problemen bekannt, die auftreten, wenn man diese Arten identifizieren will. Man stelle sich eine relativ stabile Struktur vor, in der die Begriffe für "Mann" un "Frau" für Menschen verwendet werden, ähnlich wie wir dies tun. Beispiele beider Ar ten werden routinemäßig gemeinsam erkannt. Generalisierungen über beide Arten fin den einen gewissen Grad der Anerkennung und der Zuverlässigkeit. Beide Arten, s kann man sagen, nehmen typische Stellungen in einem Netz ein mit ihren zugrundelie genden Spannungen und den Generalisierungen, die sie ausstrahlen. Da die Subkultu relativ stabil ist, kann man davon ausgehen, daß sich die auf diese Weise vorhanden Institution der Geschlechtsbegriffe im Gleichgewicht mit den in den Subkultur vorhan denen Interessen und Zielen befindet. Wir können nun ein neues Ziel oder Interesse in das System einbringen. Man sollte sic vorstellen, daß die Subkultur bemüht ist, Generalisierungen über Männer in besonder treffender Weise zur Voraussage interner Zustände des menschlichen Körpers oder fü zukünftige Verhaltensweisen einer Person zu verwenden. (Dies ließe sich durch die Vor stellung symbolisieren, daß es sich um eine wissenschaftliche Subkultur handelt, de bestimmte Forschungsmittel zufließen für ein Projekt, das mit dieser Fragestellung i Zusammenhang steht.) Gegenwärtig vorhandenes Wissen über Männer, routinemäßi und unaufmerksam interpretiert, führt nur gelegentlich in dem angenommenen Kon text zu erfolgreichen Prognosen: Erfordernis ist, häufiger erfolgreiche Prognosen z stellen. (Es sollte darauf hingewiesen werden, daß dieses Projekt nichts mit einer Ver besserung des sogenannten Wahrheitsgehalts von Aussagen zu tun hat. Die hier ange stellten Überlegungen beziehen sich auf den Nutzen eines konventionellen Systems das in einem restriktiven Kontext auf konventionelle Weise bewertet wird.) Zweifello würde das neue Ziel zu einer empirischen Untersuchung der Eigenschaften des Manne führen, zu dem Versuch, bisher noch nicht entdeckte Ähnlichkeiten unter ihnen aufzu spüren und bisher nicht verbalisierte Ähnlichkeiten :z;um Ausdruck zu bringen. Da neue Ziel würde auch unter dem Gesichtspunkt, die Prognosegenauigkeit zu verbessern zur vorläufigen Neuordnung von einzelnen Merkmalen, zur Veränderung der Spannun von "Mann" führen. Es gibt eine Anzahl von denkbaren Veränderungsmöglichkeiten wir untersuchen an dieser Stelle nur eine dieser Möglichkeiten. Man stelle sich vor, daß im Verlauf der Untersuchung das Vorhandensein des XY Chromosoms erkannt und bezeichnet wird. Man stelle sich weiter vor, daß man ein Anzahl von Generalisierungen findet, die im Vergleich eine größere Prognosetauglich keit haben, wenn sie routinemäßig auf Personen mit XY Chromosomen angewand werden. Da nahezu alle Personen mit dem XY Chromosom dieser Spannung "Mann angehören, wird eine Veränderung der Spannung befürwortet. Durch die Hinzunahm
Auf diese Weise wird eine Entwicklung in der Spannung des Begriffs "Mann" durch die Einführung bestimmter neuer Ziele der Voraussage verständlich. Es ist jedoch wichtig darauf hinzuweisen, daß die gesamte existierende Konstellation von Zielen und Interessen in diesem Kontext die notwendige Bedingung für die geschilderte Entwicklung ist und auch die Art und Weise der Konzeptualisierung beeinflußt. Einerseits können Veränderungen der Spannung durch Prozesse hervorgerufen werden, die als routinemäßige Begriffsverwendung interpretiert werden: die Veränderung der Begriffsbedeutung wird nicht erkannt und man wird erst dann auf sie aufmerksam, wenn sich die Akteure rückblickend über die Begriffsverwendung früherer Jahre Gedanken machen 24 . Andererseits ist es möglich, daß Veränderungen bewußt mit Hilfe eines Sprachrealismus vorgenommen werden. Es ließe sich etwa behaupten, daß man entdeckt habe, daß Männer "in Wirklichkeit" Individuen mit XY Eigenschaften seien: Fehler der Vergangenheit kann man korrigieren; Individuen in der Spannung "Mann", die nicht wirklich Männer sind und es niemals waren, lassen sich eliminieren. Indem sich eine Gemeinschaft eines Sprachrealismus bedient, paßt sie typischerweise die Spannung der Begriffe an, leugnet aber, daß ein Bedeutungswandel eingetreten ist: die Gemeinschaft behauptet, den "wirklichen" Sinn des Begriffs endlich gefunden zu haben. Eine weitere Vorgehensweise wäre, die Spannung zu verändern und zu behaupten, daß das so Entstandene ein neuer Begriff sei. Die veränderte Spannung des Begriffs "Mann" kann dann als Teil des neuen Begriffs "XY" oder "XY -Mann" angesehen werden, den man zusätzlich zu dem traditionellen Begriff "Mann" verwenden kann. "XY" kann Teil solcher Generalisierungen werden, bei denen die veränderte Konzeption "Mann" im Sinn der Prognosetauglichkeit besser wäre, andererseits kann man den herkömmlichen Begriff weiter verwenden. (Natürlich würde dies eine Veränderung der Bedeutung von "Mann" implizieren, dies wiederum könnte man als eine Begriffswandlung verstehen und durch einen neuen verbalen Begriff symbolisieren, zum Beispiel durch "männlicher Akteur" oder "Mann im alltäglichen Sinn".) Die genaue Art und Weise, in der eine Gemeinschaft einen kulturellen Wandel ihrem eigenen Selbstverständnis anpaßt, hängt von dem gesamten System ihrer Ziele und Interessen ab und von der Verteilung der Macht. Die Behauptung, daß Männer wirklich XY sind, gibt in der Regel Anlaß zu Konflikten mit anderen Subkulturen mit anderen Interessen, und ebenfalls zu der Behauptung des Vorrangs über Alltagswissen in einer Gesellschaft wie der unsrigen. Die Behauptung ist eine Herausforderung an andere, die "männliche Persönlichkeit" oder "männlichen Status" für Revisionen von "Mann" halten könnten - mit gleicher Prognosenützlichkeit. Gleichzeitig aber wird durch die Behauptung, daß der Alltagsbegriff "Mann" in ontologischer Hinsicht inadäquat ist, das Expertenwissen einer Subkultur über das dem Laien zugängliche Alltagswissen gestellt. Umgekehrt bedeutet das friedliche gemeinsame Vorhandensein von "XY-Mann" und "Mann" in der Regel die friedliche Koexistenz zwischen einer Subkultur und der größeren Gemeinschaft, wobei die erstere Kultur die letztere entweder nicht in Frage stellen will oder nicht kann. Obwohl hier keine notwendige Verbindung vorliegt: Rea-
routinemäßigen Gebrauch beeinflußt wird, wahrscheinlich, daß die Anpassung an irgendein neues Ziel oder Interesse keine anderen bedroht und damit niemals explizite Aufmerksamkeit provoziert. Im oben genannten Beispiel wurde angenommen, daß ein spezifisches Ziel der Voraussage Bedingung für die ursprünglichen Lernprozesse und die Neukonstruierung von Wissen ist. Aber es besteht kein Grund dafür, warum nicht auch andere Ziel- oder Interessenarten solche Prozesse in Gang setzen und bei einer Bewertung als Bezugspunkte dienen sollten, wenn Wissen und Kultur verändert werden. Die Geschichte zeigt deutlich genug, daß sozio-politische Ziele und Interessen häufig die Ausgangsstimuli für Veränderungen in Systemen des natürlichen Wissens sind, obwohl die Rolle derartiger Ziele und Interessen aus vielen Gründen selten geradewegs von den beteiligten Akteuren anerkannt wird 25 . Wenn sich mit der Zeit ein Sachschema ändert, geschieht dies als Reaktion darauf, welche Ziele und Interessen Menschen für seine Bewertung anwenden und auf welche sie bei seiner Entwicklung Bezug nehmen. Zu jedem Zeitpunkt ist dies die Grundlage für den Gebrauch und Ergebnis des Gebrauchs. So ist in der Tat die gegenwärtige Lage unseres eigenen Wissens- und Klassifikationssystems und die aller anderen. Wir können nun die zweckdienliche Annahme über Stabilität, mit der diese Diskussion begann, weglassen. Stabilität ist ein Sonderfall des normalen dynamischen Charakters von Kultur, in dem ein kontinuierlicher Gebrauch, durch den eine Vielzahl von gemeinsamen Zielen und Interessen vermittelt wird, dazu tendiert, das Assoziationsmuster, aus dem sich der Gebrauch ursprünglich entwickelt, zu rekonstituieren und reproduzieren.
XIV. Abschließende Bemerkungen
Im vorangegangenen Abschnitt wurde der natürliche Schritt von der Entwicklung einer soziologischen, konventionalistischen Darstellung von Wissen und Klassifikation zu einer instrumentalistischen Darstellung gemacht. Es ist schwierig zu sehen, wie ein derartiger Schritt unterlassen werden kann. Es lohnt sich jedoch, einige besondere Merkmale des angesprochenen Instrumentalismus zusammenzufassen. Erstens, die erwähnten Ziele und Interessen werden im öffentlichen Bereich aufrechterhalten, weil sie einem öffentlichen Phänomen verpflichtet sind 26 . Eine private Sprache ist nicht möglich; Kommunikation erfordert in einer jeden Kultur Routinen, die nur insofern Sinn haben, als sie von allen geteilt werden. Der Versuch, eine private Sprache zu verwenden, kommt dem Versuch gleich, Geld dort auszugeben, wo niemand Geld benutzt oder an Geld glaubt. Gleichermaßen sind Veränderungen im sprachlichen Gebrauch und damit verbundene Veränderungen im Wissen kollektive Entscheidungen, die sich auf kollektive Ziele und Interessen beziehen müssen. Selbst technische, prognostische Ziele und Interessen sind von einem Kontext zum anderen verschieden und werden sozial aufrechterhalten. Insofern als ein besonderes Ziel der Voraussage
Dies führt direkt zu einem zweiten Punkt. Durch die Behauptung, daß spezifische, kontextgebundene Interessen oder Ziele die Bewertung von Wissen rückwirkend beeinflussen und strukturieren, liegt die Betonung auf den Begriffen "spezifisch" und "kontextgebunden". Es scheint wenig sinnvoll, wie das zum Beispiel Habermas getan hat, über Bewertung im Sinn von "transzendentalen" Interessen zu sprechen und sich eine Beurteilung von Wissen in Bezug auf jede mögliche Art von Voraussage und Kontrolle vorzustellen 27 . Dies würde die gleichzeitige Handhabung jeder für ein gesamtes Netzwerk möglichen Wahrscheinlichkeit und die gleichzeitige Bewertung unzähliger kognitiver Strategien erfordern. Für eine solche Handhabung fehlt die Methode und für eine solche Bewertung das Kriterium. Kontingente Restriktionen im Erkenntnisprozeß sind für das kohärente Lernen und für jeden Prozeß, den man vielleicht als Weiterentwicklung des Wissens bezeichnen könnte, von grundlegender Bedeutung. Drittens muß betont werden, daß es in keiner Beziehung Klassifikationen oder Vorstellungen "für" dieses oder jenes gibt. Noch weniger trifft dies auf verschiedene Arten von Wissen zu: "Wissenschaft" "für" technisch-prognostische Interessen, "Ideologie" "für" sozialpolitische Interessen. Ziele und Interessen helfen bei der Erklärung dynamischer Veränderungen von Institutionen. Sie helfen uns zu verstehen, warum Klassifikationen zu dem und dem Zeitpunkt, und dem und dem Kontext geändert oder auf die jeweilige Art und Weise entwickelt wurden. Warum Konzepte und Vorstellungen so sind, wie sie sind, können wir nur in dem sehr eng gefaßten Sinn zu verstehen hoffen, in dem wir begreifen, warum sie in Bezug auf einen früheren Zeitpunkt anders (oder nicht anders) beschaffen sind. Auch sollte nicht etwa der Gedanke aufkommen, daß technische und soziale Interessen notwendigerweise gegensätzlichen Einfluß auf die Weiterentwicklung von Kultur haben, so daß es zum Beispiel eine "wissenschaftlich angemessene" und eine "sozial zweckdienliche" Strategie gibt, zwischen denen man sich an jedem Punkt der Entwicklung entscheiden kann. Die Tiertaxonomie der Karam zum Beispiel gibt keine Anzeichen dafür, daß sie eher als symbolische Darstellung eines Aspektes der sozialen Ordnung entwickelt wurde, denn als ein Anwendungsinstrumentarium bestehend aus einer bestimmten Anzahl von Begriffen und Generalisierungen. In Bulmers Aufsatz wird die instrumentelle Adäquanz des Wissens der Karam deutlich gemacht. Die Karam haben praktisches Wissen über Kobtiy, deren Aussehen, Gewohnheiten, Verhalten und so weiter. Ebenso besteht kein Grund für die Annahme, daß technische Information verloren ging, oder daß sich irreführende oder unzuverlässige Generalisierungen behindernd auswirkten durch ein Gegenüberstellen der beiden Begriffe "Yakt" und "Kobtiy". Die Kultur der Karam hat, so könnten wir ganz allgemein sagen, als Folge ihres langen historischen Entwicklungsprozesses, in dem sich viele Interessen auf die Benutzer des Kultursystems ausgewirkt haben, viele Funktionen. Und wirklich zeigt eine Betrachtung des Netzwerkmodells sofort, daß dies im allgemeinen der Fall ist, und daß widersprüchliche Positionen hinsichtlich Klassifikation und Vorstellung "gewollt" sind und nicht durch die Gegensätzlichkeit verschiedener Ziel-
besondere Form annimmt, so daß schließlich eine als zufriedenstellend betrachte Struktur und bestimmte Anzahl von Wahrscheinlichkeiten entsteht. Es besteht dan immer die Möglichkeit, daß einfach mittels einer terminologischen Differenzierung d Information in dem Muster erhalten bleibt und zusätzlicher kultureller Wandel eintrit Zum Beispiel könnten bewertete Generalisierungen hinsichtlich der natürlichen A "Mann" etabliert werden und in dem Netzwerk irgendeiner Gemeinschaft erscheine Man stelle sich dann vor, der Begriff werde durch "Adliger/Nicht adliger" oder "Gere teter/Verdammter" oder irgendeine Anzahl analoger Begriffe, die weitere Interesse der Gemeinschaft reflektieren, ersetzt. In solchen Fällen könnten alle existierende Generalisierungen auf die beiden neuen Begriffe einzeln angewandt werden. Konzepte können nicht ihre nächste Anwendungsmöglichkeit determinieren. Es fehle ihnen inhärente Eigenschaften. Es stört sie auch nicht, wie man sie anwendet: nur Me schen stört es. Die Tatsache, daß dies oft nicht erkannt wird, bereitet in den Sozialwi senschaften immer wieder Schwierigkeiten, wo der Idealist dazu tendiert, Konzepte d rekt als "wissenschaftlich", "symbolisch", "ideologisch" und so weiter zu bezeichne und ihnen damit Eigenschaften zuzuschreiben, die eigentlich dem Benutzer der Ko zepte zugeschrieben werden sollten. Es trifft zu, daß die Akteure selbst Begriffen inhärente Eigenschaften zuschreiben. D inhärenten Eigenschaften von entscheidenden Konzepten und Klassifikationen sind o Gegenstand sozialen Konfliktes. Menschen haben sich darüber gestritten, welche Def nitionen von menschlichem Wesen, geistiger Gesundheit, Tod, Geschlecht, Spezie Materie, Kraft, Raum und Zeit tatsächlich korrekt sind. Man neigt hier zu der Vorste lung, daß sich Ideen in destruktiver Gegenüberstellung gegenseitig aufreiben. Aber n türlich findet die Konfrontation in solchen Fällen zwischen Menschen statt, die a Grund übernommener Begriffsgebräuche gegensätzliche Positionen einnehmen. Wen Komprorniß oder Koexistenz im Leben selbst aktzeptabel sind, dann sind sie auch ste auf geistiger Ebene möglich. Alles ist auf der geistigen Ebene möglich. Und genau a diesem Grund spielt die Wissenssoziologie auch stets eine Rolle.
Anmerkungen
Siehe unter vielen anderen Beispielen Barry Barnes, Scientific Knowledge and Sociological The ry, London 1974: H.M. Coltins, The Seven Sexes: in: Sociology, 9, 1975, S. 205-24: Da Bloor, Knowledge and Social Imagery, London 1976; Barry Barnes und S. Shapin (Hrsg.), N tural Order, Beverly Hills 1979: B. Latour und S. Woolgar, Laboratory Life, Beverly Hills, 19 Auch die ethnomethodologische Literatur sowie die zur kognitiven Soziologie ist von Relevan 2 Mary Hesse, The Structure of Scientific Inference, London 1974. Es ist instruktiv, wenn m die Schlußfolgerungen, die hier auf der Basis einer induktiven Wissenschaftsphilosophie erz werden, mit denen der Ethnomethodologen vergleicht. Vgl. H. Garfinkei, Studies in Ethnom thodology, Englewood-Cliffs 1967. 3 Begriffe von Tierarten eignen sich nicht besonders gut zur Illustration der instrumentellen genschaften von Klassifikationsschemata. Besser geeignet dafür wären Begriffe wie "Kataly tor", "Reagens", "Düngemittel", "Antibiotikum", "Enzym" und ähnliche Begriffe. Ebenso w nig sind alltägliche Begriffe geeignet, um zu zeigen, wie unser Wissen mit zeitlichen Sequenz
setzt worden wären. 5 Der tatsächliche Ablauf des Prozesses des Zeigens ist natürlich komplex und Quelle einer unendlichen Zahl von Fragen. Die vereinfachte Darstellung geht von der Annahme aus, daß sich Einzelheiten in der Umwelt identifizieren lassen, daß wir die Umwelt als differenziert oder "klumpig" perzipieren und daß sich eine Interaktion auf einen Klumpen oder eine Einzelheit der Umwelt konzentrieren kann. Weiter wird angenommen, daß die Assoziation einer Einzelheit mit einem Wort dazu führt, daß die Einzelheit als Beispiel des Begriffes verstanden wird. Zweifellos sind dies umfassende Annahmen, aber sie sind notwendig, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß wir einen nur unvollständig verstandenen kognitiven Apparat mit zumindest rudimentären angeborenen Eigenschaften haben, der Lernen überhaupt möglich macht. Dadurch daß Leinen solchen Apparat besitzt, wird es für T möglich, Worte wie "Vogel" für ihn gegenwärtig zu machen (oder auch Begriffe wie "rot" und "fliegen" und "oben" usw.). Eine ausführlichere Diskussion der Schwierigkeiten, die auftreten, wenn man das Lernen durch Zeigen verstehen will, findet sich in D. Camp bell, Descriptive Epistemology, Cambridge, Ma., 1979. 6 Trotz des Isomorphismus des "Netzwerkmodells der Universalien" von Hesse ist das hier verwendete Modell andersartig. Im vorliegenden Fall gibt es keine Frage, wie etwa bei Hesse, ob das Netzwerk aus wahren oder falschen Aussagen zusammengesetzt ist. Für diejenigen, die ein spezifisches Interesse an Problemen dieser Art haben, sei gesagt, daß Hesse ein "realistisches" Netzwerkmodell zu entwickeln versucht, während das hier verwendete Modell in unzweideutiger Weise "instrumentalistisch" ist. Es gibt gewisse Schwierigkeiten, wenn man automatisch von dem einen Netzwerk mit seiner normativen Bedeutung zum anderen Netzwerk mit seiner ausschließlich naturalistischen Funktion übergeht. Andererseits ist nur angemessen, daß man die geistigen Ursprünge der Darstellung andeutet. 7 Ich verwende den Begriff der "Spannung" (tension) in bewußter Analogie zum Begriff der "Extension" der philosophischen Semantik. Man nimmt an, daß die Extension eines Begriffs alle Dinge umfaßt, auf die er in angemessener Weise angewendet werden kann, oder für die er wahr ist. Die Spannung eines Begriffs umfaßt nur vergangene Beispiele seines Gebrauchs, das heißt eine endliche Zahl von Beispielen. Indem man nur von der Spannung eines Begriffs spricht, akzeptiert man die Tatsache, daß sein zukünftiger Gebrauch nicht determiniert ist. Spricht man dagegen von der Extension eines Begriffes, so impliziert dies, daß seine zukünftige Verwendung schon determiniert ist. Die in diesem Beitrag vertretene Position steht damit im eindeutigen Gegensatz zur von vielen Philosophen vertretenen extensionalen Semantik. 8 Da Begriffe in einem offenbleibenden Sinn auf spätere Beispiele angewandt werden, die im Detail voneinander abweichen, wäre jeder Zustand der Identität von Netzen von Individuen unstabil und würde sich sofort verringern, wenn diese Individuen verschiedene einzelne Beispiele von Begriffen bei der Verwendung ihres Wissens oder bei der Lehre benutzen würden. Sogar in Kulturen, in denen die Kommunikation unproblematisch erscheint und in denen das Wissen homogen ist, differieren die Netze verschiedener Individuen in den Details ihrer Spannungen. Nur die übergreifende Morphologie eines Netzes kann zur gemeinsamen Eigenschaft aller Individuen einer Gemeinschaft werden. Dies impliziert, daß der Begriff der "Kultur" einer Gemeinschaft sehr problematisch ist, und daß sogar die routinemäßigen intersubjektiven Kommunikationen ein äußerst komplexer Prozeß sind, der umfangreiche empirische Untersuchungen erfordert, damit man sein Zustandekommen verstehen kann. (Für die folgenden überlegungen ist jedoch der schwierigste Fall die unwahrscheinliche unstabile Situation, in der alle Individuen identische Netze haben. Infolgedessen wird diese unrealistische Annahme aus Gründen der Vereinfachung der Darstellung fallweise vorgenommen: Ich werde von der "Kultur" einer Gemeinschaft sprechen, als ob sie für alle Mitglieder eine identische Ressource sei.) 9 Thomas S. Kuhn, Second Thoughts on Paradigms, in: ders., The Essential Tension, Chicago 1977. 10 Diese Metapher wird in Barry Barnes, Interest and the Growth of Knowledge, London 1977 verwandt, um einige, immer wieder auftauchende Probleme der Wissenssoziologie zu lösen. 11 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophical Investigations, Oxford 1953. 12 R. Bulmer, Why is the Cassowary not a Bird?, in: Man, 2, 1967, S. 5-25.
cherweise besitzen sie einen prä-logischen Intellekt. Natürlich ist dies Unsinn, aber dennoch unterscheidet es sich nicht von überlegungen, die man in der Vergangenheit in den Sozialwissenschaften anstellte und die teilweise noch heute dort gefunden werden können. 16 Die vorgetragenen Argumente implizieren, daß die Sprachen der Karam und unsere Sprachen in diesem Fall nicht direkt übersetzbar sind. Die Unbrauchbarkeit des Konzeptes einer perfekten übersetzung ist eine der generellen Implikationen des von uns entwickelten Netzwerkmodells des Gebrauchs von Begriffen. 17 Diejenigen, die ein Interesse an der induktiven Logik haben, werden bemerken, daß der Begriff "Induktion" im folgenden in exzentrischer Weise verwendet wird, das heißt ohne Rücksichtnahme auf das, was als eine gute induktive Ableitung gilt. 18 Vgl. j.S. Bruner, J.]. Goodnow und G.A. Austin, A Study of Thinking, New York 1956. 19 Man beachte, wie dies als eine Art induktive Aussage formuliert werden kann: "Immer, wenn ich eine enge Beziehung wahrnehme, dann stellt sich stets heraus, daß es sich um eine irreführende Serie von Zufallsereignissen handelt, daher ... " 20 Vgl. Mary Hesse, a.a.O. 21 Andere, hier nicht berücksichtigte Strategien von gleich großer Bedeutung umfassen die Möglichkeit der Fehlperzeption, die Darstellung einer Einzelheit als unvollkommenes, deformiertes oder modifiziertes Beispiel einer Art und die Feststellung, daß "essentielle" Eigenschaften einer Art zwar tatsächlich vorhanden, aber nicht perzipierbar sind. Diese Strategien sind darüber hinaus in keiner Beziehung "disreputabel". Zum Beispiel lassen sich solche Beispiele renommierten Arbeiten der Biologie und Naturgeschichte entnehmen. 22 Man beachte, wie schwierig es ist, präzise zu formulieren, was eine Theorie ist, und als wie unbefriedigt sich jeder bestimmte Versuch stets erweist. Ursache hierfür ist aber gerade, daß wir kognitive Prozesse und das, was sie determiniert - die Theorie - fälschlicherweise für unabhängig halten. 23 Vgl. zum Beispiel j. Dean, Controversy over Classification, in: Barry Barnes und S. Sbapin, a.a.O. 24 Es gibt endlos viele Möglichkeiten der "Veränderung der Begriffsbedeutung" auf Grund eines Wandels im routinemäßigen Gebrauch. Eine Abweichung von der Routine ist, und sei sie noch so gering, dabei nicht erforderlich. Man betrachte zwei Farben, zum Beispiel grün und gelb, und entwickle dann für den übergang von einer Farbe zur anderen eine Farbreihe von etwa hundert Zwischenfarben. Wenn sich zwei Nachbarfarben in dieser Reihe deutlich voneinander unterscheiden lassen, konstruiere man zwischen den bei den wiederum hundert Farbtöne. Man wiederhole diesen Prozeß solange, bis sich die unmittelbar nebeneinander liegenden Farbtöne in dieser Reihe nicht mehr unterscheiden lassen. Jetzt kann der Begriff "grün" routinemäßig von einem Ende der Farbenreihe bis zum anderen angewendet werden. Erstreckt sich nun die Reihe der Begriffsverwertungen von "grün" über einen Zeitraum von Jahren und nimmt man an, daß frühere Verwendungen vergessen wurden und die Spannung von "grün" in jedem Punkt nur durch jüngere Beispiele wirkungsvoll wiedergegeben wird, so kann der routinemäßige Gebrauch einer Kultur jetzt von einem Ende des Spektrums zum anderen verlaufen, ohne daß dem Individuum irgendein Bedeutungswandel bewußt wird - ja ohne daß in gewissem Sinne irgendein "Wandel" eingetreten ist. 25 Vgl. zum Beispiel Barry Barnes und S. Sbapin, a.a.O. 26 Wie bedauerlich, daß Quine die schönste Formulierung seines pragmatischen Standpunktes in den Singular setzte: "Each man is given a scientific heritage plus a continuing barrage of sensory stimulation; and the considerations which guide hirn in warping his scientific heritage to fit his continuing sensory promptings are, where rational, pragmatic." W. v.A. Quine, From a Logical Point of View, Harvard 1953, S. 43. 27 Jürgen Habermas, Knowledge and Human Interests, London 1972. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Welge.
Von Gerard Namer
1. Hypothesen
Eine Soziologie des Wissens setzt das Vorhandensein von transmittierbaren Repräsentationen voraus, die durch eine gesellschaftliche Instanz legitimiert worden sind. Die Wissenssoziologie muß also sowohl an eine Soziologie der Legitimation als auch an eine Soziologie der Massenmedien gebunden sein. Eine solche Soziologie des Wissens muß mit der doppelten Tradition brechen, die diese Disziplin bisher charakterisierte: die marxistische Tradition auf der einen Seite, die amerikanische Tradition der Wissenschaftssoziologie auf der anderen. Die erstere verknüpft das Ideologiekonzept mit dem Konzept der Wahrheit zu einem Gegensatzpaar und die Wissenssoziologie reduziert sich so auf die Implikationen der ideologischen Zurechnung: auf eine Korrelation zwischen der Gesellschaft, ihrer Struktur, ihrer wirtschaftlichen Produktionsweise, ihren gesellschaftlichen Klassen und der Ideologie, auf ein die Wahrheitsverzerrung oder ein falsches Realitätsbewußtsein bewirkendes Reich der Imagination (l'imaginaire). Letztlich beschränkt sich die ideologische Zurechnung auf eine bestimmte Soziologie des Irrtums. Im übrigen läßt sie, ganz im Stile des Positivismus, die Wahrheit von jedweder gesellschaftlicher Vorstellung unberührt!. Die Wahrheit wird somit allein durch den experimentellen Prozess legitimiert. Die amerikanische Wissenssoziologie, von Florian Znaniecki und Robert K. Merton ausgehend, ist auf die Wissenschaftssoziologie hin ausgerichtet. Der makrosoziologische Ansatz erforscht die Dialektik zwischen der autonomen Wissenschaftlergemeinschaft und der Gesamtgesellschaft. Er unterstreicht die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach Wissen und den Ansporn bzw. die Entmutigung der Wissenschaftlergemeinschaft durch die Gesamtgesellschaft. Der mikrosoziologische Ansatz erforscht die Regeln der gesellschaftlichen Organisierung der Wissenschaft, die Ethik, die Machtspiele und die soziale Mobilität der Wissenschaftlergemeinschaft. Es handelt sich hier also nicht um eine Soziologie des Wissens, ja noch nicht einmal um eine Wissenschaftssoziologie, sondern allein um eine Soziologie des Wissenschaftlers. Wir ziehen es auf der einen Seite vor, zwischen der Soziologie des Wissens und der Ideologienlehre (die ein besonderer Aspekt der Soziologie gesellschaftlicher Imaginationen ist) zu unterscheiden, und auf der anderen die Wissenschaftssoziologie mit der Soziologie des Wissens zu verknüpfen, allerdings nur unter der Bedingung, daß man die Soziologie des Wissenschaftlers auf bestimmte Aspekte der Organisationssoziologie zurückverweist. Die Wissenschaftssoziologie muß also als Modell für eine Wissensso-
aus mehreren Gründen von dessen Position ab: wir versuchen nicht, Bergers und Luckmanns hegelianischem Schema zu folgen, durch das ein einziger Prozeß zugleich zu einer Konstruktion der Gesellschaft durch Wissen und zu einer Konstruktion von Wissen durch die Gesellschaft führt. Wir meinen dagegen, daß das Alltagswissen eher ein Ort des Zusammenfließens als ein Ausgangspunkt für die gesellschaftlichen Fahrpläne des Wissens ist. Trotzdem halten wir die phänomenologische Methode für richtig, und das Konzept der Legitimation, welches hier verwendet wird, erscheint uns außerordentlich wichtig. Wir bezeichnen also all das als Wissen, was als solches gilt, also als solches durch eine bestimmte gesellschaftliche Instanz legitimiert ist. Wir verdanken Ziman die Ausarbeitung dieses Begriffes des sozialen Fahrplans des Wissens 3 . Er zeigt, wie wissenschaftliche Erkenntnis durch eine bestimmte Abfolge von Verfahren legitimiert wird. Die wissenschaftliche Arbeit präsentiert sich zunächst in der Form eines maschinengeschriebenen Textes und erreicht später als Zeitschriftenartikel oder als Vortrag einen endgültigen Status gesellschaftlicher Anerkennung. Wenn ihr ein Artikel in einem Handbuch, ein Abschnitt in einer Enzyklopädie oder sogar ein Nobelpreis gewidmet wird, ist der Fahrplan beendet. Der soziale Fahrplan des Wissens - hier der Fahrplan der wissenschaftlichen Erkenntnis - ist also jener Prozeß, durch den sich die epistemologische mit gesellschaftlicher Bedeutung anreichert. Die Bedeutung wächst mit der zurückgelegten gesellschaftlichen Distanz und der Geschwindigkeit, mit der dieser Punkt erreicht wird. Die Idee des sozialen Fahrplans des Wissens ist nicht von einer physikalischen Kommunikationstheorie angeregt. Auch wenn die These dieses Modells nützlich ist, weichen wir doch aus den folgenden Gründen von ihr ab: der wissenschaftliche Schöpfer, der schöpferische Gelehrte im allgemeinen, versucht durch Überzeugen, durch Auseinandersetzung und Verhandlung seiner Entdeckung einen Weg zu bereiten, indem er sie einen Fahrplan von einer wissenschaftlichen Autorität zur anderen, von Institution zu Institution, durchlaufen läßt. Es gibt hier also nicht wie in der physikalischen Kommunikationstheorie einen Sender, eine Botschaft und einen Empfänger, sondern eher einen Sender, der seine Botschaft auf Schritt und Tritt bis zum Rand der Wissenschaftlergemeinschaft und wenn möglich sogar bis in die Massenmedien begleitet. Der allgemeine Gedanke, den wir hier vorschlagen wollen, geht davon aus, daß der gesellschaftliche Fahrplan des Wissens über den Weg einer dreifachen Legitimation verläuft: die Legitimation durch die Wissenschaftlergemeinschaft, die Legitimation durch die Massenmedien und die Legitimation durch Rezeption durch eine gesellschaftliche Gruppe. Diese dreifache Legitimation entspricht der Definition der Wissenssoziologie. Das historische Wissen zum Beispiel, ist eine Gesamtheit, die gleichzeitig die Geschichtswissenschaft enthält (eine Dissertation über die Katharer zum Beispiel), außerdem die durch die Massenmedien präsentierte Geschichte (ein "Drama" oder eine Debatte über das spezifische Thema) und auch die im gesellschaftlichen Gedächtnis (memoire sociale) aufgenommene und gespeicherte Geschichte.
oder kollektiven Entdeckung ausgehen. Diese anderen Fahrpläne setzen sich gewöhnlich dort durch, wo die wissenschaftliche Erkenntnis vorherrscht. Diese kollektive Schöpfung und ihre Gestaltung hängt vom Typus des Wissens und den Strukturen der sie umgebenden Gesamtgesellschaft ab. Man kann von einer periodischen Kreation im technischen Bereich sprechen, von einer kollektiven Schöpfung im Bereich der Politik und der Bräuche, von einer kollektiven oder periodischen Schöpfung in der Kochkunst oder der Magie, und auch von einer Schöpfung im medizinischen Bereich, zum Beispiel in der Pharmakopöe, der Chiropraxis und in den Techniken der körperlichen Entspannung. Dieses Raster der dreifachen Legitimation nimmt eine je spezifische konkrete, den Wissenstypen entsprechende Form an. Der Fahrplan ist nicht immer vollständig und dort, wo es keine Entsprechung zwischen dem Typus des kollektiven Wissens und dem der wissenschaftlichen Erkenntnis gibt, finden sich auch keine Rückwirkungen.
II. Die wissenschaftliche Erkenntnis
Das wissenschaftliche Wissen wird an einem gesellschaftlichen Ort erarbeitet, etwa im Laboratorium einer naturwissenschaftlichen Fakultät. Es wird dort auch eine experimentelle Vorgehensweise gewonnen, die sich der Apparate materieller Techniken und mathematisch-logischer Begründungen bedient. Das naturwissenschaftliche Wissen dient uns als Modell für den Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis, und dies durch die Analogie im Legitimationsprozess und die Analogie in der Institutionalisierung. Wissenschaftliche Erkenntnis ist, was in einer die Regeln der Legitimation verwaltenden Institution als Wissen gilt. Im 2. Jahrtausend v. Chr. drückt sich die wissenschaftliche Erkenntnis als Wahrsagung aus. Es handelt sich hier insofern um wissenschaftliche Erkenntnis, als die Regeln für die Zerlegung der Leber und die Lektüre der Zeichen kodifiziert waren, und die diese Handlungen ausübenden Menschen, sowohl hinsichtlich ihrer Zahl, als auch ihres Wissensmonopols, von der politischen Macht kontrolliert wurden 4 . Das heißt also, daß ein bestimmter Typus der wissenschaftlichen Erkenntnis mit einer Gesellschaft verschwinden oder auftauchen kann. Was wir hier von der Wahrsagung als einer Form wissenschaftlicher Erkenntis, da gebunden an eine Legitimationsinstitution, sagen, gilt genauso für das durch die Kirche kontrollierte und verbreitete religiöse Wissen. Eine Institution - das Heilige Offizium - war mit den Prozeduren der Legitimation betraut und benutzte dabei Techniken logischer, intuitiver und affektiver Art. Natürlich handelt es sich hier nicht um Wissenschaft, ja es geht noch nicht einmal um Wahrheit, aber auch hier liegt eine Bewertung vor. Jedenfalls finden wir in beiden Fällen analoge Prozeduren institutioneller Legitimation. Man kann auch dort von wissenschaftlicher Erkenntnis sprechen, wo zum Beispiel eine Schule der Malerei ihre Produktion theoretisch aufarbeitet und die Neuheit eines Werkes und sein!= Übereinstimmung mit den Techniken und der Weltanschauung der Schule beurteilt!.
Werk immer Stufen der Wahrheit oder des Wertes und wird bestimmen, welchem Wissens typus und welcher Schule es zuzuordnen ist. Jede Wissenschaftlergemeinschaft sichert so die Anerkennung eines Werkes als neu oder akzeptierbar. Somit sichert jede dieser Gemeinschaften eine Imagination, eine Anhäufung erworbener Erkenntnisse. Es sind genau diese Legitimationsregeln der wissenschaftlichen Erkenntnis, die deren relative Autonomie gegenüber der Gesamtgesellschaft garantieren. Diese Autonomie ist nur relativ und selbstverständlich wirkt die Gesamtgesellschaft darüber hinaus steuernd auf die Wissenschaftlergemeinschaft und ihre Legitimationsmacht ein. Es versteht sich von selbst, daß die Existenz einer Wissenschaftlergemeinschaft von juristischen Voraussetzungen abhängt, die ihr Existenzrecht sichern. Die Lehre bestimmter Wissensinhalte kann verboten werden (wie die Psychoanalyse in der UdSSR), oder toleriert werden, ohne institutionalisiert zu sein (wie die Chiropraxis in Frankreich). Die erste Steuerung durch die Gesamtgesellschaft drückt sich also in der Möglichkeit der privaten Existenz einer solchen Legitimations-Gruppe aus. Die späteren Steuerungen ermutigen oder entmutigen die Erarbeitung und Verbreitung dieses Wissens durch die Verleihung finanzieller Mittel, von Zugangsmöglichkeiten zu den Massenmedien und der Chance, dieses Wissen in angemessenen Institutionen zu lehren. Die wissenschaftliche Legitimation wird somit durch religiöse, ideologische, ökonomische, administrative und politische Mächte erst möglich. Weiterhin wird sie ermöglicht durch die Macht früherer und die Macht der sich noch bildenden Wissenschaftlergemeinschaft. Ist aber diese Legitimationsmacht erst einmal zugestanden, so entsteht eine autonome Wissenschaftlergemeinschaft. Ein soziales Bedürfnis nach wissenschaftlicher Legitimation wird geboren. Sogar der allmächtige Stalin, der jedweden Wissenschaftler physisch vernichten konnte, war auf den Gebieten der Biologie und Linguistik auf wissenschaftliche Legitimation angewiesen. Die Autonomie der Wissenschaftlergemeinschaft stellt also eine Macht dar. Diese relative Autonomie der Wissenschaftlergemeinschaft gegenüber der Gesamtgesellschaft beschränkt sich nicht nur auf dieses Machtspiel. Sie existiert immer, wenn die Wissenschaftlergemeinschaft ein Existenzrecht besitzt und die Möglichkeit zur Erarbeitung und Verbreitung von Wissen hat. Die zweifache, marxistische und amerikanische, Tradition der Wissenssoziologie hat das Verdienst, die steuernde Wirkung der Bedürfnisse, der Ideologien und der sozialen Modelle von seiten der Gesamtgesellschaft und die Konstitution eines Apparates und einer Methode der wissenschaftlichen Legitimation hervorgehoben zu haben. Und wenn es zwischen den Bedürfnissen einer Gesellschaft und der Geburt einer Wissenschaft überhaupt eine konstitutive Wirkung gibt, so ist dies nach unserer Meinung eine indirekte. R. K. Merton hat schon die Abweichung und den Spielraum aufgezeigt, die im 17. und 18. Jahrhundert zwischen den Bedürfnissen der Navigation und dem Erscheinen wissenschaftlicher Theorien, die jene Newtons vorbereiteten, bestanden habens. Man gelangt von den technischen Entdeckungen, verbunden mit ökonomi-
Imaginationen auf der einen Seite und der Methode auf der anderen Seite ebenso viele Brüche wie Kontinuitäten. Das Wesentliche der wissenschaftlichen Kreativität liegt gerade in diesen Brüchen und in der Formalisierung. Sicherlich sucht man zurecht eine Analogie zwischen der Verwendung statistischer Methoden in der Soziologie und der Ideologie von einer aus unabhängigen und austauschbaren Individuen bestehenden Welt. Natürlich kann man sehr wohl annehmen, daß eine dominante Gesellschaftsstruktur - der kapitalistische Markt, oder die Bürger als Gefangene der Staatsbürokratie - ein bevorzugtes Modell des Zugangs zu gesellschaftlichen Phänomenen sein kann, und man kann ebenso annehmen, daß sich dieses Modell in einer Methode kristallisiert. Trotzdem ist es offen· sichtlich, daß diese Formalisierung eine Erfindung ist, ein neues System, das sich ebenso auf das früher akkumulierte mathematisch-logische Wissen stützt, als auch die Natur der untersuchten gesellschaftlichen Phänomene in Rechnung stellt: die Massengesellschaft, in der die zusammengepferchten und gleichzeitig isolierten Individuen wie die Partikel eines Gases zusammenstoßen. Die Zunahme der gesellschaftlichen Botschaften und ihrer Verbreitungsmittel kann ebenfalls ein so bedeutendes Phänomen darstellen, daß es als Modell für neue biologische oder mikrophysikalische Theorien dienen kann. Auch hier bleibt es dabei, daß das Wesentliche der Erfindung in der aufgestellten Axiomatik liegt: der epistemologische Bruch zwischen den Imaginationen, den sozialen Modellen und der Methode sichert die relative Autonomie der Wissenschaftlergemeinschaft und ihre Legitimationsmacht.
IlI. Der soziale Fahrplan der wissenschaftlichen Legitimation Dieser Fahrplan ändert sich .nicht nur, wenn man von der wissenschaftlichen zur nicht-wissenschaftlichen Erkenntnis übergeht, sondern er variiert auch gemäß dem Typus und dem Grad der Wissenschaftlichkeit. Trägt man dem häufigen Phänomen konkurrierender Schulen innerhalb der Gelehrtengemeinschaft Rechnung, so kann man ein allgemeines Modell vorschlagen, das wir hier am Beispiel der Geschichtswissenschaft verfolgen werden. Die Etablierung der wissenschaftlichen Legitimation erfolgt in drei Phasen, die zugleich Phasen der epistemologischen und der gesellschaftlichen Legitimation sind. Diese drei Phasen können wir bezeichnen als: das Nicht-Unannehmbare, das Gültige, das Bedeutende. Im Falle der Geschichtswissenschaft, wenn wir von den totalitären Gesellschaften einmal absehen, stehen verschiedene Schulen in Konkurrenz zueinander. In Frankreich z. B. gibt es mindestens drei Schulen: die positivistische Schule, die marxistische Schule, die Ecole des Annales. Die Phase des Nicht-Unannehmbaren ist jene, in der die minimale Anerkennung erreicht wird, auf die sich die nationale Wissenschaftlergemeinschaft oder die konkurrierenden Schulen auf einem internationalen Kongreß einigen können. Es erscheinen hier explizite Regeln des Konsensus: die Regeln der Datierung von Fakten, der externen und
anerkannt sind. Wenn sich Historiker verschiedener Schulen in einer Prüfungskommission auf die Anerkennung einer Dissertation einigen, so manifestiert sich hier ein Konsensu der Legitimation zwischen den Schulen, der bis dahin nur implizite vorhanden war Diese Entscheidung verleiht dem Autor einen Universitätsgrad und dem Werk einen epistemologischen Status. Sie erkennt das Werk als originell und als epistemologisch legitim an: dieses wissenschaftliche Werk ist nicht-unannehmbar. Auf dieser Ebene is die Wissenschaftlergemeinschaft für die wissenschaftliche Erkenntnis konstitutiv. In der zweiten Phase der wissenschaftlichen Legitimation wird das neue, als nicht-unannehmbar klassifizierte Wissen in gültiges Wissen verwandelt. Dies ist die Phase, in der das Werk nicht mehr allein von einer einzelnen Schule, sondern von der Gesamtheit der Wissenschaftlergemeinschaft anerkannt wird. Hier muß man Zimans Schema vom Fahr plan der wissenschaftlichen Legitimation entwickeln, der von dem im Laboratorium auf der Maschine geschriebenen Text bis zur Randzone der Wissenschaftlergemeinschaf in den großen Handbüchern und Enzyklopädien führt. Es scheint uns hier wichtig zwischen dem Spiel der Medien und dem der Autoritäten innerhalb der Wissenschaftler gemeinschaft zu unterscheiden. Die Autoritäten jeder Schule versuchen aus einem doppelten Grunde eine Zeitschrift zu gründen: die Arbeiten der Schule sollen bekannt gemacht werden und ihrer Zeitschrift soll der Status einer legitimatorischen Mach innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft gegeben werden. So etabliert sich hier eine Hierarchie wissenschaftlicher Zeitschriften und es ist die Strategie des Autors, seiner Arbeitsgruppe und seiner Vorgesetzten, die Veröffentlichung des Textes in jener Zeit schrift zu erreichen, die in dieser Hierachie an oberster Stelle steht. Die Autoritäten der weniger prominenten Schulen erreichen es, mit den Autoritäten der Zeitschrift dieser dominierenden Schule zu verhandeln, und dies nicht nur Dank des gewohnten Spiels der vorübergehenden Allianzen und des Austausches von Diensten. Diese Verhandlung wird vor allem deshalb möglich, weil die Zeitschrift mit der dominierenden Sanktions macht diese Rolle nur spielen kann, indem sie eine kleine Zahl von Artikeln der anderen Schulen einschließt. Dies sind dann jene Artikel, die am wenigsten unvereinbar mit der Linie der Zeitschrift sind. Ein analoges Spiel findet auf der Ebene der Zitate und der Anmerkungen statt. Der Grad der Geschwindigkeit und der Verbreitung des nicht-unannehmbaren Wissens durch die Mund-Propaganda, die Kritik der großen Medien und die Veröffentlichung in Spezialzeitschriften, erlauben es, einer wissenschaftlichen Erkenntnis den Status des gültigen Wissens aufgrund der Zitatenhäufigkeit zuzuerkennen. Dieses gültige Wissen geht aus einer zugleich epistemologischen wie auch gesellschaftlichen Bestätigung hervor. In der dritten Phase der wissenschaftlichen Legitimation wird dieses nicht-unannehmbare und gültige Wissen auf den Status des epistemologisch und gesellschaftlich bedeu tenden Wissens erhoben. Diese dritte Phase ist der Ort, an dem die erste, wissenschaftliche Legitimation und die zweite Medienlegitimation zum Ausdruck gebracht wurden. Diese Phase ist je nach dem Typ des Wissens anders geartet. Im allgemeinen wird dieses Wissen innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft dann als epistemologisch
sie die Verbreitung durch die wissenschaftlichen Medien an, etwa durch Wochenzeitschriften, die von den Intellektuellen gelesen werden, oder etwa in besonderen Radiosendungen. Die Wissenschaftlergemeinschaft regt also, über die Vermittlung durch die wissenschaftlichen Autoritäten, zur Legitimation der Bedeutung an.
IV. Die Legitimation durch die Medien Es versteht sich von selbst, daß die Modi der Wissens-Bestätigung durch die Medien von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Medium zu Medium, und auch entsprechend der Wissenstypen variieren. Wir versuchen hier zwar, ein Modell zu entwickeln, aber allein die empirische Analyse kann den konkreten Fahrplan einer spezifischen wissenschaftlichen Erkenntnis aufdecken. Um unser Beispiel des historischen Wissens wieder aufzugreifen: wir glauben, daß all jenes "Geschichte" genannt werden soll, was in einer gegebenen Gesellschaft als solches gilt, also nicht nur die von der geschichtswissenschaftlichen Gelehrtengemeinschaft als wissenschaftliche Historie legitimierte Geschichte, sondern im gleichen Maße die von den Medien in tausenderlei Form demonstrierte Geschichte. Darüberhinaus ist auch die von verschiedenen Gruppen empfangene, elaborierte und gehütete Geschichte zu beachten. Die Legitimation durch die Medien zeigt, daß die relative Autonomie der Wissenschaftlergemeinschaft nicht der Kontinuität eines gesellschaftlichen Fahrplanes des Wissens widerspricht. Die zweite Legitimation ist eine konstitutive und steuernde Wirkung des Mediums gegenüber dem von der Wissenschaftlergemeinschaft legitimierten Wissen.
a) Die steuernde Wirkung der Massenmedien Jedes Medium - Taschenbuch, Radio, Kino, Fernsehen - erbringt ein spezifisches Prestige, eine mehr oder weniger weit reichende Macht der Verbreitung mit einer mehr oder weniger großen Dauerhaftigkeit und Geschwindigkeit. Jedes Medium besitzt eine spezifische emotionelle Qualität und eine je andere Qualität des Spektakularisierens. Der erste Typus besteht darin, einen bestimmten Wissensinhalt dadurch zu legitimieren, daß ihm ein Charakter der Präsenz, eine spezifische Affektivität, verliehen wird. Die Bekanntmachung durch die Medien gibt ihm die Qualität der Öffentlichkeit (seine Aufnahme durch das Publikum in der Form von Diskussionen) und möglicherweise die Qualität des Konsensus. Dieses Phänomen erscheint mit den ersten Zeitungen im 17. und 18. Jahrhundert und berührt die intellektuelle Welt und die Welt am Hofe, zum einen in der Manie, in den Zeitungen zitiert zu werden, zum anderen in der Obsession, sie gelesen zu haben. Als ein Ort der gesellschaftlichen Anerkennung verdankt das Medium seine eigene Macht, eine spezifische ästhetische Erkenntnis zu gestalten, dem besonderen Prestige, auf eine andere Art und Weise beachtenswerte Erkenntnisse zu vermitteln und eine neue kognitive Struktur zu eröffnen. Es handelt sich hier um einen ganz eigenen Ausdruck von Zeit und Raum, von Imaginärem und Wirklichem, von
Radiosendung). ' Dieser erste Typ der Verknüpfung von wissenschaftlicher Legitimation und der Legitimation durch die Medien ist durch die Vorherrschaft der wissenschaftlichen Legitimation bestimmt. Das Prestige der Zeitung im 17. Jahrhundert stieg, als sie außergewöhnliche Nachrichten aus dem Reich der Literatur veröffentlichen konnte. Die Naturwissenschaften benützen solcherart im 17. und 18. Jahrhundert den halb öffentlichen Brief und die Zeitung. Die Geschichtswissenschaften verwenden im 19. Jahrhundert das Feuilleton, den populären Roman und die Oper. Die in der Wissenschaftlergemeinschaft legitimierte wissenschaftliche Geschichte benutzt nicht nur die didaktische V6rgehensweise der Vulgarisierung, sondern auch eine ganze Anzahl verschiedener Genres: die romanhafte Fiktion, öffentliche Debatten oder die Diskussion zwischen Historikern anläßlich der Herausgabe eines neuen Buches, ein Quiz im Radio und Anspielungen im Rahmen einer politischen Sendung bzw. bei einer Umfrage. Die steuernde Wirkung der Medien bezüglich des historischen Wissens besteht natürlich darin, die wissenschaftliche Erkenntnis beachtenswerter, besser zugänglich und weiteren Kreisen bekanntzumachen. Weiterhin drückt sich diese Wirkung auch in d/er Fragmentierung des Wissens aus, des historischen Wissens etwa, welches anfänglich im Rahmen der wissenschaftlichen Erkenntnis zu einer Einheit zusammengefaßt war. Beachtet man, wie die soziale Konstruktion des Wissens im je spezifischen Medium vonstatten geht - im Kino, in Radio, Presse und Fernsehen - und beachtet man die verschiedenen Genres innerhalb eines spezifischen Mediums - Didaktik, Fiktion, Nachrichten, Spiele -, in denen dieses Wissen jeweils zum Ausdruck gelangt, so kommt man zu einer Diversifikation und zu einer Entstrukturierung dieses historischen Wissens, welches einmal mit der Strenge von Beweisführungen verbunden ist, ein anderes Mal mit dem Genre und dem Medium verknüpft ist. Der steuernde Einfluß der Medien auf das geschichtswissenschaftliche Wissen tendiert dazu, dieses Wissen zu verändern, und ein neues Wissen, das durch die Medien selbst gestaltet ist, zu legitimieren. Die steuernde Wirkung wird hier zu einem konstitutiven Prozess.
b) Der konstitutive Einfluß der Medien auf das historische Wissen Der traditionelle literarische Fahrplan und auch der schulische Fahrplan des Wissens, welcher als Medium fungiert, bilden ein erstes Modell der Koordination der wissenschaftlichen Legitimation mit der Legitimation durch die Medien. Ein anderes Modell tritt in wachsendem Maße dort in Erscheinung, wo die Hegemonie der wissenschaftlichen Legitimation manchmal durch die Legitimation durch die Massenmedien in Frage gestellt wird. Die Medien sind der Ort einer autonomen konstitutiven Einwirkung auf das historische Wissen, sie kreieren andere Tatsachen, andere Logiken, andere historische Beweise und sozusagen eine andere historische Wissenschaftlergemeinschaft. Während die Geschichtswissenschaften im allgemeinen seit 50 Jahren die langfristige Wirtschaftsgeschichte vorgezogen haben oder aber die Sozial- und Kulturgeschichte
sis einer bestimmten Logik oder der Postulate des Historikers ausgewählt, sondern ausgehend vom Konsensus journalistischer Kreise, die entscheiden, was die wesentlichen Ereignisse des Tages, des Monats oder des Jahres sind. Es ist also der spektakuläre Aspekt, das, was von der Mehrheit der Öffentlichkeit aufgenommen und gewußt werden kann, was die historische Tatsache der zeitgenössischen Geschichte konstituiert und sich in der Form einer "unmittelbaren Geschichte" präsentiert. Jeder weiß ja, wie bedeutend diese von den Massenmedien gestaltete Geschichte ist. Schon die totalitären Gesellschaften in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen machten aus Radiosendungen historische Ereignisse. In unserer Zeit hat sich diese Tendenz verallgemeinert, die politischen Ereignisse werden für die Medien produziert: Geißelnahme, Flugzeugentführung. Umgekehrt jedoch organisieren die Medien das politische Ereignis; sie sind nicht nur in den Pressekonferenzen anwesend, sondern ihre Verantwortlichen erfinden selbst originelle Situationen: Zusammenkünfte, Konfrontationen, außergewöhnliche Interviews. Ausgehend von der historischen Tatsache, die von den Medien ausgewählt oder kreiert wird, etabliert sich eine den Medien eigene Logik, die dazu tendiert, mit der wissenschaftlichen Darstellung zu konkurrieren. Folglich bestimmen auch andere Regeln als jene der wissenschaftlichen Begründung die Verifikation der historischen Hypothesen in den Medien. Die erste dieser Regeln bestimmt die Form des Streitgespräches zwischen Historikern, Politikern und anderen Zeugen der Vergangenheit. Diese Regel, die vom Spielleiter eingesetzt wird, ist die Regel des Konsensus: die Debatte wird zum Abschluß zu einer Reduktion der bereits auf ein Minimum eingeschränkten Differenzen hingeführt . . Die Logik der Beweisführung und die Logik der wissenschaftlicl:Ien Polemik der Gegner wird jedesmal durch eine Norm des fair play eingeschränkt, die sich darin ausdrückt, daß man die Gesprächspartner immer abwechselnd und über einen gleichlangen Zeitraum sprechen läßt. Die Notwendigkeit, alle Teilnehmer zum Sprechen zu bringen und mit einer allgemeinen Formel die Debatte zu beenden, die für alle Seiten und vor allem für einen gewissen gesunden Menschenverstand des durchschnittlichen Zuhörers befriedigend ist - kurzum die ästhetischen Erfordernisse und die Notwendigkeit der Synthese löschen die epistemologischen Differenzen zwischen den Historikern verschiedener Schulen, zwischen dem Amateurhistoriker, dem Memoirenschreiber, dem journalistischen Historiker und dem Geschichtswissenschaftler einfach aus. Die zweite Regel der Legitimation kommt hier darin zum Ausdruck, daß die wissenschaftliche Beweisführung durch Kalkül, und vernünftige Begründung durch die Beweisführung über die Wahrnehmung ersetzt wird. Das Fernsehen ist dafür beispielgebend, wie sich die gewohnten Techniken der Überzeugung und der Erzeugung von Aufmerksamkeit in Regeln der historischen Begründung verwandeln. Auf diese Weise entsteht und legitimiert sich eine Form der Beweisführung im Rahmen eines Mediums, die darin besteht, vom Kommentar zum lautlichen oder visuellen Bild überzugehen (oder vice versa). Das Begründen wird so zu der Kunst, die Rationalität des kommentieren-
schaftliche Legitimation. Auf diese Art konstituieren die Journalisten vom Fach gleich sam eine Wissenschaftlergemeinschaft. Sie beanspruchen tatsächlich, die von den Me dien tagtäglich dargestellte Geschichte auf der Basis dieser unmittelbaren Historie kohä rent zu machen. Die Verwalter der Fakten und ihre vom Prestige der Massenkommun kationsmittel erzeugte Logik treten hier also in Konkurrenz zum eigentlichen Bereic der Geschichtswissenschaften.
V. Der Konflikt zwischen den Legitimationsformen und die Rückwirkung der Medien
Die Medien sind also gleichzeitig Regulatoren für das in der Wissenschaftlergemeinscha legitimierte Wissen und eine lenkende und konstitutive Instanz für eine spezifisch Form des historischen Wissens. Damit ein gesellschaftlicher Fahrplan der Legitimatio entstehen kann, der diese beiden Formen der Legitimation verbindet, muß sich ein Koordination oder eine Hierachie zwischen ihnen ausbilden. Dieser Fahrplan läuft als nicht ohne Konflikte ab und kommt nicht ohne die Verhandlung zwischen den Au~o ritäten der beiden Legitimationsformen aus. Der erste Schritt hierzu erfolgt vonseiten der Wissenschaftlergemeinschaft, die versuch die Legitimation der Bedeutung eines Buches, ein~r Ausstellung oder eines Theate stückes dadurch zu sichern, daß sie den Kritiker im Rahmen ihrer Beziehungsnetz durch eine Serie von Berichten zu überzeugen versucht. Das Gewicht und die Zahl so cher Berichte auf den speziellen Seiten der Tages- und Wochenblätter und die Intens tät der persönlichen Beziehungen zu den verantwortlichen Vertretern der Medien e lauben es, ein höheres Niveau zu erreichen, auf dem Medien mit einer größeren Breiten wirkung, etwa Fernsehen und Radio, infrage kommen. Die von den Medien verliehen Legitimation der Bedeutung erbringt auch für den noch so unbedeutenden Bereich de Geisteswissenschaften den Status der epistemologischen Legitimation. An Universitä ten wird ein Autor als bekannt und bedeutend angesehen, ohne daß man hierbei kla zwischen der epistemologischen und der gesellschaftlichen Dimension unterscheide Es liegt also ein Kurzschluß der Legitimation der Bedeutung durch die Wissenschaftle gemeinschaft vor. Diese Möglichkeit des Kurzschließens stellt den Status der Autoritä ten dieser Gemeinschaft in Frage, die ja versuchen, ihre eigene Macht dadurch zu be stätigen, daß sie sich selbst die Rollen des Kritikers, des Herausgebers wissenschaftliche Reihen und des Spezialisten bezüglich der Medien sichern. Umgekehrt wird der Kurz schluß aber auch durch die Verantwortlichen der Medien erzeugt, die eigentlich nu wenig Gewicht innerhalb der Wissenschaftlergemeinschaft gehabt hätten, und die e erreichen, sich dank der Macht der Medien in dieser Gemeinschaft einzunisten. Manchmal stellt sich ein solcher Kurzschluß auch in der Form einer Zweierbeziehun von Autoritäten dar: die Autorität aus dem Kreis der Wissenschaftlergemeinscha weiß, an welchen Verantwortlichen der Medien sie sich nötigenfalls wenden kann, um eine rasche Verbreitung zu erreichen. Umgekehrt weiß der Verantwortliche einer Fern
von der Presse, über das Radio bis hin zum Fernsehen ein jeweils größeres Ausmaß an. Das Eindringen der Wissenschaftlergemeinschaft in die großen Verlagshäuser und in die Presse, die auf einem hohen kulturellen Niveau angesiedelt ist, hat zur Folge, daß dieser Konflikt in Wirklichkeit nur noch die Fraktion der Autoritäten und Kritiker der hier vertretenen dominanten Schulen mit jenen Historikern konfrontiert, die nicht zu diesen etablierten Richtungen zählen. Die Legitimationskonflikte im Radio werden von den Schulen und den Verlagshäusern bestimmt. Es genügt hier, auf Jean-Paul Sartre hinzuweisen, der nie einer Universität angehört hat und der sich bei ihr trotzdem durch das Taschenbuch, das Theater und das Radio durchsetzte. Im Radio muß ein Autor schon mit der wissenschaftlichen Legitimation des "Gültigen" ausgestattet sein, um den Status der Bedeutung kurzzuschließen und damit der Wissenschaftlergemeinschaft aufdrängen zu können. Beim Fernsehen ist dieser Legitimationskonflikt im Gegensatz hierzu total. Er beschränkt sich nicht auf die Legitimation der Bedeutung, sondern betrifft oft auch den Status des geltenden bzw. des nicht-unannehmbaren Autors. Es kommt vor, daß das Fernsehen weltmännische Historiker aufdrängt, die keinerlei wissenschaftlichen Kredit besitzen, oder aber Journalisten durchsetzt, die ihren Kredit als Journalist dazu verwenden, als Historiker der Gegenwart zu erscheinen.
VI. Die dritte Legitimation: die unterschiedliche Aufnahme durch die Öffentlichkeit Die dritte Legitimation, und damit die letzte Phase des wissenschaftlichen Fahrplanes, wird durch die öffentliche Rezeption des Wissens durch die Medien konstituiert. Die Rezeption der wissenschaftlichen Erkenntnis wird durch ein je unterschiedliches Vertrauen in die Medien bestimmt. Sie wird von den kulturellen Filtern der Gruppen gelenkt und unterliegt schließlich dem Einfluß ideologischer Apriori und gesellschaftlicher Imaginationen. Das partikulare Wissen, Medium und Publikum, sind miteinander verbunden und bei jeder Gruppe kann man eine Hierarchie eines allgemeinen Prestiges entdecken, das den Medien zugestanden wird. Die Fischer, z. B., die auf dem Meer Nachrichten über den Zug der Fische empfangen (Informationen also, die ihr Fangverhalten beeinflussen), ziehen zumindest im Bereich des ökonomischen Wissens das Radio vor, und erst dann das Fernsehen und die Zeitung. Die Bedingungen der Rezeption eines gegebenen Wissensbestandes sind mit dem verwendeten Medium verknüpft. Man kann bezüglich jeder besonderen Gruppe die Frage stellen, welches ihre spezifische Hierarchie des globalen Vertrauens gegenüber den Medien ist und ob diese Hierarchie der beruflichen Praxis, der kulturellen Tradition, oder den dominierenden politischen Meinungen entstammt. Außerdem ist es wahrscheinlich so, daß sich diese je gruppenspezifische Hierarchie der Medien auch jeweils entsprechend dem Typus des Wissens verändert. Für ein und denselben Fischer ist es möglich, daß die Hierarchie der Medien auf dem Gebiet des religiösen Wissens die Zeitschrift der Pfarrei bevorzugt. Die Rezeption des historischen Wissens durch die Fischer hängt nicht nur von der Rangfolge der
Medien vorgezogen werden. Im Gegensatz dazu wird man in den alten protestantischen Regionen, den Cevennen z. B., wo die orale protestantische Tradition durch das republikanische und laizistische Schulwesen gestärkt wurde, eine Privilegierung der Zeitung und des Buches finden. In dem Maße, in dem eine alte Kultur einer ethnischen, religiösen oder ideologischen Gemeinschaft erhalten bleibt, wird die Gruppe durch kulturelle Filter strukturiert. Die für die kulturelle Kontrolle der Gruppe Verantwortlichen versuchen ohne Unterlaß, die Rangfolge der gruppenspezifischen Wissenstypen zu bestätigen, und eben diese Hierarchie bildet den ersten kulturellen Filter - eine Einsicht, die man von Georges Gurvitch übernehmen kann 6 . Wir können hier auch Bergers und Luckmanns Begriff des "gesellschaftlichen Vorrates an Wissen" verwenden und uns fragen, wie ein Individuum die Hierarchie seiner Rollen und wie eine Gru ppe die Rangfolge ihrer Funktionen sichert 7 • Man kann für jede Berufsgruppe eine Gesamtheit funktionaler Erkenntnisse und ein Ensemble von Wissenshorizonten unterscheiden, die als Bezugsrahmen fungieren. Der zweite kulturelle Filter, der die Rezeption eines Wissensinhaltes fördert oder hemmt, wird durch die bereits bestehenden kognitiven Mechanismen charakterisiert: Sprache, logischer Apparat der Beweisführung, kulturelle Vertrautheit. Die romaneske Geschichte könnte in der Kontinuität der Tradition des abendlichen Geschichten-Erzählens stehen, die gelehrte Geschichte in der Folge des durch die Schulbücher vermittelten oder im kollektiven Gedächtnis einer bestimmten Anhängerschaft verankerten Wissens stehen. Die Rezeption der Geschichte wird durch die in den historischen Erzählungen einer Gruppe wirkenden wunschbedingten Erwartungshaltungen bestimmt: bei diesen Gruppen muß es sich nicht um eine bestimmte Anhängerschaft oder Berufsgruppe handeln, sondern es kann genauso gut eine Altersgruppe oder eine geschlechtsspezifische soziale Gruppierung sein. Eine positive Einstellung zur Geschichte kann von der Nationalität abhängen (die Franzosen sind geradezu geschichtshungrig), aber auch vom Alter. Die Geschichtslehrer wissen aus Erfahrung, daß zwölfjährige Schüler dieses Fach noch lieben und daß die Heranwachsenden es dann kaum noch mögen. Später dann lieben ältere Menschen die Geschichte in einem größeren Maße als etwa jene mittleren Alters und Männer stärker als Frauen. Es gibt also aus Gründen, die mit sozialen und kulturellen Konflikten verbunden sind, bei einigen Personengruppen positive Erwartungshaltungen bei historischen Mediensendungen oder aber eine Verärgerung bzw. sogar eine apriorische Ablehnung bei anderen.
VII. Schluß a) Die Rückwirkung der Legitimationen Dieser Fahrplan des gesellschaftlichen Wissens, die wissenschaftliche Legitimation, die Legitimation durch die Medien und jene durch das Publikum, ist nicht der einzig mög-
Europa angeht, am Verschwinden. Dies ist durch einen Prozeß der kulturellen Vereinheitlichung verursacht, durch die Alphabetisierung auf der Grundlage einer nationalen Sprache und durch die Wirkung der Massenmedien. Im 19. Jahrhundert zerstörten Industrialisierung und Verstädterung die Formen, durch die sich die orale Tradition fortpflanzte, solchermaßen, daß die kollektiven Gedächtnisse deformiert wurden. Seit den sechziger Jahren findet eine gegenläufige Bewegung statt, durch die die Massenmedien zur Erneuerung dieser Kollektivgedächtnisse anregen. Überall mehren sich die regionalistischen Gedächtnisse, die Erinnerungsbestände der Minoritäten, vergessener Generationen und verschwundener Berufe. Diese veröffentlichten Erinnerungen sind nicht mehr allein die Angelegenheiten bekannter politischer Akteure, sondern oft auch Sache einfacher Leute. Man hat es hier mit einem gesellschaftlichen Bedürfnis zu tun: verschiedene Gruppen wollen einen je eigenen Erinnerungsbestand verankern und durch die Massenmedien gleichzeitig in die Öffentlichkeit tragen. Dieses Bedürfnis ist eine ganz neue Tatsache, die dahin tendiert, den Fahrplan der Legitimation des Wissens umzudrehen. Man geht jetzt hier den Weg vom gesellschaftlichen Gedächtnis einer Gruppe hin zum kollektiven Gedächtnis, und dies Dank des Taschenbuches, der Fernseh- und Radiosendungen, die ja sorgfältig alle Formen der oralen Weitergabe aufgreifen. Auf der Grundlage dieser widerprüchlichen Vielheit von Erinnerungen wird nun das Problem vonseiten der Medien gestellt und muß von der Wissenschaftlergemeinschaft gelöst werden. Diese muß dann die früheren Gedächtnisse widersprüchlicher Natur, sowie die von den Journalisten geschriebene unmittelbare Geschichte, kohärent gestalten. Die historische Legitimation tendiert jetzt dazu, sich durch einen umgekehrten Legitimationsfahrplan zu etablieren. Der Historiker, der an einem Erinnerungsbestand einer Region oder einer Minderheit Anteil hat, wird von einem doppelten Motiv angetrieben: den Wünschen, seine eigenen Erinnerungen zu aktualisieren, und jenem, Ordnung in die widersprüchlichen Erinnerungen zu bringen.
b) Geschichte, Physik, Religion und Asthetik Dieses Modell der dreifachen Legitimation, das wir für den Fall der Geschichtswissenschaften beschrieben haben, beansprucht, ein Modell für eine Soziologie des Wissens zu sein. Das heißt, daß es ihm unter Berücksichtigung eines gewissen Spielraums möglich ist, Erkenntnissen mit einem stärker wissenschaftlichen Charakter wie etwa der Physik, oder auch nicht-wissenschaftlichen Wissensinhalten wie in Religion und Ästhetik Rechnung zu tragen. Die Naturwissenschaften finden im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften nur selten in den Medien einen Ort der Legitimation der wissenschaftlichen Bedeutung, hingegen aber doch eine Legitimierung gesellschaftlicher Bedeutung. Einige Ausnahmefälle findet man dort, wo die Medien ein Kurzschließen der wissenschaftlichen Legitimation der Bedeutung bewerkstelligen können. Dies ist bei jenen Themen der Fall, die
tretern der Naturwissenschaften mißachtet, während die Sozialwissenschaftler sie, wa ihr Fach angeht, befürworten. Nichtsdestoweniger gründet die Wissenschaftlergemein schaft dann interne Institutionen der Auseinandersetzung und Verbreitung, welche si selbst kontrolliert. Hier bleibt noch zu vermerken, daß eben diese Bereiche für Rück wirkungen vonseiten des kollektiven Gedächtnisses (Pharmakopöe, Vulkanologie empfänglich sind. Außerdem gibt es indirekte Rückwirkungen durch die Legitimatio der Bedeutung, die von den Medien ausgeübt wird, sowie auch vonseiten der Legitima tion durch die öffentliche Rezeption. Diese Rückwirkungen bestimmen den politische Einsatz von Krediten, die der Wissenschaft eingeräumt werden, sowie das Prestige, da man ihr verleiht. Im Bereich des religiösen Wissens funktioniert dieses Modell nur unter der Bedingung daß man innerhalb der Kirche zwischen dem Niveau der Wissenschaftlergemeinschaf (Le Saint Office) und dem Niveau der Massenmedien unterscheidet, und hier ist es di Kirche selbst, die durch ihre Autoritäten der Wissens-Vermittlung die Rolle des Me diums spielt. Je nach Epoche verändern sich auch die Formen der Rückwirkungen neue Bewegungen versuchen, die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen und Netze für di Verbreitung aufzubauen. Sie versuchen, spezifische Medien zu verwenden, um die Legi timation durch die Gelehrtengemeinschaft und eine allgemeine Anerkennung zu erlan gen. Man kann hier an die großen Auseinandersetzungen zwischen den Mystikern und dem kirchlichen Apparat erinnern. Die Hegemonie der wissenschaftlichen Legitimatio ist immer gesichert: entweder kommt es zu einer Verurteilung des individuellen ode kollektiven Werkes, oder es findet eine wissenschaftliche Aufarbeitung statt. Im Falle des ästhetischen Wissens funktioniert dieses Modell fast nur für den Bereic totalitärer Gesellschaften und für jene Epoche, in denen ein Akademismus vorherrschte Im Gegensatz dazu liefert der Pluralismus der Schulen in den liberalen Gesellschaften eine Analogie zu den geschichtswissenschaftlichen Schulen. Ein grundlegender Unter schied besteht hier darin, daß der Prozeß der Legitimation des Gültigen und des Be deutenden hier andere Wege einschlägt: eine Schule der Malerei sichert einem bestimm ten Werk den Status des Nicht-Unannehmbaren. Sie besitzt ein eigenes Netz der Ver breitung, das im Falle der Ausstellungsräume einen mehr offiziösen Charakter hat, da aber, was die Verbindung mit den kommunalen oder staatlichen Verantwortlichen fü den Kauf solcher Werke angeht, einen offiziellen Status besitzt. Es ist also festzustellen daß die wissenschaftliche Legitimation gleichzeitig durch das Vorankommen in de Hierarchie der Kritiken sowie den Aufstieg in der Hierarchie der Ausstellungen statt findet. Man kann tatsächlich ebenso eine gute Kritik durch einen guten Ausstellungsor erhalten wie auch umgekehrt. Diese verschiedenen Beispiele aus dem Bereich der Naturwissenschaft, der Religion und der Ästhetik lassen darauf schließen, daß das Modell der dreifachen Legitimation auch in abgekürzten oder umgekehrt verlaufenden Formen auftreten kann. Oft tendiert die se dreifache Legitimation zur Ausbildung kollektiver Gedächtnisse. Auf diesem Wege
eigenes Gefühls der Kreativität. Auf solche Weise ließ das 18. Jahrhundert mit seinen "Amerika-Phantasmen" und seinen Utopien die geistige Tätigkeit auf ihrer Suche nach der Idee offen treiben. Was unser Jahrhundert angeht, so glaubt es, die Erfahrung des Neuen im Kern der Destrukturierung des Wissens oder in den Rissen der etablierten Werte zu finden. Dieses Gefühl der Kreativität wird in verschiedenem Maße von den tatsächlichen Schöpfern, den Wissenschaftlern oder den Malern, geteilt. Es bestimmt auch das Gefühl der Gewißheit der jeweiligen Wissenschaftlergemeinschaft bezüglich ihren Entdeckungen. Der gesunde Menschenverstand und das kollektive Gedächtnis stellen ein anderes Beispiel für die Rückwirkungen der legitimierten wissenschaftlichen Erkenntnis dar und geben einen Ausblick auf die Formen unseres zukünftigen Wissens.
Anmerkungen 1
2
4 5 6 7
Georges Gurvitcb spricht in diesem Zusammenhang von "savoir desincarne", s. G. Gurvitcb, Les cadres sociaux de la connaissance, Paris 1966, Seite 13. Peter L. Berger und Tbomas Luckmann, The Social Construction of Reality: Everything that Passes for Knowledge in Sodety, London 1967. ]. M. Ziman, Public Knowledge, An Essay Concerning the Sodal Dimension of Science, Cambridge 1968. ]. P. Vernant, L. van der Meerscb,]. Gernet, u. a., Divination et rationaiite, Paris 1974. Robert Merton, Elements de theories et methodes sociologiques, Paris 1970, S. 404 f. G. Gurvitcb, Les cadres sociaux de la connaissance, a.a.O. P. L. Berger und T. Luckmann, a.a.O. Aus dem Französischen übersetzt von Franz Scbultbeis.
menschlicher Geschichte Von Bernd Baldus
Sucht man nach einem epistemologischen Thema, das in den Sozialwissenschaften seit ihrem Beginn einen dominierenden Einfluß ausgeübt hat, so ist dies sicher die Ansicht, daß soziale Prozesse von universell gültigen Gesetzen bestimmt werden. Aufgabe der Sozialwissenschaft ist es dementsprechend, solche Gesetze zu finden und gemäß ihrer Aussagegültigkeit zu ordnen, um so letztlich in der Lage zu sein, eine gegebene soziale Wirklichkeit ebenso wie ihre Entwicklung über einen bestimmten Zeitraum hinweg auf einen oder mehrere Kausalzusammenhänge allgemeinster Ordnung zu reduzieren. Damit soll gleichzeitig die Voraussage sozialer Prozesse möglich werden. Im folgenden möchte ich diese epistemologische Position als universalgesetzliche Methode bezeichnen. Obgleich sie ihre Spuren in fast allen Bereichen sozialwissenschaftlicher Forschung hinterlassen hat, hatte die universalgesetzliche Methode ihre deutlichsten Folgen in einem breiten Bereich von Theorien, die die Integration und das Funktionieren ganzer sozialer Systeme auf letzte determinierende Faktoren zurückführten. Spencers "Existenzkampf", Paretos "Residuen", Malinowskis "Bedürfnisse", Durkbeims "Kollektivbewußtsein", Sumners instinktive "Interessen", Davis' und Moores "Überlebensbedürfnis", Parsons' "letzte Werte" und die daraus resultierenden "funktionalen Imperative" sind nur einige der letzten Ursachen, mit deren Hilfe versucht wurde, soziale Prozesse in menschlichen Gesellschaften zu erklären. Auch Arbeiten in der marxistischen Tradition sind dieser Versuchung nicht entgangen. Sie haben eine Vielfalt von Determinanten hervorgebracht, die soziale Prozesse gesetzartig bestimmen. Viele der neueren Beiträge zur Rolle des Staates sehen zum Beispiel politische Institutionen entweder als ein planvolles Instrument der herrschenden Klasse! , oder als Teil eines objektiven Mechanismus, in welchem "die Funktion des Staates in einer bestimmten Gesellschaftsformation und die Interessen der herrschenden Klasse in dieser Formation übereinstimmen,,2. Die sich in solchen Argumenten widerspiegelnde Tendenz, selbst die zufälligsten Umstände in ein gesetzartiges Kausalverhältnis zu zwingen, führt bisweilen zu grotesken Resultaten 3 . Unabhängig von ihrem politischen Vorverständnis haben alle diese universalgesetzlichen Theorien gemeinsam, daß sie die von ihnen identifizierten Kausalzusammenhänge als OJdes ansehen, die letzlieh alles menschliche Verhalten in allen Gesellschaften programmieren 4 .
Stadium (Comte), von der "militärischen" zur "industriellen" Gesellschaft (Spencer), von der "mechanischen" zur "organischen" Solidarität (Durkheim), von der "Gemeinschaft" zur "Gesellschaft" (Tönnies), vom "Volkstum" über den "Feudalismus" zum "Industrialismus" (Redfield), vom "wilden" Stadium über den "Barbarismus" zur "Zivilisation" (Morgan), von "agraria" nach "industria" (Riggs), oder vom "primitiven Kommunismus" über "asiatische Produktionsweise", "Sklaverei" und "Feudalismus" zum "Kapitalismus" (Hindess, Hirst). Ähnliche Stufenmodelle wurden auch zur Erklärung bestimmter Institutionen benutzt: die Entwicklung des Rechts bewegte sich vom "Status" zum "Kontrakt" (Maine), oder die Wirtschaft von der primitiven Technologie über ein "Abhebestadium" zum modernen "Massenkonsum" (Rostow). Viele dieser Stufenmodelle postulieren eine unilineare Entwicklung menschlicher Gesellschaft: sobald der Wandlungsprozess in Gang gekommen ist, nimmt er in allen Gesellschaften den gleichen Ablaufs. Selbst wo der Prozeß sozialen Wandels als Differenzierung (Parsons, Moore, Riggs) oder als multilineare Entwicklung" beschrieben wird, werden die einzelnen Entwicklungslinien entweder, embryologischem Wachstum entsprechend, auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt, oder sie werden als parallele kulturelle Sequenzen als das Resultat "der unabhängigen Auswirkung einer identischen Kausalität in jeder von ihnen" 7 erklärt. Die Bewegung durch solche Stufen oder Entwicklungslinien hat eine progressive Qualität: sie reflektiert die kumulative Zunahme einer bestimmten Wesenhaftigkeit oder zentralen Eigenschaft wie zum Beispiel "Modernität", "Adaptionsfähigkeit" oder "Differenzierungsgrad". Sie macht es möglich, Gesellschaften systematisch auf der Basis des Vorhandenseins solcher zentraler Eigenschaften zu ordnen.
Trotz ihres dominierenden epistemologischen Einflusses haben sich universalgesetzliche Theorien zunehmend einer Reihe von theoretischen und empirischen Problemen gegenübergesehen. Bereits Seheler hatte, obwohl er mit einem unkritischen Begriff der Beherrschung der Natur operierte, gesehen, daß sich die Aneignung der Natur durch den Menschen als ein Selektionsprozeß im Hinblick auf ein bestimmtes soziales Ziel vollzog und nicht durch die mechanistische Entfaltung eines immanenten Entwicklungsoder Kausalprinzips 8. Die darin enthaltene Problematik ist vor allem durch die Ergebnisse der empirischen Forschung der letzten Jahrzehnte deutlich geworden: die grundsätzlich probabilistische Struktur der uns vorliegenden sozialwissenschaftlichen Daten widerspricht der deterministischen Struktur, die auf Grund des universalgesetzlichen Ansatzes zu erwarten war. Dies ist um so mehr bemerkenswert, als diese Daten fast ausschließlich das Resultat von Untersuchungen sind, die auf universalgesetzlichen Annahmen basierten. M. Blute hat diesen Widerspruch sehr gut zusammengefaßt: "Hard-earned generalizations we posses by the thousands, about housewives or bureaucrats, about stone-age technologies or dass stratification systems, about Omaha kinship systems or pe asant revolutions etc., through a potentially infinite list. Not one of these findings has acquired the status of a law. Over and over again we find such generalizations to be only statistically true and to be historically specific. The very kinds of things predicated even have a specific and limited distribution in time and space in human history . I would suggest therefore that such generalizations are akin to taxonomic (induding physiological and developmental) and ecological generalizations in biology, that they lack the universal quality required to attain the status of laws, and that no amount of further research attempting, for example, to specify the conditions under which they hold ... will ever transrnute any of them into laws 9 ." Die Hoffnung
zehn oder zwanzig Jahren, und die Versicherung, daß dies einfach deshalb noch nicht möglich ist, weil die empirische Datenbasis noch unzureichend ist, hat nach zwei oder drei Jahrzehnten empirischer Sozialforschung viel von ihrer Überzeugungskraft verloren. Neben ihrer Wahrscheinlichkeitsstruktur zeigten diese empirischen Daten noch zwei weitere unerwartete Eigenschaften. Erstens stellte sich heraus, daß Kausalbeziehungen in sozialen Prozessen regelmäßig erhebliche Zufallskomponenten enthielten. Anfänglich in den Forschungsergebnissen oft als "unerklärte" oder "residuale" Varianz aufgeführt, deren kausale Determinanten noch nicht bekannt waren, sind sie in jüngster Zeit sehr viel offener als das Resultat von Zufallsfaktoren anerkannt worden lO . Zweitens wurde deutlich, daß viele soziale Prozesse einen echten Zufallsablauf aufweisen. May weist darauf hin, daß selbst sehr einfache und streng deterministische nicht-lineare Modelle von Bevölkerungs-, genetischen oder Verhaltensprozessen einen "chaotischen" Ablauf nehmen können, wenn ihre anfänglichen Bedingungen variiert werden. "The elegant body of mathematical theory pertaining to linear systems ... and its succesful application to many fundamentally linear problems in the physical sciences, tend to dominate even moderately advanced university courses in mathematics and theoretical physics. The mathematical intuition so developed ill equips the student to confront the bizarre behavior exhibited by the simplest of discrete non-linear systems ... Yet such non-linear systems are surely the rule, not the exception, outside the physical sciences ... First order difference equations arise in many contexts in the biological, economic and social sciences. Such equations, even though simple and deterministic, can exhibit a surprising array of dynamical behavior, from stable points, to a bifurcating hierarchy of stable cycles, to apparently random fluctuations l l ." Mays Hinweis ist vor allem deshalb von Bedeutung, weil universalgesetzliche Theorien größtenteils auf der Annahme linearer Kausalität beruhen. Die zunehmende Kluft zwischen der Suche nach universell gültigen Gesetzen und der Wahrscheinlichkeits- oder Zufalls struktur der empirischen Daten, die sie hervorbrachte, hat die sozialwissenschaftliche Forschung an eine Art Scheideweg gebracht. Zwei in jüngster Zeit erschienene Beiträge von Thompson und Sahlins haben das Dilemma verdeutlicht und für eine Neuorientierung argumentiert. Thompson stellt in seiner Kritik Althussers eine Theorie in Frage, die komplexe historische Prozesse in ein mechanistisches "Planetarium" transformiert, das aus einem synchronischen System von Ursachen, Funktionen, Niveaus, Drehungen und Über- und Unterbestimmungen besteht. Thompson weist kategorisch jeden Versuch zurück, Geschichte als von universalen Gesetzen bestimmt zu begreifen 12 . Aber seine eigenen Vorschläge für eine Lösung des Problems gehen nicht über den Appell hinaus, Struktur und Rationalität historischer Prozesse als "Wahrscheinlichkeiten", "Begrenzungen" oder "Einflußfaktoren" zu sehen 13 . Thompson sagt nichts darüber, wie ein solches erkenntnistheoretisches Programm verwirklicht werden kann, ohne bei der Suche nach Regelmäßigkeit und Ratio-
mierung göttlich oder natürlich ist) 14 ." Am Ende geht Thompson doch nur soweit, für "flexiblere" und "elastischere" Konzepte beim Verstehen historischer Prozesse zu plädieren 15 . Sahlins, der ebenso wie Thompson über eine umfangreiche Erfahrung mit empirischer Forschung verfügt, argumentiert ebenso gegen jede Theorie, die die Komplexität anthropologischer Fakten auf eine "innere Logik" reduziert: "No cultural form can ever be read from a set of "material forces", as if the cultural were the dependent variable of given cultural practices as necessary effects of some material circumstance - such as a particular technique of production, a degree of productivity or productive diversity, an insufficiency of protein or a scarcity of man ure - all such scientist propositions are false 16 ." In einer ausgezeichneten Auseinandersetzung mit den Beiträgen von Marx zu den Ursprüngen menschlicher Kultur weist Sahlins daraufhin, daß Marx nur an wenigen Stellen das komplexe und bisweilen unabhängige Verhältnis der Kultur zur Produktion anerkennt. Sehr viel häufiger optiert er für eine Begründung der materiellen wie der symbolisch-kulturellen Produktion in universalen natürlichen und utilitaristischen Bedürfnissen. Sahlins wendet sich gegen die Zurückführung kulturellen und symbolischen Verhaltens auf eine einzige Determinante und ist bestenfalls willens, die Produktion im Kapitalismus als "privilegierte" Quelle symbolischer Bedeutungen gelten zu lassen, während in vorkapitalistischen Gesellschaften Verwandtschaftsbeziehungen oder der staatlich-religiöse Sektor einen der Produktion entsprechenden Einfluß auf die Kultur ausüben. Aber Sahlins' Plädoyer, symbolische Sinninhalte nur noch in allgemeinster Form an strukturelle Gesellschaftsverhältnisse zu binden, bietet keine echte Alternative und vermeidet letztlich nicht die von ihm selbst gesehene Gefahr, "daß wir wieder gezwungen werden, einen idealistischen Ausweg zu wählen und Kultur als etwas zu verstehen, das sich aus der dünnen Luft von Symbolen zusammensetzt 17 ." Was wir Thompson und Sahlins verdanken, ist eine sorgfältige Darstellung des Problems. Im folgenden möchte ich zeigen, daß die Lösung dieses Problems in der Entwicklung einer Theorie liegt, deren epistemologische Annahmen sich grundlegend von denen universalgesetzlicher Theorien unterscheiden. Anstelle der letzteren möchte ich eine Theorie soziokultureller Evolution skizzieren, die menschliche Geschichte als das Resultat eines Prozesses sozialer Selektion sieht, der im Prinzip dem natürlicher Selektion im biologischen Bereich gleicht. Die wesentlichsten Komponenten einer solchen Theorie können einmal aus den auf Darwin zurückgehenden Theorien genetischer Evolution, zum andern aus Marx' Beitrag zum Verhältnis zwischen Herrschaft und Kultur bezogen werden. Blute hat in ihrem hervorragenden Argument für die Relevanz der epistemologischen Grundannahmen genetischer Evolutionstheorien für die Analyse sozio-kultureller Geschichte die wichtigsten Unterschiede zwischen dem universalgesetzlichen Ansatz und dem Darwins zusammengefaßt: Darwin geht es um die Erklärung spezifischer historischer Entwicklungsabläufe, nicht um ihre Zurückführung auf eine ihnen gemeinsame Ursache oder gesetzmäßige Sequenz. Es geht ihm um zufällig variierende
mit Modifikation, die im Hinblick auf ihre Richtung unbestimmt ist, d. h. plötzlichen historischen Veränderungen unterliegt, deren Resultate auf Grund physiologischer Gemeinsamkeiten, nicht aber auf der Basis einer letzten Ursache oder eines Ablaufgesetzes klassifiziert werden können 18. Auf Ähnlichkeiten in den Werken Darwins und Marx' hinzuweisen besagt natürlich nichts neues. Marx hob sie mehrfach hervor, und er sowie Engels sprechen bei vielen Gelegenheiten anerkennend - und gelegentlich kritisch - über Darwin. Ich möchte zeigen, daß es wesentliche Parallelen in den beiden Theorien gibt, so zwischen der Rolle der Variationen in der genetischen Evolution und der Entwicklung der Produktionstechnik bei Marx, zwischen der aktiven Anpassung nicht-menschlicher Organismen an ihre Umgebung und der aktiven Aneignung der Natur durch menschliche Arbeit, oder zwischen der Ordnung der Selektion und Reproduktion durch die Teleonomie des sich anpassenden Organismus und der Ordnung der Auswahl und Propagierung soziokultureller Variationen durch die Teleonomie der Herrschaft. Allerdings ist weder das Vermächtnis von Darwin noch das von Marx frei von universalgesetzlichen Annahmen. Ich werde auf diesen Punkt später noch einmal zurückkommen.
I. Der Zufall als ein wichtiges Merkmal sozialer Prozesse
Eine Theorie, die menschliche Geschichte als einen Prozeß soziokultureller Evolution sieht, muß auf den folgenden fünf Voraussetzungen basieren: Theorien des universalgesetzlichen Typs haben Zufallsfaktoren prinzipiell keine Aufmerksamkeit geschenkt und ausschließlich solche sozialen Prozesse untersucht, die als geordnet und voraussagbar angesehen wurden. Häufig wurde dieses Vorgehen als ausdrückliches epistemologisches Prinzip formuliert, am besten vielleicht in Skinners Ansicht "daß es keine Wissenschaft über etwas geben kann, das unkontrolliert herumspringt" . Im Gegensatz dazu ist die Erkenntnis der Zufälligkeit vieler biologischer Prozesse grundlegend für die Theorie genetischer Evolution. Obgleich Darwin den genauen Ursprung organischer Variationen nicht kannte, vermutete er ihre Zufallsstruktur und erkannte dessen Bedeutung als Quelle des Materials, an dem die natürliche Auswahl wirk~ sam werden konnte. Die moderne Evolutionstheorie basiert auf der Erkenntnis, daß Veränderungen im Erbmaterial als Ergebnis von Mutationen, Genrekombinationen und anderen Chromosomveränderungen echte Zufallsereignisse sind, obgleich ihre Häufigkeit für unterschiedliche Gene verschieden sein kann. Alle Gene unterliegen solchen Veränderungen auf Grund ihrer chemischen Struktur und der Art der Keimzellbildung in der Meiosis. Bonner weist darauf hin, daß die Übertragung zufälliger Veränderungen des Erbmaterials durch sexuelle Reproduktion selbst das Ergebnis eines Evolutionsprozesses ist, der von der parthenogenetischen Fortpflanzung ohne Veränderungen über asexuelle Fortpflanzung mit Mutationen, wie sie sich zum Beispiel bei Bakterien
gibt, sich durch natürliche Auswahl ständigen und oft abrupten Umweltsveränderunge; anzu passen 19 . Marx' und Engels' Diskussion des Zufalls als eines Elements des historischen Wandeb zeigt beträchtliche Ähnlichkeit mit der Rolle, die er in der Theorie genetischer Evolution hat. Er ist ein häufiges Thema in ihrer Behandlung von Zufall und Notwendigkeit und in Marx' Arbeiten zum Verhältnis von Natur und Bewußtsein. Engels bezieht sich darauf ausdrücklich in einem seiner Hinweise auf Darwin: "Darwin, in seinem epochemachenden Werk, geht aus von der breitesten vorgefundenen Grundlage der Zufälligkeit. Es sind gerade die unendlichen zufälligen Verschiedenheiten der Individuen innerhalb der einzelnen Arten, Verschiedenheiten, die sich bis zur Durchbrechung des Artcharakters steigern und deren selbst nächste Ursachen nur in den wenigsten Fällen nachweisbar sind, die ihn zwingen, die bisherige Grundlage aller Gesetzmäßigkeit in der Biologie, den Artbegriff in seiner bisherigen metaphysischen Starrheit und Unveränderlichkeit, in Frage zu stellen 2o ." Die Idee einer unabhängigen Quelle von Veränderungen in der Form der menschlichen Fähigkeit, schöpferisch auf ihre materiellen Bedingungen einzuwirken und sie zu verändern, ist ein zentrales Thema in Marx' Darstellung des historischen Wandels. Er kennzeichnet die Bedürfnisse, die dieser schöpferischen Aktivität zugrundeliegen, als nicht instinktgebunden, das heißt als unabhängiger Ursprung von Erfindungen und Neuerungen, als ideelle Vorstellung des Arbeitsprozesses, die bereits besteht bevor dieser Prozeß beginnt 21 . Auf diese Weise ist es Marx möglich, sich der theologischen und metaphysischen Kausalvorstellungen ebenso zu entledigen wie ihres materiellen Gegenstücks, nämlich Feuerbachs Ansicht, daß menschliches Handeln lediglich eine Widerspiegelung seiner materiellen Bedingungen ist. Dem stellt er den Arbeitsprozeß als die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit gegenüber, vom schöpferischen menschlichen Projekt, das seine materielle Gebundenheit zu transzendieren vermag. Diese Sicht findet sich auch in der relativ unabhängigen Rolle wieder, die Marx den Produktivkräften in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zuordnet. Für Marx stellen sie die Öffnung dar, durch die der Gesellschaft dauernd neue Entwicklungsimpulse zufließen, obwohl die Produktionsbedingungen, in die sie eingebettet sind, ihr Auftreten beschleunigen oder verlangsamen können. Sie sind letztlich das unabhängigste und am wenigsten determinierte Element in Marx' Theorie der Geschichte, und gleichzeitig die wichtigste Quelle revolutionären Wandels. Zufallsfaktoren sind für eine Theorie soziokultureller Evolution in zwei Bereichen von Bedeutung. Dies ist einmal das Auftreten von Neuerungen oder Erfindungen im menschlichen Verhalten, die den Erbveränderungen im biologischen Bereich entsprechen. Die linguistische Forschung oder die Untersuchung wissenschaftlicher Erfindungen zeigen tatsächlich eine bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen den beiden Prozessen: Variationen im Sprachverhalten oder technische und wissenschaftliche Entdeckungen haben tendentiell eine Zufallsstruktur und gehen in alle Richtungen 22 . Diese Ergebnisse werden unterstützt durch viele detaillierte Darstellungen kreativen Verhaltens, die zeigen, daß solches Verhalten bedeutsame Zufallskomponenten hat, selbst dann, wenn
lichkeit in der Zufallsstruktur genetischer und Verhaltensneuerungen noch weiter geht: zufällige Verbindungen zwischen Neuronen spielen möglicherweise eine wichtige Rolle in den neurologischen Funktionen des Gehirns, die die Grundlage von "Kreativität", "Vorstellungskraft" und "Irrtum" bilden. Die menschliche Fähigkeit, kognitive Stimuli in einem Zufallsmuster zu variieren und zu rekombinieren, wäre damit selbst das Ergebnis genetischer Evolution, die den für Anpassungsprozesse zur Verfügung stehenden Vorrat von Veränderungen und damit von Flexibilität weiter ausdehnt, und eine wichtige Voraussetzung dafür schafft, daß die soziokulturelle Evolution sich wesentlich schneller vollzieht als die genetische. Wichtige Zufallsfaktoren kennzeichnen auch die Umgebung, in der die Anpassung stattfindet. Bonner argumentiert, daß die Entstehung genetischer Veränderungen selbst als eine evolutionäre Antwort darauf verstanden werden kann, daß tendenziell zufälliger Wandel vom Gesichtspunkt des sich anpassenden Organismus eine elementare Eigenschaft seiner natürlichen Umgebung ist 24 . Das gleiche gilt für die soziale Umwelt; einmal, weil viele soziale Prozesse sich einer echten Zufallsstruktur annähern 25 , zum andern, weil selbst geordnete soziale Umgebungen scheinbar keine erkennbare Struktur haben. Das Alltagsleben ist voll von solcher scheinbarer Zufälligkeit: dem Warten auf den Bus, dessen Fahrplan man nicht kennt, oder die Anordnung der Räume eines Gebäudes, das man zum erstenmal betritt. Theoretisch kann die Struktur solcher Umweltbedingungen mehr oder weniger genau bestimmt werden. Praktisch machen es jedoch biologische Grenzen des Lernens und der Informationsverarbeitung dem Einzelnen in der Regel möglich, nur einen kleinen Teil seiner geordneten Umgebung genau genug zu kennen, um auf dieser Basis zu planen oder vorauszusagen. Die tendenzielle Zufallsstruktur der genetischen und der Verhaltensänderungen sowie der natürlichen und der sozialen Umwelt hat ihrerseits die tendenzielle Unbestimmtheit der Richtung des Evolutionsprozesses selbst zur Folge.
II. Der opportunistische Charakter der Anpassung
In universalgesetzlichen Theorien erscheint soziales Verhalten als die rationale Beherrschung der Natur auf der Grundlage eines übergeordneten ideellen Ziels oder einer anderen primären Determinante. Diese Sicht hat die Tatsache völlig verdeckt, daß menschliches Verhalten viel von dem opportunistischen Charakter behält, der auch die organische Anpassung in der genetischen Evolution kennzeichnet. Zweckgerichtetes soziales Verhalten besteht in erster Linie in der trial-and-error-Erforschung einer Umwelt mit dem Ziel, Bedingungen zu finden, die für die Zweckerreichung vorteilhaft sind. Die meisten dieser Umweltbedingungen treten dem sozialen Verhalten als unabhängig gegebene Parameter gegenüber. Dies ist vor allem dort der Fall, wo es sich um eine soziale Umwelt handelt. Im Hinblick auf ihre bereits erwähnte Zufallsstruktur, die sich der Voraussage weitgehend entzieht, ist ein opportunistisches trial-and-error-Verfahren
Umwelt zu verhalten, selbst das Resultat evolutionärer Entwicklung ist: von der trialand-error-Anpassung primitiver Organismen an Veränderungen im Nahrungsmittelniveau ihrer Umwelt durch einfache Ortsveränderung, die jedesmal vorgenommen wird, wenn dieses Niveau unter ein bestimmtes Minimum fällt, über die Entwicklung des Seh- und Erinnerungsvermögens, des Lernens und der Imitation, bis hin zum Entstehen von Kommunikationssystemen und endlich der menschlichen Sprache. Campbell zeigt, daß im Verlauf dieser Entwicklung die ursprüngliche einfache Ortsveränderung, die sich mit jeder relevanten Umweltsveränderung wiederholt, durch stellvertretende Prozesse ersetzt wird, die die opportunistische trial-and-error-Anpassung jedesmal effizienter machen. Der Kommunikationstanz der Biene ist ein Beispiel für die Vorteile eines Prozesses, der an die Stelle der Erforschung der Umwelt durch einfache Fortbewegung tritt. Die Fähigkeit der Biene, sich die Lage einer bestimmten Nektarquelle im Verhältnis zur Sonnenposition einzuprägen und diese Information den anderen Bienen im Stock mitzuteilen, führt zu einem viel rationelleren System der Nahrungssuche, verglichen mit der trial-and-error-Suche nach Nektar durch jede einzelne Biene im Stock. Menschliches Erinnerungsvermögen und menschliche Sprache vergrößern erheblich die Möglichkeit, vergangene Erfahrungen der opportunistischen Erforschung der Umwelt zu speichern und sie an andere zu übermitteln und sie damit kumulativ zu verwerten. Das ändert allerdings nichts am grundlegend opportunistischen Charakter sozialen Verhaltens; Sprache, Lernen und Erinnerung verkürzen lediglich den dazu nötigen Aufwand.
Ill. Die Bedeutung teleonomischer Projekte
In der genetischen Evolution bringt die natürliche Auswahl genetische Veränderungen und Umweltbedingungen im teleonomischen Projekt einer bestimmten Form von Leben zusammen. Ohne ein solches Projekt bleiben sie sinnlos. Umgekehrt haben gegebene Veränderungen oder Umweltbedingungen eine völlig unterschiedliche adaptive Bedeutung für verschiedene Formen organischen Lebens. Monod formuliert sehr klar die Bedeutung teleonomischer Projekte im Auswahlprozeß: ,,(Evolutionary theory has been) too often understood or represented as placing the sole responsibiliry for selection upon conditions of the extern al environment. This is a completely mi staken conception. For the selective pressures exerted by outside conditions upon organisms are in no case unconnected with the teleonomic performance characteristics of the species. Different organisms inhabiting the same ecological niche interact in very different and specific ways with outside conditions (among which one must include other organisms). These specific interactions, which the organism itself selects, at least in part, determine the nature and orientation of the selecl:ive pressure the organism sustains. Let us say that the "initial coniditons" of selection encountered by a new mutation simultaneously and inseparably include both the environment surrounding the organism and the total structures and performances of the teleonomic apparatus belonging to it 27 • "
dürfnisse einer Arteinheit verstanden. Ihr spezifischer Charakter bestimmt letztlich, ob eine Veränderung im Erbmaterial vorteilhaft oder unvorteilhaft für den Organismus ist, und legt damit die Chancen ihrer Reproduktion fest. Die Rolle von Teleonomien ist sehr viel weniger untersucht worden als andere Aspekte der genetischen Evolution. Allgemein wird die Selektion eines bestimmten Artmerkmals mit seiner adaptiven Eignung im Hinblick auf eine relativ kleine Zahl von meist instinktiven - und meist vermuteten - teleonomischen Bedürfnissen eines Organismus erklärt. Typische und häufig benutzte Teleonomien sind zum Beispiel die Wahl und Verteidigung eines Nest- oder Standortes, Paarungsbedürfnisse, Nahrungssuche oder die Verteidigung gegen räuberische Arten. Ein Grund für die relativ oberflächliche Behandlung solcher teleonomischer Projekte in der genetischen und soziobiologischen Forschung ist natürlich, daß es sehr viel schwieriger ist, den teleonomischen "Sinn" genetischer Veränderungen oder Umweltbedingungen für einen nicht-menschlichen Organismus zu bestimmen als seine morphologischen Veränderungen durch natürliche Selektion. So gesehen bietet die Begrenzung auf einige wenige relativ sichere und selbstverständliche instinktive Teleonomien einen Ausweg aus einem beträchtlichen Problem. Als Folge davon ist die Untersuchung der teleonomischen Organisation der natürlichen Auswahl ein schwacher und unterentwickelter Teil der genetischen Evolutionstheorie geblieben. Wir verfügen nur über sehr wenige Studien, die tatsächlich beweisen, daß ein bestimmtes Artmerkmal das Resultat natürlicher Selektion ist 28 . In der überwiegenden Mehrzahl soziobiologischer und evolutionärer Arbeiten wird die Selektion eines bestimmten Merkmals mit seiner adaptiven Eignung für ein angenommenes teleonomisches Bedürfnis des Organismus begründet. Die Problematik eines solchen Vorgehens ist besonders in soziobiologischen Versuchen deutlich geworden, die komplexe und außerordentlich schnelle Evolution soziokultureller Merkmale weiter mit ihrem "Überlebenswert" oder ihrer Bedeutung für einige wenige grob vereinfachte Instinkte zu erklären. Wilson sieht wenigstens die damit verbundenen Schwierigkeiten, indem er darauf hinweist, daß der größte Teil der genetischen Evolution des Menschen in den letzten etwa fünf Millionen Jahren stattgefunden hat, während der weitaus größte Teil der soziokulturellen Evolution erst in den vergangenen ungefähr zehntausend Jahren vor sich ging, und daß während dieser letzten Periode genetische Faktoren nur eine unbedeutende Rolle gespielt haben können 29 . Aber selbst er fällt am Ende wieder darauf zurück, so komplizierte soziokulturelle Phänomene wie Kriege oder Verhalten in Konzentrationslagern aus dem Bedürfnis nach Nahrung oder sozialer Territorialität abzuieiten 30 . Andere Soziobiologen zeigen noch weniger Zurückhaltung, eine Vielfalt menschlicher Verhaltensweisen auf wenige , und manchmal nur einen, "imperialen" oder "territorialen" Imperativ zu reduzieren. Wenn man diese Theorien ihres modischen soziobiologischen Jargons entledigt, findet man sich zur universalgesetzlichen Teleologie von Primärinstinkten zurückversetzt, die den Funktionalismus von Malinowski und den Sozialdarwinismus von Spencer inspirierten.
gige kognitive teleonomische Ziele zu entwickeln, selbst als das Ergebnis eines genetischen Evolutionsprozesses sieht, der die schnelle soziokulturelle Evolution möglich macht. Banner argumentiert, daß die Entwicklung der Fähigkeit, adaptive Information durch soziales Verhalten statt durch genetische Übertragung an andere Artmitglieder weiterzugeben, eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Herausbildung von Kultur ist. Beispiele solcher früher Kulturformen bei Tieren sind die Übermittlung von Erfindungen wie des Öffnens von Aluminium-Verschlüssen von Milchflaschen durch Meisen, die dadurch Zugang zur Fettschicht auf der Oberfläche der Milch erlangen 31 , oder das Lernen von Furcht und Aggression bei Elefanten als Konsequenz übermäßiger Bejagung, und die Übertragung solchen Verhaltens an nachfolgende Generationen, selbst nachdem die Jagd aufhörte 32 . Die Kommunikation von Information auf nicht-genetische Weise führt zu einer Beschleunigung der Evolution, weil der Anpassungsprozeß von dem langsamen Tempo der Übertragung adaptiver Information durch sexuelle Fortpflanzung befreit wird. Aber Banners Argument kann weiter ausgedehnt werden: ebenso wichtig für die Entwicklung menschlicher Kultur ist die evolutionäre Herausbildung der Begabung, teleonomische Projekte frei zu konzipieren, Probleme ebenso wie ihre adaptive Lösungen kognitiv zu verstehen und so den ganzen Auswahlprozeß auf die kognitive Ebene zu übertragen. Menschliche soziokulturelle Evolution basiert auf der Fähigkeit des Gehirns, teleonomische Projekte frei zu konstruieren und zu manipulieren und den "Sinn" kultureller Veränderungen und Umweltbedingungen im Hinblick auf solche Projekte zu bestimmen. Marx entwickelt diesen Gedanken wesentlich weiter. Nach dem Hinweis, daß in ihrem frühesten Stadium die menschliche Arbeit "ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte", bemerkt er zum Unterschied zwischen instinktgebundenen und kognitiv konzipierten Teleonomien: "Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister von der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war 33 ." In einem direkten Hinweis auf Darwin zeigt Marx die Parallelen zwischen der Anpassung eines kognitiv konzipierten Arbeitsprojekts durch die Selektion einer bestimmten Produktionstechnik, und dem Prozeß der natürlichen Selektion in der organischen Evolution: "Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d. h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besonderen Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andere nicht ge-
kehrt zu dieser Parallele an anderer Stelle zurück: "Der Gebrauch und die Schöpfung von Arbeitsmitteln, obgleich im Keim schon gewissen Tierarten eigen, charakterisieren den spezifisch menschlichen Arbeitsprozeß . . . Dieselbe Wichtigkeit, welche der Bau von Knochenreliquien für die Erkenntnis der Organisation untergegangener Tiergeschlechter, haben Reliquien von Arbeitsmitteln für die Beurteilung untergegangener ökonomischer Gesellschaftsformationen. Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird 35 . " Marx bleibt konsistent bei dieser Idee: wenn die relativ unabhängige Entwicklung der Produktivkräfte das Material für die Anpassung zur Verfügung stellt, ist die Produktionsweise das sichtbare Resultat des Anpassungsprozesses. Sie umfaßt das Ergebnis der gesellschaftlichen Auswahl bestimmter Produktionstechnologien aus der allgemeinen Entwicklung der Produktivkräfte, sowie einer bestimmten Art der Verteilung des Ergebnisses des Arbeitsprozesses. Sie umfaßt das Resultat der Auswahl bestimmter sozialer Beziehungen zwischen den Menschen und der damit vereinbaren Formen menschlicher Kultur. Aus evolutionärer Sicht ist die Produktionsweise in jedem historischen Zeitpunkt die Summe der Ergebnisse soziokultureller Selektion und kann so als das Äquivalent des Artbegriffes in Darwins Theorie angesehen werden. Aber was ist in Marx' Theorie das teleonomische Projekt, das diesen Auswahlprozeß steuert? Daß es nicht die gleichen instinktiven Teleonomien sein können, die der Selektion im tierischen Bereich zugrunde liegen, ist eindeutig: ,,(Das Tier) produziert nur unter der Herrschaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses, während der Mensch selbst frei vom physischen Bedürfnis produzien und erst wahrhaft produziert in der Freiheit von denselben; . . . sein Produkt gehört unmittelbar zu seinem physischen Leib, während der Mensch frei seinem Produkt gegenübertritt. Das Tier formien nur nach dem Maß und dem Bedürfnis der species, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder species zu produzieren weiß und überall das inhärente Maß dem Gegenstand anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach den Gesetzen der Schönheit 36 ." Der Übergang von instinktiven zu frei konzipierten Teleonomien erfolgt jedoch langsam; die anfängliche Form der Aneignung der Natur durch den Menschen löst sich nur allmählich von ihrer ursprünglichen engen Bindung an die Befriedigung unmittelbarer physischer Bedürfnisse und dient in der frühen Phase menschlicher Evolution primär der Selbsterhaltung von Produzent, Familie und Gemeinschaft 37 • Der Grund, weshalb Marx der Teleonomie primitiver Produktion relativ wenig Aufmerksamkeit schenkt, liegt darin, daß er: im Entstehen der Herrschaft über die Produktion und der Auflösung der natürlichen Einheit von Produzent und Produktion ein teleonomisches Projekt sieht, dessen Einfluß auf die menschliche Geschichte ungleich größer als der der Bedürfnisse der Produzenten selbst gewesen ist. "Nicht die Einheit der lebenden und tätigen Menschen mit den natürlichen, unorganischen Bedingungen ihres Stoffwechsels mit der Natur, und daher ihre Aneignung der Natur, bedarf der
und Kapita1 38 ." Herrschaft ist für Marx keine mechanische Kategorie; sie ist das bewußte Interesse identifizierbarer Menschen, Kontrolle über das Ergebnis der Arbeit anderer zu gewinnen, über ein Produkt, das sie selbst nicht produziert haben. In ihren verschiedenen historischen Formen ist sie für Marx die vorwiegende teleonomische Zielsetzung vor allem in den letzten Phasen menschlicher Geschichte, und der Schlüssel zum Verständnis der Organisation des Produktionsprozesses und der sozialen, kulturellen und politischen Beziehungen der Menschen in einer bestimmten historischen Herrschaftsstruktur. Das Herrschaftsverhältnis setzt letztlich den Rahmen, innerhalb dessen die Aneignung der Natur erfolgt: "Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit seine spezifische politische Gestalt. Es ist jedesmal das unmittelbare Verhältnis der Eigentümer der Produktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten - ein Verhältnis, dessen jedesmalige Form stets naturgemäß einer bestimmten Entwicklungsstufe der Art und Weise der Arbeit und daher ihrer gesellschaftlichen Produktivkraft entspricht -, worin wir das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränitäts- und Abhängigkeitsverhältnisses, kurz der jedesmaligen spezifischen Staatsform finden. Dies hindert nicht, daß dieselbe ökonomische Basis - dieselbe den Hauptbedingungen nach - durch zahllos verschiedene empirische Umstände, Naturbedingungen, Rassenverhältnisse, von außen wirkende geschichtliche Einflüsse usw., unendliche Variationen und Abstufungen in der Erscheinung zeigen kann, die nur durch Analyse dieser empirisch gegebenen Umstände zu begreifen sind 39. " Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß Marx in der historischen Entstehung der Herrschaft nicht ein grundsätzlich neues, von der bisherigen menschlichen Geschichte getrenntes Phänomen sieht. Er sieht ihre Entwicklung als einen allmählichen Prozeß. Seine Analyse der Produktionsformen, die dem Kapitalismus vorausgehen, zeigt bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Darwins evolutionärer Argumentation: die menschliche Entwicklung bewegt sich von der instinktiven Aneignung der Natur zur ersten bedeutenderen Form gesellschaftlicher Produktion, in der der Produzent die objektiven Bedingungen der Arbeit als die seinen betrachtet40 , und in der seine Beziehungen mit anderen Produzenten in der Form des Gemeineigentums von Produktionsmitteln und Produkt organisiert sind. Marx sagt ausdrücklich, daß die praktische Erscheinungsform solcher gemeinbesitzlicher Gesellschaften sich an verschiedenen Orten und Zeiten erheblich unterscheiden kann 41 . Als gesellschaftlich organisierter Prozeß beruht jedoch selbst die gemeinschaftliche Aneignung der Natur auf kulturellen Entscheidungen über das Verhältnis der Produzenten zu ihren Produktionsmitteln, den Ergebnissen ihrer Arbeit, und zu anderen Gesellschaftsmitgliedern. Herrschaft kann in jedem dieser Verhältnisse beginnen: als gesellschaftliche Arbeitsteilung, durch die der Produzent einen
seine Arbeitskraft, und schließlich als seine Trennung von den Produktionsmitteln. Ge rade im Hinblick auf letztere weist Marx immer wieder darauf hin, daß es sich um ei nen graduellen Prozeß handelt, der sich erst im Kapitalismus vollendet. Herrschaft ent wickelt sich aus der gemeinschaftlichen Produktion zu verschiedenen Zeiten und in un terschiedlichen Formen, und hat die typischen Merkmale eines evolution ären Prozes ses.
IV. Selektion, Bewahrung und Reproduktion
Neben einer Quelle unabhängiger Variationen, einer Umwelt und einem teleonom schen Projekt, das die adaptive Relevanz von Variationen und Umweltbedingungen be stimmt, erfordern genetische oder soziokulturelle Evolution einen Prozeß, durch de Variationen ausgewählt, d. h. unterschiedlich reproduziert oder propagiert werden Diese Auswahl findet auf der Basis des adaptiven Wertes einer Variation für ein be stimmtes teleonornisches Projekt statt: adaptiv vorteilhafte Variationen haben ein größere Chance, reproduziert zu werden, als Variationen, die adaptiv neutral oder un vorteilhaft sind. Es gibt natürlich Unterschiede zwischen dem Verlauf selektiver Prozesse in der geneti schen und der soziokulturellen Evolution. In der letzteren werden Verhaltensvariatio nen statt Veränderungen im Erbmaterial ausgewählt. Ihre Propagierung erfolgt durc Sozialisation und Kommunikation statt durch sexuelle Reproduktion. Und die Tele onomien, die den adaptiven Wert einer Verhaltensvariation bestimmen, sind selbst va riable kognitive Schöpfungen statt der begrenzten Instinkte, die (vermutlich) die An passung nicht-menschlicher Organismen steuern. Aber beide Prozesse beruhen auf dem gleichen grundlegenden Prinzip: der opportunistischen Auswahl aus zufällig entstande nen soziokulturellen Veränderungen auf Grund ihrer angenommenen Relevanz für ei bestimmtes teleonomisches Projekt. Selbst in der genetischen Evolution ist das Resul tat des Auswahlprozesses immer nur wahrscheinlich: Variationen, die durch Selektio in einer Bevölkerung fixiert werden, variieren um einen Mittelwert, und das gleiche gil für ihren adaptiven Vorteil. Die Streuung der Ergebnisse soziokultureller Selektion is noch ausgeprägter. Einmal übt die soziokulturelle Selektion sehr viel weniger Druck i Richtung auf die Optimierung und Perfektion der ausgewählten Variation aus. Sozial Teleonomien erlauben meist keine klare hierarchische Ordnung von Variationen im Hinblick auf ihren Anpassungsvorteil, wie sie zum Beispiel Wüson für den adaptive Wert von organischen Merkmalen für Tiere berechnet43 . Zweitens begünstigt die im Vergleich zur genetischen Mutationsrate sehr viel höhere Rate soziokultureller Varia tionen die Auswahl mehrerer Veränderungen mit etwa äquivalentem adaptivem Wer für ein bestimmtes teleonomisches Projekt. Und schließlich läßt die soziokulturelle Se lektion erheblichen Raum für das Äquivalent des random drift in der genetischen Evo lution: der Fixierung kultureller Variationen, die nicht das Resultat des selektiven
Soziokulturelle Variation führt folglich zu einer Kultur, die außerordentlich vielgestaltig ist, und die häufig Variationen einschließt, die im Hinblick auf ein bestimmtes teleonomisches Projekt adaptiv neutral sind. Aus den gleichen Gründen "übersieht" sie ebenso häufig Variationen mit einem Anpassungsvorteil. Marx' Darstellung des Verhältnisses von Basis und Überbau gibt einen theoretischen Rahmen für das Studium soziokultureller Selektion, der sehr viel Ähnlichkeit mit den Prinzipien genetischer Selektion aufweist. Wir sahen bereits, daß er die ökonomische Basis mit dem Projekt konkreter historischer Herrschaft gleichsetzt. Als dominantes teleonomisches Projekt legt eine bestimmte Form der Herrschaft die selektiven Grundlagen für die gesellschaftliche Herausbildung des "Sinns" von Natur, Technologie und menschlichen Beziehungen in einer bestimmten historischen Zeitperiode. Die Regeln der Entsprechung von Basis (z. B. als Herrschaftsinteressen der Aristokratie) und Überbau sind die Regeln unterschiedlicher Selektion: eine bestimmte Herrschaftsform übt einen selektiven Druck auf die innerhalb ihres Bereichs erscheinenden soziokulturellen Variationen aus. Es wählt aus ihnen die Technologien, Religionsformen, Kunsterzeugnisse, Deutungen der Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten, die adaptiven Wert für das Herrschaftsprojekt haben. Ein kultureller Überbau ist somit weder das Resultat einer mechanischen Verursachung durch "ökonomische Faktoren", noch das Instrument allgegenwärtiger Planung und Intervention der herrschenden Klasse. Stattdessen entsteht sie aus der Anpassung der Interessen dieser Klasse durch die opportunistische Auswahl und Propagierung ihrer eigenen Neuerungen, als auch der Bedingungen in ihrer materiellen und sozialen Umgebung, welche komplementär zu ihren Interessen sind. Marx' Darstellung von Basis und Überbau ist natürlich nicht ohne Zweideutigkeit. In nicht wenigen seiner Bemerkungen zu diesem Thema stellt er beide in eine Art naturgesetzlichen Zusammenhang, der uns mitten in die universalgesetzliche Konzeption zurückführt. Aber vor allem in seinen empirischen Untersuchungen der Herrschaft sieht Marx menschliche Geschichte als die Erfindung einer Folge von Herrschaftsformen durch verschiedene und oft konkurrierende Gruppen, und die Benutzung der Herrschaft dazu, aus den vorhandenen soziokulturellen Verhaltensvarianten die auszuwählen, die zur Erhaltung der Herrschaft beizutragen versprechen. So zum Beispiel in seiner Beschreibung des einfallsreichen adaptiven Opportunismus der Bourgeoisie bei der Verfolgung ihres eigenen teleonomischen Projekts: "Unterdrückter Stand unter der Herrschaft der Feudalherren, bewaffnete und sich selbst verwaltende Assoziation in der Kommune, hier unabhängige städtische Republik, dort dritter steuerpflichtiger Stand der Monarchie, dann zur Zeit der Manufaktur Gegengewicht gegen den Adel in der ständischen oder in der absoluten Monarchie, Hauptgrundlage der großen Monarchien überhaupt, erkämpfte sie sich endlich seit der Herstellung der großen Industrie und des Weltmarktes im modernen Repräsentativstaat die ausschließliche politische Herrschaft 44 ." Oder in den verschiedenen Versuchen, vorindustrielle Produktionsprozesse zu übernehmen und zu verändern, durch die gänzliche Revolutionierung der handwerklichen Produktion (eine
ern von ihrem Land als Folge der enclosures zieht, Maßnahmen, die von der Aristokr tie durchgeführt, von der Bourgeoisie aber als ihren eigenen Interessen förderlich ausg nutzt werden 46 . Marx faßte die opportunistische Natur des Aufstiegs des Kapitaliste zur Macht in der Bemerkung zusammen, daß "Die Ritter von der Industrie es jedoc nur fertig(brachten), die Ritter vom Degen zu verdrängen, dadurch, daß sie Ereigniss ausbeuteten, an denen sie ganz unschuldig waren 47 ." Marx' Beschreibung von Eleme ten des Überbaus, wie zum Beispiel Ideologien, macht ebensooft deutlich, daß sie durc opportunistische Auswahl aus einer Reihe möglicher Sinnverständnisse der soziale Wirklichkeit zustandekommen. So zum Beispiel bei der selektiven Hervorhebung d Seite der Entstehung des industriellen Proletariats durch die bürgerlichen Historike die seine Freiheit, "Verkäufer von Arbeitskraft zu werden", als seine "Befreiung vo Dienstbarkeit und Zunftzwang" erscheinen läßt, dabei aber bequemerweise übersieh daß dieser Prozeß auch zum völligen Verlust der Kontrolle des Arbeiters über die Pr duktion führt 48 . Oder im ähnlich selektiven Verständnis der Geschichte durch die bü gerlichen Ökonomen: "Es gibt für sie nur zwei Arten von Institutionen, künstliche un natürliche. Die Institutionen des Feudalismus sind künstliche Institutionen, die d Bourgeoisie natürliche. Sie gleichen darin den Theologen, die auch zwei Arten von R ligion unterscheiden. Jede Religion, die nicht die ihre ist, ist eine Erfindung des Me schen, während ihre eigene Religion eine Offenbarung Gottes ist ... Somit sind (d Verhältnisse der bürgerlichen Produktion) selbst vom Einfluß der Zeit unabhängige N turgesetze. Es sind ewige Gesetze, welche stets die Gesellschaft zu regieren haben49 Oder in Marx' klassischer Beschreibung des selektiven Drucks, den die kapitalistisch Teleonomie auf die Vorstellungskraft von Politikern in der repräsentativen Demokrat ausübt: "Man muß sich ebensowenig vorstellen, daß die demokratischen Repräsenta ten nun alle shopkeepers sind oder für dieselben schwärmen. Sie können ihrer Bildun und ihrer individuellen Lage nach himmelweit von ihr getrennt sein. Was sie zu Vertr tern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskom men, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufg ben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interess und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis d politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten 50 Marx' empirisches Studium von Ideologien zeigt sie typisch nicht als die unveränderl che mechanische Folge einer ökonomischen Ursache, sondern als Resultat einer Au wahl aus bestehenden Alternativen. Es zeigt die Vielfalt ihrer Erscheinungsformen, d so charakteristisch für das Ergebnis evolutionärer Prozesse ist. Es zeigt, daß sie unte Herrschenden und Beherrschten entstehen können. Es macht das komplexe Netzwer von Menschen und Institutionen sichtbar, das für die Verbreitung solcher Ideologie sorgt. Und es zeigt, daß sie ihre Rolle als die herrschenden Ideen einer Epoche letztlic auf Grund ihres adaptiven Werts für ein bestimmtes Herrschaftsprojekt erhalten.
Ursache oder ein übergeordnetes Ziel bestimmt wird und sich durch eine lineare Sequenz von Stufen bewegt, folgt sie aus evolutionärer Sicht keinerlei immanenter Richtungslogik. Evolutionäre Theorie befaßt sich mit dem Ablauf historischer Ereignisse, die durch ein einziges Prinzip erklärt werden können: dem der unterschiedlichen Reproduktion oder Verbreitung. Aber dieses Prinzip erklärt weder die Richtung der Artformung, noch die phänotypischen Merkmale einer Art. "The biosphere does not contain a predictable dass of objects or of events but constitutes a particular occurrence, compatible indeed with first principles, but not deducible from those principles and therefore essentially unpredictable 51 ." In der Frage der Richtung soziokultureller Entwicklung, vor allem seiner intuitiven Sicht als "Fortschritt", hat sich universalgesetzliches Denken am hartnäckigsten erwiesen, selbst in Theorien, die sich ausdrücklich als evolutionär verstehen. Sowohl Marx' wie auch Darwins Theorien enthalten solche Elemente. Die Schwierigkeiten, die Marx in dieser Hinsicht macht, sind legendär. Ich habe versucht, zu zeigen, daß seine Beziehung zu Darwin nicht auf einige anerkennende Bemerkungen beschränkt ist. Auf der anderen Seite ist es aber auch nicht schwierig, im "Kapital" oder in Engels' "Dialektik der Natur" und "Anti-Dühring" viele Bemerkungen zu finden, die die geschichtliche Entwicklung auf "wissenschaftliche" Gesetze zurückführen und menschliches Handeln zur mechanischen Konsequenz von Produktionsbeziehungen werden lassen. Dies ist in Marx' und Engels' späteren Arbeiten wiederum durchsetzt von einer zunehmenden Beunruhigung über die deterministische Interpretation ihrer Ideen. Sahlins 52 und Gouldner 53 haben sich mit diesen "beiden Marxismen" im Einzelnen befaßt. Ich möchte nicht zu dieser Diskussion beitragen. Ich habe stattdessen versucht, die Folgerungen aus den Hinweisen von Marx auf die Parallelen zwischen seiner und Darwins Theorie zu untersuchen und sie auf eine Darstellung menschlicher Geschichte als eines evolutionären Prozesses anzuwenden. Darwins Neigung zu universalgesetzlichen Annahmen ist am deutlichsten in seiner Übernahme von Spencers Begriff des Überlebens der Tüchtigsten. Marx wie Engels sehen diese ideologische, sozialdarwinistische Seite von Darwin, die die Doktrinen der bürgerlichen englischen Gesellschaft ins Königreich der Tiere überträgt 54 . Eine faire Kritik, weil Darwin trotz seiner vielen klaren Aussagen über die Unbestimmtheit des Evolutionsprozesses und der Vielfalt seiner Ergebnisse, trotz seiner Hinweise auf die mit dem Begriff der adaptiven Eignung verbundenen logischen Probleme 55 , und trotz seiner auf der Kenntnis der außerordentlichen Kompliziertheit selbst "primitiver" Organismen beruhenden Vermeidung jedes wertenden oder hierarchischen Vergleichs der einzelnen Arten, gelegentlich doch wieder darauf verfällt, in der Evolution das Wirken eines allgemeinen Gesetzes zu sehen, das zur "Perfektion" aller körperlichen und geistigen Artmerkmale hinführt 56 • Dieses Element hat einen langen Schatten über die Darwinsche Tradition geworfen. Morgan war einer der ersten, der aus seinem Treffen mit Darwin mit der überzeugung herauskam, daß natürliche Auslese "Verbesserung" bedeute, und beginnt folglich seine Ancient Society mit dem Gedanken, daß der Mensch sich in sei-
reduziert, die dem cost-accounting des modernen kapitalistischen Unternehmens genauso ähnlich ist wie Darwins "Kampf ums Dasein" Marx an den bürgerlichen Markt in England erinnerte 58 . Obgleich er gelegentlich erwähnt, daß das Ergebnis genetischer wie soziokultureller Evolution "nur ein Mischmasch von vielen möglichen" ist, schließt er doch wieder, daß "die Entwicklung der Zivilisation überall in einer definierbaren Sequenz abgelaufen ist"59 . Wir sind zurück in der unilinearen Geschichte. Die Theorie soziokultureller Evolution, die ich hier umrissen habe, besagt stattdessen, daß die Richtung der menschlichen Geschichte genauso unbestimmt ist wie die Richtung der Artenbildung. Die Formen soziokultureller Variation sind potentiell unbegrenzt und ihr Erscheinen weitgehend zufällig. Das gleiche gilt für die Teleonomien, die den Selektionsprozeß steuern. Und die Mittel, die im Verlauf der menschlichen Geschichte zu ihrer Anpassung ausgewählt werden, sind von außerordentlicher Vielfalt. Das bedeutet nicht, daß wir diesen Prozeß nicht beeinflussen und sein Ergebnis verändern können. Die hier dargestellte Theorie bindet nicht die menschlichen Teleonomien, insbesondere die der Herrschaft, an ein genetisches Schicksal, wie es viele neuere soziobiologische Ansichten menschlicher Geschichte tun. Gleichzeitig sagt sie uns aber auch, daß es keinen Weg gibt, menschliche Erfindungen - organisatorische, technische, kulturelle - so zu erklären, daß wir ihr Auftreten entlang eines determinierten linearen Pfades voraussagen können. Ich habe in den vorangehenden fünf Punkten zu zeigen versucht, daß die gleichen Prinzipien, die die genetische Evolution erklären, auch auf die soziokulturelle Evolution anwendbar sind. Die wichtigsten Unterschiede zwischen den beiden Prozessen, die genetische gegenüber der Verhaltensübertragung adaptiver Information, und die instinktiven gegenüber den kognitiv konstituierten Teleonomien, sind selbst das Ergebnis einer evolution ären Entwicklung von der organischen zur menschlichen Geschichte. Was beide vereint und was alle Formen von Leben, menschliche und nicht-menschliche zugleich, gemeinsam haben, ist dIe grundlegende Art ihres Operierens: die opportunistische Anpassung eines teleonomischen Projekts an Veränderungen, die zum größten Teil nicht voraussehbar sind. Es ist dieses opportunistische Funktionieren, die rationellste Antwort auf eine sich scheinbar zufällig verändernde Umwelt, das die gemeinsame Grundlage der Evolution organischen Lebens und menschlicher Kultur ist. Gleichzeitig ist sie das Merkmal, das die gesetzmäßige Struktur anorganischer Materie von den evolutionären und probabilistischen Prinzipien unterscheidet, denen die Entwicklung von Leben unterliegt. Ich bin Marx in der Annahme gefolgt, daß unter den Teleonomien, die die soziokulturelle Evolution ordnen, die Herrschaft eine besondere Position einnimmt. Sie ist nur eine Teleonomie von vielen. Aber die Vorteile, die sie einzelnen bringt, und die Tatsache, daß diese Vorteile bestimmte soziale Beziehungen zu anderen Menschen voraussetzen, hat Herrschaft einen Einfluß auf die soziokulturelle Evolution ausüben lassen, der von keiner anderen Teleonomie übertroffen wird. Marx gründete dieses Argument auf empirische Kenntnisse, und es hat sich in der Folge als sein vielleicht bedeutsam-
gehabt hat. Das Verständnis menschlicher Geschichte als soziokultureller Evolution, und ihrer letzten etwa 10.000 Jahre als einer Entwicklung, in der verschiedene Formen von Herrschaft die folgenreichste Schablone für die Auswahl und Verbreitung kultureller Variationen abgegeben haben, erlaubt uns, uns von der Vorstellung eines einheitlichen Wesens oder Grundes aller gesellschaftlicher Erscheinungen zu lösen, die die Sozialwissenschaften bis heute ebenso behindert, wie die Idee biblischer Schöpfung die Biologie vor Darwin belastete. Der hier vorgeschlagene Ansatz läßt uns die breite Streuung, Varianz und Unbestimmtheit der Ergebnisse soziokultureller Evolution erwarten, statt uns zu zwingen, unseren Theorien immer neue Schnörkel anzufügen, um divergierende Fakten in einen universalgesetzlichen Zusammenhang zu nötigen, oder an der Legitimität der Fakten selbst zu zweifeln. Aber eine evolutionäre Theorie entspricht nicht nur sehr viel besser der probabilistischen Form sozialwissenschaftlicher Daten, sondern auch ihren substantiellen Ergebnissen. Eins davon ist, daß Herrschaft selbst ursprünglich als kulturelle Erfindung in einer Vielzahl von Formen, Zeiten und Orten entsteht. Ihr Herausbilden ist das Ergebnis einer Kombination von "Startmöglichkeiten"60, d. h. kulturellen und materiellen Bedingungen, die vorteilhaft für ihr Entstehen sind, und der zufälligen Entdeckung und opportunistischen Ausnutzung dieser Bedingungen durch Einzelne oder Gruppen bei ihrem Versuch, Herrschaft über andere zu gewinnen. Sahlins gibt eine ausgezeichnete Darstellung einer solchen evolutionären Entwicklung 61 . Zweitens wird Herrschaft, wo sie einmal entstanden ist, selbst opportunistisch angepaßt. Ich habe an anderer Stelle gezeigt, daß dies selbst bei kapitalistischer Herrschaft der Fall ist und daß gerade ihr Erfolg auf die effiziente Ausnutzung von Bedingungen zurückgeführt werden kann, die sie nicht selbst schuf, die aber von Vorteil für ihre Ziele waren. Ich habe dabei auch auf die komplexen selektiven Wirkungen hingewiesen, die sich aus einem solchen Vorgehen ergeben 62 . Und schließlich scheinen mir unsere empirischen Forschungsergebnisse eindeutig auf die Unbestimmtheit der Richtung soziokultureller Evolution hinzuweisen. Das reiche Detail und die Vielfalt menschlicher Geschichte verwehrt sich jedem Versuch, sie in die Form von Stufenmodellen und linearen Geschichtstheorien zu zwingen. Im übrigen hat Granovetter63 darauf hingewiesen, daß eine systematische Rangordnung oder ein Vergleich des Fortschritts von Gesellschaften, selbst im Hinblick auf solche grundsätzlichen Kriterien wie ihre Fähigkeit zur Problemlösung, aus logischen Gründen nicht möglich ist. Dies ist natürlich eine Schlußfolgerung, die nicht gern von einer Sozialwissenschaft akzeptiert wird, deren Selbstverständnis sich seit langem vom epistemologischen Narzißmus genährt hat, Gesetze aufzuzeigen, die uns erlauben, unsere soziale Umgebung vorauszusagen und zu beherrschen. Aber ein solches Selbstverständnis kann nur auf Kosten der Vermeidung der empirischen Wirklichkeit aufrechterhalten werden, indem man entweder, wie Wilsons Soziobiologie, wJitreichende Schlüsse über die menschliche Geschichte zieht, ohne in ihr Alltagsdetail hinabzusteigen, oder indem man empirische Fakten ganz aus dem Paradies der ewigen Seligkeit theoretischer Abstraktion vertreibt64 .
Science, New York 1973 (meine übersetzung). 3 E.P. Thompson, The Poverty of Theory, New York 1978. 4 T. Parsons, On the Concept of Value Commitments, in: Sociological Inquiry, Bd. 38, 1968 S.142. 5 M.}. Levy, Social Patterns (structures) and Problems of Modernization, in: W.E. Moore, R.M. Gook (Hrsg.), Readings on Social Change, Englewood Cliffs, 1967, S. 190. 6 M. Sahlins, E.R. Service, Evolution and Culture, Ann Arbor 1960. 7 }.H. Steward, Theory of Culture Change, Urbana 1963 (meine übersetzung). 8 W. Leiss, The Domination of Nature, Boston 1972, S. 103-123. 9 M. Blute, Sociocultural Evolutionism: an Untried Theory, in: Behavioral Science, Bd. 24, 1979 S.54. 10 }encks findet zum Beispiel, daß Glück, zufällige Veränderungen von Rahmenbedingungen ode zufälliger Arbeitsplatzwechsel etwa 50 % der Einkommensunterschiede und etwa 25 % der Un terschiede im Beschäftigungsstatus amerikanischer Männer zwischen 25 und 64 Jahren erklären G. }encks, Who Gets Ahead? The Determinants of Economic Success in America, New York 1979. 11 R.M. May, Simple Mathematical Models with Very Complicated Dynamics, in: Nature, Nr. 261 1976, S. 467, 469. Die Bedeutung von Mays Argument für die Sozialwissenschaften wird auch behandelt in: M. Granovetter, The Idea of "Advancement" in Theories of Social Evolution and Development, in: American Journal of Sociology, Vol. 85, No. 3, 1979, S. 489-515. 12 Thompson, a.a.O., S. 49. 13 ebd., S. 49, 50. 14 ebd., S. 88 (meine übersetzung). 15 ebd., S. 57. 16 M. Sahlins, Culture and Practical Reason, Chicago 1976, S. 206. 17 ebd., S. 206 (meine übersetzung). 18 Blute, a.a.O., S. 47. 19}. T. Bonner, The Evolution of Culture in Animals, Princeton 1980, S. 138. 20 K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1962, S. 489. 21 K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1968, S. 193. 22 Blute, a.a.O., S. 56. 23 D.A. Norman, Post-freudian Slips, in: Psychology Today, April 1980, S. 42-50. 24 Bonner, a.a.O., S. 138. 25 May, a.a.O.; R.M. May, G.F. Oster, Bifurcations and Dynamic Complexity in Simple Ecologica Models, in: The American Naturalist, Nr. 110, 1976, S. 573-599. 26 D.F. Gampbell, Natural Selection as an Epistemological Model, in: R. Naroll und R. Gohen (Hrsg.), A Handbook of Methods in Cultural Anthropology, Garden City 1970, S. 51-85. 27 }. Monod, Chance and Ne cessity , New York 1972, S. 125. Zum Konzept der Teleonomie siehe auch G.G. Williams, Adaptation and Natural Selection, Princeton 1966. Der Begriff der Tele onomie muß klar von dem der Teleologie getrennt werden, der ein häufiges Merkmal universal gesetzlicher Theorien ist. Teleologien sind unveränderliche Endpunkte für die Organisation gan zer sozialer Systeme oder für eine Folge von Stufen sozialen Wandels. Teleonomien in der Evo lutionstheorie organisieren die selektive Anpassung einer bestimmten Art. Verschiedene Arten haben verschiedene Teleonomien, die gemeinsame Elemente ausweisen können, aber nicht durch ein gemeinsames Ziel verbunden sind. Teleonomien sind selbst variabel und werden durch evolu tionäre Änderungen von Artmerkmalen beeinflußt, die zu einem Wechsel der physiologischen Bedürfnisse einer Art führen. 28 Bonner, a.a.O., S. 187. 29 E.O. Wilson, On Human Nature, New York 1978, S. 35. 30 E.O. Wilson, Sociobiology, Cambridge 1975, S. 255. 31 Bonner, a.a.O., S. 183, 184. 32 ebd., S. 176, 177. 33 Marx, Engels, Bd. 23, S. 133. 34 ebd., S. 392, 393.
39 K. Marx, Das Kapital, Bd. 111, Frankfurt 1968, S. 799. Siehe auch Grundrisse, S. 400 (meine Hervorhebung). 40 Marx, Grundrisse, S. 384. 41 ebd., S. 386. 42 ebd., S. 376, 377. 43 Wilson, a.a.O. (1975). 44 K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. 4, Berlin 1964, S. 464. 45 Marx, Das Kapital, Bd. 111, S. 347. 46 Marx, Engels, Bd. 4, S. 152. 47 Marx, Engels, Bd. 23, S. 743. 48 ebd., S. 743. 49 Marx, Engels, Bd. 4, S. 139. 50 K. Marx, F. Engels, Werke, Bd. 8, Berlin 1960, S. 142. 51 Monod, a.a.O., S. 43. 52 Sahlins, a.a.O., Kap. 3. 53 A. W. Gouldner, The Two Marxisms, New York 1980. 54 Marx, Engels, Bd. 20, S. 565. 55 C. Darwin, The Origin of Species, New York 1958, S. 182. 56 ebd., S. 450. 57 E.B. Leacock, Introduction, in: F. Engels, The Origin of the Family, Private Property and the State, New York 1972, S. 10 (meine übersetzung). 58 M. Sahlins, The Use and Abuse of Biology, London 1977. 59 Wilson, a.a.O. (1978), S. 91 (meine übersetzung). 60 M. Sahlins, Stone Age Economics, Chicago 1972. 61 M. Sahlins, Poor Man, Rich Man, Big-man, Chief: Political Types in Melanesia and Polynesia, in: Comparative Studies in Society and History, Bd. 5, 1963, S. 285-303. 62 B. Ba Idus, Social Control in Capitalist Societies: An Examination of the "Problem of Order" in Liberal Democracies, in: Canadian Journal of Sociology, Bd. 2, 1977, S. 247-261. 63 Granovetter, a.a.O. 64 B. Hindess, P.Q. Hirst, Pre-capitalist Modes of Production, London 1975.
Von Karin D. Knorr
My lord, facts are like cows. If you look them in the face hard enough, they generally run away. Dorothy L. Sayers
I. Die Fabrikation von Fakten
In Dorothy Sayers' Vergleich zwischen Fakten und Kühen halten sich eine philosophische und eine methodologische Ansicht versteckt. Die philosophische Ansicht besagt daß Fakten nicht der Felsen sind, auf dem unser Wissen aufbaut. Fakten sind vielmehr problematisch und tendieren dazu, sich in nichts aufzulösen, sobald man sie nur genau ansieht. Die methodologische Aussage ist, daß man genau hinsehen muß. Fakten, wie Haustiere, haben offenbar lange genug mit uns gelebt, um im gewohnten Umgang unangefochten zu bleiben. Daß Fakten in der Tat problematisch sind, ist der Philosophie seit langem bekannt. So ist etwa die Suche nach der Natur des Faktischen - als Kern der Suche nach der Natu von Wissen und Erkenntnis - mit ein Hauptgrund für die Weiterentwicklung epistemo logischer Theorien. Die Schlüsselfrage ist dabei, wo das Problem anzusetzen und wie es anzugehen sei. Kant hat die Frage bekanntlich mit der Suche nach den Bedingungen der Möglichkeit reiner Naturwissenschaft beantwortet und ihre Lösung in den Katego rien menschlichen Denkens angesetzt. In jüngeren Erkenntnistheorien erscheint das Problem von der Konstitution des Faktischen durch das wissende Subjekt auf eine Reihe anderer Bereiche verschoben. Am einflußreichsten war wohl die Hinwendung zur Wissenschaftslogik, von manchen als Objektivismus bezeichnet!. Für den Objekti vismus besteht die Welt aus Fakten, die zu beschreiben das Ziel der Wissenschaft ist Die empirischen Gesetzmäßigkeiten und theoretischen Erklärungshypothesen der Wis senschaft sind demgemäß im wörtlichen Sinn (und nicht etwa nur im übertragenen) al Weltbeschreibungen aufzufassen 2 . Wenn aber wissenschaftliches Wissen nichts andere ist als Wirklichkeit repräsentiert durch die Wissenschaft, dann kann die Frage nach de Natur des Faktischen als die Frage formuliert werden, wie die Logik wissenschaftliche Welt erklärung die gesetzmäßige Struktur der Wirklichkeit konserviert 3 . Die Vorstellung, daß das Problem der Faktizität in der Korrespondenz zwischen den Produkten der Wissenschaft und der externen Welt anzusiedeln sei, ist nicht unwider
Charles s. Peirce zu zeigen, daß der vom Objektivismus ignorierte Prozeß der Forschung (der "context of discovery") selbst das logische Referenzsystem beinhaltet, das die Objektivierung der Realität möglich macht 4 . Das Problem der Faktizität wird damit ebensosehr zum Problem der Wirklichkeitskonstitution durch die Logik wissenschaftlicher Vorgehensweise wie zu einem Problem der Logik von Welterklärungen. Die Arbeit von David Bohm (1957), Norwood Hanson (1958), Thomas Kuhn (1970) und Paul Feyerabend (z.B. 1962) hat dem die These von der Theorie-Abhängigkeit von Beobachtungssätzen hinzugefügt und somit eine Bedeutungskonstituiertheit wissenschaftlicher Ergebnisse behauptet s . Schließlich wurde der Objektivismus auch innerhalb des eigenen Lagers für die Annahme einer gesetzmäßig durch konstante Konjunktionen von Ereignissen bestimmten faktischen Welt kritisiert 6 . Nach dieser Kritik resultieren konstante Ereignisabfolgen aus der Forschungsarbeit, die im Labor geschlossene Systeme schafft, in denen eindeutige Resultate möglich und wiederholbar werden, während in der Praxis solche konstanten Ereignisabfolgen rare Ausnahmen sind. Die Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaft sind demnach als regel-ähnlich und transfaktisch eher denn als deskriptiv adäquat anzusehen. Und der praktische Erfolg der Naturwissenschaft muß mehr mit der Fähigkeit der Wissenschaftler in Zusammenhang gebracht werden, Situationen als ganzes zu analysieren, Anhaltspunkte zu erkennen, auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig zu denken etc., als mit wissenschaftlichen Gesetzen. Dem kann hinzugefügt werden, daß die Wissenschaft selbst oft mit Erfolgsmodellen arbeitet, die ohne die Annahme einer deskriptiven Korrespondenz zwischen Wirklichkeit und Wissen auskommen. So wendet etwa die Psychiatrie erfolgreich Therapien bei einer Reihe von psychischen Störungen an, für die sie keine deskriptiv adäquaten Erklärungen hat, noch zu benötigen glaubt. Einfacher und klarer ist vielleicht das Beispiel einer Maus, die vor der Katze davonläuft 7 • Sollen wir annehmen, daß die Maus läuft, weil sie in ihrem Kopf eine korrekte Abbildung der natürlichen Feindschaft der Katze verankert hat? Oder genügt es anzunehmen, daß Arten, die nicht vor ihren natürlichen Feinden fliehen, mit der Zeit aufhören zu existieren? Wie der Fortschritt der biologischen Evolution, so läßt sich vermutlich auch die Entwicklung der Wissenschaft über Mechanismen deuten, die nicht voraussetzen, daß Wissen die Natur nachbildet. Die Kritik am empirischen Realismus weist auf einen weiteren Aspekt der konstitutiven Rolle hin, die sowohl Pragmatismus als auch Skeptizismus der Wissenserzeugung zuschreiben: nämlich darauf, daß der Experimentator als kausale Ursache der erhaltenen Ereignisfolge gesehen werden muß und daß die Ereigniszusammenhänge als von uns geschaffen - und nicht als einfach gegeben - zu betrachten sind. Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, die Verweise auf die konstitutive Rolle der Wissenserzeugung ernst zu nehmen und einen Wissensbegriff zu skizzieren, der Erkenntnis zunächst als von Menschen gemachte Erkenntnis betrachtet. Anstatt Wissen als eine Repräsentation von Wirklichkeit zu analysieren, kann man es als aus dieser Wirklichkeit fabriziert ansehen. Anstatt die externen Beziehungen zwischen Wissen und Natur im Rahmen eines deskriptiven Modells zu untersuchen, kann man Wissensproduktion als konstruktiven
Fabrikation von "Fakten", und damit von Wissen, formuliert. Damit ist auf einen g sellschaftlich relativierten Wissensbegriff abgezielt, der bei der Erzeugung von Wisse als grundsätzlich analysierbaren und spezifizierbaren gesellschaftlichen Prozeß ansetzt Aufgrund der relativen Hegemonie, die die Wissenschaft im Bereich der Erzeugung a torisierter und autoritativer Erkenntnis ausübt, wird ein gesellschaftlich relativierte konstruktiver Wissensbegriff, der in Gegensatz zum herrschenden Natur-relativierte deskriptiven Wissensbegriff tritt, vor allem für die Wissenschaft nachgewiesen werde müssen. Ein solcher Begriff zeichnet sich auf der Basis von einigen in letzter Zeit en standenen direkten Beobachtungsstudien des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse zumindest in den Konturen ab 9 . Ziel solcher auf analytisch-mikroskopische Betrac tung bedachten Studien ist es, der Struktur von Wissen überhaupt näher zu komme Es steht zu hoffen, daß - ausgehend von einem für die Wissenschaft dokumentierte konstruktiven Wissensbegriff - die alten Fragen der Wissenssoziologie im Rahme einer solchen neu definierten Mikrosoziologie des Wissens wieder aufgenommen we den können.
II. Die konstruktive Wissensinterpretation: 1. Die Natur und das Forschungslabor
Was genau ist mit der Behauptung gemeint, daß die Wissenserzeugung als ein konstru tiver - und nicht etwa als ein deskriptiver - Prozeß aufzufassen sei? Beginnen wir z nächst mit der Arbeit im Laboratorium. Selbst ein kurzer Aufenthalt im wissenschaf lichen Labor wird zeigen, daß das deskriptive Modell der Forschung und mit ihm d Rede von "Wahrheit", vom "Hypothesen-testen" u.ä., kaum zur Erfassung des Fo schungsprozesses geeignet sind. So finden wir z. B. nirgends im Laboratorium die "N tur" und die "Realität", die von so kritischer Bedeutung für das deskriptive Modell is Das meiste, mit dem Wissenschaftler im Labor zu tun haben, ist hochgradig vorstrukt riert, wenn nicht zur Gänze artifiziell. Woraus besteht etwa ein wissenschaftliches L bor? Aus einer Ansammlung von Instrumenten und Apparaten in einem Arbeitsrau mit Tischen und Stühlen, Stellagen voll von Chemikalien und Glasgefäßen, Kühl- un Tiefkühlschränken voll mit sorgfältig bezeichneten Proben und Ausgangsmaterialie Pufferlösungen und fein gemahlene Alfa-Alfa-Blätter, Einzeller-Proteine, Blutprobe von den Testratten und Lysozyme. Alle Ausgangsmaterialien sind spezifisch für d Labor gezogen und gezüchtet. Die meisten der Substanzen und Chemikalien sind pr pariert: isoliert und gereinigt stammen sie aus der eigens für die Wissenschaft arbeite den Industrie oder aus anderen Laboratorien. Ob sie nun gekauft oder von den Wisse schaftlern selbst präpariert wurden, diese Substanzen sind genauso das Produkt mensc licher Erzeugung wie die Meßinstrumente oder die Artikel auf dem Schreibtisch. D Natur scheint offenbar im wissenschaftlichen Labor nicht auf, es sei denn, man def niert sie von vornherein als das Produkt wissenschaftlicher Arbeit.
ser Gebrauch unterscheidet sich nicht von unserem Alltagsgebrauch solcher Worte in einer Reihe von pragmatischen und rhetorischen Funktionen, die kaum etwas mit der epistemologischen Konzeption von Wahrheit zu tun haben. Falls es ein Prinzip gibt, das das Forschungshandeln steuert, so kommt es wohl am ehesten im Ziel der Wissenschaftler, die Dinge zum Funktionieren zu bringen (to make things work), zum Ausdruck. Diese Beschäftigung damit, ob etwas "geht" oder "nicht geht" und wie es zum Funktionieren zu bringen sei, weist aber eher auf Erfolg als auf Wahrheit als handlungsleitendes Prinzip von Forschungsarbeit hin. Es braucht nicht extra betont zu werden, daß die Dinge zum Funktionieren zu bringen nicht gleichbedeutend damit ist, sie zu testen und dabei möglichst zu falsifizieren. Noch ist es damit gleichbedeutend, kritiklos zu verifizieren. Wissenschaftler sehen sich im eigenen Interesse gegen spätere Angriffe dadurch vor, daß sie mögliche Kritik vorwegnehmen und durch ihre Arbeit entgegnen, bevor sie diese Arbeit publizieren. Die Rede der Wissenschaftler darüber, ob, wie und unter welchen Umständen "etwas geht", zeugt nicht von einem naiven Verifikationismus, sondern davon, daß Wissen in der Werkstatt, die das Labor darstellt, instrumentell fabriziert werden muß. Aber nicht nur Begriffe wie "Wahrheit" und "Natur" sind im Laborbetrieb fehl am Platz. Ähnliche Schwierigkeiten bereitet es, im Labor die "Theorien" aufzuspüren, die wir gemeinhin mit Wissenschaft assoziieren. Wissenschaftliche Theorien nehmen im Labor einen eigentümlich atbeoretiscben Charakter an: sie bleiben versteckt in partiellen Interpretationen dessen, "was vorgeht" und "was etwas bedeutet", und sind nicht geschieden von, sondern vielmehr hineinverwoben in den Prozeß instrumenteller Manipulation. Statt der bekannten Entfremdung zwischen Theorie und Praxis finden wir im Labor eine Mischung von Handlung und Kognition, auf die der traditionelle Begriff der Theorie nicht mehr adäquat angewendet werden kann. Gemäß der Aussage der Wissenschaftler selbst sind Theorien im Forschungsprozeß mehr verwandt mit politischen Strategien als mit geglaubten Inhalten lO . Politische Strategien sind mit Interessen verbunden, ebenso wie die Besessenheit der Wissenschaftler, die Dinge "zum Gehen" zu bringen. Die Zuschreibung reiner Theorie ist eine Illusion, die der Wissenschaft von der Philosophie erhalten geblieben ist ll .
2. Die Entscbeidungs-Geladenbeit der Wissensfabrikation Daß sich die mit dem deskriptiven Forschungsmodell verbundenen Begriffe im Labor als inadäquat erweisen, kommt nicht überraschend, wenn man den Ursprung des Modells in der abstrakten Wissenschaftsbetrachtung bedenkt. Ebenso wenig sollte es überraschen, daß die direkte Beobachtung von Forschungsarbeit zu Neukonzeptionen führt. Wir haben den in Frage stehenden Prozeß als konstruktiv - anstelle von deskriptiv - bezeichnet und Konstruktivität zunächst einmal mit dem Fehlen von Natur am Ort wissenschaftlicher Arbeit in Zusammenhang gebracht. Gehen wir nun einen Schritt weiter. Behauptet wird, daß die Produkte der Wissenschaft kontext-spezifische Kon-
Wissensprodukte durch den Prozeß ihrer Produktion als hochgradig intern strukturier angesehen werden müssen, unabhängig von der Frage ihrer externen Strukturierung durch eine Korrespondenz oder Nicht-Korrespondenz mit der Natur. Wie kann man diese interne Strukturierung präziser in den Griff bekommen? Wissenschaftliche Resultate, einschließlich empirischer Daten, sind das Resultat eines Fabrikationsprozesses. Fabrikationsprozesse involvieren eine Kette von Entscheidungen und Verhandlungen, durch die die entsprechenden Resultate zustandekommen. Anders ausgedrückt, sie erfordern Selektionen. Selektionen können ihrerseits nur auf der Basis anderer Selektionen getroffen werden: sie basieren auf der Übersetzung in weitere Selek tionen. Man stelle sich einen Wissenschaftler vor, der an einer elektronischen Tischrechenma schine sitzt und eine Regression für seine Texturmessungen berechnet. Die Maschine wählt eine mathematische Funktion aus, die sie an die Daten anlegt. Um unter den 8 verfügbaren Funktionen zu wählen, braucht sie ein Kriterium. Solche Kriterien sind nichts als Selektionen zweiter Ordnung: Sie stellen eine Auswahl unter anderen mögli chen Kriterien dar, in die eine Selektion erster Ordnung übersetzt werden kann. Unse Wissenschaftler hat als Kriterium eine Kombination von Maximum R 2 und dem Mini mum unter den maximalen absoluten Residuen gewählt. Die exponentielle Funktion die er erhält, "gefällt" ihm jedoch nicht. Er läßt d.ts Programm nochmals durchlaufen und verlangt eine lineare Funktion, deren Resultate er "nicht viel schlimmer" findet Die Grundidee ist, wie er sagt, eine Gleichung und evtl. einen Beta-Koeffizienten eine Größe für alle Durchläufe des Problems zu erhalten, da es "viel zu verwirrend" wäre für jeden Einzelfall verschiedene Funktionen zu präsentieren. Um zu einer Entscheidung zu gelangen, hatte das Programm die Selektion einer Funk tion in die Selektion zwischen 2 Formen des "statistical fit" der Kurven übersetzt Unser Wissenschaftler hatte in einer schrittweisen Prozedur Übersetzungen in andere Kriterien, wie in das der Gleichförmigkeit der Beziehung über verschiedene Vergleichs daten oder in das der Linearität, hinzugefügt. Solche Problemübersetzungen können als inhärenter Bestandteil von Entscheidungen, oder um einen Ausdruck Luhmanns zu gebrauchen, von Selektivität im allgemeinen bezeichnet werden l2 . Sie erlauben, wis senschaftliche Produkte als intern konstruiert zu sehen, nicht nur in Hinblick auf die Laboratoriumsselektionen, durch die sie zustandekommen, sondern auch in Hinblick auf die Übersetzungen, die in diesen Selektionen verkörpert sind 13. Wissenschaftliche Produkte sind somit auf mehreren Ebenen der Selektivität struktu riert. Diese .Komplexität wissenschaftlicher Produkte ist in sich selbst interessant in sofern, als ~ie andeutet, daß unter ungleichen Bedingungen kaum mit der Reproduk tion desselben Wissensresultates zu rechnen ist: Die Wiederholung einer bestimmten Konstellation von Selektionen wird umso unwahrscheinlicher, je weniger dieser Selek tionen fixiert sind bzw. in ähnlicher Weise vorgenommen werden. Da die in einem Ge biet arbeitenden Wissenschaftler durch Kommunikation, Kooperation und Konkurrenz miteinander in Beziehung stehen und überdies oft die gleichen Instrumente und Aus
auch diejenigen Anknüpfungspunkte, durch die Laborselektionen mit dem relevanten Forschungskontext verwoben sind, worauf wir noch zurückkommen werden. Um einen Abschluß zu erreichen, müssen Selektionen in weitere Selektionen übersetzt werden. Um diesen Abschluß wieder aufzubrechen, werden getroffene Selektionen in Frage gestellt. Selektionen können genau deshalb in Frage gestellt werden, weil sie Selektionen sind: d. h. gerade weil sie die Möglichkeit alternativer Selektionen einschließen. Wenn wissenschaftliche Resultate über Selektionen aus der Realität herausgemeißelt sind, können sie durch Infragestellung der Selektionen, die sie verkörpern, auch dekonstruiert werden. Wenn wissenschaftliche Fakten fabriziert sind im Sinne ihrer Herleitung von bestimmten Entscheidungen, so können sie durch alternative Entscheidungen deklassiert werden. In wissenschaftlicher Arbeit ist die Selektivität der in den Resultaten früherer wissenschaftlicher Arbeit erstarrten Selektionen selbst das Thema für weitere Untersuchungen. Gleichzeitig stellen die in früheren Arbeiten getroffenen Selektionen diejenige Ressource dar, die weitere Forschungen ermöglicht. Sie stellen die Methoden, Geräte und Interpretationen zur Verfügung, auf die die Wissenschaftler in ihrer Arbeit zurückgreifen. Der "artifizielle" Charakter des wichtigsten wissenschaftlichen Gerätes, des Labors, besteht genau darin, daß es nichts weiter als eine lokale Ansammlung materialisierter früherer Selektionen darstellt. Gleichzeitig bewirken solche getroffenen Selektionen allerdings auch, daß die Bedingungen für weitere Entscheidungen modalisiert werden. Wissensprodukte sind nicht nur entscheidungsimprägniert, sondern auch entscheidungsimprägnierend, da sie neue Probleme vorstrukturieren und deren Lösungen prädisponieren. Wissenschaftliche Arbeit besteht zusammenfassend ausgedrückt aus der Realisierung von Selektivität in einem von vorhergehenden Selektionen konstituierten Raum, der im wesentlichen indeterminiert ist. Ökonomisch ausgedrückt heißt dies, daß wissenschaftliche Arbeit die Re-investierung früherer Arbeit in einem Zyklus erfordert, in dem die in Wissensprodukten festgehaltenen Selektionen selbst der Inhalt und das Kapital der Arbeit sind. Was reproduziert wird, ist der Selektivitätszyklus selbst. Diese Form der Autokapitalisierung in Hinblick auf Selektivität erscheint als eine Voraussetzung für die Akkumulation wissenschaftlicher Resultate. Sie kann durch Erhöhung der finanziellen Ressourcen der Wissenschaft bzw. der Zahl der Wissenschaftler vervielfacht werden. Die Umwandlung wissenschaftlicher Produkte in Forschungsgeld, wie sie von rezenten quasi-ökonomischen Modellen des Wissenschaftssystems beschrieben wird, bezieht sich auf diesen Aspekt 14 . Wir können auch sagen, sie bezieht sich auf wissenschaftliche Produktivität anstatt auf Wissensproduktion.
III. Das Laboratorium: "context of discovery" oder "context of validation "? Wissenschaftliche Untersuchung als konstruktiv anstatt als deskriptiv anzusehen, heißt Wissensprodukte als hochgradig durch Selektionen strukturiert zu verstehen.
philosophie auf deren "context of discovery" verschoben? Oder aus dem von de Soziologie untersuchten Bereich der Konsensbildung in der Wissenschaft hin zur Frage nach dem Ursprung der Entdeckungen, über die ein Konsens gebildet werden soll? Die Antwort auf solche Fragen ist ein schlichtes Nein. Beginnen wir mit der wissen schaftsphilosophischen Behauptung, daß Validierung in der Praxis ein Prozeß ratio naler Konsensbildung innerhalb der Wissenschaftlergemeinde seils. Da die validie renden Wissenschaftler der Annahme nach unabhängig von den Wissensproduzenten sind, bildet ihr kritisches Urteil eine objektive Basis für die Validierung. Betrachten wir allerdings den Prozeß der Wissensproduktion in genügendem Detail, so stellt sich z. B. heraus, daß Wissenschaftler im Labor ihre Entscheidungen und Selektionen stän dig auf die vermutliche Reaktion bestimmter Mitglieder der Wissenschaftlergemeinde die als "Validierende" in Frage kommen, beziehen, ebenso wie auf die Politik de Zeitschrift, in der sie zu publizieren vorhaben. Entscheidungen werden danach ge troffen, was gerade "in" und was "out" ist, was man machen und nicht machen "kann", mit wem man dabei in den "Clinch" gerät und mit wem man sich durch sie in eine Koalition begibt. Kurz, die Entdeckungen werden im Labor in Hinblick au deren vermutliche Kritik und Akzeptierung getroffen (ebenso wie in Hinblick au vermutliche Allianzen und Anfeindungen). Gleichzeitig findet man im Wissenschaftsbetrieb, <-'aß die Beurteilung von Resultaten mit einem Seitenblick auf ihren Ursprung vorgenommen wird. Ob ein Forschungs resultat als plausibel oder unplausibel, als interessant, unglaubwürdig oder gar als absurd bezeichnet wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wer als Autor verantwortlich zeichnet, wo die Forschungen gemacht wurden und wie sie durchgeführt wurden Die Wissenschaftler reden über die Motive und Interessen l6 , die die "gefundenen" Resultate erklären, über die instrumentellen und finanziellen Möglichkeiten derer die die Forschung durchgeführt haben, oder darüber, wer "hinter" den Ergebnissen steckt. Sie identifizieren praktisch die Resultate mit den Umständen ihrer "Ent deckung". Die Wissenschaftlergemeinde selbst mißt dem "context of discovery" also entscheidende Bedeutung bei, wenn es um die Beurteilung eines Erkenntnisanspruches geht. Auf allgemeinerer Ebene muß man sich vor Augen halten, daß sowohl die Produzen ten als auch die Beurteiler von Erkenntnisansprüchen gemäß jenen, die die Unter scheidung von Entdeckungs- und Bewertungskontext befürworten, Teil derselben Wissenschaftlergemeinde sind. Man unterstellt damit, daß sie ein Grundwissen ebenso wie manche Bewertungsstandards, professionelle Präferenzen und Bewertungsweisen teilen. Außerdem gilt, daß die Beurteiler eines Wissensproduktes gleichzeitig diejeni gen Kunden sind, die das Produkt möglicherweise für ihre eigenen Forschungen brau chen. Wie erwähnt, stellen die Selektionen früherer Forschung eine Ressource für die Weiterführung wissenschaftlicher Arbeit dar, ebenso wie sie ein Thema späterer Proble matisierungen sind. Schließlich handelt es sich bei den kompetentesten Beurteilern eines Forschungsresultates oft gerade um die gefährlichsten Konkurrenten um den
ihre Dienstleistungen brauchen, bzw. die Konkurrenten um wissenschaftlichen Kredit und finanzielle Mittel, die auf einem Spezialgebiet arbeiten, gleichzeitig als voneinander unabhängig gelten und in diesem Sinn Objektivität beanspruchen können sollen. Es gibt noch einen zweiten Aspekt der unterstellten Trennung zwischen Entstehungsund Bewertungskontext, der hier zu kritisieren ist. Wir haben gehört, daß Bewertung bzw. Akzeptierung in der Praxis als Prozeß der Konsensbildung gesehen werden, wobei der Prozeß als "rational" oder als "sozial" qualifiziert wird. Aber ob nun rational oder sozial, der Vorgang wird als Meinungsbildungsprozeß verstanden und als solcher aus dem Prozeß der Wissens produktion selbst herausgenommen. Damit in Verbindung steht auch die bekannte These, daß Studien der Wissensentstehung nichts mit den Fragen der Wissensakzeptierung zu tun haben und auch nichts zu deren Aufklärung beitragen können. Wo aber finden wir den Prozeß der Beurteilung von Erkenntnisansprüchen, wenn nicht in signifikantem Ausmaß im Labor selbst 17 ? Wenn nicht im Bereich der Forschungsentscheidungen, durch die ein früheres Ergebnis, eine Methode oder eine vorgeschlagene Interpretation ausgewählt und in neue Resultate eingebaut wird? Was ist der Prozeß der Wissensakzeptierung, wenn nicht ein Prozeß selektiver Inkorporation früherer Resultate in die laufende Forschungsproduktion? Ihn als Meinungsbildungsprozeß zu sehen, ruft eine Reihe irriger Vorstellungen hervor. So haben wir z. B. keinen Zugang zur allgemeinen oder durchschnittlichen Meinung relevanter Wissenschaftler unabhängig von deren Forschungsentscheidungen, noch besitzen wir Wissenschaftsgerichtshöfe, in denen solche Meinungsbildungsprozesse objektiv abgewickelt werden könnten. Da die Beziehung zwischen Meinungen und tatsächlichem Handeln ungeklärt ist, wäre mit den entsprechend aggregierten Meinungen auch gar nichts anzufangen: konsistente Präferenzen im weiteren Forschungsprozeß könnten damit jedenfalls nicht vorausgesagt werden. Womit wir in der Praxis konfrontiert sind, ist eben nicht ein Meinungsbildungsprozeß, sondern die Erhärtung bestimmter Erkenntnisansprüche durch kontinuierliche Eingliederung in die laufende Forschung 18 . Dies bedeutet aber, daß der Ort dieser Erhärtung der Entstehungszusammenhang von Wissen ist, oder in den früher gewählten Termini, die Selektionen, durch die Wissensprodukte im Labor generiert werden.
IV. Die Kontextualitiit der Wissenskonstruktion Bleiben wir noch einen Moment bei der These, daß eine Untersuchung der Wissensproduktion im Labor gleichzeitig Teil einer Untersuchung der Wissensakzeptierung darstellt. Die Eingliederung eines früheren Ergebnisses in die laufende Forschung wird als Schritt zur Wissenserhärtung betrachtet. Die Selektion einer bestimmten Methode reproduziert z. B. die Methode und erhöht damit die Chancen auf deren weitere Selektion. Eine wichtige Frage ist daher, wie Selektionen im Prozeß der Wissensproduktion getroffen werden.
Entscheidung getroffen wurde. Fragen wir z. B., warum ein bestimmtes Meßinstrumen in einem bestimmten Fall verwendet wurde, so rangieren die Antworten von "Weil e teuer und selten ist und ich es kennenlernen wollte" bis zu "Es kostet einfach wenige Energie"; von ,,]ohn hat es mir empfohlen und mir gezeigt, wie man damit umgeht" bis zu "Es stand hier herum, daher war es das einfachste"; von "Was ich ursprünglich wollte, hat nicht funktioniert, daher hab' ich etwas neues probiert" bis zu "Man ha mich ersucht, den Apparat zu verwenden, um die Anschaffung zu rechtfertigen"; von "Meiner Erfahrung nach funktioniert das immer" bis zu einem erstaunten "Was hätt ich denn sonst nehmen sollen?" Aus den wenigen Beispielen ist ersichtlich, daß die genannten Gründe verschiedenste Wurzeln und Implikationen haben und auf den verschiedensten Ebenen der Verall gemeinerung anzusiedeln sind. Gemeinsam ist ihnen, daß sie uns auf variierende Um stiinde verweisen, die von den Wissenschaftlern als Ursache für die Wahl des Instrumen tes angeführt werden: die Existenz einer Energiekrise etwa oder die Gegenwart eine Freundes, der eine Anregung gibt; ein Fehlschlag, der eine Änderung in der Vorge hensweise nahelegt, oder die Anschaffung eines Gerätes, die legitimiert werden muß die persönliche Erfahrung einer Wissenschaftlerkarriere oder die offizielle Praxi zu einem bestimmten Zeitpunkt, die andere Möglichkeiten auszuschließen scheint Es erscheint klar, daß wir nicht hoffen können, die Vielzahl dieser Situationen au eine kleine Zahl von Entscheidungskriterien oder gar ein Rationalitätsprinzip zu reduzieren, von dem wir in Zukunft Laborselektionen ablesen können. Vielmeh werden wir diese Selektionen als das Produkt des Zusammentreffens und der Inter aktion von Faktoren sehen müssen, deren Rolle und Relevanz darin besteht, daß sie zufällig zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort die Umstände ausmachen, unter denen die Wissenschaftler operieren. Historiker haben wissenschaftliche Entscheidungen schon seit langem als abhängig von den historischen Gegebenheiten porträtiert, in denen sie situiert sind, und einige neuere Argumente in der Wissenschaftsphilosophie weisen in dieselbe Richtung 19 Wenn wir die Idee einer kontextuellen Kontingenz einen Schritt weiter treiben und vertreten, daß Wissensakzeptierung eine Form von Umweltselektion analog dem Mo dell biologischer Evolution darstellt, so haben wir eine nicht unplausible Alternative zum Modell (rationaler) Meinungsbildung. Wie die biologische Anpassung kann die Wissensakzeptierung als Resultat von Umweltkräften gesehen werden, die auf die Se lektionen der Wissenschaftler in den Umweltnischen von Forschungslaboratorien einwirken. Die Lösung hat jedenfalls den Vorteil, die weitere soziale Umwelt, in de Wissenschaft eingebettet ist, als relevant für die im Labor getroffenen Selektionen zu spezifizieren. Aber sie hat auch Nachteile. Wenn wir nämlich nicht die Kriterien angeben können nach denen Erkenntnisansprüche ausgewählt oder eliminiert werden, sind wir auch außerstande vorauszusagen, welche Selektionen Wissenschaftler vermutlich treffen werden 2o . Wenn die Selektionskontexte über Ort und Zeit und ebenso als Funktion
machen und bestimmte Selektionen hervorrufen, so können wir nicht hoffen, allgemeingültige Aussagen über die Kristallisation solcher Selektionen zu gewinnen. Wir sind vielmehr mit dem etwas entmutigenden Bild einer unbestimmten kontextuellen Variation konfrontiert, die der Sozialwissenschaftler nicht endgültig spezifizieren kann. Argumenten in dieser Richtung wurde in jüngster Vergangenheit entsprechend der Vorwurf entgegengehalten, man würde die Wissenschaft damit der Irrationalität überantworten und jede Idee eines gerichteten, progressiven wissenschaftlichen Wandels ausschließen 21 .
V. Kontextuelle Kontingenz als Prinzip des Wissenswandels Es ist vielleicht überraschend, daß die behauptete Indeterminiertheit keine solch beunruhigenden Implikationen zu haben braucht. Rezente Entwicklungen in der Theorie selbst-regulierender Systeme (wie auch in der Thermodynamik) legen sogar die umgekehrte Interpretation nahe - nämlich die entsprechende Indeterminiertheit als Voraussetzung für progressive Selbstorganisation und damit für rekonstruktiven Wandel zu betrachten 22 . Anders ausgedrückt, Indeterminiertheit wird nicht mehr rein destruktiv aufgefaßt im Sinne des "Eigengeräuschs" der Informationstheorie, das die korrekte Übertragung eines Signals verhindert, oder im Sinne der Störung eines thermodynamischen Gleichgewichtes. Sie wird vielmehr als das sine qua non für eine progressive Neuordnung des Systems gehalten, trotz lokaler Fehler oder Informationsverluste. Um dies zu erläutern, stellen wir uns das Beispiel biologischer Reproduktion vor. Wir wissen, daß "Fehler" in der Transkription des genetischen Codes die Ursache von Mutationen sind. Aber diese Zufallsfehler in der strikt repetitiven genetischen Übertragung können einer biologischen Art dadurch zum Vorteil geraten, daß sie eine Variation erzeugen, die besser an die sich wandelnden Umweltbedingungen angepaßt ist als die ursprüngliche Population. Die Art "reorganisiert" sich selbst, indem sie den Zufallsfehler, der das Ordnungsmuster der einfachen Duplikation gestört hat, integriert. In der Sprache der hier vielleicht angebrachteren Kommunikationstheorie kann das Problem wie folgt formuliert werden (HenriAtlan 1979, S.47)23: Man nehme eine Kommunikationsbeziehung zwischen zwei Subsystemen A und B innerhalb eines bestimmten Systems an. Gibt es keinerlei Fehler in den von A nach B übertragenen Informationen, dann wird B zu einer exakten Kopie von A, und die Gesamtinformation beider Subsysteme wird der von A identisch sein. Wird die Zahl der Fehler so hoch, daß die Ambiguität der Signale dem Ausmaß der von A übertragenen Informationen gleich ist, dann sind diese Informationen so vollständig verloren, daß man nicht einmal mehr von Übertragung reden kann. Das heißt, daß die Struktur von B völlig unabhängig von der von A ist und daß die Gesamtinformation beider Subsysteme der von A plus B gleichkommt. In dem Ausmaß, in dem das übergeordnete System von der Kommunikation zwischen A und B abhängt, führt die totale Unabhängigkeit allerdings
in der Übertragung auftritt . Was bedeutet die Annahme einer solchen konstitutiven Indeterminiertheit im Falle d Wissensproduktion? Eine Minimaldefinition gerichteten wissenschaftlichen Wande betrachtet Wissen als progressiv (im Sinne einer zunehmenden Komplexität) reko struiertes Wissen, das durch die Integration und Elimination früherer Resultate zusta dekommt. Im allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen dem Prozeß zwei Korrelat Einerseits die Fähigkeit der Wissenschaft, als neu geltende Information ("Innovati nen") zu produzieren; andererseits deren Fähigkeit, auf Problemherausforderunge offenbar in zunehmendem Umfang Problemlösungen zu generieren, was wir vermu lich meinen, wenn wir vom "Erfolg der Wissenschaft" sprechen 25 . Beide Aspek sind Teil einer zunehmenden Komplexität, der in Shannons Sinn eine Zunahme a Information entspricht 26 . Die Indeterminiertheit ist dabei wohl nichts weiter a die Freiheitsgrade, die das System zu einer problemabsorbierenden Rekonstruktio von sich selbst verwendet. Sie manifestiert sich z. B. darin, daß der Beobachter nic in der Lage ist, eine kleine Anzahl von Kriterien zu spezifizieren, nach der diese R konstruktion vor sich geht. Welche Beziehung besteht zwischen der Idee einer solchermaßen komplexitätserh henden Rekonstruktion eines Systems und der oben postulierten kontextbedingte Selektion? Die Systemtheorie kann selbst-organisierende Systeme nicht konzipiere ohne eine Umwelt vorauszusetzen, auf die das System reagiert 27 . Es ist dieser Kontex der den Prozeß der Rekonstruktion steuert, und zwar über die hervorgerufenen Sele tionen. Hier haben wir den Begriff der Kontextualität verwendet, um das Geflec der Umstände zu bezeichnen, auf die die Wissenschaftler ihre Selektionen gründe Diese Variablen erscheinen als die Restriktionen, die die Wissenschaftler als maßge lich für ihre Selektionen angeben, und als die Restriktionen, die sie über Entsche dungsübersetzungen selbst wählen, um die offene Ereignissequenz des Labors in e geschlossenes System überzuführen. Ohne Indeterminiertheit in Hinblick auf diese R striktionen würde es das Problem, ein "schließbares" System experimentell zu erze gen, nicht geben. Es scheint, als würde es ohne die entsprechende Indeterminierthe allerdings auch keine neuen Konstellationen von Selektionen geben.
VI. Die konstruktive Wissensinterpretation: 3. Innovation und Selektion
Die Analogie von Systemtheorie und der biologischen Evolution haben uns daz gedient zu zeigen, daß die konstruktive Wissensinterpretation in ein kontextuelle Modell von Wissenswandel erweitert werden kann, in dem Indeterminiertheit (oder d Kontextabhängigkeit und prinzipielle Offenheit von Selektionen) und wissenschaf licher Erfolg nicht in Widerspruch stehen. Nun zur negativen Seite der Analogie. D
Fabrikation von Wissen, sondern weist auch darauf hin, daß Wissensfabrikation der Absicht nach auf "neue" Produkte hinzielt. In diesem Sinn stellt etwa die Selektivität wissenschaftlicher Selektionen selbst das Thema wissenschaftlicher Untersuchung dar, und in diesem Sinn kommt es zur Diversifikation von Wissensprodukten. In der biologischen Evolution ist der Ursprung solcher Diversifikation klar über Mutationen definiert. Die erste Schwierigkeit der Analogie besteht darin, im Prozeß wissenschaftlicher Konstruktion und Rekonstruktion ein Äquivalent für Mutationen zu finden. Stephen Toulmins Modell des Wissenschaftswandels stellt die engste Anlehnung an das Modell biologischer Evolution dar, die er auch als wörtlich zu nehmende Beschreibung verstanden wissen will 28 . Demnach gibt es zu jedem beliebigen Zeitpunkt einen Pool wissenschaftlicher Innovationen sowie einen Prozeß der natürlichen Auswahl unter diesen Innovationen. Die Innovationen haben ihren Ursprung in der Kreativität des individuellen Wissenschaftlers, die natürliche Auswahl erfolgt durch die Gemeinschaft der Experten, die die Innovationen beurteilen 29 . Entscheidend bei biologischen Mutationen ist, daß sie Zurallsvariationen darstellen. Toulmin lokalisiert dieses Element der Indeterminiertheit in der Freiheit und Kreativität des Einzelwissenschaftlers. Es ist genau diese Lokalisierung von Zufall bzw. Indeterminiertheit, die meines Erachtens ein großes Problem darstellt. Nach Toulmin bleiben die Aktionen der Wissenschaftlergemeinde und der Prozeß der Selektion von Innovationen von Indeterminiertheit (etwa im Sinne eines nicht im vorhinein spezifizierbaren Zusammentreffens von ausschlaggebenden Kontextvariablen) unberührt, nicht aber die individuelle Generierung von Innovationen. Man erkennt in dieser Trennung natürlich die klassische Unterscheidung von "context of discovery" und "context of validation", die aber nicht zu begründen ist. Warum sollte das Individuum unter Indeterminiertheit leiden (oder von ihr profitieren), nicht aber die Gruppe? Warum ist die Auswahl eines Erkenntnisanspruches ein zielgerichteter, intentionaler Prozeß, nicht aber die Innovation selbst? Wie wir gesehen haben, ist der Pool von Variationen (bzw. Innovationen), von dem Toulmin spricht, selbst das Resultat komplexer Selektionsprozesse im Laboratorium. Genauer formuliert, resultieren diese Variationen aus der zielgerichteten Produktion von neuem Wissen, was etwa damit ausgedrückt ist, daß die Diversifikation von Wissensprodukten (oder die Selektivität der Selektionen) selbst im Wissenschaftsbetrieb institutionalisiert ist. Ebenso kann man darauf hinweisen, daß aus der Sicht des Einzelwissenschaftlers Innovationen das Resultat intentionaler, auf Innovation ausgerichteter Arbeit darstellen und nicht pure Zufallsereignisse. Es sind die Kenntnisse der Wissenschaftler davon, was als Problem und was als Lösung gilt, das Wissen darüber, wo man suchen muß und was man ignorieren kann, sowie das hochgradig selektive, erwartungsgeleitete Hantieren mit den Dingen, was auf "innovative" Resultate hinführt. Es ist die sorgfältige Auswahl einer Zeitschrift (und damit eines Publikums) sowie verschiedenste Marketing-Strategien, die der Durchsetzung eines Wissensproduktes als "neue" Erkenntnis dienen. Und es sind nicht zuletzt die Auswahl eines (noch nicht behandelten) Problems sowie die Sicherung möglichst exklusiver Res-
Eine Konsequenz des zielgerichteten, konstruierten Charakters wissenschaftlicher Mutationen ergibt sich für die Beziehung zwischen der Produktion des Neuen und der Selektion bereits vorhandener Erkenntnisansprüche: Wie erwähnt, muß diese Selektion als Teil des Innovationsprozesses gesehen werden, der ja in signifikantem Ausmaß auf frühere wissenschaftliche Selektionen zurückgreift. Man kann somit zur Ansicht gelangen, daß Laborselektionen diejenigen vorhandenen Erkenntnisansprüche bevorzugen werden, die zur Produktion relevanter "Mutationen" beitragen und damit gleichzeitig das Interesse des Wissenschaftlers und Individuierung fördern 30 . Es wird damit ersichtlich, wie die Erhärtung früherer Resultate durch laufende Laborselektionen zur selben Zeit mit einer beschleunigten Diversijizierung von Wissensprodukten einhergeht. Allerdings handelt es sich hier um eine rein formale Spezifikation, die nichts über die inhaltlichen Eigenschaften oder die Nützlichkeit der gewählten Resultate aussagt. Die inhaltlichen Übersetzungen, aus denen Selektionen kristallisieren, werden von den Umständen abhängen, von denen sie getragen werden. In diesem Sinn wird die "natürliche Auslese" zur kontextuellen Rekonstruktion. Aber nicht nur die zielgerichtete, intentionale Konstruktion wissenschaftlicher "Mutationen", auch die Tatsache, daß es sich bei der Genese wissenschaftlicher Innovationen nicht, wie unterstellt, im Prinzip um ein individuelles Phänomen handelt, führt zu einer Kritik der biologischen Analogie in der Wissensentwicklung. In trivialer Weise ist klar, daß wissenschaftliche Arbeit in den Natur- und technologischen Wissenschaften kaum einzeln, sondern in Gruppen durchgeführt wird. Weniger trivial ist in der Konsequenz dieser Tatsache, daß auch die "Ideen" des Labors ihrem Ursprung nach soziale Ereignisse darstellen. Auch die technischen Operationen des Einzelwissenschaftlers erhalten ihren Sinn nur aus ihrer Einbettung in ein Kommunikations- und Interaktionsfeld, das die Schriften des jeweiligen Spezialgebietes ebenso wie die Exegese dieser Schriften im Labor- und Argumentationsprozeß einschließt. Es braucht hier nicht betont zu werden, daß Wissenschaft oft mit der Möglichkeit bestimmter Diskursformen in Zusammenhang gebracht wurde. Edmund Husserl hat z. B. die Schrift als die Bedingung der Möglichkeit idealtypischer Objekte - und damit wissenschaftlicher Konzepte - bezeichnet 31 . Charles S. Peirce hat versucht, die Logik der Wissenschaft als Semiologie zu formulieren, und Jacques Derrida erinnert uns daran, daß die Idee der Wissenschaft in einer bestimmten Epoche der Schrift geboren wurde 32 • Bruno Latour und Steve Woolgar haben kürzlich die Wichtigkeit des schriftlichen Fixierens von Meßresultaten im Labor illustriert (1979), und die Wissenschaftssoziologie hat seit langem bestimmten Aspekten wissenschaftlicher Kommunikation besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es geht jedoch hier nicht darum, daran zu erinnern, daß Wissenschaft ohne eine Form schriftlicher Kommunikation wohl kaum weiter existieren würde. Wichtig ist hier vielmehr, daß das kommunikative Fundament der Wissenschaft die Operationen des Einzelwissenschaftlers als eine Form diskursiver Interaktion konstituiert, die durch die Argumente anderer getragen ist und auf sie ab,zielt 33 . Die Indeterminiertheit, die die biologische Analogie in der individu-
Labors, im Aushandeln der Entscheidungen, die die hochgradig selektive Konstruktion und Destruktion von Wissensprodukten kennzeichnen. Behauptet wird somit, daß die soziale Basis solch diskursiver Interaktion nicht auf einen separaten Bewertungs- oder Akzeptierungskontext und die entsprechenden Gruppenmeinungsbildungsprozesse beschränkt werden, ebensowenig wie Indeterminiertheit in individueller Innovation isoliert werden kann. Innovation und Akzeptierung sind temporäre Stabilisierungen im Prozeß der Wissensrekonstruktion, der von Grund auf ein sozialer Prozeß ist. Gerade der Ursprung der Indeterminiertheit liegt innerhalb dieses sozialen Prozesses mit seinem symbolischen, ausgehandelten und eigendynamischen Charakter und nicht, wie Toulmin vorschlägt, außerhalb. Es ist genau dieser Prozeß, der sich nicht auf wenige, als "rational" qualifizierte, kontextunabhängige Prinzipien reduzieren läßt. Und es sind die den Beobachter in Verlegenheit bringenden Freiheitsgrade innerhalb dieses Prozesses, auf die die Möglichkeit von Innovation bzw. einer informationserweiternden Rekonstruktion von Wissen zurückgeführt werden muß.
VII. Die Kontextualitiit von Wissen: Intern, extern oder transwissenschaftlich? Kommen wir nun zum Abschluß noch einmal auf die Kontextualität der Wissensproduktion zurück, von der wir zusammen mit der "Entscheidungsgeladenheit" wissenschaftlicher Resultate ausgegangen sind. Es liegt nahe, daß ein gesellschaftlich relativierter Wissens begriff, wie er hier ansatzweise skizziert werden sollte, über eine entsprechende (d. h. nicht internalistische) Bestimmung dieser Kontextabhängigkeit wissenschaftlicher Selektionen entwickelt werden muß. Allerdings sind auch hier Systemtheorie und biologische Analogie wenig hilfreich. Für die Systemtheorie ist die progressive Rekonstruktion eines Systems dessen Antwort auf eine hyperkomplexe Umwelt, an die es sich durch Erhöhung der eigenen Komplexität anpaßt. Im Wissenschaftsbetrieb ist jedoch, wie gezeigt wurde, die beschleunigte Rekonstruktion von Wissensprodukten endogen - sie resultiert aus den zielgerichteten Anstrengungen der Wissenschaftler, "neue" Informationen zu produzieren. Im biologischen Evolutionsmodell wissenschaftlichen Wandels ist dieses Problem scheinbar gelöst, und zwar durch die Trennung zwischen Wissensentstehung und Wissensakzeptierung. Nach Toulmin ist die Produktion von Wissen durch externe Umweltfaktoren über die verschiedensten Kanäle beeinflußt, während für das selektive Überleben von Erkenntnisansprüchen allein die internen Entscheidungen der Wissenschaftlergemeinde verantwortlich sind. Es wäre natürlich absurd, eine umgekehrte Arbeitsteilung etwa derart anzunehmen, daß Wissensprodukte intern von Wissenschaftlern produziert und dann extern im sozialen Kontext von Nicht-Wissenschaftlern ausgewählt werden. Allerdings ist es ebensowenig einleuchtend, warum "externe" Kontexteinflüsse auf die Wissensproduktion beschränkt sein sollen, während das Überleben von Erkenntnisansprüchen "rein wis-
müssen entsprechend auch die selektive Erhärtung früherer. Resultate beeinflussen, von denen sich neues Wissen in signifikantem Ausmaß herleitet. Wenn das evolutionäre Modell (korrekterweise) hervorhebt, daß der Inhalt eines Pools kognitiver Varianten zu einem gegebenen Zeitpunkt das Produkt "interner" und "externer" Faktoren ist, kann nicht gleichzeitig die an diesem Inhalt beteiligte Selektion früherer Varianten als ausschließlich "intern" bezeichnet werden. Aus den obigen Argumenten läßt sich der Schluß ziehen, daß die gebräuchliche Unterscheidung von "intern - extern" keine fruchtbare Grenzziehung zwischen einem für die Wissensproduktion relevanten und einem irrelevanten Kontext leistet 34 und daß auch System theorie und Evolutionstheorie keine unmittelbar eindeutigen Lösungen anzubieten haben. Die Schwierigkeit ist nicht neu: bekanntlich verfügen soziale Systeme nicht wie Organismen über klar definierbare Umweltabgrenzungen 35 . Überdies gilt, daß die Relevanz institutioneller und professioneller Kriterien, soweit diese eine Abgrenzung erlauben, von der Fragestellung abhängt. So regelt z. B. das österreichische Psychologengesetz den legalen Zugang zu einer bestimmten Berufspraxis über Kriterien wie Studienabschluß; das genügt aber nicht, um die praktischen Verfahrensweisen der betreffenden Psychologen zu spezifizieren. Dazu kommt, wie das letzte Beispiel andeutet, daß Grenzziehungen in der sozialen Realität selbst ununterbrochen auf dem Spiel stehen, also Gegenstand von ständigen Neudefinitionen und Auseinandersetzungen sind. In den variierenden Alltagsunterscheidungen der Wissenschaftler zwischen "wir" und "sie", zwischen "wissenschaftlichen" und "nicht wissenschaftlichen" Angelegenheiten verstecken sich eben Freiheitsgrade, ebenso wie in den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Reproduktionen solcher Unterscheidungen. Unklar ist nur, warum wir apriori annehmen sollen, daß die Freiheitsgrade zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Spezialgebieten notwendigerweise geringer sein sollen als die zwischen wissenschaftlichen Experten eines Gebietes und den Nichtwissenschaftlern, die soziale (oder politische oder ökonomische) Interessen an diesem Gebiet repräsentieren. Würden wir nämlich die Häufigkeit der jeweiligen Interaktionen und Kommunikationen einfach messen und die Interessen betrachten, die in den entsprechenden Laborselektionen angesprochen werden, so bekämen wir höchstwahrscheinlich genau den umgekehrten Eindruck. Freiheitsgrade, die sich in perzipierten und statuierten Grenzziehungen manifestieren, sind meines Erachtens als Funktion und nicht als Voraussetzung des selbst-organisierenden Prozesses zu betrachten. Dies bedeutet, daß wir nicht apriori von bestimmten Systemabgrenzungen wie derjenigen zwischen Wissenschaftlergemeinde und sonstigem gesellschaftlichem Kontext ausgehen können, um sodann die Wechselbeziehungen zwischen "internen" und "externen" Angelegenheiten festzustellen. Wie genauere Beobachtungen von wissenschaftlichem Handeln, die an anderer Stelle ausführlich dokumentiert sind, deutlich machen, muß die behauptete Kontextualität wissenschaftlicher Arbeit sowohl enger als auch weiter angesetzt werden, als es der Begriff der "scientific community" nahelegt. Enger insofern, als die Forschungsselektionen,
insofern, als diese Variablen bzw. Argumente letztlich nicht auf mit der Wissenschaftlergemeinde korrelierten Inhalte eingeschränkt werden können. Vielmehr führt uns die direkte Beobachtung wissenschaftlicher Forschungsarbeit auf als transwissenschaftlich zu bezeichnende Interaktionsfelder, und das heißt auf diejenigen tatsächlichen bzw. diskursiven Interaktionen, in deren Spannungsfeld Laboroperationen eingeschlossen sind. An solchen Interaktionsfeldern haben aber im Prinzip neben Fachwissenschaftlern auch administrative Organe, Auftraggeber, Förderungsvergabestellen etc. teil. Transwissenschaftliche Felder sind nicht als eine logische Klasse über die Zugehörigkeit der Teilnehmer zu einer Institution oder Rolle definiert, sondern über aktuelle und virtuelle (diskursive) Kommunikation, aus der sich ihre Bedeutung für das, was im Labor geschieht, ergibt. Die Bedeutung transwissenschaftlicher Felder leitet sich somit daraus ab, daß in ihnen der Austausch und das Aushandeln von Argumenten stattfindet, die sich im Forschungsprozeß auf dem Weg über Selektionskriterien als signifikant erweisen. Die gesellschaftliche Relativität von Wissen tritt in diesen die Wissenschaftlergemeinde transzendierenden Interaktionsfeldern zutage und überträgt sich von hier aus via verschiedener Übersetzungsprozesse auf diejenigen Laborselektionen, die einen Erkenntnisanspruch als Produkt eines konstruktiven - und nicht einfach deskriptiven Prozesses kennzeichnen. Natürlich lassen sich aus den transwissenschaftlichen, variierenden Interaktionen von Wissenschaftlern Laborselektionen nicht einfach ablesen bzw. voraussagen - in vollem Einklang damit, was wir über die sozial und symbolisch verankerte Indeterminiertheit dieser Kontextualität gesagt haben. Die Kontextualität (und damit die gesellschaftliche Relativität) von Wissensprodukten läßt sich jedoch an hand der besagten Übersetzungsprozesse an Beispielen nachweisen. Für den Wissenschaftsbereich wird die Konstruktivität und Kontextualität von Wissen bereits in einigen, mikroskopisch vorgehenden Studien bezeugt 36 . Es wird Aufgabe der damit neu begonnen Wissenssoziologie sein, den hier skizzierten Wissensbegriff in anderen Wissensbereichen weiterzuentwickeln.
Anmerkungen 1 Kritische Diskussionen des "Objektivismus" oder auch "empirischen Realismus" sind in Roy Bhaskar (1978) und Jürgen Habermas (1971, S. 67 ff.) zu finden. 2 Dies ist nicht etwa eine naive Reduzierung des empirischen Re.alismus. Die naive Position würde die Ansicht vertreten, daß das Bild der Wirklichkeit, das uns die Wissenschaft liefert, wahr ist. Im Gegensatz dazu liegt die Betonung hier auf einer epistemischen Haltung. Für eine weitere Diskussion siehe B. van Fraasen (1977, Kap. 2). Frederik Suppes Formulierung lautet, daß die Resultate wissenschaftlicher Forschung generalisierte Beschreibung der Realität darstellen, die wahr sein müssen, damit die Theorie als adäquat gelten kann (Suppe 1974, S. 211). 3 Siehe dazu Habermas (1971, S. 69). 4 Für eine Formulierung von Charles S. Peirces Programm siehe etwa "The Logic of 1873" (1931-35, Bd. 2, Paragraph 227 ff.). 5 Zur Bedeutungsvarianz von Beobachtungssätzen siehe etwa das von Suppe dazu herausgegebene Symposion, insbesondere das Einführungskapitel von Suppe selbst (1974, S. 3-241).
nem mehr als 300 Wissenschaftler umfassenden Forschungszentrum in Berkeley, Ca!. im Jahre 1976-1977 durchgeführt. Das Zentrum betreibt Grundlagenforschung und angewandte Forschung auf chemischem, physikalischem, mikrobiologischem, toxikologischem, technologischem und ökonomischem Gebiet. Meine über ein Jahr laufenden Beobachtungen beschränkten sich auf eine Gruppe, die mit der Generierung, Purifizierung, Strukturaufklärung, Texturmessung, der Messung biologischer Wertigkeit sowie mit Anwendungsproblemen von Pflanzenproteinen beschäftigt war. Genauere Angaben zur Durchführung der Beobachtungen sowie eine Darstellung der empirischen Daten, auf die hier kaum eingegangen wird, finden sich in meiner Arbeit "The Manufacture of Knowledge" (Karin D. Knorr 1980, siehe auch 1977, 1979). Die zweite, hier sehr relevante Studie, die ebenfalls eine der ersten teilnehmenden Beobachtungen der Wissenserzeugung darstellt, stammt von Bruno Latour und Steve Woolgar (1979). Vergleiche auch die kürzeren, allerdings meist nicht auf direkter Beobachtung beruhenden Arbeiten, die im Sociology of the Sciences Yearbook, Vo!. 4 (Karin D. Knorr, Roger Krohn und Richard Whitley 1980) herausgegeben wurden. Beobachtungsstudien ähnlich den oben genannten werden für verschiedene Wissenschaftszweige gegenwärtig von Michael Lynch, Dough McKegney, Michael Zensen und Sal Restivo (alle 1981) durchgeführt. Die Studien sind einerseits im Sinne der z.B. von Leo Apostel et al. (1979) geforderten "Empirischen Epistemologie" zu verstehen, andererseits weisen sie auf eine Mikrosoziologie des Wissens hin, der es zunächst einmal darum geht, den sozialen Prozeß der Wissenserzeugung in analytisch-mikroskopischer Weise anstatt in kulturhistorisch-theoretischer oder philosophischer Weise aufzuklären. 10 Im Jahre 1907 sagte der eminente Physiker JosephJohn Thomson: "From the point of view of the physicist, a theory of matter is a policy rather than a creed; its object is to connect or coordinate apparently diverse phenomena, and above all to suggest, stimulate and direct experiment" (S. 10). 11 Die ist eine Paraphrasierung einer Formulierung von Habermas (1971, S. 315). 12 Für eine umfassende Darlegung von Niklas Luhmanns Begriff der Selektivität im Rahmen seiner systemtheoretischen überlegungen siehe die Sammlung von Aufsätzen zur "Soziologischen Aufklärung" I und 11 (1971, 1975). 13 Für den hier verwendeten Begriff der übersetzung siehe Michel Serres (1974) sowie die Illustrationen von Michel Callon (1975). 14 Ich beziehe mich hier auf das quasi-ökonomische Modell Pierre Bourdieus (1975) sowie auf dessen revidierte Fassung durch Latour und Woolgar (1979). 15 Siehe dazu z.B. Karl Popper (1963, S. 216 ff.). 16 Siehe dazu auch Derek Phillips (1974, S. 82 ff.). Phillips weist in Entgegnung auf C. Whright Mills und Robert K. Merton darauf hin, daß die Motive sowie die soziale Position von Wissenschaftlern in der Tat relevant für die Bewertung sind, die sie erhalten. 17 Andere relevante Bereiche sind die der Zeitschriften und Verlage bzw. der Entscheidungen über die Publikation einer Arbeit. Man beachte jedoch, daß die Publikation einer Arbeit nicht bedeutet, daß deren Ergebnisse aufgegriffen und dadurch "erhärtet" werden. 18 Man ist versucht, hier Ludwig Wittgenstein zu zitieren: "So sagst Du also, daß die übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig oder falsch ist? - Richtig oder falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Das ist keine übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform." Zu finden in Paragraph 241 der "Philosophischen Untersuchungen". 19 Ich beziehe mich hier auf Feyerabends These, daß die Interpretationen der Wissenschaft relativ zu einer bestimmten historisch-kulturellen Epoche gesehen werden müssen und daher nicht durch die Spezifikation einiger kontextunabhängiger Kriterien der wissenschaftlichen Konsensbildung über einen Leisten geschlagen werden können. Man beachte, daß Thomas Kuhn diese Möglichkeit nicht ausschließt. Siehe Feyerabend (1975) und Kuhn (1970, besonders die Diskussion im Postskript). 20 Man beachte, daß Stephen Toulmins Modell der Wissensevolution (z.B. 1972; die engste mir bekannte Anlehnung an das biologische Modell) nicht diese Konsequenz zieht. Wie wir noch sehen werden, wird bei Toulmin die Idee einer "environmental selection" in eine Form (rationaler) Selektion durch die Wissenschaftler übergeführt, womit wir wieder bei der vorherrschenden wissenschaftsphilosophischen Ansicht wären. Außerdem bemüht Toulmin einen "Cunning
21 Diese Diskussion fih.det sich z. B. in Imre Lakatos' und Alan Musgraves Buch (1970) immer wieder angesprochen.\ 22 Für stochastische Proz\~se auf molekularer Ebene, in denen die Rolle von Fluktuationen umso größer ist, je kleiner die Anzahl interagierender Moleküle, ist gezeigt worden, daß die Absenz von "Fehlern" oder von\ Indeterminiertheit nicht nur mit dem Fehlen von Informationszuwächsen, sondern mit Informationsverlusten einhergeht,Plln_e_ Z~fall bzw. Fehlerintervention würden z. B. biologische Art~n nicht nur stagnieren, sondern mit der Zeit aussterben (Renri Atlan 1979, S. 54 f.). Siehe auch Latour und Woolgar (1979, Kap.6) für eine Diskussion des Prinzips als ordnungsgenerierend im Wissenschaftsbereich. 23 Atlans Neuinterpretation des Problems, auf die hier nicht weiter einzugehen sein wird, ist insofern entscheidend, als sie nicht die Entstehung von "Ordnung" aus "Unordnung" (Indeterminiertheit, Zufall) postuliert, sondern die Entstehung von Organisation definiert als Zuwachs an Komplexität und Systemdifferenzierung. Die ursprünglichen Definitionen haben einen Zuwachs an Repetition und Redundanz postuliert. Während "Ordnung" Stabilität impliziert, weist das Prinzip von "Organisation aus Zufall" auf Wandel bzw. einen systeminternen Informationszuwachs hin, erscheint also einzig für den Wissenschaftsbetrieb angebracht. 24 Ein vereinfachtes Beispiel ist etwa die undichte Stelle in der Nixon-Administration, durch die die von der Regierung geheimgehaltene Bombardierung von Kambodscha an die Öffentlichkeit durchgesickert ist. Während dieses Leck zwar gröbste Unannehmlichkeiten für Nixon und einige seiner Regierungsmitglieder nach sich zog, mag das Gesamtsystem der amerikanischen Demokratie davon nur profitiert haben. Um zwischen zerstörerischen und integrativen Wirkungen von "Fehlern", "Eigengeräusch" bzw. Indeterminiertheit zu unterscheiden, müssen somit die verschiedenen Organisationsebenen in Betracht gezogen werden. 25 Natürlich produziert die Wissenschaft gleichzeitig neue Probleme, als Bestandteil des Rekonstruktionsprozesses. 26 Die Quantität der Information in einem System wird als Maß für die Unwahrscheinlichkeit definiert, daß die Kombination der verschiedenen Bestandteile des Systems zufällig ist. Genau genommen gibt es mehrere verschiedene Versuche, Information formal zu definieren, für deren Zusammenfssung hier nur auf die Literatur verwiesen werden kann (z. B. Atlan 1979, S. 79 f.). 27 Nach W. Ross Ashby ist ein geschlossenes, selbst-organisierendes System logisch unmöglich. Wenn das System seine Organisation nur aufgrund interner Gegebenheiten, also ohne Umwelteinfluß, ändern könnte, wäre dieser Wandel durch eine Konstante bestimmt. Echter Wandel muß entweder durch ein von außen injiziertes Programm oder durch externe Zufallseingriffe initiiert werden (1962). 28 Für eine kurze Zusammenfassung des Modells von Toulmin ebenso wie für seine Aufforderung, das Modell wörtlich und nicht bloß als Analogie zu verstehen, siehe Toulmin (1974, besonders S.274). 29 Nach Toulmin ist dies normalerweise und idealerweise der Fall. ,Siehe besonders Paragraph 4 in der oben genannten Arbeit (1974). 30 Wissenschaftliche Arbeit ist insofern mit Differenzierungseffekten verbunden, als sie ständig "neue" Produkte liefert. Diese Differenzierungseffekte können von den Wissenschaftlern angeeignet werden und tragen zu deren Individuierung bei. Die zunehmende Sozialisierung der Wissenschaft führt übrigens dazu, daß solche Differenzierungseffekte an Gruppen bzw. Institute übergehen. ' 31 Insbesondere in seinem Essay über den Ursprung der Geometrie (1962). 32 Eine kurze Präsentation von Peirces Formulierung findet sich im Kapitel "Logic as Semiotic" (1955, S. 98 ff.). Ich beziehe mich hier auf Jacques Derridas Arbeit "Of Grammatology" (1976, S. 27). -33 Gernot Böhme hat daraus die Konsequenz gezogen, daß eine Konzeption der Wissenschaftlergemeinde auf eine Theorie des Argumentationsprozesses in der Wissenschaft aufgebaut werden muß (1975). 34 Eine übersicht über die verschiedenen Verwendungsweisen der Unterscheidung' von "extern in tern", die er auf Annahmen in der Wissenschaftsgeschich te und Wissenschaftsphilosophie zutückführt, liefert RonJohnston (1976).
Dokumentation zumindest begonnen haben.
Literaturverzeichnis
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Sicherlich hat die Habermas-Luhmann-Debatte viele Fragen ungelöst gelassen. Einige dieser Fragen gar hat sie nicht einmal so angegangen, daß ihre weitere Bearbeitung hätte fruchtbar werden können. So reagiert Luhmann auf die Habermas'sche Frage nach dem Platz des Wissens im Spiel der Kommunikation fast nur mit einem Achselzucken. Motivationsloses Anerkennen von Fakt und Norm ist für Luhmann der einzig zeitgemäße Rat, den man darauf geben kann. Vielleicht war es auch diese Kühle der Luhmannschen Reaktion, die Habermas in der "Legitimationskrise" seinen Hymnus auf die "alteuropäische Menschenwürde" anstimmen ließ. Wie immer er in dieser Würde den vernünftigen Willen "aufgehoben" sehen mag, dieser Hymnus muß viele Nichteuropäer kalt lassen. Das heißt nun aber nicht, daß damit das Problem der Beziehung zwischen Wille und Wissen abgetan, geschweige denn gelöst sei. Dieses alte Problem! stellt sich nun in einer neuen Form und bedarf einer historisch adäquaten Behandlung, die sich hier allerdings höchstens skizzieren, nicht ausführen läßt. Dieser Aufsatz kann deshalb nicht mehr beanspruchen, als ein vielleicht plausibler Themenvorschlag für die heutige Wissenssoziologie zu sein. Ich glaube nicht, daß es nach der Diskussion der letzten 10-15 Jahre noch auf Widerstand stoßen wird, wenn man das Miteinandersprechen von Menschen als eine höhere Form von Kommunikation ansieht als die des bloßen Informationsaustauschs. Natürlich informiert menschliche Rede immer über irgend etwas, und sei es nur über den Horizont des Redners, aber sie verlangt auch immer beim scheinbar nur passiven Rezipienten ein Aufarbeiten dieses Empfangenen, um es zum Verstandenen zu befördern. Mindestens seit dem Pragmatismus wissen wir, daß die symbolische Interaktion zwischen dem Selbst und dem Anderen ein (dadurch soziales) Wissen konstituiert, das in seiner Sedimentierung für beide den Bezugsrahmen für weiteres Lernen aufbaut. Nun hat es in den vergangenen Jahren weder an Versuchen gefehlt, diesen Grundgedanken zur Kommunikation mit dem Marxismus zu verbinden 2 , noch an solchen, ihn direkt materialistisch zu fassen 3 . Während aber der erstere unter anderem daran gescheitert sein dürfte, daß er den Primat der Materie für den Bereich des Symbolischen nicht durchgehalten hat, hat der letztere Schwierigkeiten hinsichtlich einer materialistischen Dialektik gehabt. Es ist indes meines Erachtens wenig ergiebig, dem vor allem von Habermas zum Scheitern gebrachten neo-marxistischen Versuch noch einmal nachzugehen. Er dokumentierte sich unter anderem darin, daß er Wille und Wissen, also des Menschen innere
beitragen kann, eine historisch adäquate Soziologie des Wissens zu fundieren. Ein solcher Versuch, so scheint mir, hat auszugehen von der Gewißheit des Primats der Materie auch für den Aspekt des Kommunikativen. Entsprechend dem Grundsatz, daß alles, was für uns existiert, von und in dieser Welt sein muß, wird auch der geistige Gehalt von Kommunikation und Wissen an der Anordnung materieller Träger festgemacht. Übermittlung von Gemeintem geschieht durch Weitergabe von strukturierter Materie, bestehe diese nun aus zu Wörtern geformten Schallwellen, aus Lichtwellen, wie sie etwa von bewußt angeordneter Tinte ausgehen, von Löchern in Karten oder Kerben im Holz. Ohne Materialisierung kann es Kommunikation offenbar nicht geben. In durchaus adäquater Einschätzung von Denkergebnissen des Symbolischen Interaktionismus wird vom monistischen Materialismus heute anerkannt4 , daß der Empfang einer Botschaft die Aktivierung eines im Empfänger bereitgehaltenen Bezugsrahmens erfordert. Dieser Bezugsrahmen ist gesehen als sedimentiertes und zu allgemeinen Prinzipien reduziertes Wissen, das das Verstehen von Information erst ermöglicht. Ohne in der Lage zu sein, diesen Bezugsrahmen eindeutig als materiellen zu identifizieren, wird er als Formung des Nervensystems verstanden. Ähnlich dem Seinsstatus von Botschaften wird also, wenigstens dem Versuch nach, Wissen auf einer allgemeineren Stufe als der von partikularen Botschaften, nämlich als Kategorienrahmen, durch die Vorstellung geordneter Materie gefaßt. Nur so kann Wissen in dieser Welt sein. Mit diesem Ansatz ist gewiß sichergestellt, daß Kommunikation nicht in bloßen Informationsfluß implodiert. Die Anerkennung von Unterschieden zwischen Bezugsrahmen scheint das Konzept des menschlichen Subjekts zu retten und Kommunikation davor zu bewahren, in ,,100 %jeedback-loops" dargestellt zu werden. Dies jedoch ist eine nicht hinreichende Begriffswelt, um die Eigenart menschlichen Miteinandersprechens zu erfassen. Auch Maschinen reduzieren Information und deren Komplexität, erfassen also Bedeutung gemäß ihres internen Programms; mit Tieren ist das nicht prinzipiell anders. Es scheint doch wohl so zu sein, daß Maschinen und Tiere, vorausgesetzt, die Information erreicht sie materiell, gemäß ihrem vielleicht individuell unterschiedlichen Programm reagieren müssen. Voraussetzung menschlichen Verstehens ist zwar sicherlich auch, daß zu verstehende Botschaften sie materiell erreichen, aber reagieren müssen Menschen nicht. Sie können so tun, als ob es gewisse Informationen nicht gäbe, nicht obwohl, sondern weil sie sie in ihrer Bedeutung erfassen oder zumindest erahnen, also ein Organ für die Botschaft haben, aber den Inhalt der Botschaft trotzdem abweisen. Menschen können Kenntnisnahmen willentlich unterdrücken, weil und nachdem sie zur Kenntnis genommen haben. Dies gibt umso mehr Anlaß, die Rolle des Willens im Akt menschlichen Erkennens zu erkunden. Man ist natürlich durch diese Formulierung versucht, das Problem des falschen Bewußtseins unmittelbar anzugehen. Will man jedoch vermeiden, den Willen zur Nicht-
einer kritischen Inspektion des monistischen Materialismus in seiner zeitgenössischen Form einzuleiten. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß diese Denktradition sehr wohl weiß, wie schwer sie sich tut hinsichtlich ihrer Bestimmung dessen, was sie "mentalistische Strukturen" nennt. Richard N. Adams, einer ihrer führenden Autoren, schlägt deshalb vors, Konzeptualisierungen aller Art vorläufig so zu behandeln, als ob sie geistiger, das heißt, nichtmaterieller Art seien. Er ist damit gezwungen, einen Dualismus zwischen Materie und Geist zumindest für so lange anzunehmen, bis solch mentale Hilfsmittel wie Konzepte und Werte "can be consigned to the museums of the intellect"6. Es soll nun gezeigt werden, daß die Annahme eines Dualismus zwischen Materie und Geist nicht nur hoffnungslos aporethisch ist, sondern mit ihrer "Als-ob-Methodologie" eine Hoffnung gebiert, nämlich die auf Erfüllung des materialistischen Monismus in irgendeiner Zukunft, die ihrerseits vor Geburtsfehlern kaum zu retten ist. Schon die Formulierung, daß Information und Sinn, also Botschaft und Bezugsrahmen, strukturierte Materie sind, macht klar, daß das Strukturierende und das Strukturierte von verschiedener Art sein müssen. Ein gefärbtes Tuch ist nicht gleichzeitig seine Farbe, und Kultur ist nicht identisch mit kultiviertem Verhalten. Das heißt aber, daß Kultur als ein mentalistisches System nur für eine materialistische Grundposition widerspruchslos gedacht werden kann, wenn man z. B. kultiviertes Verhalten als Erscheinungsform von Kultur erfaßt, ohne die sie nicht sein kann. Damit wird die geistige Seite kultivierten Verhaltens, also das Geistige, nicht nichts. Der Geist steht der Materie nicht als das ganz Andere gegenüber. Vom Monismus wird dem Inhalt von Botschaften, also dem Geistigen, eine O-Dimension 7 zugeschoben, die es offenbar außerhalb von Raum und Zeit lozieren soll. Plötzlich scheint der Materialismus monistischer Spielart einen "Geist an sich" postulieren zu müssen. Wie man einen solchen Gegenstand studieren soll, bleibt in der Tat eine offene Frage. Durch seine "Als-obMethodologie" versucht der Monismus, sie indes keck zu übergehen. Natürlich kann auch der dialektische Materialismus nicht über einen solchen Geist jenseits von Raum und Zeit reden. Aber er versucht es auch nicht! Vielmehr wird der Gegensatz zwischen Geist und Materie von ihm mit der Beibehaltung des Formbegriffs überwunden. Dies rettet ihn vor den hier skizzierten Widersprüchen des Monismus und macht gleichzeitig symbolische Formen einem Studium zugänglich, das selbst in Ansehung eines solchen Gegenstandes wie Wissen nicht in einen Idealismus zu flüchten braucht. Anders als der monistische Materialismus kann der dialektische selbst dann an dem auch von Adams akzeptierten Prinzip 8 festhalten, daß alles, was der Wissenschaftler studiert, in dieser Welt sein muß, soll es denn überhaupt studiert werden können. Im Vorbeigehen entlarvt dabei die materialistisch-dialektisch angelegte Einführung des Formbegriffs auch die Hoffnung auf einen materialistischen Monismus der Zukunft: wie immer sonst wir in die Materie verankert sind, wir werden immer auch einen Begriff von ihr haben müssen, unter dem sie uns erscheint.
des Menschen scheint es dem monistischen Materialismus zunächst zu gelingen, den geistigen Aspekt aufs bloß Materielle zu beschränken. Die Fähigkeit, Komplexität von Information zu reduzieren, wird in einen Bezugsrahmen gegründet, der als Strukturierung des Nervensystems aufgefaßt wird 9 . Eine erste Schwierigkeit taucht indes auf, wenn benannt werden soll, was es denn nun materialiter sei, das da eine Struktur tragen soll. Diese Fehlanzeige wird mit der nun schon vertrauten Vertröstung auf zukünftiges (bloß materielles?) Wissen als solche anerkannt, während stattdessen als Krücke der Dualismus wieder eingeführt wird. Auf anthropologischer Ebene ist es dann eigenartigerweise die materielle Seite geistiger Fähigkeiten, die zu einer Art Nichts wird. Das Nervensystem, in dem doch die symbolische Produktivität verankert wird, muß zur "black box" erklärt werden. Was dann übrigbleibt, sind wieder, trotz nulldimensionaler Seinsweise, die Produkte der Gehirntätigkeit: "mentalistische Strukturen", die im wesentlichen komponiert sind aus Taxonomien der Naturerkenntnis lO und Wertskalierungen erstrebenswerter Güter ll . Wo Werte herkommen sollen, bleibt dabei ziemlich unklar. Das heißt nicht, daß nicht gesagt würde, was sie sind, aber dies erfolgt im Zuge einer absondernden Definition und der Funktion dessen, was sie definieren, nicht jedoch im Zuge einer Erklärung ihres Ursprungs, also der Bedingung ihrer Möglichkeit. Wie schon angezeigt, werden sie als Rangordnung erstrebenswerter Güter eingeführt. Von Taxonomien werden sie insofern abgesetzt, als sie nicht wie jene allein unter das Kriterium von "zutreffend" und "unzutreffend" fallen. Indes, sie sind auch nicht zufällig, sondern kontingent an gesellschaftlich geteilte Subjektivität des Begehrens oder Wollens gebunden 12 . Mit dieser wechselseitigen Absetzung hat es denn auch sein Bewenden. Mehr wird nicht über die Beziehungen zwischen Taxonomien und Werte ausgesagt. Zwar wird zugestanden, daß das Streben nach bewerteten Gütern auf richtigen Einschätzungen beruht, aber die Frage, wie Werte das Erkennen richtiger Tatsachensicht beeinflußt, bleibt außerhalb des Blickfeldes 13 . Es darf jedoch nicht unterschlagen werden, daß den Werten vom Monismus eine gesellschaftliche Funktion zuerkannt wird. Ihre gesellschaftliche Anerkennung wird zur einen Grundlage von Macht 14 für den, der auch die andere in seiner Gewalt hält, nämlich Kontrolle über die Mittel, die erstrebenswerten Güter anderen nicht oder nur partiell zukommen zu lassen. Macht etabliert sich in dieser Weise als soziales Band, das Menschen antagonistisch oder eifersüchtig zusammenhält. Für den Fortbestand dieser Art von sozialem Band sind gemeinsame Werte funktional. Sicherlich kann man diese Konstruktion von Sozialität in vielfacher Weise kritisieren lS. Hier kommt es mir indes nur auf einen Aspekt einer solchen Kritik an, der sich bewußt auf die bloß materielle Seite von Wissen und Wollen oder Anstreben beschränkt. Wissen beruht offensichtlich auf der Reduktionsfähigkeit der :.black box" des Nervensystems. Wollen stattdessen rührt her aus einer immer wieder entstehenden Bedürftigkeit des menschlichen Körpers als Energiekonverter. So jedenfalls sieht es der Monis-
identisch, beruhen aber beide auf demselben Prinzip: Energiekonvertierung. Sie geben dieser allerdings unterschiedliche Gestaltungen, die nun aber auch wieder nicht einfach getrennte sind. Zur Klärung dieser Beziehung möchte ich folgendes zu bedenken geben: Das Wissen setzt dem Wollen mögliche Objekte und Mittel der Erreichung, während das Wollen dem Wissen das Wissenwollen von diesem und nicht von jenem schenkt. Das Wissen gibt dem Wollen seine Form und wird seinerseits geformt durch die Befriedigung des Wollens durch Objekte in ihrer Form. In einem für Akademiker unzulässigen Wechsel der Abstraktionsebene könnte man den Werbeslogan "Durst wird durch Bier erst schön" hier anführen, und man möchte fortfahren, daß das Bier hier als eine Form von Getränk sich eben nicht nur dem Verstande verdankt, sondern einem ihm zugewandt bleibenden Wollen. Offensichtlich wird hier der Bezug von Wissen und Wollen nicht als ein wechselseitiger zwischen geschiedenen Einheiten gedacht, sondern als einer, wo das Wissen zur Antithese für das Wollen wird. Die Dialektik ververläuft so, weil das Wissen die Form für sich und das Wollen schafft, also eine Form von und für Materie, während die Materie in diesem Zusammenhang das Übergreifende bleibt 17 . Wenn es nicht falsch ist, daß Taxonomien und in Werten sich ausdrückendes Wollen als innere Natur dem Menschen die äußere Natur als geistig geformte vermitteln, dann muß den geistigen Formen, also der Synthese von Wissen und Werten, eine Behandlung zuteil werden, die dieser Synthese selbst dort angemessen ist, wo sie nicht anerkannt wird 18. Wo der Materialismus indes a-dialektisch den Formbegriff auch auf der anthropologischen Ebene ignoriert, implodiert Kultur zur nur dem Menschen eigenen "Geheimwaffe der Adaptation,,19 im Evolutionsprozeß. Kulturen als Wissens- und Wertsysteme bleiben damit immer noch als unterschiedene denkbar, aber ihnen allen bleibt eigen, daß sie einen bloß instrumentalistischen Bezug zu ihrem Träger, dem Menschen, haben. Ein konsumatorischer Bezug zu Wissen und Werten, den selbst noch Talcott Parsons in seinem "AGIL-System" anerkannte, fällt weg20 . Für die Sozialforschung aber heißt das, daß sie einen solchen Bezug nicht einmal mehr erwarten kann; ihr fehlt der Sinn dafür. Dieser De-Sensitivierung der Sozialforschung entspricht es dann, daß der Monismus über den Menschen nur a-historisch sprechen kann, obwohl er einen Begriff von Wachstum und Umstrukturierung der Gesellschaft hat. Der Mensch aber, reduziert auf hirnbegabten Körper, wird als seit dem Paläolithikum unverändert bezeichnet 21 . Das Ausbleiben von sozialem Wandel in dieser oder jener Gesellschaft, gerade weil in Verkümmerung gedacht, erscheint dann als Dummheit, während Fortschritt, wo ein Begriff von Weisheit abwesend bleiben muß, zum Produkt bloßer Schläue degeniert. Damit, so hoffe ich, dürfte klar sein, daß ein dialektischer Materialismus sich den Sinn für ein Wissen und damit für eine Wissens soziologie erhält, die sich einerseits der Synthese von Wollen und Wissenwollen bewußt bleiben, und damit andererseits den ähnlich strukturierten, also synthetischen Bezug von Wert und Wissen in Rechnung stellen kann, ohne zu ignorieren, daß diese Bezugsform auch geleugnet werden könnte.
ja bekanntlich schon früher die alte Marx'sche Fassung des Verhältnisses des Menschen zur Natur als das Verhältnis von "Anderer Natur" zur Natur ins Spiel zu bringen versuchte, und zwar als es ihm um den Bezug zwischen "Erkenntnis und Interesse" ging 22 . Ich hoffe indes, daß ein Wiederbedenken dieser älteren Habermas'schen Überlegungen im Lichte gerade skizzierter und kritisierter materialistischer Positionen noch immer von Nutzen sein könnte. Im ersten Teil von "Erkenntnis und Interesse" untersucht Habermas die philosophische Sequenz Kant-Hegel-Marx unter dem Gesichtspunkt, ob ihnen die für ihr eigenes Denken notwendige Synthese von Theorie und Praxis gelingt. Sein Verdikt ist bekanntlich negativ in dem Sinne, daß, während Kant die Synthese erst gar nicht versuchte, Hegel und Marx sie einseitig "lösten", das heißt entweder einen reinen Geist oder eine reine Natur hätten postulieren müssen. Während nun aber Kant zumindest vorrangig kein Geschichtsphiloph sein will, treten Hegel und Marx mit diesem Anspruch auf und scheitern nach Habermas letztlich an ihm. Für Hegel endet die Geschichte in der Ankunft des Absoluten Geistes; für Marx kommt sie angeblich in der widerspruchsfreien Maschinerie der Produktion zum Stillstand. Vor beiden teleologischen Kriterien blamiert sich dann der Gang der Geschichte als Sequenz von Irrungen. Habermas selbst hat die Synthese zu denken versucht. In der Essayfassung von "Erkenntnis und Interesse"23 sieht er sie bekanntlich festgemacht in gelebter" Theoria ", also in der gelebten Weisheit solcher Epochen, für die praktische und reine Vernunft noch eins waren. Nach ihrem Auseinanderfallen, so legt er in diesem Essay und besonders in der Buchfassung dar, sieht er die Synthese von instrumentaler und kommunikativer Rationalität durch gesellschaftsgebundenes Interesse vermittelt. Nun leiden aber beide Kategorien, "Theoria" und auch "Interesse", an einer Schwierigkeit: sie sind gebunden an das Postulat einer integrierten Gesellschaft, einer heilen Welt. Von einer solchen aber kann unter den von Habermas anerkannten Bedingungen der Klassengesellschaft nicht die Rede sein. Aber wenn man auch nicht von einem wie immer wunderbarerweise verfügbaren gesellschaftlichen Gesamtinteresse ausgehen kann, so heißt das nicht, daß es ein solches Interesse nicht geben kann. Die Frage muß jedoch gestellt werden, ob Wollen und Wissenwollen nicht als Bedingungen der Möglichkeit (und der Unmöglichkeit!) von Interesse und damit auch von dem, was einst "Theoria" war, anzusetzen sind. All diese Größen, "Theoria ", "Interesse", "heile Welt" und "integrierte Gesellschaft", mögen zwar ihrer inhaltlichen Substanz nach wandelbar sein, das aktiv Wandelnde, die treibende Kraft einer Veränderung sind sie nicht. Sie muß woanders gesucht werden, und zwar, wie ich vorschlagen möchte, im Wollen, das heißt in der inneren Materialität des Menschen. Anders ausgedrückt: liefert eine dialektisch-materialistische Umformulierung des kantischen Begriffs der Spontaneität 24 nicht die Kategorie, aufgrund derer Gesellschaft und mit das in ihrer neuen "Theoria" aufgehobene Wissen denkbar werden? Wenn aber Spontaneität nur gleichzeitig symbolisch und (darin aufgehoben) materiell gefaßt werden kann, leistet diese Synthese auch jene von Praxis und Theorie, und zwar uno actu 25 . Wo indes diese
mißlingt, sondern in ihrem Gelingen sich noch leugnet. Dies ist die Wurzel desjenigen falschen Bewußtseins, das sich weiter oben in der Leugnung von Informationen zeigte. Dieses Leugnen und Abweisen setzt ja das Verstehen und damit das spontane Verstehenwollen der Information, also den synthetischen Akt des Erkennens, voraus, leugnet aber mit dem Ignorieren der Botschaft noch ihre Bedingungen, nämlich die momentan erfolgte Synthese und damit die Kraft, die sie zu der Falschheit des Leugnens drängte: eine Spontaneität, die sich selbst verdrängt. Es kann also nicht bestritten werden, daß dieses Leugnen auf einem Wollen beruht. Dieses muß als subjektives Moment natürlich ebenfalls im Menschen angelegt sein. Aber insofern es sich gegen das auf Wissen und auf die Anerkennung seiner Bedingungen gerichtete Wollen einstellt, ist dieses Wollen noch die Bedingung der Möglichkeit seines Gegenteils, nämlich des Verdrängenwollens. Seit Freud wissen wir, daß diese antilibidinöse Fähigkeit nur aus der Erfahrung repressiver Interaktion stammen kann. Diese Überlegungen leugnen nicht die Möglichkeit von Motivation, "Tbeoria" und Interesse, stellen aber gleichzeitig den Versuch dar, das Wissen dort zu begründen, wo diejenigen gesellschaftlichen Bedingungen abwesend sind, die Spontaneität in ihrer nicht verkrümmten Form erlauben. Dieser Überlegung liegt der Gedanke zugrunde, daß Motivation traditionell vermittelt wird durch Idole, also bildhafte Kondensationen eines gesellschaftlich positiv bewerteten Zustandes. Ziele wie Haben oder Wissen werden dann angestrebt durch Identifikation mit einem solchen meist personifizierten Idol, das über das Angestrebte verfügt. Motivierende Idole sind also Produkte eines kognitiv-ästhetischen Konsensus der Gesellschaft, mit denen sich individuelle Spontaneität identifizieren kann 26 . Genausowenig jedoch wie "Tbeoria" und darin aufgehobenes gesamtgesellschaftliches Interesse nach ihrem historischen Zerfall gekittet werden können, kann man erwarten, daß sie durch einen mit ihnen verknüpften fdentifikationsbezug auf der Ebene des Individuums alte Formen der Motivationsstiftung glaubwürdig perpetuieren. Ihr dennoch zu beobachtender Fortbestand ist dann die Bedingung desjenigen Lernens und Wissens, das seinen eigenen historischen Kontext ignoriert. Nun möchte ich die weitere Behandlung der Frage aber zunächst zurückstellen, was das denn für ein Lernen und Wissen sei, das unter solchen Bedingungen stattfindet. Angebrachter scheint es mir zu sein, vorher zu skizzieren, was denn eine dialektisch-materialistische Aneignung des Kant'schen Spontaneitätsbegriffs bedeutet, zumal Spontaneität, wie wir sahen, sowohl dem nichtverdrängenden wie dem verdrängenden Lernen zugrundeliegt. Es dürfte klar sein, daß eine solche Aneignung im Rahmen eines Essays nicht in ihren einzelnen Zügen nachgezeichnet werden kann 27 . Hier kann es nur darum gehen, sie in ihren Grundzügen nachzuzeichnen und ihre Konsequenzen für heutiges Wissen und heutige Wissenssoziologie aufzuzeigen. Die oben in der kritischen Betrachtung des Monismus herausgestellten Größen, nämlich Taxonomie und Wertung, gründen beide und jede für sich auf der Leiblichkeit des Menschen in ihrer ineinandergreifenden Duplizität vom Ordnen und vom Wollen der
er den Willen, in diese Welt geordnet und gemessen, also mit Anstand und richtig, hinauszugreifen. Damit konstruiert sich der Mensch im dialektisch-materialistisch verstandenen Ausgriff seiner Spontaneität seine Welt, in der er materialiter eh zuhause ist. Auf die Bedeutung der Reflexion für die Bewußtheit dieses "Konstruierens" brauche ich hier nicht einzugehen. Dies ist anderenorts oft genug geschehen 29 . Akte dieser dialektisch-materialistischen Spontaneität schaffen so einerseits die Synthese zwischen bloßer Natur und dem Menschen als Anderer Natur, während sie andererseits im dialogischen Konsensus einer Intersubjektivität von Ego und Alter einmünden. Dabei gilt für beide, Synthese und Konsensus, materielle Richtigkeit wegen ihrer Allgemeingültigkeit (sofern wir materielle Wesen sind) als Korrektiv. Jedoch hebt "diese Allgemeingültigkeit ... bereits das Erkenntnissubjekt aus seiner Vereinzelung in jeder seiner Erkenntnisfunktionen heraus und gliedert es in ein Reich geistiger Verbundenheit mit anderen ein, für welches der Begriff der Menschheit nur die höchste Form ihrer Bewußtheit geworden ist. Der Mensch baut in seiner unmittelbaren Erfahrung nicht nur die Natur erst auf, deren Gesetze er im langen Werdeprozeß des Erkennens sich hintennach zum Bewußtsein bringt, sondern er schafft so zugleich auch seine Gesellschaft, die er im nicht minder langwierigen Gestaltungsprozeß seines Wollens bis zur Menschheit, ja bis zur Gottheit erweitert. Der Mensch wird sozial nicht erst unter Menschen, sondern er ist bereits sozial in jedem seiner Gedanken, von dem er annimmt, daß ihn der Nebenmensch verstehen (meine Unterstreichung, FWS), und, wenn er ihn für richtig hält, auch anerkennen wird müssen. Und so erweist sich, was bis jetzt noch fast ganz unbeachtet geblieben ist, daß die Kant'sche Erkenntniskritik nicht erst in ihrem praktischen Felde, sondern schon auf dem theoretischen Gebiete einen sozialen Stoff behandelt, daß sie wirklich das ist, als was wir sie schon öfters bezeichnet haben, eine kritische Philosophie des sozialen Bewußtseins 3o ." Die Historizität dieser Formulierung selbst wird deutlich, wenn man bedenkt, daß das freie Anerkennen von Richtigkeit nur erscheinen kann, wo der objektive Entwicklungsstand der Produktionskräfte freie Beziehungen möglich sein läßt, die nicht mehr eingeschränkt sind durch partikulare und doch generelle Gültigkeit beanspruchende Weltsichten 31 . Wo dies der Fall ist, und ich schlage mit anderen hier den Spätkapitalismus als historischen Horizont solcher Möglichkeit vor, werden Formen von Ethik und Theorie durch eine Ästhetik, das heißt durch ein universalisierbares, körperlichsinnliches Wollen, vermittelt. Selbst das auf die äußere Natur gerichtete, also technische Wissen, wird damit in seiner Form genauso zu einem Gegenstand freier Spontaneität wie die Formen der Ethik, da, um der Allgemeinheit willen die Richtigkeit wahrend, jedermann sich nach Maß und Willen in den symbolischen Formen von Ethik und Theorie ästhetisch, das heißt lustvoll, wiederfinden kann 32 . Eine solche Darstellung sich glücklich äußernder Spontaneität darf sich natürlich nicht zu dem Optimismus verleiten lassen, der da ignoriert, daß Spontaneität auch grundlegend ist für den Aufbau gespaltener Innenwelten des Menschen, also des falschen Bewußtseins. Darauf werde ich später zurückkommen.
intersubjektiver Spontaneität in Produktion, Ethik und Ästhetik bleiben natürlich abhängig von lokaler und zeitweiliger Konstellation der partizipierenden Kräfte 33 . Das heißt, das substantiierte und dennoch allgemein gültig sein wollende Ethiken und Ästhetiken nicht mehr vorgeschlagen werden können 34 ; sie sind nicht zeitgemäß (und werden auch so im Alltag nicht mehr empfunden). Sogar das für die Produktion notwendige richtige Wissen ist seiner Form nach undeterminiert, bedarf aber natürlich der inhaltsmäßigen Richtigkeit, gegen die auch Ethik und Ästhetik nicht verstoßen dürfen. Faßt man die Formen von Produktion und Ethik sowie die Formen der beide gesellschaftlich vermittelnden Ästhetik zum Gesamtbegriff der Kultur zusammen, kann man folgendes formulieren: Die drei Komponenten von Kultur sind, falls repressionsfrei generiert, untereinander kompatibel. Dies basiert auf ihrer Vermitteltheit durch das Einheit stiftende Subjekt. Diesen Begriff möchte ich indes nicht im Sinne einer permanenten Gültigkeit des spontan Gedachten verstanden wissen. Dies würde jede Dynamik des Richtigen und Guten für ein hier vorgeschlagenes Denken, das sich selbst der Natur und ihrem Fließen anvertraut und verdankt, idealistisch zerstören. Vielmehr konstituiert sich die Einheit des Subjektes jeweils aufs Neue in einzelnen Denkakten, in denen sich die Brücke zu anderen Subjekten vermittels der auch in ihnen möglichen Synthese zwischen innerer und äußerer Natur bildet 35 . Ein solcher Begriff von Kultur (oder von Weltsicht) impliziert nicht, trotz der freiheitlichen Annahme ihrer "bloß" lokalen und zeitweiligen Gültigkeit, das Aufstoßen von Türen, durch die der Verstand zum Vagabundieren in seltsame Horizonte entweichen könnte. Jedwede Kulturform verliert zwar eine auf sie allein verpflichtende Verbindlichkeit, bleibt aber gebunden an die dialektisch verstandene allgemeine Grundbedingung der Richtigkeit für alle Menschen. Dies wiederum verlangt die Einübung dialektisch-materialistisch verstandener Kommunikation, auf die ich später zurückkommen werde. Eine in diesem Sinne flexible Kultur ist dann das überschreitende Gegenstück zu einem Konzept von Wissen, das diesem die chimärische Existenz einer O-Dimension zuschreibt. Stattdessen wird Wissen dann verstanden als das von technischer Richtigkeit und wird als solches aufgeho ben in einem Kulturbegriff, in dem es in Absetzung von ethischer Gewißheit und ästhetischem Empfinden sich mit diesen assoziiert. Nun sollen diese Überlegungen nicht dazu verleiten, den Aufbau einer Wissenssoziologie vorzuschlagen, wie sie nur aus einer "heilen Welt" erwachsen kann. Wenn ich nun aber weiter überlege, wie eine Wissenssoziologie unter real bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen sich darstellen müßte, dann brauche ich ihre Limitierung auf einen bloß instrumentalistisch verkürzten Verstand von Wissen nicht einfach zu akzeptieren. Eine Überschreitung solcher Limitierung ist indes nicht dogmatisch postuliert, vielmehr gründet sie in einem Umstand, den ich weiter oben besprochen habe: Das falsche Bewußtsein ist nicht einfach das Gegenteil des wahren, sondern dessen Verkümmerung. Es beruht aber auf derselben Spontaneität wie das wahre, bloß daß das falsche weder Spontaneität noch deren Verkümmerung anerkennt. Somit sieht
lich die Tugend der Motivationslosigkeit. Daß sie und wie sie im Verein mit der sie stützenden Ideologie der Effizienz, die Luhmann als Systemtheorie von Sinn bezeichnet, Macht heutzutage perpetuiert, hat vor allem Habermas 36 mit wünschenswerter Klarheit herausgestellt. Ahnlich dieser vom Idealismus hergeleiteten Ideologie hält auch die des monistischen Materialismus an der Trennung von Geist und Materie fest. Während Luhmann indes Macht mit Technokratie zu verdecken sucht, und zwar durch Beiseitelassen des Willens, erhebt Adams sie durch Geltenlassen von rohem Willen zum wichtigsten sozialen Band. Nun soll hier zunächst nicht darüber gehandelt werden, wie die Aufhebung der Trennung von Geist und Materie Macht, Instrumentalismus und falsches Bewußtsein abschafft - dies hat das Vorausgehende schon weitgehend impliziert - , sondern es soll entfaltet werden, wie diese Trennung ungeachtet ihrer Herkunft sich mit ihren Konsequenzen dem Warencharakter des Wissens zugrundelegt. Gleichgültig, ob man mit Luhmanns Interesse an Effizienz argumentiert oder mit Adams Kultur als Geheimwaffe operiert, in keinem Falle kann ein anderer als ein instrumentalistischer Grund dafür angegeben werden, Wissen zu sozialisieren oder zu erwerben. Dies ist die Bedingung der Möglichkeit, Informationsaustausch als Warenbeziehung aufzuziehen. Wie dies vor sich geht, auf welchen immer wieder aktivierten Widersprüchen er basiert und welche Art von Ausbeutung er impliziert, soll nun klargemacht werden. Offensichtlich liegt es meinen Überlegungen zugrunde, Informationen 37 und Waren als partikulare Manifestationen, also als Produkte, der allgemeineren Prinzipien Wissen (Sinn oder Reduktionssystem) und Kapital zu fassen. Ich benutze hier bewußt den Begriff "Wissen" (oder "Sinn", "Reduktionssystem") anstelle von "Kultur", um anzuzeigen, daß es sich um bloß instrumentalistisch eingesetzte symbolische Formen handelt, wie sie immer dann erscheinen, wenn sie herausgelöst werden aus einer zerfallenen Synthese von instrumentaler und kommunikativer Rationalität. Die ausbeuterischen Bedingungen der Warenproduktion und -konsumtion hat Marx beschrieben. Sie beruhen darauf, daß das Kapital als Allgemeines nicht unter allgemeiner Kontrolle steht. Dies ist bei der Informationsproduktion und -konsumtion nicht prinzipiell anders, wenngleich komplexer, da es sich bei symbolischen Formen vornehmlich um den Anordnungsaspekt von Materie handelt und dann erst darum, daß seine Bedeutung nur existiert, wenn sie im Augenblick des Bedenkens wieder erschaffen wird. Bei Waren ist deren Anordnung natürlich auch wichtig und muß erkannt werden, soll die Ware benutzt werden. Aber das Erschaffen und Wiedererschaffen von Bedeutungen, mit denen man es bei Waren auch, bei reinen Informationen aber nur zu tun hat, bedarf vornehmlich der inneren Natur des Menschen. Sieht man Sinn wie Kapital als vereinseitigtes Kontrollverhältnis an, dann erfaßt man die Konsumtion der Ware Information als das, was sie ist: verlustreiche Arbeit. Dies trifft fraglos auch auf die Produktion zu, wird aber hier unter Konsumtion mitbehandelt 38 , da die richtige Bedeutung von Information, sei es in Abgabe oder Aufnahme,
formation bedeutet dann die Konsumtion von Sinn, der natürlich als investierbar Überschuß vorhanden sein muß, das heißt als ein Bezugsrahmen von größerer Abstrak tion als der jeweiliger Information. Konsumtion (und Aufnahme) von Informatio wird beim Rezipienten nur dann in gleichem Maße wie beim Informationsgeber zu Produktion von Sinn, wenn der Empfänger über den Sinn des letzteren mitverfüg und zwar nicht als totale Identität, aber doch auf vergleichbarer Abstraktionseben Symbolische Produktion und Konsumtion sind ähnlich der wirtschaftlichen nur dan auf Gebrauchswerte bezogen, wenn ihr Kapital, also Sinn, sozialisiert ist. Das müß von einer aufzubauenden Politischen Ökonomie des Wissens herausgearbeitet werden Da sie Wissen materialistisch gegründet sieht, müßte sie die Ausbeutung, die in sym bolischer Arbeit geschieht, als materielle erfassen können, und zwar, so möchte ic vorschlagen, als Ausbeutung der inneren Natur des Menschen, das heißt seines spon tanen Wollens. Ist Sinn nicht sozialisiert, also Teilnahme an ihm beschränkt, kan Spontaneität nie sicher sein, bei ihrem Ausgriff nicht "zum besten gehalten" z werden. Dies bedeutet dann nicht die Abwesenheit von Konsensus oder Intersubjek tivität, sondern deren nur partielles Auftreten. Nicht jedes Subjekt kann sich dan als sinnvoller Partner an Interaktion konstituieren, jedes möchte dies aber glaube Dieser Umstand aber mißbraucht die Spontaneität und beutet so die innere Natu des Menschen aus. Mir scheint, daß man mit einer dialektisch-materialistischen Fassung des Spontane tätsbegriffs zum Pragmatismus von G. H. Mead zurückkehren könnte, um den Habe mas'schen Versuch wieder aufzunehmen, der darauf zielte, die Schwierigkeiten d Kant-Hegel-Marx'schen Tradition zu beheben. Dies führt dann zu einem Begriff vo Sozialität, der anders als der von Mead außer in der kommunikativen Interaktio auch in der Produktion gegründet ist und beide Bereiche sowie ihre Beziehung materi listisch begreift. Habermas vermag nicht, Kommunikation selbst materialistisch-di lektisch zu denken. Seine Rettung des Subjekts läßt ihn am Ende der "Legitimation probleme" eine Vernunft feiern, die kaum anders denn als idealistische Hymne ve standen werden kann. Zwar gehe ich aus von dem Kantschen Begriff der Spontaneität, fasse ihn aber in de oben gekennzeichneten Weise sowohl als Maß wie als Antrieb. Mindestens seit Kant i die Bedeutung der Spontaneität für kognitive Richtigkeit geklärt. Anders als bei eine idealistischen Kant-Verständnis ist die Welt der Phänomene aber nicht nur unser Welt ("Phaenomenon hominis"), weil sich unsere Transzendentalität in ihr "schem tisieren" läßt, sondern weil wir von dieser Welt materialiter sind. Wir müssen als nicht nur die Richtigkeit von Naturerkenntnissen anerkennen, wir wollen sie so falls richtig 39 , weil unsere innere Natur von der äußeren nicht geschieden ist. D Ordnung unserer Naturerkenntnis ist unser Geordnetsein auch 40 . Unser Wille qua materialistisch verstandener Spontaneität ist aber nicht nur aufge hoben in deren Ausgriff auf die bloße Natur, sondern - weiterhin repressionsfreie Ausgriff optimistisch postulierend - auch in ihrem Ausgriff auf uns umgebend
Erkenntnis so zu kultivieren, wie oben skizziert, oder diese Freiheit zu zerstückeln durch nur partiell erlebte Spontaneität. Die freie Interaktion von Menschen gelingt dann in einem Mead materialistisch aneignenden Sinne dadurch, daß ihre Spontaneitäten sich gegenseitig dialogisch formen. Der Aufbau von Intersubjektivität zwischen ihnen wird dabei in einer Weise angestrebt, die den Widerspruch gegen ihre innere und äußere Natur eigentlich, das heißt unter der optimistischen Voraussetzung repressionsfreier Spontaneität, nicht wollen dürfte. Horchen auf die innere und äußere Natur wird damit zum Ko-Terminus für die sittliche Ordnung der sozialen Welt. Für sie ist somit nicht die bloße Natur die Bedingung ihrer Möglichkeit, sondern das gemeinsame Horchen auf sie. Natürlich wird zu überlegen sein, daß und wieso der Fehlschlag des Dialogs zwischen Menschen es impliziert, daß sie sich selbst und gegenseitig zu Objekten werden. Dies wiederum heißt nicht nur, daß sie sich bei dieser Gelegenheit als bloße Naturstücke mißbrauchen, sondern daß sie gleichzeitig den Sinn für Natur überhaupt - also den für die äußere wie innere Natur - verlieren und dies nicht einmal wissen. Es sei noch einmal hervorgehoben, daß eine Grundlegung von taxonomisch richtigem und wertethisch verbindlichem Wissen, wie sie hier vorgeschlagen wird, sich dessen bewußt ist, daß sie einerseits nicht substantiell und spezifisch sein kann, und daß sie andererseits nur so hoffen darf, mit dem Spätkapitalismus auf einer Höhe zu stehen. Einerseits zeigt das Erfordernis, mit dem Spätkapitalismus auf einer Höhe zu sein, an, daß die gleichsam inhaltslose Allgemeinheit der Bedingungen von technisch richtigem und sozial verbindlichem Wissen genauso wie die der inhaltlichen Unbestimmtheit des Kapitals Stationen eines geschichtlichen Prozesses sind. Sicherlich bedarf die Allgemeinheit von Wissen (oder Sinn) und Kapital einer viel detaillierteren Betrachtung, als sie hier möglich ist41 , aber andererseits ist auch klar, daß diese omnilateral einsetzbaren Akkumulationen nur Bedeutung gewinnen, wenn sie durch Arbeit sich umsetzen können in dann notwendigerweise partikulare Produkte, das heißt Erkenntnisse und Güter, die man gebrauchen kann. Begriffe bleiben leer und Kapitalien sinnlos, wenn sie sich nicht schematisieren lassen. Hier wird "Schematisieren" allerdings materialistisch umgedeutet und dann als Akt des Herstellens sowohl auf Sinn wie auf Kapital angewandt. In Produktion und Konsumtion von Erkenntnissen und Gütern greifen sowohl Sinn wie Kapital wie auch Denken und Tun ineinander. In dem Maße wie Produktion von Sachen sinnvoll ist, ist sie "Schematisierung" von Sinn und Kapital in der Arbeit. Daß dem nicht einfach eine sinnlose Produktion gegenübersteht, liegt darin begründet, daß Sinn und Kapital nicht einfach abwesend sind in der Produktionsweise des Spätkapitalismus, sondern als vereinseitigte Verhältnisse dort auftreten. Jede Schematisierung schafft nicht nur dumpf-maschinell Vergangenheit, sondern sinnvollen Mehrwert. Mead hat uns gelehrt, daß die symbolische Seite der Ergebnisse von Interaktionen sich als Sedimente zu einem Bezugsrahmen aufbauen, während Marx uns zeigte, daß Arbeiten an der äußeren Natur den Fundus des Kapitals vergrößert.
werden, die als Potential der heutigen Sinn-und-Kapital-Formen innewohnen, falls, und das bleibt noch immer unsere Voraussetzung, repressionsfreier Ausgriff der Spontaneität gelingt. Das Allgemeine des Kapitals bei ·all seinen partikularen Erscheinungsformen noch mitzu bedenken, wenngleich instrumentalistisch verkürzt, hat seit dem Kapitalismus das Potential dafür geschaffen, auch verschiedene Lebenswelten als lokal-temporal gültige Spezifizierungen von Sinnmöglichkeiten zu verstehen. Toleranz in diesem Sinne ist heutzutage möglich, wenngleich häufiger abwesend als faktisch geübt. Das potentiell vorhandene Bewußtsein davon, daß andersartige Lebensweisen auch sinnvoll sein können, impliziert den symbolischen Reichtum, nicht mehr eingeengt zu sein auf Weltanschauungen in ihrer notwendigerweise partikularen Beschränktheit. Der Reichtum, im Besonderen das Allgemeine zu sehen, ist prinzipiell vorhanden. Dieser symbolische, aber natürlich in sich selbst materiell gegründete Reichtum erlaubt es, den vorhandenen Reichtum an erwirtschaftetem Mehrwert 43 wirklich freiheitlich und demokratisch einzusetzen und gleichzeitig in partikularen Lebensgestaltungen einen Ausdruck des Allgemeinen zu sehen. Dies setzt indes heute vor allem anderen eine materialistische Kulturrevolution voraus 44 • Damit aber gestehe ich ein, daß die Annahme repressionsfreier Spontaneität, die einem Gutteil des bisher Gesagten vorausgesetzt war, in der gesellschaftlichen Realität nicht gilt. Es wird damit meine Aufgabe zu überlegen, was denn in der Kommunikation passiert, wenn sie nicht frei ist. Geht man nun davon aus, daß die freiheitliche Handhabe von Sinn nicht vorherrscht, dann heißt das genauso wenig, daß Kommunikation zum Ende kommt, wie es geheißen hat, daß, wie Marx annahm, die partikularistische Kontrolle von Kapital im Zuge einer fallenden Profitrate der Produktion und damit sich selbst den Garaus machen würde. Beides, so darf gehofft und gefürchtet werden, läuft weiter. Auch muß man sich erinnern, daß die Ausbeutung, die das vorherrschende Kapitalverhältnis von vornherein bedeutet hat, gleichzeitig immer die Ausbeutung von Sinn als sozialer Konstruktion symbolischer Wirklichkeit impliziert hat. Immer schon hat der Kapitalismus, auch der "klassische", auf Mythen beruht, die die nicht zu rechtfertigende einseitige Aneignung des gemeinsam produzierten Mehrwerts verschleiert und legitimiert hat. Mythen wie die vom "freien Arbeitsmarkt", "freier Rede", "Demokratie" und früher auch "Vaterland" waren im Ernstfall immer unfähig, ihren Wahrheitsanspruch einzulösen, nicht nur, weil sie der materiell objektiven Grundlage entbehren, sondern weil sie gleichzeitig einem bloß instrumentalen Interesse entwachsen sind. Wo die Produktionsverhältnisse reduziert sind auf ein von oben sich diktierendes Kapitalverhältnis, da zerfällt, was einst die Synthese von Tbeoria ausmachte, in ihre gesonderten Bestandteile, nämlich instrumentale und kommunikative Vernunft. Das aber bedeutet, daß instrumentale Vernunft nun die kommunikative benutzen kann. An die alte Einheit wurde indes von unten, seitens des Proletariats, noch lange geglaubt. Das war sein falsches Bewußtsein. Motivationen zum Anständigsein, zum
schein der Gültigkeit verliehen. Dieser Instrumentalismus nutzt den Umstand aus, daß Menschen nie nur haben wollen, wie wir weiter oben schon sahen, sondern im Haben die lustvolle und befriedigende Identifikation mit dem als besitzend gedachten Idol zu erleben trachten45 • Wo Idole jedoch bloß eingesetzt werden, verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit. Ihr Einsatz macht sie zum Ersatz. Das heißt nun aber nicht, daß diese Art von Idol nicht immer noch ihren motivierenden Zweck erfüllte. Dafür mag eine empirische Untersuchung recht unterschiedliche Gründe finden. Es müßte in diesem Zusammenhang auch der Frage nachgegangen werden, wie weit die schiere Zweckhaftigkeit von Idolen heute in das allgemeine Bewußtsein eingedrungen ist. Ist es nicht zum Gemeinplatz geworden, daß Identifikationen von Rolle zu Rolle zu wechseln sind und daß man trotzdem an sie zu glauben hat? Dies zu können, mag eine der heutigen Bedingungen von Tüchtigkeit sein. Abgesehen von diesen empirischen Fragen kommt aber auch die grundsätzliche auf, ob Instrumentalismus überhaupt Identifikation und darin Befriedigung gewähren kann oder ob auch das sein Maß an Glauben verlangt. Klar muß bleiben, daß auch in Akten instrumentaler Rationalität Spontaneität Bedingung der Möglichkeit bleibt, aber es ist keine Spontaneität, die Lust in ihrem Objekt findet. Genauso (wir sahen es weiter oben), wie das falsche Bewußtsein, obwohl spontan erkennend, eine Einsicht verwirft, von der es Bedrohung fürchtet, greift es aber das auf, was es als nützlich erkennt. Entscheidend scheint mir nicht zu sein, daß auch dieses instrumentale Ausgreifen auf einer Spontaneität beruht, sondern daß es sich auf Objekte als Mittel zu dahinterliegenden Zwecken richtet. Nie sind diese Objekte selbst gemeint und gewollt, so daß ihr Erfassen nie Befriedigung bedeutet. Verstehen, sei es von bloßen Dingen oder von Menschen, ist nie das Erlebnis einer Ordnung, die das Drinnen des zu verstehen Trachtenden mit dem Draußen des zu Verstehenden harmonisiert. Diesen Instrumentalismus denkt ein altgriechisches Bild zu seinem logischen Ende: dem Midas verwandelt sich alles, worauf er seine Hand legt, zu Gold, dem Mittel zum Zweck par excellence. Nie kann er genießen, was er bekommt, nie ist es das, was er will. Es ist dieser Entzug der Lustbefriedigung, die hier in anderer Form als oben beschrieben, aber auch wieder als Ausbeutung der inneren Natur auftritt. Sie wird betrieben durch Vorsetzen immer neuer Objekte, auf die die Spontaneität des falschen Bewußtseins hinausgreift, die aber immer nur, wenn überhaupt, eine selbst vorgemachte Befriedigung gewähren. In dem Maße, wie dieses Vorsetzen vermittelt ist durch bereitgehaltene Idole, behalten diese ihre Funktionalität. So werden Idole gleichzeitig am Leben erhalten und unterminiert, schaffen aber eine Art von Motivation für den Menschen im Spätkapitalismus. Es wird, wohlgemerkt, nicht bestritten, daß einige oder vielleicht alle der heute eingesetzten Idole einstmals Gültigkeit gehabt haben, und zwar zu den Zeiten, als ihr symbolischer Kontext, also das Weltbild, dem sie entstammten, noch dem Stand der Entwicklung der Produktionskräfte entsprach. Sie erlaubten dann den Menschen, sich in ihnen kognitiv und ästhetisch ausdrücken zu können, waren also ihrer Spontanei-
mehr geben. Was bleibt, ist der Ausgriff der Spontaneität, die sich ihre Identifikatio momentan, das heißt, je Gelegenheit des Lernens und Verstehens oder Gestalten schaffen muß. Diese neue Identifikation liegt aber jetzt auf einer Ebene, von d Max Adler an der oben zitierten Stelle spricht. Sie wird zu einer sozialen Identifik tion des Menschen unter Menschen "in jedem seiner Gedanken, von dem er annimm daß ihn der Nebenmensch verstehen ... wird müssen,,47. Ich möchte indes ein wenig mehr der Frage nachgehen, was denn noch weiter pa siert, wo überständige Idole perpetuiert werden, da man repressionsfreie Spontane tät, die auf der Höhe der Zeit ist, nicht zulassen will. Gleichgültig, ob dieses objekt falsche Bewußtsein durchschaut wird oder nicht, die Spontaneität bleibt unter diese Umständen instrumentalistisch verkrümmt. Glaube, Hobby oder Kunst sind, fal mit Maßen in der Freizeit betrieben, so lange funktional, als man das, was man do an Spontaneität und Identifikation verspürt, säuberlich von der Produktionswe trennt. Nur so lange, wie man Idole gewissermaßen nur halb ernst nimmt, reprod ziert sich auch die notwendige Art von gewünschter Motivation. Die Zurückhaltun nicht voll ernstzunehmen, legt sich das Individuum in seiner Instrumentalität selb auf. Die entsprechende gesellschaftliche Erwartung wird von ihm "willig" reprod ziert. Wird dies vom Individuum mehr als bloß erahnt, erfüllt die "Freizeit", in welch Variation immer, nicht mehr ihre Funktion .. Nun mag es in der Tat ein Leichtes sein, das Gespür für die ausbeuterische Funktio aller Art von Motivationsreproduktion abzutöten, da es für die, die dieses Gesp haben, auch nicht funktional ist. Sich gegen derartige Einsichten immunisiert z haben, wird im Spätkapitalismus geradezu zum Zeichen persönlicher "Reife". D Frage muß indes gestellt werden, wie sich das unterdrückte Gespür für das, was ic "verkrümmte" Spontaneität" nenne, auf das Ausüben eben dieser Spontaneität au wirkt. Vertrocknet sie nicht? Brütet sie nicht Perversionen aus? Was machen eigen lich die Kinder, die das Verkrümmtsein ihrer Eltern sehen, das Künstliche ihrer Fre de? Bleibt ihnen eigentlich etwas anderes übrig als Apathie oder die funktiona "Reife", die sich selbst noch mißversteht? Es ist an diesem Punkt, wo ich sagen möchte, daß man es bei Habermas' richtige Hinweis darauf, daß "nicht Lernen, sondern Nicht-Lernen, problematisch" sei 48 , nic belassen kann. Das Problem ist ja nicht, daß es Menschen gibt, die überhaupt nic lernen. Es kann keinen Menschen ohne Spontaneität geben. Es kann nur so sei daß Spontaneität nicht kultiviert worden ist, so daß nie gelernt wurde, was den Lernen ist. Selbst in dem Extremfalle, wo alles Lernen nur mechanischem Drill en wächst, ist es nicht auf bloß materielle Informationsaufnahme reduziert. Ein Hi ausgreifen auf die Information zur Aneignung durch das lernende Subjekt muß selb da noch stattfinden. Wir alle wissen, daß Hören oder Lesen nicht gleich dem Verst hen sind. Die Frage scheint zu sein, ob die Synthese des Neuen mit dem schon G wußten und damit schon Gewollten zu einer totalen gelingt oder ob der Lernende m Teilsynthesen, je nach Fachbereich gewissermaßen, sich zufrieden gibt. Hier so
Gesamtzusammenhang in der Natur da draußen und zwischen ihr und meiner wirkenden Natur da drinnen, als Grundlage kultivierten Lebens zersplittert. Da wir aber von dieser Welt sind, bleibt die Natur und damit Spontaneität in uns am Werke, aber eben in einer Weise, die Begriff und Sinn für den umfassenden Zusammenhang vergißt und auch den für Befriedigung. Damit ist gesagt, daß das, was Habermas Nicht-Lernen nennt, nicht auf einem fehlenden Bezug zur äußeren und inneren Natur beruht, sondern auf einem falschen Bezug, der sich nicht einmal selbst anerkennt. Eine andere Frage ist, ob dieser "umfassende Zusammenhang" noch die Bedeutung des alten philosophischen Begriffs des Ganzen haben kann. Ohne dieser Frage hier nachgehen zu können, scheint ihre Beantwortung beachten zu müssen, daß dieser Zusammenhang einmal immer nur in partikularen Formulierungen für die, die ihn reflektiert haben, erstehen kann, und daß er andererseits mit den materiellen Veränderungen in dem Menschen und um ihn herum sich ändert. Auch wäre wohl zu untersuchen, ob zum Beispiel diejenigen, die akademisch wenig leisten und/oder im Denken, das heißt im Herstellen von Zusammenhängen, nicht geübt sind, irgendwann einmal buchstäblich die Lust daran ausgetrieben bekommen haben. Es könnte sehr wohl sein, daß sie diesen Lustentzug abblocken mußten und Befriedigung in anderen als den akademischen Feldern gefunden haben. Ich lasse es dahingestellt, in welchem Maße solche Limitierung der Spontaneität schon vorbereitet für und abstumpft gegen die Ausbeutung im "klassischen" kapitalistischen Sinn und zunehmend auch in dem Sinne, der mir der heutigen inneren Ausbeutung mehr zu entsprechen scheint. Unterstreichen möchte ich außerdem, daß der Nichterwerb von Wissen auch von Bedeutung ist für das weitere Lernen. Damit ist implizit gesagt, daß zwar hinausgreifende Spontaneität Grundlage des Denkens ist, aber Wissen, hier im Sinne eines Fundus schon verarbeiteter Information, als "Stoff" notwendig ist, ohne den das Denken natürlich arm, weil "leer", bleiben muß 49 • Erst wenn das Denken als spontaner Akt gelernt ist, kann sein partikularer "Stoff" als austauschbar erfahren werden. Wenn der Instrumentalismus Spontaneität im Ansatz verdirbt und somit die innere Natur der permanenten Ausbeutung preisgibt und wenn dies die Scheidung von instrumentaler und kommunikativer Rationalität impliziert, dann kann dieser Zustand nicht repariert werden durch ein Zurückgehen auf den "Status quo ante". Auf keinen Fall können Idole die Kluft zwischen Instrumentalität und Identifikation schließen. Dies ist im schon Gesagten impliziert. Daraus muß aber noch eine weitere Konsequenz gezogen werden. Sich instrumentalistisch an die Aufgabe zu machen, instrumentale und kommunikative Rationalität wieder zusammenzubringen, hieße ihre Lösung verhindern, ob mit oder ohne alte Idole. Jede" Um-zu-Haltung" wird nur den "Status quo" verlängern, selbst wenn sie in dieser Haltung eine Kulturrevolution anvisiert. Wenden wir uns an dieser Stelle der Frage zu, was all diese Gedanken für die Sozialforschung und die Wissenssoziologie zu bedeuten haben, dann kann man vielleicht folgendes sagen: In dem Maße, in dem Lernen vom anderen Menschen und, darin
se so . Gleichzeitig wird dieses Üben auch zur Grundlage einer Wissenssoziologie und einer Sozialforschung, die es nicht leiden wollen, daß sich in ihrem Vollzug schon ihr Resultat zur Unwahrheit verdreht, das heißt, zum Produkt der eigenen instrumentalistisch "verkrümmten" Spontaneität wird. Wenn es zutrifft, daß, wie oben bemerkt, generelle Ethiken und Ästhetiken nicht in substantiierter Form vorgeschlagen werden können, es also nur raum-zeitlich begrenzte Rationalitäten geben kann, dann heißt das, daß Gültigkeit von Sinn nie in einem übergeordneten "generellen", sondern nur in einem diesen betreffenden Sinn immanenten Rahmen begriffen werden kann. So könnte ich hier den Husserlschen Begriff der "bewußtseinsimmanenten Transzendenz" ins Spiel bringen, würde damit aber auch umgekehrt jedem wissenschaftlichen Anspruch auf "Generalität" nur den Status zubilligen können, aus einer lokalen Rationalität entsprungen zu sein. Damit ist jedes endgültige Sinnsystem zurückgewiesen, nicht jedoch raum-zeitlich gültiger Konsensus in seiner naturhaften Gründung. Es ist ja nur im Kosmos einer solchen Intersubjektivität, wie wir sahen, wo wir heute den alten Begriff der Totalität wiederfinden, insofern als sich die Menschen mit ihrer ganzen Spontaneität in ihr erkennen können. In der Welt eines solchen Sinn-Momentarismus, so möchte ich dies einmal nennen, bedarf es des Einübens freier Dialogik, die in ihrem Verlauf sich die Kategorien erschafft, um Sinn unter Partnern zu verallgemeinern. Solchen Aufbaus von Sozialität bedarf natürlich auch die Sozialforschung in ihrem eigenen Vollzug. Platz des Einübens und der Pflege von Sozialität sind in unserer Gesellschaft traditionsgemäß Schule und Elternhaus. Dort könnte im Sinne einer "emanzipatorischen Sinnlichkeit" (Alfred Schmidt) die Freude am anderen und am gemeinsamen Verstehen und Handeln praktiziert werden. Diese Freude impliziert eine heute mögliche Form der Motivation, erschafft die Ordnung der Kommunikation und das Begreifen von Sachverhalten. Sie fördert auch durch Geübtwerden der Spontaneität die Kraft und die Sensitivität für die Verweigerung, von der Marcuse angesichts der Repression immer wieder gesprochen hat. Diese hier vertretene Art von Verstehen impliziert einen Sinn für Anderssein, der sich grundlegend unterscheidet von der Form von Toleranz, die auf zähneknirschender (oder gar motivationsloser) Selbstverweigerung beruht. Das Einüben solcher Spontaneität und Freiheit als Bedingung der Toleranz, die sich gerade auf den Andersdenkenden erstreckt, stößt nun, wir wissen es alle, auf verbissenen Widerstand. Er mag sich subtil gebärden, in "Toleranz" kleiden, aber, "wenn es ernst wird", zeigt er sein wahres Gesicht. Nun mag es sicher wichtig sein, die Frage zu diskutieren, was denn dann zu tun sei, wenn repressionsfreie Schule, "Mitbestimmung" oder "freie Kommunikation" an nackter oder meist samtener Gewalt scheitern. Dem kann ich hier nicht im einzelnen nachgehen. Es muß aber eingestanden werden, daß mit ihrem Scheitern auch anderes zerstört ist als freie Interaktion. Solch praktischer Gesichtspunkt mag auf den ersten Blick bei den nur akademisch Beflissenen nicht zählen, er bedroht aber die Grundlage auch derjenigen besonderen Formen von sozialer Interaktion, die wir als Sozialforschung und Wissenssoziologie kennen.
Kapital sich nicht in der kapitalistischen Form allgemein setzen kann. Dasselbe gilt für den Sinn. Er kann nie in oktroyierender Weise zum Allgemeingut werden, sondern kann nur dann angeeignet, das heißt, verstanden werden, wo er als spontane Nachschöpfung gelingt. Wo dies nicht zugelassen wird, darf ein bloß partikulares und herrschsüchtiges Interesse vermutet werden, sei es am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Familie oder wo immer. In der Verweigerung der Spontaneität, zum Beispiel beim Lehren, noch unmittelbarer deutlich am Arbeitsplatz, errichtet der Kapitalismus einen zweiten Schutzwall um seine Position. Wo Spontaneität im hier verstandenen Sinne schließlich erfolgreich abgewöhnt - das heißt, nicht getötet, sondern "verkrümmt" - ist, zeigt dieser zweite Schutzwall, wo er errichtet worden ist, nämlich in den Menschen, die dann gegen Freiheit und Klassenkampf immun sind. Die Manipulation von Sinn zeichnet den Spätkapitalismus aus. Daß damit nicht gesagt werden soll, daß der "klassische" Kapitalismus nicht schon immer in rudimentärer Form diesen Schutzwall als Außenbastion gekannt hat, habe ich schon oben festgehalten. Aber er war weniger stark und differenziert als heute, wo wir von einer Bewußtseinsindustrie sprechen können. Um diesen zweiten Schutzwall zu zerstören, bedarf es, wie auch schon oben erwähnt, einer Kulturrevolution. Daß sie nicht gewollt wird, ist nach meinen Überlegungen zur "verkrümmten" Spontaneität kein Argument gegen ihre Notwendigkeit. Im Gegenteil! Dieser Umstand zeigt nur die verderbliche Konsequenz ihres Ausbleibens. Im Einklang mit all diesem lassen sich drei Äußerungen zur Wissenssoziologie machen: 1. Sozialforschung kann es ohne Wissenssoziologie nicht geben. 2. Die Bedingungen der Möglichkeit von Sozialforschung und Wissenssoziologie liegen in ihrer Motivation. 3. Die Motivation, zu Wissenden zu werden und Wissenssoziologie zu betreiben, sind gefährdet. Ad 1: Wenn soziale Wirklichkeit ihre Bedeutung erhält durch den Sinn, durch den ihre Akteure diese Wirklichkeit konstituieren, dann muß Sozialforschung dieses Wissen von der Wirklichkeit erfassen, wie immer es ausfallen mag. Andernfalls verfehlt sie ihr Ziel. Dies besagt, daß Soziologie des Wissens nicht eine unter anderen Unterdisziplinen der Soziologie ist, sondern diese überall durchzieht. Daß Sozialforschung als kritischer Dialog zwischen dem Soziologen und denjenigen, die er erforscht, stattzufinden hat, ist impliziert durch die Natur sozialer Wirklichkeit. Sie vollzieht sich nicht nur aber auch in den Hirnen von Menschen. Andernorts 52 habe ich deswegen von der Notwendigkeit der Gleichzeitigkeit der nomologischen, hermeneutischen und kritischen Dimension in der Sozialforschung gesprochen, und zwar in Bezug auf jedes einzelne ihrer Projekte. Im Ernstnehmen der "lokalen Rationalität" wird Sozialforschung selbst zur sozialen Handlung. Ihr Ziel kann nicht sein die Aufstellung einer generellen Sozial- oder Wissenstypologie. Wo sie die lokale Rationalität überschreitet, tut sie dies nicht durch Abirren in die abstrakten Horizonte systematisierender Theorie, sondern nimmt die lokale Rationalität als "aufzuhebende" Grundlage eines auf ihr aufbauenden umfassenderen Sinnes; das heißt, sie versucht die Befreiung von
Selbstverwirklichung. Erst wo die Fähigkeit da ist, in jeweiligen Lebenswelten besondere Äußerungen der allgemeinen Spontaneität zu sehen, kann Sozialforschung ihrem eigenen Titel gerecht werden s3 • Sie wird selbst da, wo sie diese Spontaneität durch objektiv abschaffbare Widersprüchlichkeiten in der Gesellschaft eingeengt, also "verkrümmt" sieht, im Vertrauen auf die menschliche Natur nicht die Geduld verlieren. Sie weiß ja auch, daß Abschaffung von Hemmnissen nie ein für alle Mal gelingt. Ad 2: Die Bedingungen der Möglichkeit solcher Sozialforschung, und das heißt ja immer auch zugleich solcher Wissenssoziologie, sind historisch realisierbar angesichts des Bewußtseins der Kontingenz allen Wissens und damit der potentiellen Einsicht in die Bedeutung materialistisch verstandener Spontaneität. Das aber heißt, daß Soziologie sich nur gründen kann in der Motivation, den Anderen um unserer aller Willen zu verstehen. Wo diese Motivation fernbleibt, reproduziert Soziologie in ihrer Wissens- und Sozialforschung lediglich das gängige instrumentalistische Interesse. Selbst wo solche Sozialforschung die .. Terme" des Anderen technisch erfaßt, geht es ihr nie um ihn oder ein sich in der Forschung entwickelndes "Wir". Was sich in solcher Forschung anwendet, ist Wissenwollen als Kontrolle. Sie übersetzt die fremde Kultur oder lokael Rationalität, macht sie sich aber nie zu eigen. Sie sucht nur, ihr Objekt zu beherrschen. Ad 3: Die Motivation zu wissen und den Anderen zu verstehen, ist immer gefährdet (wenn man Wandlungen als Gefährdung sieht), da auch ihre Formen der geschichtlichen Veränderung unterworfen sind. Idole haben ihre Motivationskraft immer wieder verloren, sei es auf geschichtlicher oder biographischer Ebene. Im Spätkapitalismus haben wir es jedoch mit diesem Problem in einer ganz neuen Weise zu tun. Während vor dem Spätkapitalismus partikulare überzeugungen wie große Religionen oder Philosophien oder, noch früher, stammliche Ahnenkulte die Bezugspunkte für das Verständnis auch anderer Kulturen setzten, können solche Bezugspunkte heute, wo die Kontingenz der Wahrheit gewußt werden kann, nur noch in einer sich selbst materialistisch verstehenden Spontaneität verankert werden. Kann diese sich aber nicht mehr in einem kommunikativen Konsensus aufheben, verschwindet sie nicht, sondern verselbständigt sich in der Instrumentalität, die allem Wissen im Spätkapitalismus, also auch dem gesellschaftswissenschaftlichen, seinen monologischen Charakter gibt. In dem, was im Spätkapitalismus allzu häufig als Sozialforschung und Verstehen gilt, haben wir es mit einem Verständnis zu tun, das nicht wie vormals seine eigene Sozialität in die zu Verstehenden projiziert, sondern von der eigenen A-Sozialität ausgeht und annimmt, daß kulturgegründete Sichtweisen immer und überall, was immer das Forschungsobjekt abgibt, bloße Rationalisierungen und nicht wirklich formgebend sind für technisch-instrumentale Vernunft. Alte Weltsichten haben gewiß gesellschaftliche Andersartigkeit mißverstanden - man denke nur an die Ethnograpphien früherer Jahrhunderte S4 - , aber gewöhnlich nicht so, als ob es ein Wirgefühl unter fremden Menschen gar nicht gegeben habe. Sie haben einfach ihr eigenes Wir-
tiver Rationalität, haben wir es nicht nur mit einer neuen Form des Verstehens, sondern auch der Motivation hierfür zu tun. Die behandelte neue Form des Motivationsproblems schlägt auf die Ebene der Sozialforschung durch. Es ist eine instrumentalistische Motivation, die, da sie beherrschen will, nicht nur den Anderen nicht verstehen kann, sondern dies nicht einmal darf, da die dann einsetzende Identifikation das Beherrschen unmöglich machen würde 56 . Wo Soziologie zur Geheimwaffe in der Machtakkumulation (Adams) oder zum Instrument motivationslosen Interesses an Funktionieren (Luhmann) wird, überträgt sich der oben erwähnte Midas-Effekt auf sie selbst. Diesem Dilemma kann auch Sozialwissenschaft nicht entrinnen. Es konstituiert ihre Krise im Westen. Wichtig scheint es mir zu sehen, daß heutige Sozialforschung nicht nur eine Kategorie für konsumatorisches Wirgefühl verloren hat, wie ich glaube, oben gezeigt zu haben, sondern daß diesem kognitiven Mangel eine Fehlanzeige in motivationaler Hinsicht entspricht. Die Gewinnung eines gesellschaftlich geordneten Verhältnisses zur äußeren wie zur inneren Natur erscheint dann als die einzige, wenngleich immer fließende Bedingung für den Aufbau einer historisch und materiell adäquaten Motivation zu wissen und zu verstehen. Die ständige Änderung in der Natur bewirkt, daß eine Soziologie, die sich um die Gewinnung geordneter sozialer Verhältnisse bemüht, nie aus Idolen einer statisch "heilen Welt" ihren Antrieb zur Forschung gewinnen kann. Motivation zur Sozialforschung kann nur gegründet werden im menschlichen Wunsch nach Überleben 57 . Diese Motivation wird sich der Form nach in dem Maße zu wandeln haben, wie der Wunsch nach Überleben in der Erstellung symbolischen und materiellen Mehrprodukts in Erfüllung geht. Um dieses demokratisch zu verteilen, bleibt es immer notwendig, daß Menschen miteinander reden, um ihr Wollen und Wissen zu ergründen. Ob das indes immer hinreicht, um Überleben zu sichern, bleibe dahingestellt.
Anmerkungen 1 In der europäischen Tradition gehört Duns Scotus (t 1308 in Köln) sicherlich zu den prominentesten Denkern, die sich mit dem Verhältnis von Willen und Vernunft beschäftigt haben. Er lehrt bekanntlich den Primat des Willens über die Vernunft und macht die Intention zur Erkenntnisgrundlage. 2 Jürgen Habermas hat in dieser Hinsicht wohl die bekanntesten Versuche unternommen. Siehe zum Beispiel seine Beiträge in Jürgen Habermas und Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, insbesondere die Seiten 101 ff., 127, 185 ff., 190/9l. 3 Siehe Richard N. Adams, Energy and Structure, a Theory of Social Power, Austin, Texas 1975, S. 109 ff., 153 ff. Siehe auch James G. Miller, Living System: Basic Concept, in: Bevioral Science, 10, 1963, S. 193-257 und 337-379. 4 Siehe z. B. Adams, ebd. und S. 107. 5 Siehe Adams, a. a. 0., S. 9. 6 Siehe Adams, a. a. 0., S. 154. 7 Siehe Adams, a.a.O., S.113/114. 8 Siehe Adams, a.a.O., S.l11. 9 Siehe zur Sinnstrukturierung des Nervensystems Adams, a.a.O., S.107, 111, 114. Siehe auch Leslie White, The Science of Culture, New Vork 1949, S. 282-302. 10 Siehe Adams, a. a. 0., S. 21/22, 180. 11 Siehe Adams, a.a.O., S.165-183.
15 Siehe Friedrich W. Sixel, Social Power and Social Research, in: Thekla Hartmann (Hrsg.), Egon-Schaden-Festschrift, im Druck. 16 Adams benutzt Konzepte wie überschuß, Mehrwert etc. äußerst selten. Ohne ihre Annahme sind seine Ideen zur Akkumulation von Macht und Energiekontrolle aber nicht denkbar. Siehe z. B. seine zusammenfassenden Bemerkungen in Adams, a.a.O., S. 298 ff. und 305-315. 17 Zum Begriff des "übergreifenden" der Natur siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik von gesellschaftlicher Arbeit und Natur, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, 10,1977, S. 143 ff., und ders., Zur Rekonstruktion der materialistischen Dialektik, in: Gesellschaft, Beiträge zur Marx'schen Theorie, 11, 1978, S. 118 ff. 18 Diese Nichtanerkennung findet sich nicht nur im monistischen Materialismus, sondern auch, wenngleich in anderer Weise, im Idealismus, wo der Primat oder das übergreifende der Materie nicht anerkannt werden. 19 Siehe Adams, a.a.O., S. 283,285. 20 Zum AGIL-System siehe z. B. Talcott Parsons, The Point of View of the Author, in: Max Black (Hrsg.), The Social Theories of Talcott Parsons, Englewood Cliffs 1961, S.331. Kritisch zu bemerken ist, daß Parsons seine eigene Theorie nicht adäquat als Produkt einer der von ihm postulierten vier Wissensformen reflektiert. 21 Siehe Adams, a. a. 0., S. 280. 22 Siehe jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1973, S. 45. 23 Siehe jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: jürgen Habermas (Hrsg.), Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt 1969, S. 146. 24 Zu Kants Begriff der Spontaneität siehe z. B. Gottfried Martin, Immanuel Kant, Ontologie und Wissenschaftstheorie, Köln 1958, S. 35, 46. 25 Kants K ategorien tafel kann natürlich nicht übernommen werden, da sie zu sehr gebunden ist an das Wissen seiner Epoche. Siehe jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1973, S. 23 ff. 26 Zum Zusammenhang zwischen Motivation, Idol und Identifikation siehe jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973, S.66-73, 99/100, 106-128; ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt 1976, S. 63 ff. und 92 ff. 27 Ich möchte darauf hinweisen, daß ich versuche, im Rahmen einer größeren Untersuchung unter dem Arbeitstitel "Critique and Crisis" dieses Thema zu behandeln. Wichtige Bezugspunkte jener überlegungen sind z. B. Gedanken, die Alfred Schmidt und früher schon Max Adler vorgelegt haben. Siehe Alfred Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit, München 1973; ders., Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt, Köln 1974; MaxAdler, Das Soziologische in Kants Erkenntniskritik, Wien 1924. 28 Wie immer dieser Gedanke von Apel angeregt ist, geht er doch über ihn hinaus. Siehe KarlOtto Apel, Das Leibapriori der Erkenntnis, in: Archiv für Philosophie, 12, 1963, S. 152 ff. 29 Ich brauche hier nur an Habermas, Gadamer, O'Neill und Ricoeur zu erinnern. 30 Adler, a.a.O., S.461/62. 31 Siehe hierzu in kondemierter Form jürgen Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, in: jürgen Habermas und Niklas Luhmann, a. a. 0., S. 285 ff. Siehe auch jürgen Habermas, Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt 1976, S. 98 ff. 32 Dies negiert nicht Meads Idee der sozialen Grundlegung des Wissens, nur wird sie hier nicht wie im Pragmatismus im gewissermaßen freischwebenden Dialog zwischen Ego und Alter begründet, sondern dieser Dialog wird gesehen in seiner Bedingtheit durch den Entwicklungsstand der Produktivkräfte und -beziehungen. 33 Dieser Gedanke ist auch Voraussetzung in Marx' "Methode der Politischen Ökonomie", siehe Karl Marx, Grundrisse, o.J., S. 21 ff. john 0 'Neill hat anläßlich einer Seminardiskussion im Department of Sociology an der Queen's University für diesen Zusammenhang den so einprägsamen Begriff der "lokalen Rationalität" vorgeschlagen. 34 Vgl. hierzu jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973, S. 137/38. 35 Mit diesen Bemerkungen zur Problematik des Subjektes muß es hier sein Bewenden haben. Wie ich in "Critique and Crisis" ausführe, entsteht dieses Problem im Gefolge idealistischer Standpunkte zur Konstitution des Subjektes. Man bedenke hierzu nur Luhmanns Sinntheorie;
Warenform und Denkform, Frankfurt, Wien 1971, insbesondere S. 124 ff. 38 Zu der Identität von Produktion und Konsumtion siehe Marx, a.a. 0., S. 14/15. 39 Das heißt natürlich nicht, daß das Verhalten der Gegenstände immer unserem Willen entspräche. Aber da Natur sich nicht irrt, kann das nur heißen, daß wir uns in unserem Willen oder Unwillen über sie irren. 40 Heisenberg hat bekanntlich diesen Gedanken auch ausgesprochen. Ich stelle allerdings dahin, ob er ihn mehr als nur kognitiv verstanden hat. 41 In meiner Arbeit "Critique and Crisis" versuche ich, Sinn als das "übersteigende Andere" zum Kapital zu fassen, so daß beide nur in ihrer Synthese "Sinn machen". Beim Zustande kommen dieser Synthese in der gesellschaftlichen Praxis ist Kapital natürlich nicht mehr (kapitalistisches) Kapital, sondern gesellschaftlicher Reichtum. 42 Ich möchte zu bedenken geben, ob die oft geäußerte Ansicht zutrifft, daß Vergangenheit Zukunft zwingend determiniert. Vielleicht tut die Vergangenheit das nur, wenn sie von einem Denken aufgegriffen wird, das sich selbst nicht ändert. Erst wenn Kapital und Sinn als die Verhältnisse gesehen werden, die sie im Kapitalismus sind, reproduzieren sie immer nur sich selbst, bestimmen also ihre Zukunft zwangsläufig ("naturwüchsig"). 43 Babros{eht diese überwindung der Knappheit selbst in der DDR. Siehe Rudolf Babro, Die Alternative, Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln - Frankfurt 1977, z.B. S. 318/ 19. Wird der erwirtschaftete Mel;l.rwert in der Tat freiheitlich gehandhabt, erscheint er streng genommen als gesellschaftliches Mehrprodukt und nicht mehr als erpreßter Mehrwert. 44 Solch eine Kulturrevolution wird auch für die sozialistischen Länder gefordert. Siehe Babro, a. a. 0., S.313, 361 ff. und 449 ff. Dort wird sie natürlich anders anzusetzen und zu verlaufen haben als im Westen, wo die gesellschaftlichen Bedingungen so viel anders sind. 45 Man denke nur an die Funktion des Idols in der Reklame. 46 Marx, a.a.O., S.21, äußert sich zu Kunstformen, die vergangenen Epochen entstammen und dennoch auf uns heute noch ihren Reiz ausüben. Meines Erachtens liegt der Grund dafür darin, daß sie den betreffenden ehemaligen Gesellschaften erlaubten, sich in diesen Kunstformen spontan auszudrücken. 47 Adler, a.a.O., S.461 f. 48 jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973, S. 28. 49 Unklar bleibt trotz vieler Untersuchungen (Bernstein, Bloom, Brown, Cicourel, Clark, jaynes, Krauss und Glucksberg), wie denn im frühesten Kindesalter, wenn noch gar keine Begrifflichkeit vorhanden ist, eben diese aufgebaut werden kann. Zweifellos sind Meads Gedanken zum "preparatory stage" in der menschlichen Selbstwerdung nicht mehr hinreichend, aber sie scheinen doch in ihrer Betonung der Interaktion und deren körperlichen Dimension auch heute noch beach tenswert. 50 Vgl. zum Verhältnis dieser beiden Bereiche jürgen Habermas, Arbeit und Interaktion, in: ders., Natur und Geschichte, Stuttgart 1968, S.132 ff. 51 Siehe hierzu die überlegungen von Habermas im Anschluß an Hegels Fragment über den Geist des Christentums und über die Verfassung von Württemberg und des alten Deutschlands, in: jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1973, S. 78/79. 52 Siehe Friedricb W. Sixel, Zur Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit und ihrer Erforschung, in: Wolfdietrieb Schmied-Kowarzik und justin Stagl (Hrsg.), Theorie der Ethnologie und Kulturanthropologie, Berlin (im Druck). 53 Nun auf Sozialforschung übertragen, komme ich auf die herangezogene Stelle aus den "Grundrissen" - siehe Anm.46 - zurück. Ich erweitere diesen Gedanken auf den Reiz präkapitalistischer Ordnungen als partikulare Äußerungen menschlicher Spontaneität. 54 Siehe Friedricb W. Sixel, Die deutsche Vorstellung vom Indianer in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Annali Lateranensi, 30, 1966, S. 9 H. 55 Siehe Sixel, ebd., und S. 184ff.; siehe vor allem auch die zahlreichen Hinweise von Lewis Hanke, The Dawn of Conscience in America: Spanish Experiments and Experiences with Indians in the New World, in: Proceedings of the Amerisan Philosophical Society, 107, 1963, S. 83 ff. 56 Siehe hierzu Friedricb W. Sixel, Images of Indians, in: Roswitb Hartmann und Udo Oberem (Hrsg.), Amerikanistische Studien, Festschrift für Hermann Trimborn, 2, St. Augustin 1979, S. 240 ff. 57 jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1973, S. 286.
ÜBER KULTUR UND MACHT: DIE MODERNE KULTIVIERUNG DES WISSENS Von Juan E. Corradi
I. Die Kultur als Komödie: die zerrissene Seele
Im Vorwort zur Philosophie der Geschichte hat Hegel den berühmten Satz von der Verspätung der Philosophie formuliert. Der Philosophie traute er zu, die Welt zu erfassen, nicht jedoch, sie zu verjüngen. Möglicherweise ist nie zuvor eine zentrale Funktion der Kultur so unzweideutig vorgestellt worden - die Fähigkeit, eine Totalität aus den disparaten menschlichen Erfahrungen zu rekonstruieren und ihnen einen sublimen und sublimierten Mehrwert abzugewinnen. In dieser Vision kommt die Welt zu sich - im Reich des Bewußtseins, wo Sein zum Begriff wird. Hegel definierte Kultur als eine Übersetzungsarbeit, als bearbeitete Arbeit, als höhere Verdoppelung des gewöhnlichen Lebens. Dennoch betreten wir diese ideale Kulturstadt und betrachten wir das Schauspiel ihrer immensen und künstlichen Aktivitäten, so können wir uns des Spotts kaum enthalten. Wie in anderen Städten trifft man auch hier Freunde, schließt Kontakte, tauscht Ansichten, macht millionenfach flüchtige Bekanntschaften, trifft vor allem auf Paradoxe und auf eine Mischung von Fortschrittlichem und Regressivem sowie auf die Parade der letzten Neuigkeiten, die altehrwürdige Konsequenzen hinter sich herschleppt. Wie' reale Städte ist diese gewöhnlich weltoffen und gräßlich; anders als diese, ist sie jedoch höchst wortreich und geisterhaft. Valery wagte eine Beschreibung dieses imaginären Ortes, die das längere Zitat wert ist:
Dann, in apokalyptischem Licht, konnte ich die Unordnung und Gärung einer ganzen Gesellschaft von Dämonen ausmachen. In einen übernatürlichen Raum verlegt, erscheint alles wie eine Art Komödie der Geschichte. Kämpfe, Faktionen, Triumphe, feierliche Flüche, Exekutionen, Aufstände, Tragödien um Macht! ... In dieser Republik sprach jedes Gerücht von Skandalen, von gemachten und verlorenen Vermögen, von Intrigen und Verbrechen. Es gab Plebiszite in der Kammer, bedeutungslose Krönungen, viele Morde durch das Wort. Diebstähle gar nicht erst zu erwähnen. Diese ganze intellektuelle "Nation" war wie jede andere auch. Man fand in ihr Puritaner, Spekulanten, Prostituierte, unfromm scheinende Gläubige und Gottlose, die Glauben vortäuschten. Es gab falsche Einfältige und echte Narren, Autoritäten, Anarchisten, selbst Henker, von deren Schwertern die Tinte tropfte. Einige hielten sich für Priester oder Päpste, andere für Propheten, wieder andere für Cäsaren oder Märtyrer oder für ein wenig von alledem. Viele hielten sich und
Ich suchte nach so etwas wie Gesetzen in diesem Reich. Die Notwendigkeit, unterhaltsam zu sein; zu leben; der Wunsch zu überleben; das Vergnügen, andere in Erstaunen zu versetzen, zu schockieren, zu schelten, zu lehren, zu verachten. Der Stich der Eifersucht leitete, irritierte, heizte und erklärte diese Hölle!.
Daß im Heiligtum der Kultur Unheiliges seinen Platz hatte, ist seit dem achtzehnten Jahrhundert ein dominantes Thema2 • Diderot verlieh ihm dramatischen Ausdruck in Rameaus Neffe 3 , jenem Dialog, in dem ein der schlichten Wahrheit und Moral verschriebener aufrichtiger "philosophe" einem besessenen Verwandlungskünstler, der die gesellschaftliche Pantomime verspottet und mit einer zerrissenen Seele dahinlebt, gegenübersteht. Eben diesen Zustand der Desintegration übersetzte Goethe als "der sich entfremdete Geist"4 - ein Begriff, den sich Hegel in seiner brillianten Mißdeutung des Textes aneignete und in die Phiinomenologie des Geistes S übernahm. Dort erscheint Kultur als eine Disziplin der Dissonanz, die alles auseinanderreißt, als die Umkehrung und Perversion aller Begriffe und Wirklichkeiten, als die universelle Täuschung ihrer selbst und anderer. Freilich sah Hegel in diesem Zustand die Bewegung des Geistes auf eine höhere Stufe der Freiheit und Selbstverwirklichung hin, jenseits einfacher Gewißheiten und Pflichten, jenseits selbst der Moral. Wir verdanken Lionel Trilling ein elegantes Buch 6 , das das moderne Repertoire von Reaktionen auf die Kultur und das Spektrum unserer Ambivalenz gegenüber dem intellektuellen Leben durchleuchtet. Unsere Kultur ist komplexer, differenzierter, reichhaltiger geworden, weniger der Idee einer eindeutigen Wahrheit verpflichtet. Wir leben in einer Welt radikaler Immanenz, der Selbstproduktion, des Selbstbezugs und der Simulation 7 . Ohne selbst die Reste transzendenter Garantien finden wir uns, wie Freud es beschrieb, als prothetische Götter wieder, als Geschöpfe unseres eigenen Schöpferturns. Wir leiden an einer Krankheit, für die Hegel das Wort "Zerrissenheit" reservierte. Anderen Städten darin nicht unähnlich, sind die Städte des Geistes immer überfüllter und künstlicher, verschmutzter und temporeicher als das Rousseau so verstörende Paris 8 . In ähnlicher Weise sind unsere Reaktionen auf die Kultur tiefer empfunden. Die Art, mit der unser Geist (um mit Hegel zu sprechen) sein verächtliches Lachen über das Sein schüttet, über die Verwirrung und gar über sich selbst, offenbart eine noch größere Verstörung. Die Formen sozialer Sezession, die wir uns erlauben, unsere Suche nach Authentizität, sind dabei gleichzeitig radikaler. Kurzum, unsere Haßliebe zur Kultur ist intensiver, unsere Ambivalenz panischer. Wie Trilling gezeigt hat, haben sich die Situationen und Erfahrungen, denen wir die Begriffe authentisch/unauthentisch beilegen, die Diagnose, die wir unserer kulturellen Malaise stellen, und die Therapie, die wir vorschlagen, in den letzten zwei J ahrhunderten in hohem Maße gewandelt und sind vielfältiger geworden 9 . Ironie, poetische Stasis, das Detachement grandioser Synthesen, der Rückzug in die Natur oder ins Selbst, alternierende Angst vor und Glaube an die Technologie; Spiel, Erotik, amor fati, Psychotherapie oder aber das Lob der Torheit - all das sind Reaktionen auf das, was verschiedene Generationen als unauthentisch freiwillig ablehnten bzw. ablehnen zu müssen glaubten.
Teilnahme am Besten von allem, was in der Welt gedacht und gesagt worden ist, für möglich hält 1o . In der Phänomenologie benutzte Regel den Begriff der Bildung, um die Travestie, Täuschung, die Pein des zerrissenen Bewußtseins und die Ungewißheit des gemeinen Selbst zu diskutieren. Marx begann dann die kritische Attacke, indem er Kultur als Derivat und als abhängig von den Produktionsverhältnissen beschrieb. Klassische Soziologen wie Simmel sahen den sich ständig erweiternden Abgrund zwischen den objektiven Leistungen der Kultur und den Fähigkeiten des Ichs, diese zu verarbeiten l l . Freud hielt seine hartnäckige Ambivalenz gegenüber der Kultur bis an sein Lebensende durch 12. Und moderne Anthropologen förderten die Auflösung jeder Einheitsprätention der Kultur mit einem radikalen Relativismus und vollendeten so den Erosionsprozeß, den die Historiker begonnen hatten. Kultur erscheint somit weder als einfach noch als einheitlich; nicht als Weg zur Selbstvollendung, sondern als Ursache tiefer Wunden; eine unaufhörliche Aktivität der Sinnbildung, deren Bedeutung dennoch unklar bleibt; eine überwältigende Wirklichkeit, die dennoch "unwirklieh" erscheint; eine so unentrinnbare wie ungewisse Umgebung - traditionellen Kontrollen, so scheint es, unzugänglich. Im Laufe der folgenden Bemerkungen werde ich versuchen, diesen verstreuten Abfallprodukten wieder Gestalt zu geben, indem ich einige Dimensionen intellektueller Kultur, so wie wir sie heutzutage wahrnehmen, artikuliere. Mit Hilfe der Soziologie will ich dann einige Hypothesen über die Beziehung zwischen Kultur und Macht vorschlagen. Schließlich werde ich aufgrund von Forschungsergebnissen über moderne Organisationsformen Spekulationen darüber anstellen, was neu und bedeutsam ist in diesen Ansätzen zur Verknüpfung von Kultur und Macht.
II. Kultur als Totalität: Das Veraltern der intellektuellen Siebtweise
Mögen verschiedene und spezialisierte Kulturbemühungen auch verschiedene Grade der Befriedigung und Sicherheit verschaffen und uns gar in verschiedenem Maße in ein Engagement locken, die moderne Kultur jedenfalls ist voller Ambivalenz und Unsicherheit 13 . Angesichts der über die diversen "Krisen" schon verbrauchten Tinte zögert man, diesen Begriff überhaupt noch zu verwenden 14 • Dennoch ist es möglich, von einer Krise der zeitgenössischen Kultur zu sprechen und sie auf der Ebene der Totalität zu orten. Die Krise wird offenbar in unserer Unfähigkeit, eine übergreifende Kohärenz und Harmonie der Kultur überhaupt ins Auge zu fassen, die Grundlagen ihrer verschiedenen Komponenten zu sichern und überzeugende Erklärungen zur Artikulierung dieser Komponenten bereitzustellen; kurzum, unserer Unfähigkeit, diesem wachsenden kulturellen Konglomerat Sinn abzugewinnen. Diesen Sinn abzugewinnen, diese Suche nach übergreifender Bedeutung ist immer die selbstgestellte Aufgabe der Intellektuellen gewesen. Was den Intellektuellen traditionell definiert, ist eine Fähigkeit jenseits seiner Expertise: die Fähigkeit nämlich zu erkennen, für
Die intellektuelle Sichtweise ist möglicherweise das säkulare Erbe vergessener priesterlicher Funktionen. Es verrät einen Willen, nämlich den Willen, die Bedingungen des eigenen Handelns unter Kontrolle zu halten, die Konsequenzen selbst zu bestimmen, den Willen, verschiedenartige Tätigkeiten zu artikulieren, ihre übergreifende Bedeutung zu bestimmen und schließlich den Willen, sich auf der Ebene des Ganzen zu sehen, zu dem die verschiedenen Teile beitragen. Es ist der Wille zu einer im Wesentlichen symbolischen Macht, die als Vermittlung in der Gesellschaft fungiert. Wie andere gesellschaftliche Elemente, enthält die intellektuelle Welt Ressourcen, Widersprüche und Strafräume, die ihr die Möglichkeit offen lassen, entweder die Unterdrückung zu perfektionieren oder sich für Emanzipation einzusetzen. Von einer "kulturellen Krise" zu sprechen heißt daher, vom Wandel dieser Funktionen zu sprechen, vom Wandel der intellektuellen Sichtweise, der vielleicht so grundsätzlich ist, daß die Intelligentsia damit möglicherweise ihre raison d'etre verliert. Die gegenwärtige Kulturkrise ist das Resultat verschiedener aufeinanderfolgender Attacken. Vor fünfzig Jahren erschütterten Historismus und Marxismus gemeinsam die selbstgewisse autonome Kultur, indem sie einerseits die Inkommensurabilität epochaler Erfahrungen, andererseits den sozialen Ort der Kulturproduzenten als die äußerliche Bestimmtheit ihrer Arbeit hervorhoben. Sein Leben lang setzte sich Karl Mannheim mit einer Sensibilität auseinander, die die Unterschiede der Erkennenden gegenüber ihren Erkenntnisobjekten betonten und damit die Kultur in den Sumpf eines sich selbst widerlegenden Relativismus zu stürzen drohten 16 . Die Wissens- und Kultursoziologien bildeten sich als Nebenprodukte dieser Fragestellungen, brachten jedoch auch keine zufriedenstellenden Lösungen für die ursprünglichen Dilemmata, denen sie ihren Ursprung verdankten. Ein zweiter Themenkreis, diesmal das eigentliche Medium der Kultur betreffend, d. h. die Sprache, förderte die weitere Erosion kultureller Selbstgewißheit. Im Gegensatz zu der Unsicherheit, die sich von einer äußerlichen Umgebung herleitet (wie immer man sich diese zurechtlegen mag: als die Vergangenheit, als biologischen oder ökonomischen Unterbau, als die Willkür des Subjektes usw.), erhob sich dieser Zweifel aus dem inneren Kern der Kultur selbst, aus der Schicht, ohne die sie nicht vorstellbar ist: dem Sinn als solchem. Auf der Grundlage der Spätphilosophie Wittgensteins wurde argumentiert, daß Sinn sowohl konventionell wie kontextgebunden ist l7 . Diese Philosophie untergrub eine alte Prämisse der Wissenschaft: die Annahme, daß es eine objektive, sozusagen trans-situativ gültige Beschreibungssprache gebe. Später dann bestand der Strukturalismus immer wieder auf der Dissoziation der Sprache - und aller semiotischen Systeme - von ihrem Bezugssystem 18 . Diese Position trieb einen Keil zwischen Wort und Objekt, und ihre Verbindung, die einst als notwendige galt, stand nun als beliebige da 19. Die Sprache galt jetzt als eine Art dichter Vermittlung; ihre Undurchsichtigkeit erregte Zweifel an der Möglichkeit der Erkenntnis selbst. Es ist möglich, die von der sprachlichen Vermittlung und äußeren Bestimmtheit aufgeworfenen Fragen auszuklammern, und tatsächlich geschieht
Sensibilität zurückzufallen), Gewißheit im "Objekt an sich" zu suchen oder die Wie derherstellung einer transparenten Sprache zu wünschen - kurzum: einem positivi stischen Glauben verhaftet zu bleiben als einziger Alternative zum Solipsismus ode Relativismus. Die Ungewißheiten, die wir aufgezeigt haben, sind weder Symptom der Resignation noch führen sie zum "Chaos". Es könnte gut sein, daß sie vielmeh kulturelle Leistungen repräsentieren. Darin geben sie uns Gelegenheit, unser Handeln in neuem Licht zu sehen - die kulturelle Welt, ihre Regelmäßigkeiten und ihre Orga nisation auf neue Art zu behandeln.
III. Kultur als Situierung: Die Entdeckung diskursiver Gebilde.
Somit stellt sich die Frage: Wie können wir Kultur angemessen beschreiben, indem wi die beiden problematischen Dimensionen - die Resultate der Krise - integrieren statt ignorieren, nämlich die Unfähigkeit, sie in einer umfassenden Sicht zu erfas sen, und die Unfähigkeit, sie entweder in einem subjektiven Bewußtsein oder in eine objektiven Wirklichkeit zu verankern? Wie stellen wir uns ein Phänomen vor, das ge wichtlos und auseinandergefallen ist? Wie können wir die Konturen eines System nachzeichnen, das objektiv ist, jedoch ohne Garantie jedweder Bezüglichkeit? Wi sollen wir eine Tätigkeit fassen, die keinen Ursprung im Bewußtsein eines Subjekt hat? Wie einen Prozeß diskutieren, der nicht in das Kontinuum der Geschichte ein gebettet ist? Man kann Michel Foucaults Arbeiten als einen Versuch betrachten, solche Frage zu beantworten und damit Kultur und Erkenntnis in einem neuen konzeptuellen Raum zu untersuchen 2o . In Foucaults Werk entdecken wir eine Wissenssoziologie 21 , die si multan drei kritische Dimensionen umfaßt: semiotische Distanz, Strukturierung und sozio-historische Lokalisierung. Mit dem Begriff der "semiotischen Distanz" verwei sen wir auf den unüberbrückbaren Abgrund zwischen der Sprache und ihrem Bezug auf die Unmöglichkeit, Erkenntnisgegenstände zu setzen, die invariant für jeden Er kennenden existieren. Dennoch muß diese Unmöglichkeit nicht zum Primat des Sub jekts und seines Bewußtseins führen; denn wenn auch die anfängliche Beziehung zwi schen Wort und Begriff (oder gar Gegenstand) willkürlich sein mag, so ist sie dennoch bindend und unterwirft die Subjekte der etablierten Beziehung, sobald diese erst ein mal etabliert ist. Erkenntnisgegenstände werden nicht in Akten intentionalen Bewußt seins konstituiert (wie die Phänomenologen es gerne sähen), sondern in semiotische Tätigkeit. Zweitens tendiert diese semiotische Tätigkeit dazu, sich in Wissenssystemen zu kristallisieren, die ihre eigenen Operationsregeln haben und nicht beliebig von ihren Benutzern manipuliert werden können. "Strukturierung" bedeutet, daß die semioti sche Tätigkeit Systemcharakter zeigt. Sie bestimmt die jeweilige Position des Subjekt und Objekts der Erkenntnis. Kurzum, semiotische Beziehungen bestimmen ihre eige nen Terme nach identifizierbaren Mustern. Schließlich erscheint der sozio-historische
Prozeßbegriff, gegen jede Idee von Fortschritt, Kumulation, Entfaltung oder schließlich "Offenbarung". Ich konzediere gern, daß die Sprachkonzeption dieses Ansatzes vielen von uns, vor allem den mit dem sozialwissenschaftlichen Idiom Vertrauten, bekannt ist: er ist Vicoscher Herkunft. Was ihre Idee von Geschichte angeht, unterscheidet sie sich nicht allzu sehr von der Max Webers in seiner Wissenschaftslehre 22 . Vico hatte im achtzehnten Jahrhundert Probleme antizipiert, die die Geisteswissenschaften zweihundert Jahre nach seinem Tode beschäftigen sollten, und er machte Lösungsvorschläge, die bis vor ganz kurzer Zeit unbeachtet blieben 23 . Die Sprache war für Vico nicht eine absichtliche Erfindung von Menschen, die etwas denken und sich dann nach geeigneten Mitteln umsehen, diese Gedanken auszudrücken. Er glaubte nicht, daß am Anfang die Intelligenz (Logos) war. Vielmehr argumentierte er, daß Intelligenz dem Gebrauch von Symbolen folge. Ideen und die sie ausdrückenden Symbole sind nicht trennbar. Der menschliche Geist (ingenium) wird vom Charakter der Sprache geformt und nicht die Sprache vom Geist derer, die sie sprechen 24 . Dieses Argument blieb lange unbeachtet, bis es in unserem Jahrhundert neu entdeckt wurde, vor allem in der literarischen Praxis und Kritik 25 • Wir werden in Sprach- und Schreibtraditionen hineingeboren, die unseren Geist ebenso formen wie dieser jene. Vico leugnete die Möglichkeit einer unwandelbaren, logisch perfekten oder perfektionierbaren Sprache, die so konstruiert ist, daß sie die "Grundstruktur" der Wirklichkeit reflektiert. Für den napolitanischen Philosophen gab es eine solche Struktur nicht, nur eine symbolische Apparatur, deren Geschichte er aufzuspüren suchte. Weit davon entfernt, nur expressiv zu sein, erschien ihm die Sprache als ein soziales Mittel, mit dessen Hilfe Zivilisation hervorgebracht wurde. Vico hatte also ein Phänomen wahrgenommen, das erst in unseren Tagen wieder ernsthaft behandelt worden ist, nämlich, daß Worte nicht nur etwas Äußerliches beschreiben bzw. die Aufmerksamkeit auf dieses hinlenken sollen, sondern daß sie selbst als innerliche Handlungselemente agieren können - wie z. B. bei ihrer Rolle in legalen Angelegenheiten oder religiosen Zeremonien. Können aber Worte eine Form der Handlung sein, dann muß die Sprache nicht nur auf ihre Bedeutung, sondern auch auf ihren Gebrauch hin untersucht werden. Die Rückkehr zu diesem Vicoschen Ansatz hat die Art, mit der wir symbolische Strukturen behandeln, verändert 26 . Symbolische Strukturen lassen sich als Maschine betrachten in dem Sinn, daß sie Lebensformen hervorbringen. Auf diese Art haben "Lokutionen", Gebrauch und Struktur einer Sprache eine "notwendige" oder "organische" Verbindung mit bestimmten Typen politischer oder sozialer Strukturen, Typen von Religion, Gesetz, Wirtschaftsleben, Moral, Theologie, Militärorganisation usw. Der Diskurs erscheint so als eine Praxis, die selbst in eine umfassendere Ordnung von Praxen eingelassen ist. Freilich ist Vico nicht wegen dieser Einsicht, sondern aufgrund seiner weniger originellen und weniger interessanten zyklischen Geschichtstheorie in Erinnerung geblieben.
Primat ideeller vor den materiellen Faktoren wiederherzustellen. In seinen methodologischen Abhandlungen und seinen konkreten Studien versuchte Weber, die Geschichte als ein Muster voneinander unabhängiger Kausationen darzustellen. Er verglich sie mit einem riesigen Eisenbahnnetz mit Weichen an entscheidenden Stellen 27 . Es gab für Weber keine einzig gültige "Logik" der Geschichte, nur eine Vielfalt unterscheidbarer schrittweiser Entwicklungen, die sich verbinden oder kreuzen konnten (oder auch nicht), je nach der Einwirkung weiterer kontingenter Faktoren. Er schrieb damit den Ereignissen eine Einfallskraft zu, die idealistische wie materialistische Geschichtsphilosophien geleugnet hatten. Aus dieser Sicht erschienen Weber solche Philosophien als mehr oder weniger versteckte Versionen einer unakzeptablen Theodizee. Wir können also die Entdeckung der poetischen, performativen, sozial produktiven Eigenschaften des Diskurses auf Vico zurückführen und auf Weber den Vorrang der Diskontinuität, der Kombinationen, und der Ereignisse der Geschichte. Foucaults Werk aktualisiert, entwickelt und artikuliert die Zwillingsideen der Diskursivität und Diskontinuität und benutzt sie zu einer reichhaltigen Untersuchungsreihe über Wahnsinn, Medizin, Einkerkerung, Sexualität, und Machtausübung28 . Indem er Einfall und Diskontinuität betont, zerstreut Foucault nicht nur die Illusionen der konventionellen Ideengeschichtsschreibung (die einem graduellen Entfaltungsmodell des Geschichtsprozesses verpflichtet ist) j er lehnt zugleich den szientistischen Glauben ab, daß Erkenntnis durch wachsende Annäherung an gesetzte invariante Objekte fortschreitet. Was wir statt dessen sehen, ist die sich ändernde Konzeption von Objekten durch sich verschiebende Diskursregeln. Indem er diese sich ändernde Konzeption von Objekten durch sich verschiebende Diskursregeln unterstreicht, lenkt Foucault unsere Aufmerksamkeit auf die Operationen diskursiver Regeln und die von ihnen hervorgebrachten Sätze, die beide wiederum die Objekte selbst konstituieren. Die Objekte sind dem Diskurs nicht äußerlich, sondern werden von den diskursiven Regeln lokalisiert und präsentiert. Diese wiederum regeln die Möglichkeit des Auftauchens von Sätzen. Objekte werden für Foucault nicht durch Bezug auf invariante Dinge "dort draußen" definiert, sondern durch Bezug auf das Korpus von Regeln, die ihre Bildung als Objekte eines Diskurses ermöglichen und somit die Möglichkeit ihrer historischen Erscheinung konstituieren 29 . Solche zugleich beschränkenden und ermächtigenden Regeln bestimmen die Bedingungen der MöglT~hkeit verschiedener Diskurse 30 . Diese Bedingungen sind die Grenzen des Diskurses selbst, so etwas wie seine Parameter. Sie offerieren ihm die "Objekte", über die er sprechen kann, oder besser: sie bestimmen das Spektrum von Bindegliedern, die der Diskurs leisten muß, um sie zu behandeln, zu benennen, zu analysieren, zu klassifizieren, zu erklären 3!. Diskurs wird so als Praxis begriffen, die wir den Dingen aufbürden . .In dieser Praxis finden die Ereignisse des Diskurses das Prinzip ihrer Regularität 32 . Ein flüchtiger Überblick über Foucaults bevorzugte Ideen wird die meisten Sozialwissenschaftler kaum überzeugen. Einige werden die ganze Angelegenheit der franzö-
Reihe sorgfältiger Studien über die Bildung und das Auftauchen bestimmter Diskurse, von der damit verwandten Untersuchungsreihe über die soziale Verteilung und Aneignung von Diskursen ganz zu schweigen 33 . Meine Absicht in diesem Essay ist jedoch nicht, solche Arbeiten zu diskutieren, sondern die Entfernung zu messen, die sie von anderen Kulturtheorien trennt. Kultur wurde bislang vor allem "verstanden" und "interpretiert"34. Gelegentlich versuchen Soziologen, sie mit Bezug auf externe soziale Fakten zu "erklären", freilich unter erheblicher Kritik schon für den Versuch 35 . Die Subtilsten unter ihnen argumentieren, daß die richtig verstandene Wissenssoziologie selbst eine Variante der interpretativen Methode sei und in der hermeneutischen, subjektiven Tradition stehe 36 . Ansetzend mit der Prämisse, daß Texte und Sätze, kulturelle Artefakte und soziale Handlungen sinnerfüllt sind, versucht die Wissenssoziologie, die verschiedenen Schichten dieses Sinns bloßzulegen, und ergänzt die unmittelbarsten und offenbarsten Ebenen mit der Bloßlegung von den Intentionen der Autoren und übergreifender kontextueller Voraussetzungen. Die Philosophie, Geschichte und Soziologie der Kultur sind so mit einem eigentümlichen Gestus verbunden. Alle stellen Versuche dar, die Vielfalt, Zerspaltung und Inkonsistenz kultureller Einzelheiten zu erfassen, die Proliferation von Sinn zu bekämpfen und den Sinn zu finden. Für die Vertreter dieser Disziplinen sind Kulturgegenstände tendentiell einheitliche Totalitäten, die ihren Ursprung in individuellen oder kollektiven Subjekten haben 37 . Ihre Methodik versucht, in der Kultur eine zentrale ideelle Struktur zu lokalisieren. Das kulturelle Feld freilich widersetzt sich häufig der Kohärenz und Totalisierung: es liefert diverse und dezentrierte Objekte. In ein und demselben Text zum Beispiel werden verschiedene Diskurse verflochten, wird eine Vielzahl von Stimmen vernommen und Stile und Symbole geraten in Konflikt 38 . Die Kombination und Kreuzung dieser Diskurse bringt eine Art trompe l'a:il-Effekt hervor - die Illusion von Tiefe, in der der Wissenschaftler dann nach verborgenem Sinn forscht 39 , nach den Intentionen der Autoren, privilegierten Ursprüngen und dem Geheimnis epochaler Stile. Dagegen ist Foucaults Vorschlag so einfach wie schlagend: den Mechanismus, der diese kulturellen Effekte hervorbringt, auseinanderzunehmen, statt in den Grenzen ihres imaginären Raums zu suchen. Diskurse sind nicht auf irgendeine einzelne Logik oder einen einheitlichen Prozeß reduzierbar. Ihre Ursprünge sind unsicher, ihre Entwicklungen heterogen und die der Ereignisse, ja selbst der Zufall, spielen eine wichtige Rolle in ihrem Auftauchen und ihrer Interaktion. Diskurse interagieren untereinander wie auch mit anderen nichtdiskursiven Praxen; sie überschneiden sich, verdrängen und unterwerfen einander; sie bilden Situierungen aus, und in den dabei produzierten Räumen nehmen ihre Träger bestimmte Positionen ein und tauschen Feststellungen über Objekte aus, die nur innerhalb dieser Situierungen möglich sind. Kulturelle Leistungen und Wissensformen sind nur auf dem Territorium dieser "diskursiven Formationen" möglich. Das Operieren diskursiver Regeln sichert Kohärenz und Regelmäßigkeit in jedem Wissensbereich
Von diesem Blickwinkel aus erscheint die Kultur wie ein dichtes diskursives Gewebe und schon diese Formulierung suggeriert, was andere, traditionelle kulturtheoretische Ansätze nicht gewürdigt haben. Denn auf die Frage: wie läßt sich Kultur verstehen? hat es gewöhnlich drei Antworten gegeben. Eine bestand darin, ihre Ausdrucksformen einfach zu ignorieren und sich unbeirrt einer bestimmten Tätigkeit zu widmen. Dies ist der pragmatische Verstehensmodus. Eine zweite Antwort war, die Kultur in eine Art von "Basis" einzuzeichnen, die man entweder als ökonomische Plattform, als soziale Formation oder als Zivilisationsprozeß begriff. Dies ist der materialistische Ansatz. Die dritte Antwort bestand darin, das kulturelle Konglomerat zu transzendieren mit der Hypostase eines allgemeinen "Themas", eines Begriffssystems, eines Stils oder durch einen Satz modaler Werte, gerade so wie wir einer Person eine bestimmte Persönlichkeit unterstellen. Dies ist der idealistische Kulturbegriff. Keine dieser Ansätze widmet dem diskursiven Gewebe einer Kultur, ihrer spezifischen Ma terialität, den Grenzen und Möglichkeiten ihrer Eigenschaften, ihrer "Naturgeschich te", genügend Aufmerksamkeit. Genau dieser Problemkreise haben sich die zeitgenössischen Trends der Diskursanalyse angenommen 40 • Sie haben ein Forschungsfeld eröffnet, das sich um zwei Hauptachsen formiert. Eine Reihe von Studien beschäftig sich mit der Bildung und dem Auftauchen bestimmter Diskurse. Eine zweite Reihe von Studien untersucht die Verbindungen zwischen bestimmten Diskursen und Institutionsformen, die diese Diskurse stützen und von ihnen wiederum modifizier werden. An diesem Punkt ist das soziologische Interesse an diskursiven Formationen sichergestellt. Es besteht in der Erhellung der Anforderungen, die die formalen Eigenschaften einer diskursiven Formation, eines Erkenntnissystems an institutionelle Formen stellen, um ihr Programm zu verwirklichen; und es besteht weiterhin darin in Erfahrung zu bringen, wie Institutionen die Unterstützung durch "Wissen" für ihren Legitimitätsanspruch und ihre Machtausübung nutzen. Foucaults kritische Studien über die Bildung der Klinik, der Psychiatrie, der Gefängnisse und der Sexualität illustrieren diese Beziehungen zwischen Diskursen und nichtdiskursiven Praktiken. Freilich sind all diese Studien historische Untersuchungen übe bereits "geleistete" Phänomene, und in dieser Hinsicht bleibt die Archäologie des Wissens der Verspätung philosophischer Reflexion verhaftet. Eine Diskursformation in statu nascendi zu untersuchen, ist unendlich schwieriger. Die Anfänge lassen sich schwerer ausmachen, vor allem, da wir viel tiefer in die Ereignisse verwickelt sind, aus denen sie sich bilden. Weiter oben hatte ich angemerkt, daß eine Art doppelte Schau - aufs Objekt und auf den Blick selbst - das Charakteristikum der Intellektuellen ist. Ich argumentierte, daß es möglich sei, die sich entfaltende Reflexivität der Kultur so wie sie in der Selbstverdoppelung der Intellektuellen stattfindet, mit einer gewissen ironischen Distanz oder cum grano salis zu kontemplieren. Erkenntnis, Erkenntnis über Erkenntnis, Erkenntnis über Erkenntnis über Erkenntnis - das sind Spiele, die wir schon seit langem spielen. Sie sind weder müßig noch ein unendlicher Regreß Gerade in dem hier vorliegenden Essay habe ich zu zeigen versucht, daß wir auf de
und schauen wir in die Zukunft, so empfinden wir, daß wir eine neue Schwelle überschritten haben; ein qualitativer Wandel hat stattgefunden, der weniger mit der Verfeinerung unserer kritischen und reflexiven Fähigkeiten zu tun hat als mit deren praktischer und effektiver Enteignung. Die intellektuelle Sichtweise wird institutionell verwaltet. Bislang konnten sich die Intellektuellen als "Funktionäre der Menschheit" ansehen, angesichts ihrer Fähigkeit, die Kultur zu artikulieren, zu begründen und zusammenzufassen. Heutzutage können Funktionäre ohne Anspruch auf den Titel "Intellektuelle" Kultur fördern, eingrenzen, unterdrücken, steuern, überwachen, einfach aufgrund ihrer organisatorischen Stellung und Verfügung über deren Ressourcen. Zwischen dem totalisierenden Intellektuellen und dem Wissensmanager gibt es keine Kontinuität, nur einen Abgrund - die Folge einer historischen Entwurzelung.
IV. Kultur als Rohmaterial: Ober die Kultivierung des Wissens. Ich habe bis hier die verschlungenen Pfade der intellektuellen Sichtweise bis zur Schwelle eines stillen Bruchs verfolgt. Wir stehen nun vor einer Art Strafraum. Was sich auf der einen Seite zunächst als zweifache Schau, als zerrissene Seele, als geteiltes Selbst, dann als eine ausgeprägte Art des Überschauens gitterartiger Kulturkonfigurationen beschreiben läßt, verwandelt sich auf der anderen Seite in praktische Technologie, in avancierte Managementformen, in Bearbeitungsvorgänge, in Transaktionen zwischen und innerhalb komplexer Organisationen, die sich ihrer Umgebung widmen. Wir können die Konturen des Strafraums noch schärfer durch die Gegenüberstellung von Metaphern zeichnen. Von Kulturobjekten (seien sie Kunstwerke oder Erkenntnisprodukte) hat man gesagt, daß sie, während sie eine Bezugssprache sprechen, zugleich eine Art lateraler Botschaft über ihren eigenen Bildungsprozeß abgeben. Diese eben gestattete es Intellektuellen, von Kulturmustern, Wert, Stil oder - alternativ - von Diskursformationen _zu sprechen. Kulturelle Aktivitäten bilden aus ihrer eigenen Bewegung heraus eine laterale "Aura", die dem kritischen und reflexiven Geist zugänglich ist. Betrachten wir einmal die folgende Neuformulierung: kulturelle Aktivitäten bringen laterale Daten hervor, die auf der Überwachungs- und Managementebene wieder verwertet werden können. Es scheint offensichtlich, daß das Modell eines solchen epistemischen Regimes sich nicht in der Philosophie, sondern eher in der zweiten Generation der Nukleartechnologie finden läßt: Brüterreaktoren produzieren Energie und neuen Brennstoff zugleich. Die "weiche" Technologie, die Kultur in den Griff zu bekommen und weiterzuverwerten, existiert. Meine folgenden Bemerkungen richten sich auf die Herstellung einer solchen Technologie sowie ihrer Implikationen. Lassen Sie mich zunächst jedoch das bisher Gesagte rekapitulieren. Im ersten Teil des Essays habe ich einen Aspekt der kulturellen Aktivität behandelt, nämlich das Streben nach Anerkennung oder Status. Der zweite Teil untersuchte die Selbstüberwachungs-
lichen Arten der Kulturüberwachung durch Intellektuelle - im Wesentlichen holistische, hermeneutische und retrospektive Modi - in eine Sackgasse geraten sind, da die Prämissen und Annahmen, auf denen sie beruhen, nicht länger gelten. Diese Prä missen und Annahmen sind durch eine andere Methodologie ersetzt worden, eine Ar der Diskursanalyse, die der Semiotik und einem Begriff der diskontinuierlichen Ge schichte verpflichtet ist. Meine These nun ist, daß jede dieser drei Kulturdimensionen: Status, Überwachung und Netzwerk, unter wachsende Kontrolle durch Bearbei tungsorganisationen geraten 42 . Die Existenz dieser Organisationen, ihre strategische Situation und die Verarbeitungstechnologien, die sie entwickeln, haben m.E. die Kartographie der Kultur radikal verändert; sie haben einige der alten Funktionen obsolet werden lassen, haben die soziale Position der Intellektuellen verschoben und haben uns gezwungen, die Beziehungen zwischen Kultur und Macht neu zu begreifen Wir können daher, im Anklang an Weber, von einer "Rationalisierung" der Kultu sprechen, besonders in der Wissensproduktion - freilich nur unter der Bedingung daß wir den Begriffen von Kultur und Macht entsagen, an die uns die Geistes- und Sozialwissenschaften gewöhnt haben. Tatsächlich ist die Dualität von Kultur und Macht ein Hindernis für ein angemessenes Verständnis gegenwärtiger Trends. Wir haben uns daran gewöhnt, Rationalisierung mi Bürokratie in Verbindung zu bringen, Macht als die Einschränkung freier Kulturent wicklung zu sehen, während sie von dieser praktische Anwendungen und Legitima tionssymbole fordert, und überhaupt zu glauben, daß Macht vom Staat ausgeht, daß sie rigide Ziele definiert und diese repressiv durchsetzt. Wir werden so von alternativen Hypothesen abgelenkt, so z. B.: daß Macht kein gehaltener oder eroberter Besitz ist sondern eine Funktion, die von einer Vielfalt strategischer Positionen ausgeübt werden kann, die totale Wirkung von Manövern, Taktiken, Techniken; daß Macht nicht an ei nem privilegierten Ort liegt, wie etwa beim Staat, sondern in diversen Kontexten pro duziert wird; daß Macht nicht einfach hindert, unterdrückt und glauben macht, son dern daß sie ebenso bittet, fördert, in Bewegung setzt; schließlich, daß Macht und Erkenntnis einander nicht fremd sind, sondern in Schaltkreisen verbunden sind deren Diagramme noch zu zeichnen wären. Die Technologie der Wissensverarbeitung ist heterogener Herkunft. Sie hat sich in einem sozialen und institutionellen Raum entwickelt, der weder gänzlich privat noch ganz öffentlich ist, sondern irgendwo dazwischen liegt; und sie entstand als die total Wirkung von Strategien, Programmen und Intentionen, die weder einer kohärenten Zielsetzung entstammen noch von einem zentralen Ort ausgehen noch einem einzel nen spezifischen Interesse dienen. Vielmehr bestätigen ihr Auftauchen und Wachstum die moderne Ansicht von Geschichte als einer vielfältigen Reihe versuchsweiser An fänge. Diese Ansätze mögen sich dann - oder auch nicht - in kohärente Muste kristallisieren. Einer dieser vielen Gewebefäden - der freilich paradigmatischen Cha rakter trägt - läßt sich in der Entwicklung der amerikanischen Philanthropie finden 43 Deren Rationalisierung war eine Funktion der Einstellung, daß man grundsätzlich di
trierte sich somit auf Forschungsprogramme und Experimente, die einen Wissensfond jenseits bloßer Symptomkenntnis aufbauen sollten. Hand in Hand mit dieser Verpflichtung auf Grundlagenwissen ging die Gründung von Stiftungen mit einem weiten Themen- und Entscheidungsspielraum in diversen sozialen Problembereichen44 • Um diese philanthopischen Grundlagenforschungen und ihr Mandat auszuführen, entwickelten diese verwaltungstechnisch fortgeschrittenen Stiftungen45 programmatische Strategien zur Erreichung ihrer allgemeinen Zielsetzungen. Solche Ansätze dienen der Konzentrierung und Systematisierung in der Suche nach Geldquellen und reduzieren die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Ressourcen auf diverse oder sekundäre Tätigkeiten verteilen. Solche programmatischen Strategien repräsentierten bald eine große Vielfalt von Betätigungsgebieten. Die verwaltungstechnisch fortgeschrittenen Stiftungen unterscheiden sich daher in der Zahl und Vielfalt der von ihnen verfolgten Ziele sowie in Hinsicht auf die geographische Aufteilung ihrer Themenkreise. Die forschende und operationale "Sichtweise" umfaßt immer größere Kulturbereiche mit nationalen und internationalen Dimensionen. Im allgemeinen versuchen diese Stiftungen, ihre Ziele dadurch zu erreichen, daß sie ausgewählte Projekte finanzieren. Die sich bei dieser Projektmethode stellende Aufgabe besteht nun darin, die Rohmaterialien, d.h. die zu beurteilenden Anträge so weiterzuentwickeln, daß sie schließlich erfolgreich zu diesen Zielsetzungen beitragen. Freilich behalten solche Bearbeitungsaufgaben immer ein erhebliches Maß an Unsicherheit und Ambiguität auf den verschiedenen Ebenen. Zunächst machen es die sehr allgemein formulierten Zielsetzungen dieser Stiftungen schwierig, die genaue Natur des gewünschten Erfolges festzulegen. Dieser Zustand wiederum führt zu Schwierigkeiten in der Auswahl der zu finanzierenden Projekte. Das Problem wird dabei noch kompliziert durch den Mangel an sicherem Wissen über den Transformationsprozeß, durch den die Ziele erreicht werden. Zweitens, um die Ziele der Projektmethode zu erreichen, versuchen, die Stiftungen, das Rohmaterial der Anträge in Projekte mit Erfolgspotential zu konvertieren. Diese Rohmaterialien nun sind nichts anderes als die Grundelemente einer lebendigen Kultur: Personen, Ideen und Institutionen im Bereich des Wissens und Schaffens. Als eigenmotiviert und interaktiv machen sie eine standardisierte Beurteilung und Voraussage ihrer Aktivitäten zu einem problematischen Unterfangen. Schließlich müssen Stiftungen wie andere Organisationen auch den Mitgliedern ihrer sozialen Umgebung Resultate vorweisen. Stiftungen müssen ihre Existenz und Arbeitsweise dadurch legitimieren, daß sie schwierige Effektivitätsansprüche erheben, da weder die Zielsetzungen noch die eingesetzten Mittel eindeutig sind. Kurzum, die verwaltungstechnisch fortgeschrittenen Stiftungen stehen in einer vom konventionellen Modell einer rationalen Bürokratie stark unterschiedenen und gelegentlich ihm entgegengesetzten Dimension - d.h. Bürokratien mit einer eindeutigen Hierarchie, Befehlsgewalt und etablierten Zielsetzungen. Es ist jedoch gerade das Management der Ungewißheit, das Bestehen darauf, die Ambiguitäten zu rationalisieren, was diese Organisationen zu fortgeschrit-
kulturellen Schaffensprozeß und die Wissensproduktion entdeckt, überwacht un steuert, indem sie nämlich Entscheidungen ermöglichen über Befruchtung, selektiv "Brüten", Neutralisierung, Konservierung und Förderung von Wissen auf dessen vol Entfaltung und Ausnutzung hin. Man kann verwaltungsmäßig fortgeschrittene Stiftungen unmöglich als monolithisch statische, souveräne oder willkürliche Einheiten ansehen. Vielmehr sind sie das par digmatische Beispiel neuer Organisationsmuster und einer anderen Art von Mach Ihre Struktur ist derart, daß Organisationsziele, Hierarchien und Positionen fließen und ständig in Umbildung begriffen sind. Sie werden produziert, reproduziert un ständig verwandelt durch Verhandeln, Fragen, Legitimieren. Die von diesen Organis tionen über die Erkenntnis ausgeübte Macht ist nicht Besitz einer Gruppe oder Klass ist überhaupt nicht in einem bestimmten und konkreten Ort "lokalisierbar" und nicht etwa irgend welchen tiefliegenden Interessen oder Strukturen untergeordne auch wird sie widerstrebenden Subjekten nicht "aufgezwungen". Sie ist vielmehr ei sich quer durch verschiedene Aktivitäten, Menschen, Institutionen manifestieren Technologie; sie verbindet und verlängert diese und läßt sie auf neue Art zusamme kommen und handeln: eine Produktionsweise in nicht ausdrücklich ökonomische Rahmen, ein politischer Modus in nicht ausdrücklich politischem Rahmen. Organis torische Macht deutet auf ein Netzwerk strategischer Situierungen im Prozeß ständ ger Um definition sowie auf eine Technologie der "Realitätsproduktion". Die von di ser Technologie bearbeitete Realität besteht aus modifizierbaren Grenzen und Hie archien kognitiver Bereiche; aus dem modifizierbaren Status von Individuen, Idee Institutionen; aus modifizierbaren Kulturformen in ihrem Verhältnis zu andere sozialen Praktiken. "Perfektionierung", "Normalisierung", "Kultivierung" sind all samt Kandidaten für Begriffe, mit denen sich der Prozeß erfassen ließe, dem Kult so unterworfen ist. Um die Ungewißheit ihres Handlungsbereichs und die Dynamik ihrer Umgebung den Griff zu bekommen, entwickeln Stiftungen Wege der Geldverteilung aufgrun bestimmter Informationsgrundlagen und Prozeduren. Die letzteren schützen sie v den ihrer Arbeit immanenten Risiken und dienen nebenbei dazu, ihre Glaubwürdi keit in der Öffentlichkeit zu vergrößern und eine Aura von Objektivität über ihre A beitsweise zu breiten. Sie müssen sich eine Informationsgrundlage sichern als Bas ihrer Arbeit, und diese Notwendigkeit erfordert einen Stab von Spezialisten, der hilf die Richtlinien der Politik mitzubestimmen und die förderungswürdigen Projek auszuwählen. Ein solcher Stab verfügt über Spezialwissen in verschiedenen Gebiete und hat zugleich eine übergreifende Orientierung. Durch diesen Stab ist die vorma totalisierende Sichtweise der Intellektuellen operational geworden. Zu den Aufgaben der Programmabteilungen gehören die Programmentwicklung, d Beurteilung und Untersuchung von Anträgen, Förderungsempfehlungen und das Übe wachen und Auswerten laufender Projekte. Da es weder ein kodifiziertes Wissen noc unzweideutige Entscheidungskriterien diesbezüglich gibt, enthält die Ausführung di
formieren und um den Gang der einmal gebilligten Projekte auszuwerten. Solche Kriterien und Prozesse sind wiederum das Resultat vielfältiger Verhandlungen mit dem Stiftungsvorstand, mit übergeordneten Stellen, mit Kollegen und mit der die Probleme liefernden Umgebung - primär Klienten und Berater. Die Technologie der Wissenskultivierung besteht also in der übergreifenden Wirkung der Transaktionen, die um strategische Kontaktpunkte verhandelt worden sind. Die Machtausübung besteht in der organisatorischen Verbindung dieser Kontaktpunkte dort, wo sie bereits existieren, und in der Herstellung dort, wo sie noch fehlen. Sind sie erst einmal etabliert und "verwaltet", dann tendieren kulturelle Aktivitäten auf diese Punkte hin und durchschreiten sie - so z. B. wenn Wissensproduzenten Stiftungsbewerber werden, wenn ihre Institutionen, Ideen und Akteure in die abstrakte Maschine an einem Ende eintreten und am anderen mit geändertem Status herauskommen oder wenn kulturelle Entwicklungen schon in ovo gehegt und über ihren ganzen Lebenszyklus hinweg von einer aufmerksamen "Sichtweise" verfolgt werden oder wenn diese aufmerksame Sichtweise zwei Kompetenztypen monopolisiert, den interdisziplinären und den interaktiven; wenn neue Diskursregeln etabliert werden, um Aktivitäten vorzuschlagen 46 , zu projektieren und zu überprüfen; und schließlich, wenn der kulturelle Mehrwert vom ganzen Netzwerk eingelöst wird. Man kann diese Organisationen als bedeutende Torhüter wichtiger sozialer Ressourcen und Einrichtungen betrachten 47 . Individuen in solchen Organisationen vollziehen nach dieser Ansicht Evaluierungsprozesse, werten Rohmaterialien aus und entscheiden über die Zuweisung von Belohnungen. Solche Organisationen produzieren einen Output in Form von Statusverschiebungen oder von Zuwendungen in der äußeren Umgebung. Dennoch trifft auch diese Charakterisierung noch nicht die Bedeutung von Innovation und Kreativität in der Arbeit der verwaltungstechnisch fortgeschrittenen Stiftungen. Ihre kreative Fähigkeit - statt bloß ihre Kontrollfähigkeit - wird von der Fähigkeit bestimmt, systematische Kontaktpunkte mit bedeutsamen Akteuren der internen und externen Arbeitsumgebung zu schaffen. Dies gestattet ihnen zunächst einmal, ein effektives System zur Informationssammlung zu etablieren, das zugleich feinfühlig auf Anderungen in der Umgebung reagiert; darüber hinaus gestattet es ihnen, solche Inputs an Information zu entwickeln und effektiv zu präsentieren; schließlich gestattet es ihnen, Unterstützung in der Umgebung zu finden. Intern schlagen die Bearbeiter die Billigung und Förderung solcher Projekte vor, bei denen sie die finanziellen Ressourcen, konkurrierende Programme und Projektbedürfnisse in Rechnung stellen. Extern verlassen sie sich auf die Förderungsempfänger und deren Institutionen bei der Durchführung der Projekte sowie auf Bewerber, die Projektideen vorschlagen sollen. Zusätzlich bedienen sie sich gelegentlich externer Berater. Innerhalb dieses Kontextes sind Beziehungen von einem Gleichgewicht von Einflüssen und Abhängigkeiten charakterisiert, in dem jede Partei ihre Autonomie zu bewahren sucht. Hier liegt natürlich ein Forschungsbereich von immensem potentiellem Interesse, und die ersten Resultate sind schon zu verzeichnen 48 . Es gibt z. B. bereits Studien über die Beziehungen zwi-
Durch ihre Konzentration auf die Details und Knotenpunkte im Netzwerk von Stiftungsaktivitäten sollten diese Studien zu einem besseren Verständnis der eigentlichen Beziehungen zwischen Wissen und Macht in fortgeschrittenen Industriegesellschaften beitragen. Da die Stiftungen sich überdies in einer unruhigen und kritischen Umgebung finden sl , sollten die Ansprüche und Anklagen gegen sie eine Gelegenheit sein, das Management von Legitimität solcher moderner Organisationen sowie ihre potentielle oder tatsächliche Zusammenarbeit (bzw. Konflikt) mit dem Staat, mit bestimmten sozialen Klassen, mit anderen Berufen und mit ihrer Klientel zu untersuchen. Höchst bedeutsam in diesem Zusammenhang ist die Doppelnatur von Stiftungen als öffentlich-private Organisationen. Einerseits gebrauchen sie Fonds, die zwecks Nutzung zu öffentlichen Zwecken steuerfrei bleiben. Andererseits sind sie private Einheiten, die ihre Existenz den Beiträgen privater Individuen verdanken und durch private Direktorien kontrolliert werden. In ein und derselben Organisation sind also öffentliche Zwecke mit privatem Management kombiniert. Fragen über Privatinteressen und öffentliche Kontrolle und Rechenschaft sind also in diesem Bereich von besonderer Relevanz. Es ist m. E. der Bereich, in dem diesbezügliche Forschung ansetzen sollte. Der Zweck meines Essays jedoch war ein anderer und viel vorläufigerer, nämlich die Bildung einer neuen und spezifischen Machttechnologie im Kulturbereich zu verfolgen; die Entfernung zu schätzen, die diese Technologie von klassischen Kulturbegriffen trennt; und ein Diagramm dieser Technologie als eines neuen sozialen Handlungsbereichs zu liefern. Zum Abschluß möchte ich einige Fragen über die allgemeinen gesellschaftlichen Implikationen des besprochenen Wandels stellen und dabei einige Antworten riskieren, die als Arbeitshypothesen dienen mögen.
Ist die neue Technologie der Kulturkontrolle gesellschaftlich neutral? Nein, und zwar aus zwei guten Gründen. Zunächst kann diese Technologie jederzeit von einer herrschenden Gruppe wie andererseits auch vom Kollektiv neu angeeignet werden. Zweitens ist diese Technologie kein wie auch immer komplexes "Spielzeug" in der Hand bereits etablierter Akteure, die sie beliebig einsetzen können. Im Gegenteil, ihre Existenz definiert neue soziale Beziehungen und somit neue Konflikte unter anderen Akteuren - womit auch andere Dinge auf dem Spiel stehen. Die genaue Natur der von der neuen Technologie geschaffenen Sozial beziehungen, die dadurch entstehenden potentiellen Kämpfe, die Hauptkontrahenten in einem solchen Konflikt sowie die Konfliktgründe müssen unbedingt identifiziert werden. Impliziert die neue Technologie ein anderes Gesellschaftsmodell? Ja, das Modell einer Gesellschaft, die von Programmierung gekennzeichnet ist, d.h. von der Fähigkeit, sich selbst zum Handlungsobjekt zu machen, ihre eigene "Realität" in einem präzedenzlosen Maße zu produzieren.
Typs zu schaffen sind. Hier kann der Analytiker freilich kein Urteil im voraus fällen. Seine Rolle ist, die Kontrollmechanismen zu analysieren und aufzuzeigen, sowie den Konflikt um sie zu fördern und auf eine höhere Ebene zu heben.
Hat die neue Technologie bedeutende Implikationen für die in der Gesellschaft entwickelten Erkenntnis- oder Wissensarten? Viele Implikationen, deren wichtigste gewiß das Verschwinden aller meta-sozialen Grundlagen der kulturellen Ordnung ist, so wie z. B. transzendente Wahrheiten oder Werte, Evolution, Fortschritt bzw. jedwede historische Teleologie. Enthält die neue Technologie signifikante Implikationen für die Art und Weise, in der wir die Beziehung zwischen Kultur und Gesellschaft sehen? Ja. Grundsätzlich macht sie die konventionelle Problematik der Geisteswissenschaften und der Kultur- und Wissenssoziologien obsolet, indem sie solche Themen wie die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Ideologie, solche Methoden wie Hermeneutik oder narrative Historiographie, die Annahme eines Bewußtseins bei kollektiv Handelnden, solche sozialen Typen wie die Intelligentsia, antiquierte kritische Begriffe wie "Entfremdung" und "Unterdrückung" an die Peripherie verdrängt. Ist dies die Zusammenfassung einer Studie, die Folgerung aus Recherchen, eine endgültige Diagnose? Nur der Anfang.
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Paul Valery, Lettre d'un ami, in: Monsieur Teste, Paris 1946, S. 91-92. Das jüngste Beispiel ist Regis Debray, Le Pouvoir intellectuel en France, Paris 1979. Cf. Denis Diderot, Le neveu de Rameau, Paris 1967. Goethes übersetzung des Dialogs erschien, während Hegel an der Phänomenologie arbeitete. Hegel übernahm den Ausdruck - und Begriff - in den Titel der Sektion "Der sich entfremdete Geist; die Bildung". Ich habe die französische übersetzung von Jean Hyppolite benutzt, La phenomenologie de l'esprit, Paris 1941, Bd. 11, SS. 50 ff. Lionel Trilling, Sincerity and Authenticity, Cambridge, Massachusetts 1971, hat diese überlegungen inspiriert. So war Herbert Marcuses erster Titel für sein One-Dimensional Man, Boston 1964, "The Technology of Self-Consumption". S.a. Jean Baudrillards späteren Artikel "L'ordre des simulacres" in seinem L'echange symbolique et la mort, Paris 1976. Cf. Bronislaw Baczko, Rousseau: Solitude et communaute, Paris 1974. S.a. Gcrard Namer, Rousseau sociologue de la connaissance, Paris 1978. Cf. Trilling, op. cit., Kap. 5 und 6. Ibidem, S. 43. Cf. Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essays, zweite erweiterte Ausgabe, Leipzig 1919, SS. 223-53. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur. Benutzte Ausgabe: Civilization and Its Discontents, in The Complete Psychological Works of Sigmund Freud, Standard Edition, Bd.21, London 1961.
15 Cf. ]uan E. COTTadi, Over krities bewestzegn en hedendaagse macht, in: G. van Bentbem van den Bergb und David Kettler, Hrsg., Inteleetuelen tussen Maebt en Wetensebaap, Amsterdam 1973. 16 Cf. Kurt H. Wolff, Hrsg., From Kar! Mannheim, New York 1971. 17 Cf. die Diskussion in Antbony Giddens, New Rules of Sociological Method, New York 1976 Kap. 1. 18 Ober Strukturalismus cf. Frederie ]ameson, The Prison - House of Language, Princeton 1972. 19 Eine kurze Zusammenfassung findet sich in Terenee Hawkes, Structuralism and Semiotics London 1977. 20 Besonders die folgenden Bücher: Folie et deraison, Paris 1961; Naissance de la Clinique, Pari 1963; Raymond Roussel, Paris 1963; Les mots et les choses, Paris: N.R.F., 1966; L'archeologi du savoir, Paris 1969; L'ordre du discours, Paris 1971; Surveiller et punir, Paris 1975; La vo lonte de savoir, Paris 1976. 21 Cf. Editb Kurzweil, M. Foucault: The End of Man, in: Theory and Society 4 (1977), SS. 395 -420, und Beng-Huat Cbua, Michel Foucault and the Sociology of Knowledge, Vortrag vo dem 9. Weltkongreß der Soziologie, Uppsala, Schweden, 1978. 22 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968. 23 Cf. The New Science of Giambattista Vico, übersetzt und herausgegeben von Tb. Goddard Ber gin und M. H. Fisch, Ithaca/New York und London 1970. 24 Neuerdings über diese Ansicht: ]aeques Derrida, De la grammatologie, Paris 1967. 25 Offensichdich ]ames]oyee, Finnegan's Wake, London 1939. Cf. Norman O. Brown, Closin Time, New York 1973. 26 So in Gilles Deleuze, Proust et les signes, Paris 1964, Kap. 8. 27 Cf. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. eit., und Alexander von Sebelting, Max Webers Wissenschaftslehre, Tübingen 1934. 28 Einige Aspekte des Foueaultschen Werks werden diskutiert in der Ausgabe der Zeitschrif Critique 343 (1975), S. 1207-66. 29 Foueault, The Archeology of Knowledge, London 1972, S. 47-48. 30 So bei Regine Robin in: Histoire et linguistique, Paris 1973, S. 83 ff. 31 Foueault, op. eit., S. 63. 32 Foueault, "Orders of Discourse", in: Social Scienee Information 10 (1971), S. 20. 33 Cf. Anm. 20. 34 Cf. Karl-Otto Apel, Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt 1971. 35 Cf. Georg Henrik von Wrigbt, Explanation and Understanding, London 1971. 36 Z. B. Artbur P. Simonds, Kar! Mannheim's Sociology of Knowledge, Oxford 1978. 37 So im Werk von Georg Lukaes und Lucien Goldmann. 38 Cf. Mikbail Bakhtine, Estbetique et tbeorie du roman, Paris 1978. 39 Beispielhaft ist hier Karl-Otto Apel, The Prominence of the Problem of Understanding i Modern Philosophy of Language, Hermeneutic Phenomenology, and in the Philosophy of th "Geisteswissenschaften", Vortrag gehalten vor dem International Seminar on Meaning an Understanding, Cerisy-la-Salle, Juni 1979. 40 Cf. Regine Robin, op. eit. 41 Der Begriff stammt von HusseTI. 42 Cf. Yebeshel Hasenfeld, People Processing Organizations: An Exchange Approach, in: Y. Ha senfeid und R. Englisb, Hrsg., Human Service Organizations, Ann Arbor/Michigan 1974. 43 Cf. ]oseph C. Kiger, Operating Principles of the Larger Foundations, New York 1954, un WaTTen Weaver, U.S. Philanthropie Foundations - Their History, Management, and Record New York 1967. 44 Cf. Weaver, op. eit., der die Hauptströmungen in der Entwicklung der Stiftungen beschreibt. 45 Cf. Arnold]. Zureber, Tbe Management of Ameriean Foundations: Administration, Policies and Social Role, New York 1972, bes. Kap. 2. 46 Die Rhetorik, die Geschichte und die allgemeinen sozialen Implikationen diskursiver Prakt ken in Anträgen ist noch weithin ungeschrieben. Einige Elemente tauchen auf in Louis Marin Pouvoir du recit et recit du pouvoir, Actes de la Recherche 25 (1979), SS. 23-43, oder aus führlicher in seinem Le recit est un piege, Paris 1978. Desgl. in M. Foueault, La volonte d
tionalization, Structure and Functions of the Referee System, in Minerva 9 (1971), SS. 66-100.
48 Cf. Carol Kunzei, Grant-Making in Major American Foundations: Programm Officers and the Decision-Making Process, unveröffentlichte Dissertation, New Vork University, Okt. 1979. 49 Vor allem Ricbard Colvard, Foundations and Professions: The Organizational Defense of Autonomy, in Administrative Science Quarterly 6 (1961), SS. 167-184, und: Foundations and Their Clients: Why the Project Method?, in The American Behavioral Scientist 5 (1962), SS.4-6. 50 Cf. Anmerkungen und Bibliographie in Kunzei, op. cit. 51 So z. B. Tbe Commission on Foundations and Private Pbilantropy: Foundations, Private Giving, and Publie Poliey - Report and Recommendations of the Commission on Foundations and Private Philantropy, Chicago 1970. 52 Cf. Alain Touraine, La voix et le regard, Paris 1978, S. 15 ff. Aus dem Englischen übersetzt von Bike Gebbardt.
I
Es ist in der Soziologie eine verbreitete, keineswegs etwa auf die materialistische Theorietradition beschränkte Auffassung, daß in gesellschaftlichen und politischen Machtkonflikten den "Ideen" zwar häufig eine wichtige und gelegentlich auch unverzichtbare, jedoch grundsätzlich keine im Wortsinne entscheidende Bedeutung für die relative Durchsetzungskraft der einen oder anderen Partei zukomme. Letzteres anzunehmen, gilt als antiempirisch und geradezu "idealistisch" oder "spiritualistisch", zumindest aber als anti-soziologisch, da dabei etwas anderes als die "eigentlich" gesellschaftlichen Realfaktoren zu Erklärungszwecken beansprucht werde! . Die folgenden Bemerkungen sollen im allgemeinen deutlich machen, daß eine solche Auffassung sich wohl an eine unbrauchbare und unfruchtbare Denkalternative bindet; im besonderen soll versucht werden, der These einige vorläufige Plausiblität zu verschaffen, daß es unter bestimmten Bedingungen genau die "Macht" fungierender "Ideen" ist, die für die relativen Durchsetzungschancen bestimmter Individuen oder Gruppen in realen gesellschaftlichen Machtkonflikten tatsächlich von ausschlaggebender kausaler Bedeutung ist. Diese These steht offenbar im Gegensatz zu einer bestimmenden, ja geradezu konstitutiven Annahme insbesondere der "klassischen" Wissenssoziologie. Entweder versteht diese Ideen und Ideensysteme nur als abhängige Variable bzw. als Funktion "realer" gesellschaftlicher Interessen- und Machtverhältnisse, oder aber sie geht - exemplarisch bei Max Scheler - davon aus, daß zwischen den Sphären der "Idealfaktoren" und der "Realfaktoren" eine geradezu seinsmäßige Kluft besteht und daß den ersteren zwar eine (unabdingbare) Orientierungs- und Steuerungsfunktion, keineswegs aber eine kausal bestimmende Bedeutung für soziales Handeln zukomme. Die eine oder die andere Auffassung scheint für die Wissenssoziologie deshalb konstitutiv sein zu müssen, weil diese - als Erfahrungswissenschaft - eben von der gesellschaftlichen Wirklichkeit als letztem Bezugssystem ihrer Erklärungsbemühungen auszugehen hat. Es ist jedoch möglich, daß sich genau in der Separierung der Welt der Ideen von der "wirklichen Wirklichkeit" des geschichtlich-gesellschaftlichen Handelns ein Restidealismus der Wissenssoziologie verbirgt und auswirkt. Die im folgenden zu entwickelnde These lautet des näheren, daß - unter bestimmten Bedingungen - die Machtbedeutung oder Machtwirkung von Ideen mit der (relativen) "Radikalität" zusammenhängt, mit der sie entwickelt und vertreten werden. Meine Bemerkungen enthalten einige Vermutungen zu der Frage, unter welchen Umständen und aus welchen Gründen ein solcher Zusammenhang auftritt. Die sehr allge-
ziehen sich meine Überlegungen auf Konflikte um politische (also nicht nur gesamtgesellschaftliche, sondern auch in einem bestimmten Sinne generelle) Machtchancen, und schließlich habe ich dabei im engeren Sinne revolutionäre Machtkämpfe im Blick, d.h. Kämpfe, bei denen es um eine grundstürzende Veränderung gerade auf der Ebene politischer Machtverteilung geht.
II
Der Begriff "gesellschaftliche Macht" wird im folgenden in einem recht weiten, unspezifischen (also etwa Weberschen) Sinne verstanden, d. h. als "Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben der Betroffenen durchzusetzen". Die relative Machtstärke äußert sich danach (a) in Umfang und Anhänglichkeit der Gefolgschaft und (b) in der direkten Durchsetzung der eigenen Zielsetzungen gegenüber konkurrierenden Individuen oder Gruppen. Die Frage soll offenbleiben, ob der Terminus Macht genau dort noch sinnvoll ist, wo die Möglichkeit, den eigenen (politischen) Willen durchzusetzen, wesentlich auf der relativen Überzeugungskraft der jeweiligen "Ideologie" beruht. Unter "gedanklicher Radikalität" soll zunächst und vor allem verstanden werden der Grad, in dem das in den Machtkonflikten verwendete Ideensystem auf möglichst wenige und einfache Grundgedanken oder "Prinzipien" zurückgeführt wird. Den relativ höchsten Grad an Radikalität besitzt demnach jeweils dasjenige Ideensystem, das sich auf Aussagen zurück beziehen läßt, hinter die - nach Auffassung der Betroffenen - nicht mehr zurückgegangen werden kann. Für die im vorliegenden Zusammenhang interessierenden politischen Ideensysteme ist es wichtig, daß zwei Erfordernissen entsprochen wird: Erstens muß diese Radikalisierung als fortschreitende (und schließlich nicht mehr überbietbare) Vertiefung der Einsicht in geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit und damit insbesondere in die letzten Ursachen der bestehenden Zustände erscheinen. (Hier wäre die Marxsche Bestimmung heranzuziehen: Radikal sein heiße, die Sache an der Wurzel fassen.) Nicht als Entfernung von den geschichtlichen (und insbesondere "materiellen") Realitäten - per Abstraktion oder "Spekulation" - , sondern als Rückgang auf deren wahren und eigentlichen Grund muß diese gedankliche Radikalität erfahren werden 2 . Zweitens geht es darum, zusammen mit der tiefsten Einsicht in die Wirklichkeit die Ansatzpunkte und - vor allem - die Zielrichtung eines eingreifenden Handeins zu bestimmen. In einem betonten Sinne "radikal" sind insofern nur diejenigen "Leitideen" politischer, machtbezogener Aktion, die geeignet sind, dem Erkennen und dem Handeln zugleich ein letztgültiges, unbedingtes Fundament zu verschaffen. (Marx hat
Erfüllung des zweiten Erfordernisses sehr leicht dazu, daß jene Leitideen fortschreitend an Erfahrungsgehalt verlieren. Es wird jedoch die Annahme vertreten, daß dieser Vorgang, sofern er von den Ak teuren subjektiv als solcher perzipiert wird, die Überzeugungs- und Motivationskraf der Leitideen entscheidend beeinträchtigen wird. Dies gilt jedenfalls für diejenigen sozialen Bewegungen und Konflikte, bei denen es um reale gesellschaftliche Mach geht, und nur davon handeln die vorliegenden Überlegungen. Vladimir Iljic Lenins Angriffe gegen den "linken" Radikalismus als "Doktrinarismus" (und als "Kinderkrankheit der kommunistischen Bewegung") 3 lassen sich insofern seh wohl mit der Behauptung vereinbaren, daß derselbe Lenin die im vorliegenden Zusammenhang gemeinte "gedankliche Radikalität" selbst geradezu idealtypisch reprä sentiert, eben weil es ihm gelang, beiden genannten Erfordernissen gleichermaßen zu entsprechen.
III
Die Überlegungen, die im folgenden in einer sehr knappen und vorläufigen Form entwickelt werden, sind durchaus theoretischen Charakters, und zwar auch in dem "negativen" Sinne, daß es sich dabei im wesentlichen um mehr oder minder plau sible Hypothesen (oder auch nur: Vermutungen) handelt. Der Anstoß zu diesen Überlegungen ist jedoch seinerseits nicht wiederum theorieimmanenter Provenienz indem er sich etwa aus der Logik eines allgemeinen theoretischen Systems ergeben hätte, sondern entspringt der Beschäftigung mit historischen Machtkonflikten und hier insbesondere mit der Dynamik revolutionärer Prozesse in der europäischen Neuzeit. Im Zuge dieser Beschäftigung stellte sich der sehr starke Eindruck ein, daß nich nur die Durchsetzungsmacht jener revolutionären Bewegungen im ganzen (der be stehenden Macht gegenüber) in einer spezifischen Weise mit der Radikalität ihre Leitideen zusammenhängt, sondern daß auch die relativen Erfolgschancen der kon kurrierenden Fraktionen (und Individuen) innerhalb des revolutionären Lagers mi deren relativer "gedanklicher Radikalität" variieren. Dieser zweite Punkt schien besonders bedeutsam, sofern er darauf hinweist, daß die "Energie der Ideen,,4 nich nur - wie dies ja schon oft festgestellt worden ist - in einem allgemeinen Sinne als Movens jener revolutionären Bestrebungen gewirkt, sondern auch den revolutionären Mikroprozeß in seinem Verlauf bestimmt hat, und zwar vor allem in den Phasen die zumindest im Rückblick als (kausal) entscheidend sichtbar werden. Die wichtig sten und eindrucksvollsten Beispiele für den hier gemeinten Sachverhalt sind wohl die in der Herrschaft der Jakobiner und Robespierres terminierende Entwicklung der Französischen und die in der Herrschaft der Bolschewiki und Lenins terminie rende Entwicklung der Russischen Revolution. Tatsächlich scheint auch im Kreise
schewiken setzte sich jeweils diejenige aus dem Kreise der revolutionären Gruppen durch, die die (im bezeichneten Sinne) radikalsten Leitideen repräsentierte und sich mit Hilfe dieser Radikalität im Laufe der Zeit die Unterstützung breiter Massen verschaffte, die sie anfangs durchaus nicht besaß s . Robespierre und Lenin (der "Robespierre, der Erfolg gehabt hat"6) wiederum setzten sich innerhalb ihrer Gruppierungen nicht so sehr wegen kaum faßlicher "charismatischer" Qualitäten durch, sondern deshalb, weil sie aufgrund spezifischer intellektueller, charakterlicher (und auch rhetorisch-agitatorischer) Fähigkeiten jene Radikalität am entschiedensten und überzeugendsten zu artikulieren, zu vertreten und auch durchzuhalten vermochten 7 • Ich vermute, daß man ähnliche Feststellungen für die Vorgänge innerhalb einer Vielzahl weiterer revolutionärer Machtkonflikte (vor allem, aber wohl nicht ausschließlich: in Europa seit der Französischen Revolution) treffen könnte. Dabei ist außer Acht zu lassen, ob die jeweiligen revolutionären Bewegungen oder Gruppen am Ende und auf Dauer die einmal gewonnenen Machtpositionen bewahren konnten (was ja nicht nur für die Revolutionen von 1848 und 1870 sowie die deutsche Revolution von 1918/19, sondern auch für die Französische Revolution sowie am Ende selbst für die Russische Revolution nicht gilt). Schließlich dürften diese Feststellungen sich sogar auch auf den Ausgang von Machtkonflikten bzw. den Erfolg von politischen Gruppierungen beziehen lassen, deren Leitideen dezidiert anti-aufklärerischen und anti-liberalen und (erst recht) anti-sozialistischen Charakters waren, also insbesondere auf die Durchsetzungsmacht faschistischer Bewegungen im allgemeinen und des deutschen Nationalsozialismus im besonderen8 .
IV
Ich komme nunmehr zur Formulierung einiger theoretischer Annahmen darüber, wie sich der so konstatierte Zusammenhang von gedanklicher Radikalität und politischgesellschaftlicher Durchsetzungsmacht erklären lassen könnte. 1. Am Anfang muß eine Feststellung stehen, die womöglich noch in den Bereich der Definition und Explikation des zu erklärenden Sachverhalts gehört. Die Überlegungen wurden eingangs auf revolutionäre Machtkonflikte eingegrenzt, also auf solche Konflikte, in denen es um eine übergreifende (gesamtgesellschaftliche und politische) und grundstürzende Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse geht. Ein derartiges grundstürzendes Veränderungsinteresse aber bedarf, wenn es als solches perzipiert wird, nicht nur überhaupt einer ideologischen Rechtfertigung, sondern einer Legitimation, die als letztbegründet, absolut und - intellektuell - un-
sind. Wenn aber ein derartiges Bedürfnis nach letztgültiger und umfassender "Sinngebung" besteht, liegt die Vermutung nahe, daß der Grad der "Radikalität" der konkurrierenden revolutionären Ideensysteme ein entscheidend wichtiger Faktor für die relative Durchsetzungskraft der verschiedenen Gruppen und Individuen ist. Hier kann man, wie angedeutet, die Frage stellen, ob es sich bei diesen Feststellungen, wenn nicht um "Leerformeln", so doch um analytisch wahre Aussagen (oder also Tautologien) handle. Dazu sei nur dies bemerkt: Aus der Voraussetzung, daß für die Entwicklung einer im engeren Sinne revolutionären Handlungsbereitschaft bei Individuen und Gruppen die Verfügbarkeit eines möglichst umfassenden und fundamentalen Systems von (erklärenden und legitimierenden) Leitideen eine konstitutive Bedingung darstellt, folgt nicht ohne weiteres (also logisch) die Annahme, daß die relative Durchsetzungskraft konkurrierender Individuen und Gruppen wesentlich an den Grad der Radikalität des jeweiligen "Programms" gebunden ist. In diese zweite Annahme gehen vielmehr noch einige weitere Voraussetzungen ein. Vor allem wird dabei zusätzlich unterstellt, daß sich die konkurrierenden revolutionären Konzeptionen tendenziell auf einer Skala der Radikalität anordnen lassen und daß Art und Verlauf des revolutionären Machtkonflikts in hinreichendem Maße Möglichkeiten und Medien zur intellektuellen Auseinandersetzung über die jeweiligen Konzeptionen bereitstellen, so daß sich auf dieser Basis Einflußnahmen und Einflußverschiebungen größeren Ausmaßes ergeben können .. Allerdings kann die Bedeutung, die der Streit um die gedanklich radikalere Konzeption im revolutionären Machtkonflikt selbst (und vor allem: zwischen den konkurrierenden revolutionären Gruppen) spielt, als Maß dafür genommen werden, wie wichtig ein umfassendes und grundlegendes Erklärungs- und Legitimationssystem für die revolutionäre Bewegung insgesamt ist.
2. Die nächste Annahme bewegt sich auf einer noch fundamentaleren Ebene als die letzte. Sie bezieht sich auf die Bedeutung, welche die Radikalisierung des ideologischen Apparates für die Ermöglichung eines entschiedenen politischen und insbesondere eines revolutionären Handelns überhaupt besitzt. Ein politisches Handeln wird umso entschiedener und durchsetzungsfähiger sein können, je mehr der oder die Akteure davon überzeugt sind, das einzig Richtige zu tun. Dies gilt natürlich a fortiori, wenn es bei den anstehenden Machtkämpfen im buchstäblichen Sinne um Leben und Tod geht, wie dies bei revolutionären Konflikten eben der Fall zu sein pflegt. Die für philosophische, wissenschaftliche und auch politische Diskurse kennzeichnende Verweisung auf weitere (sowie offene) Möglichkeiten muß, und zwar selbst in ihrer bloß hypothetischen Form, aus den Leitideen eines Handelns ausgeschieden sein, das auf Klarheit, Eindeutigkeit und größtmögliche Sicherheit ("Wahrheit") seiner gedanklichen Prämissen angewiesen ist. Diesem Erfordernis entspricht der Prozeß der (unter Umständen eben vielstufigen) Radikalisierung, wie er oben charakterisiert wurde.
dieser Einfluß bestehe lO • Demgegenüber ist es wohl angemessener zu sagen, daß die Wirkung jener Philosophen vermittelt war über eine Verdichtung und Radikalisierung ihrer (inhomogenen, ja widersprüchlichen und im ganzen durchaus "gemäßigten") Gedankenwerke zu bestimmten und - wenigen - Grundideen (Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität, Güte des Menschen etc.). Die handlungsbestimmende Kraft Ua selbst die hohe emotionale Besetzung) dieser Grundideen, ihre Leistung als "ideesforces"ll, dürfte sich entscheidend daraus erklären, daß sie - immer: aus der Sicht der Akteure - im Zuge dieses Reduktionsprozesses fortschreitend an "Vernünftigkeit" (im Sinne von Klarheit, Evidenz, Prinzipialität), also durchaus an - im traditionellen Sinne des Wortes - philosophischer oder ideenhafter Qualität zunahmen. Dabei dürfte die Ansicht, daß diese Grund- und Leitideen im Werke jener Philosophen mit dem umfassendsten und detailliertesten historischen (politischen, juristischen etc.) Wissen zusammengehen (also keineswegs abstrakte, weltlose Prinzipien sind), für die politischen Akteure und die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, von sehr großem Gewicht gewesen sein. Diese letzten Bemerkungen verweisen unmittelbar auf die folgenden Annahmen, die sich mit spezifischen Merkmalen der sozialen Träger jener revolutionären Machtkonflikte, der Intellektuellen und der" Volksmassen ", befassen. 3. Es besteht ein breiter Konsens darüber, daß die führende Rolle in den hier zur Frage stehenden (revolutionären) Machtkonflikten von einer sozialen Gruppe gespielt wurde, die als "die Intellektuellen" (Intelligenz, Intelligenzija) oder auch "die Ideologen" bezeichnet wurde und wird 12. Diese Gruppe ist - ebenfalls nach einer verbreiteten Auffassung - dadurch charakterisiert, daß ihre Mitglieder sich mit der intellektuellen und kritischen Durchdringung der gesellschaftlichen und politischen Zustände und Entwicklungen beschäftigen und dieses Geschäft, soweit wie möglich, öffentlich und mit Hilfe der verfügbaren Publikationsmedien betreiben. Die spezifische Stellung der Intellektuellen im gesellschaftlichen Interessenkampf wird darin gesehen, daß sie weniger eigene inhaltliche Interessen verfolgen, als daß sich vielmehr ihr spezifisches Gruppeninteresse in jener intensiven und kritischen Denk-, Diskussions- und Publikationsarbeit ausdrückt und realisiert. Angesichts dieser Bestimmungen ist es keineswegs natürlich oder "logisch", daß Intellektuelle typischerweise als Vorkämpfer und Führer in revolutionären Machtkonflikten (und zwar auch. wenn diese den Charakter von Massenbewegungen besitzen) fungieren. Es stellt sich vielmehr die Frage, wie diese Beobachtung mit der von Max Weber ebenso wie von Karl Marx (von diesem unter direktem Bezug auf die Französische Revolution 13) gemachten generellen These zu vereinbaren ist, daß die ausschlaggebende Bedeutung eben nicht den "Ideen", sondern letzten Endes immer "Interessen" zukomme. Die Antwort dürfte über eine Problematisierung dieses Schematismus von Ideen hier und Interessen dort zu finden sein: Auch ganz "materielle" (also physische bzw.
nach der Bemerkung Mannheims l4 , genau diesen Prozeß der Transformierung vo Interessen- in Ideenkonflikte leisten und, so ist zu ergänzen, gerade wegen der fehlen den Belastung durch den Druck unmittelbarer eigener Interessen besonders gut leiste können. Die umgekehrte These: daß Ideen nur insofern eine handlungsbestimmend Kraft besitzen, als sie ein Fundament in (letztlich materiellen) Interessen haben scheint weit weniger allgemeingültig. Tatsächlich dürften unter bestimmten Umstän den gerade die Ideen eine besonders starke motivierende Macht haben, deren Repr sentanten sich von allen (gruppenegoistischen) Interessen frei und allein im Dien der "Vernunft", der Geschichte etc. stehend empfinden. Über diese allgemeinen Feststellungen hinaus ist nun aber eine spezielle Annahm zu formulieren: Die Entwicklung von und die Auseinandersetzung über politisch Ideen und Konzeptionen im Kreise der Intellektuellen ist durch eine "endogene Tendenz zur fortschreitenden Radikalität gekennzeichnet. Indem der Intellektuel des hier gemeinten Typs15 darauf abstellt, die bestehende geschichtliche Welt "au den Begriff zu bringen" und auf diese Weise zu kritisieren, hat er sich auf einen We begeben, auf dem er sich selbst und seinesgleichen gegenüber nur durch fortschreiten de Vertiefung und Verschärfung seiner "Ideen" vorankommen kann. Diese gewisse maßen berufstypische Tendenz zur progressiven Radikalisierung der Gedanken un Zielvorstellungen dürfte durch spezifische soziale Verkehrs- und Kommunikation formen (etwa: Salons, Clubs, Journale, Traktate etc.) der Intellektuellen sehr g fördert werden 16. Sie dürfte ferner in dem Maße entscheidend verstärkt werden, dem sich die Intellektuellen in einer Situation der Verfolgung durch eine übermäc tige Staatsrnacht und einer daraus folgenden verschwörerischen Organisationswei finden. Ein besonderes Indiz für die Macht dieser in Intellektuellenkreisen wirksamen, endo genen Tendenz. auf fortschreitende Radikalisierung wird man darin sehen können, da gerade auch Angehörige solcher gesellschaftlicher Gruppen (insbesondere der Aristo kratie) von ihr ergriffen werden, die sich auf diese Weise nun tatsächlich - bewuß oder unbewußt - der Basis ihrer eigenen materiellen und sozialen Position berauben l7 In diesem Zusammenhang ist womöglich die Beobachtung von Bedeutung, daß es insbesondere, was die Französische Revolution betrifft, vermutlich aber darüber hin aus (Kerenskij, Lenin, Castro) - eine besondere Wahlverwandtschaft zwischen de vorrevolutionären und revolutionären Intelligenz und der Berufsgruppe der Juriste gibt. Selbst wenn der (mehr als 50 %-) Anteil der Juristen etwa unter den zwölf Mi gliedern des Wohlfahrtsausschusses (nach Cosers Klassifikation ausschließlich Ang hörige typischer Intellektuellen-Berufe)18 nicht signifikant überrepräsentativ se sollte, ist zu bedenken, ob diesem Tatbestand eine Bedeutung für den Prozeß der ideo logischen Radikalisierung zuzumessen ist. Die berufstypische Denkweise der Juriste ist nicht nur durch eine dezidiert "normative" (und tendenziell wohl auch doktrinäre Orientierung, sondern darüber hinaus durch ein spezifisches Bedürfnis nach, um W
offenbar eine starke Affinität zu der oben skizzierten gruppenspezifischen Mentalität der (politischen) Intellektuellen. Darüber hinaus dürfte die Einübung in die - an die zwingende Logik einer normativen Ordnung gebundene - juristische Rhetorik von Bedeutung für die publizistische und agitatorische Um- und Durchsetzung der revolutionären Ideologie gewesen sein 19 . In einem etwas allgemeineren Zusammenhang ist der juristische Hintergrund führender Repräsentanten gerade der Französischen Revolution von vielen Autoren hervorgehoben worden. So spricht G. W. F. HegePO von den "Advokaten, Ideologen und Prinzipien-Männern", die Napoleon definitiv auseinandergejagt habe, und Jakob Burckhardt21 bemerkt über Robespierre das folgende: "Robespierre kam auf als Jurist mit einer ganz einseitigen rhetorischen Phantasie, ein schrecklicher Mensch, der bloß seiner Juristenlogik nachhing und diese um jeden Preis durchzusetzen versuchte." Schließlich - und andererseits - ist darauf hinzuweisen, daß Juristen (als Advokaten) diejenige Gruppe der Intellektuellen sind, die den engsten Kontakt mit dem Elend breiter Bevölkerungskreise besaß und diese Erfahrung nicht nur im Stil ihrer Rhetorik und Agitation, sondern auch in bezug auf die inhaltliche Ausbildung ihrer politischen Ideen fruchtbar machen konnte. 4. Die zuletzt formulierten Annahmen lassen sich so zusammenfassen: Es sind spezifische Merkmale der für "Intellektuelle" (des hier gemeinten Typs) kennzeichnenden Mentalität und der in Kreisen solcher Intellektueller herrschenden Gruppendynamik, die erklären, warum innerhalb dieser Kreise gedankliche Radikalisierung die Machtchancen erhöht. Die Frage ist nun, ob sich eine ähnliche Behauptung auch für die relativen Machtchancen der Intellektuellen insgesamt oder bestimmter Individuen außerhalb dieser Kreise und insbesondere in den "Volksrnassen", dem zweiten wichtigen (und für die Machtfrage im engeren Sinne häufig entscheidenden 22 ) Träger gerade revolutionärer Machtkämpfe, vertreten läßt. Eine Möglichkeit, hier zu einer positiven Antwort zu kommen, ließe sich aus der folgenden These Alexis de Tocquevilles ableiten: "Die Schriftsteller lieferten dem Volk, das die Revolution vollzog, nicht nur ihre Ideen; sie übertrugen ihm auch ihr Temperament und ihre Stimmung23 ." Eine derartige, doch wohl überzogene Annahme (die revolutionären Volksrnassen als überdimensionaler Club von Ideologen) ist jedoch für die vorliegenden Zwecke nicht notwendig. Dagegen dürfte die Bemerkung Tocquevilles über den "religiösen Charakter" der Französischen Revolution - die darin einen ganz neuen Typ von Revolution verkörpere - in die Richtung weisen, in der die Antwort zu suchen ist. Nicht nur, sagt Tocqueville, habe sich diese politische Revolution, was ihre Vollzugsform betrifft, "durch Predigt und Propaganda" (und zwar auch "in die Ferne") verbreitet; ihr religiöser Charakter liege vielmehr auch im Gehalt ihrer Leitideen offen zutage: "Sie hat den Bürger in einer abstrakten Weise aufgefaßt, außerhalb von jeder besonderen Gemeinschaft, ebenso wie die Religion die Men-
lei ist jeder echten Revolution wesentlich: daß sie Idee ist und daß sie eine sozial Kraft mobilisieren kann. Als Idee muß sie umfassend sein, sie muß eine wahrha universale Idee sein, um jene allgemeine Ergriffenheit zu erregen 25 ." In diesen Feststellungen wird nicht nur ein allgemeiner Zusammenhang zwischen de Verfügbarkeit und der Überzeugungskraft politischer (revolutionärer) Ideen einersei und der Mobilisierbarkeit der Volksmassen andererseits behauptet; es wird vielmeh darüber hinaus gesagt, daß es eine spezifische Radikalität jener Ideen sei (nämlich: de unvermittelt oder in mehreren Schritten geschehende Rückgang auf das für den Men schen schlechthin Gültige), die ihre Attraktivität und ihre mobilisierende Kraft i den Volksmassen begründe. Es ist wichtig zu betonen, daß diese Wirksamkeit der vo den Ideologen verbreiteten radikalen Ideen nach dieser Auffassung nicht, jedenfal nicht in erster Linie, in deren Simplizität und auch nicht in einer spezifischen Mög lichkeit, sie für das Volk zu simplifizieren, liegt. Auch wenn man diesen Aspekt keine Wegs völlig vernachlässigen kann - so hat man zu recht von einer "bestechenden Sim plizität" der revolutionären Theorie Lenins gesprochen 26 - , dürfte die machtbegrün dende Überzeugungskraft dieser radikalen Ideen in den breiten Massen doch zunäch und vor allem daher rühren, daß diese ihre eigene Situation und insbesondere ih Notlage als eine solche erfahren, die tatsächlich allgemeinen Charakters und/ode zumindest auf ganz allgemeine oder grundlegende gesellschaftliche Ursachen zurück zuführen ist. (Marx hat bekanntlich die These vertreten, daß sich das Proletariat i Ausgang von seiner klassenspezifischen Erfahrung mit Notwendigkeit auf einen "al gemein-menschlichen" Standpunkt hinbewegen müsse.) Gäbe es nicht wenigstens Elemente einer solchen Erfahrung bzw. einer solchen Deu tung der eigenen Lage in den Volksmassen, so wäre die Durchsetzungs- und Mobil sierungskraft jener radikalen Ideen der Philosophen und Ideologen nicht erklärba Umgekehrt scheint es plausibel, daß der Prozeß der ideologischen Beeinflussung d Volksmassen, einmal in Gang gekommen, eine Entwicklung im Sinne einer fortschre tenden Radikalisierung nimmt, die sich dann von diesen konkreten Erfahrungen un Interessen sehr weit entfernen kann 27 . Gerade der Umstand, daß sich die erhoffte grundlegenden Verbesserungen der eigenen Lage (insbesondere der materiellen Lag mit der Beseitigung der überkommenen Macht nicht sogleich einstellen, dürfte z niichst die Bereitschaft erzeugen, den Vertretern der jeweils radikaleren Konzeptione Gefolgschaft zu leisten 28 . Allerdings ist es ebenso wahrscheinlich, daß diese Berei schaft sich nach wiederholter Enttäuschung der Erwartungen erschöpft bzw. in sic zusammenbricht. Sobald dies eintritt, verlieren die Ideologen ihren Masseneinflu Sie verlieren damit allerdings nicht notwendigerweise (und vermutlich nicht typische weise) ihre Neigung zur Radikalität - diese ist ja für sie, anders als für die Volksma sen, eine Frage ihrer "Identität" - und werden, sofern ihnen die Machtmittel inzw schen zugewachsen sind, geneigt sein, ihre radikalen Konzeptionen auch gegen de Willen der Volksmassen zu realisieren: Ausübung, Sicherung und Erweiterung d
v Wiewohl ein Herrschaftssystem dieses letzteren Typs nicht mehr in den engeren Rahmen der einleitend umrissenen Fragestellung gehört, seien auch dazu einige knappe Überlegungen vorgetragen, weil eben auch hier ein eigentümliches und konstitutives Zusammenspiel von gedanklicher Radikalität und politischer Macht existiert und weil dies nicht nur in einen logischen, sondern typischerweise in einem genetischen Zusammenhang mit den bisher behandelten Tatbeständen steht. Der Radikalismus, der zuvor entscheidendes Mittel des Erwerbs und der Ausweitung von Macht gewesen war, dürfte nämlich im Zuge dieses Moduswechsels nicht, jedenfalls nicht übergangslos und nicht typischerweise, zum caput mortuum einer nachträglichen und eventuell zynischen Ideologisierung faktischer, auf physischen Zwangsmitteln (und womöglich auf Terror) begründeter Macht werden. Für den Typus des Ideologen-Machthabers, von dem hier die Rede ist, dürfte vielmehr der eigene Glaube an die überlegene, ja absolute "Wahrheit" der von ihm verkörperten Ideen unabdingbar sein. Tatsächlich ist weder die Notwendigkeit, physische und auch terroristische Gewaltmittel zur Herrschaftssicherung einzusetzen, noch die Entwicklung eines zentralistisch-bürokratischen Apparates der Herrschaftsausübung geeignet, die "ideelle" Basis der Herrschaft in den Augen dieses Typs von Machthaber zu diskreditieren, jedenfalls nicht kurz- und mittelfristig. Ganz im Gegenteil enthält vielmehr die hier thematisierte ideologische Radikalität eine durchaus positive Beziehung sowohl zum Herrschaftsmittel der physischen Gewalt (und zwar gerade in seiner rechtsfreien, terroristischen Gestalt) wie auch zur Bürokratie. Diese Behauptung ist wenigstens ansatzweise zu erläutern. 1. Der (empirisch gut belegte) Tatbestand, daß gedanklicher Radikalismus in politischen Machtkonflikten typischerweise mit der Bereitschaft zur extensiven Verwendung physischer Gewalt zusammengeht, dürfte seinen wesentlichen Grund darin haben, daß die menschliche Wirklichkeit, wie sie ist, und erst recht das bloß physische Leben des einzelnen Menschen, dem absoluten Recht der Idee gegenüber ohne eigene Legitimität sind. Die oft hervorgehobene Gleichgültigkeit der Ideologen-Machthaber dem eigenen (bürgerlichen und physischen) Leben gegenüber, die bei ihnen typischerweise auftretende Verbindung von reinster und entschiedenster Verkörperung der "Ideen" einerseits, persönlicher Anspruchlosigkeit und Todesbereitschaft andererseits, dürfte das beste Indiz für die Existenz eines wirklichen (nicht bloß vorgespiegelten) Radikalismus sein; aus ihr zieht auch die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben anderer Menschen ihre spezifische Motivation, Überzeugungs- und Durchsetzungskraft 29 . Die Mißachtung und Verachtung der widerständigen Realitäten im allgemeinen und des eigenen und fremden Lebens im besonderen ist also ein konstitutives Element
Rußlands (Zemlja i Volja) in die Narodnaja Volja und die Cornij Peredelj30, eine ge walttätige und terroristische Gruppe von einer sich auf "Agitation und Propaganda beschränkenden abspaltet, so dürfte der Übergang zur physischen Gewalt regelmäßig durch die entschiedenere (und "abstraktere") ideologische Position zumindest seh entscheidend mitbestimmt sein. Die Annahme, daß sich insbesondere im Terro "von unten" eine Desperado-Mentalität (also die Verzweiflung über die Hoffnungs losigkeit der eigenen Sache) und im Terror "von oben" das Interesse an purer Macht bewahrung manifestiere, dürfte sich insofern als allgemeine These nicht halten lassen. Allerdings ist hier zu betonen, daß dieser (kausale) Zusammenhang von ideologischem Radikalismus und Gewaltbereitschaft in erster Linie und aus einsichtigen Gründen da auftritt, wo die ideologische Konzeption in dem Sinne "doktrinären" Charakter ist, daß in ihr die intellektuelle Durchdringung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit fortschreitend zugunsten abstrakter moralisch-politischer Ideale ode Postulate suspendiert wird. Physische Gewaltsamkeit wird gleichsam als "funktiona les Äquivalent" für die fehlende bzw. sinkende kognitive Überzeugungskraft de Ideologie (und der mit dieser kognitiven Seite eng verbundenen praktischen Leistungs fähigkeit) eingesetzt.
2. Eine ganz entsprechende Reduktion der dominanten Ideen ist nun auch für di bürokratische Dimension der Herrschaft typischer Ideologen-Machthaber kennzeich nend. Bürokratie - von Weber allgemein als "Herrschaft kraft Wissen" bestimmt heißt hier: zentrale Planung, Steuerung und Kontrolle immer weiterer Bereiche de gesellschaftlichen und individuellen Lebens nach Maßgabe einiger höchst abstrakte Zielvorgaben oder Prinzipien. Für eine "Herrschaft kraft Wissen" dieses Typs is die gesellschaftliche Wirklichkeit bloßer Stoff, der nach dem Bilde einer reinen und wahren Ordnung geformt werden muß 31 . Die kraft Wissen Herrschenden haben kein anderes Interesse, als diese Prinzipien und diese Ordnung selbst zu verkörpern 32 und zu verwirklichen. "Bürokratie" hat in dieser (frühen) Gestalt einen durchaus wertrationalen Charakter der "Geist" hat den "Apparat" noch keineswegs seiner endogenen Zweckrationalitä und den Bedürfnissen der alltäglichen Lebenspraxis überlassen, sondern benutz diesen Apparat zur Darstellung und Durchsetzung von "Idealen", die wegen ihre großen und insbesondere einseitig normativen Radikalität in stärkster Spannung zu gegebenen Wirklichkeit stehen. Bürokratie fungiert hier also als Instrument eine grundlegenden Revolutionierung gesellschaftlicher Verhältnisse, und zwar so, da dieses Instrument die wesentlichen Züge der erstrebten durchsichtigen und vernünf tigen Ordnung des gesellschaftlichen Lebens selbst vorbildhaft repräsentiert 33 . Im Zusammenhang der Französischen Revolution und der Jakobiner-Herrschaft dürfte mehr noch als Robespierre, Saint-Just, dessen letzte (abgebrochene) Rede vor dem Konvent von der Notwendigkeit der "Institutionen" handelte, diesen Typ von ideo logischem Radikalismus, der seinen adäquaten politischen Ausdruck in der durch
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Es dürfte angebracht sein, abschließend einige ebenfalls sehr vorläufige Bemerkungen über die mögliche Tragweite der (vor allem im IV. Abschnitt) vo~getragenen Annahmen zu machen. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob es sich bei den zu Exemplifizierungszwecken vor allem herangezogenen Machtkonflikten, den beiden großen Revolutionen der europäischen Neuzeit, nicht um derart außergewöhnliche Vorgänge handelt, daß sie keine auch noch so vorsichtige theoretische Verallgemeinerung zu stützen geeignet sind. Die gerade für den Zusammenhang von gedanklicher Radikalität und politischer Macht entscheidende Besonderheit dieser Machtkonflikte wird man darin sehen, daß diese eben in einer ganz spezifischen und konstitutiven Weise unter der Herrschaft radikaler Ideen gestanden haben. Von der Französischen Revolution wird darüber hinaus häufig gesagt, daß sich in ihr, wie Hegel feststellte, zum ersten (und vielleicht auch zum letzten) Mal "der Mensch auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken (ge-)stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut" habe 34 • Den ganz neuen Radikalismus der Französischen Revolution schließlich hebt W. Grab hervor: "Sie war die erste, die auf die gänzliche Aufhebung der alten Zustände abzielte, also der Zukunft zugewandt war, und eine auf Vernunftprinzipien beruhende, noch niemals dagewesene Staats- und Rechtsordnung einrichten wollte. Ihre radikalen und konsequenten Protagonisten brachen bewußt mit Tradition und Vergangenheit, um ein auf Freiheit und soziale Gerechtigkeit gegründetes Gemeinwesen herzustellen 35 ." Einwänden dieser Art gegenüber ist generell festzustellen, daß die Überzeugungskraft der skizzierten Annahmen selbstverständlich nicht von der Zahl der Fälle abhängig gemacht werden kann, die die unterstellten "Randbedingungen" erfüllen. Ferner würde eine derart begrenzte Anwendbarkeit nicht bedeuten, daß diese Annahmen keine wichtigen allgemein-theoretischen Implikationen für die Soziologie enthielten. Darüber hinaus und schließlich aber ist zu fragen, ob jene Annahmen nicht auch dann hilfreich sein könnten, wenn es sich bei den zu erklärenden Sachverhalten nicht um (im neuzeitlichen Sinne) revolutionäre und vielleicht nicht einmal um (im engeren Sinne) politische Machtkonflikte handelt. Denkbar wäre, daß diese bestimmte Art von Machtkonflikten die entscheidenden Merkmale oder "Randbedingungen" nur in besonders scharf ausgeprägter, radikaler und reiner Form aufweist 36 . Bei einer generellen Verwendung jener Annahmen wäre dann deren idealtypischer Charakter noch stärker zu beachten, als es ohnehin immer, und auch in bezug auf jene exzeptionellen politischen Revolutionen, geboten ist; Der positive Zusammenhang von gedanklicher Radikalisierung und politischer Macht tritt in der Französischen Revolution nicht zum ersten Mal auf, und diese ist auch nicht das unverzichtbare Ur- und Vorbild, nach dem er sich seitdem (den Akteuren selbst mehr oder minder bewußt) realisiert. Sein Auftreten ist vielmehr überall da
nalen Legitimationsweise als vielmehr die Kritik sowohl eines bloß traditionalen wie eines zweckrationalen zugunsten eines primär wertrationalen Legitimitätsanspruchs setzt jenen Prozeß gedanklicher Radikalisierung und einer entsprechenden Machtverlagerung zu immer radikaleren Positionen in Gang. (Tatsächlich dürfte dies nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß sich die Sinn-Suche damit in einem grundsätzlich unerschöpflichen Medium bewegt.) Tocquevilles Bemerkungen über den religiösen Charakter der Französischen Revolution verweisen darauf, daß es vergleichbare Vorgänge sehr wohl bereits früher gegeben hat, daß deren Leitideen aber typischerweise religiöser Natur gewesen sind. Womöglich hat sich die legitimatorische und motivierende Kraft von genuin politischen Radikalismen zuerst im Zuge der Geschichte der Französischen Revolution herausgestellt und durchgesetzt (auch wenn der "Kult des höchsten Wesens" nicht als Idiosynkrasie Ro bespierres, sondern als Folge eines prinzipiellen Legitimationsdefizits der Tugendrepublik verstanden wird). Entstehung und Erfolg dieser "innerweltlichen" politischen Radikalität sind jedoch auf dem Felde religiösen Denkens und religiös inspirierter politischer Praxis vorbereitet worden. Vielleicht bezeichnet die puritanische "Revolution der Heiligen", die als die "früheste Form von politischem Radikalismus" charakterisiert worden ist 37 , in der europäischen Geschichte den Vorgang, in dem der religiöse Radikalismus auf Ideen und Prinzipien stößt, die im weiteren Verlaufe der Geschichte rein "innerweltlich" gefaßt werden, und zwar so, daß ihnen im Zuge dieser "Säkularisierung" sogar ein noch höherer Radikalitätsanspruch zuwächst. Der Hinweis auf den religiösen Charakter bzw. auf die religiöse Provenienz radikaler politischer Ideen 38 dürfte geeignet sein, die sachliche wie historische Tragweite der vorgetragenen Annahmen sichtbar zu machen. Allerdings soll mit diesem Hinweis nicht angedeutet werden, daß als der eigentliche Bezugsbereich jener Annahmen über "gedankliche Radikalität und gesellschaftliche Macht" die Sphäre genuin religiöser Machtkonflikte zu gelten habe. Vielmehr erscheint die Überlegung sehr diskussionswürdig, daß jedenfalls Prozesse fortschreitender gedanklicher (ideologischer) Radikalisierung in Machtkonflikten (und die daher rührende spezifische Dynamik von Prozessen der Macht) nur in dem Maße stattfinden und Bedeutung haben können, als die Auseinandersetzungen bereits primär als "innerweltliche" und die leitenden Ideen nicht mehr als schlechthin verpflichtende und von charismatischen Führern verkündete göttliche Gebote, sondern als Leistungen menschlicher Vernunft bzw. als Instrumente menschlicher Interessen interpretiert werden 39 . Zum Abschluß sei in größter Kürze und unter Verzicht auf alle notwendigen Vermittlungsschritte noch eine Perspektive angedeutet, dergemäß die vorgetragenen Annahmen sogar auf die Abstraktionsebene einer allgemeinen soziologischen Handlungslehre verweisen. Gesellschaftliche Beziehungen im allgemeinen und Macht- und Herrschaftsbeziehungen im besonderen ziehen ihre dauerhafte intersubjektive Absicherung aus sinnhaften
der bestehenden Verhältnisse davon ab, daß eine tiefer ansetzende und/oder in sich schlüssigere (konsequentere) Form der Rechtfertigung gefunden und überzeugend vertreten wird. In diesem Sinne wäre also in den Gesellschaftsprozeß eine spezifische Dynamik der Radikalisierung eingebaut, die immer dann akut würde, wenn die konstitutive Labilität und Kontingenz sinnhafter gesellschaftlicher Ordnungen sichtbar wird. Auch in dieser speziellen Hinsicht gilt allerdings nicht die gelegentlich (im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie) von Marx formulierte These, daß sich die Menschheit nur Aufgaben stelle, die sie auch zu lösen vermöge: Einem Bedürfnis nach radikaleren, prinzipielleren oder konsequenteren Sinngebungen korrespondiert keineswegs immer die Fähigkeit, solche Sinngebungen zu entwickeln und durchzusetzen. Es könnte sein, daß die gegenwärtige Epoche sogar durch eine sehr tiefe und grundsätzliche Kluft zwischen Bedürfnis und Vermögen in dieser Hinsicht gekennzeichnet ist; dies gilt jedenfalls dann, wenn die Entzauberung der Welt als Signum dieser Gegenwart ernstgenommen wird. Die Vielzahl der in schneller Folge produzierten und untereinander konkurrierenden Radikalismen und die mannigfachen ideologischen bzw. "weltanschaulichen" Regressionserscheinungen dürfen diese These ebenso stützen wie die Alltäglichkeit eines offenen, ideologisch nur oberflächlich bedeckten Machthandelns auf der zwischenstaatlichen Ebene.
Anmerkungen
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Vgl. die entsprechenden Feststellungen für die Geschichtswissenschaft bei Peyre (1973, S.124, 130, 148): "Professionelle Historiker tendieren im allgemeinen dahin, die Bedeutung, die Ideen für geschichtliche Ereignisse haben, herunterzuspielen" (S. 130). Hier ist der Hinweis bei Peyre (a.a.O., S.136f.) wichtig, daß die vorrevolutionären Philosophen zugleich wesentliches zur Begründung eines real- und weltgeschichtlichen Bewußtseins geleistet hätten und daß die Kritik der adeligen und königlichen Herrschaftsansprüche wesentlich auf der Basis historischer (Quellen-) Forschung geschehen sei. Der "linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus (1920), in: V. I. Lenin, Werke, Bd. 31, Berlin 1959, S.l-91. Charlotte von Kalb in einem Brief an Hölderlins Mutter im Hinblick auf revolutionäre Bestrebungen an der Universität Jena; zit. bei P. Härtling, Hölderlin, Darmstadt und Neuwied 1978, S. 208. Marx (in: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte) konstatiert in der Französischen Revolution eine "aufsteigende Linie" von den Konstitutionellen über die Girondisten zu den Jakobinern und spricht hier vom Sieg der jeweils "kühneren Verbündeten" (zit. Schmitt 1976, S.69). Zu der vergleichbaren Machtdynamik in der Russ. Revolution von 1917 vgl. die Darstellung bei Geyer 1977 sowie bei Medwedew 1979, bei dem sich interessante einschlägige Feststellungen anderer Autoren, so von Berdjajew (S.14 f.) und von Trotzkij (S. 91) finden. C. Brinton (1963) schließlich glaubt, an den verschiedenen Phasen der Französ. Revolution ein verallgemeinerbares Schema der revolutionären Dynamik ablesen zu können: 1. The Rule of the Moderates, 2. The Accession of the Extremists, 3. Reigns of Terror and Virtue, 4 Thermidor. Lenin selbst nannte (in: Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution, Werke, Bd.9) die Bolscheviken die "Jakobiner der heutigen Sozialdemokratie"; vgl. auch seinen Artikel (von 1917) "Kann man die Arbeiterklasse mit dem "Jakobinerturn" schrecken?" (Werke, Bd. 25).
Dokument, das "unter vollständigem Abstrahieren von Umständen, Zeit und Ort" verfa worden sei (zit. nach der Zeitung Jedinstvo vom 9. April 1917 bei Medwedew 1979, S. 88). 8 Um diese Behauptung wenigstens zu illustrieren sei]. Goebbels (Goebbels-Reden, hrsg. vo H. Heiber, Düsseldorf 1971, Bd.1, S.119) zitiert: "Wenn man uns entgegenhält: Ihr se radikal!, - dann können wir nur zur Antwort geben: Haben wir je behauptet, daß wir nic radikal wären? ... Wenn man uns sagt: Ihr seid zu rigoros! Ihr seid zu deudich! Ihr macht keine Kompromisse, - dann können wir nur zur Antwort geben: Wir haben darüber ja in u serer Oppositionszeit auch niemals einen Zweifel gelassen. Und ich glaube, deshalb hat d deutsche Volk uns seine Gefolgschaft geliehen. Das Volk will das." Vgl. auch S. 234 (Rede a einer Sondertagung der Gau- und Kreispropagandaleiter beim 7. Reichsparteitag der NSDAP "Durchschlagend wirkt beim Volk immer nur das Extrem." Zum italienischen Faschism finden sich interessante einschlägige Hinweise z. B. bei EmilOesterreicher, Fascism and th Intellectuals: The Case of ltalian Futurism, in: Social Research 41/1974, S. 515-538. 9 Vergleichbares ist auch zum Einfluß des Marxismus auf die Russische Revolution geäuße worden. 10 So z.B. (der der Bedeutung der Ideen in der Geschichte gegenüber sehr aufgeschlossene) Peyr (1973, S. 142 f.). 11 Fouillee; zitiert bei Peyre, a. a. O. 12 Für eine differenzierte Typologie der revolutionären Führer vgl. z. B.: C. Leiden und K. M Schmitt 1973, Kapitel 5 (Dominanz verschiedener Typen von Führern in den verschiedene Phasen der Revolutionen) sowie: C. Brinton 1963, Kapitel 4 (Types of Revolutionists). 13 Die Heilige Familie; vgl. Schmitt 1976, S. 28; die entsprechende Bemerkung Webers find sich in der Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. 14 K. Mannheim, Ideology and Utopia, New York 1936, S. 142, zit. bei Coser 1965. 15 Der direkte Gegentypus dazu ist der, dessen bestimmendes Charakteristikum gerade ein pri zipiell unabschließbares Problematisieren und damit auch eine konstitutive Unfähigkeit bzw Nichtbereitschaft zum machtbezogenen Handeln ist. Eine besonders gute Typologie der "me of ideas" gibt Coser (1965), und zwar gerade im Hinblick auf typisch verschiedene Stellunge der Intellektuellen zur politischen Macht. 16 Ober die Rolle der Massenmedien (speziell der Presse) in der Französ. Revolution vgl. Heinric Cunow 1912; für die Russische Revolution: R. Pethybridge 1972. 17 "Der Adel hatte so völlig vergessen, wie allgemeine Theorien, einmal anerkannt, zwangsläuf zu politischen Leidenschaften und zu Handlungen werden, daß die Doktrinen, die seine b sonderen Rechte und sogar seine Existenz am heftigsten angriffen, ihm als äußerst geistreich Spielereien erschienen; er beteiligte sich gern selbst daran, um sich die Zeit zu vertreiben A. de Tocqueville 1967, S. 184. 18 1965, S. 145 ff. Vgl. auch die Hinweise auf die Oberrepräsentanz der Juristen in der Intell genz bei W. Markov und A. Soboul 1975, S. 24. Schmitt (1976, S. 91) verweist hier auf M.] Sydenham (The Girondins, London 1961), der die gleiche soziale Herkunft von Girondiste und Jakobinern und die Prädominanz der juristischen Berufe konstatiert. V gl. schließlich auc die allgemeinen Bemerkungen im Abschnitt über das Naturrecht in Max Webers Rechtssozi logie (Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, Köln-Berlin 1964, Bd. I, S. 643). 19 Geyer (1977, S.70) bemerkt - im Hinblick auf den Advokaten Kerenskij - , daß diese Fe tigkeiten von besonderer Bedeutung seien in einer Zeit, "in der die Geschichte theatralisc geworden war und das Pathos großer Agitatoren über Machtfragen entschied." 20 Vorlesungen über Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961, S. 59. 21 ]. Burckhardts Vorlesungen etc .... 1974, S. 215. 22 Vgl. dazu: G. Rude 1977. Rudes Arbeit wendet sich - generell - gegen die überkommen Auffassung, bei der (politischen) Masse handele es sich gemeinhin um einen ideenlosen, irrati nalen Mob, "gens sans aveu". 23 a.a.O., S.188. 24 a.a.O., S.148. 25 Lederer, 1918, S.13. 26 Geyer 1977, S. 81.
sondern an die Tugend und die Vorsehung" (M. Robespierre, zit. F. Sieburg 1975, S.300). K. Eisner wird von E. Toller (in: Dorst, Hrsg., 1972, S. 85) nicht nur als "Moralist", sondern auch als derjenige charakterisiert, der sich durch seinen "Willen zur Tat, seinen Todesmut" aus den übrigen Ministern der Räterepublik herausgehoben habe; Eisners Wahlrede vor den Unabhängigen (1919; a.a.O., S.23-44) ist im übrigen ein gutes Beispiel für radikales politisches Denken. 30 Vgl. Souvarine 1980, S. 49. 31 Vgl. Talmon 1961, S. 123 f. 32 Billaud-Varenne, einer der Thermidorianer, fand die eigentliche Ursache von Robespierres Herrschaft über die Menschen darin, "daß er die strengsten Tugenden, die unbeschränkteste Hingabe und die reinsten Grundsätze zur Schau trug" (zit. Sieburg, a. a.O., S. 106). 33 Vgl. in diesem Zusammenhang die These M. Walzers (1965), daß der "ideologische Eifer" des puritanischen Radikalismus mit einem ausgeprägten Interesse an "Disziplin und Ordnung", an "Kontrolle und Selbstkontrolle" (S. 310 f.) verbunden gewesen sei und einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der modemen bürokratischen Disziplin geleistet habe, die allerdings, einmal etabliert, auf jenen "radikalen Enthusiasmus" (S.306) vollkommen verzichten könne. Walzer verweist ausdrücklich auf die diesbezüglichen Parallelen zwischen dem Holy Commonwealth, der jakobinischen Tugendrepublik und der Herrschaft der Bolscheviki und vergleicht dabei insbesondere den disziplinären Rigorismus Cromwells und Lenins. Bereits H. Marcuse hatte in der nachrevolutionären sowjetischen Bürokratie Züge von innerweltlicher Askese entdeckt (Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Berlin/Neuwied 1964). 34 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 593. 35 Grab, a.a.O. 1973, S.ll. 36 Zu den besonderen Randbedingungen der beiden großen europäischen Revolutionen gehört auch der äußere Krieg, der in beiden Fällen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die Tendenz auf Radikalisierung im inneren Machtkonflikt entscheidend gefördert haben dürfte; zur Französ. Revolution vgl. allerdings die relativierenden Feststellungen bei Talmon (a.a.O., S.97). 37 Für die "Revolution der Heiligen" vgl. in dieser Hinsicht Walzers "Modell radikaler Politik" (a. a. 0., S. 317 ff.) im allgemeinen und seine Bemerkungen über die sozialen Träger dieser Revolution (Klerus und gebildete Laien) im besonderen (Kap. 4 und 5). Die entscheidende Bedeutung des universalen (allgemein-menschlichen) Anspruchs der Leitideen der Englischen Revolution (brotherhood of men, nicht nur brotherhood of Protestants) betont Chr. Hili 1958, S. 123 ff. 38 S. dazu Talmon, a. a. 0., S. 9. 39 Zu Webers (nicht entfalteten) Auffassungen vgl. die Bemerkungen bei W. Mommsen, Max Weber, Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt 1974, S. 112 ff. Die Erörterung der Webersehen überlegungen zur Bedeutung des Puritanismus für die Entstehung und die Wirksamkeit der "extrem rationalistischen Fanatismen" (M. Weber) der Menschenrechte schließt Mommsen mit der Feststellung: "Gerade die Unbedingtheit der Naturrechtslehre, die keinerlei Kompromisse mit den Gegebenheiten des Alltags einging, der täglich zahllose Beispiele faktische Ungleichheit vordemonstrierten, war nach Webers Ansicht das eigentliche Geheimnis ihres Erfolges" (S. 116).
Literatur Crane Brinton, Anatomy of Revolution, New York 1963. ]. Burckhardt, Vorlesungen über die Geschichte des Revolutionszeitalters. Rekonstruktion des gesprochenen Wortlautes von Ernst Ziegler, BasellStuttgart 1974. Lewis A. Coser, Men of Ideas, New York 1965. Heinrich Cunow, Die Parteien der großen französischen Revolution und ihre Presse, Berlin 1912.
Walter Grab (Hrsg.), Die Debatten um die Französische Revolution, München 1975. Manfred Hellmann (Hrsg.), Die Russische Revolution (dtv Dokumente), 2. Auflage, München 1969. Christopher Hill, Puritanism and Revolution. Studies in Interpretation of the English Revolution of the 17th Century, London 1958. John L. H. Keep, The Russian Revolution. A Study in Mass Mobilization, London 1976. Emil Lederer, Einige Gedanken zur Soziologie der Revolutionen, Leipzig 1918. C. Leiden und K. M. Schmitt, The Politics of Violence: Revolution in the Modern World, London 1973. V. I. Lenin, Der "linke Radikalismus" als Kinderkrankheit im Kommunismus, in: V. I. Lenin, Werke, Berlin, Bd. 31, Berlin 1959, S. 1-91. Karl Mannheim, Ideology and Utopia, New Vork 1936. Walter Markow und Albert Soboul, 1789. Die große Revolution der Franzosen, BerIin 1975. Roy A. Medwedew, Oktober 1917, Hamburg 1979. R. Pethybridge, The Spread of the Russian Revolution. Essays on 1917, London 1972. Henry Peyre, The Influence of Eighteenth Century Ideas on the French Revolution, in: E. Schmitt (Hrsg.) 1973, S. 124-151. George Rude, Die Volksmassen in der Geschichte. England und Frankreich 1730-1848, Frankfurt 1977. Eberhard Schmitt, Einführung in die Geschichte der Französischen Revolution, München 1976. Eberhard Schmitt (Hrsg.), Die französische Revolution. Anlässe und langfristige Ursachen, Darmstadt 1973. Friedrich Sieburg, Robespierre. Mensch - Revolutionär - Diktator, München 1975. Boris Souvarine, Stalin. Anmerkungen zur Geschichte des Bolschewismus, München 1980. Jakob L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln 1961. Alexis de Tocqueville, Das Zeitalter der Gleichheit. Auswahl aus Werken und Briefen; 2., ~ube arbeitete und erweit. Auflage, übersetzt und herausgegeben von S. Landshut, Köln/Opladen 1967. V. P. Volguine, L'Ideologie revolutionnaire en France au XVIIIe siede, in: E. Schmitt (Hrsg.) 1973, S. 203-227. Michael Walzer, The Revolution of the Saints. A Study in the Origins of Radical Politics, London 1965.
Von Werner Stark
Eine genauere Untersuchung der Geschichte des soziologischen Denkens ergibt, daß alle Klassiker, neben ihren Analysen des sozialen Handelns und der Institutionen, auch eine Soziologie des Wissens entwickelt haben. Manchmal ist diese Wissenssoziologie bewußt und offen dargeboten; manchmal ist ihr nur ein Kapitel gewidmet, das durch andere, verstreute Materialien ergänzt werden muß; manchmal ist sie sozusagen versteckt und muß dann aufgespürt und herauspräpariert werden. Eines ist aber allen drei Fällen gemeinsam, nämlich daß die wissenssoziologische Untersuchung nur der Abstützung und Ausweitung der allgemeinen Theorie, die vorgelegt wird, dient. Die Möglichkeit, sie auch zur Kritik dieser Theorie, zur Selbstkritik also, zu verwenden, bleibt ungenutzt, ja unterschwellig. Es ist kaum notwendig zu betonen, daß dies in jeder Hinsicht recht bedauerlich ist. Die Blindheit gegenüber der erwähnten Möglichkeit zeigt sich ganz klar bereits in jener Vorform der Wissenssoziologie, die als Ideologienlehre bekannt ist. Hier ist sie sicherlich nicht überraschend; denn wer die Vorurteile anderer bloßstellen will, wird sich hüten, die eigenen erkennen zu lassen. Der Spiegel ist nach außen gekehrt; man dreht ihn nicht sich selbst zu. Zwei höchst wichtige Beispiele sind Vilfredo Pareto und Karl Marx. Pareto, aus aristokratischer Familie, ein Marquis, war ein Adeliger, der zu einer Zeit lebte, die dem Adel schlecht gesinnt war. Männer wie er mußten fürchten, daß auch der Rest ihrer Privilegien, ja auch ihres Ehrenvorranges, weggeschwemmt werden würde, und sie entwickelten daraus einen Haß gegen den Wandel, der sich leicht zu einer radikalen Geschichtsleugnung erweiterte. Schritt für Schritt demaskiert er die angeblichen historischen Transformationen als Illusionen: nur die Oberfläche der Gesellschaft ändert sich oder scheint sich zu ändern, die Struktur aber bleibt. Es gibt rationale und nicht-rationale Handlungen. Die rationalen sind immer die gleichen: wer eine Last zum Markte zu tragen hat, wird in jeder Gesellschaft den kürzesten Weg nehmen. Die nicht-rationalen Handlungen scheinen sich zwar zu verändern, tun es aber nicht wirklich. Man muß sie in zwei Aspekte zerlegen: die natürlichen Strebungen, die ihnen zugrundeliegen, die "Residuen", die Quasi-Instinkte sind und, wie alles in der Natur, mit sich selbst identisch bleiben, und die wurzellosen Rechtfertigungsversuche, die Rationalisationen oder "Derivationen", die ihnen folgen. Diese unterliegen zwar der Variation, aber sie sind nur Gerede, nur Gewäsch, und brauchen kaum ernstgenommen zu werden. Diese These kommt am schärfsten in der
eine Fähigkeitspyramide verborgen liegt: wenige sind intelligent und viele dumm. Hätte nun Pareto seine Kritik der Gegner, der Sozialisten und der historizistischen Kathedersozialisten, auch gegen sich gewandt, so hätte er sehen können und müssen, daß er im Irrtum ist. Ganz abgesehen davon, daß eine Demokratisierung der Erziehung die Fähigkeiten breiter streut, ist es doch so, daß verschiedene Gesellschaften verschiedene Fähigkeiten als besonders wichtig auswählen und höher belohnen. Mit einem großen Talent für englisches Cricket oder amerikanischen Baseball wird man in Rußland oder Deutschland, geschweige denn in Feuerland, kaum zum hochbezahlten Sportstar aufrücken können. Paretos ganzer Reduktionismus, die Uminterpretation sozialer Tatsachen in natürliche, war einfach ein selbstkritikloses Nachgeben gegenüber einer ideologischen Obsession. Selbstkritik - Selbstanalyse mit dem eigenen Instrumentarium - hätte höchst ernüchternd gewirkt. In Karl Marx haben wir ein genau entsprechendes Gegenstück vor uns. Auch er lebte in einer Zeit des Wandels, aber der war in ihm, dem relativen Außenseiter, nicht unlust-, sondern lustbetont. Er schien Hoffnung auf eine Befreiung, ja Erlösung der leidenden Menschen zu bieten. Darum mußten alle Doktrinen, die den Fluß der Geschichte leugneten oder auch nur herunterspielten, als Ideologien, als Illusionen, entlarvt werden. Es ist im besonderen der geplante vierte Ba.nd des Kapital, die Materialien, die später von Karl Kautsky unter dem Titel Theorien über den Mehrwert herausgegeben wurden, die hier interessieren. Die Männer, gegen die Marx kämpft, sind vor allem Thomas Malthus und David Ricardo. Malthus hatte gelehrt, daß das Elend der Massen unüberwindbar sei, weil kraft eines Naturgesetzes die Zahl der hungrigen Münder rascher wächst und wachsen muß als die Zahl der Brote. Marx aber behauptet gegen "Parson" Malthus, daß jede Sozialordnung ihr eigenes Bevölkerungsprinzip besitzt und daß es darum ein unabdingbares Bevölkerungsgesetz nicht gibt. Ricardo hatte aus den Malthusschen Grundthesen gefolgert, daß immer unfruchtbarere Böden in Bebauung genommen werden müssen und daß darum die Grundrenten, die auf den relativ fruchtbareren Böden anfallen, immer weiter steigen müssen. Marx zeigt dagegen, daß das ganze Rentenphänomen auf dem Privateigentum beruht und nicht der Naturordnung angelastet werden darf. Wenn er nicht weiter gegangen wäre, so hätte er einfach recht gehabt und einer Selbstkritik nicht bedurft. Aber er ging wesentlich weiter. Er glaubte, voraussehen zu können, daß die Abschaffung des Privateigentums auch zu einer Envolution des Egoismus führen würde, ohne zu bedenken, daß die Selbstbevorzugung letztlich im menschlichen Organismus wurzelt und durch einen Umbau des Sozialsystems höchstens abgemildert, aber niemals beseitigt werden kann. Selbst orthodoxe Marxisten haben erkannt, daß Revolutionen nur die Formen des Wettbewerbs zwischen den Menschen ändern, nicht den Wettbewerb selbst, daß dem Kampf um die Verfügung über die Produktionsmittel historisch eine Monopolisierung der Waffen vorangegangen ist und eine Privilegierung gewisser Schichten durch Kontrolle des Staatsapparates zu folgen tendiert. Marx hätte sich doch sicher
ben. Nun, Kämpfer sind nun einmal so. Wie aber steht es um die Theoretiker, die sich als Männer der reinen Wissenschaft betrachtet haben? Männer, die zum mindesten bewußt nur die Tatsachen ermitteln und interpretieren und weder nach der einen noch nach der anderen Seite drängen wollten. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, können wir nicht umhin, typologisch vorzugehen. Es gibt in letzter Analyse nur drei Grundarten sozialwissenschaftlicher Theoriebildung (vgl. Werner Stark, The Fundamental Forms of Social Thought, London 1962 und New York 1962). Die Gesellschaft kann entweder als Einheit aufgefaßt werden, dann erscheint das Individuum als Abstraktion; oder sie kann als Vielheit aufgefaßt werden, dann erscheint das Individuum als einzige konkrete Realität; oder es kann schließlich zur Definition des gesellschaftlichen Lebens als Prozeß kommen, dann erscheint das (physische) Individuum als Ausgangspunkt und die integrierte Gesellschaft, insoferne sie de facto integriert ist, als Endpunkt. In philosophischer Terminologie: ein Universalienrealismus steht gegen einen Nominalismus (Gesellschaft ist nur ein Wort, keine Wirklichkeit) und eine dritte Lehre sucht zu vermitteln (sie ist der Anlage nach Synthese). Es braucht wohl kaum hinzugefügt zu werden, daß es sich bei diesem Schema um Idealtypen im Sinne Max Webers handelt, denen sich einzelne Systeme zwar annähern, die sie aber nie ganz erreichen. Unsere Trichotomie erinnert selbstverständlich auch an Wilbelm Diltbeys Unterscheidung von Naturalismus, objektivem und subjektivem Idealismus. Dies sei angeführt, um zu betonen, daß es sich um eine wohlfundierte und auch umfassende Typologie handelt. Warum, so muß die Wissenssoziologie fragen, entscheidet sich ein Denker, eine Schule, ein Zeitalter für eine dieser Alternativen? Die Antwort lautet im Prinzip, daß es dafür in letzter Analyse drei Gründe gibt (wobei das erneute Auftreten der Dreizahl in unserem Zusammenhang reinster Zufall ist). Wir zählen die drei Gründe in der Reihenfolge abnehmender Respektabilität auf. Der Organizismus als Einheitslehre und der Mechanizismus oder Atomismus als Vielfaltslehre kann vorgezogen werden, weil er den zeitgenössischen Tatsachen entspricht; er kann auch vorgezogen werden, weil im zeitgenössischen Leben ein starker und verbreiteter Wunsch nach mehr Einheit oder mehr Freiheit vorhanden ist; und er kann letztlich auch vorgezogen werden, weil eben eine Naturwissenschaft besonderes Prestige besitzt, an dem man teilhaben will. Im Falle des Organizismus wäre das die Biologie oder die Physiologie, im Falle des Atomismus die Physik (oder besser die Newtonsche Tradition). Freilich, wenn wir ganz strikte sein wollen, müssen wir sagen, daß weder die Einheitslehre noch die Vielheitslehre je hundertprozentig tatsachengerecht sein kann. Es gibt kein Sozialsystem, in welchem die Individualität so ausgelöscht ist wie in der Körperzelle, noch gibt es ein Sozialsystem, in dem ein wirkliches menschliches Individuum übrigbliebe, wenn man das soziale Depositum aus ihm herauszöge. Täte man dies, so hätte man einen menschenähnlichen Organismus (wahrscheinlich ohne aufrechten Gang, sicher ohne ratio-
Falle des Atomismus. Wenn wir diese Konzession nicht machen würden, gäbe es d erste Kategorie überhaupt nicht; es gibt sie aber sehr wohl. Daß es sie gibt und daß sie innerhalb gewisser, hier aufzuzeigender Grenzen ihre B rechtigung hat, sehen wir am besten, wenn wir nicht eine klassische, ausgeprägte For der Doktrin ins Auge fassen, wie etwa die des Plata oder Aristateles, sondern ein weniger bewußte Vorform - den Organizismus, der die Frühgesellschaften durchwa tet und gewissermaßen noch nicht ausgefüllt ist. In den älteren Teilen der Bibel un in den vedischen Schriften findet man zwar keine soziale Theorie, man findet ab bereits eine soziologische Begriffsbildung, und diese schlägt sich - aus Gründen, d Giambattista Vico so klar gesehen hat - in sinnhaften Bildern nieder. So bezeich net der 79. Psalm (der Vulgata; der 80. nach Luther) Israel als einen Weinstock, s spricht Paulus von einem Ölbaum (Römerbrief XI), und was in solchen Gleichnisse zum Ausdruck kommen soll, ist selbstverständlich die Überzeugung, daß eine G sellschaft eine vitale Einheit ist, denn eine Pflanze lebt und entwickelt sich und verge immer als ein Ganzes: sie ist von einem Saft erfüllt, von einer Entelechie beleb Die Metapher, die sich am Ende durchsetzte, war die des menschlichen Körpers, d vielleicht klarer war als die Rede vom Weinstock oder vom Ölbaum, die aber nich anderes bedeutet. Der "philosophische Realismus" dieser Begriffsbildung wird sofo offenbar, wenn wir an den konkreten Typ der Vergesellschaftung denken, welcher d Unterbau des halb-poetischen, halb-philosophischen Gesellschaftsdenkens war, vo dem wir eben gesprochen haben: die Sippe - die jüdische Mischpacha, der griech sche Genas, der schottische Klan und die parallelen Formationen bei anderen Vö kern. Diese Sippen sehen sich als Abstammungsgemeinschaften: die Juden sind d Kinder Abrahams, die Atriden das Geschlecht des Atreus, die MacDonaIds die Nac fahren eines ersten Donald. Es ist also ein Leben, das sich immer wieder inkarnier das Individuum ist ein neuer Schößling an einem alten Stamm, nichts mehr. Dies i freilich erst eine Vorstellung und kann als solche, als Teil des Überbaus also, die Ta sachengerechtigkeit des primären Organizismus nicht beweisen. Aber es gibt konkr te, unleugbare unterbauliche Züge, die den Beweis erbringen. Zwei seien hier genann erstens, Institutionen wie Levirat und Sororat. Diese drücken die Äquivalenz der Br der und Schwestern aus. Ein Individuum kann stets ein anderes ersetzen; es gibt als keine echte Individualität im Sinne der Einzigartigkeit. Noch eindrucksvoller ist d grimme Tatsache der Blutfehde. Das Wort Blutfehde heißt nicht etwa blutige Fehd wie oft angenommen wird, sondern Fehde des Blutes, d.h. der Blutsgemeinschafte der Sippen. Es gibt keinen Konflikt, der nur zwischen Einzelnen stattfände. Von alle Anfang an sind auf beiden Seiten die Verwandten involviert, und das in schicksa hafter Weise. Der lebendige Leben-spiegelnde und Leben-leitende Begriff ist eben da Wir, nicht das Ich und Du; und ein Wir kann durch die Einheit der Zellen im Gesam des Körpers treffend versinnbildlicht werden. Wenn wir nun die Frage erheben, ob hier bereits eine Selbstkritik wissenssoziologische Art hätte einsetzen können, so ist die Antwort offensichtlich, und sie muß bejahen
als communio totius vitae beschrieben haben; nur in ihr findet statt, was Georg Simmel Fusion oder Verschmelzung genannt hat und was er als das Maximum sozialer Integration darstellt. Sowie man von dieser Kernform nach außen schreitet, zum Stamm, zur Völkerschaft, der Menschheit, wird das Leitbild weniger überzeugend. Freilich mag auch die weitere, mehr anonyme Rahmengesellschaft noch Züge gegenseitiger Identifikation, gefühlsmäßig untermauerter Solidarität, aufweisen, aber bei jedem Schritt wird doch die Schlagkraft der organizistischen Metapher (im wahrsten Sinne des Wortes) blutleerer. Da der Klan die allgemeine Organisationsform primitiver Gesellschaften darstellt, kann es nicht Wunder nehmen, wenn die Anthropologen zum Organizismus tendieren. A. R. Radcliffe-Brown ist eine gute Illustration. Eine andere Wissenschaft aber, die, ebenso wie die Anthropologie, ihre eigenen soziologischen Grundvorstellungen besitzt, neigt ganz nach der anderen Seite - die Nationalökonomie, insbesondere in ihrer klassischen und neo-klassischen Ausprägung, bei earl Menger etwa oder bei Leon Walras. Der individualistische Ausgangspunk ist von diesen Männern mit einiger Leidenschaft verteidigt worden. Real sind nur die Einzelnen, etwa die Käufer und Verkäufer auf einem Markte. Wenn es zu einem Akt der Kooperation kommen soll, so muß zuerst ein Zweikampf der Interessen stattfinden. Der Verkäufer wird den Preis in die Höhe treiben, der Käufer ihn herabziehen wollen: Einigung wird beim Gleichgewichtspunkt zu liegen kommen. Auch hier haben wir eine Bildersprache vor uns, nur ist sie mechanistisch, nicht organologisch. Der Marktkampf ist ein "Tauziehen"; er ist wie das Auf- und Abschweben der zwei Seiten einer Waage. Ruhe tritt ein, wenn die Schalen sich auf eine Mittellinie einpendeln und der Querbalken waagrecht steht. Das Bild - die Poesie der Abstraktionen, wie Friedrieb Nietzscbe diese Argumentation durch Metaphern genannt hat - ist hier von dem des Organizismus ganz verschieden, aber eine wissenssoziologisch fundierte Selbstkritik wäre in beiden Fällen die gleiche. Auch die in der Volkswirtschaftslehre herkömmliche soziologische Begriffsbildung trifft lediglich auf einen Sektor der Wirklichkeit zu, nämlich auf den Markt. Dort freilich erscheint das Individuum als ein Verfechter eigener Interessen und die Zusammenarbeit mit anderen lediglich als das Ergebnis von Vertragsschlüssen, als etwas Sekundäres, nicht als eine primäre Tatsache, wie im anderen Lager. Je mehr man sich von der Marktsituation wegbewegt und sich auf das hinbewegt, was die persönliche oder Intimsphäre genannt werden könnte, desto weniger überzeugt der ganze Denkstil der mechanizistischen Schule. Ehepartner, die im Verhältnis zueinander oder zu ihren Kindern eine rationale Profitpolitik, sei es ökonomischer, sei es psychologischer Art, verfolgen würden, wären a-typisch; ihr Verhalten wäre absurd, die Desintegration ihrer Familie unvermeidbar. Darum kann das mechanistische Denken vielleicht auf eine Marktgesellschaft angewendet werden, wie sie der Kapitalismus zu einem gewissen Grade - aber sicher nicht total - ausgebildet hat, aber nicht auf die Gesellschaftlichkeit als Totalphänomen. Ja, die Selbstkritik müßte hier noch weiter gehen und noch tiefer graben. Denn wenn der Ausgangspunkt des Marktkampfes wirk-
Raub decken würden statt durch Kauf? Diese Garantie liegt darin, daß die Parteie auf dem Markte bereits sozialisiert sind, daß sie gelernt haben, sich im Rahmen de Legalität zu bewegen, auch wo es um den persönlichen Vorteil geht. Die Legalitä aber, das Recht, ist dem Marktprozeß vorgegeben. Es ist, wie der Organologe Aristo teles es ausgedrückt hat, vor den Individuen da. Das bleibt wahr, auch wenn man di Entstehung des Rechts als einen gegenseitigen Anpassungsprozeß interpretiert Ferdinand Tiinnies hatte ganz recht, wenn er die These aufstellte, daß in jeder Ge sellschaft, auch der individualistischsten und am lockersten gefügten, ein Element vo Gemeinschaft vorhanden sein muß, da sie sonst in einen Kampf aller gegen alle aus arten und zur Selbstauflösung hintreiben würde. Wenn man den urtümlichen Organizismus und den modernen Mechanizismus eine ganz scharfen Kritik unterwerfen wollte, so könnte man sagen, daß beide eine Dosi des Ideologischen in sich bergen. Die Formel "die Gesellschaft ist ein Organismus drückt sicherlich nicht nur eine Erkenntnis und Überzeugung aus, sondern auc einen Wunsch: das Zusammenleben und die Kooperation der Einzelnen soll so pro blemlos sein wie das Zusammenleben und die Kooperation der Zellen im gesunde Körper. Ebenso, mutatis mutandis, bei der Formel: "die Gesellschaft ist ein Gleich gewichtssystem". Auch hier steckt in einer theoretischen Tatsachenfeststellung ei Streben, der Wunsch, den Einzelinteressen die Möglichkeit zu geben, sich freier ausle ben und auswirken zu können. Solange aber dieses ideologische Element nicht über wiegt, wird man beide Theorien nicht einfach als illusionär abtun dürfen. In einem Sozialsystem, in dem die Blutrache herrscht, ist das Wir de facto stärker als das Ich un Du, besteht also de facto emotionale Identifikation und Integration, d.h. Fusion im Sinne Simmels. In einem Sozialsystem, in dem der rücksichtslose Verfolg des Priva vorteils gestattet ist, auch wenn die dabei erwachsenden sozialen Kosten die Priva interessen und ihre Gewinne weit übertreffen, ist das Ich de facto stärker als das Wi besteht also de facto ein Zustand, unter dem die menschlichen Beziehungen ledig lich Kompromisse sind und die Gesellschaft als ein Kraftfeld erscheint, in dem sic widerstrebende Tendenzen zum Stillstand kämpfen. Aber das kleine ideologisch Element kann wachsen und stärker werden als der reine Erkenntniswille. Der organi zistische Ansatz kann beibehalten werden, selbst wenn sich die Gesellschaft bereit von der maximalen Solidarität weggelebt hat. Bei Plato, zum Beispiel, finden wi Restbestände der alten Klanverfassung, ebenso wie auch im zeitgenössischen Drama Der Güterkommunismus in etwa spiegelt klar die einstmalige Souveränität des Klan wieder, das Obereigentum des Genos über Grund und Boden, der Weiberkommunis mus Institutionen wie Levirat und Sororat. Das kann man behaupten, auch wen man die Theorie des Urkommunismus nicht für richtig hält. Es handelt sich aber be Plato - und das ist entscheidend - um vergangene Werte, um einen Versuch, sie z erhalten und wiederzubeleben, und darum hätte hier eine Selbstkritik zur Selbst korrektur führen müssen. Ähnlich steht es bei St. Tbomas Aquinus. Die mittelalter liche Stadt war anfänglich nur ein großes Dorf und hatte darum entschieden noc
nen ab, z. B. die Kollektivhaftung für Einzelverbrechen u.dgl. Wir sind hier auf halbem Wege zwischen einem realistischen und einem ideologischen Organizismus. Am interessantesten sind in diesem Zusammenhang die zwei größten französischen Klassiker, Auguste Comte und Emile Durkbeim. Obwohl niemand bereit sein wird, die Verdienste dieser Denker zu schmälern und die wahren Einsichten insbesondere des letzteren zu leugnen, so wäre doch in beiden Fällen auf Wissenssoziologie beruhende Selbstkritik angezeigt gewesen. Comte lebte zu einer Zeit, in der zwei große, auf die Verwirklichung des Prinzips der Freiheit gerichtete Experimente gescheitert waren: die französische Revolution, die im Terror geendet hatte, und der Frühkapitalismus, der um 1820 die erste Wirtschaftskrise produziert hatte. Comtes ganzes System ist ein Protest gegen diese Experimente. Er hatte sicher recht, wenn er fühlte, daß eine Gesellschaft nur dann überleben kann, wenn die zentripetalen Kräfte die zentrifugalen in Schach zu halten vermögen. Aber er ging viel weiter - bis zur Behauptung, daß das Individuum nicht mehr ist als eine Abstraktion, und diese Übertreibung wäre unterblieben, wenn er sich der wissenssoziologischen Wurzeln seines eigenen Denkens bewußt gewesen wäre. Durkbeim hatte eine andere Katastrophe zu verkraften: die Niederlage seines Landes im deutsch-französischen Krieg von 1870/71, die er gerade darum besonders schmerzlich empfand, weil er Grenzfranzose war (Lothringer und Jude). Auch er hatte recht, wenn er in seinen analytischen Schriften zeigte, daß es ohne Internalisierung kollektiver Werte auf die Dauer keine soziale Integration geben kann, aber auch er ließ sich viel zu weit treiben, wenn er z. B. behauptete, daß die Kategorien von Raum und Zeit ausschließlich kollektive Vorstellungen seien, die der Einzelne von sich aus nie entwickeln könnte. Auch hier hätte eine wissenssoziologische Selbstkritik stattfinden können und sollen. Durkbeims Soziologie war hauptsächlich eine Lehre von den kollektiven Institutionen, Max Webers dagegen eine Lehre von den individuellen Handlungen, und so erhebt sich hier die Frage, ob Webers Nominalismus nicht ebenso auf außertheoretische Einflüsse zurückgeführt werden kann wie Durkbeims Universalienrealismus. Er kann es unzweifelhaft. Weber litt unter dem autoritären System, das vor 1918 in Deutschland herrschte. Sein Haß gegen das Haupt dieses Systems, Kaiser Wilhelm 11., war intensiv. Kein Wunder also, wenn er, trotz eines starken Nationalgefühls, zum Liberalismus hin tendierte. Der Einfluß der Nationalökonomen, z. B. Carl Mengers, tat ein übriges. Aber auch bei ihm, wie bei seinen Gegnern, wohnen Wahrheit und ideologische Verzerrung unter einem Dach. Er hatte jedes Recht, gegen Reifizierungstendenzen zu protestieren. Eine Gesellschaft ist nun einmal eine Vielheit und besteht aus Interaktionen Einzelner. Aber gerade der Soziologe muß sich fragen, ob der Begriff der Eigenständigkeit ohne weiteres aus der Sphäre des Physischen in die des Sozialen übertragen werden kann: unsere Denkprozesse sind nicht so höchstpersönlich wie unsere Körper. Es liegt z. B. in der Logik der Weberschen Begriffsbildung zu behaupten, daß es in den großen Ferien gar keine Universität gibt, denn eine Universität ist
versität im strikten Sinne der Wissenschaft. Das aber ist eine manifeste Übertreibung. Die Realität der Institutionen ist hier ebenso stark unterschätzt, wie sie bei Durkheim überschätzt ist. Den größten Schaden, der aus dem Wunsch Webers nach mehr Freiheit, aus seinem tiefwurzelnden Individualismus, erwuchs, nahm seine Religionssoziologie. Er definiert seinen Schlüsselbegriff "Charisma" ausschließlich individualistisch: Charisma ist eine Qualität von Individuen. Zwar zwingt ihn seine Tatsachenkenntnis, auch die Existenz kollektiver Charismas zu erkennen, z. B. des "Gentilcharisma", aber er wertet es sofort ab. Es ist lediglich abgeleitet und unecht. Wenn Weber auf der Wertfreiheit der Wissenschaft bestand, dann hätte er sich öfter fragen müssen, ob er auch selber wertfrei denke. Das tat er aber nicht. Darum stand er auch einem Teil des Tatsachenmaterials verständnislos gegenüber (vgl. Werner Stark, The Sociology of Religion, vor allem Band V, London und New York 1972). Insbesondere seine negative Haltung zum Katholizismus, den man nur richtig interpretieren kann, wenn man in wertfreier Haltung die Existenz eines kollektiven Charisma nicht a limine leugnet und es nicht aus Vorurteil heraus verdammt, war eine Quelle von Mißverständnissen und Blindheiten. Es ist alles andere als unnatürlich, wenn die Vertreter des Organizismus die Biologie besonders bewundern und die Vertreter des Mechanizismus ihrerseits die Physik. Sinnverwandtschaft muß ein Verwandtschaftsgefühl hervorrufen. Nicht wenige Soziologen - Quasi-Soziologen und echte - haben den Ehrgeiz besessen, "Newtons der sozialen Welt zu werden", oder auch "Darwins der sozialen Welt", wobei das letztere Ziel freilich weniger offen formuliert und zugegeben wurde als das erstere. Die Bewunderung der bevorzugten Naturwissenschaft kann nun so weit gehen, daß sie nachgeahmt wird: es wird versucht, ihre Erkenntnis sozusagen ins Soziologische zu übersetzen. Die Resultate streifen oftmals an die Absurdität. Zwei Beispiele sind Albert Schäffte im biologisch-organologischen Lager und Henry Charles Carey im mechanistis(;hen. Sowohl "Bau und Leben des sozialen Körpers", ein Buch, das die Wirtschaft als den sozialen Stoffwechsel definiert, als auch "The Unity of Law as exhibited in the Relations of Physical, Social, Mental and Moral Science", wo die Kultur als Erzeugnis eines Reibungsprozesses erklärt wird, zeigen Seiten, die vom Lächerlichen nicht weit entfernt sind. Wir haben aber auch imposante Leistungen, die aus dem gleichen Geiste geboren sind, vor allem Herbert Spencers "Principles of Sociology". Das Mittel- und Hauptstück dieses Werkes heißt "The Inductions of Sociology" und entwickelt auf breitester Basis die These, daß die Gesellschaft ein Organismus ist. Das Wort "ist" muß dabei in einem strikten, naturwissenschaftlich-ontologischen Sinn aufgefaßt werden. Der Unterschied zwischen Spencer und Aquinus ist scharf. Thomas Aquinus sagt nie mehr, als daß die Gesellschaft als eine Art von Organismus bezeichnet werden kann (reputatur communitas quasi unus homo; dicitur unum corpus ... per similitudinem ad corpus naturale). Spencer geht viel weiter; er behauptet, daß die Gesetze, die Gesellschaftskörper und Leib beherrschen, identisch sind. Mit eherner Konsequenz wird eine (vermeintliche) Übereinstimmung nach der an-
Ganze der Wohlfahrt des Einzelnen. Damit bricht das Kartenhaus zusammen. Man muß sich fragen, wie Spencer überhaupt dazu kam, sich so tief in den Organizismus zu stürzen, da er doch ein Schüler Cbarles Darwins war, dessen Schlüsselbegriff der "Kampf ums Dasein" war, also eine Theorie des Konflikts und nicht der Integration. Spencer selbst hat ja die noch schlagkräftigere Formel vom survival of tbe fittest geprägt. Oft wird zur Erklärung der Irrationalitäten Spencers ein philosophisches Moment angeführt: man weist auf seinen konsequenten und extremen Monismus hin, die Überzeugung, daß ein Gesetz alle Phänomene erklären müsse. Das ist an sich richtig; der Monismus macht notwendigerweise für Kontraste blind. Aber dieser Hinweis genügt nicht. Die wissenssoziologische Analyse dringt tiefer als die rein ideengeschichtliche. Spencer wurde verführt von dem Verlangen, sich auch als Soziologe das Prestige der Biologen anzueignen. Die Biologie stand damals, nach Darwins spektakulärem Durchbruch, hoch im Kurs. Worte wie Ehrgeiz und Eitelkeit wollen nicht recht aus der Feder, aber die wissenssoziologische Analyse muß unerbittlich sein und die Dinge sehen, wie sie sind. Es ist eine nüchterne Tatsache, daß Spencer, von unbewußten oder unterbewußten Strebungen gesteuert, keine tatsachengerechte Wissenschaft, sondern nur eine spezielle Anwendung seiner Lieblingsdisziplin ausarbeiten wollte. Diese Schwäche war übrigens keine nur ihm eigene Verfehlung. Was wir eben gesagt haben, gilt, natürlich mutatis mutandis, auch für Vilfredo Pareto. Wahr ist für ihn nicht, was wahr ist, sondern, was in einen mechanistisch-mathematischen Rahmen eingefügt oder hineingezwängt werden kann. Noch interessanter als Pareto ist in diesem Zusammenhang Georg Simmel mit seiner formalistischen Soziologie. Woher stammte sein Entschluß, eine Gesellschaftswissenschaft aufzubauen, die ein Inventar der gesellschaftlichen Formenwelt sein würde? Eine Erklärung, die oft angeboten wurde und die ihr eigenes Interesse und wohl auch ihren eigenen Wahrheitsgehalt hat, ist universitätspolitischer Natur. Die Soziologie fand es schwer, sich als akademisches Fach zu etablieren. Man sagte, sie habe nichts zu bieten, da das Studium der gesellschaftlichen Wirklichkeit bereits auf altbewährte Disziplinen aufgeteilt sei: das Studium der Wirtschaft gehöre der Nationalökonomie, das der Sprache der Linguistik, und so fort. Für eine zusätzliche Generalwissenschaft sei kein Platz, besonders da es ja doch auch die Ethik gäbe. Simmel antwortete in dieser Situation, daß, wenn auch alle Materien schon betreut seien, doch die Formen noch inventarisiert werden müßten, und hatte mit dieser Argumentation einen gewissen Erfolg. Ohne zu leugnen, daß universitätspolitische Schwierigkeiten dazu beigetragen haben, Simmel in die Richtung seines Formalismus zu drängen, muß man doch sagen, daß die angebotene Erklärung der Genese dieses Systems nicht hinreicht. Simmel hatte nämlich noch einen zweiten Grund, der ihn bestimmte, und dieser war positiv, nicht negativ. Wie viele andere - besonders solche, die von Mathematik und Mechanik beeindruckt waren oder sind - schätzte Simmel alle Wissenschaften gering, die im Relativismus zu stecken schienen, anders ausgedrückt, die nicht ewige Wahrheiten auf den Tisch zu legen hatten. Als Schüler Kants wußte nun Simmel, daß man
Hildebrand es ausgedrückt hätten, Universalismus und Perpetualismus. Was, wenn e gelänge, Regelmäßigkeiten über die Triade, die Dreiergruppe, zu formulieren, die eben so absolut und ewig gültig wären wie die Regelmäßigkeiten des Triangels, des Dre ecks? Dann hätte man eine der Zeitlichkeit entrissene Wissenschaft. Hier hätte nu die wissenssoziologische Selbstkritik einsetzen können und sollen. Simmel hätte gu daran getan, sich die Frage vorzulegen, ob sein Wunsch, sich das Prestige der Geo metrie anzueignen, ihn nicht in eine Sackgasse hineinmanövriere. Solche Frage legt man sich aber gewöhnlich nicht vor - es sei denn, man vertraue sich selbst de wissenssoziologischen Analyse an und mache sie zu einem Instrument der Selbs kritik. Simmel war aber ein viel zu scharfer Intellekt und ein viel zu großer Gelehrter, um ganz im Formalismus unterzugehen. Gerade er war es, der uns die ganze Spannweit sozialer Phänomene und insbesondere Prozesse bewußt gemacht hat, von der bloße "Annäherung" auf der einen Seite bis hin zur emotionalen "Verschmelzung" au der anderen. Wenn man die zwei beherrschenden Theorien der Tradition, Organizi mus und Atomismus, von dem Standpunkt aus betrachtet, den Simmel (zusamme mit Ferdinand Tönnies, Alfred Fouillee und einigen anderen) entwickelt hat, dan erscheinen sie als die Endpunkte eines Kontinuums, als die Pole, die von zwei idea typischen Modellvorstellungen bestimmt werden, vom sozialen Minimum an einem Extrem zum sozialen Maximum am anderen. Weder kann es in der Wirklichkeit ein voll atomistische Gesellschaft geben, denn eine solche fiele auseinander, noch ein voll organisch integrierte, denn eine solche würde die Individualitäten auslöschen Wohl aber zeigen die zwei Leitbilder Richtungen an, auf die sich beobachtbare Sozia systeme zu gegebenen Zeitpunkten hin bewegen - entweder zu Ordnung oder z Freiheit, entweder zu einer dichteren oder zu einer lockereren Integration. Wenn man die Dinge so darstellt, wie es eben geschehen ist, könnte man versucht sei zu sagen, die dritte oder prozessuale Soziologie sei einfach die Wahrheit und als solch dem Zugriff der Wissenssoziologie entzogen. Das ist aber nicht ganz so. Zunäch ist festzustellen, daß die Genese dieser dritten Soziologie wissenssoziologisch zu un tersuchen und zu erklären bleibt. Auch sie hat reale, erlebnisgeschichtliche Vorau setzungen. Wer ganz in einer quasi-organischen Gemeinschaft eingeschlossen ist, w der primitive Sippengenosse, oder ganz in einer quasi-mechanistischen Institution, w der moderne Börsianer, der wird das andere Ufer nicht sehen, ja nicht einmal ahnen Es mußte erst ein breiteres Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit entstehen, bevo ein Simmel oder ein Tönnies oder ein Fouillee zum Zuge kommen konnten. Vie Entwicklungen haben dazu beigetragen, die hier nicht erörtert werden können, zu Beispiel - um nur eines zu nennen - der Kolonialismus, der einer individualistische Welt überzeugende Exemplare kollektiv gebundenen Lebens vorführen konnte. Aber die Wissenssoziologie und ihre autokritischen Möglichkeiten bleiben auch aus e nem zweiten Grunde relevant. Der Soziologe, der sich mit einer konkreten Gesellscha befaßt, muß sich entscheiden, wo genau auf dem Kontinuum zwischen dem atom
solches, das die zwei Alternativen zu Polen eines Kontinuums gemacht hat, ist kaum angreifbar, denn es beruht auf einer umfassenden und nicht auf einer einseitig selektiven Beobachtung. Soviel über die substantive Soziologie, über das Grundmodell, nach dem gearbeitet werden muß. Es erhebt sich aber noch die höchst stimulierende Frage, ob nicht auch die Wissenssoziologie selbst, wie sie sich historisch entwickelt hat, der wissenssoziologischen Kritik unterworfen werden sollte - gröber ausgedrückt, ob nicht der Wissenssoziologe selbst einen Löffel seiner eigenen Medizin einnehmen sollte. An dieser Stelle darf man und muß man energische Haltrufe erwarten. Es wird plädiert werden, daß es keinen Sinn hat, sich in einen regressus in infinitum hineinzubegeben. Vielleicht wird man sich auch der Argumente Ernst Grünwalds erinnern, der gesagt hat, ein Schritt in dieser Richtung müßte zum Selbstmord der Disziplin führen. Sein Argument, das Platos Diskussion mit Protagoras im Theaetetus abgeguckt war, lautete, daß die Wissenssoziologie die Abhängigkeit allen Denkens von vorübergehenden Konstellationen behaupte und ihm damit die Möglichkeit absolut gültiger Einsichten abspreche. Da die Wissens soziologie aber selbst Denken sei, so müsse sie das Schicksal und die Sterblichkeit allen anderen Denkens teilen, und daraus ergebe sich zwangsläufig, daß sie sich gar nicht als wahr hinstellen dürfe. Dies ist freilich nur ein jeu d'esprit, das nicht allzu schwer wiegt. Es ist überhaupt nicht richtig, daß die Wissens soziologie eine andere Form der Skepsis ist. Sie leugnet keineswegs, daß allgemeingültige Einsichten möglich sind. Warum sollte sie denn das leugnen? Was sie lehrt, ist lediglich (abgesehen von der Aufzeigung ideologischer Gefahren der Verzerrung), daß die Wahrheitserkenntnis soziale Vorbedingungen hat, und wer würde das heute bezweifeln? Nein, eine Umkehr der Sonde nach innen, eine Befolgung des Evangelienwortes: Arzt, heile dich selber, darf nicht gefürchtet werden. Sie braucht es auch nicht, wie wir zeigen wollen. In der Geschichte der Wissenssoziologie im zwanzigsten Jahrhundert, in der formativen Phase, der Phase der Verselbständigung, scheinen vor allem zwei Namen auf: Max Seheler und Karl Mannheim. Sie waren durch eine tiefe Meinungsverschiedenheit getrennt, die durchaus wissenssoziologisch erklärbar ist. Max Seheler war der ältere; er war im Jahre 1874 geboren; Karl Mannheim folgte erst 1893 nach. Zwanzig Jahre sind nicht lang, und die Distanz scheint noch weiter zu schrumpfen, wenn man bedenkt, daß Sehelers Buch "Probleme einer Soziologie des Wissens" 1924 erschien, Mannheims "Ideologie und Utopie" 1929. Fünf Jahre sind nichts. Aber der Schein trügt. Die Anschauungen dieser Männer entstammen ganz anderen geschichtlichen Konstellationen; denn zwischen ihnen liegen zwei im wahrsten Sinne des Wortes epoche-machende Ereignisse: der erste Weltkrieg und die deutsche Revolution, d. h. der Zusammenbruch politischer Strukturen, die als unerschütterlich gegolten hatten. Max Sehelers "Probleme einer Soziologie des Wissens" - das Buch, das den Terminus "Wissenssoziologie" eingeführt hat - erschien zwar, wie erwähnt, erst im Jahre 1924, aber die Theorien, die ihm zugrundeliegen, waren schon vor dem Weltkrieg fertig.
dieses Werkes (in der fünften Auflage von 1966 die Seiten 509-558) bringt bereits eine ziemlich detaillierte Darstellung der Schelerschen Soziologie, die später zwar ausgebaut, aber nur wenig umgebaut wurde. Die Genese der betreffenden Gedankengänge fällt also in eine Zeit, die sich noch im Glauben an die Perennität ihrer Werte wiegen konnte. Schelers Hauptthese ist es denn auch, daß es eine ewige und unabdingbare objektive Wertordnung gibt, von deren Erkenntnis und Befolgung der Charakter menschlicher Handlungen und die Erhaltung sozialer Formen und Institutionen abhängt. Der menschliche Wille ist zwar frei; der Mensch kann in seinem Verhalten die höheren Werte anstreben oder auch die niedrigeren; im ersteren Falle handelt er ethisch, im letzteren nicht; aber was immer er tut, ja, was immer alle tun, die Werte und ihre Reihung des Vorziehens und Nachsetzens bleiben immer die gleichen. Man könnte nun versucht sein, diesem Platonismus die gleichen Vorwürfe zu machen wie Plato selbst und sogar die gleichen Vorwürfe wie dem so un-platonischen Pareto: man könnte sagen, daß Scheler einfach ein Konservativer war, der Veränderungen in der Praxis nicht mochte und sie aus diesem Grunde in der Theorie herunterspielte oder wegleugnete. Das wäre aber ganz falsch. Dem phänomenologischen Ansatz gemäß versuchte Seheler lediglich, das Zufällige, d.h. das Lokale und Momentane, "auszuklammern" und das "Wesen" der Gesellschaft zu "schauen". Zum Wesen der Gesellschaft als solchem, also zum Wesen jeder Gesellschaft, gehört es aber, daß die einenden Werte den trennenden Werten vorgezogen werden. Wenn sie es nicht werden, d.h. nicht in zureichendem Ausmaß werden, dann muß es im Gebälk krachen und der Bau einstürzen. Die materialistischen Werte trennen: was einer ißt, ist jedem anderen verweigert und entzogen. Die Werte der sozialen Wohlfahrt, der Kultur und der Religion einen: die Leistungen eines Sozialversicherungssystems, die Schönheit einer Symphonie, die Liebe Gottes können alle genießen, ohne daß die Teilnahme eines die Anteile der anderen mindern würde. Dies ist, in radikal vereinfachter Form, Sehelers Grundintention. Sie ist in keiner Weise ideologisch. Sie ist von evidenter Einsichtigkeit. Daß aber eine Sozialphilosophie dieser Art in tief erschütterten, in den Strudel einer sich rapide beschleunigenden Geschichte hineingerissenen Gesellschaften trotzdem nicht einleuchtet und trotzdem schwer akzeptabel erscheint, das gerade beweist die Gegenposition, die Karl Mannheim aufgebaut hat. Seine Lehren kommen von zwei Wurzeln her, vom deutschen Historizismus, der in Mannheims Studentenjahren noch recht lebendig war, und vom Marxismus, insbesondere jenem ungarischer Provenienz, von Georg Lukaes. Beide predigten ein radikal dynamisches Weltbild; beide glaubten, in Heines Worten, daß nichts ewig ist als der Wechsel und nichts beständiger als der Tod. Dem Absolutismus Sehelers stellte Mannheim deswegen einen ebenso konsequenten Wertrelativismus entgegen. Was in den letzten Abschnitten gesagt wurde, scheint nun bei oberflächlicher Betrachtung zu zeigen, daß die Wissenssoziologie selbst, ganz wie die Doktrinen, deren Genese sie erhellt, zeit- und ortsgebunden ist und keine höhere Wahrheit anzubieten hat. Die
und Mannheim trennt, man muß auch suchen und sehen, was sie über alles Trennende hinweg verbindet. Zwar war Mannheims Relativismus radikal, aber er war doch nicht extrem. Das beweist schon die Tatsache, daß er den Terminus für seine Person ablehnte und durch den Begriff des Relationismus ersetzt wissen wollte. Bis zu welchem Grade Mannheims Relationismus tatsächlich vom landläufigen Relativismus verschieden war, ist eine Streitfrage, die hier nicht erörtert werden kann. Groß ist der Unterschied jedenfalls nicht. Man darf aber doch sagen, daß der Relationismus ein Relativismus ist, der sich in Grenzen hält. Begriffe, oder besser Unbegriffe, wie den einer "bürgerlichen Mathematik", und Behauptungen wie die These, daß die Geschichtswissenschaft ein Subjekt ohne eigentliches Objekt sei (weil sich die geschichtlichen Tatsachen selbst dauernd ändern), hat er nicht akzeptiert. Die Übergeschichtlichkeit rein formaler Sätze und auch die der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse hat er zugestanden. Ja, mehr noch. Auch sozial wissenschaftliche Einsichten gehen nach seiner Meinung, wie man aus manchen Stellen sehen kann, nicht einfach unter; sie werden in heraufkommende Anschauungen inkorporiert. Seine Interpretation war wie die Hegels: das Neue hebt das Alte auf, aber in doppeltem Sinne: es hebt das Heutige auf, denn es setzt das Gestrige außer Kraft; aber es hebt es auch auf, weil es es im Morgigen präserviert. Insoferne als ihm der Prozeß der Ideengeschichte als ein Summierungsprozeß erscheint, ist Mannheim bei weitem nicht so scharf von Scheler geschieden, wie er zeitlebens glaubte. Scheler seinerseits hat aber ein gutes Teil des herkömmlichen Relativismus in sein System aufgenommen, und gerade die Art und Weise, wie er dieses Problem handhabt und löst, zeigt, was für ein großer Denker er wirklich war. Die objektive Wertpyramide ist zwar in sich selbst unveränderlich, ätern, aber sie zeigt nicht jeder Gesellschaft, jeder Epoche, jeder Klasse, jedem Individuum das gleiche Gesicht. Je nach den verschiedenen Standpunkten ergreift und begreift jeder nur einige Aspekte und artikuliert aus ihnen eine "herrschende" Wertordnung, die aus der Wertordnung an sich genommen ist, aber nicht mit ihr zusammenfällt. Anders ausgedrückt: es kommt im Ablauf der Zeit, im Wandel der sozialen Systeme, zu verschiedenen Selektionen, die einen Wertrelativismus vortäuschen, aber nicht involvieren, da ja die ausgewählten und gleichsam verselbständigten Werte aus einem übergeschichtlichen Bau herkommen und in objektiver Sicht auch weiter ihm inhärieren. Dies ist Schelers Theorie des Wertperspektivismus, der vom Absolutismus und Relativismus gleichweit entfernt ist, der aber die dem Historizismus einwohnende Tendenz zur theoretischen und praktischen Anarchie bannt. Wenn es aber so steht, daß jede Gesellschaft nur einen Aspekt der objektiven und perennen Wertpyramide sieht, dann sehen die ganze Wertpyramide nur alle Gesellschaften zusammen. Sie offenbart sich stückweise, und die Stücke müssen zusammengefügt werden. Auch für Scheler ist darum die geistige Entwicklung der Menschheit ein Summierungsprozeß und eine noch zu erfüllende Aufgabe, aber die These wurzelt bei ihm in einem viel tieferen und darum auch viel sichereren Fundament als bei Mannheim.
Selbstanalyse aufzeigt. In der Tradition der platonisierenden Phänomenologie, wie wi sie bei Schelers Lehrer Edmund Husserl finden, herrscht eine starke Tendenz zum Absolutismus. Die Phänomenologie dieser Richtung wäre ja auch kein Neu-Platonis mus gewesen, wenn sie nicht die Fülle des Seins im Beharrenden gesehen und den Wechsel als Minderform desselben aufgefaßt hätte. Aber Scheler hat der Realitä des Wechsels weitgehend Rechnung getragen, ohne dabei die Einsichten in das blei bende Wesen der Gesellschaftlichkeit im geringsten in Frage zu stellen. Daß es ihm gelungen ist, im Wertperspektivismus zwei Welten zu versöhnen, ist nicht zuletz auf das wissenssoziologische Element zurückzuführen, das von allem Anfang an in seiner Geistigkeit eingeschlossen war. Er war ein Mann der Synthese. Das aber sollt jeder Soziologe sein; denn seine Wissenschaft lehrt ihn, daß es zwar in verschiedenen Gesellschaften verschiedene Sozialstrukturen und Weltanschauungen gibt, daß abe das Problem der Integration, der Überwindung zentrifugaler Interessen durch zentri petale Institutionen und Ideen, das Problem der Gesellschaftlichkeit also, allen Ge sellschaften gemein ist.
Wir können die Wissenssoziologie, wie die wissenschaftliche Soziologie überhaupt, mit dem späten 19. Jahrhundert beginnen lassen. Die großen" Umwerter" Karl Marx, Friedrich Nietzsehe und Sigmund Freud gewannen zwar, vor allem ersterer, für das Gebiet große Bedeutung, standen· aber außerhalb der Fachdisziplin 1 . Für diese erscheinen dann etwa Max Weber, Vilfredo Pareto und Emile Durkheim als "Gründungsväter", denen sich etwas später Max Scheler und Karl Mannheim zugesellen. Man kann auch, was freilich seltener geschieht, bis auf Francis Bacon und seine Ido1enlehre zurückgeben, also auf das 17. Jahrhundert, und kommt dann zur Aufklärung. Bei beiden Verfahren wird der bedeutende sozialwissenschaftliche Denker und Publizist leicht vergessen, den wir hier entsprechend würdigen wollen. Nur wenige Autoren, vor allem Georges Gurvitch, haben dem oft verworrenen und widersprüchlichen, aber in vieler Hinsicht scharf- und weitsichtigen Franzosen einen gebührenden Platz in der Geschichte der Wissenssoziologie eingeräumt. Dies liegt auch daran, daß das verwirrende und bis heute leider nur in sehr mangelhaften Editionen vorliegende Werk kaum gelesen wird. Der Sozialismus, der sich damit auch selber ehrt, hat Henri de Saint-Simon in seiner Ahnengalerie einen Platz eingeräumt, was sich u.a. darin dokumentiert, daß sein Name auf einem Moskauer Obelisken eingemeißelt wurde. Aber das diesem Autor seit den Zeiten von Marx und Engels anhaftende Etikett eines "utopischen Sozialisten" wobei sowohl Substantiv als auch Adjektiv diskutierbar bleiben - deutet nicht unbedingt auf Wissenschaftlichkeit. Das Gaukelspiel vieler Saint-Simonisten tat ein übriges. Die Soziologie fühlt sich sowieso schon genügend durch zeitgenössische philosophische Schriftsteller und Dilettanten bedroht, als daß sie besondere Neigung hätte, sich solche noch zusätzlich auszugraben. Gleichwohl vertreten auch wir hier die Ansicht, daß Saint-Simon im Hinblick auf wichtige Ansätze der Wissens- und Wissenschaftssoziologie stärkere Beachtung und weiteres Studium verdient. Mit den im folgenden aufgeführten, noch rohen Komplexen wollen wir diese Ansicht begründen.
I
Saint-Simon hat die engen Interdependenzen zwischen Epochen, dem politischen Geschehen, sozialen Institutionen und Klassen auf der einen, Ideen und Kenntnissen auf der anderen Seite hervorgehoben.
Übereinstimmung zwischen dem Erkenntnissystem und der sozialen Realität behauptet. Doch wenn er auf diese Weise die Fortschritte des Wissens und der Gesellschaft miteinander identifizierte, so behauptete er dabei, wie z. B. Gurvitch bereits 1958 hervorgehoben hat 2 , "den Primat des Fortschritts des Wissens vor dem sozialen Fortschritt". Saint-Simon hat sich mehrfach mit Condorcet auseinandergesetzt 3 und eine größere Publikation über seinen Landsmann geplant, die niemals zustandekam. In den uns noch vorliegenden Bruchstücken nennt er die zitierte Schrift Condorcets "eines der schönsten Produkte des menschlichen Geistes", doch sei sie "fehlerhaft in allen Details", und er meinte, "sein Vorhaben war erhaben, die Ausführung nichts wert,,4. Dabei geht es ihm aber nicht um die Details, welche nie die Stärke des großen Dilettanten waren, sondern um das Grundsätzliche: Die Konzeption Condorcets ist ihm zu intellektualistisch, der einfach akkumulative Fortschritt des Wissens als letzter Beweggrund der Entwicklung des Menschengeschlechts erscheint ihm als eine zu flache Konzeption. Diesbezüglich vorsichtiger und realistischer als Condorcet wollte unser Autor seinerseits lediglich Parallelen und funktionale Zusammenhänge feststellen: "In allen Zeiten und bei allen Völkern findet man eine stetige Übereinstimmung zwi schen den sozialen Einrichtungen und den Ideen s ." Oder er meinte: "Toute institution fondee sur une opinion ne doit pas durer plus longtemps qu 'elle 6 ." Die Produktion materieller Güter und verschiedener Arten des Wissens durchdringen sich seiner Auffassung nach wechselseitig, sie treiben sich gegenseitig an, ohne daß er a limine einen Primat behauptete. Freilich ergibt die Analyse des Gesamtwerks dann doch nicht nur Interdependenzen, sondern eine stärkere Betonung der geistigen Produktionsfaktoren. Der Fortschrittsprozeß durchläuft dabei "Krisen", eine Konzeption, die den marxistischen Saint-Simon-Experten Jean Dautry zu der Bemerkung veranlaßt, mit diesem "fruchtbaren Gedanken" sei unser Denker "zu einer idealisti schen Dialektik gelangt"? Dieses Urteil bezieht sich eben auf die Konzeption, daß Perioden "organischer" Ideen mit solchen der "Krise" abwechseln, wobei sich jeweils in deren Schoße die neue Epoche vorbereitet. Demgegenüber hat Georges Gurvitch eine "absence de toute approche dialectique" im Werk von Saint-Simon festgestellt 8 Wir lassen diese wohl überspitzte Kontroverse hier auf sich beruhen. Feststeht, daß nach Ansicht Saint-Simons "les societes so nt soumises a deux forces morales qui sont d'une egale intensite et qui agissent alternativement: l'une est la force de l'habitude, l'autre est celle qui resulte du desir d'eprouver du nouveau,,9. Dieser Aussage kann man sich freilich nicht beliebig bedienen, sondern: "au bou d'un certain temps les habitudes deviennent necessairement mauvaises parce qu'elles ont ete contractees d'apres un etat de choses, qui ne correspond plus au besoin de la societe. C'est alors que le besoin de choses neuves se fait sentir lO ." Hier konnte marxistisches Denken anknüpfen. Wenn Dautry feststellte, Saint-Simon sei zu einer "idealistischen Dialektik" gelangt so war dieses Urteil positiv und negativ. Positiv beurteilte Dautry das dialektische
so kommt es ihm ohne Unterscheidung der ja nur höchst artifiziell trennbaren geistigen und materiellen Faktoren der industriellen Produktion nur auf diese selbst an, und der Terminus "production des idees" ist für ihn bezeichnend. Und Georges Gurvitch hatte vollkommen recht, wenn er einmal "l'affirmation de l'impossibilite de separer le materiel et le spirituel lorsqu'on etudie la societe"12 als eine der drei soziologischen Hauptleistungen Saint-Simons herausstellte. Doch nun zu der "Klassen"-Konzeption Saint-Simons, die zu seinen frühesten Überlegungen zu zählen ist. Sie findet sich bereits in seinem ersten Buch, den "Lettres d'un Habitant de Geneve a ses Contemporains"13. Friedrich Engels hat die betr. Ausführungen, die den Klassenkonflikt zwischen Besitzenden und Besitzlosen apostrophierten, in seinem "Antidüring" als "eine höchst geniale Entdeckung"14 verherrlicht. Sehr deutlich sind die von Engels bewunderten Äußerungen freilich nicht, zumal die Zuspitzung des Konfliktgedankens, wie sie später der Marxismus vornehmen wird, Saint-Simon nicht lag 15 . In den "Genfer Briefen" wendet er sich mit jeweils verschiedenen Reden an drei "Klassen", die er sowohl nach ihrer Einstellung, ihrem Bewußtsein als auch nach ihrem Besitz unterscheidet. Es sind dies die "Klassen" oder "Fraktionen" derjenigen, welche sich "unter dem Banner des Fortschritts" sammeln (Wissenschaftler, Künstler, Liberale werden hier besonders genannt), ferner die nicht zur ersten Klasse gehörenden Besitzenden, deren Parole lautet: "Keine Innovation", und schließlich die - minderbemittelten - Anhänger der "Egalität"16. Auch an mehreren Stellen seines späteren Werkes legt er Wert auf die Herausarbeitung des "Bewußtseins", der spezifischen "idees communes", nicht nur von Ständen wie dem Klerus, sondern auch von "Klassen" in bestimmten Interessenlagen. Er hat auch schon ein weiteres Lehrstück des Marxismus vorgezeichnet, wenn er meinte, der Übergang zu einer neuen Sozialstruktur könne erst erfolgen, wenn die aufsteigende Klasse sich der Gemeinsamkeit ihrer Sache bewußt würde 1? Es kann daher Pierre Ansart durchaus zugestimmt werden, wenn er schrieb: "SaintSimon formule ainsi les principes d'une sociologie de la connaissance appliquee aux differenciations de classe 18 ." Und die Herrschenden herrschen dabei aufgrund größeren Wissens, was Saint-Simon völlig legitim fand und was er auch den Besitzlosen klarzumachen versuchte. Als "die beiden großen Herrschaftsmittel" nannte er übrigens "la consideration et l'argent", wobei zumindest erstere die Wissenssoziologie angeht.
II
Saint-Simon betonte den wissenschaftlichen Fortschritt und erklärte ihn für unaufhaltsam; doch hat er ihn nicht mit dem Fortschritt der Menschheit schlechthin gleichgesetzt. Wir sahen bereits, daß sich wesentliche Gedanken Saint-Simons an denen seines Landsmanns Condorcet entwickelt haben. Sehr deutlich wurzelt er in der französi-
sah, wie sich der Mensch von Fesseln befreite, die ihm Feudalherrschaft, Absolutismus und Klerus auferlegt hatten, woraufhin seiner Höher- und Weiterentwicklung auf allen Gebieten offenbar nichts mehr im Wege stand. Auch Saint-Simon hat man allzu einfach in den Rahmen einer solchen Fortschrittsideologie gestellt, die dann in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts zum Gemeingut der bürgerlichen Gesellschaft wurde. Dazu hat nicht zuletzt sein wohl berühmtester Satz beigetragen: "Das goldene Zeitalter des Menschengeschlechts liegt keineswegs hinter uns, es liegt vor uns"20, wobei er fortfuhr - was leider selten mitzitiert wird - , "es liegt in der Vervollkommnung der menschlichen Ordnung". Diese soziale oder Gesellschaftsordnung muß, wie wir sahen, mit dem Wissensstand, mit dem Voranschreiten des menschlichen Geistes, mit dem "marehe de l'esprit humain", übereinstimmen. Die alte soziale Ordnung ist deshalb gestürzt worden, weil sie dazu nicht mehr in der Lage war. Nun war Saint-Simon manchmal - was nicht zu dem hehren Bild paßt, das seine Jünger von ihm entwarfen - ein gewiefter Taktiker, wenn er auch niemals soweit ging, mit einem "sacrificium intellectus" seine grundsätzlichen Überzeugungen zu verraten. Als Taktiker wußte er sicher den instrumentalen Wert einer quasi-religiösen Heilsgewißheit einzuschätzen, der Zynismus des "grandseigneur sans-culotte,,21 dürfte nicht ganz geschwunden sein. Niemand vermag also zu wissen, wie ernst sein Zitat vom "goldenen" Zeitalter zu nehmen ist, das man heute so leicht ironisieren kann. Saint-Simon glaubte allerdings fest an den wissenschaftlichen Fortschritt, den er der Geschichte entnahm und der bereits Turgot zu einer Art von "Drei-Stadien-Gesetz" geführt hatte, wenn auch eben nur für diese wissenschaftliche Evolution. Schon vorher hatte u. a. Giambattista Vico die Triade für den historischen Prozeß angewandt, die Dreizahl hat eben religiös-magische Weihen. Wichtig wird nun aber, daß das DreiStadien-Schema bei Saint-Simon, obwohl er auch andere benutzte, zum Grundschema des gesamten Kulturverlaufs wird, daß auf das "theologische" Stadium (wiederum dreigeteilt in Fetischismus, Polytheismus und Monotheismus> das "negative" und dann das "positive" Stadium folgen. Saint-Simon hat jedenfalls vor Auguste Comte die Kontinuität der Entwicklung in dieser Weise als Ausdruck einer immanenten Notwendigkeit dargestellt. Die Analyse der Geschichte, so unvollkommen er sie vorgenommen haben mochte, bildete jedenfalls die Basis seines Reformdenkens. Diese Geschichtsanalyse bewahrte ihn im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen und manchen Autoren der "Enzyklopädie" davor, die Vergangenheit pauschal abzuwerten. Es kommt ihm vielmehr lediglich darauf an, ob eine Gesellschaft in einer bestimmten Epoche "stimmig" war oder nicht, d.h. ob ihre Sozialstruktur, ihr hierarchischer Aufhau und Autoritätsgefüge ihren jeweiligen Aufgaben und Produktionsweisen sowie - was an Montesquieu erinnert - den jeweiligen "idees dominantes" entsprachen. Saint-Simon sah dagegen sehr wohl, daß die me~schlichen Fähigkeiten in verschiedenen Epochen unterschiedlich ausgebildet waren und daß es Höchstleistungen auf verschiedenen Gebieten gab, die wir nicht mehr erreichen. Ebensowenig wie er der Verherrlichung eines romantischen
chen Fortschritt des menschlichen Geistes, woraus zu schließen wäre, daß der Mensch sich ins Unendliche perfektioniere. "Wenn diese Meinung ganz richtig wäre, hätte der menschliche Geist neue Fähigkeiten entwickelt, ohne an früheren einzubüßen. Die Geschichte beweist aber das Gegenteil: Die Ilias ist die älteste Dichtung, welche wir besitzen, und doch die beste, welche wir kennen; der Apollo von Belvedere ist die schönste Statue, die es gibt, etc. In vieler Hinsicht kann sich die gegenwärtige Generation nicht mit denjenigen messen, welche ihr vorangegangen sind, während sie ihnen in anderer Beziehung unendlich überlegen ist 22 ... Dies war nicht nur zur Zeit Saint-Simons, sondern noch bis zum 1. Weltkrieg eine beachtliche Feststellung, während sie uns heute, trotz mancher moderner Verfechter der unbeschränkten Perfektibilität des Menschen, fast als Plattitüde erscheint. Sie entlastet jedenfalls unseren Autor deutlich von dem Vorwurf, ein undifferenzierter Fortschrittsgläubiger gewesen zu sein, zumindest das Epitheton muß fallen. Und der Fortschritt geht auch nicht unbegrenzt weiter: "Nos enfants croiront avoir de l'imagination; ils n'auront que des reminiscences ..23 , meinte er einmal fast kulturpessimistisch.
III
Saint-Simon hat die Einheit der Wissenschaften und die grundsätzliche Gleichheit naturwissenschaftlicher und gesellschaftswissenschaftlicher Forschung betont. Die Einheit der Wissenschaften und die Fragen nach ihrer Methodologie sind Schwerpunkte der Arbeiten Saint-Simons, auf die er immer wieder zurückkommen wird. Richtig stellte Frank E. Manuel fest: "The idea of integral cooperation among scientists of the highest echelons remained one of Saint-Simons idees maitresses 24 ... Im Mittelpunkt seines Interesses stehen die betreffenden Fragen jedoch nur in d.er ersten Periode seines publizistischen Schaffens, von den im Jahre 1802 erschienenen "Genfer Briefen" angefangen bis zur Restauration der Bourbon-Dynastie. Wieder müssen wir auf seine "Introduction aux travaux scientifiques du XIXeme siecle" zurückgreifen, die seinen berühmten "arbre encyclopedique" enthält, der zwar die verschiedensten Äste und Verzweigungen aufweist, jedoch immer den dicken Hauptstamm der "Science Generale" behält. Ebenso ist aber auf seine verschiedenen Entwürfe für eine "Neue Enzyklopädie" zu rekurrieren, die ins Jahr 1810 fallen, sowie auf seinen "Memoire sur la science de l'homme" von 1813, welcher dieses Stadium gewissermaßen abschließt. Worum geht es ihm dabei? Saint-Simon ist grundsätzlich Empiriker. Die Empirie muß die Basis sämtlicher Wissenschaften sein. Francis Bacon 25 und vor allem Isaak Newton 26 zollt er dabei den gebührenden Respekt. Der Gedanke der Einheit der Natur, ein Grundgedanke der Aufklärung, beherrschte auch Saint-Simon. Die Naturgesetzlichkeit, die er freilich - worin wir ihm nicht mehr folgen können - im Sinne einer prästabilisierten Harmonie versteht, welche die Menschheit nur von den störenden Elementen zu befreien habe,
glaubte, entspricht altem monistischem Streben. Sogar ein so angesehener Soziologe wie L. v. Wiese wird in ähnlicher Weise noch in unserem Jahrhundert behaupten, "alle" sozialen Prozesse ließen sich auf zwei "Grundprozesse" zurückführen, nämlich "die des Zueinander und des Auseinander"27. Wer von der Einheit der gesamten Natur ausgeht, zu welcher nicht nur der Mensch, sondern auch alles Gesellschaftliche gehört, für den kann es auch nur eine Wissenschaft geben. Und für die verschiedenen Wissenschaftsgebiete gilt nach Saint-Simon: "Ainsi la methode qu'on applique a quelques-unes d'elles doit leur convenir atoutes, par cela seul qu'elle convient a quelques-unes d'elles 28 ." Auch versucht er den "Nachweis einer strengen Determination der wissenschaftlichen Entwicklung, derzufolge immer weitere Wissenschaften aus dem unfertigen Zustand hypothetischen Konstruierens in das sichere Gebiet exakter Einzelforschung übergeführt werden,,29. Man mag dies alles heute trivial finden. Aber wer sich daran erinnert, wieviel Zeit und Mühe bester Köpfe darauf verwandt worden ist, die in der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, bei Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert vorgenommene Unterscheidung zwischen "Natur"- und "Kultur"- bzw. "Geisteswissenschaften" zu erhärten, der kann darin gegenüber dem Dilettanten Saint-Simon keinen Fortschritt sehen. Gerade die Soziologie hat unter solchen krampfhaften Unterscheidungsversuchen zu leiden gehabt, was sich bis in die "Verstehens"-Problematik bei Wilhelm Dilthey und Max Weber hin auswirkte und in der artifiziellen Unterscheidung zwischen "Kultur" und "Zivilisation" etwa bei Thomas Mann und Oswald Spengler seltsame Blüten trieb. Alle im Grund gleichartigen Wissenschaften und ihre Ergebnisse sollen nun in einer "Neuen Enzyklopädie" ihren Niederschlag finden, für die Saint-Simon in verschiedenen Prospekten Reklame macht. Dieses Werk soll zwar in der Tradition der großen Enzyklopädie der Aufklärung stehen, aber doch über diese hinausführen. Warum aber ist eine neue Enzyklopädie nötig? Saint-Simon gibt hierfür im wesentlichen drei Begründungen. Erstens: Der klassischen Enzyklopädie fehlt die innere Einheit, eine neue müsse "nach einem einheitlichen Prinzip ausgerichtet sein, ein Gedanke, den Hegel erst wesentlich später (1817) realisierte, ebenso wie Comte in seinem "Cours de Philosophie positive" ab 1830,,30. Die in der alten Enzyklopädie vorgenommene Einteilung der Wissenschaften ("science de memoire", "science de raison" und "science d' imagination") entspräche nicht mehr dem Stand der Forschung, womit er zweifellos recht hatte. Zweitens: Die alte Enzyklopädie enthält noch zuviel Metaphysik, die es abzustreifen gilt: "Le principe d'apres lequel on doit fonder l'encydopedie du XIXeme siede est celui que la science, dans son ensemble comme dans ces parties doit etre basee surl'observation 31 ." Und wir wollen hier nicht die ärgerliche Tatsache unterschlagen, daß Saint-Simon unter "Metaphysik" nicht nur Gedankengut des "Ancien Regime" faßt und eliminieren möchte, sondern auch manches, was auch heute noch für uns ein hohes Gut ist und bleiben muß. Das krasseste Beispiel sind die "Menschenrechte": "La theorie
zwar das große Verdienst, daß sie zahlreiche Vorurteile und Schranken für das Erkennen und Wissen zerstörte, Die "Neue Enzyklopädie" muß nun aber auf der "tabula rasa' in positiver Weise aufbauen: "L'Ouvrage, dirige par d'Alembert et Diderot, n'a que tres incompletement organise la doctrine positive, mais il a completement aneanti la doctrine superstitieuse", meinte er reichlich optimistisch 33 , Nun soll die neue Enzyklopädie aber auch "respect et attachement pour les nouvelles institutions"J4 vermitteln. Die bekannte, gegenwärtig u.a. von Friedrich Tenbruck 35 untersuchte Problematik, wie Legitimität ohne Anleihen bei der Metaphysik herzustellen sei, war freilich auch Saint-Simon bewußt, z. B. wenn er offen und echt voltairianisch schrieb: "Je crois ala necessite d'une religion pour le maintien de l'ordre social 36 ."
IV
Saint-Simon hat das Postulat erhoben, daß in der industriellen Gesellschaft Wissen praktisch verwertbar sein und dem Volke vermittelt werden müsse. In der Steigerung der Produktion auf allen Gebieten, in der Maximierung des materiellen und gesellschaftlichen Nutzens sieht unser Klassiker die primären Ziele der Gesellschaft, wozu im Spätwerk primär die Verbesserung der Lage der "zahlreichsten und ärmsten Klasse" gehört. Dieser Teleologie muß sich alles unterordnen, auch die Wissenschaft. In einer jüngst erschienenen gründlichen Studie hat Thomas Petermann treffend zusammengefaßt: "Mit der Verpflichtung der Wissenschaft auf Nützlichkeit übernimmt Saint-Simon sowohl die Auffassung seines "Lehrers" d'Alembert als auch die Programmatik Bacons, um sie für seine Zeit nutzbar zu machen ... Als nützlich erkennt er diejenige Wissenschaft, die zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beiträgt3? " Hier sind wir also wieder bei der von uns schon oben zitierten Fortsetzung des berühmten Aphorismus vom "goldenen Zeitalter", welches eben in der "Vervollkommnung der menschlichen' Ordnung" begründet liegt. Wir lassen die Frage beiseite, ob wirklich, wie Petermann meint, "alle Philosophie, alles Reflektieren über das Gegebene ... bei ihm seinen Sinn nur (habe), insofern es in eine Kritik der Wirklichkeit einmündet,,38, denn hier wird vielleicht Saint-Simon doch etwas angereichert. Folgen wir stattdessen lieber unserem Klassiker selber, der einfacher, wenn auch nicht immer widerspruchsfrei denkt. Ein Grunddogma lautet: "L'obligation est im po see a chacun de donner constamment a ses forces personnelles une direction utile a l'humanite 39 ." Davon darf sich natürlich der Wissenschaftler nicht ausschließen, auch er muß "produktiv" und "nützlich" sein. "Un savant ... est un homme qui prevoit; c'est par la raison que la science donne le moyen de predire qu'elle est utile 40 , ' Diese bereits in den "Genfer Briefen" von 1802 enthaltene Passage zeigt, daß Saint-Simon vor Au/{uste Comte das Prinzip des "savoir pour prevoir" vertreten hat.
im Gange. "Überall, wo es direkt oder indirekt mit Wissenschaftlern in Beziehung sein konnte, verlor es die Gewohnheit, die Priester zu konsultieren, und gewöhnte sich stattdessen daran, mit denjenigen in Kontakt zu treten, welche positive Kenntnisse besaßen. Zweifellos ist dieser Kontakt noch weit davon entfernt, so eng zu sein, wie er sein könnte und sollte. Dies liegt freilich im wesentlichen nicht am mangelnden Interesse des Volkes, sich zu instruieren, sondern an den geringen Möglichkeiten, die es dazu besitzt, und an der geringen Mühe, die man aufwendet, es Kenntnisse erwerben zu lassen, die ihm nützlich sein könnten 41 ." Dabei vollziehen sich die Prozesse in einem "two step flow of communication", um es in moderner Terminologie auszudrücken: "Die meinungsbildenden Schichten werden aufgeklärt. Sind sie zur Einsicht gelangt, tragen sie die Erkenntnis weiter und verhelfen so dem neuen System zum Durchbruch", faßt Ralf Peter Fehlbaum richtig zusammen42 . Die Probleme einer technischen Bildung für breitere Volkskreise hat Saint-Simon übrigens 1816 in einer Rede vor der Generalversammlung der "Societe d'instruction primaire"43 speziell behandelt, vor einer Gesellschaft also, die sich die Förderung der Grundschulausbildung angelegen sein ließ. Die Rede ist auch in geringer Auflage als Broschüre gedruckt worden 44 • Er meinte darin, es sei verkehrt, bei Reformprogrammen für das Bildungswesen nur die sicher dringliche Unterweisung der Kinder armer Leute im Auge zu haben. Ebenso wichtig sei es, an die bessere Unterweisung der Kinder bürgerlicher Schichten zu denken. Dadurch könnten nicht nur weitere finanzielle Mittel erschlossen werden, sondern es sei notwendig, auch den Kindern dieser höheren Schichten die Vorteile einer modernen Erziehung zu vermitteln, um sie in die Lage zu versetzen, die entscheidenden Gesichtspunkte einer Reorganisation der Gesellschaft zu erkennen. Festzuhalten ist ferner, daß er in diesem Zusammenhang auch ein früher Befürworter der Einrichtung von "Berufsschulen" gewesen ist 45 . An anderer Stelle46 schlägt er einige Jahre später vor, daß die "Acadernie Fran'Yaise" einen "Nationalkatechismus" entwerfen solle, der im Elementarunterricht zu verwenden sei. Es geht ihm hier um "staatsbürgerliche Erziehung": In einem solchen Katechismus müßten umfassende Informationen über die Grundgesetze enthalten sein, welche die materielle Welt regieren, sowie über die Prinzipien, welche der sozialen Organisation zugrundeliegen. Ein solcher Katechismus sei allen französischen Kindern gleichermaßen zu vermitteln: "Das stärkste Band, welches die Mitglieder einer Gesellschaft verbindet, liegt in der Gleichheit ihrer Prinzipien und Kenntnisse, und dies wiederum kann nur das Resultat eines einheitlichen Unterrichts für alle Staatsbürger seiri 47 ." Kein Franzose, so meinte er, dürfe in den Besitz der Bürgerrechte gelangen, ohne durch eine Prüfung die entsprechenden Kenntnisse nachgewiesen zu haben. Von dem Bildungsstand macht er also auch die Mitbestimmung abhängig und findet 1821 scharfe Worte über ein angebliches "Naturrecht" dieser Art: "Le droit de s'occuper des affaires publiques sans condition determinee de capacite ... est la preuve la plus complete et la plus palpable du vague et de l'incertitude Oll sont encore plongees les idees politiques 48 ."
schaft angestellt. Es bestehen keine Meinungsverschiedenheiten darüber, daß Saint-Simon unter anderem auch ein "Elite-Theoretiker" war. Er gab sich keiner Illusion darüber hin, daß auch in der Zukunft die Qualifikationen der Menschen nicht gleichmäßig verteilt sein würden, selbst wenn eine allen zugedachte gleiche Erziehung einen gewissen Ausgleich bringen kann. Denn "die Straße der Zivilisation ist eng. Alle können nicht an der Spitze laufen, sie folgen sich in Reihen. Es gibt immer erste und letzte 49 ." Dabei sollte die Leistung entscheiden, also eine "Meritokratie" entstehen. Frank E. Manuel hebt zusammenfassend richtig "Saint-Simon's emphasis upon human uniqueness, diversity, dissimilarity, culminating in a theory of inequality" hervor so . Es sei auch nicht verschwiegen, daß er sich einmal soweit verstiegen hatte zu schreiben: "Ce qu'il y a eu de plus grand de fait, de plus grand de dit, a ete dit par des gentilshommes", wofür er als Beispiele Kopernikus, Galilei, Bacon, Descartes, Napoleon und Leibnitz nannte und sich selbst als putativen Nachkommen Karls des Großen selbstverständlich mit einschloß 51. Und man weiß auch, daß er ein anderes Mal so weit ging, den Negern die intellektuelle Gleichheit mit den Weißen abzusprechen, wobei kulturelle und genetische Faktoren nicht unterschieden wurden. Lassen wir solche Verirrungen beiseite, so wird man in seiner grundsätzlichen Auffassung von der Perseveranz der Ungleichheit je nach Standort entweder die Feststellung eines Realisten sehen oder ein konservatives Residuum im Denken eines ansonsten fortschrittlichen Mannes. Seinen Realitätssinn zeigt er jedenfalls auch deutlich, wenn er mannigfach der Ansicht Ausdruck verleiht, daß sich nur diejenigen Eliten halten können, welche "gesellschaftlich nützlich" sind und welche dem jeweiligen Gesellschaftssystem, also dessen spezifischen Aufgaben und Werten, entsprechen. Seine Auffassung, daß "jede Institution ihre spezifische Dauer"s2 habe, die von ihrer Funktionalität in einer sozialen Totalität abhänge, kann der heutige Leser mit der berühmten Formulierung Vilfredo Paretos in Beziehung setzen, daß die Geschichte ein "Friedhof der Eliten" sei. Nun aber zur Rolle der Intelligenz in Saint-Simons Werk. Wenn es richtig ist, daß "la loi superieure des progres de l'esprit humain entraine et domine tout"s3, wenn der intellektuelle Fortschritt bei ihm schließlich doch zum beherrschenden Antrieb der Entwicklung wird, so folgt daraus, daß die Vertreter des Geisteslebens einen hohen Rang haben, sofern sie diese Entwicklung tragen. Man kann so gelegentlich lesen, daß Saint-Simon, etwa im Sinne der Utopie Platos, eine von Gelehrten geführte Gesellschaft befürwortet habe. Mit einer solchen vereinfachten und pauschalen Feststellung wird man dem Denken Saint-Simons aber nicht gerecht. Zunächst muß man festhalten, was schon Thomas Petermann jüngst herausgearbeitet hat 54 , daß Saint-Simon zu verschiedenen Zeiten die Rolle der Wissenschaftler verschieden sah und daß ihre entscheidende Rolle sich in seinen späteren Arbeiten abschwächte. Ließ er sie in frühen Schriften, z. B. in den "Genfer Briefen", sehr hoch
wortet er später die Trennung von wissenschaftlichen und politisch-exekutiven Funktionen, die Wissenschaftler werden dann eher zu Zuarbeitern der auch politisch führenden Industriellen. Und im "Systeme Industriei" warnt er einige Jahre vor seinem Tode schon ausdrücklich vor einer Gelehrtenherrschaft: "Si, malheureusement pour nous, il s'etablissait un ordre de choses dans lequel l'administration des affaires temporelles se trouvat placee dans les mains des savants, on verrait bientot le corps scientifique se corrompre et s'approprier les vices du clerge; il deviendrait metaphysicien, astucieux et despote s7 . " Jedoch bleiben die Wissenschaftler die "avantgarde" bei der Lösung der Probleme ihrer Zeit und vermitteln als Reforminstanz den Fortschritt der Gesamtgesellschaft, welchen die Industriellen dann in die Praxis umsetzen. Hier treffen wir auf Vorstellungen von der Intelligenz als kritischer und progressiver Instanz, wie sie später im Selbstverständnis der Soziologie eine wichtige Rolle spielen werden und auch in Konzeptionen von Alfred Weber und Karl Mannheim über eine angeblich "sozial freischwebende Intelligenz" eingeflossen sind. Bei Saint-Simon bleibt die Intelligenzia freilich gesellschaftlich eingebunden, hier ist er realistischer als manche seiner Nachfahren. Ihr fällt dabei eine Art von "klerikaler" Funktion zu, was Saint-Simon 1813 in seinem "Memoire sur la science de l'homme' folgendermaßen ausdrückte: "La reorganisation du clerge ne peut pas etre autre chose que la reorganisation du corps scientifique, car le clerge doit etre le corps scientifiques8 ." Man mag hier an moderne "Politbüros" denken, an politische Führungsoffiziere, die entsprechende Funktionen ausüben, oder - wo es sich um noch nicht herrschende, aber zur Herrschaft drängende Gegeneliten handelt - an den bissigen, aber letztlich nicht treffenden Buchtitel des Werkes von Helmut Schelsky "Die Arbeit tun die andern"s9. Sicher ist Saint-Simons Feststellung richtig, daß "tant que les savants, les lettres, les artist es ne seront pas satisfaits de leur existence dans l'ordre social, ils seront disposes a se mettre a la tete du parti insurrectionnel qui voudra le changer 60 ." Einen entsprechenden Gedanken hat Crane Brinton in seiner Revolutionssoziologie dort ausgedrückt, wo er von dem "Abfall der Intellektuellen" als einem Kriterium vorrevolutionärer Zeiten spricht 61 ; Saint-Simon hätte gesagt, von Zeitaltern der "Krisen". Festzuhalten ist auch, und das letzte Zitat zeigte es uns bereits, daß die Künstler bei Saint-Simon einen hohen funktionalen Rang einnehmen und daß er ihre gesellschaftliche und politische Bedeutung klar erkennt. Vor und während der Revolutionszeit hatte er sich davon leicht überzeugen können und hält dies in einer zynischen Bemerkung fest, die er über die Idee der Gleichheit macht: "L'idee d'egalite (idee fausse, quand elle est prise dans un sens absolu) est le grand levier revolutionnaire; c'est la banniere laquelle les savants et les artistes (Hervorhebung von mir) rallient les ignorants, quand ils veulent les faire entrer en insurrection 62." Freilich werden sie dann in seinen Gesellschaftsentwürfen mediatisiert. Da "il n'y a pas de societe sans idees communes, sans idees generales: chacun aime sentir le lien que l'attache aux autres, et qui sert de garantie a l'union reciproque"63, so muß dies ständig verdeut-
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politisch-weltanschaulichen Symbolik, deren Vernachlässigung der sinnesfrohe Mann, der noch den vorrevolutionären Pomp erlebt hatte, übrigens auch am Protestantismus rügte. Als Deutsche können wir an die farblosen Regierungen der Weimarer Republik und an die unheilvolle Wirkung der Theaterrequisiten des Nationalsozialismus denken. Drei Kategorien der Intelligenzia fallen Saint-Simons Verachtung anheim: Die konservativen Kleriker, die "Legisten" und die "Metaphysiker". Der konventionelle Klerus, dessen Leistungen in der Vergangenheit durchaus anerkannt werden 64 , "est devenu pour le peuple une charge sans benetice,,65. Die "Legisten" sind Handlanger, die sich mächtigen Gruppen, zunächst dem Adel - "les legistes ont pris naissance entre les jambes des barons" - , dann der Parvenu-Bourgeoisie angeschlossen haben, zu deren Teil sie wurden, früher teilweise als Zerstörer des "Ancien Regime" nützlich, heute parasitär: "L'ordre judiciaire bien plus encore que le clerge et la noblesse, a perdue l'estime des Fran'Yais66." Hier kann eine "Mikrosoziologie des Wissens" (Werner Stark) Hochmut und Ressentiment des Nachkommens einer alten berühmten Familie der "noblesse d'epee" gegenüber der materiell erfolgreicheren, zunehmend die alten Güter übernehmenden "noblesse de robe" aufspüren, auch Ärger über erfolglose Rechtsstreitigkeiten vermuten. Aber die Kritik zielt tiefer: Die Juristen, wie auch die Metaphysiker, "s'occupent beaucoup plus des formes que du fond, des mots que des choses, des principes que des faits"67. So hätten sie den Begriff der" Volkssou veränität" als Gegenbegriff gegenüber dem "Gottesgnadentum" entwickelt: "Une abstraction a donc pu provoquer une autre abstraction. La metaphysique du clerge amis en jeu la metaphysique des legistes 68 ." Beide Gruppen, deren Charakter als "Zwischenklasse" Saint-Simon zu erfassen trachtet, haben kaum mehr einen positiven Bezug zur Wirklichkeit, was sie in unvorteilhafter Weise von den produktiven "Industriellen" unterscheide, "die sich um Formen nicht kümmern und nur der Sache Bedeutung zumessen,,69. Sie sind heute unproduktiv und dem Fortschritt hinderlich. Dies gilt freilich auch für einen Teil der positiven Wissenschaften, dann nämlich, wenn sie sich zu stark akademisieren: "L'esprit academique tendra toujours a conserver les opinions qu'il a admises, se regardant comme le depositaire de la verite; il attaquerait lui-meme sa pretendue infaillibilite s'il changeait s'opinion. 11 continuera a crier a l'heresie et a devenir intolerant, plutot que de faire un pas retrograde au profit des lumieres et du bonheur de I 'humanite?°." Und trotzig trumpfte der von den Fachwissenschaften immer wieder zurückgestoßene bedeutende Dilettant auf, der wußte, daß er Einiges zu bieten hatte: "Parcourez l'histoire des progres de l'esprit humain, vous verrez que presque tous ses chefs-d'reuvres sont dus ades hommes isoles, souvent persecutes 71 ." Es wäre eine wissenssoziologisch reizvolle Aufgabe, für bestimmte Epochen und Domänen die partielle Richtigkeit einer solchen Aufgabe zu überprüfen. Freilich sah Saint-Simon auch: "L'homme de genie, qui pour ses travaux aurait besoin de l'independance la plus absolue, est toujours plus ou moins dependant du gouvernement qui le recompense"n, wobei anstelle des Gouvernements
VI
Saint-Simon hat den Wert einer "vie experimentale", der "teilnehmenden Beobachtung" und der Zukunftsorientierung fiir den Sozialwissenschaftler hervorgehoben. Im Jahre 1809 mußte Saint-Simon, knapp 50 Jahre alt, bekennen, daß sein Leben "eine Serie von Abstürzen"74 gewesen war, gleichwohl hat er immer wieder darum gekämpft, seinem eigenen Leben eine positive Deutung zu geben. Hierbei hat er auch einmal eine Reihe von Regeln aufgestellt, um wirklich Neues in der Philosophie (gemeint ist eine positive "Science Generale") zu erschließen. Diese Grundsätze sind auf sein eigenes Leben abgestellt und sollten dessen Exzentrik und Turbulenz rechtfertigen. Aber wir haben doch den Eindruck gewonnen, daß dieses Leben zwar nicht eine planmäßige "vie experimentale"75 war, wie er gelegentlich glauben machen wollte, daß aber auch keine "Rechtfertigungsideologie" vorliegt, sondern daß beides sich mischt. Wenn wir von Saint-Simons vier Regeln zum Erschließen neuer Erkenntnisse hier die zweite beiseite lassen dürfen, welche sich auf die Kenntnisnahme von Theorien bezieht, so fordert er dreierlei: Auf der Höhe des Lebens ein möglichst originales und aktives Leben zu führen. Alle Klassen der Gesellschaft zu durchlaufen; sich persönlich in möglichst viele verschiedene soziale Positionen zu begeben und sogar Sozial beziehungen herzustellen - für sich selbst wie für andere - , die es bisher nicht gegeben hat. Im Alter die Beobachtungen über die Ergebnisse zusammenzufassen, die aus diesen Erfahrungen sowohl für andere wie für einen selber entstanden sind, und daraufhin diese Beobachtungen so zu verbinden, daß daraus eine neue Theorie wird 76 . Saint-Simon hat keine Autobiographie fertiggestellt, nur Teilstücke einer solchen sind überliefert. Doch ist uns kein sozialwissenschaftlicher Schriftsteller bekannt, dessen Leben so reich an "existentiellen" gesellschaftlichen Erfahrungen war wie das seine. "Ich habe mir jede Mühe gegeben", schreibt er, "so gründlich, wie es mir nur möglich war, die Sitten und Ansichten der verschiedenen Gesellschaftsklassen kennenzulernen 77. " Saint-Simon war Graf, Neffe von Herzögen und Bischöfen, Oberst, und hatte als junger Offizier am Hofe des Königs verkehrt. Er hatte am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg teilgenommen, war dabei in Gefechten verwundet worden und in Kriegsgefangenschaft geraten. Er besaß höhere französische und amerikanische Militärorden. Er hatte sich mit Kanalbauuunternehmen und als diplomatischer Agent versucht, war sehr demonstrativ ein Anhänger der Revolution gewesen, hatte vor Gerichten gestanden und in mehreren Pariser Gefängnissen gesessen, wobei er unter der "terreur" mit seiner Hinrichtung rechnen mußte. Als Grundstücks- und Finanzspekulant größten Stils war er zu immensen Reichtümern gelangt, die er grandseigneurial verschwen-
sasse eines Asyls für Geisteskranke gewesen und zog zeitweise wie ein Clochard durch die Lande. Er war intim bekannt und befreundet mit Aristokraten, Gelehrten, Offizieren, Unternehmern, Ärzten, Ingenieuren, Künstlern, Bankiers und führenden Politikern, aber auch mit Bauern, Domestiquen und anderen Leuten aus dem Volk. Er hatte vorübergehend eine Ehefrau, eine natürliche Tochter und zahlreiche Maitressen (freilich eines, was man ihm bis heute gerne nachsagt, war er nicht: "chef de secte"). Rene König resumiert: "So könnte man von einem Leben des Experiments sprechen, in dem die Existenz selber aufs Spiel gesetzt wird. In einer Zeit, in der die gewohnten Wege sich plötzlich als Sackgassen erweisen, bleibt einem nichts als der "Sprung" in die Zukunfr1 s ." Saint-Simon lehrt uns also, zum Zwecke nutzbringender Erkenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse 1. durch Aktivitäten Erfahrungen in möglichst vielen Gesellschaftsschichten zu sammeln, gewissermaßen "teilnehmende Beobachtung" zu praktizieren. 2. Sich auf die Zukunft hin zu orientieren. Alles dies ist bis heute wissenssoziologischer Diskussions- und Forschungsstoff. Dabei ist nicht sicher, daß die Teilnahme am täglichen Leben verschiedener Gesellschaftsschichten und Gruppen in unseren sog. "offenen" Gesellschaften heute wesentlich leichter ist als zur Zeit Saint-Simons. Es gehört ja zum festesten Bestand der "faits sociaux" (Durkheim) oder der "widerspenstigen Wirklichkeit" (Max Weber), daß wir nicht nur "oben" an starre Schranken stoßen (bei Kabinetten, Aufsichtsräten, Krisenstäben, Parteiführungen etc.), sondern daß auch im sozialen" Unten" (bei "Randgruppen", gewissen ethnischen Minderheiten, Alten und Kranken, bestimmten jugendlichen Subkulturen) Schilder mit "off limits" aufgestellt sind, die argwöhnisch bewacht werden. Die empirische Sozialforschung hat hier reiche und bittere Erfahrungen sammeln können. Und in welchen Sozialsphären bildete sich, lebt, wirkt und verkehrt ein typischer Professor der Soziologie in der Bundesrepublik, in den U. S. A. und in Frankreich? Auch hier kann und muß die Wissenssoziologie weiterforschen: Wie wirken sich soziale Nähe und Ferne, soziales "Engagement" und soziale "Distanz" (was beides verklärt und perhorresziert wird) auf Erkenntnischancen und Erkenntniserträge aus? Trotz seines Plädoyers für die "teilnehmende Beobachtung" kann man in SaintSimon auch einen Entdecker der "Betriebsblindheit" sehen 79. Welche besonderen Erkenntnischancen eröffnen Haft, Berufsverluste, Vertreibungen und Diskriminierungen sonstiger Art für die Erkenntnis sozial wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten? Lassen sich in den Werken einiger führender Soziologen und anderer Sozialwissenschaftler entsprechende Niederschläge feststellen und, wenn sie signifikant erscheinen, wie sind sie zu fixieren und abzuwägen? Das Postulat, sich als Sozialwissenschaftler auf die Zukunft hin zu orientieren, ist, sofern es Praxisbezug bedeutet, sicher richtig. Aber die Lehre eines solchen "terminus ad quem" bedarf der Ausfüllung. Wie ist diese Zukunft oder sollte sie sein, wann fin-
oder falsch - , daß "jeder Mensch in mehr oder weniger hohem Grade das Bedürfnis verspürt, alle anderen Menschen zu dominieren"Bo, für die Zukunft zu vergessen? Das für die vorindustriellen Gruppen des Adels, Militärs, der Geistlichkeit und der Juristen festgestellte Herrschaftsstreben hat er für die Führungsschichten der Industriegesellschaften ignoriert. Wenn wir ihn, auch mit diesem Aufsatz, gegen das generelle Verdikt verteidigen, ein" Utopist" gewesen zu sein, hier erscheint er als ein solcher.
VII
Saint-Simon hat es zur Pflicht der Wissenschaften erkliirt, tür einen dauerhaften Frieden zu arbeiten. Wenn sich die Sozialwissenschaften auf die Zukunft hin orientieren sollen, so gehört dazu wesentlich die Frage nach Krieg und Frieden. Und unsere zeitgenössischen Bemühungen um eine interdisziplinäre "Friedensforschung" machten sehr bald deutlich, daß dabei wissenssoziologische Fragen eine wesentliche Rolle spielen. Unsere Sammlung wissenssoziologischer Aspekte und Erträge der Arbeiten Saint-Simons kann einen zwar nicht tiefen, aber engagierten und aktuellen Beitrag von ihm in Erinnerung bringen. Die Lektüre der Schriften unseres Autors vermittelt durchgehend und deutlich einschlägige Anliegen. Richtig stellte Thomas Petermann jüngst fest: "Die Wissenschaft als eine Wissenschaft des Friedens zu verstehen, sie aus der Verfilzung in die Machenschaften der Politik und aus ihrer Integration in die Maschinerie des Krieges herauszulösen und die Summe aller wissenschaftlichen Anstrengungen auf ein humanes Ziel zu lenken, das ist die Forderung, die seine Bemühungen um eine Krisenwissenschaft wesentlich charakterisiertBI." Nach einem oft verschwiegenen schweren physischen und psychischen Zusammenbruch, der aber seine Sensibilität für gewisse Erkenntnisse geschärft haben mag, verfaßte Saint-Simon 1813 seinen "Memoire sur la Science de I'Homme". Bar aller finanziellen Mittel, stellte er davon handschriftliche Kopien her und sandte sie an prominente Vertreter der Wissenschaften. In dem "Memoire" heißt es, wobei er sich auf den mit ihm befreundeten Arzt Dr. Burdin bezieht, dem er seinen Appell an die Wissenschaftler in den Mund legt: "Das Menschengeschlecht hat eine der schwersten Krisen zu bestehen, die es seit seinem Beginn durchmachen mußte. Was tun Sie, um diese Krise zu beenden? Welche Mittel haben Sie, um die Ordnung in der menschlichen Gesellschaft wiederherzustellen? Ganz Europa stranguliert sich. Was tun Sie, um diese Metzelei zu stoppen? Nichts! Was sage ich da? Es sind ja gerade Sie, welche die Instrumente der Vernichtung perfektionieren. Gerade Sie lenken auch ihre Anwendung. In allen Armeen stehen Sie an der Spitze der Artillerie. Sie leiten die Attacken. Was tun Sie, ich frage nochmals, um den Frieden wiederherzustellen? Nichts B2 ." Diesen Worten ist selbst im Atomzeitalter nichts hinzuzufügen.
der Völker zu versöhnen 83 ." Leider studiere man diese Wissenschaften nicht. Diese Wissenschaften werden heute gründlich studiert, und sie haben inzwischen beachtliche Ergebnisse vorzuweisen. Was allerdings den Umfang der dafür aufgewandten Arbeiten und Mittel betrifft, so schneiden die Humanwissenschaften heute verhältnismäßig noch schlechter ab. Daß die "Friedenssicherung" wie die "Volkssouveränität" in unserem Jahrhundert zu einem unveräußerlichen Lippenbekenntnis aller politischen Machthaber geworden sind, ändert nichts daran, daß diese die "Friedensforscher" überwiegend noch so einzuschätzen scheinen, wie man Saint-Simon einschätzte, nämlich als Narren. Und man ist versucht, mit einem "rire voltairien" hinzuzufügen, daß diese Forscher - wo man sie finanziert - leicht in die Rolle von Hofnarren geraten, welche Alibifunktionen erfüllen. Das disqualifiziert sie selbst jedoch nicht, solange sie sich an folgende Maxime Saint-Simons halten: "La methode des sciences d'observation doit etre appliquee la politique; le raisonnement et l'experience sont les elements de cette methode 84 ." Die Geschichte des Saint-Simonismus beweist übrigens, daß die ihr inhärente Tradition des Engagements für den Frieden nicht völlig untergegangen ist. So hat z. B. der Saint-Simonist Charles Lemonnier nicht nur an Gedanken des Meisters über die Notwendigkeit eines vereinigten Europas angeknüpft, sondern er wurde auch ein prominenter Pazifist, der einen großen Teil seiner Arbeit den in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstehenden Friedensgesellschaften widmete. Es gab anscheinend, wie Lorenz v. Stein in einem klassisch gewordenen Zitat über den SaintSimonismus feststellte, "fast kein Gebiet des gesellschaftlichen Lebens, auf dem er nicht zum ersten Male ein ganz neues Licht verbreitet hätte 85 ."
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Die Werke Saint-Simons waren bekanntlich keine abgewogenen wissenschaftlichen Abhandlungen. Sie brachten aber unter einem Wust skurriler und tagespolitischer Schreiberei und bei zahlreichen Widersprüchen flüchtige, doch wiederholte Andeutungen wichtiger soziologischer Erkenntnisse, die eine unübersehbare Wirkung gehabt haben und die man geduldig exzerpieren muß. Wir hoffen, immerhin gezeigt zu haben, daß einige davon auch für die Geschichte der Wissenssoziologie wichtig waren und bewahrt werden sollten. Dabei haben wir versucht, sie zunächst locker in einigen Komplexen zusammenzufassen, was man seit der berühmten "Exposition de la Doctrine", die S. A. Bazard und andere um 1830 publizierten, in verschiedener Absicht unternommen hat. Man kann dies gewiß stringenter tun, läuft dann jedoch auch stärker das Risiko, unseren Autor zu vergewaltigen. Die hier herausgehobenen wissenssoziologisch relevant erscheinenden Komplexe wird man sowohl nach den geistigen Entwicklungsphasen Saint-Simons als auch nach dem jeweiligen Entwicklungsstand der Soziologie verschieden gewichten müssen. Der eigenwillige Denker starb vor über anderthalb Jahrhunderten und wußte: "Les idees les plus justes, lorsqu'elles se trouvent trop en avant de l'etat des lumieres, ne sont presque d'aucune utilite 86 ."
ausgedrückt fand 8 ?, behauptet er inzwischen einen markanten Platz. Bewerten wird man ihn freilich verschieden 88 .
Anmerkungen Vgl. zu solchen zunächst marginalen Rollen das einschlägige Zitat Saint-Simons in Abschnitt V. 2 In seinem Beitrag "Wissenssoziologie", in Gottfried Eisermann (Hrsg.), Die Lehre von der Gesellschaft, Stuttgart 1958, S. 409. Vor allem in seiner gedruckten Korrespondenz mit dem Grafen S. E. v. Redern. 4 fruvres de Claude-Henri de Saint-Simon, tome IItI, S. 113, editions anthropos, Reimpression anastaltique, Paris 1966, künftig lediglich zitiert als "anthropos". Diese wie auch folgende übersetzungen von Zitaten Saint-Simons stammen vom Verf., sofern nichts anderes angegeben. 5 L'Industrie, IH. Bd., zitiert nach G. Gurvitch, a.a.O. 6 Reorganisation de la Societe Europeenne, anthropos, t. I, S. 162. 7 Jean Dautry, Saint-Simon. Ausgewählte Texte, Berlin 1957, Vorwort, S. 31. 8 Introduction zu Gurvitchs Saint-Simon-Auswahl, La physiologie sociale, Paris 1965, S. 25. 9 Oe la physiologie sociale, 1812. Zitiert nach G. Gurvitch, a. a. 0., S. 11. 10 Ebenda. 11 "L'Industrie", zitiert nach dem Standardwerk von Friedrich Muckle, Henri de Saint-Simon, die Persönlichkeit und ihr Werk, Jena 1908, S. 151, wo nähere Quellenangaben fehlen. 12 G. Gurvitch, Les Fondateurs Franc;ais de la Sociologie Contemporaine, Paris 1955, I. SaintSimon: Sociologue, S. 8. 13 über Verlagsort und Erscheinungsjahr dieses anonym, ohne Orts- und Zeitangabe erschienenen Büchleins bestand lange keine Klarheit. Die Schrift, welche der Autor von Genf aus mit einem Begleitschreiben an Napoleon sandte, dürfte aber zunächst 1802 in Genf, dann 1803 nochmals in Paris erschienen sein, wobei der Titel etwas variierte. Die 1. Auf!. wandte sich l'humanite", die 2. Auf!. - bescheidener ses contemporains". 14 Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 8. A., Stuttgart 1914, S.277. 15 "Der Geist des Hegelschülers ist ein Geist des Krieges und der Gewalt. Derjenige des Condorcetschülers im Gegenteil ein Geist der Conciliation, des friedlichen Fortschritts", meinte vereinfachend Georges Weill, Saint-Simon et son fruvre, Paris 1894, S. 239. 16 Lettres d'un Habitant de Geneve, anthropos, t. I, S. 26 ff. 17 Entsprechend Rolf Peter Fehlbaum, Saint-Simon und die Saint-Simonisten, Tübingen 1970, S.17. 18 Pierre Ansart, Sociologie de Saint-Simon, Paris 1970, S. 125. 19 Z.B. von Friedrich Muckle, Maxime Leroy, G. Salomon-Delatour, Albert Salomon. 20 Dieser berühmte Aphorismus beschließt seine zusammen mit Augustin Thierry verfaßte Abhandlung "Oe la reorganisation de la societe Europeenne", 1814 (Anthrop. t. I, S. 247/48). Er hat auch, leicht abgewandelt, als Motto für andere Saint-Simonistische Publikationen Verwendung gefunden, z. B. für die "Opinions Litteraires, Philosophiques et Industrielles" von 1825. 21 "Seine Äußerungen zeichneten sich oft durch einen ziemlich schmutzigen Zynismus aus, doch konnte er ernste Dinge ernsthaft behandeln", notierte ein Freund jener Tage (Fourcy), den Georges Weill zitiert, vgl.: a.a.O., S. 12. Auch seine Widmungen und Schreiben an Napoleon, Ludwig XVIII. oder den russischen Zaren darf man so deuten. 22 Introduction, anthropos, t. VI., S. 140. 23 Introduction, anthropos, t. IV, S. 141. 24 Frank E. Manuel, The New World of Henri St. Simon, Harvard University Press, 1956, S.132. 25 "C'est Bacon qui a fonde la Science Generale positive" (Projet d'Encyclopedie, Anthropos, t. VI., S. 290).
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L. v. Wiese, System der Allgemeinen Soziologie, 2. A., München und Leipzig 1933, S.151. De la Reorganisation de la Societe Europeenne (1814), anthropos, t. 1., S. 182. Friedrieb Muckle, a. a. 0., S. 83. Rene König, Emile Durkheim zur Diskussion, München, Wien 1978, S. 28. Projet d'Encyciopedie, Second Prospectus, Avertissement, anthropos, t. VI., S. 283. Diese Betrachtungen haben in seinem "Systeme IndustrieI" Aufnahme gefunden (anthropos, t. III., S. 83). 33 Ebenda, S.303. Der "negative" Eindruck, welchen die Enzyklopädie hinterließ, war in der Tat - mit Freude oder Abscheu begrüßt - vorherrschend: "Sie war der Stolz des damaligen Frankreichs, weil sie in glänzender, allgemein zugänglicher Form sein innerstes Bewußtsein aussprach. Sie raisonnierte mit beißendem Witz aus dem Staat das Gesetz, aus der Moral die Willensfreiheit, aus der Natur den Geist und Gott hinweg", faßte Albert Scbwegler in seiner sehr verbreiteten "Geschichte der Philosophie im Umriß" (1. Auf!. 1847) zusammen. Zitiert nach der von j. Stern herausgegebenen Reclam-Ausgabe (Leipzig, o.J.), S. 269. 34 Nouvelle Encyclopedie, PrHace, anthropos, t. VI., S. 330. 35 Vgl. hierzu Friedrieb H. Tenbruck, Die Glaubensgeschichte der Moderne, in: Z. f. Politik, NF., Bd. 23 (1976), S.1-15. 36 Introduction, anthropos, t. VI., S. 170. Zynisch klingt zumindest auch folgender Satz aus seiner "Introduction", der typisches 18. Jahrhundert ist: "La religion est la collection des applications de la science generale au moyen desquelles les hommes eclaires gouvernent les hommes ignorants. " 37 Tbomas Petermann, Claude-Henri de Saint-Simon. Die Gesellschaft als Werkstatt, Berlin 1979, S.44f. 38 a.a.0.,S.45. 39 Lettres d'un Habitant de Geneve, anthropos, t. I, S. 57. 40 Ebenda, S. 36. 41 Organisateur, anthropos, t. II, S. 153. 42 Rolf Peter Feblbaum, Saint-Simon und die Saint-Simonisten, Basel!Tübingen 1970, S. 16. 43 Diese 1815 gegründete Gesellschaft, der Saint-Simon auch selber angehörte, erfreute sich eine Zeitlang der Gunst der Regierung, insbesondere des Ministers Lazare Carnot, dem unser Autor während der 100 Tage auch die Stelle an der "Bibliotheque de l'Arsenal" verdankte. 44 Da jedoch die Ausführungen bisher in keine Neu-Edition Saint-Simonistischer Schriften aufgenommen wurden, können wir Interessenten nur auf das in der "Bibliotheque Nationale" vorhandene Exemplar verweisen (Rz/3656). 45 Vgl. hierzu auch: Friedrieb Muckle, a. a. 0., S. 112. 46 Du Systeme Industriel, Post-Scriptum, anthropos, t. III/2, S. 236-239. 47 Ebenda, S. 238. 48 Du Systeme Industriel, anthropos, t. IH, S. 16, Fußnote. 49 "L'Industrie", anthropos, t. I/2, S. 31. 50 Frank E. Manuel, a.a.O., S. 295. 51 Introduction, anthropos, t. VI, S.16. 52 "Chaque age a son caractere, chaque institution sa duree", a.a.O., S.169. 53 L'Organisateur, anthropos, t. II/2, S.119. 54 Tbomas Petermann, a. a. 0., S. 172 ff. 55 Anthropos, t. I/l, S. 27. 56 Anthropos, t. VI, S.190. 57 Anthropos, t. HI/l, S. 161. 58 Anthropos, t. V/2, S. 31. 59 Helmut Scbelsky, Die Arbeit tun die andern, Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975. 60 Zitiert nach Petermann, a.a.O., S. 51. 61 Crane Brinton, Soziologie der Revolution, Frankfurt 1959, S. 63-78. 62 Introduction, anthropos, t. VI, S.190/91. 63 L'Industrie, t. H, anthropos, t. I/2, S. 203.
commence" (anthropos, t. 11/1, S. 37/38). "Du Systeme Industrie!", anthropos, t. III/1, S. 172. Ebenda, S. 173. Ebenda, S. 36. "Du Systeme Industrie!" , anthropos, t. III/1, S. 211. "Les industriels ne tiennent nullement aux formes; ils n'attachent d'importance qu'au fond des choses" (Du Systeme Industriel, anthropos, t. HI/1, S. 206). 70 Lettres d'un Habitant de Geneve, anthropos, t. 1/1, S. 15. 71 Ebenda, S. 16. 72 Ebenda, S. 20. 73 Ebenda, S. 21. 74 Sa vie ecrite par lui-meme, 1809, anthropos 1/1, S. 77. 75 Ebenda, S. 81. 76 Ebenda, S. 81/82. 77 Ebenda, S. 86. 78 Rene König, a.a.O., S.16. 79 "Nos yeux se fatiguent quand nous envisageons pendant longtemps les choses d'un meme point de vue. Nous cessons alors de decouvrir entre e!les de nouveaux rapports; nous cessons meme de percevoir c1airement ceux que nous avions d'abord apen;us" (Introduction, anthropos, t. VI, S.26). 80 Anthropos, t. 1/1, S.41. 81 Tbomas Petermann, a.a.O., S. 79. 82 Memoire, anthropos, t. V/2, S. 39/40. 83 a.a.O., S.40. 84 De la Reorganisation de la Societe Europeenne, anthrop. t. 1/1, S.195. 85 L. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage. Leipzig 1850, Bd. 11, S. 226. 86 Memoire, anthropos, t. VI2, S. 7. 87 Diese These Saint-Simons hat Wolf Lepenies vor einiger Zeit in passendem Zusammenhang gut herausgearbeitet: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, Suhrkamp-Ausgabe 1978, S. 109 und S. 174. 88 Vgl. hierzu passim Albert Salomon, Fortschritt als Schicksal und Verhängnis. Betrachtungen zum Ursprung der Soziologie, Stuttgart 1957. 65 66 67 68 69
Was folgt, ist eine Übung mit zwei Zielen, die wesentlich verschieden sind, aber doch in einem Prozeß angestrebt werden - vielleicht nur in einem angestrebt werden können. Das eine heiße methodisch: es ist, induktiv, durch genaue, obgleich selektive Textanalyse dem anderen zu dienen. Dieses andere ist interpretativ: der Versuch, Seheler, aufgrund der Textanalysen, historisch, in seiner Zeit, somit aber auch in unserer, zu beheimaten - oder, was dasselbe ist, ihn und uns als Heimatlose, als Fremde in dieser Zeit herauszustellen - und damit "unheimlich" aus unserer Zeit. Die Textstellen stammen zumeist aus Sehelers einsichtsvoller und aufregender Arbeit von 1926, "Erkenntnis und Arbeit"; es ist nieht das Ziel der nun folgenden Seiten, dieser (vor kurzem neu aufgelegten) Studie in irgendeiner außer der angedeuteten Hinsicht Genüge zu tun. Der Untertitel von "Erkenntnis und Arbeit", "Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Motivs in der Erkenntnis der Welt", könnte vermuten lassen, daß Seheler in ihr sowohl das pragmatische Motiv als auch das pragmatische Element in der Erkenntnis behandeln, d.h. sowohl psychologische als auch phänomenologische Untersuchungen machen würde. Stattdessen mögen die Hauptabteilungen andeuten, was er tatsächlich unternimmt: I. "Das Problem" (7 Seiten); 11. "Wesen und Sinn von Wissen und Erkenntnis - Die Arten des Wissens" (12 Seiten); III. "Der philosophische Pragmatismus" (58 Seiten); IV. "Der methodische Pragmatismus" (22 Seiten); V. "Zur Philosophie der Wahrnehmung" (der längste Teil, fast 80 Seiten); VI. "Metaphysik der Wahrnehmung und das Problem der Realität" (20 Seiten); VII. "Wissenssoziologische Schlußbetrachtung" (3 Seiten). Diese Reihenfolge, die kaum als systematisch bezeichnet werden kann, bleibt im folgenden unbeachtet; ihre Mitteilung sollte nur, wie gesagt, das Interesse wecken; die vielen von Seheler flüchtig oder intensiv behandelten Themen können nicht einmal alle erwähnt werden; dafür ist Sehelers Studie charakteristischerweise zu gedrängt und atemlos. Sie fängt mit folgendem Absatz an: "Das Pathos, das der moderne Mensch mit dem Namen der "Arbeit" verbindet, das umso intensiver wurde, je mehr er sich von den geistigen Traditionen der Antike und des Christentums losrang und sich aus seinen eigenen Lebens- und Daseinsvoraussetzungen ein Weltbild und ein Ethos zu schaffen suchte - jenes Pathos, das in den Worten des Kommunistischen Manifestes von der *
Grundlage dieser Seiten ist ein Referat, das am 16.11.1978 beim Treffen des Boston Forum for the Interdisciplinary Philosophy of Man, organisiert vom World Institute for Advanced Phenomenological Research and Learning, in der Cronkhite Hall, Harvard University, Cambridge, Massachusetts, auf Englisch gehalten wurde.
Gedankenbewegung des "Pragmatismus" in Erkenntnislehre wie Metaphysik ist dafür der beste Beweis. Ist der Mensch selber "homo rationalis" und nicht vielmehr "homo faber"? - das ist die einschneidende Frage, die man zu stellen wagte l ." Wenn man systematisch vorginge, schreibt Scheler, müßte man das Problem der Beziehung zwischen Erkenntnis und Arbeit auf fünf Weisen untersuchen. Erstens ginge man historisch und soziologisch vor und zeigte, wie die Zusammenarbeit von Technik und Wissenschaft aussah und sich entwickelt hat. Zweitens gibt es den erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt, dessen Triftigkeit die pragmatische Philosophie, von James bis Nietzsehe, Bergson und Vaihinger dargetan hat (vgl. S.198 2 ); dieser Gesichtspunkt werde auch bei Scheler selbst vorherrschen. Obwohl Scheler sich kaum mit dem dritten abgibt, verdient er, zitiert zu werden, weil er nicht übersehen werden darf und außerdem uns Schelers weiten Horizont vermittelt. "Unser Problem", schreibt er, "ist ferner ein entwicklungsphysiologisches und -psychologisches Problem, und zwar in mehrfachem Sinn. D.h. es ist für die vielfache' Entfaltungsrichtung des Lebendigen, für die psychischen Leistungsfähigkeiten verschiedener Arten der Tiere im Verhältnis zueinander und im Verhältnis zum Menschen, für die Entwicklungsrichtung des Wissens des Primitiven zum zivilisierten Kulturmenschen, für die Entfaltung des Kindes zum Erwachsenen und endlich für die Wissensentwicklung des historischen Menschen je gesondert die Frage zu stellen, ob und inwieweit Bedingungszusammenhänge zwischen dem triebhaften und motorischen Verhalten des Organismus und der Ausbildung des Umweltbildes (resp. der beim Menschen geregelten Arbeit und deren Formen zu den Formen des Wissens) bestehen, resp. zur Ausbildung der Organe und Funktionen (physiologischer und psychischer) führen, die je zur Erweiterung des Weltbildes in den mannigfachen Hinsichten, z.B. der sinnlichen und gedächtnismäßigen Tätigkeit notwendig sind" (S. 199). Viertens kann die Beziehung zwischen Erkenntnis und Arbeit durch die Untersuchung der Physiologie und Psychologie der Arbeit, einschließlich ihrer Pathologien, beleuchtet werden; und endlich ist die pädagogische Anwendung des Problems zu beachten, die z. B. für eine Diskussion klassischer gegenüber beruflicher Erziehung wichtig ist. Der Grundfehler des Pragmatismus sei es, eine Wissensart als Wissen schlechthin anzusehen. Der Pragmatismus sehe nicht, daß Wissen ein existentielles Phänomen ist, das nicht durch Termini, die ihrerseits "Wissen" voraussetzen, definiert werden kann. Genauer, "Wissen ist ein Seinsverhältnis - und zwar ein Seinsverhältnis, das die Seinsformen Ganzes und Teil voraussetzt. Es ist das Verhältnis eines Teilhabens eines Seienden am Sosein eines anderen Seienden, durch das in diesem Soseienden keinerlei Veränderung mitgesetzt wird" (S. 203; vgl. S. 227, 251). Da Wissen Teilhaben ist, kann es nicht Wissen dienen, sondern nur im Dienste eines Werdens, eines Anderswerdens stehen; und je nach dem Ziel des Werdens gibt es drei Arten des Wissens. Wissen "kann" und "soll" dienen: "Erstens dem Werden und der Entfaltung der Person, die weiß - das ist "Bildungswissen". Zweitens dem Wer-
oder doch zu etwas, ohne das sie ihre Werdensbestimmung nicht erreichen können dieses Wissen um der Gottheit willen heiße "Erlösungswissen ". Und es gibt drittens das Werdensziel der praktischen Beherrschung und Umbildung der Welt für unsere menschlichen Ziele und Zwecke - jenes Wissen, das der Pragmatismus sehr einseitig, ja ausschließlich im Auge hat - das ist das Wissen der positiven "Wissenschaft", das "Herrschafts-" oder "Leistungswissen" (S. 205). Das Herrschafts- oder Leistungswissen ist das einzige Wissen, mit dem der Pragmatismus sich abgibt. Aber nicht nur gibt es die beiden anderen Wissensarten - die drei unterstehen auch einer hierarchischen Ordnung, absteigend vom Erlösungswissen über das Bildungswissen zum Herrschaftswissen. Scheler betrachtet Wissen und seine Formen nicht nur nach Werdenszielen, sondern auch nach Ursprüngen - wenn auch an anderer Stelle. Dort heißt es, daß der Wunsch, sein "Sein zu bergen", zum religiösen Wissen führe, Verwunderung, zum metaphysischen und der Wunsch, in der Welt zu handeln und sie zu meistern, zum positiven 3 . Die Beziehung zwischen den beiden Trichotomien untersucht er nicht; er behandelt sie, die zwar eng verwandt sind, fast als synonym, wenn er schreibt: "So muß man z. B. anerkennen, daß religiöses, metaphysisches und das Zufällige-Tatsachen-Wissen, oder wie wir auch sagen können: Heils- resp. Erlösungswissen, Bildungswissen und Leistungs- resp. Naturbeherrschungswissen '" ,,4 Nicht nur aber, daß der Pragmatismus "die Idee des Wissens verfälscht", er übersieht auch völlig "die fundamentale Scheidung" zwischen "Wesenswissen" und "ZufälligeTatsachen-Wissen" oder Apriori- und Aposterioriwissen (S. 232). Diese beiden Wissensweisen werden miteinander vermittelt durch Funktionalisierung (vgl. S.198, 232). "Funktionalisierung" ist ein Begriff, den Scheler ein paar Jahre früher in seinem Buche Vom Ewigen im Menschen (1921) entwickelt hatte. In seiner wichtigen Einleitung zur Neuausgabe von Erkenntnis und ArbeitS zitiert Manfred S. Frings den entscheidenden Passus, der für das Verständnis der hier zur Diskussion stehenden Arbeit selbst aufschlußreich genug ist, um seine Zitierung zu wiederholen: "Die Wesenserkenntnis funktionalisiert sich zu einem Gesetz der bloßen "Anwendung" des auf die zufälligen Tatsachen gerichteten Verstandes, der die zufällige Tatsachenwelt "nach" Wesenszusammenhängen "bestimmt" auffaßt, zerlegt, anschaut, beurteilt. Was vorher Sache war, wird Denkform über Sachen; was Liebesobjekt war, wird Liebesform, in der nun eine unbegrenzte Zahl von Objekten geliebt werden können [!]; was Willensgegenstand war, wird Wollensform usw. Wo immer wir z. B. schließen nach einem Schlußgesetz, ohne "aus" ihm zu schließen, einer ästhetischen Regel gehorchen (wie der schaffende Künstler), ohne auch nur im entferntesten diese Regel selbst in der Weise eines formulierten Satzes im Geiste zu haben, treten Wesenseinsichten "in Funktion" - ohne daß sie selbst dabei explizite dem Geiste vor Augen ständen. Nur an dem Erlebnis der Unrichtigkeit, der Abweichung von einem Gesetz, das wir dabei als Gesetz nicht bewußt im Geiste haben, kommt es uns dann zum dämmernden Bewußtsein, daß uns eine Einsicht führte und leitete; wie es z. B. auch stattfindet bei allen Gewissensregungen, die mehr Einspruch erheben gegen Falsches, als daß sie aus sich heraus das Gute aufwiesen - hinter denen aber doch eine positive Einsicht in das Gute und in ein positives Ideal unseres individuellen und allgemein-menschlichen Lebens steht. Indem Wesenseinsichten sich also "funktionalisieren", findet eine Art wahren
ten Fähigkeiten, ferner von aller bloß psychologisch-verständlichen Genese (nach Assoziationsgesetzen, übungsgesetzen, psychischen Vitalgesetzen) wesensverschieden ist. Ein Werden und Wachsen der Vernunft selbst, d.h. ihres Besitztums an apriorischen Auswahl- und Funktionsgesetzen, wird uns durch diese Funktionalisierung der Wesenseinsicht verständlich 6 ."
Diese "Funktionalisierung" - die Scheler kaum mehr "operationalisiert" als Hegel seine List der Vernunft - gehört zu den Anzeichen des deutlich emotionalen Elements in Schelers Verschriebensein an das Wesenswissen, ob Erlösungs-, Bildungs- oder religiöses. Dafür ein weiteres Beispiel: Scheler schreibt, daß der Pragmatismus "nicht nur auf alles Wesenswissen, sondern auch auf Wissen von absoluter Realität, d. h. auf metaphysisches und religiöses Wissen verzichtet. Denn gewiß ist, daß die absolute Realität, wenn überhaupt veränderbar, nur durch sich selbst veränderbar sein kann und nicht durch Wesen, die sie selbst erst ins Dasein gesetzt und deren Sosein sie bestimmt hat - die also ausschließlich von ihr abhängen. Nur soweit die Persönlichkeit selbst eine Funktion des göttlichen Geistes wäre, könnte sich der göttliche Geist durch sie, d. h. sich selbst durch sie verändern, z. B. wachsen, erlösen - so er erlösungsbedürftig ist" (5.233). Dieser Sehnsucht nach Gnade, die hier ihren Ausdruck zu finden scheint, geht ein Verlangen nach absolutem Wissen inmitten des Relativismus parallel; doch hat der folgende Passus einen unerwarteten Effekt: "Aber nicht dadurch entgehen wir diesem Relativismus, daß wir wie billige absolute Wertphilosophien der Gegenwart die klar erkennbare Tatsache der Relativität, auch der Vernunftorganisationen selbst, leugnen oder beschränken und dann einem ebenso billigen "Europäismus" oder sonst einem Standpunkte verfallen, der, nur nach Maßgabe einer Kultur aufgerichtet, diesen Standort für allmenschlich und allhistorisch gültig hält; auch nicht dadurch, daß wir, wie z.B. E. Troeltsch es seltsam genug wünscht ... , diesen unseren europäischen Standort, trotz Erkenntnis seiner Relativität, mit einem bloßen Postulat, d. h. einem "sic volo, sic jubeo", ebenso "bejahen". Sondern wir entgehen ihm dadurch, daß wir ähnlich wie es auf ihrem Boden die Einsteinsche Theorie getan hat - und das der Wesensidee des Menschen entsprechende absolute Ideen- und Wertreich ganz gewaltig viel höher über alle faktischen bisherigen Wertsysteme der Geschichte gleichsam aufhängen - so beispielsweise alle Güterordnungen, Zweckordnungen, Normordnungen der menschlichen Gesellschaft in Ethik, Religion, Recht, Kunst als schlechthin relativ und historisch wie soziologisch je standpunktlich bedingt ansehen - , nichts bewahrend als die Idee des ewigen objektiven Logos, in dessen überschwengliche Geheimnisse in Form einer hierzu wesensnotwendigen Geschichte des Geistes einzudringen nicht einer Nation, einem Kulturkreise, einem oder allen bisherigen Kulturzeitaltern zukommt, sondern nur allen zusammen, mit Einschluß der zukünftigen, in je solidarischer zeitlicher wie räumlicher Kooperation unersetzlicher, weil individualer, einmaliger Kultursubjekte 7 ." Scheler hängt den Logos - "gleichsam" - "gewaltig viel höher auf' und rettet ihn dadurch vor der Relativisierung 8 . Wie er im vorherigen Passus die absolute Realität vor Veränderung bewahrte, bewahrt er hier den Geist, indem er ihn außerhalb jeder
vermutlich wußte er nicht, wie weit er seiner Zeit voraus war. Eine derartige emotionelle und erkenntnismäßige Passion für das Absolute ist aber nicht die einzige Beziehung, die Scheler zum Absoluten hat. Eine andere deutet sich in seiner Behauptung an, daß nur das Wesenswissen "der erste und unmittelbare Träger des Prädikates ,evident'" sei (5.231); und diese Formulierung erinnert an Georg Simmels überzeugte, gelassene, ja vielleicht ironische Aussage: "Alles was man beweisen kann, kann man auch bestreiten. Unbestreitbar ist nur das Unbeweisbare 9 ." Schelers eigene Überzeugung findet also Ausdruck nicht nur in seiner Klassifizierung von Wissensarten, sondern auch in Beweisen seiner eigenen Kenntnis und Überzeugung davon, wie z. B. in seiner Behauptung, daß, während die Arbeit uns "die zujiillige objektive Bilderwelt und ihre Gesetze"l0 näher bringe, der Mensch auch eine ganz andere Möglichkeit des Wissens habe, nämlich "die philosophische Erkenntnishaltung", "die sich durch bewußte Aufhebung der praktischen Haltung losreißt von" der Zufälligkeit, um in zwei andere Richtungen zu blicken: "Einmal nach dem Reich der Wesenheiten, d. h. den Urphänomenen und Ideen, für die diese Bilder nur "Beispiele" und mehr oder minder gute "Exemplare" sind - ein andermal nach dem Strom der Triebe, Dränge, Kräfte, die sich in diesen "Bildern" nur manifestieren." "Nicht die ,Arbeit' an der Welt führt zu solchen Erkenntnismöglichkeiten: Zur ersten führt Verwunderung, Demut und geistige Liebe zum Wesenhaften, gewonnen durch eine phänomenologische Reduktion des Daseienden; zur zweiten führt dionysische Hingabe in Einsfühlung und Einswerdung mit dem Drange, dessen Teil auch all unser Drängen, Wünschen und Treiben ist. "Erst in der größten Spannung zwischen beiden Haltungen und erst durch Überwindung dieser Spannung in der Einheit der Person aber wird die eigentliche philosophische Erkenntnis geboren" (5.362). Hier haben wir in nuce Schelers "philosophische Anthropologie l l - auf die er oft als in Arbeit befindlich hinweist, die er aber nicht über die im Jahre seines Todes (1928) erschienene Skizze, Die Steilung des Menschen im Kosmos, hinaus vollendete. Aber der Passus enthält nicht nur den Keim dieser Anthropologie - und seiner Auffassung der Persönlichkeit - , sondern auch seines Selbstporträts, vielleicht des Porträts eines Rhapsoden 12, der jedenfalls bestrebt ist, sowohl seinem Geist als auch seinen Trieben gerecht zu werden 13. Bei seiner Überzeugung von der Möglichkeit oder doch zumindest der unleugbaren Aufgabe von Wesens- (und Erlösungs-) Wissen kann Scheler es sich sozusagen leisten, zu behaupten - einmal hypothetisch, ein andermal als Gewissheit - , daß das Wesen der Wirklichkeit selbst im Widerstand zu finden sei. Hypothetisch: "Sollte sich nämlich bei der Untersuchung dieser Frage zeigen, daß Realsein selbst nur im Widerstande ursprünglich gegeben ist, in dem sich irgendwelche inneren und äußeren Sachkomplexe selbst gegen unsere Strebens- (Trieb- und Willens-) Impulse behaupten, - daß überhaupt nicht das rein theoretische Wissensverhältnis zur Natur, sondern nur unser Kampf- und Herrschaftsverhältnis zu ihr das ursprüngliche Realerlebnis und Wirkerlebnis der Dinge vermittelt, so wäre das pragmatisch bedingte Wissen um Natur in einem Urphänomen der Weltontik wohlfundiert" (5. 281).
ihren gesamten Inhalt verschwinden, Raum- und Zeitform und alle Seinsformen (Kategorien) der Dinge sich in ein unbestimmtes Sosein nivellieren - dann bleibt als das Nichtabbaubare ein einfacher, nicht weiter auflösbarer Eindruck der Realität überhaupt: der Eindruck eines gegen die spontane - sei es willkürliche, sei es unwillkürliche, sei es schon als Wollen oder nur als Triebimpuls charakterisierte - Tätigkeit, die unser Bewußthaben und -sein in dauerndem Vollzug unterhält, schlechthin" Widerstiindigen ". Realsein ist nicht Gegenstandsein , d. h. das identische Seinskorrelat aller intellektiven Akte - es ist vielmehr Widerstandsein gegen die urquellende Spontaneität, die in Wollen, Aufmerken jeder Art ein und dieselbe ist"IS (S.363). Da Wirklichkeit im Widerstand liegt, also bewußtseinstranszendent ist, so folgt, daß nicht Kontemplation, sondern "Arbeit an der Welt" "das Fundament ebensowohl aller pragmatisch bestimmter Wissensarten als auch des reinen und im ausgezeichneten Sinne philosophischen Wissens" ist (S. 282). Doch müssen wir allen drei Wissensformen gerecht werden, und für Scheler besteht die Hauptaufgabe der Wissenssoziologie darin, die Beziehungen zwischen ihnen und gesellschaftlichen Merkmalen und Strukturen zu untersuchen l6 . In Erkenntnis und Arbeit ist aber seine Perspektive eher historisch und diagnostisch als systematisch. Er betont, daß bisher die großen Kulturen die Wissens arten einseitig entwickelt haben (Indien: Erlösungswissen; China und Griechenland: Bildungswissen; das Abendland seit Anfang des 12. Jh.: das Arbeitswissen der positiven Spezialwissenschaften). Jetzt aber, schreibt Scheler, sei "die Weltstunde gekommen, da sich eine Ausgleichung und zugleich eine Ergänzung dieser einseitigen Richtungen des Geistes anbahnen muß. Unter dem Zeichen dieses Ausgleichs und dieser Ergänzung - nicht unter dem Zeichen einer einseitigen Verwerfung der einen Wissensart gegenüber der anderen und nicht einer ausschließlichen Pflege des jedem Kulturkreise historisch "Eigentümlichen" - wird die Zukunft der Geschichte menschlicher Kultur stehen" (S. 210). "J a, der Mensch könnte auch bei idealer Vollendung dieses positivwissenschaftlichtechnischen Prozesses als Geistwesen noch absolut leer bleiben - er könnte bis zu einer Barbarei zurücksinken, im Verhältnis zu der alle sog. Naturvölker "Hellenen" wären! Ja, da alles Arbeitswissen für menschliche Zwecke des Menschen als Vitalwesen dem Bildungswissen in letzter Linie zu dienen hat, ... - so wäre die wissenschaftlichsystematisch unterbaute Barbarei sogar die furchtbarste aller nur denkbaren Barbareien. Aber auch die "humanistische" Idee des Bildungswissens, ... muß sich der Idee des Erlösungswissens ihrerseits noch unterordnen und in letzter Abzweckung ihr dienen. Denn alles Wissen ist in letzter Linie von der Gottheit und für die Gottheit" (S. 211). Die "wissenschaftlich-systematisch unterbaute Barbarei" erinnert an Max Webers (unidentifiziertes) Nietzsche-Zitat zwanzig Jahre vorher: "Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben 17."
sie fordert zugleich Einschaltung jener begierdefreien Liebe zu dem Sein und Wertsein aller Dinge, die das Herrschaftsverhältnis durch ein neues, geistiges Grundverhältnis zu der Welt ersetzt (amor intellectualis). Sie fordert zugleich die geist- und seelentechnische Überleitung der Tiitigkeitsenergie, die im Herrschaftsverhältnis zur Natur verankert war. .. , in das Liebesverhältnis zur Natur, d. h. die oberste Bedingung jenes rein objektiven, der Sache selbst hingegebenen Verhaltens überhaupt, an erster Stelle des "rein" theoretischen Verhaltens" (S. 282)18. Wie anfangs betont, kann das Vorstehende Sehelers Untersuchung nicht gerecht werden. Diese Untersuchung hat ein rasches Tempo, ihre Gedanken überstürzen sich, doch ist sie gleichzeitig lose gefügt, voller Überraschungen, kurzum schwierig wovon die vorangehenden Seiten leider eher als von den anderen Merkmalen zeugen mögen. Seheler ist viel weniger diskursiv, als die ordnungsgemäße Anordnung von Zeilen vermuten läßt - weit mehr wie ein Sturzbach, der dazu alle Augenblicke seine Richtung ändert. Umso besser! Aber er macht dem Interpreten das Leben auch umso schwerer. Kein Wunder, daß er deshalb etwas viel Bescheideneres versucht: einen flüchtigen historischen Blick und eine soziologische Beobachtung. 1978 war das fünfzigste Todesjahr von Seheler, und ein Jahrhundert war vergangen, seit Charles Sanders Peirees Aufsatz "How to Make Our Ideas Clear" im J anuar 1878 in der Popular Scienee Monthly erschienen war. Es war der Aufsatz - wie Seheler bemerkt (S. 212) - , der nach William James den Pragmatismus in die Philosophie einführte. Das war zur Zeit eines ersten Fazits der Industrialisierung und des Kapitalismus, der fast 50 Jahre später, als Seheler seinen Aufsatz schrieb, sich nach Deutschland ausgebreitet und allgemein tiefgreifend entwickelt hatte; es war die Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Sehelers Bemühung, Wissensformen, die weitgehend in Vergessenheit geraten waren, wiederzubeleben, gleichzeitig aber die übergeschichtliche, ja überkulturelle Bedeutung des pragmatischen Wissens, das ja in der Beziehung des Menschen zu seiner Umgebung verankert ist, anzuerkennen, sollte heute, nach einem weiteren halben Jahrhundert, nicht weniger, sondern weit mehr Widerhall finden. Denn inzwischen kennen wir Reaktionen auf Atomphysik, besonders die Bombe, die drohende Erschöpfung von Rohmaterialien, einschließlich Luft und Wasser, und - womöglich sogar wichtiger als Agent der sozialen Wandlung, vielleicht sogar als Hoffnung - die fortschreitende Schwächung des Westens, der durch die übermäßige Bedeutung, die er der Ausbildung und Praxis des Herrschaftswissens gegeben, auch sein eigenes Grab gegraben hat. Das hat Seheler schon lange vor uns gesehen, und wir können seiner leidenschaftlich spürerischen Warnung noch immer folgen - müssen ihr weit dringender folgen, als es zur Zeit, da er sie ausrief, notwendig schien.
(1926); Gesammelte Werke, Band 8, hrsg. Maria Seheler, Bern und München 1960, S.193. Es ist merkwürdig, daß Seheler weder in Hannah Arendts Vita activa (Stuttgart 1960) noch in Jürgen Habennas Erkenntnis und Interesse (Frankfurt 1968), Büchern, deren Themen Sehelers so eng verwandt sind, erwähnt wird. 2 Wenn nicht anders vermerkt, beziehen sich Seitenzahlen auf das soeben angeführte Werk. 3 Max Seheler, Probleme einer Soziologie des Wissens (1924), in: Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 65-66. 4 Ebda., S. 29. 5 Manfred S. Frings, Einleitung des Herausgebers, S. VII-XXI (bes. XV-XVI), in: Max Seheler, Erkenntnis und Arbeit, Frankfurt a.M. 1977. 6 Max Seheler, Vom Ewigen im Menschen. Erster Band, Religiöse Erneuerung (1921), Zweite Auflage, Leipzig 1923 (Probleme der Religion (Zur religiösen Erneuerung» (1918?), 11. Die Wesensphänomenologie der Religion, 4. Wachstum und Abnahme der natürlichen Gotteserkenntnis, S.167-169. 7 Seheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, S. 26. 8 Auf dieses fast sicher unbeabsichtigte Wortspiel wies mich vor vielen Jahren Rainer E. Koehne hin, wofür ich ihm noch immer dankbar bin. 9 Georg Simmel, Aus dem nachgelassenen Tagebuche (Logos 8, 1919-20, S.121-151), in: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre, hrsg. von Gertrud Kantorowiez, München 1923, S. 4. 10 über "Bilder" vgl. Erkenntnis und Arbeit, S. 287. 11 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Max Scheler - der Verschwender (1974), in: Paul Good, Hrsg., Max Scheler im Gegenwartsgeschehen der Philosophie, Bern und München 1977, S.11-18, bes.17-18. 12 Die "Probleme einer Soziologie des Wissens", schreibt er (ebda., S. 17), "ist eine Rhapsodie". 13 "Funktionalisierte" er dieses Bestreben zu seiner Theorie der "Real-" und "Idealfaktoren", seiner übernahme der Unterscheidung zwischen "Real-" und "Kultursoziologie" und seiner Zuordnung des Erfordernisses einer Trieblehre zur ersteren einer Geisteslehre zur letzteren? Vgl. ebda., bes. S. 18-23. 14 Seheler, Probleme einer Soziologie des Wissens, S. 6l. 15 Noch ganz kurz vorher gab es noch Platz bei Seheler für "die absolut natürliche Weltanschauung"; sie "ist eine in der Philosophie deskriptiv zu beschreibende historisch-soziologisch unveränderliche ,Konstante', die sich freilich erst ergibt durch ein (schwieriges) Abschälen der in jeder konkreten Gruppenweltanschauung immer in sie hineingewebten ,echten' und ,lebendigen' Traditionen." Dagen sind .. 2. die ,relativ natürlichen Weltansehauungen ... das Kompositum von absolut natürlicher Weltanschauung plus lebendiger echter Tradition ... Sie sind weder historisch noch soziologisch konstant, sondern für alle Gruppeneinheiten, z. B. ,Kulturkreis', ,Nation', ,Volk', verschieden": "Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung", in: Moralia (1923), in: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, hrsg. Maria Seheler, Gesammelte Werke, Band 6, Bern und München 1963, S.15. 16 Vgl. Probleme einer Soziologie des Wissens, S. 69-190. 17 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904-05), in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 1920, S. 204. 18 Verbunden mit dieser allgemeinen Ansicht von Wissenschaft, Philosophie und ihrem Zustand zu seiner (und weitgehend unserer) Zeit ist Sehelers mehr spezifische Kritik der "wertfreien" Wissenschaft und Max Webers Auffassung davon. Vgl. Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung, S.l1, 12, 17; "Max Webers Ausschaltung der Philosophie (Zur Psychologie und Soziologie der nominalistischen Denkart)" (1921 oder 1922); Die Wissensformen und die Gesellschaft, S.430-438; und Maria Seheler, "Nachwort der Herausgeberin", ebda., S.481. über Sehelers Kritik, der modernen Wissenschaft s. William Leiss, The Domination of Nature, New York 1972, S. 88 und Chapter 5, "Science and Domination", bes. (über Seheler) S.103-119.
Die Soziologie des Wissens lebt von der These der sozialen Bestimmung ihres Gegenstandes. Die Reflexivität, die in diesem ihrem grundlegenden Axiom enthalten ist, erlaubt es, ja sie erzwingt es geradezu, die sozialen Hintergründe der Entstehung der wissenssoziologischen Problemstellung selbst zu thematisieren, wenn man sich ihr in ihren verschiedenen Modi nähern will. Denn oft wird erst durch die Berücksichtigung dieses Hintergrundes eine bisher nur als Fragment eines Denkens dastehende Konzeption mit Sinn erfüllt. Dies gilt besonders im Fall Max Schelers, dessen Soziologie des Wissens, aus diesem Zusammenhang herausgerissen, fast ausschließlich negative Aufnahme fand!, obwohl sie, wie im folgenden gezeigt wird, durchaus ein Forschungsprogramm darstellt, das weit über den Horizont der "traditionellen", der "Seinsverbundenheit" von Wissen nachgehenden Wissenssoziologie hinausgeht. Dieser Aufsatz stellt sich also eine doppelte Aufgabe: erstens, die Wissenssoziologie Schelers als eine Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme seiner Zeit zu betrachten, und zweitens, einige ihrer Konzepte zu skizzieren, die nur selten beachtet werden, zugleich jedoch für das oben erwähnte Programm zentral sind. Wenn wir dieses Programm eine wissenssoziologische Alternative nennen, gehen wir von der geistesgeschichtlichen Tatsache aus, daß es, aus welchen Gründen auch immer, eine andere Konzeption der wissenssoziologischen Problemstellung war - nämlich die Karl Mannheims, die am meisten Eingang in die Tradition soziologischen Denkens fand und so die Wissenssoziologie als eine Einzeldisziplin erstmals etablierte 2 . Sie ist bekannt und braucht im einzelnen nicht vorgestellt zu werden. Ein Vergleich der beiden Ansätze ist daher nicht primär das Thema des Aufsatzes. Im Laufe der Darstellung wird es jedoch stellenweise erforderlich sein, den Mannheimschen Ansatz zur Verdeutlichung der Position Schelers heranzuziehen. Das eigentlich Spezifische an der soziologischen Betrachtung des Wissens, wie sie sich in den ersten drei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in Deutschland entwickelte, war nicht so sehr die Idee seiner sozialen Bestimmung, sondern vielmehr die aus den zuendegedachten Konsequenzen dieser These resultierende theoretische Einstellung, die einerseits von der Einsicht der Generalisierung der Relativität aller Wissensgehalte, einschließlich derjenigen der Wissenschaft, gekennzeichnet, andererseits jedoch diese Relativität ins Positive zu wenden bemüht war, indem sie sie zur konstruktiven, systematischen Grundlage neuer Betrachtungsweisen der sozialen Realität machte 3 . Gewiß, dieses Problembewußtsein wurde, allgemein betrachtet, durch einen langen Prozeß der Relativierung des Denkens und seiner Geltung ermöglicht, der die Entwicklung der modernen industriellen Gesellschaft begleitet. Die einzelnen Stationen dieses Prozesses - der Bruch des universalistischen Weltdeutungsanspruchs der Religionen,
Wenn wir jedoch die diesem Problembewußtsein entsprungenen wissenssoziologischen Lösungsversuche richtig einschätzen wollen, müssen wir die Ebene allgemeiner Betrachtung verlassen und uns die soziale Situation vor Augen führen, in der sie gedacht wurde. Welche gesellschaftliche Relevanz - so wäre wohl zu fragen - hatte die wissenssoziologische Fragestellung im Deutschland jener Zeit und welchen Auftrieb erhielt sie dadurch? Wenn man eine Illustration für die These Max Webers vop der Entzauberung der Welt als dem Prozeß des Zerfalls der Lebensführung strukturierender Wertsysteme suchen würde, würde man wohl kaum ein besseres Beispiel finden als Deutschland vor und nach der Jahrhundertwende. Dem mächtigen Industriestaat, in dem das Bürgertum politische Selbständigkeit nicht erreichte und sich statt dessen an eine monarchistischmilitärische Staatsmacht anlehnte, fehlte somit eine Schicht, die sich in ihrer Werthaltung mit der von ihr in Gang gesetzten Industrialisierung und ihren Folgen identifizieren konnte s . Dieses Unvermögen galt nicht nur den negativen, aus der Vergesellschaftung resultierenden sozialen Folgen der Industrialisierung, sondern auch den Institutionen des Bürgertums, auf die es im Ausland seine errungene politische Macht stützte. Parlamentarismus und Liberalismus galten großen Teilen des deutschen Bürgertums als gleichermaßen unerwünschte Implikation kapitalistischer Gesellschaftsmodelle 6 . Die Betonung der "Innerlichkeit", das heißt der Ablehnung eines mechanistischen Utilitarismus als Handlungsorientierung zugunsten "geistiger" Werthaltungen, die in dem Gegensatz von bloßer Zivilisation und Kultur? zum Ausdruck kamen, drückt auf der Werthaltungsebene die Distanz zu der sich verändernden sozialen Wirklichkeit aus. Dieses Unvermögen der Identifikation ließ den Blick für die gesellschaftliche Dysfunktionalität der durchrationalisierten Betriebe frei, die auch diejenigen bedenklich stimmte, die die politischen Folgen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu akzeptieren bereit waren 8 . Die Skala der eher konservativen kritischen Einstellungen dem Kapitalismus gegenüber wurde von einer nicht minder bestimmten Kritik der linksgerichteten Gruppen flankiert. Es ergibt sich also das Bild einer Situation, in der der soziale Wandel nicht einmal von den Gruppen, von welchen er betrieben wird, als im Prinzip positiv gedeutet wurde. Die Veränderung der Gesellschaft durch Industrialisierung wurde einerseits in vielen ihrer Folgen abgelehnt, andererseits erzeugte sie natürlich Zwänge, die eine Anpassung der Handlungsorientierung erforderlich machten und einen Einstellungswandel nach sich zogen. Die gleichzeitige Koexistenz derart konträrer Sinnprovinzen im Rahmen einer und derselben sozialen Wirklichkeit begünstigte eine Vielfalt von Situationsdeutungen, deren einziger gemeinsamer Zug die Ablehnung des Vorhandenen darstellte, verbunden mit dem Verlangen nach einer sinnvollen und verbindlichen Wertordnung 9 . Der Enthusiasmus, den die Mehrheit der deutschen Bevölkerung und Intellektuellen beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges empfand, wird oft auf die Hoffnung auf die Überwindung dieser Krise zurückgeführt lO . Der Verlauf des Krieges veränderte jedoch diese Situation keineswegs. Die schon vor dem Krieg wohl bemerkbare Zersplitterung
der Gemeinschaft zivilisierter Nationen quasi ausgeschlossen wurde, wurden als zusätzliche folgenschwere Irritierung des nationalen Selbstverständnisses empfunden ll . Der Kritik der irrationalistischen Entwicklung von rechts und links, die dadurch gegebene Pluralität von Deutungsschemata, deren Wirklichkeiten sich kaum berührten, das durch den Kriegsverlust noch geschärfte Bewußtsein einer Gesellschaftskrise - das waren also die konkreten sozialgeschichtlichen Momente, die die Probleme markierten, welchen die deutsche Wissenssoziologie Rechnung zu tragen hatte. Die Ansätze Sehelers sowie diejenigen Mannheims reagieren auf diese Situation in zweifacher Hinsicht: Auf der einen Seite machen sie sie zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Studien 12 . Auf der anderen Seite jedoch sind sie bemüht, Konzeptionen zu entwickeln, die eine Möglichkeit der Überwindung des konstatierten Zustands aufzeichneten. Die Grundüberlegung, die das Modell des wissenssoziologischen Denkens dazu anbot, läßt sich etwa folgendermaßen skizzieren: Wenn alles Wissen sozialbedingt ist, dann läßt sich seine notwendige Relativität zeigen. Hiermit kann der Wahrheitsanspruch einzelner gruppenbezogener Deutungen in Frage gestellt werden, ohne daß eine Wertung des Inhalts erfolgen müßte. Dadurch wird der Weg zu einem alternativer, die Relativität des Wissens reflektierenden Entwurf der Wirklichkeitsinterpretation im Prinzip frei gemacht. In der konkreten Ausgestaltung der jeweiligen Alternative unterscheiden sich nun die Konzeptionen Sehelers und Mannheims derart, daß sie geradezu als zwei entgegengesetzte Typen gegeneinander abgegrenzt werden können. Schon die Ideenkonstellationen, von denen sie geprägt wurden - die durch Wilhelm Dilthey und Max Weber verfeinerte Affinität von Marx bei Mannheim einerseits und eine eigenartige Verbindung vitalistischer Lebensphilosophie mit Phänomenologie bei Scheler andererseits - , zeigen diese Differenz an. Sehelers Interesse an wissenssoziologischen Problemen entfaltete sich schon lange vor der Niederschrift seiner "Probleme einer Soziologie des Wissens". Es wäre sicher falsch, eine unmittelbare kausale Beziehung zwischen den sozialen Umständen und der Sehelerschen Konzeption zu konstruieren. Seine Werke zeigen jedoch klar, daß sein wissenssoziologisches Interesse, das einerseits von seinem philosophischen Werk her begründet ist, andererseits gerade auch durch die oben skizzierten sozialen Probleme mitgeprägt und entfaltet wurde 13 . Im Vordergrund seiner Betrachtung stand nicht die Tatsache der Seinsverbundenheit im Sinne der generellen These des Verhältnisses zwischen sozialem Wissen und Gesellschaftsstruktur. Seine philosophisch-anthropologischen Studien - und die daraus resultierende Konzeption des Menschen als eines vital-geistigen Wesens - führten ihn jedoch schon bald, von einer anderen Perspektive her, nicht nur zu der Erkenntnis der Verwurzelung der Wissenskonstitution im sozialen Bereich, sondern sie ermöglichten es ihm auch, die Pluralität der Zugänge zur Realität, auf denen der Wissensaufbau basiert, samt ihrer Einbettung in soziale Milieus zu erfassen 14. An der gesellschaftlichen Lage seiner Zeit werden für ihn daher vor allem: die Entstehung, die Struktur und die soziale Wirksamkeit von Deutungsschemata der so-
Spezifika nicht nur im kognitiven, sondern auch im emotionalen und volitiven Bereich liegen. Die Analyse der bürgerlichen Ressentiments zeigt klar die Diskrepanz zwischen dem auf innerweltliche Askese hinorientierten Wertschema der Bürger und ihren sich im praktischen Handeln niederschlagenden Folgen: "Wozu schließlich", so fragt Seheler, "die endlose Herstellung angenehmer Dinge, wenn der Typus, der sich darin verzehren muß, sie herzustellen, und der sie besitzt, derselbe ist, der sie von Hause auch nicht genießen kann; und der, der sie genießen könnte, sie nicht besitzt? 16." Die Grenzen der Rationalität des kapitalistischen Wirtschaftens werden hier sichtbar und damit für Seheler auch die Grenzen der auf diesen kognitiven Stil fundierten Lebensführung. Er bezweifelt, daß eine Gesellschaft, deren Entwicklung auf Herrschaftswissen beruht, das heißt auf einem Wissen, welches durch die Mittel von Wissenschaft und Technik die Beherrschung von Natur und Gesellschaft intendiert, bei der Beibehaltung dieses Erkenntnisstils überhaupt eine "Lebenstechnik" generieren könnte, die eine Lebensführung ermöglichte, welche der oben skizzierten Diskrepanz nicht ausgesetzt wäre. Die Vernunft, insofern sie sich in dem aufklärerischen Anspruch manifestiert, durch rationelle Organisation des gesellschaftlichen Handelns eine vernünftige, d. h. menschlichen Bedürfnissen adäquate Lebensweise hervorzubringen, hebt sich in diesem Sinne für Seheler durch den Prozeß ihres gesellschaftlichen Realwerdens selbst auf 1? Dieser Auffassung entsprechend fällt auch Sehelers Entwurf alternativer Lebensformen aus. Seine Begründung geht auf seine philosophische Anthropologie zurück und wird wissenssoziologisch in der Analyse der Wesensformen des Wissens (d. h. des religiösen, des metaphysischen und des wissenschaftlich-technologischen) und ihrer sozialen Funktion konkretisiert 18 . Sehelers Konzeption des Menschen stellt diesen als ein Wesen vor, dem mannigfaltige Möglichkeiten des Zugangs zur Realität, der Wissenskonstitution und daher auch der entsprechenden Lebensführung offenstehen, die verschiedene kulturelle Ausprägung erfahren können. Die der Sehelerschen Menschenauffassung zugrundeliegende vital-geistige Existenzweise des Menschen impliziert, daß der menschliche Zugang zur Wirklichkeit sich nicht nur durch rationelles Urteilen vollzieht, sondern daß der Mensch die Welt ebenso als ein leibliches, fühlendes und qualitativ wertendes Wesen erfährt. Das Werten, "die Wertnahrne" , ist für Seheler untrennbar mit allen menschlichen Akten verbunden, gleichgültig, ob sie der geistigen oder der vitalen Sphäre angehören. Der Akt des Wertens, der für die Wissenskonstitution somit wesentlich wird, vollzieht sich in zwei Phasen: dem Werterkennen und dem Wertvollziehen. Damit ist nun eine zweite Annahme verbunden, in der die Sehelersche Version der Seinsverbundenheit des Wissens zum Ausdruck kommt. Sehr vereinfacht könnte sie auf den Grundsatz gebracht werden, daß jedem Erkenntnismittel ein korrespondierender Gegen~tandsbereich entspricht, der in seiner unmittelbaren Gegebenheit erfaßt werden kann. Dinge sind demnach keine Rekonstruktionen des Verstandes. Ihre Objektivität verschwindet also durch den Vollzug des sie intendierenden Aktes nicht. Nachdem der Mensch kein ausschließlich intellektuelles Wesen ist, sondern immer auch ein leiblich-vitales, ist er auch als ein Individuum in einer bestimmten Umwelt, einem bestimmten Mi-
Gegebenen durch die menschbezogene Selektion des Seienden nicht aufgehoben werden kann. Selbstverständlich ist der Mensch nicht an seine Umwelt tierartig gebunden, sondern er kann sie als geistiges Wesen transzendieren. Diese seine Freiheit geht auch in die milieubildende selektive Beziehung zur Wirklichkeit ein. Die Objektivität der Aktkorrelate, das heißt, auch der zu erkennenden Werte, geht jedoch dadurch nicht verloren, sie bleibt aber auf den Geltungsbereich der Akte beschränkt 19 . Die Breite der Modi des menschlichen Zugangs zur Welt macht also auch die Möglichkeiten der menschlichen Welt aus. Der phänomenologische Ansatz und das dort entwickelte Verfahren der phänomenologischen Reduktion erlauben Scbeler die Annahme der prinzipiellen Konstruierbarkeit eines Wesenszusammenhanges, in dem die jeweiligen Zugangsmodi mit ihren Sinnhorizonten und ihren gegenständlichen Korrelaten ihrer Möglichkeit nach stehen müssen20 • Diese Wesensstruktur, die keinen Anspruch auf Faktizität erhebt, bezeichnet das Universum spezifisch menschlicher Möglichkeiten und trägt die Bestimmung des Wesens des Menschen in sich. Von dieser Vorstellung eines dem Menschen wesentlich eigenen Universums von Möglichke~ten ausgehend, betrachtet Scbeler nun die selektive Realisierung dieser Möglichkeiten in verschiedenen Kulturen und historisch konkreten Gesellschaften. In seiner Wissenssoziologie grenzt er bekanntlich die drei kulturell real gewordenen Typen der Wissensformen ein, die als verschiedene Ausgestaltungen des Weltzugangs jeweils ganz andere soziale Welten implizieren. Sein Beharren auf der Relevanz philosophischer Erkenntnis für die Erfassung menschlicher (d. h. schon immer sozialer) Realität, welches ihm oft als Einführen unwissenschaftlicher Verfahren in die Soziologie vorgeworfen wurde, macht ihm den Blick für eine nicht eurozentrische Betrachtungsweise frei. Seine Kritik an der "entmenschlichten" Wirklichkeit des Kapitalismus hat mit derjenigen des jungen Marx daher denselben Ausgangspunkt: die Annahme eines der universellen Entfaltung fähigen Menschen, der durch "falsche Wirklichkeit" an dieser Entfaltung gehindert wird. Die Erkenntnissysteme und die Lebensführungen, in die sie eingebettet sind, gelten Scbeler als prinzipiell gleichwertig. Eine revolutionäre Reihung Comtescher Art, an deren Spitze die positive Wissenschaft steht, lehnt Scbeler ab mit dem Hinweis auf die Relevanz außerprädikativer, emotional gelagerter Erfahrung für die Wissenskonstitution auf der Ebene der individuellen Wissenssysteme einerseits und auf die Wichtigkeit der religiösen und metaphysischen Erkenntnissysteme auf der Ebene des Kulturwissens andererseits21 • Vor diesem Hintergrund ist die Scbelersche Forderung nach alternativen Lebenstechniken zu verstehen, die dem Erkenntnisstil der Rationalität des Herrschaftswissens nicht folgen und andere Werthaltungen realisieren, die die Priorität der Aufrechterhaltung lebenswichtiger Werte, unter anderem auch ökologischer Art, betonen und in den Vordergrund stellen22 . Diese Lebenstechniken sieht er vor allem in Kulturen realisiert, die - wie die asiatischen - von Werthaltungen gekennzeichnet sind, die der Universalität der menschlichen Geistes- und Lebenswerte mehr Rechnung tragen als die westliche. Scbeler hält es für möglich, daß die Lebensfeindlichkeit der
der Basis hat eine sinnvolle Legitimation dieser Entwicklung im Überbau unmöglich oder wenigstens sehr problematisch gemacht, so daß sich nur noch in dem Versuch, sich durch alternative Lebensweisen dieser Basis zu entziehen, eine Lösung anbietet. Für diese Alternativen, die eine immer umfassender werdende technologische Beherrschung von Natur und Gesellschaft als eine Bedrohung des Lebens in Frage stellen, fordert Seheler Toleranz, von ihrer Entwicklung erwartet er einen Ausgleich der lebensfeindlichen Tendenz in der Werthaltung moderner Gesellschaften 24 • In einer ganz anderen Richtung entwickelt sich die Lageeinschätzung und die entsprechende Lösungsskizze Mannheims. Auch Mannheim stellt eine Irrationalität in der Entwicklung industrieller Gesellschaft fest. Für ihn besteht sie jedoch großenteils in der Diskrepanz zwischen dem Rationalitätsgrad, den die gesellschaftliche Struktur in ihrer Organisation objektiv erreichte, und demjenigen der dieser Struktur entsprechenden Denkstandpunkte 25 . Zwischen der Basis und dem Überbau besteht also ein culturallag, das durch die Entwicklung entsprechender wissenschaftlicher (und vor allem sozialwissenschaftlicher) Mittel zum Ausgleich dieser Diskrepanz zu überbrücken ist 26 • Die Wissenssoziologie stellt eines dieser Mittel dar, dessen Aufgabe es ist, die Seinsverbundenheit und somit die Partikularität der Denkstandpunkte aufzudecken, ihr Zustandekommen transparent zu machen und so die Voraussetzungen für ihre höhere Rationlität zu schaffen. Somit wäre dann der Weg zu einer rationell geplanten Gesellschaft offen, in der durch die Entwicklung und zweckmäßige Anwendung von Sozialtechniken irrationale Handlungsweisen, die die an sich rationelle Organisation der Industriegesellschaft und ihrer gesellschaftlichen Institution mißbrauchen könnten, vermieden werden sollen27 • In bewußter Opposition zu der "konservativen" Kritik der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die auch Seheler vertritt - wenn man hier die in Mannheims Studie über das konservative Denken aufgestellte Unterscheidung anwenden darf28 - , entscheidet sich Mannheim für eine Lösung, die den Rationalitätsanspruch der Aufklärung aufrecht erhält. Die Perspektive, in der er Möglichkeiten für diese Lösung sieht, ist also eine durchaus kulturimmanente. Das vorgeschlagene Verfahren folgt dem Denkstil positiver Wissenschaft und besteht in der Perfektionierung vorhandener Möglichkeiten. Stellt man die beiden Konzeptionen nebeneinander, wird nicht nur klar, daß sie jeweils einen von ganz unterschiedlichen Prämissen getragenen Denktypus darstellen, sondern es zeigt sich auch, wie vorsichtig das Verteilen von Prädikaten wie "konservativ" oder "emanzipatorisch" gehandhabt werden muß. Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß gerade die von dem Marxschen Erbe herrührende Affinität zu dem Vernunftideal der Au fklärung 29 , die sich in dem Lösungsvorschlag und vor allem in der Methode Mannheims niederschlägt, ihm eine Beachtung unter den Soziologen verschaffte, die Seheler in diesem Ausmaß verwehrt blieb. Obwohl Sehelers Verfahrensweisen keineswegs nur derartigen Wegen folgen und daher auch manchem Vorurteil ausgesetzt waren und sind 3o , ist seinem Werk ein wissenssoziologisches Programm von erheblicher Bedeutung zu entnehmen. Sehelers mögliche
heit des Wissens und der Art seiner Fundierung in der sozialen Wirklichkeit, die Scheler sich in seinen Werken zu eigen macht. Um die darin bestehende "Alternative" aufzuzeigen, wollen wir folgende Fragestellung verfolgen: Eine wissenssoziologische Untersuchung muß von der Sozialität des Wissens ausgehen. Wie aber entsteht Wissen als Soziales? Welcher Art ist diese Sozialität, in der das Wissen wurzelt, und wie kommt es zu dieser Verwurzelung selbst? Gehen wir zuerst kurz der Konzeption des "Sozialen", mit dem das Wissen seinsverbunden ist, bei Mannheim nach. Mannheim spricht von Gesellschaftsstruktur, von sozialgeschichtlichem Prozeß, der in die Konstitution verschiedener Denkstandorte hineinragte, und ihre Aspektstruktur, das heißt, ihr Relevanz- und Deutungsraster, konstitutiv bestimmt31 • Sozialen Schichten kommen so bestimmte geistige Schichten zu, Denkstile haben ihre sozialen Träger, die Klassen, deren Trägerschaft zu enthüllen und zu untersuchen ist 32 . Die soziale Gebundenheit des Wissens, seine Seinsverbundenheit also, stellt für Mannheim eine Tatsache, eine "Faktizität" dar, die an empirischen Beispielen, etwa durch den Nachweis variierender Begriffsbedeutung bei verschiedenen sozialen Trägern, zu belegen ist 33 • Die Aufgabe der Wissenssoziologie besteht also in einer Schritt für Schritt-Rekonstruktion des Zusammenhanges vom jeweiligen Denkstil und seinem sozialen Standort in seiner historischen Entwicklung 34 • Das Wissen, das auf diese Art und Weise in den Blickpunkt gerät und von der Wissenssoziologie als_ 'Gegenstand intendiert werden kann, muß daher eine sozial-geschichtlich umgrenzbare Gestalt haben, d. h. ein "ideologisches System" darstellen. Nur solches Wissen, Mannheims empirische Studien zeigen es, ist für seine Soziologie faßbar. Hier ergibt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen dem radikalen Anspruch der These von der Seinsverbundenheit des Wissens und ihrer wissenschaftlichen Aufführung bei Mannheim. In aller Konsequenz gedacht besagt die These, daß alles menschliche Wissen sozialen Ursprungs ist. Eine Soziologie des Wissens sollte sich also nicht damit begnügen, diverse Ideologien auf ihren sozialen Ursprung hin zu befragen, sondern die soziale Konstitution des menschlichen Wissens als ein grundlegendes soziologisches Problem thematisieren, daß heißt, die "Faktizität" seiner Seinsverbundenheit auf ihr Zustandekommen befragen. Daß Mannheim dies unterläßt, ist wohl vor allem auf seine Orientierung an dem Marxschen Theorietypus zurückzuführen, dessen bis heute ungelöstes Problem es ist, gerade die "Vermittlung" zwischen dem Prozessieren der Basis und der Bewußtseinskonstitution im Überbau nachzuzeichnen 35 • Einen Versuch in der Richtung, dieses Defizit zu kompensieren, stellen bei Mannheim wohl die "principia media" dar, also die Faktoren, die als Auswirkungen des gesellschaftlichen Gesamtprozesses die einzelnen sozialen Bereiche in ihrer geschichtlichspezifischen Konfiguration bestimmen36 . Doch auch mit dieser Konstruktion versucht Mannheim nicht, Faktoren herauszuarbeiten, die für die Orientierung des Handelns in bestimmten Situationen spezifisch sind - wobei die Vermittlungsfrage immer noch offen bliebe -, sondern vielmehr eine Art von Zwischenbegriffen zu entwickeln, die aus der Perspektive des Forschers jene Schritt für Schritt-Rekonstruktion der Seins-
das Problem der sozialen Konstitution des Wissens selbst, entzieht sich seinem wissenschaftlichen Blick. Wenn wir nun die von Seheler angenommenen Grundbeziehungen zwischen Wissen und Gesellschaft mit dem Problemverständnis Mannheims vergleichen 37 , zeigt es sich, daß sie eigentlich nur in einem Punkt übereinstimmen, der gleichzeitig auch die Mannheimsche Problemstellung ausschöpft: nämlich in der Annahme, daß alles Wissen in irgendeiner Weise zum gegebenen Zeitpunkt das Sosein der Gesellschaft bestimmt und, noch wichtiger, daß eine der Grundbeziehungen von Wissen und Sozialem in der Verankerung der Konstitution von Wissen und Verstehen in sozialen Gruppen besteht. Wir sehen, daß die wissenssoziologische Intention Sehelers von der oben skizzierten radikalen Interpretation der These von der Seinsverbundenheit ausgeht und sich auf das Problem des sozialen Ursprungs von Wissen richtet. Dementsprechend wird auch die Ausgangsebene der Untersuchung wesentlich tiefer angesetzt. Unter Wissen wird alles soziale Wissen in allen seinen, also auch täglich amorphen Formen verstanden. Es wird als in Gruppen hervorgebrachtes intersubjektives Wissen betrachtet, womit die Bedingungen seiner intersubjektiven Verstehbarkeit mitthematisiert werden. Seheler schlägt also vor, beim Aufbau einer Wissenssoziologie die Konstitutionsproblematik des sozialen Wissens in den Vordergrund zu stellen, wobei den Problemen der Entwicklung von individuellem Wissen aus Gruppenwissen und der sozialen Genese des intersubjektiven Bezugs von Handelnden besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist 38 • Daran ist zu ersehen, mit welcher Radikalität die Sehelersche Fragestellung ansetzt: Wenn nämlich die Entstehung von individuellem Bewußtsein erst auf der Basis der Sozialität möglich ist, dann sind alle Bewußtseinsformen einschließlich der Kategorien im Kantschen Sinne sozial fundiert und daher im geschichtlichen Wandel begriffen 39 • Nicht nur bestimmte Deutungsschemata, sondern das Wissen selbst als die erlebend-erfahrende Existenzweise des Menschen in der Welt ist in seinem Ursprung sozial. Diese Auffassung schließt also sowohl die soziale Selektion der Wissensgehalte als auch die soziale Bestimmung der Modi ihrer Hervorbringung ein. Mit welchem Inhalt erfüllt nun Seheler sein Programm? Es geschieht nicht primär in der Lehre von den Real- und Idealfaktoren, die oft als "die Wissensoziologie" Sehelers gilt. Diese bezieht sich auf die eine Seite dessen, dem eine soziologische Behandlung vom sozialen Wissen nachgehen muß: nämlich auf die kausalen, das Sosein einer Gesellschaft letzten Endes bestimmenden Kräfte, die in dem Bewußtsein der Menschen nicht präsent zu sein brauchen. Diese Sehelersche Konzeption ist wohlbekannt und wurde oft kritisch diskutiert. Unser Interesse gilt hier jedoch vielmehr der anderen Seite des Problems, die Seheler für ebenso wichtig hält. Damit nämlich die Betrachtung der Bestimmung des Wissens durch soziale Struktur nicht einseitig bleibt, ist es für Seheler ebenso notwendig, die Beziehungs- und Verbindungsformen zwischen den Menschen in ihrem Erleben, Wollen, Handeln und Verstehen zu untersuchen, in welchen sich erst jene objektiven Faktoren als Wissen realisieren und auswirken können 40 . Die Untersuchungen Sehelers zu diesem Thema finden wir, wie er uns mitteilt 41 , nicht nur auf
tion sozialen Wissens kurz darzustellen: Den Ausgangspunkt des Sehelerschen Entwurfs stellt auch hier seine Auffassung des Menschen dar, als eines vital-geistigen, also eines sowohl in seinem natürlich leiblichen Sein bestimmten als auch kraft seines intellektuellen Vermögens freien Wesens. Als einem solchen ist ihm, wie wir sahen, eine Vielfalt von Realitätszugängen emotionaler, leiblich-sinnlicher und kognitiver Art eigen, die gleichermaßen für sein Wissen konstitutiv sind. Die Erfassung der Realität ist also für Seheler keineswegs primär ein rationeller Erkenntnisprozeß, sondern sie setzt schon auf der Ebene des präreflexiven emotionalen und leiblichen Wertbezuges ein, in dessen Rahmen schon immer eine "Wertnahrne" erfolgt, das heißt, eine qualitätsorientierte Einstellung des aus seiner Umwelt heraus handelnden Menschen, die das rationale Erkennen wesentlich mitbedingt. Eine derartige Erweiterung der Betrachtungsperspektive stellt eine wesentliche Annäherung an die reale Situation des in der relativ natürlichen Einstellung Handelnden dar. Die phänomenologische Vorgehensweise erlaubt es Seheler hier, die höchst flüchtigen Phänomene des emotionalen und leiblichen Erlebens zum Gegenstand seiner Untersuchungen zu machen42 , die sonst nur als Randbedingungen der Wissenskonstitution betrachtet werden, denen aber trotzdem evidenterweise ein erhebliches Gewicht zukommt43 • Das Fühlen, einer der intentionalen Akte, durch die dem Menschen seine Wirklichkeit wesentlich gegeben ist44 , stellt für Seheler auch diejenige Beziehung dar, in der die Sozialität des Menschen ursprünglich fundiert ist. Die zuerst emotionale Einbindung des reifenden Individuums in der Familie, die Gruppe, bzw. die Zweierbeziehung, die Seheler als einen der Fälle der Einsfühlung analysiert 45 , stellt eine Evidenz der Fremderfahrung her, die keines "Analogieschlusses" bedarf. Viel wichtiger in diesem Zusammenhang ist es jedoch, daß Seheler diese Einbindung als die tragende Beziehung der Übernahme von Wertungen und somit als die Voraussetzung zur Herausbildung von Wir-Bewußtsein bestimmt. Unter Wir-Bewußtsein wird hier ebenso wenig nur ein tradiertes System von Normen verstanden, wie hier unter Wertung der Vollzug von Werturteilen verstanden werden darf. Wertung bedeutet hier eine Selektion und daher eine deutende, also eine sinnproduzierende Einstellung zur Realität in allen für die Gruppe relevanten Bereichen einschließlich der Kleidungs- und Tischsitten einerseits und der Unterscheidung von Gut und Böse andererseits46 . Das Wir-Bewußtsein ist daher analog als der Besitz dieses Wissens zu verstehen, welches das Individuum zuerst mit der Identität eines Gruppenmitglieds ausstattet. Erst gegen diese Basis kann sich individuelles Bewußtsein, Selbstbewußtsein als Eigenständiges abheben und individuelle Identität entstehen lassen 47 • Das Wissen eines Individuums von sich selbst, von der Realität und von dem Umgang damit ist also das Produkt seiner Sozialität par excellence. Näher beleuchtet Seheler die Genesis des als Wir-Bewußtsein erworbenen "Traditionswissens" in seiner Beschreibung der Milieubildung48 • Der Milieubegriff, der - wie wir sehen - ursprünglich aus der Umweltlehre Uexkülls bezogen wird, hat für Seheler hier eine menschlich-spezifische Bedeutung, die auf ihrer untersten Ebene gleichzeitig die anthropologische Fundierung der Sozialität berührt. Der Mensch, der sich auf Grund
mit sich trägt, die zu bewältigen ist49 . In der anthropologischen Perspektive erscheint die Milieubildung auf sozialer Ebene als die spezifisch menschliche Art dieser Bewältigung. Unter Milieu versteht Sehe/er nun die durch Wertnahme erfaßte, also als wirksam erlebte Wirklichkeit, in der sich das Handeln und Wollen des in der relativ natürlichen Weltanschauung lebenden Individuums vollzieht. Es kann also - um mit Alfred Schütz zu sprechen - als ein Schema von Relevanzen vorgestellt werden, das die Interessen und Bedürfnisse des Individuums in bestimmte Richtung lenkt und ihm gleichzeitig bestimmte Techniken und Praktiken sowie eine Auswahl von Objekten für ihre Befriedigung bietet, das heißt, die "chaotische" Umwelt mit Sinn besetzt. Konstituierend für dieses Schema ist das Erlernen und - ebenso wichtig - das handelnde Befolgen SO der "Zeigefunktion" bestimmter Erlebnisse. Das "Erlernen" bedeutet nicht einen Wissenserwerb im Sinne expliziter Mitteilung von Normen und Werten. Es erfolgt vielmehr im "Vollzug des Handelns", also in der Interaktion, in der Handlungsregeln und ihre Anwendung "als erfüllt oder verletzt erlebt werden und erst in diesen Erlebnissen überhaupt zu Gegebenheit kommen"Sl. Entscheidend für die Milieubildung ist daher nicht nur der wertend-selektierende Bezug auf die Welt, sondern auch die Realisierung der Wertung im Handeln, die erstens das Erlernen von Handlungsregeln ermöglicht, zweitens jedoch die Regeln überhaupt als materiell erscheinen läßt. Milieus im Sehelerschen Sinne sind also immer mit der sozialen Praxis der sie tragenden Gruppe verbunden. Damit wird erneut der soziale Bezug der Wertung sichtbar, denn die unter Milieu verstandene, als wirksam erlebte Wirklichkeit variiert selbstverständlich nach Art der Gruppe. Die "Zeigefunktion" von Erlebnissen, ihre Sinnbesetzung also, die auf diese Art zustandekommt, überzieht das Erleben des einem Milieu angehörenden Individuums sozusagen mit einem Sinnmantel, der alle Erlebnisse einhüllt, gleich ob sie emotionaler, sinnlicher oder kognitiver Art sind. Es gibt daher für Seheler in diesem Bereich kaum Akte und ihre Gegenstände, die nicht bereits sozial bestimmt, also mit Sinn besetzt wären. Schon auf der Ebene des einfachen "Sehens", "Hörens", "Spürens" etc. setzt die soziale Bestimmung des Wissens ein und reicht bis zu der Gestaltung der kognitiven Akte hin und der Auswahl ihrer Gegenstände. Milieus weisen so auch eigene Erlebnis- und Denkstile auf, die von ihren Trägern nicht einfach abgelegt werden können, sondern zum Habitus werden 52. In dem Konzept der Milieubildung legt Seheler also ein generalisierbares Modell vor, das ihm den Zusammenhang von Wissenskonstitution, Interaktion und konkreter sozialer Umwelt zu rekonstruieren ermöglicht, wobei der Totalität der sozialen Wissensbestimmung dem Inhalt und der Form nach, wie sie sich für Seheler aus seinen philosophisch-anthropologischen Untersuchungen ergibt, vollends Rechnung getragen wird 53 . Der Prozeß der Milieubildung muß auch unseres Erachtens als die Grundlage für die Konstitution dessen betrachtet werden, was Seheler die "relativ natürliche Weltanschauung" nennt 54 , und zwar insofern, als dieser Weltanschauung alles angehört, was
funden wird"ss. Im Gegensatz zum Milieu versteht Seheler unter den relativ natürlichen Weltanschauungen "Sinnuniversa", die mehrere Wissensformen mit jeweils eigenen Erlebnis- und Erkenntnisstilen einschließen, für welche sie gleichzeitig einen Sinnhintergrund abgeben. Auf dieser Ebene reicht die unmittelbare Interaktion selbst als Träger des Wissenserwerbs nicht aus, sondern es müssen andere Mittel der Wissenstradierung aufgezeigt werden. Außer Mythos und Sage spielt hier die Sprache eine wesentliche Rolle 56 . Das in der Untersuchung der Milieubildung sichtbare Konzept des unmittelbaren, durch den Handelsvollzug erfolgenden Wissenserwerbs scheint jedoch auch hier seine Relevanz zu erhalten. Die natürliche Volkssprache wird nicht als bloßes generalisierbares System von Zeichen verstanden, in dem Wissen kommuniziert werden kann. Sie wird vielmehr selbst zum inhaltlichen Wissensträger, indem ihre Ausdrücke ein implizit mitgegebenes Wissen enthalten57 . Dementsprechend zeichnen sich auch die auf dem Boden der relativ natürlichen Weltanschauung entstehenden Wissensarten der Religion, der Philosophie, der Wissenschaft und der Technologie durch spezifische Sprachstile aus, die ihrem Erkenntnisstil, ihrem Gegenstand sowie den für sie charakteristischen Bedingungen der Wissenstradierung angemessen sind 58 . Die Bedeutung, die Seheler der Einwirkung der den verschiedenen Wissensformen eigenen Erkenntnisstile auf die jeweiligen Lebensführung von Individuen beimißt, haben wir schon eingangs kennengelernt. Seine Annahme der den Erkenntnisstilen entsprechenden Lebenstechniken und Zielen korrespondiert deutlich mit den aufgrund der Milieuanalyse erarbeiteten Auffassungen, die so das konkretisierende Kettenglied liefern, das den Prozeß der Vermittlung zwischen sozialem Milieu, Bewußtseinsform und Handeln anschaulich macht 59 • Es ist jedoch nicht nur die aufgezeigte Lösung des Vermittlungsproblems, die hier interessiert. Die Durchführung der Untersuchungen und die Richtung, in die sie gehen, legen ein neu es Verständnis der wissenssoziologischen Forschung an den Tag und stellen so die Wissenssoziologie auf einen neuen Boden. Welche programmatischen Konsequenzen ergeben sich nun aus dem Sehelerschen Entwurf der Wissenskonstitution für die Entwicklung einer Soziologie des Wissens? In welche Richtung weist seine Alternative? Vor allem scheint sie von der Vorstellung der Wissenssoziologie als einer Einzelwissenschaft wegzuführen zugunsten einer interdisziplinären Betrachtungsweise, die der Mannigfaligkeit der konstitutiven Aspekte sozialer Wissensgenerierung Rechnung trägt und über den Rahmen der Untersuchung ihres gesellschaftsstrukturellen und sozialgeschichtlichen Hintergrundes hinausgeht. Die von Seheler aufgezeigte Notwendigkeit, den Zusammenhang zwischen den anthropologischen und sozialen Bedingungen der Wissenskonstitution zu erforschen, hinter der die Erkenntnis des Fundierungsverhältnisses von Sozialität und der sich aus der vital-geistigen Existenzweise des Menschen ergebenden Vielfalt der menschlichen Zugänge zur Realität steht, führt uns anschaulich vor Augen, daß die soziale Bestimmung des Wahrnehmens und des Fühlens die Gegebenheitsweise der Realität wesentlich prägt und auf diese Art und Weise das handelnde Individuum in wahrhaftig verschiedene
auch für die entsprechenden psychologisch und naturwissenschaftlich orientierten Forschungen offen, die diese Phänomene im obigen Zusammenhang thematisieren. Sehelers Verdienst bleibt es, gezeigt zu haben, daß die soziale Bestimmung der Hervorbringung von Wissen auf bestimmte anthropologische Bedingungen zurückgeht, so daß die etwaigen soziobiologischen Forschungen die Soziologie nicht unvorbereitet antreffen. Ebenso macht die Sehelersche Auffassung des sozialen Wissenserwerbs in der Gruppe, wonach die Herausbildung des die Wir-Identität fundierenden Wissens der Konstitution des Ich-Bewußtseins zuvorgeht, die wissenssoziologische Fragestellung nicht nur mit den Untersuchungen in dem gesamten Bereich der Soziologie der Gruppen, der Familie, der Sozialisationsforschung usw .. Dies zeigt klar, daß die Wissensoziologie nicht als eine Einzeldisziplin bestehen kann, sondern daß es einer Pluralität von soziologischen Betrachtungsperspektiven bedarf, um das Phänomen des sozialen Wissens soziologisch in den Griff zu bekommen. Sehelers multikulturelle Betrachtungsweise, in der die Pluralität der Deutungsschemata und ihrer Erkenntnisstile betont wird, sowie sein Entwurf von Konzepten, die diese Vielfalt auf bestimmte gemeinsame Strukturen menschlichen Handelns zurückführen, erfordern geradezu die Einbeziehung der kulturanthropologischen Forschung in das Spektrum der Perspektiven, die zur Klärung der Konstitution von sozialem Wissen beizutragen vermögen. Dies einerseits, indem sie den verschiedenen Erkenntnisstilen nachgehen und so die Konstitution von kultur- und gruppenspezifischen Milieus konkret nachvollziehen, andererseits, indem sie die Möglichkeit liefern, anhand solchen Materials jene gemeinsame Struktur der Wissensbildung nachzuprüfen. Letztendlich ist auch auf die Bedeutung von sprachorientierten Untersuchungen hinzuweisen, die aus der Sehelerschen Betonung der Sprache als eines Wissensträgers resultiert. Diese Perspektiven stellen keine bloße Aufzählung von möglichen Forschungen dar, zu welchen die Sehelersche Konzeption als Inspiration dienen könnte. Alle diese Perspektiven hat Seheler in sein Werk mehr oder minder systematisch eingearbeitet 60 , so daß sie in immanenter Beziehung zu seiner Auffassung der Wissenssoziologie stehen als einer Wissenschaft, die sich den sozialen Ursprung alles Wissens zum Gegenstand gemacht hat. Es wird also deutlich, daß das Ziel der Bemühungen Sehelers nicht eine sozialwissenschaftliche Disziplin darstellt, die die Relativität des an seine sozialen Träger gebundenen Wissens thematisiert, sondern eine vor dem anthropologischen Hintergrund zu entwickelnde Wissenschaft von der Konstitution des Wissens, die gleichermaßen die gesellschaftlichen, sozialgeschichtlichen und kulturellen Rahmenbedingungen sowie die kognitiven, volitiven, sinnlichen und emotionalen Konstitutionsprozesse des Wissens selbst in ihrer sozialen Einbindung untersucht. Somit wird die Genese des sozialen Wissens in der Vielfalt ihrer kulturellen, sozialen, anthropologischen, psychologischen und sprachlichen Aspekte zum Untersuchungsgegenstand. Der Zusammenhang der Natur- und Kulturbestimmung des menschlichen Zugangs zur Welt - zur menschlichen Wirklichkeit also - gerät so in einer eigenartigen Art und Weise in den Blick:
zogenheit immer schon in Sozialität eingebettet. Sozialität bedeutet allerdings immer auch eine Perspektivität des Wissens, die nicht einfach auf der naturbedingten Selektivität der Sinnesorgane beruht, sondern das Resultat eines Interaktionsprozesses darstellt, in dem das gruppenspezifische Welterleben und -erfahren hervorgebracht wird. Sie ist sozusagen die Quelle der Varietät der menschlichen Perspektiven und somit auch der Ort, an dem sich auch die Freiheit des Menschen als eines geistigen, d. h. der Transzendierung des Gegebenen fähigen Wesens im Sehelerschen Sinne realisiert. Die Sozialität des Wissens wird also zum spezifischen Rahmen, in dem sich dem Menschen der Zugang zur Welt erschließt, sie wird sozusagen zur conditio humana. Die strukturelle Erfassung dieses Zusammenhangs, die Seheler - wie gezeigt - ansatzweise versucht, stellt die Grundlage dar, von der aus das Problem der Seinsverbundenheit und der Sozialität des Wissens neu formuliert werden konnte. Zu fragen bleibt noch, inwiefern diese breit angelegte Konzeption mit Leben erfüllt wurde. Wer die unmittelbare Wirkung Sehelers betrachtet, eines Gelehrten, der ohne eigene Schüler blieb, wird geneigt sein, dies zu verneinen 61 . Und doch erfuhr seine anthropologisch-soziologische Konzeption der Genesis sozialen Wissens eine Systematisierung und originäre Ausführung in dem Werk Helmuth Plessners, dessen Theorie der exzentrischen Position des Menschen ebenso wie seine Untersuchungen zur Anthropologie der Sinne62 ihre latente Wirkung auf die Entwicklung einer "nicht-Mann heimsehen" Wissenssoziologie ausübten. Die Arbeiten Plessners, die diese Linie des Sehelersehen Konzepts konsequent entwickeln, zeigen die Gewichtigkeit dieses Ansatzes für die Neuorientierung der Wissenssoziologie, die nunmehr die Grundlagen des sozialen Handelns zu erfassen sucht und somit für den soziologischen Theorieaufbau fundamental wird. Die heute vertretenen Positionen der konstitutiv orientierten Wissenssoziologie der phänomenologischen, interaktionistischen bzw. erkenntnisgenetischen Prägung, die vor handlungstheoretischem Hintergrund der Konstitution sozialen Wissens und ihren möglichen universellen Strukturen nachgeht 63 , verfolgen daher eine Linie wissenssoziologischer Fragestellung, die Seheler mit seinem Werk vorzeichnete.
Anmerkungen 1 Als Beispiele vgl. Man/red Bracht, Voraussetzungen einer Soziologie des Wissens, erarbeitet am Beispiel Max Schelers, Mössingen 1974; Kurt Lenk, Von der Ohnmacht des Geistes. Kritische Darstellung der Spätphilosophie Max Schelers, Tübingen 1959; Hans Joachim Lieber, Zur Problematik der Wissenssoziologie bei Max Scheler, in: Philosophische Studien, 1, 1949, S.62-90; Karl Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: derselbe, WissenssoziologIe, Neuwied 1964, S. 308-387; Dietrich Rüschemeyer, Probleme der Wissenssoziologie, Köl'n 1958; eine Ausnahme stellt hier, neben Howard Becker und Otto Dahlke, Max Scheler's Sociology of Knowledge, in: Philosophy and Phenomenological Research, 2, 1942, S.310-342 der Aufsatz von. Walter C. Bühl, Max Scheler, in: Dirk Käster (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens, München 1978, S. 178-225 dar. 2 Der schon 1924 von Max Adler, der am 4. Deutschen Soziologen-Tag den wissenssoziologischen Beitrag Schelers diskutierte, geäußerte Einwand, Scheler vertrete keine soziologische, sondern vielmehr eine geistesgeschichtliche Auffassung, taucht in der Literatur immer wieder auf. Vgl.
3 Diese Einstellung finden wir sowohl bei Seheler als auch bei Mannheim vor. Vgl. Karl Mann heim, Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. 1969, S. 3 f., 242 f.; Max Seheler, Die Wissensforme und die Gesellschaft, Bem/München 1960, S. 25 f. 4 Vgl. Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt 1974; Karl Mannheim, Das Proble einer Soziologie des Wissens, a. a. 0., sowie derselbe, Das konservative Denken, in: Karl Man heim, Wissenssoziologie, Neuwied 1964; weiter derselbe, Ideologie und Utopie, a.a.O.; Geo Lukaes, Die Zerstörung der Vemunft, Berlin 1955; Hermann Lübbe, Politische Philosophie Deutschland, Basel 1963; HansJoaehim Lieber, Kulturkritik und Lebensphilosophie, Darm stadt 1974. 5 Wir folgen hier der vorzüglichen Darstellung Plessners, a. a. O. 6 Treffend bemerkt hierzu Ludwig von Mises in seinen Erinnerungen: "Um 1900 herum w jedermann im deutschen Sprachgebiet Etatist oder Staatssozialist. Im Kapitalismus erblick man eine böse Episode der Geschichte, die glücklicherweise für immer erledigt sei." Vg L. v. Mises, Erinnerungen, Stuttgart 1970, S. 10. 7 Vgl. Helmuth Plessner, a. a. 0., S. 167 ff. Zur sozialgeschichtlichen Genese dieser Differenz vg Norbert Elias, Der Prozeß der Zivilisation, Bd. I, Frankfurt/M. 1977, sowie Karl Mannheim Das"konservative Denken, a. a. O. und Max Seheler, Das Ressentiment im Aufbau der Morale in: derselbe, Vom Umsturz der Werte, Bd. I, Leipzig 1923, S. 229 f. 8 Vgl. Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: derselbe, G sammelte politische Schriften, Tübingen 1971, S. 306-443. 9 Die Forderung Max Webers nach einer Verantwortungsethik, die neukantianischen Versuch einer sozialen Erziehung, die zu jener Zeit allgemein empfundene Notwendigkeit einer Bildung reform, die eine Werterziehung realisierte, illustrieren deutlich diese Bewußtseinslage. Vgl. Ma Weber, Wissenschaft als Beruf, München/Leipzig 1921; Paul Natorp, Sozialidealismus - Neu Richtlinien sozialer Erziehung, Berlin 1922; Max Seheler, Universität und Volkshochschule, i derselbe, Die Wissensformen und die Gesellschaft, a. a. 0., S. 383-422. 10 Vgl. Max Seheler, Krieg und Aufbau, Leipzig 1916, S. 196 ff. sowie zusammenfassend Herman Lübbe, a. a 0., S. 173 ff. 11 Vgl. Helmuth Plessner, a. a. 0., S. 39 ff.; weiter Max Seheler, Die Ursachen des Deutschenhasse Leipzig 1917; derselbe, Der Geist und die ideellen Grundlagen der Demokratie der großen N tionen, in: derselbe, Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, Bem/München 196 S. 158-186. 12 So Max Seheler, in: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, a. a. 0.; Der Genius des Krieg und der deutsche Krieg, Leipzig 1915; Krieg und Aufbau, a.a.O.; Der Bourgeois, Der Bou geois und die religiösen Mächte, Die Zukunft des Kapitalismus, alles in: Vom Umsturz der Wert a. a. 0., Bd.lI, sowie in Aufsätzen zur Weltanschauung der Nationen, in: Schriften zur Soziol gie und Weltanschauungslehre, a. a. O. Zu Mannbeims Untersuchungen zu diesem Thema vg ,Das konservative Denken", a. a. O. und "Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus Bad Homburg/Berlin/Zürich 1967 (erstmals 1935). 13 Vgl. hierzu Max Seheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, a. a. O. sowie: Die Zukun des Kapitalismus, ebd. Bd. 11, S. 305-329 (zuerst 1914), weiter derselbe, Der Genius des Kri ges und der deutsche Krieg, a. a. 0., Die Ursachen des Deutschenhasses, a. a. 0., Krieg und Au bau, a. a. O. Hier überall versucht Seheler, teilweise noch im Rahmen der "Weitanschauungsan lyse<. , teilweise jedoch - wie im "Ressentiment" - in soziologischer Betrachtungsweise, den Z sammenhang von Werthaltung und Lebensführung in den Griff zu bekommen. Den philos phischen Hintergrund seines wissenssoziologischen Interesses finden wir in "Wesen und Forme der Sympathie" (zuerst 1912) sowie in "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wer ethik" (zuerst 1913) ausformuliert, wo die Lehren von sozialer Person, von den Formen d Einsfühlung und des Fremdverstehens sowie von der Milieubildung auf diesen Boden hinübe führen. 14 Siehe Max Seheler, Wesen und Formen der Sympathie, Bem/München 1973 und: Der Formali mus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bem/München 1966. 15 Vgl. Max Seheler, Das Ressentiment ... , a.a. 0., S. 50 f. 16 ebd., S. 205-206.
19 Max Seheler, Der Formalismus in der Ethik ... , a. a. 0., S. 36, 169 ff. 20 Eine ausführliche Darstellung dieser Gedanken finden wir in dem nachgelassenen Manuskript Sehelers, Ober den "Ordo amoris". Siehe Max Seheler, Schriften aus dem Nachlaß, Bd. I, Bern 1957, S. 347-376, insb. S. 348ff. Vgl.dazu auch: Die Wissensformen ... , a. a.O., S. 24ff. 21 So für die individuelle Ebene in: Der Formalismus in der Ethik ... , a. a. 0., S. 127 ff.; Wesen und Formen der Sympathie, Abschn. All, a. a. 0., S. 69 ff. 22 Siehe Max Seheler, Das Ressentiment ... , a. a. 0., S. 233. 23 Vgl. Max Seheler, Die Zukunft des Kapitalismus, a. a. 0., S. 135 ff. 24 Max Seheler, Die Wissensformen ... , a. a. 0., S. 135 ff. 25 Siehe Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, a. a. 0., S. 45. 26 KarlMannheim, ebd., S. 279 ff. sowie Ideologie und Utopie, a. a. 0., S. 3 ff., 243 f. 27 Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft ... , a. a. 0., S. 74f., 294ff. 28 Karl Mannheim, Das konservative Denken, a. a. 0., S. 483 ff. 29 Diesen Anspruch dokumentiert anschaulich Georg Lukaes, Zerstörung der Vernunft. In der Skepsis gegenüber diesem Anspruch des Marxismus ist auch der Grund der Marx-Kritik Sehelers zu sehen. Vgl. Georg Lukaes, Die Zerstörung der Vernunft, a. a. 0.; Max Seheler, Die Wissensformen ... , a. a. 0., S. 135. 30 Exemplarisch: Svend Ranulf, Moral Indignation and Middle Class Psychology, Kopenhagen 1938, der fordert: " ... it is necessary, that a methodological standpoint like that of Max Scheler should be met with general and absolute condemnation in the scientific world" (ebd. S. 204). 31 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, a.a.O., S. 230ff. 32 KarlMannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, a. a. 0., S. 385. 33 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, a. a. 0., S. 229 f. 34 ebd., S. 263 ff. 35 Mannheims häufige positive Verweise auf Lukaes' "Geschichte und Klassenbewußtsein" in diesem Zusammenhang, wo sich dieses Unvermögen geradezu exemplarisch darstellt, bekräftigen unsere Auffassung. Vgl. etwa Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, a. a. 0., S. 110 f., 266f.; Georg Lukaes, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923. 36 Karl Mannheim, Mensch und Gesellschaft ... , a. a. 0., S. 210 ff. 37 Vgl. Max Seheler, Die Wissensformen ... , S. 52. 38 Auf seine Untersuchungen in "Wesen und Formen der Sympathie" gestützt, führt Seheler dies als Axiome der Wissenssoziologie schlechthin an. Vgl. Max Seheler, Wesen und Formen der Sympathie, a. a. 0., S. 240 ff. sowie Die Wissensformen ... , a. a. 0., S. 52 ff. 39 Max Seheler, Die Wissensformen ... , a. a. 0., S. 9. 40 ebd. S. 17. Die in diesem Zusammenhang erfolgende Distanzierung Sehelers von der verstehenden Soziologie Max Webers ist u. E. nicht so zu verstehen, daß sich hier Sehelers Aufmerksamkeit ausschließlich auf die im gesellschaftlichen Sein hinter dem Rücken der Handelnden wirkenden bewußtseinsbildenden Faktoren richtet. Seheler spricht hier ausdrücklich vom menschlichen Sein und hat also auch die Prozesse der Wissenskonstitution im Auge, die er in seinen anthropologischen Arbeiten analysiert und die ebenso wenig wie die "Realfaktoren" den Handelnden bewußt zu sein brauchen. Seheler sucht also nicht nach einem "egologischen" Zugang, sondern nach einem strukturellen Konzept für die Erfassung der Wissenskonstitution, das sowohl ihre Rahmenbedingungen als auch die Prozesse auf der Handlungsebene einschließen würde. 41 Max Seheler, ebd., Anmerkung 2, S. 28, Anmerkung 2, S. 33, Anmerkung 2 und 1, S. 52 und 53. Abgesehen davon verweist Seheler im ersten Teil seiner "Probleme einer Soziologie des Wissens" (ebd., S. 17-51) sehr häufig auf seine geplante Anthropologie, die ihrer posthumen Veröffentlichung noch harrt. Der eindeutige systematische Bezug des kultur- und wissenssoziologischen Ansatzes von Seheler auf seine philosophisch-anthropologischen Arbeiten dokumentiert die den Prozess des "Wertens" betreffenden Passagen in "Die Wissensformen und die Gesellschaft", S. 24ff. und in "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik", S. 126. 42 Exemplarisch: Max Seheler, Der Formalismus in der Ethik ... , a. a. 0., S. 331 ff. 43 Erst Taleott Parsons versuchte, einige Jahrzehnte später, die Bedeutung der Funktion der Emotionalität im Rahmen einer Theorie des sozialen Handeins zu erschließen und die emotionale
44 Dies gilt sowohl für die vitalen als auch für die geistigen Akte. Vgl. Max Seheler, Der Formalismus in der Ethik ... , a. a. 0., S. 262 ff., 331 ff., weiter derselbe, Ordo amoris, a. a. o. Zum letzteren vgl. auch die Analyse Manfred Frings in seinem Aufsatz "Der Ordo Amoris bei Max Scheler. Seine Beziehungen zu materialer Wertethik und zum Ressentimentbegriff", in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 20, 1966, S. 57-76. 45 Vgl. Max Seheler, Wesen und Formen der Sympathie, a. a. 0., S. 30 f., 37 ff., 240 f. 46 Diese Konsequenz ergibt sich aus der Sehelerschen Konzeption des Fühlens und Wertens, wie sie oben skizziert wurde. Sie läßt sich durchaus durch Aussagen Sehelers stützen. Vgl. dazu Max Seheler, Der Formalismus in der Ethik ... , a. a. 0., S. 39 f. 47 Vgl. Max Sebeler, Wesen und Formen der Sympathie, a. a. 0., S. 242,244. Die Tatsache sei hier vermerkt, daß dies zu einem Zeitpunkt gedacht wurde (1913), der weit vor dem Erscheinen der Werke von George Herbert Mead liegt. 48 Wegen der gebotenen Kürze sehen wir hier von der Erörterung der Frage ab, inwiefern das Milieu-Konzept mit der Auffassung des Menschen als eines vitalen Lebewesens oder möglicherweise auch als eines geistigen Wesens kompatibel ist. Wir gehen davon aus, daß der Milieu-Begriff durchaus auf den Menschen in seinen beiden Wesensbestimmungen beziehbar ist, weil er von der Annahme einer Wertselektion lebt und weil diese Selektion immer einer Freiheit bedarf, um sich aus der organisch-eindeutigen Naturbeziehung herauszulösen. Menschliches Milieu setzt immer schon ein pragmatisches und instrumentelles Handeln voraus, so daß die vom Geist im Sehelerschen Sinne gesetzte Freiheit zur Transzendierung der Umwelt dort immer mitgegeben ist. Vgl. dazu Max Seheler, Der Formalismus in der Ethik ... , a. a. 0., S. 287,291 ff. 49 siehe Max Seheler, ebd., S. 292 f. 50 ebd., S. 155. 51 ebd. 52 ebd., S.157, 163. 53 An dieser Totalität der Wissensbestimmung durch die soziale Bedingheit der Selektion seiner Inhalte und der Gestaltung der Art seiner Hervorbringung ändert u. E. auch die Sehelersche Unterscheidung zwischen der intimen und der sozialen Person nichts. Denn auch die Intimperson kann sich im Vollzug ihrer Akte aus ihrer sozial bestimmten Emotionalität und Denkart nicht gänzlich herauslösen. 54 Vgl. Max Seheler, Der Formalismus in der Ethik ... , a. a. 0., S. 162, Anmerkung 1. 55 Max Seheler, Die Wissensformen ... , a. a. 0., S. 61. Man beachte hier die Begriffsspezifizierung, die durch Bestimmung der natürlichen Weltanschauung als einer "relativen" erfolgt. Im "Formalismus in der Ethik ... " (siehe Anm. 54) wird die natürliche Weltanschauung als das Milieu der Gattung Mensch betrachtet. In "Wissensformen ... " erkennt Seheler jedoch, daß ein solcher auf die ganze Menschheit bezogener Begriff leer ist und schränkt ihn ein, wobei jedoch seine systematische Verbundenheit mit dem Milieukonzept unangetastet bleibt. 56 Max Seheler, Die Wissensformen ... , a. a. 0., S. 63. 57 Hier kommt Seheler der Auffassung von Alfred Schütz nahe, derzufolge die Sprache einen der bedeutsamsten Träger der alltäglichen Typisierungen darstellt. Vgl. Alfred Schütz und Thomas Luekmann, Strukturen der Lebenswelt, Neuwied/Darmstadt 1975, S. 232 ff. 58 Max Seheler, Die Wissensformen ... , S. 64. 59 Die Tragweite des Milieukonzepts illustrieren eindrucksvoll die sozialgeschichtlichen Untersuchungen von Norbert Elias, die die soziale Bestimmung des sinnlichen und emotionellen Erlebens hervorragend darstellen. Vgl. Norbert Elias, Der Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. Frankfurt/M.1977. 60 So gehen in seine Argumentation wiederholt die kulturanthropologischen Arbeiten Emil Durkheims und Lucien Levy Bruhls ein, ebenso wie die psychologischen Arbeiten von Karl Bühler, Ivan P. Pawlow, earl Stumpf, Sigmund Freud, Wolfgang Köhler (einschließlich seiner PrimatenForschung), Kurt Koffka, Felix Krüger und Adhemar Gelb, sowie die sprachwissenschaftlichen Ansätze Wilhelm von Humboldts. 61 Die Wirkung des Werkes von Seheler faßt der Aufsatz von Walter L. Bühl zusammen. Zu dem Einfluß Sehelers auf die anthropologische Forschung siehe Dieter Wyss und Gernot Huppmann, Die Bedeutung Schelers für die medizinische Anthropologie, in: Paul Good (Hrsg.), a. a. 0., S.215-224.
welt schöpft. Auch das wissenssoziologische Denken Thomas Luckmanns entwickelte sich in dieser Richtung - einer Perspektivenerweiterung, die über die egologische Konzeption von AIfred Schütz weit hinausführt. Der Begriff des Milieus als einer sozialen Umwelt, in der die strukturgesellschaftlichen Bedingungen eine in unmittelbarer Interaktion hervorgebrachte und tradierte Deutung erfahren, findet erneut Eingang in die aktuelle Diskussion, wie uns die Untersuchungen Richard Grathoffs zeigen. Auch Ulrich Oevermanns Untersuchungen machen sich dieses Problembewußtsein zu eigen. Einen umfassenden Versuch, den Zusammenhang von Denken, Fühlen und Handeln in der alltäglichen Wissenskonstitution aufzuzeigen, stellt die Arbeit Hans Peter Thurns dar, die vor diesem Hintergrund einer Anthropologie des Alltags nachgeht. Auch die in den USA sich abzeichnenden zaghaften Versuche einer "existential sociology", die die leiblich-emotionale Komponente des Handeins in den Vordergrund stellen, sind auf der Suche nach Strukturen, für deren Erschließung sich bei Scheler ein Instrumentarium anbietet. Vgl. Günter Dux, Strukturwandel der Legitimation, Freiburg/München 1976; derselbe, Helmut Plessners philosophische Anthropologie im Prospekt, in: Helmut Plessner, Philosophische Anthropologie, a.a.O., S. 253-318; Alfred Schütz und Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, a.a.O., Kap. IV, das weitgehend Luckmanns Auffassung wiedergibt, weiter: derselbe, "Philosophie, Sozialwissenschaft und Alltagsleben" sowie "Persönliche Identität als evolutionäres und historisches Problem", beides in: Thomas Luckmann, Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn/MünchenlWien/Zürich 1980, S.9-55, 123-141; derselbe, Phänomenologie und Soziologie, in: Walter M. Sprondel und Richard Grathofi (Hrsg.), Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 196-206, sowie Richard Grathoff, über Typik und Normalität im alltäglichen Milieu, ebd., S.89-124; Ulrich Oevermann, Sprache und soziale Herkunft, Frankfurt/M. 1972; Hans Peter Thurn, Der Mensch im Alltag, Stuttgart 1980; jack D. Douglas und john M. johnson (Hrsg.), Existential Sociology, Cambridge, Mass. 1977.
Von Irving Louis Horowitz
"Hat man einmal dieses innere Verhälmis zu dem historischen Wandel der Sinnelemente gewonnen, für das zwar kein besonderes Stadium des Geschichtlichen als absolut genommen wird, das ganze Werden aber dennoch ein aufgegebenes Problem enthält, so wird man sich bei jener ekstatischen Position, für die jede Geschichte ,nur Geschichte' ist, nicht mehr beruhigen können." Kar! Mannheim 1
"History is the shank of any social study; we must study it if only to rid ourselves of it." C. Wright MiIIs 2
I
Es besteht eine Analogie zwischen der Geschichtstheorie der großen Männer und der Theorie biologischer Mutation. Ab und zu wird jemand mit Eigenschaften geboren, die die seiner Mitmenschen weit übertreffen. Er ist in der Lage, "unrealized forms of future history" zu begreifen, und "he succeeds in wrenching society loose from its anchoring place in present equilibium and turning it into the uncharted seas beyond the known as familiar lands,,3. Eine soziologische Interpretation der Theorie des großen Mannes - in diesem Fall die von Mills - geht davon aus, daß ein Mensch, sei er Soziologe oder auch nicht, wie ein klassischer Soziologe denken muß. Er muß zumindest zu verstehen versuchen, warum sich Menschen als Teil einer abstrakten Masse fühlen können, die mit persönlichen Problemen beschäftigt sind, warum sie häufig den Verlauf der Geschichte als eine Serie nicht miteinander in Verbindung stehender, zufälliger Vorgänge verstehen und warum sie sich als Objekte und nicht als Subjekte sehen. Die von Mills sich selbst gestellte Aufgabe "of being simultaneously a Teddy Roosevelt and a F. Scott Fitzgerald, a public figure - a man of action and an artist-thinker' ,4 war für ihn eine beständige Quelle sowohl der Frustration als auch der Heiterkeit. Daß er es als notwendig empfand, die verengte Weltanschauung seiner professionellen Kollegen und der Öffentlichkeit insgesamt abzukanzeln, spiegelte einen Weltschmerz wider, der beim "Flugschriftschreiben" während seiner letzten Lebensjahre
seine Mission nicht frei von Resignation. Indem man publiziert, macht man sich selbst publik 6 ; als Ergebnis produziert man daher seine eigene Biographie und letztlich einen kleinen Ausschnitt der Menschheitsgeschichte. In seiner "Heidenpredigt" des Jahres 1958 richtete er eine Frage an den amerikanischen Klerus: "You claim to be Christians. What does that mean as a biographical and public fact?"7 Substituiert man "Soziologen" für "Christen", so ändert man den Sinn der Anfrage nicht. Die soziologische Vorstellungskraft, so schreibt Mills, "enables us to grasp history and biography and the relations between the two within society. That is its task and its promise. To encourage this task and this promise is the mark of the classic social analyst. ... No social study that does not come back to the problems of biography, of history and of their intersections within a society has completed its intellectual journey8 ." Für Mills waren die scharfen Trennungen von Theorie und Methode genauso künstlich wie die von Soziologen und Öffentlichkeit. Er schrieb für eine Öffentlichkeit im aristotelischen Sinne; die Angst von Soziologen und anderen Mitgliedern der Intelligenz, als "Popularisierer" zu erscheinen, erklärt teilweise, warum sich die Öffentlichkeit nur selten die Zeit nahm, ihre Arbeiten überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. In der Konstruktion seiner eigenen Biographie entschied sich Mills dafür, sich in jeder nur möglichen Weise, persönlich und intellektuell, von denen zu unterscheiden, die er mit seiner Botschaft ansprechen wollte, so daß diese deren Weisheit leichter begreifen konnten. Dies scheint etwas paradox zu sein: sein Selbstverständnis war das eines großen Mannes, aber in der von ihm erhofften Gesellschaft wäre die ihm zukommende Aufgabe nicht notwendig 9 • Handelt es sich wirklich um ein Paradox, das heißt unterscheidet sich dies in irgendeiner Weise von der klassischen Form der Hybris der Intellektuellen? Nicht ich bin für die Probleme der Gegenwart verantwortlich, scheint Mills zu sagen, sondern die Welt, die sich weigert, mich ernst zu nehmen. Ganz so einfach ist es nicht, trotz der großen Selbsteinschätzung von Mills. Formal gesehen, mag Wissen jedermann zugänglich sein, aber sein Inhalt ist nur für bestimmte Gruppen von Personen und nur während bestimmter Epochen interpretierbar. Ein besseres Verständnis des Wissens erreicht man, indem man die Motive und das Verhalten dieser Gruppen verstehen lernt. Geht man davon aus, daß der Zugang zu den Werkzeugen soziologischen Denkens unproblematisch ist - zumindest für die von Mills angesprochenen Angehörigen der gebildeten Mittelklasse - , so argumentierte er, daß die Chancen für eine industrielle Gesellschaft wie die Vereinigten Staaten von Amerika, von einem rationalen und moralischen Diskurs beherrscht zu werden, mit jedem Jahr geringer werden; daß die gegenwärtig Lebenden versuchten, die Beziehungen zwischen konkreten Phänomenen aufgrund besonders begrenzter Annahmen vorzunehmen, sofern sie dies überhaupt für notwendig erachteten; daß das Zugehörigkeitsgefühl eines Individuums zu einem Kollektiv, sei es eine soziale Klasse, eine bürokratische Organisation, eine Nation oder eine politische Partei, normalerweise
sind, deren biographisch-historische Leistungen besonders gering sind. Die für Mills wichtigste Grundlage, auf die er sich bei der Analyse dieser Themen berief, war das Werk Karl Mannheims , der während der zwanziger und dreißig er Jahre als herausragender Vertreter der Wissenssoziologie hervortrat. Die These, daß die kognitive Basis rationalen Denkens notwendigerweise ein Produkt des sozio-historischen Kontextes des Denkenden ist, ein zentrales Element jeder Wissenstheorie, war für Mills immer von großer Wichtigkeit. Diese Annahme ermöglichte es ihm, Phänomene zu analysieren, die unser soziales Handeln beeinflussen; sie gab ihm das Fundament für eine Methodologie, die es ihm ermöglichte, persönliche Probleme von sozialen zu trennen; schließlich kristallisierte und verstärkte sich in ihr seine weitgehende Entfremdung, sowohl von der amerikanischen Massenkultur als auch von seinen professionellen Kollegen, und zwar in einer Art und Weise, die sich von der Veblens unterschied. Obwohl die Wissenssoziologie als intellektuelle Tradition vor und während seiner Zeit eindeutig europäischen Ursprungs war, negierte sie die von Mills in seinen frühen Schriften erarbeitete Problematik des amerikanischen Pragmatismus nicht, sondern erweiterte diese Thematik. Dennoch muß man fragen, was beeindruckte Mills an der Mannheimschen Konzeption der Wissenssoziologie? Trifft es nicht zu, daß Marx fast ein Jahrhundert früher in seinen frühen Schriften auf die enge Beziehung von geistigen und sozialen Prozessen hingewiesen hatte? Dies ist richtig. Es gibt drei Gründe, weshalb sich Mills von Mannheim besonders angezogen fühlte. Erstens, Hans Gerth war vor seiner und Mannheims Flucht vor den Nazis ein Schüler Mannheims gewesen; zweifellos wurde der junge Mills durch Gerth an der Universität von Wisconsin auf das Werk von Mannheim aufmerksam gemacht. Zweitens, Mannheim unterschied sich von Argumenten seiner Vorgänger und Zeitgenossen und elaborierte diese in einer Weise, die es Mills ermöglichte, sie als soziologische Munition im oben genannten Sinn zu verwenden. Aufgrund seiner Untersuchungen des europäischen Denkens seit der Reformation kam Mannheim zu dem Schluß, daß Wissen letztlich eine Aktivität von Gruppen oder Kollektiven ist 10 ; es "presupposes a community of knowing which grows primarily out of a community of experiencing prepared for in the subconscious"ll. Ideen sind "situationsbedingt" oder so stark durch die besonderen sozialen Bindungen des Denkenden beeinflußt, daß "the approach to a problem, the level on which the problem happens to be formulated, the stage of abstraction and the stage of concreteness that one hopes to attain, are all and in the same way bound up with social ex istence,,12. Dies bedeutete jedoch nicht, daß alles Wissen gleich relativ zu verschiedenen konkurrierenden Interessen und daher nicht objektiv ist. Dies würde dazu führen, daß sich die Wissenssoziologie einem zirkulären und sinnlosen philosophischen Relativismus verschreibt. Das Gegengift soll ein "Relationismus" sein, der verlangt, daß umfassenderes weltanschauliches Wissen es notwendig macht, nicht nur sich widersprechende Ansichten zu tolerieren, sondern sie sich zu eigen zu machen. Diese Vorgehensweise bietet die Grundlage für eine Planung sozialen Wandels unabhängig von
derung bestehender gesellschaftlicher Zustände führen kann, ohne daß man sich Gedanken darüber macht, was an ihre Stelle treten soll. Wie Mannheim in seinem letzten wichtigen (und zu wenig beachteten) Buch Freiheit und geplante Demokratie schreibt: das Individuum muß eine relativistische Perspektive einnehmen " ... in the expectation of enlarging his own personality by absorbing so me features of a human being essentially different from himself. Practically, this means that the democratic personality welcomes disagreement because it has the courage to expose itself to change 13 ." In dem Maß, in dem Ideen eine größere Gültigkeit zukommt, in dem sie mehr und mehr unterschiedliche Standpunkte zu einer Perspektive vereinen, verlieren sie graduell ihre situationsspezifische Abhängigkeit. Auf welche Weise kann sich ein Individuum eine Perspektive dieser Art zu eigen machen? Indem es gewichtige intellektuelle V erz errungen, die sich aufgrund bestimmter Lebensweisen ergeben und in bestimmten ideologischen oder utopischen Positionen ihren Ausdruck finden, aufgibt oder vermeidet. Aber wie erreicht man das? Indem man mit einer Vielzahl von Perspektiven zu vergleichbaren Vorkommnissen und Phänomenen experimentiert. Und dies wiederum erfordert, daß man sein tägliches Leben in sozialen Gruppen führt, die sich in ihrem Stil und ihrer Funktion überschneiden: " ... not only individual but also group experiences may become complementary, and that the roles which we live and directly experience may be in reality nothing but the inversion of the unknown roles in unknown individuals 14 ." Allerdings ist es für die einzelne Person unmöglich, gleichzeitig in allen diesen Gruppen zu leben; sie muß daher an deren Grenzen leben und als indirekter Vermittler von Vorstellungen fungieren, die andernfalls nicht miteinander in Berührung kommen, es sei denn auf der Basis gegenseitiger Feindschaft, wobei die Fehlschlüsse der Opposition apriori angenommen werden. Die Rolle der Intellektuellen bestand schon immer darin, Verbindungen für diesen indirekten Diskurs zu schaffen oder, wie Mills es hätte formulieren können, "Kontakt mit dem Feind aufzunehmen". Im Verlauf der Geschichte mußten sie ihren brahmanengleichen Status aufgeben und die monopolartige Kontrolle des Wissens, die damit zusammenhing. Moderne Intellektuelle, deren Herkunft relativ klassenunspezifisch ist, gehören weniger verschiedenen Gruppen an, sondern "schweben" eher von einer zur anderen Gruppe; daher auch der Begriff "freischwebende Intelligenz". Diese Vorstellung von der Marginalität, die wesentlich auf Simmel zurückgeht, soll nicht nur auf die Prozesse abheben, mit denen Intellektuelle operieren, sondern ist der Prozeß selbst, aufgrund dessen sie überhaupt erst geschaffen werden. Je marginaler der Intellektuelle, desto wahrscheinlicher ist es, daß er einen Beitrag zum Wissen leistet, da seine Marginalität selbst dazu beiträgt, daß er relativ unbeeinflußt bleibt von den Fallen des ideologischen Dogmatismus und utopischen Chiliasmus. Aus verschiedenen Gründen bestärkte diese GrundeinsteIlung, mehr als jede andere (die Mills zwar nicht vollständig übernahm), sein schwankendes Selbstverständnis
senzugehörigkeit untrennbar miteinander verbunden sind. Die Wahrheitsansprüche eines Intellektuellen müssen daher notwendigerweise seine Interessen in der gegebenen Wirtschaftsordnung widerspiegeln. Auch Mannheim nahm an, daß Intellektuelle häufig klassenbedingte Aussagen machen, allerdings gab es für ihn keine geschichtliche Dialektik, die die Unvermeidbarkeit solcher Verzerrungen bestimmt. Dies war nur ein Grund unter einer Reihe von Gründen, weshalb sich Mills, obwohl er mit der marxistischen Kritik des Kapitalismus sympathisierte, nicht dazu durchringen konnte, sich als Marxist zu betrachten. Max Weber war der Ansicht, daß wissenschaftliches Wissen objektiv ist und nur dann subjektiv wird, wenn es von persönlichen Werturteilen beeinflußt wird. Mannheim kehrte diese These um; der Wissensinhalt hängt von der subjektiven Position des Denkers ab, während die Werte selbst, zumindest innerhalb der Grenzen einer Epoche, objektiv sind 15 . Unter dem Einfluß von George Herbert Mead betonte Mills den sozialpsychologischen Zusammenhang zwischen Denker und Publikum, das er sich bei der Wahl der Methode zur Wissensgewinnung aussucht: "From the standpoint of the thinker, the socialization of his thought is coincidental with its revision. The social and intellectual habits and character of the audience, as elements in this interaction, condition the statement of the thinker and the fixation of beliefs evolving from that interplay .... No individual can be logical unless there be agreement among the members of his universe of discourse as to the validity of some general conception of good reasoning 16 ." Max Seheler war ein aristokratischer Platoniker, der der Überzeugung war, daß ein Gegensatz zwischen Sein und Denken besteht. Zwar kann es unterschiedliche Denkmuster je nach Epoche und sozialem Kontext geben, allerdings entspringen sie alle der Vorstellung von einem universalistischen, absoluten Bereich von Ideen und Werten. Im Gegensatz dazu war Mannheim der Ansicht, daß Wahrheit in erster Linie ein Produkt existentieller Bedingungen ist; obwohl Diskurs nicht zur Wahrheit führt, kann er sie jedoch innerhalb einer bestimmten geschichtlichen Epoche definieren und neu definieren. Die Wahrheit ist keine "geschichtliche Tatsache", sie ist in unserem sozialen Leben verankert 17 . Es ist sehr gut möglich, daß Dilthey viele Gemeinsamkeiten mit Mannheim gehabt haben könnte, allerdings war er als Idealist gegen die Vorstellung von der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft. Dilthey war der Ansicht, daß es Funktion der Soziologie sein solle, die Philosophie von einem metaphysischen Stillstand zum zeitlichen Bewußtseins- und Gefühlsbereich zu führen, und nicht eine empirische Basis, die das Leben nur zur Sinnlosigkeit relativieren würde, zu suchen 18 . Ihre Bedeutung würde in einer umfassenden Lebendigkeit liegen. Kurz, im Gegensatz zu Mills war Dilthey nicht an soziologischen Antworten auf alltägliche Probleme interessiert. Man könnte den Vergleich zwischen Mannheim und Troeltseh, Alfred Weber, Meineeke oder von Sehelting leicht fortführen, allerdings könnte man dann den für uns wichtigsten Gesichtspunkt aus den Augen verlieren: Mehr als andere Traditionen war
toren immer weniger mit dem zuerstgenannten Faktor zusammenzuhängen schienen, gleichzeitig tat sie dies in einer Weise, die seinem Pragmatismus eine zusätzliche Dimension gab und ihn nicht zwang, mehr zu tun, als zwischen kollektiven Zugehörigkeiten hin und her zu schweben (obwohl er später in seinem Leben sehr viel mehr versuchte). Mannheim war ein Liberaler im klassischen Sinne, einer, der gleichzeitig zur "frischen und jugendhaften Qualität" der Aufklärung zurückkehren und dennoch zu beschreiben in der Lage war, wie eine moderne Gesellschaft für eine demokratische Zukunft planen konnte. Mills beschreibt Mannheims Einfluß auf ihn in der Einleitung zu seinem Buch Images of Man: "Kar! Mannheim's essay on ratio nality contains the seeds of the most profound criticism of the secular rationalism of Western civilization. He did not work it out in just this way, but the passage given here is among the best writings of a man who is, I believe, one of the two or three most vital and important sociologists of the inter-war period 19 ." Aber selbst ohne diesen expliziten Ausdruck der Dankbarkeit entdeckt man den Einfluß, den Mannheim auf Mills gehabt hat, besonders in seinen späteren Lebensjahren, als sein eindeutig Mannheimscher Sprachgebrauch fast schon übertrieben wirkt: "the main drift", "the big discourse", "the epoch in which we live". Ein dritter und letzter Grund dafür, daß Mills sich von Mannheim beeinflussen ließ, kann darauf zurückgeführt werden, daß Mannheim einer der wenigen Theoretiker der Wissenssoziologie, zumindest während der dreißiger Jahre, war, dessen wichtigste Arbeiten in englischer Sprache zugänglich waren. Mills sprach kein Deutsch, zumindest nicht fließend (Gerth war für die Übersetzungen zu From Max Weber verantwortlich), und da die wichtigsten Vertreter dieses Fachgebiets Deutsche waren, war ihm die meiste Literatur praktisch unzugänglich. Die Art und Weise, in der Mills Mannheim als intellektuelle Ressource verwandte, obgleich vielfältig, konzentrierte sich auf drei miteinander verbundene Themen: 1. Darauf, daß die engen Verbindungen zwischen Soziologie und Philosophie, die immer mehr in Gefahr waren, unterbrochen zu werden, aufrechterhalten blieben; 2. die Ursachen sozialer Macht zu lokalisieren und ihre Beziehungen zu und Kontrolle über Wissen zu untersuchen, und 3. den offensichtlichen Mangel einer öffentlichen Soziologie aufgrund der Malaise der Kultur der amerikanischen Mittelklasse herauszuarbeiten. Das erste Thema findet sich besonders in Mills' frühen Schriften, also vor seiner Berufung an die Columbia University, sowie später in Character and Social Structure, The Sociological Imagination und Images of Man. Das zweite Thema beschäftigte ihn von etwa 1947 bis 1956, das dritte Thema von 1957 bis zu seinem Tod. Ich muß jedoch betonen, daß alle Themen während seiner ganzen Karriere eindeutig erkennbar sind; einige sind zwar eher direkt erkennbar (oder mögen auch bewußt latent geblieben sein) als andere, nichtsdestoweniger sind sie insgesamt vorhanden. Seine scharfe Kritik der Konsequenzen politischer Macht, die auf verantwortungslosem Handeln basiert und nicht auf jedermann zugänglichem Diskurs, ist zum Beispiel genauso leicht anwendbar auf das gescheiterte Abenteuer der Schweinebucht
von seiner selbstgeschaffenen Rolle als allgemeiner Kulturkritiker. Man sollte diese Kategorisierung deshalb als eher generelle Abgrenzung ansehen und nicht als eine strenge, chronologische Aufgliederung von Interessengebieten.
II
Mills' Wahl des Studienhauptfaches war für ihn eme administrative Formalität und hatte kaum einen Einfluß auf die Wahl der Vorlesungen und Seminare, die er besuchte; sie war vom Inhalt des Kurses abhängig sowie vom wissenschaftlichen Ruf des Professors. Er hat gleichzeitig, unter anderem, Soziologie und Philosophie studiert. Er machte daher nicht wie Mannheim eine "Wandlung" vom Philosophen zum Soziologen durch, sondern sah in dessen Arbeiten einen Ansatz, obgleich nicht den einzigen, durch den er den Pragmatismus in soziologischen Kategorien erfassen konnte. Mannheim war, ebenso wie die Pragmatisten, ein starker Verfechter des politischen Liberalismus und vertrat eine Konzeption der Wahrheit, die durch Denken und Handeln bestimmt war, und er benutzte Modelle der indirekten Gültigkeitsbestimmung als geeigneteres Mittel zur Entwicklung von Wegen zur Bestimmung sozial determinierter Wahrheitsperspektiven. Mills machte seine Absicht deutlich, daß seine eigenen Arbeiten auf zwei intellektuellen Traditionen aufbauen sollten, die er nicht gegeneinander ausspielen wollte: "Careful examination reveals no fundamental disagreement between Dewey's and Mannheim's conceptions of the generic character and derivation of epistemological forms ... Mannheim's view overlaps the program that Dewey has pursued since 1903, when he turned from traditional concerns and squabbles over the ubiquitous relation of thought in general to reality at large, to a specific examination of the context, office and outcome of a type of inquiry 20."
Und: "C. S. Peirce analyzed four segments from Western intellectual history. His comparative and quasi-sociological work was preliminary to his own acceptance of an observation al and verificatory model which he hirnself analyzed out and generalized from laboratory science ... Mannheim's 'total, absolute and universal' type of 'ideology' in which social position bears upon 'the structure of consciousness in its totality', including form as weil as content, may be interpreted to mean this social~historical relativization of a model of truth, or the influence of a 'social position' upon 'choice' of one model as over against another. Mannheim's remarks do not contradict this more explicit and analytic statement21 ."
Mannheims Unterscheidung zwischen Relationismus und Relativismus erwies sich als eines der schwerwiegendsten Hindernisse, das er Kritikern und Anhängern zufolge nie zufrieden stellend aus dem Weg räumen konnte. Ziegenfuß22 und Scimecca 23 kommen zu dem Schluß, daß es sich letztlich um ein Spiel mit Worten handelt, während es Phillips als wenig klar und als wenig überzeugend bezeichnet 24 . Auch Mills fand es nicht überzeugend, allerdings war er weniger kritisch als andere und aus Grün-
legungen nicht zu ihrem logischen Schluß führte, da er weder den Sinn spezifischer Begriffe eindeutig genug definierte noch ihre Anwendbarkeit auf beobachtbare Ereignisse bestimmte. Seine Unzufriedenheit wird nirgends deutlicher als in seiner Besprechung von Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus in der American Sociological Review 25 . Zu dieser Zeit waren Howard Becker und Thomas McCormick für die Buchbesprechungen der Zeitschrift verantwortlich und haben zweifellos, da sie von dem großen Interesse ihres Schülers an Ideologie und Utopie wußten, die Besprechung persönlich angeregt: "He (Mannheim) does not evidence skill in deducing from large discourse specific hypotheses and constructing the me ans of their testing. His work loses in firm specificity to gain in novel conceptual optics 26 ." Mills verwehrt sich insbesondere gegen den von ihm als charakteristisch angesehenen allgemeinen Sprachgebrauch Mannheims, den er als besonders störend empfindet, da Mannheim selbst am Anfang von Ideologie und Utopie so glänzend erklärt hatte, wie die unterschiedliche Interpretation einzelner Begriffe durch Inhaber sozialer Positionen zu einem solch ideologischen Wirrnis wie dem im Europa der zwanziger Jahre führen kann: "This 'mass society' is one of the least substantiated notions in the book. One wishes Mannheim had characterized it less with words like 'emotional' and 'irrational' and more with such indices as voting trends. ... Repeatedly, the grossly unsociologic 'we' is used. Exactly whom does this 'we' include? Since he is not a magician, it cannot embrace others than those influenced in some mann er by books of the kind he is writing. Who are these? They are the very ones whose decline in prestige and power he himself has traced 27 ."
Mills sah in Mannheims Arbeiten ein Mittel zur Konstruktion von brauchbaren Modellen sozialer Struktur in ihrer Totalität, in denen soziologische und pragmatische Einsichten verbunden sind. Und wie aus diesen Passagen deutlich wird, versuchte er, sowohl Mannheims soziologischen Sprachbegriff als auch seinen Wahrheitsbegriff auszubauen; Mills' pragmatische Überzeugungen sind einer der Gründe, warum er in Mannheim von vornherein nur teilweise befriedigende Antworten gefunden hat. In diesem Sinn kann man deshalb davon sprechen, daß Mills zum Studium der Wissenssoziologie eher vom Pragmatismus her kam, als daß er den Pragmatismus zur Stärkung seiner wissenssoziologischen Ansichten benutzte. Mills' Ziel war es, soziologische Erklärungen für die Interpretation von ideologischen Positionen von Kollektiven durch Mitglieder und Nichtmitglieder zu erarbeiten. Während seines Aufenthalts an der University of Wisconsin veröffentlichte er drei Artikel, "Language, Logic, and Culture"28, "Situtated Actions and Vocabularies of Motive"29 und" The Language and Ideas of Ancient China,,30, in denen er die Rolle der Sprache als Katalysator oder Hemmnis sozialer Integration betonte. Stilistisch gesehen, sind diese Aufsätze häufig unzusammenhängend und verwirrend, andererseits aber inhaltlich stimulierend genug, um sie von bleibendem Interesse zu machen. Diskurs, sei es in der Form des gesprochenen oder geschriebenen Wortes, wird sowohl vom Denkenden als auch vom Publikum mit Hilfe einer gemeinsamen Sprache betrie-
Symbolhaftigkeit gemeinsame Reaktionsweisen hervorruft. Sofern Sprache unterschiedlich interpretierbar ist und die Perspektive bestimmt, von der aus wir ein Problem untersuchen, so muß sie auch die Interpretation der Motive eines Denkers durch ein Publikum beeinflussen. In seinem Aufsatz "Situated Actions and Vocabularies o[ Motive" argumentiert Mills, daß man Motive nicht isoliert von Sprache oder ihrem sozialen Kontext analysieren kann. Die Mitgliedschaft in einer bestimmten sozialen Klasse oder Gruppe in einer mobilen Gesellschaft hat zur Folge, daß man keine Motive erlernt, deren Interpretation relativ stabil sein kann, es sei denn, ein bestimmtes Mitglied verläßt seine Gruppe oder die Eigenschaften der sozialen Struktur wandeln sich. Sofern wir uns für die "tatsächlichen Einstellungen" oder "wirklichen Motive" und nicht nur für die behaupteten Motive einer Person interessieren, müssen wir in Betracht ziehen, daß wir von den linguistischen Gewohnheiten einer Person nur darauf schließen können, was ihr sozial-bedingtes Handeln zur Zeit der von ihr ausgesprochenen Meinung oder ihres Verhaltens ist (Mills war der Ansicht, daß genau dies in der Mehrheit der von Soziologen durchgeführten Meinungsforschungen der Fall ist). Wie kann man mit diesen Folgerungen arbeiten? Wie Mills beschreibt, sind Soziologen in der Lage, Idealtypen des Vokabulars von Motiven, die in der Konstellation von Situationen zu finden sind, zu erarbeiten:
"A labor leader says he performs a certain act because he wants to get higher standards of living for the workers. Abusinessman says that this is rationalization, or a lie; that it is really because he wants more money for himself from the workers. A radical says a college professor will not engage in radical movements because he is afraid for his job, and besides, is a 'reactionary'. The college professor says it is because he just likes to find out how things work. What is reason for one man is rationalization for another. The variable is the accepted vocabulary of motives, the ultimates of discourse, of each man's dominant group about whose opinion he cares. Determination of
such groups, their location and character, would enable delimitation and methodological control of assignment of motives for specific acts 31 ."
Um die Identität dieser Gruppen näher bestimmen zu können, muß man den Sprachgebrauch mit bestimmten sozialen Kontexten in Verbindung bringen: "What is needed is to take all these terminologies of motive and locate them as vocabularies of motive in historie epochs and specified situations. Motives are of no value apart from the delimited societal situations for which they are the appropriate. They must be situated. At best, socially unlocated terminologies of motives represent unfinished attempts to block out social areas of motive imputation and avowal. Motives vary in content and character with historical epochs and societaLstructures 32 ."
In seinem Aufsatz "The Language and Ideas o[ Ancient China" versucht Mills zu zeigen, warum sich die Wissenschaft in Ostasien nicht entwickeln konnte, während sie in Europa zur Blüte kam: "In America, this type of generalization from laboratory and craft facts has gone further than anywhere else. American pragmatism from Peirce through Dewey, and the core of Veblen has
culture: the moral, liturgieal, and political. The conceptions and structure of Chinese thought cannot be explained in terms of technological domain and experiences 33 ."
Es kann kaum ein Zweifel bestehen, daß Mills' Urteil über die besonderen Eigenschaften der chinesischen Wissenschaft, das sich insbesondere auf die bahnbrechenden Arbeiten von Marcel Granet stützte, angesichts späterer Forschungen von Joseph Needham und anderen einer grundlegenden Revision unterzogen werden müßte. Wichtiger ist jedoch, daß Mills Mannheims Wissenssoziologie in Verbindung mit einer volkstümlichen Psychologie anwandte, um das Ethos der Geistesgeschichte einer Gesellschaft zu untersuchen. In seinem Aufsatz "Language, Logic and Culture" beschreibt Mills deutlich, wie er sich, durch den Pragmatismus angeregt, der Wissenssoziologie zuwandte. Für Mills war der Pragmatismus nicht so sehr eine Form philosophischen Diskurses als vielmehr eine Philosophie, die die wichtigen soziologischen Probleme bestimmte. Wie schon in seinem Aufsatz "Situated Actions and Vocabularies of Motive" war er bemüht, die existierende Wissenssoziologie zu verbessern, da sie durch ein "lack of understanding and clear-cut formulations of the terms with which they would connect mind and other factors"34 gekennzeichnet war. Die Schriften von Peirce, Mead und Dewey bilden die Grundlage für seine Überlegungen. Sprache wird als ein "system of social control" angesehen. Und in enger Anlehnung an Meads "Mind, Self, and Society" definiert er das Symbol als "an event with meaning because it produces a similar response from both the utterer and the hearer". In ähnlicher Weise definiert er Kommunikation operational als den Kontext von "common modes of response", in dem der Sinn der Sprache "the common social behavior evoked by it" ist. Ebenso geht die Begriffsbestimmung des Geistes (mind) als "the interplay of the organism with social situation mediated by symbols" auf Mead und Peirce zurück. Angelpunkt dieser Überlegungen ist die Dewey'sche Definition von Sprache und Vokabular als "sets of collective action", die Ergebnis sozialer Normen und Wertvorstellungen sind. Man gewinnt in der Tat den Eindruck, als ließe sich in diesem Aufsatz von Mills alles soziologisch Relevante finden, was die Pragmatisten je über Sprache und Kultur geäußert haben. Indem er seinen Ansatz als "sociotics" kennzeichnet, versucht Mills, alle soziologischen Phänomene, die man in der Funktion der Sprache ausmachen kann, in einem Begriff zu fassen; nämlich die Art und Weise, in der Sprache das Denken kanalisiert, begrenzt und möglich macht. Wie aber Mills selbst bereitwillig andeutet, geht "sociotics" auf das Werk von Charles W. Morris (Foundation of the Theory of Signs) zurück. Es handelt sich dabei aus soziologischer Sicht um nichts anderes als um die Beziehung von Zeichen zu ihren Benutzern - Morris nennt es Pragmatik. Aufgrund dieser Überlegungen, und nicht von Marx oder Mannheim angeregt, kam Mills zum Studium der Wissenssoziologie. Auch in seinem Bemühen, eine soziologische Basis für die Bestimmung von Wahrheit zu entwickeln, unterschied sich Mills von Mannheim. In "Methodological Conse-
tismus folgend, argumentiert er, daß der Relativismus der Wissenssoziologie nicht notwendigerweise ein Nachteil dieses soziologischen Spezialgebiets sein muß: "The imputation of the sociologist of knowledge may be tested with reference to the verificatory model generalizes; e.g. by Peirce and Dewey"; das heißt durch Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Welt:
"The assertions of the soeiologist of knowledge eseapes the 'absolutist's dilemma' beeause they ean refer to a degree of truth and because they may indide the eonditions under which they are true. Only eonditional assertions are translatable from one perspeetive to another. Assertions ean properly be stated as probabilities, as more or less true. And only in this way ean we aeeount for the fact that scientifie inquiry is self-eonnecting36."
Mills stimmt völlig mit der von Peirce vorgeschlagenen Definition der technischintellektuellen Elite überein, nämlich als Personen, die sich mit dem Zweifel an der Kritik und der Bestimmung von Vorstellungen beschäftigen. Er gelangte ohne große Schwierigkeiten zu einer soziologischen Untersuchung der Bestimmung von Einstellungen sowie zu der Analyse der Bedingungen, unter denen Zweifel institutionalisiert und unter denen Kritik toleriert wird. Mills warf Mannheim Inkonsistenz und Ungenauigkeiten vor, da er im Gegensatz zu Dewey die empirische Analyse nicht von der Untersuchung der generellen, relativistischen Aspekte des Wissens trennte:
"We need here to realize Dewey's identifieation of epistemology with methodology. This realization carries the belief that the deriving of norms from one type of inquiry .. .is not the end of epistemology. In its 'epistemologie function' the soeiology of knowledge is specifieally propaedeutie to the eonstruction of sound methodology for the social seiences 37."
Andererseits beruft sich Mills auf Mannheim, um Deweys Vorstellung des Experiments als eine Form wissenschaftlicher Beweisführung zu kritisieren. Mills argumentiert im einzelnen, daß Deweys Physikalismus [is] "informed by failure to see fully and clearly the difficulties and ambiguities associated with the physical paradigm of inquiry and particularly experiment, when applied to social data. Experiment in a societal situation does not,,38. So wird klar, daß Mills schon 1940 mit der europäischen Wissenssoziologie dem Empirismus zu begegnen versucht und daß er durch die Tradition des amerikanischen Pragmatismus den eher rätselhaften Rationalismus zu überwinden trachtet. Diese Überlegungen kristallisierten sich in The Sociological Imagination und in seiner Aufsatzsammlung Images of Man. Die "klassische Tradition", auf die er sich bezog, umfaßte ein Spektrum, das sich von Dewey bis Veblen sowie von Marx bis Mannheim erstreckte. Eine weitere, letzte Vorgehensweise, in der Mills auf Mannheim aufbaute, um Philosophie und Soziologie zu verbinden - er tat dies allerdings erst in den fünfziger Jahren - bezog sich auf Mannheims Kritik der Überrationalisierung in Massengesellschaften, die Mills mit seinen Überlegungen zur relativen Theorielosigkeit der amerikanischen Soziologie kombinierte. Wie auch schon Weber und Simmel vor ihm betont hatten, wies Mannheim darauf hin, daß die modernen Organisationen, die aufgrund
sation abgewendet werden, und nicht auf das Maß, zu dem der Inhalt dieser Organisationsprobleme geeignet wäre, Aufschluß über das Verhalten komplexer sozialer Systeme zu geben; das heißt, es gibt ein Übermaß von funktionaler Rationalität im Verhältnis zu substantieller Rationalität. Das Ergebnis ist, daß sich einzelne Mitglieder den Zielen ihrer Organisation gegenüber konform verhalten und damit einen vergleichbaren Verlust persönlicher Autonomie erleiden, daß ihr Interesse an Vorgängen außerhalb der Organisation und ihre Fähigkeit zu eigenen, unabhängigen Überlegungen abnimmt und daß es zu einer Dichotomisierung von Arbeit und Freizeit kommt, bei der Arbeit zu etwas wird, mit dem man sich bis zum Beginn der Freizeit "arrangieren" muß. Mills wandte diese Überlegungen auch auf die Arbeit von Sozialwissenschaftlern in Organisationen an, seien es akademische Fachbereiche, staatliche Forschungsförderungsstellen oder Forschungsorganisationen. Soziologen, die Forschungsprojekte übernahmen, die starken organisatorischen Einflüssen ausgesetzt waren, sahen sich in der Regel mit dem Problem konfrontiert, daß sie Metaphysik mit Moral verwechselten, das heißt, indem sie sich (richtigerweise) dagegen zur Wehr setzten, bestimmte Urteile apriori in ihre Arbeit zu übernehmen, kamen sie gleichzeitig (fälschlicherweise) zu dem Schluß, daß die Forschung völlig frei von Fragen nach der Sinnhaftigkeit moralischen Handelns und dem Stellenwert von Wissen in diesem Zusammenhang sein muß. Daß diese Position von Mills in seinem Buch The Sociological Imagination detailliert dargelegt worden ist, braucht hier nicht betont zu werden. Allerdings ist weit weniger klar, daß Mannheim Mills in diesem Zusammenhang nicht nur "beeinflußte" , sondern daß er ihn um ein Vierteljahrhundert sowohl in Ton als auch in In.halt antizipierte. In einer Buchbesprechung in der American Sociological Review des Jahres 1932 führt Mannheim , nachdem er die deutsche Soziologie wegen ihrer Überbetonung des spekulativen Elements kritisiert hat, aus: " ... American sociology suffers from an eccessive fear of theories, from a methodological asceticism which either prevents the putting forth of general theories or else keeps such theories as exist isolated from practical research .... This ascetic attitude towards theories seems to be based on amistrust of 'philosophy' or 'metaphysics'. Unwillingness to discuss basic questions, however, does not benefit positive research. It is possible that many American scholars will admit the importance of theoretical construction. However, the main thing in the field of methodology is not to have a right opinion, but to act according to it. Now, it seems to me that the most valuable specimens of 'empirical' sociology show a curious lack of ambition to excel in the quality of theoretical insight into phenominal structures. They reveal a great anxiety not to violate a certain very one-sided ideal of exactness. One alm ost ventures to say, such works aim in the first place at being,exact, and only in the second place at conveying a knowledge of things.... Exaggerated 'methodological asceticism' often results in the drying up of the sour ces of scientific inspiration and invention. In order to know social reality, one must have imagination, a particular brand of imagination which I should like to call 'neolistic'40."
Phänomens zu erklären. Mills vereinte die beiden hier erwähnten Kritikpunkte; das heißt, er erklärte das Überwiegen abstrakter Empiristen durch ihre enge Bindung an formale Organisationen, die bis zu einem gewissen Grad die Kunstform empirischer Sozialforschung bestimmen. Zu dieser Zeit hatte sich Mills natürlich schon lange mit der Nützlichkeit der Wissenssoziologie auseinandergesetzt. Es gibt eine Anzahl von Gründen, die dafür verantwortlich sind, daß Mills seinen ursprünglichen Enthusiasmus für die Themen, mit denen er sich in seinen frühen Aufsätzen beschäftigte, verlor. Erstens war die Unterstützung an der Columbia University im Vergleich zur University of Wisconsin für die intellektuelle Position, die er vertrat, weniger eindeutig. So schrieb er zum Beispiel Anfang des Jahres 1940 an Robert K. Merton an der Tulane University (Merton trat seine Position an der Columbia University im Herbst 1941 an), um ihn um kritische Anmerkungen für eine geplante Neufassung seines Aufsatzes "Methodological Consequences of the Sociology of Knowledge" zu bitten. Merton antwortete ihm nach drei Monaten wie folgt: "In general, I cannot accept the relativistic impasse to which I am forced to believe you (and Mannheim) are driven. Secondly, I do not believe that the alternative is an absolutistic notion of 'truth'. Thirdly, I think it can be shown that the avowed epistemological consequences of a socio~ logy of knowledge rest in part, if not wholly, upon a semantic confusion in the 'use of such words as 'truth', 'validity', 'knowledge'. Fourthly, I do not accept, of course, most of the other views of Mannheim with respect to the tasks of a sociology of knowledge 41 ."
Zweitens, weder der Relativismus noch seine Variante, der Relationismus, hatte für Mills in der Praxis die Anziehungskraft, die er für ihn in der Theorie hatte. Er war eher ein Bilderstürmer als ein Vermittler. Sei es während seiner Studienjahre in Texas 42 oder während der späteren Jahre im Privatleben 43, M ills nahm in der Regel bei fast jedem Thema, das er diskutierte, eine temperamentvolle, kompromißlose Haltung ein. Verantwortlich dafür war unter anderem sicher, daß er mehr als nur Wissenssoziologe sein wollte; er wollte Soziologe sozialer Institutionen sein, insbesondere solcher Institutionen, die mit politischer Macht und der kulturellen Entwicklung Amerikas zu tun hatten - sowie der sozialen Rollen, die Intellektuelle (und die Wissenssoziologie) in jeder dieser Institutionen spielen. Schon im Januar 1942 verwies er in einem Brief an Professor Gerth auf kommende Entwicklungen: "Vou see, as if you didn't know it, I am a political youngster. I never paid any attention to political affairs until last year, or better until this year in Washington (you ought to see me c1ipping the New York Times now). Such training as I've had has been concerned wjth the sharpening up of intellectual apparatus, and I am quite weak in content: social and political history. That is why you are so good to keep setting me on the right track44 ."
Inhabern mächtiger Positionen in den USA erworben hatte, machte er deutlich, daß die Macht in einer Gesellschaft nicht aus den Läufen von Gewehren stammt, sondern aus den der Intelligenz zugänglichen Möglichkeiten; die Intellektuellen, so glaubt er, könnten die Freiheitsräume der Mächtigen aufzeigen: "It's been said in criticism that I am too much fascinated by power. This is not really true. It is intellect I have been most fascinated by, and power primarily in connection with that. It is the power in the intellect and the power of the intellect that most fascinates me, as a social analyst and cultural critic45 ."
Mills war, wie schon Mannheim, davon überzeugt, daß uns die gegenwärtige Epoche in die Lage versetzt, mit größter Deutlichkeit zu verstehen, daß gegensätzliche politische Ansichten auf bestimmte soziale Kontexte zurückführen und daher im Prinzip komplementär sind. Intellektuelle können in dieser Situation als eine Art Klammer wirken. Sie würden politisch Handelnden nicht vorschreiben, welche Ziele die Gesellschaft anstreben solle, sondern würden ihnen zeigen, wie ihre Widersacher zu verstehen sind, indem sie deren wirkliche Motive und sozio-historische Position enthüllen. Es ist zwar richtig, daß Politik notwendigerweise pateilich ist, aber diese Parteilichkeit selbst ist veränderbar und ständig Wandlungen unterworfen. Im Gegensatz zu Mannheim war Mills der Meinung, daß die Aussichten für eine "wissenschaftliche Politik", zumindest in den USA, nicht besonders gut waren und daß dies seit Ende des ersten Weltkriegs immer deutlicher geworden ist. In allen Arbeiten von Mills gibt es einen Generalnenner, der im Lauf der Zeit immer deutlicher wird: In den Vereinigten Staaten von Amerika kamen die politisch Mächtigen einst aus der Intelligenz. In den "überentwickelten Gesellschaften" haben die Mächtigen den Intellekt als Bezugspunkt jedoch aufgegeben. Als Ergebnis dieser Entwicklung wird der politische Liberalismus als politische Kraft, sofern er nicht zur Banalität und Impotenz verurteilt ist, häufig im Interesse der Machtelite eingesetzt, um die von der Machtelite begangenen Verbrechen im Namen einer höheren Moral zu verschleiern. Genauso, wie das Wissen der Intellektuellen nur selten zur Macht führt, führt die Macht den Mächtigen nur selten zum Wissen 46 . Die Überlegungen, die Mills zu dieser Überzeugung brachten, lassen sich aus einer Reihe von Aufsätzen rekonstruieren, die er während seines Aufenthalts in Maryland schrieb. In einem unveröffentlichten Aufsatz mit dem Titel "Locating the Enemy: Problems o[ Intellectuals in Time o[ War" verweist Mills darauf, daß die Intellektuellen die Möglichkeit zu autonomem Handeln dann weitgehend verloren haben, wenn sie zu Kriegszeiten aufgerufen sind, bestimmte Dienste für ihre Regierungen zu leisten. Aus Rücksicht auf die Notwendigkeit, die nationale Einheit zu stärken, ist es unmöglich, eine Vielzahl von Perspektiven zu erarbeiten, zumal diese Perspektiven in der Regel ihren Ursprung im Ausland haben und daher als fragwürdig angesehen werden:
meehanies and situations eonneeted with the tasks whieh thinkers pursue stand against the ehanees of the intelleetual eontent of their thinking being otherwise than mentioned47 ."
Allerdings unterließ es Mills zu erklären, warum Intellektuelle so bereitwillig waren, im Dienste des Staates diese Funktionen - Lehren, Schreiben, Herausgeben, Forschen - auszuüben. Zurückblickend hat man den Eindruck, daß die Bedeutung des Aufsatzes darin liegt, daß Mills andeutet, daß der Nationalismus, genauso wie klassenadministrative oder bürokratische Zugehörigkeit, ein Hindernis in der Wahrheitsfindung sein kann. In einem später geschriebenen unveröffentlichten Aufsatz "The Personal and Political" hat es den Anschein, als wolle er die Frage nach dem "Warum" beantworten. Intellektuelle haben die absurde Dichotomie von Intellekt und Politik akzeptiert und damit auch Intellekt und Moralität voneinander getrennt. Wahrheit und politische Macht sind Gehilfen; sofern diejenigen, die Macht anstreben, Macht haben oder sie vermehren wollen, nicht eine von der Wissenssoziologie beeinflußte Einstellung zur Wahrheit einnehmen, besteht die Gefahr, daß sie sich einer "höheren Unsittlichkeit" unterwerfen. Die Intellektuellen müssen nun, frustriert in ihrer Suche nach Macht oder in dem Bemühen, diejenigen zu beeinflussen, die Macht besitzen, das tun, was sie en masse zu vermeiden versuchten: nach Wahrheit nicht als kontemplativem Bereich zu suchen, der von "Politik" nicht kontaminiert ist, sondern als einer Form politischen Aktivismus,49. Im Grunde sind sie jedoch Angehörige der Mittelklasse und in Organisationen beschäftigt; sie unterliegen häufig der politischen Psychologie des verängstigten Arbeitnehmers. Sie zensieren sich selbst, um "ungefährliche" Problem ansätze zu finden, im Gegensatz zu solchen, die ihren Rang im Angestelltenapparat in Frage stellen könnten, sehr wohl wissend, daß sie dabei ihre Autonomie kompromittieren. Dies ist Ursache persönlicher Frustrationen, mit denen Intellektuelle zu kämpfen haben. Mills vertiefte seine These in einem 1944 veröffentlichten Aufsatz "The Powerless People: The Role of the Intellectuals"so. Das politische Geschäft basiert in allen industriellen Gesellschaften auf Macht - und Geheimhaltung, Heuchelei, Unehrlichkeit, Bürokratisierung und die Unterdrückung von Dissent werden zunehmend Mittel zu diesem Zweck. Dennoch ist die Erklärung für diese Entwicklung nicht eindeutig; es handelt sich mehr um eine interne Bedingung als um einen externen Feind. Die Aufgabe des Intellektuellen ist es, die wirklichen Gründe und die Identität der Personen, die die Entwicklung in Gang gebracht haben, auszumachen. Aber warum ist er an diese Verantwortung gebunden? "The shaping of the society in whieh we live and the manner in whieh we shaiI live in it are inereasingly politieal. And this society inciudes the realms of intelleet and personal morals. Jf we demand that these realms be geared to our own aetivities whieh make a publie differenee, then personal morals and politieal interests beeome ciosely related; any philosophy that is not a personal eseape involves taking a politieal stand ... The independent artist and inteiIeetual are among the few remaining personalities equipped to resist and to fight the stereotyping and eonsequent death of genuinely living things ... These
Im Ansatz enthalten diese drei Aufsätze all das, was Mills später zur Beziehung von Macht und freischwebenden Intellektuellen schreiben sollte. In der Tat hat er einige Abschnitte später wörtlich wieder verwendet 52 . Das obige Zitat im besonderen liest sich wie eine Aussage über eine persönliche Mission. Bei seinem Vorwurf an die Adresse des Klerus, die Politik zu meiden, bestand er darauf, daß [that] "this world is political. Politics, understood for wh at it really is today, has to do with the decisions men make which determine how they shall live and how they shall die ,,53 . Seine Bücher The New Men o[ Power und The Power Elite können daher besser als missionarische Schriften verstanden werden, in denen er den religiösen und säkularen Klerus aufruft, Ideen in politisches Handeln umzusetzen. Für Mills bestand das Versagen des modernen Liberalismus darin, daß er, wo er einst auf Vernunft und Intellekt für seine Durchsetzungskraft vertraute, nun zur Sprache der funktionalen Rationalität großer Institutionen geworden ist 54 . Das Individuum, der Freie, auf den sich liberales Gedankengut einst stützte, hat sich einem politischen Irrationalismus verschrieben: denn im gescheiterten Bemühen, den offensichtlichen Zerfall des "Konkurrenzgleichgewichts" ebenso wie das zunehmende Zusammenwachsen von Wirtschaft, Politik und Militär zu erklären, hat er sich der Apathie oder dem ideologischen Wunschdenken, das gegen "Kommunisten" oder irgendwelche andere identifizierbare Feinde gerichtet ist, verschrieben. Im Zusammenhang mit dem Niedergang liberaler Philosophie steht eine zunehmende Einflußnahme liberaler Rhetorik. Von Aristoteles über Locke bis Mannheim war es eine der grundlegenden Annahmen des Liberalismus, daß Moralität und Freiheit innerhalb und nicht außerhalb des politischen Prozesses gefunden werden müssen. Indem aber die Mächtigen auf "Moralität" und "Freiheit" rekurrieren, um ein Handeln zu rechtfertigen, das diese Ideale ständig verletzt, banalisieren sie sowohl diese Ideale als auch den Liberalismus selbst. Dort, wo der Liberalismus nicht zu einem Mechanismus der Verwirrung entartete, wurde er zum Zetergeschrei für Aufwärtsmobilität und wachsende Erwartungen in einer kapitalistischen Mischwirtschaft, als ein Vehikel für private und quasi-private Interessengruppen, die ihre Ansprüche dem Staat gegenüber vorbrachten, der jeder dieser Gruppen Almosen im Namen eines "fair play" zukommen ließ. Die Anziehungskraft, die der Liberalismus in gleicher Weise auf Gewerkschaftsführer, Bürokraten und Geschäftsleute ausübte, war sein Verderben: "The ideals of liberalism have been divorced from any realities of modern social structure that might serve as the means of their realization. Everybody can easily agree on general ends; it is more difficult to agree on means and the relevance of various means to the ends articulated. The detachment of liberalism from the facts of a going society make it an excellent mask for those who do not, cannot, or will not do what would have to be done to realize its ideals 56 ."
Der Vorwurf, daß der Liberalismus an Kraft verlor, zu Kompromissen bereit war, nur zu rhetorischen Ausfällen fähig und nicht in der Lage war, einen Angriff auf poli-
eine Besänftigung der Rechten in der Epoche des Kalten Krieges handelte, typisch dafür war die Vorstellung vom Ende der Ideologie, die Ende 1955 auf dem CCFKongreß in Mailand aufgestellt wurde, als um die linke Position, die Mills repräsentierte. Die späten vierziger und fünfziger Jahre waren, wie Garry Wills dies genannt hat, die Blütezeit des Bogart-Professors s6 , des liberalen "tough-guy", der aufgrund seiner kampferprobten Erfahrungen im OSS, CIA oder besser noch als Ergebnis eines kurzen, aber erfolglosen Flirts mit der Kommunistischen Partei (von der zuletztgenannten Erfahrung sagte Arthur Koestler, daß sie am besten geeignet sei, um sich gegen die falschen Verlockungen von Ideologie zu wappnen) in der Lage war, den Herausforderungen einer wildgewordenen Ideologie angemessen zu begegnen. Während Koestler, Sidney Hook und Arthur Schlesinger den allgemeinen Ton angaben, eröffneten die liberalen Sprecher des Kalten Krieges, von der Annahme ausgehend, daß sie Vorstellungen entwickelten, durch die die herkömmlichen Verweise auf "rechts" und "links" ihre Gültigkeit verlieren würden, eine primäre Angriffsfront gegen die Linke (die der Gefahr unterlag, dem Stalinismus gegenüber blind zu sein) und eine sekundäre gegenüber der Rechten (die der vergleichbaren Gefahr unterlag in einer von Senator McCarthy beeinflußten Weise der Überreaktion). Mit anderen Worten: zur gleichen Zeit, als der Liberalismus die liberale Rhetorik schuf, brachte der Pragmatismus einen "tough-minded" Pragmatismus oder als Alternative einen "hard-headed" Pragmatismus hervor. Die von der Linken vertretene Kritik der gesamten amerikanischen Sozialstruktur war bestenfalls "einseitig" und ,,~isch". Mills sah diese Vorstellungen als Ausdruck eines "false consciousness, if there ever was one, [as] a disillusionment with any real commitment to socialism", das weniger als explizite Auseinandersetzung als in einer an der Welt verzweifelten Stimmung ausgedrückt wurde. Paradoxerweise war die Hartnäckigkeit der Angehörigen der CCF Beweis für die Impotenz des Liberalismus. Die Vorstellung vom Ende der Ideologie war selbst ideologisch, obwohl es sich dabei, in Mannheims Begriffssprache, um eine partikulare und nicht um eine totale Ideologie handelte. Was den Vorwurf des Utopismus angeht, so schrieb Mills: ,,'Utopian' nowadays I think refers to any cnt:J.Clsm or proposal that transcends the up-dose milieu of a scatter of individuals: the milieu which men and women can understand directly and which they can reasonably hope to change. In this exact sense, our theoretical work is indeed utopian in my own case, at least, deliberately so. Wh at needs to be understood, and what needs to be changed, is not merely first this and then that detail of some institution or policy. If there is to be a politics of a New Left what needs to be analyzed is the structure of institutions, thefoundation of policies. In this sense, both in its criticism and in its proposals, our work is necessarily structural - and so, for us, just now - utopian S7 ."
Mit anderen Worten, Mills basierte seine Überlegungen auf die gleichen Annahmen wie Mannheim. Fälschlicherweise richteten die Ideologen des Endes der Ideologie ihre Angriffe auf die gesamte utopische Linke, sie hätten sie richtigerweise nur auf ihren chiliastischen Teil, der nicht in der Lage ist, andere Visionen strukturellen
Realismus, der verhindert, daß er sich Mannheims Warnung zu eigen macht: "Die liberale Idee ist adäquat nur verstehbar als Gegenspielerin des oft hinter rationalistischen Konstruktionen sich verbergenden chiliastischen Durchbruchserlebnisses, das stets potentiell historisch und sozial den Liberalismus rücklings zu überfallen droht58 ."
IV In der Mitte der fünfziger Jahre kam Mills zu der Überzeugung, daß die Gesetzmäßigkeiten der Machtbeziehungen in Amerika weniger eine Frage der Politik als eine Angelegenheit der politischen Kultur sind; so wurden aus "freischwebenden Intellektuellen" "kulturelle Arbeiter". In diesen Veränderungen seiner Einstellung, die in The Sociological Imagination deutlich werden und besonders in den Aufsätzen des unveröffentlichten Buches The Cultural Apparatus, manifestiert sich Mills Beziehung zu Mannheim in dessen späteren Lebensjahren. Mills' Einschätzung der amerikanischen Kultur stand in einer engen Beziehung zu seiner Überzeugung, daß die "kulturellen Arbeiter" kaum einen Einfluß auf sie hatten. In einer gewissen und unbedeutenden Weise war die amerikanische Kultur für die vielen soziologischen und sozialpsychologischen Beobachtungen von und Vorurteilen über Mittelklassen- und untere-Mittelklassen-Familien dieser Zeit sehr empfänglich. Die fünfziger Jahre waren eine Periode des "Organization Man", des Aufsteigers und Statussuchers, des Mannes im grauen Anzug und der einsamen Masse. Der "economic man" des White Collar gab Mills Anhaltspunkte zur Formulierung einer analogen kulturellen Variante: des "cheerful robot"; ein "Roboter", weil für ihn die Geschichte wenig mehr als ein unverständlicher Verlauf blinder Gewalten ist, an die er sich verstandesmäßig auf mechanische Weise mit Hilfe des klassischen Gesetzes vom Schicksal anpaßt ("was ist, muß sein"); "fröhlich", da die gute Botschaft, die sie ihren Mitmenschen bringen, ein gefrorenes Lächeln ist, dessen tiefere Beweggründe davonlaufen. Die wichtigste Aufgabe für Sozialwissenschaftler ist, sowohl tatsächlichen als auch potentiellen Robotern Bestandteile des Geschichtsverlaufs zu erklären. Verantwortlich dafür, daß sie dies bisher nicht getan haben, ist die Tatsache, daß es ihnen nicht gelungen ist, ihr Publikum zu identifizieren; mit anderen Worten, Sozialwissenschaftler selbst zu fröhlichen, aber gebildeten Robotern zu machen. Es ist ihnen daher nicht möglich, den Geschichtsverlauf im Sinn menschlicher Freiheit zu beeinflussen: "The ultimate problem of freedom is the problem of the cheerful robot, and it arises in this form today because today it has become evident to us that all men do not naturally want to be free; that all men are not willing or not able, as the case may be, to exert themselves to acquire the reason that freedom requires ... To formulate any problem requires that we state the values involved and the threat to those values. For it is the feit threat to cherished values - such as those of freedom and reason - that is
Die Zwänge wachsender Rationalisierung moderner Gesellschaften kompartmentalisieren nicht alltägliches und esoterisches Wissen, sondern auch die Distanz zwischen den Gruppen, die ihre Träger sind. Esoterisches Wissen (" intellect") und alltägliches Wissen (" common sense") sind willkürliche Gegensätze. Von Intellektuellen wird behauptet, daß sie durch die zuerstgenannte und kaum durch die zuletztgen:lJlnte Wissensform ausgezeichnet sind. Die Öffentlichkeit hat angeblich viel von der zuletztgenannten und wenig von der zuerstgenannten Wissensform. Während für Thomas Paine "common sense" die Integratoin von persönlichem Lebensstil und politischem Handeln bedeutete, repräsentiert es für den fröhlichen Roboter den idealen Vorwand: "Politik" wandelte sich zum Lebensstil. Eigennützige kulturelle Unterscheidungen wie "highbrow", "middlebrow" und "lowbrow" entwickeln sich. Freiheit und Sicherheit lassen sich immer weniger voneinander unterscheiden. Unter Mithilfe der Massenmedien werden Bedrohungen der persönlichen Sicherheit daher personifiziert als "sie", die Feinde der Freiheit. Die Freiheit ist keine Notwendigkeit mehr, sondern eine apriori-Annahme, die sich um die ungenau definierten Vorstellungen von freier Wirtschaft und Anti-Kommunismus aufbaut. Diese Distanz ist somit sowohl ein allgemeiner soziologischer Begriff und, dies ist besonders wichtig, ein Mittel, mit dem man den modernen Trend zur integralen Demokratie erklären kann. Letztlich ist dies das wichtigste Merkmal der amerikanischen politischen Kultur. Seine Veränderung hatte jedoch nicht nur Vorteile. Privatleben und öffentliche Probleme mögen zusammenfallen, um ein "intakteres" Individuum zu schaffen; allerdings können sie auch durch Zwang zusammenfallen. Diese Möglichkeit war genau die Entwicklung, die durch die Koordinierung von Macht und Wissen durch die Machtelite hervorgerufen wurde. Wie war es möglich, fragte sich Mills, daß das Aufzwingen von wirtschaftlichem, politischem und militärischem Autoritarismus auf das Privatleben in modernen Demokratien, besonders in den USA, Fuß fassen konnte: Wiederum bot Mannheim eine Erklärung an. Obwohl die Demokratie auf dem Glauben an die menschliche Vernunft basiert, politische Entscheidungen zu erzielen, erlaubt sie gleichzeitig, unbehinderten emotionalen Impulsen Ausdruck zu verleihen. Die Demokratie mag zwar zur Entfaltung der individuellen Persönlichkeit beitragen, aber sie entwickelt gleichzeitig einflußreiche Mechanismen, die dazu beitragen, daß das Individuum sein Gewissen aufgibt und "Zuflucht in der Anonymität der Masse sucht"6o. Eine Vernunftdemokratie kann daher eine Stimmungsdemokratie werden: "Dictatorships can arise only in democracies; they are made possible by the greater fluidiry introduced into politicallife by democracy; it represents one of the possible ways in which a democratic sociery may try to solve its problems .... As political democracy be comes broader and new groups enter the political arena, their impetuous activity may lead to crises and stalemate situations in which the political decision mechanisms of the society become paralyzed. The political process may then be short-circuited so as to enter a dictatorial phase 61 ."
Man kann daher sagen, daß Mannheim de Tocqueville sozusagen aus wissenssoziologischer Sicht wiedergab. Es hat den Anschein, daß Mills den Überlegungen Mann-
Bestimmung der Art und Weise dieses Rückzugsverhaltens. Für Mannheim, der die Machtübernahme der Nazis miterlebt hatte, als er 1933 "The Democratization of Culture" schrieb, manifestierte sich die Stimmungsdemokratie in der freiwilligen Unterwerfung des Individuums unter einen kollektivistischen, vulgarisierten Vitalismus. Für Mills manifestierte sie sich im völligen Rückzug des Individuums aus der Politik, sieht man einmal von der periodischen und relativ sinnlosen Stimmabgabe ab. Der Autoritarismus konsolidierte sich allmählich aufgrund mangelnder Oppositionsfeindlichkeit. Die Angstzustände der Mittelklasse sind Ursache und Ausdruck ihrer perzipierten Hilflosigkeit. Ihre Fähigkeit, politisch zu handeln, wird durch herrschende Ideologien beschränkt, die dazu dienen, Angstzustände über ein zulässiges Maß hinaus anwachsen zu lassen. Sofern sich diese Ideologien zu mehrdimensionalen und miteinander in Konflikt stehenden Ideologien entwickeln, reagiert das Individuum blasiert oder indem es sich auf sich zurückzieht und ist nicht in der Lage zu verstehen, daß die Gefühle, durch öffentliche und private Probleme überwältigt zu werden, Teil einer verschränkten "Falle" oder "Schere" sind. Der Intellekt allein kann die Schere nicht öffnen, er kann nur die Notwendigkeit dafür einsehen und Vorschläge dafür unterbreiten, wie dies möglich ist. Die Aufgabe, sie tatsächlich zu öffnen, ist eine Angelegenheit von Personen, die die Frage: "What must be done, personally and publicly, in order to get whatever it is we want for ourselves and ... what must be done in and to the structure of society"62, in aller Öffentlichkeit stellen. Die in Frage kommenden Akteure finden sich heute nicht allein unter Intellektuellen, sondern in drei Gruppen - Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern, die jeweils für sich dem existierenden kulturellen Apparat entgegentreten müssen, der von den Herrschenden etabliert und erhalten wird. Mills zu folge besteht dieser Apparat aus: "All the organizations and milieus in which artistic, intellectual and scientific work is made available to circles, publies, and masses ... Inside this apparatus, standing between men and events, the images, meanings, slogans, the worlds in which men live are organized, hidden, debunked, celebrated. Taken as a whole, the cultural apparatus is the lens of mankind through which men see; the medium through which they interpret and report wh at they see. It is the semiorganized source of their very identities and of their aspirations. It is the source of The Human Variety - of styles of life and of ways to die 63 ."
Kulturelle Aktivitäten finden ihren Ausdruck im Vokabular der Motive. Auf der ganzen Welt bedeutet, ein kulturelles Ereignis zu erleben, Kommunikationssymbole zu erleben, die durch die herrschende institutionelle Ordnung gefiltert sind. Herrschende kulturelle Einrichtungen entwickeln sich durch einen freiwilligen Austausch zwischen Kulturarbeitern und herrschender Elite. Das gemeinsame Austauschmedium ist Prestige. Der Kulturarbeiter, als dienender Handwerker, wird immer dann, wenn er sich um kulturelles Prestige bemüht, ko-optiert. Seine Fähigkeit, Vernunft, Sensibilität und Technik zur Schaffung von Schönheit zu vereinen, wird kompromittiert, ganz unabhängig davon, ob ihm dies bewußt ist oder nicht. Es zeigt sich hier eine
intellectual freedom is no longer in his hands." Dies hat zur Folge, daß sowohl de "Star", der 5 000 Dollar für einen populären Stil verlangt, obwohl er gerade diesen Stil hinter sich lassen möchte, als auch der liberale Intellektuelle oder Journalist, de dafür bezahlt wird, die Schweinebuchtaffäre zu verschleiern, ebenso wie der Physi ker, der sich weigert, seine Vorgesetzten über die Gefahren des atomaren Kriege aufzuklären, ein gemeinsames kollektives, allerdings nicht klassenbedingtes Bewußt sein entwickeln. Indem Mills den Sozialwissenschaftler als Inhaber einer der sozialen Positionen sieht die diesen erlaubt, als Vermittler zwischen den gesamtgesellschaftlichen Kulturgruppe zu fungieren, wird die von Mannheim beeinflußte Konzeption dieser Rollenträge besonders deutlich: der Soziologe als Handwerker, der Soziologe als großer Mann der Soziologe als Autobiograph. Trotz der Dramatik, des Ehrgeizes und des Grad der Anregung, die diese Vision impliziert, enthält sie gleichzeitig eine Anzahl von Mängeln, ganz abgesehen von der eher fragwürdigen Annahme, daß sich die Aktivi täten von Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen ähneln. Erstens, Mills hatt nur geringe Kontakte mit amerikanischen Kulturschaffenden. Darüber hinaus wa sein Eindruck vom Alltag in Amerika während der fünfziger und frühen sechzige Jahre notwendigerweise pessimistischer. Zwar war diese Zeit nicht gerade die Blüt eines Renaissance-Menschen, aber es war eine kulturelle Wüste, nur von unbedeuten den kreativen Ausbrüchen unterbrochen, die kaum von einem ebenso kleinen Pub likum verstanden wurden. Romanciers wie Herbert Gold, Norman Mailer, Lesli Fiedler befanden sich auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität; über Jack Kerouac Allen Ginsberg und die übrigen Poeten der Beat-Generation mag man zwar mehr ge redet als sie gelesen haben (dies trifft immer noch zu), aber sie hatten trotzdem ein großes Publikum; in Hollywood produzierte man zu dieser Zeit eine Anzahl hervor ragender Filme, unter ihnen Stanley Kubricks "Paths o[ Glory" und "Dr. Strangelove (er wurde ein Jahr nach Mills' Tod uraufgeführt), die nicht nur scharfe Kritike eines "crackpot-realism" enthielten, sondern auch Geschäftserfolge waren; Mile Davis, Bud Powell und John Coltrane erweiterten die Konturen des Jazz, ohne da Publikum ihrer Musik zu verärgern; moderne Kunst mag zwar chic gewesen sein trotzdem führte dies nicht dazu, daß ihre Schöpfer dadurch herabgesetzt wurden Aus "Race music" wurde "Rythm and Blues"; Rock 'n Roll verdrängte Patti Page die Ames Brothers und Your Hit Parade von der Bestsellerliste, obwohl Mills wi auch die anderen Intellektuellen die Bedeutung dieser Entwicklung nicht erkannten. Man konnte natürlich eine neo-Schumpeterianische Haltung einnehmen und behaup ten, daß die Massenmedien, die solchermaßen durch die Machtelite kontrolliert un personifiziert wurden, durch Langspielplatten, Fotografien, Filme und Taschenbüche das Ableben dieser Elite vorbereiteten. Diese These würde der von Daniel Bell vertre tenen Auffassung in seinem Buch The Cultural Contradictions o[ Capitalism ziem lich nahekommen. Dennoch ist sehr gut möglich, daß eine solche These auf lang Sicht nicht unbedingt zutreffen muß; aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, mu
len Entwicklung sind. Zweitens, Mills' Charakterisierung des fröhlichen Roboters ist zweifellos zu einern gewissen Grad realitätsnah, allerdings ist sie auch ein Produkt der Mängel der Literatur über die Massengesellschaft sowie der zu seiner Zeit vorherrschenden Vorurteile über die Vorstädter. Es waren William Michelson, Herbert Gans und Bennett Berger, die Gegenpositionen zu denen von William H. Whyte, lohn Seeley, Maurice Stein und David Reisman entwickelten. Die konsequente Ablehnung der strukturierten empirischen Sozialforschung hat Mills in diesem Zusammenhang schwer bezahlen müssen. Da er nicht bereit ware, mit seiner Hypothese vorn fröhlichen Roboter zu Felde zu ziehen, war er darauf angewiesen, aus einer Kollage von Impressionen aus erster Hand, zufälligen persönlichen Erlebnissen, Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten sowie den empirischen Ergebnissen anderer seine eigene Kulturkritik zu entwickeln. Bis zu einern gewissen Punkt mögen diese Hilfsmittel sicher von Wert gewesen sein. Es ist möglich, daß Bennett Berger in kritischer Absicht an Mills dachte, als er seine Untersuchung eines Arbeitervororts in Kalifornien mit folgenden Bemerkungen endete: "The critic waves the prophet's long and accusing finger and wams: "Vou may think you're happy, you smug and prosperous striver, but I tell you that the anxieties of status mobility are too much; they impoverish you psychologically, they alientate you from your family" ... And the suburbanite looks at his new house, his new car, his new freezer, his lawn and patio ... and scratches his head, bewildered. The critic appears as the eternal crotchet, the professional malcontent telling the prosperous that their prosperity, the visible symbols of which surround them, is an illusion: the economic victory of capitalism is culturally Pyrrhic 65 ."
Da Mills den Bewohner der Vorstädte und den Massenmenschen als eng verbunden sah, überrascht es nicht, daß er nicht in der Lage war, die Verschiedenheit beider Idealtypen zu sehen. Zusammenfassend kann man jedoch sagen, daß Mills' Verständnis der amerikanischen politischen Kultur, das Mannheims Überlegungen zur Integration von Reflexion und Handeln von Intellektuellen sowohl herausforderte als auch von ihnen herrührte, eine durchdringende und dennoch unvollständige Vision darstellte. Die Schwächen lassen sich kaum leugnen - manche Kritiker würden sagen, daß sie lähmend waren. Dennoch ist es ein Zeichen von Mills' Größe als Sozialwissenschaftler, daß er zumindest in der Lage war, Arbeitshypothesen und -modelle für die Forschung zu entwickeln, die weit über die Grenzen der USA hinaus anwendbar sind.
Anmerkungen 1 Karl Mannbeim, Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M. 1952, S. 8I. 2 C. WrigbtMills, The Causes ofWorld War Three, New Vork 1958, S. 20-2I. 3 John Friedmann, Retracking America: A Theory of Transactive Planning, Garden City, N. V., 1971, S.228. Friedmann ist immer noch einer der wenigen amerikanischen Planungstheoretiker, in deren Schriften die Beziehung zwischen Gesellschaftslenkung und Wissenssoziologie behandelt wird.
7 C. WrightMills,a.a.0.,S.156. 8 C. Wright Mills, The Sociological Imagination, New York 1959, S. 6. 9 C. Wright Mills, Two Criteria for a Good Society, in: Irving Louis Horowitz (Hrsg.), On Social Men and Social Movements: The Collected Addresses and Lectures of C. Wright Mills, Mexico City 1968. 10 Jede der folgenden Quellen liefert eine adäquate bis ausgezeichnete Diskussion und/oder Kritik über Mannheims Wissenssoziologie. Zu den kürzeren Zusammenfassungen gehören: John Friedmann, a.a.O., S.22-48; Scott Green, The Logic of Social Inquiry, Chicago 1969, S.5-6; W. Warren Wagan, The City of Mass, Boston 1963, S.252-53; Hans Speier, Social Order and the Risks of War: Papers in Political Sociology, Cambridge, Mass., 1969, S. 190-201; H. Stuart Hughes, Consciousness and Society: The Reconstruction of European Social Thought, 1890-1930, New York 1958, S.418-27; Benjamin Walter, The Sociology of Knowledge and the Problem of Objectivity, in: Llewellyn Gross (Hrsg.), Sociological Theory: Inquiries and Paradigms, New York 1967, S.335-57; Rohert K. Merton, Social Theory and Social Structure, New York 1957, S. 256-88; Kurt Wolff (Hrsg.), From Kar! Mannheim, New York/ Oxford, S. XI-CXXXIII; Werner Stark, The Sociology of Knowledge: An Essay in Aid of a Deeper Understanding of the History of Ideas, London 1958; Jacques Macquet, The Sociology of Knowledge: Its Structure and its Relation to the Philosophy of Knowledge, Boston 1951. Für eine Diskussion darüber, inwieweit Mannheim MiUs direkt beeinflußte, siehe: Joseph A. Scimecca, The Sociological Theory of C. Wright Mills, Port Washington, N. Y., 1977, S. 32- 3 3, 50-51; Derek Phillips, Epistemology and the Sociology of Knowledge: The Contributions of Mannheim, Mills, and Merton, in: Theory and Society, I, I, 1974. 11 Karl Mannheim, a. a. O. 12 Ebd. 13 Karl Mannheim, Freedom, Power, and Democratic Planning, New York/Oxford 1950, S. 20011. 14 Karl Mannheim, Essays on the Sociology of Culture, London 1956, S. 51. 15 H. S tuart Hughes, a. a. 0., S. 420. 16 C. Wright Mills, Situated Actions and Vocabularies of Motive, in: American Sociological Review, 5, Nr. 6, 1940, S. 427. 17 Werner Stark , a.a.O., S. 333-46. 18 Irving Louis Horowitz, Prehistoria de la Sociologia deI Conocimiento: Bacon y Dilthey, in: Cuadernos de Sociologia, XIII, Nr. 22, 1960, S. 189-214. 19 C. WrightMills, Images ofMan, XXX, S.12. 20 Ders., Methodological Consequences of the Sociology of Knowledge, in: American Journal of Sociology, 46, Nr. 3, 1940, und in ders., Power, Politics and People, New York 1963, S. 456. 21 Ders., Power, Politics and People, a.a. 0., S. 456-57. 22 W. Ziegenfuß, Gesellschaftsphilosophie, 1954, S.67, zitiert in Werner Stark, The Sociology of Knowledge, a. a. 0., S. 338. Stark selbst erhebt genau den gleichen Vorwurf. 23 Joseph A. Scimecca, a. a. 0., S. 50. 24 Derek PhiUips, a.a.O., S. 65. 25 C. Wright Mills, Buchbesprechung von Karl Mannheim, Man and Society in an Age of Reconstruction, New York 1940, in: American Sociological Review, 5, Nr. 6,1940, S. 965-69. 26 Ebd., S. 965. 27 Ebd., S. 967-68. 28 Ders., a.a.O., 1963, S.423-38. 29 Ebd., S. 439-52. 30 Ebd., S. 469-524. 31 Ebd., S. 448. 32 Ebd., S. 452. 33 Ebd., S. 499. 34 Ebd., S. 424-68. 35 Ebd., S.453-68. 36 Ebd., S. 463. 37 Ebd., S. 464. 38 Ebd., S. 466.
Mannheim, Essays on Sociology and Social Psychology, New Vork 1953, S. 189-90. 41 Brief von Robert K. Merton an C. Wright Mills vom 16. April 1940. 42 Brief von A. P. Brogan an John L. Gillin vom 2. Februar 1939; Brief von Carl Rosenquist an T. C. McCormick vom 2. Februar 1939; Brief von Henry D. Sheldon, Jr. an John L. Gillin vom 4. Februar 1939. 43 Vgl. die Bemerkungen von Mrs. YaroslavaMills in Joseph A. Scimecca, a.a.O., S.121. 44 Brief von C. Wright Mills an Hans Gerth vom 16. Januar 1942. 45 C. WrightMills, APreface to Political Morality, in: ders., a.a.O., 1968. 46 Ders., Power Elite, New Vork 1956, S. 352. 47 Ders., Locating the Enemy: Problems of Intellectuals During Time of War, in: ders., a.a. 0., 1968. 48 Ders., The Personal and the Political, in: ders., a.a.O., 1968. 49 Siehe KarlMannheim, a.a.O., 1952, S. 91. 50 C. Wright Mills, The Powerless People: The Role of Intellectuals, in: Politics, 1, Nr. 3, April 1944; auch erschienen in: ders., a.a. 0., 1963, S. 292-304. 51 Ders.,a.a.O., 1963,S.299. 52 Siehe zum Beispiel ders., White Collar, London 1969, S.157-59. 53 Ders., a. a. 0., 1958, S.155. 54 Siehe ders., Liberal Values in the Modern World, in: ders., a.a.O., 1963, S.187-95; ders., Political Ideals and Vulgar Ideologies, in: ders., a.a.O., 1968, und ders., a.a.O., 1956, S. 242-68. 55 Ders.,a.a.O., 1963,S. 189. 56 Gary Wills, Nixon Agonistes: The Crisis of the Self-Made Man, Boston 1970, S. 507-22. 57 C. Wright Mills, Letter to the New Left, in: New Left Review, Nr. 5, 1960; auch erschienen in: Chaim I. Waxman (Hrsg.), The End of Ideology Debate, New Vork 1968, S. 134. 58 KarlMannheim, a.a.O., 1952, S.196. 59 C. Wright Mills, a. a. 0., 1959, S. 175. 60 Karl Mannheim, a.a.O., 1956, S.174. 61 Ebd., S.171-172. 62 C. WrightMills, Private Lives and Public Affairs: Life as a Trap, in: ders., a.a. 0., 1968. 63 Ders., a.a.O., 1963, S.406-07. 64 Daniel Bell, The Cultural Contradictions of Capitalism, New Vork 1976. 65 Bennett Berger, Working-Class Suburb, Berkeley and Los Angeles 1960. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Welge.
Goldmann und Mannheim - in den Biographien der Autoren von "Le Dieu Cache" und "Ideologie und Utopie" werden dem Schreiber unserer Ideengeschichte, der aus einem Plutarchschen Blickwinkel das Leben der "großen Männer" unserer eigenen Zeit zu betrachten vermag, eine ganze Anzahl interessanter Analogien auffallen. Beide Leben waren kurz, 57 bzw.54 Jahre, und beide machten eine geradezu blitzartige Karriere. Der Einfluß von Lukacs ist bei beiden Autoren feststellbar, obwohl man sie schwerlich als dessen Schüler bezeichnen könnte, denn sie zeichneten sich beide durch eine starke Persönlichkeit aus. Schließlich, und dieser Aspekt dürfte wohl am wichtigsten sein, sind beide Denker recht repräsentativ für jene "freischwebende Intelligenzschicht", die ja, wie man weiß, eine ganz besondere Stellung in Mannheims Werk einnimmt. Trotz dieser Gemeinsamkeiten schätzte Goldmann seinen Kollegen Mannheim nicht gerade hoch ein. Die wenigen Bemerkungen zu Mannheim in Goldmanns Werk sind in der Regel abschätzig, und in seinen mündlichen Stellungnahmen kam diese Tendenz noch stärker zum Ausdruck ("un penseur de sixieme ordre"). Wenn Mannheims Werk in Frankreich nur ein sehr bescheidenes Echo hervorgerufen hat, verglichen mit dem unerhörten Interesse an Georg Lukacs, so ist Goldmann hieran wohl nicht ganz unschuldig. Durch seine persönliche Stellungnahme hat Goldmann eine sehr wirksame Barriere aufgebaut, die, neben anderen beteiligten Faktoren, das Eindringen des Mannheimschen Werkes in die französische Diskussion der Wissenssoziologie verhindert hat. Sicherlich sind aber auch die außergewöhnlich schlechten Übersetzungen von "Ideologie und Utopie" hierfür mitverantwortlich. Man entdeckt also, trotz aller offensichtlichen Gemeinsamkeiten, einen gewissen Antagonismus zwischen diesen beiden Denkern, und die Theorie der "freischwebenden Intelligenz" erscheint als einer der Kristallisationspunkte dieses Antagonismus. Bezüglich des Klassenbewußtseins eines revolutionären Proletariats in der Nachfolge von Lukacs kann man etwa bei Goldmann lesen: "Anschließend hat Karl Mannheim das Problem vereinfacht und die Position von Lukacs durch ein echtes Argument pro domo ersetzt. Anstelle des Grenzbewußtseins des revolutionären Proletariats hat er eine wirkliche Gruppe entdeckt, die eine derart privilegierte Situation genoß, daß ihr eine richtige Erkenntnis der Realität möglich war: die "freischwebende Intelligenz". Konkret lief diese Position darauf hinaus, die Wahrheit zum Privileg einer Minderheit von Fachsoziologen zu machen. Es ist nicht verwunderlich, daß sein Werk günstig aufgenommen wurde und daß man in Mannheim den "Schöpfer" der Wissenssoziologie erblickte! ." Diese Interpretation läßt sich aber nur schwerlich aufrechterhalten. Mannheim, dessen Terminologie sicherlich einem stärkeren Wandel unterlegen ist als das
Lehrkörper an den deutschen Universitäten der Weimarer Zeit überhaupt als "freischwebend" bezeichnen kann. In den schlimmsten Inflationsperioden sicherte die Weimarer Republik ihren Universitätslehrern einen beneidenswerten Lebensstandard, und man muß auch daran erinnern, daß diese, ganz im Gegensatz zu ihren französischen Kollegen, im allgemeinen eine konservative politische Position vertraten. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß Mannheim diese Gruppe bei der Abfassung seiner Theorie als Modell verwendet haben sollte. Man kann hingegen die These vertreten, daß das tatsächliche Modell für Mannheims Konzept im progessiven intellektuellen Milieu Budapests in der Zeit von vor dem Ersten Weltkrieg zu finden ist. Dieses grundlegend antikonformistische Milieu entsprach gerade dadurch der Bezeichnung "freischwebend", daß es dem offiziellen universitären Leben fern stand, obwohl es einen gewissen Einfluß auf politischer Ebene ausübte, nämlich in der ideologischen Vorbereitung der demokratischen (und frankophilen) Revolution im Ungarn des Jahres 1918, dem sogenannten "ungarischen Oktober". Diese antikonformistische Tradition hat in der Budapester Schule weitergelebt, und es ist möglich, ihre späten Nachwirkungen noch in den Ereignissen von 1956 aufzudecken. In diesem Milieu gab es nur eine winzige Minderheit von Hochschullehrern, die ungarische Universität jener Zeit hatte nicht viel für einen frischen Wind übrig. Es war also dieses Milieu, in dem nur wenige Professoren anzutreffen waren und dem wirklich jedwede Mentalität einer "Hofphilosophie" fremd war, welches höchstwahrscheinlich für die Entwicklung der berühmten Mannheimschen Theorie Modell gestanden hat. Was Goldmanns eigene Position in der Frage des spezifischen gesellschaftlichen Bewußtseins einer sozialen Gruppe betrifft, so kann man hierzu bei Pierre V. Zima lesen, daß "dans son etude sur Kant, Goldmann a deja essaye de montrer qu'une philosophie qui ne s'identifie aux interets et a l'ideologie d'aucun groupe social existant ne saurait avoir une structure dialectique; la pensee dialectique est toujours l'expression d'une transcendance de l'individu, d'une communaute humaine. Celle-ci est en meme temps la communaute entre la pensee et le monde, entre le sujet et l'objet. Le sujet pas un ,J e' cartesien, rationaliste, mais un ,Nous' collectif, transindividueI 2 ." Dieses Zitat hat das große Verdienst, das Problem Goldmann-Mannheim in einer klaren Weise darzulegen. Man kann genausogut die der Goldmannschen Position entgegenlaufende These unterstützen, daß eine "Philosophie, die sich mit den Interessen einer gegebenen gesellschaftlichen Gruppe identifiziert", riskiert, sich durch eben diese Identifikation in eine Art "Miniatur-Staatsräson" zu verwandeln, und diese Staatsräson ist oft eine verdinglichte "Räson"3. Zimas Verwendung des Identifikationsbegriffes ist für das Problem der Unzulänglichkeit der Goldmannschen Mannheim-Lektüre recht aufschlußreich. Die logische Struktur des ideologischen Denkens ist ja durch ein Vorherrschen des Identifikationsprozesses zu Ungunsten des dialektischen Totalitätserlebnisses charakterisiert4 • In dem Maße, wie die "freischwebende" (das heißt, die nicht integrierte) Intelligenzschicht dieser "Identifikations-Transzendenz", ein von Goldmann und Zima geprägter Begriff, zu widerstehen vermag, ist sie in der Lage, einer
Wurzellosigkeit dieser "Intelligenzschicht", der Baconschen Götzenbilder (in erster Linie der "Idola tribus") Herr zu werden und in dieser Weise das Zustandebringen einer wissenschaftlichen, das heißt einer von jeder Art falschen Bewußtseins befreiten Politik zu ermöglichen. Jedenfalls scheint Mannheim die Bedeutung eines seelischen Prozesses, wenn auch nicht verkannt, so doch zumindest unterschätzt zu haben: die Tendenz gewisser Intellektueller, ihre Isolierungsangst mit der Waffe der "Hyperidentifizierung" mit einem der Protagonisten des Klassenkampfes - zumeist mit dem Proletariat - zu bekämpfen s . Diese Hyperidentifikation ist aller Wahrscheinlichkeit nach die Grundkategorie der Psychologie des Mitläufers ("fellow traveller"); die ideologische Laufbahn eines Jean-Paul Sartre - und zwar in erster Linie seine Einstellung zum Stalinismus - ist auch in dieser Hinsicht recht aufschlußreich. Es gibt eben doch eine spezifische Form falschen Bewußtseins bei den Mitgliedern der freischwebenden Intelligenzschichten, wobei der Begriff der "kompensatorischen Hyperidentifikation" eine Grundkategorie dieses Phänomens darstellt. Es fällt nicht schwer, das Mannheimsche Modell der "freischwebenden Intelligenzschicht" mit dem Beispiel jener notorischen Blindheit zu konfrontieren, die gewisse bedeu tende Intellektuelle befiel, wenn sie sich dem Phänomen des Stalinismus gegenübergestellt sahen; man kann aber ebensogut auf den Mangel an Klarsicht bestimmter Mitglieder der Pariser Intelligentsia bezüglich der Krise im Iran verweisen 6 . Diese Sichtweise soll jedoch nicht die kaum weniger häufigen Fälle politischer Klarsicht bei wirklich "freischwebenden" Intellektuellen vergessen lassen, wie etwa bei Mannheim, Koestler, Goldmann selbst oder bei Pareto. Der Fall Pareto ist hier besonders interessant. In Raymond Arons erstem Aufsatz über Pareto wird dieser Denker sehr ungnädig behandelt, von Georges Gurvitch in seinen Vorlesungen an der Sorbonne dann geradezu mit Verachtung 7 . Heute scheint der Ruf des Autors jenes berühmten "Traite de Sociologie" einen Aufschwung zu erfahren. Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod gewinnt die Theorie der "Zirkulation der Eliten" in steigendem Maße den Charakter einer prophetischen Vorhersage. Man braucht sich hier nur einmal die Entwicklung des Aronschen Urteils über Pareto in seinen nachfolgenden Schriften anzusehenB. Nun ist der politisch rechtsorientierte Pareto geradezu ein Musterbeispiel des "freischwebenden Intellektuellen": ein quasi zweisprachiger Franko-Italiener, der in einem dritten Lande einen Lehrstuhl erhielt, ein Ingenieur, der erst spät zum Ökonomen und Soziologen wurde, ein Aristokrat im Universitätsmilieu. Sucht man nach dem Schlüssel zur Erklärung der politischen Klarsicht dieses "freischwebenden" Intellektuellen, so findet man diesen vielleicht in der Fähigkeit, das dem ideologischen Denken zugrundeliegendel!Xi(j-kognitive Amalgam aufzulösen. Die Ideologie steht mit einem Bein in der Sphäre des Seins, mit dem anderen in der Sphäre des Sollens, und diese Undifferenziertheit des Wert- und Seinserlebnisses ist zumindest teilweise für die ideologische Distorsion verantwortlich. Selbstredend ist die Zugehörigkeit zur "freischwebenden Intelligenz" keineswegs in der Lage, die Seinsgebundenheit der Denkprozesse aufzuheben. Sie mag dagegen (was ja nicht dasselbe ist) zumindest die axiologische Un-
court" , so Sartre.) Es handelt sich hierbei also nicht um Bewußtseinsstrukturen und erst recht nicht um das theoretische Wissen einer Elite. Es stellt sich also die Frage, wie man Goldmanns Fehleinschätzung von Mannheims Position erklären kann. Diese Erklärung kann von der Wissenssoziologie selbst geliefert werden: Goldmanns Lektüre von Mannheims Werk ist, um es mit den Worten des Mannheimschen Vokabulars zu sagen, seinsverbunden. Man kann hier von der Hypothese ausgehen, daß die Wissenssoziologie ihr eigentliches experimentelles Feld dort vorfindet wo falsche Theorien erfolgreich sind; denn der Erfolg gültiger Theorien erklärt sich doch letztlich durch die Kraft der Wahrheit selbst. Aus dieser Perspektive besehen ist Lyssenko ein dankbarerer Gegenstand für den Wissenssoziologen als etwa Morgan. Ebenso sind die Irrtümer eines großen Denkers für uns viel wertvoller als die angemessenen Erkenntnisse eines mittelmäßigen Denkers. Die Goldmannsche Lektüre von Mannheims Werk liefert uns ein sehr gutes Beispiel für das, was man eine ideologische Lektiire nennen kann. Zu dieser Fragestellung ließe sich eine einfache Hypothese formulieren, die möglicherweise zum Ausgangspunkt für eine fruchtbare Diskussion werden könnte. Ebenso wie Lukacs hat sich Goldmann nie vollständig dem Einfluß der stalinistischen Ideologie entziehen können. Er schmiedete seine ersten politischen Waffen in jenem "liberalen" Rumänien, in dem der Heroismus der kommunistischen Untergrundkämpfer oft die Bewunderung der bürgerlichen Presse hervorrief. Die Zugehörigkeit zu einem solchen Milieu stellt eine Erfahrung dar, die für das ganze Leben prägt. Sie könnte auch jenen Verzerrungen zugrunde liegen, welche ohne diese Hinweise unerklärlich bleiben, und anders ließe sich auch wohl kaum jene seltsame trotzkistische Interpretation der historischen Rolle der Bürokratie erklären, die ein weiteres fragwürdiges Beispiel einer Theorie darstellt, welche nichtsdestoweniger aus der Feder eines Denkers stammt 9 . Geza Roheim spricht in seinem Buch "Magie et Schizophrenie" von einer bei Schizophrenen feststellbaren, morbiden Identifikation mit der Vergangenheit 1o . Auch bei normalen Persönlichkeiten kann eine rigide Identifikation mit der Vergangenheit zur Quelle für Verzerrungen werden, und hierin kann man den Schlüssel des Problems Goldmann-Mannheim finden. Es ist ja bekannt, daß dem Stalinismus eine wissenschaftlich-rationalistische Dimension und "Philosophie der Aufklärung ohne Toleranz" zueigen war. In seinem Werk über den Sowjetmarxismus hat Herbert Marcuse deutliche Analogien zwischen der Psychologie des Puritanismus, dessen Prädestinationsglaube nach Max Weber ja die Quelle des für das Funktionieren des kapitalistischen Systems notwendigen Ethos darstellt, und der Psychologie des" homo sovieticus", oder besser des "homo stalinianus" , aufgezeigt l l . Diese verdinglichte Rationalität ist tatsächlich in den verschiedensten Manifestationen des stalinistischen Marxismus vorhanden. Sie äußert sich in der Kritik an der Psychoanalyse, welcher die Theoretiker der 5 Der Jahre ihre Konzessionen an die Irrationalität der menschlichen Natur vorwarfen, jene Zugeständnisse an die Nachtseite der Menschennatur, welche der deutschen Romantik so teuer war, deren wohl letzte
retikern nicht proletarischer Abstammung erarbeitet werden sollten, das heißt, die der Arbeiterklasse "von außen" geliefert werden. Außerdem zeigt sie sich in jenem Ostrazismus, der die Ideen und manchmal sogar die Persönlichkeit der Entfremdungstheoretiker befällt, ganz zu schweigen von den Theoretikern des "falschen Bewußtseins", bei denen Lukacs und Mannheim in vorderster Linie stehen. Hier findet man aller Wahrscheinlichkeit nach auch die okkulte Ursache der Ungnade, in die Lukacs' Hauptwerk "Geschichte und Klassenbewußtsein" bei der marxistischen Orthodoxie fiel: der Staatsmarxismus konnte ihm die Kritik der bürokratischen Verdinglichung nicht verzeihen. Legt man diese Perspektive an, so hat man vielleicht den besten Ausgangspunkt dafür, das Geheimnis der ideologischen Mannheim-Lektüre Goldmanns aufzu spüren. Es scheint so, als ob Goldmann eine verdinglichte, rationalistisch-szientistische Interpretation des Problems des politischen Bewußtseins auf Mannheim projiziert hat. "Freischwebende Intellektuelle" sind für Goldmann ganz einfach Professoren, und in dieser Optik stellt sich dann die Überwindung der politischen Entfremdung als das Produkt der Gesamtheit des theoretischen Wissens dar, deren Träger gerade diese gesellschaftliche Gruppe zu verkörpern scheint. In Wirklichkeit handelt es sich hier jedoch um etwas ganz anderes. Mannheim hat schon sehr frühzeitig - wir beziehen uns hierbei auf das Jahr 1927 - die Rolle der kollektiven Formen des Egozentrismus - wie etwa die Rassenlehre - für die Genese der politischen Entfremdung erkannt. Sein Appell richtet sich an die Entwurzelten, an die intellektuellen Randgruppen, die hier Abhilfe schaffen sollen: der Akzent liegt mehr auf "freischwebend" als auf "Intelligenz". Aus unserer heutigen Perspektive betrachtet ist dieses Denken auf eine erstaunliche Weise "jung", und es ordnet Mannheim in die Reihe der Theoretiker (hier qua Antizipation) der Studentenbewegung der sechziger Jahre ein. Man kann in ihm einen Vorläufer Herbert Marcuses sehen, und auch ein anderer Theoretiker der Studentenrevolte, Georges Lapassade, hat weitgehend von diesem Denker profitiert, besonders', was dessen Pionierbeitrag zur Frage des "Generationenproblems" angeht. In der Optik der rationalistisch-szientistischen Auslegung durch Goldmann wird diese Vorläufer" rolle Mannheims allerdings völlig verdeckt. In der Beziehung zwischen Mannheim und Goldmann spielt aber noch eine andere Problematik eine ganz entscheidende Rolle: die Frage des "falschen Bewußtseins". Die Leser von "Geschichte und Klassenbewußtsein" wissen, welch eminent bedeutende Stellung dieser Frage in Lukacs Werk zukommt. Daß dies bei Mannheim genauso der Fall ist, wissen aber nur jene, die "Ideologie und Utopie" im Original gelesen haben. Das Wichtige an dieser Fragestellung wird bei der englischen bzw. der französischen Übersetzung durch die Inkompetenz der Übersetzer verschüttet, und seltsamerweise läuft diese Verformung noch auf eine illegitime Rationalisierung des Problems hinaus. Außerdem trug Mannheim selbst durch einige ganz gezielte Bemerkungen in seinen Schriften aus der angelsächsischen Periode zu dieser Verschleierung bei, was durch seine Sorge motiviert war, das neue, für marxistische Terminologien nur wenig empfängliche
dieser sehr richtigen Feststellung läßt sich noch hinzufügen, daß Mannheim viel dazu beigetragen hat, um ihnen diese Aufgabe zu erleichtern 12 . Auch wenn das Problem des falschen Bewußtseins in Mannheims Werk mehr oder weniger stark verschleiert ist, so nimmt es nichtsdestoweniger einen wichtigen Platz in seinem Denken ein. Es handelt sich hierbei übrigens auch um eines der grundlegenden Konzepte des vom Autor geprägten "Hungaro-Marxismus", dessen Lage am Kreuzungspunkt verschiedener kultureller Einflüsse ihn für die Frage der Entfremdung und die ihr verwandten Probleme in hohem Maße sensibilisiert hat. Man weiß ja auch, daß der orthodoxe Marxismus schon seit eh und je gegenüber der Frage der Entfremdung und dem von ihr abgeleiteten Problem des falschen Bewußtseins eine feindselige Haltung eingenommen hat. Die Gründe hierfür haben einen wissenssoziologischen Stellenwert, und sie entsprechen jenen, die in der gleichen Epoche dazu führten, daß die Psychoanalyse in Ungnade fiel. In diesem Zusammenhang kann man auf die tragische Verstrickung von Lukacs in jener ideologischen Situation verweisen, die von ihm gleichzeitig die Loyalität des Parteigenossen gegenüber seiner Partei und die dem zuwiderlaufende Treue des Denkers gegenüber seiner Botschaft verlangte. Lukacs entzieht sich dieser Situation durch einen Komprorniß, der nicht der erste seines Werdeganges war und auch nicht der letzte bleiben sollte, und dieser Komprorniß trägt einen Namen: "Die Zerstörung der Vernunft". Es handelt sich hier um eine geniale ideologische Pirouette, die eine rein statische Kritik der Rationalität der gegnerischen Ideologie erlaubt statt einer nur in historizistisch-dialektischer Perspektive möglichen Kritil,<. des falschen Bewußtseins. Sie erlaubt damit die kritische Anwendung der rissigen Dokumentation von Lukacs, ohne dabei dem Götzenbild der der öffentlichen Ideologie zugrundeliegenden verdinglichten "Aufklärungsrationalität" den Rücken zukehren zu müssen. Angesichts des Schiffbruches der Theorie der Entfremdung in den Gewässern des offiziellen Marxismus gelingt es Lukacs, sein Gepäck in den Dampfer des triumphierenden Rationalismus hinüberzuretten. "Die Zerstörung der Vernunft" erscheint dementsprechend als das am besten dokumentierte und zugleich schwächste Werk dieses großen Denkers. Es ist eine Konzession an den verdinglichten und undialektischen Rationalismus der offiziellen Ideologie. Was hier als Dialektik auftritt, ist etwas ganz Oberflächliches, der formal-statischen Scheindialektik des Garaudschen "Denkens" nicht unähnliches (ich denke hier selbstredend an die Werke der stalinistischen Periode dieses Denkers, und zwar an seine Doktorarbeit: "La theorie materialiste de la connaissance", die schon von jean- Yves Calvez als ganz und gar undialektisch gebrandmarkt wurde). Dies äußert sich dann in der Art und Weise, wie Lukacs Mannheim behandelt, einen gleichermaßen dialektisch denkenden und auf Abbau von Entfremdung abzielenden Theoretiker, der leichtfertig in die Hölle ·der konterrevolutionären Zerstörung der Vernunft verstoßen wird. Mannheim wird tatsächlich beschuldigt, Begründer einer Wissenssoziologie zu sein, welche (und hier liegt ein unentschuldbares Verbrechen vor) mit der Existenzphilo-
ihm N. Berdiaeff) die Wurzeln des Existentialismus gerade im Frühwerk von Georg LukQ:cs aufspürten. Dem Vorbilde Saturns folgend, frißt der marxistische Denker seine eigenen Kinder. Und wie stellt sich nun dieses Problem bei Goldmann? Die Frage des falschen Bewußtseins stand nie im Zentrum seiner Interessen, auch wenn er ihr einen Vortrag auf dem Kongress von Stresa gewidmet hat. Für Goldmann stellt der Aspekt der "Unangemessenheit", anders ausgedrückt: der Irrtum, die wesentliche Kategorie des Problems des falschen Bewußtseins dar. Er meint hiermit den durch die soziale Lage determinierten Irrtum. Ebenso wie bei der Frage nach der Rolle der Intelligentsia kehrt Goldmann auch hier zu den rationalistisch-verdinglichten Positionen des offiziellen Marxismus zurück, und dies trotz seiner ausgesprochen kritischen Einstellung zu den Exzessen der stalinistischen Politik, welche ja zu jener Zeit, was ihre Ausmaße angeht, noch kaum vermutet werden konnten. Es gibt nicht einen Marxismus, sondern nur Marxismen, so schrieb schon vor langer Zeit Raymond Aron, und Werner Stark definierte seinerseits den Marxismus als "a bundle of theories". Unsererseits würden wir zumindest zwei "Marxismen" unterscheiden: eine kritisch-humanistische Variante im Sinne von Lukacs und Mannheim, den man ohne irgendeine kritische Absicht als existentialistischen Marxismus bezeichnen kann und dessen primäre Problemstellung wir in der Frage der Verdinglichung und der Entfremdung erblicken, und auf der anderen Seite einen Marxismus der verdinglichten Staatsräson: "Ein hoher Grad von kausaler Notwendigkeit, den der Handelnde selbst sogar als absolute, unentrinnbare, eherne Notwendigkeit aufzufassen und aufs Tiefste zu empfinden pflegt, gehört also zum innersten Wesen des Handelns nach Staatsräson 14 ." Diese Meineckesehe Definition des Begriffes der Staatsräson ist der verdinglichten Wahrnehmung sozialer Fakten, die Lukacs in seinem Hauptwerk beschreibt, nicht unähnlich. "Dialektischer Materialismus versus materialistische Dialektik" (Robert Meignez), wobei man noch hinzufügen kann, daß die materialistische Dialektik dazu tendiert immer weniger materialistisch zu sein, und der dialektische Materialismus in immer geringerem Maße dialektisch ist. Mannheim selbst erscheint uns geradezu als Prototyp des historizistischen und dialektischen Denkers. Er war gleichzeitig aber auch ein aufrichtiger Bewunderer der angelsächsischen Demokratie, ob zurecht oder nicht, soll hier dahingestellt bleiben. Bevor wir ihn hierfür kritisieren, sollten wir bedenken, daß Herbert Marcuse zu einem anderen Zeitpunkt genauso gehandelt hat und daß der 1947 verstorbene Mannheim den "Kalten Krieg" sozusagen gar nicht miterlebt hat. Mannheims angelsächsisches Abenteuer stellt ein interessantes Kapitel der Ideengeschichte dar. Es scheint, als habe er sich in den Schriften dieser zweiten Periode seiner Laufbahn das Ziel gesetzt, diese Form der Demokratie gegenüber ihrem östlichen Konkurrenten dadurch wettbewerbsfähig zu machen, daß er ihr ein Mindestmaß an dialektischem und historischem Geist einimpfte und ihr weiterhin die Vorstellung von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer gesellschaftlichen Planung im Kontext der Freiheit näherbrachte. Andere haben
dieser Gruppe, trotz aller berechtigter Kritik an ihrer Position, doch das unbestreitbare Verdienst zukommt, durch ihre klare Stellungnahme die heutige Polarisierung der Perspektiven erleichtert zu haben. Wir haben die "Zerstörung der Vernunft" von Lukacs als ein Beispiel für die Auswirkungen jenes grundlegenden Konflikts herangezogen, der viele Denker zwischen den Forderungen des dialektischen Denkens und jenen des ideologischen Dogmatismus unweigerlich begegnete. Es wurde zu zeigen versucht, daß dies auch auf Goldmanns Mannheim-Lektüre zutrifft, jedoch mit der Besonderheit, daß Goldmann die philosophischen Konsequenzen seiner eigenen politischen Positionen in die Lektüre von Mannheims Werk hineinprojizierte, was ihm dann gestattete, sich selbst einen dialektischen Standort zu bewahren. Lukacs ging letztlich auf gleiche Weise vor, als er Mannheims Existentialismus kritisierte, bedenkt man, daß Goldmann gerade in Lukacs' Werk die Wurzeln dieses Denkens angelegt sah. Diese Kritik mag streng erscheinen, es ging jedoch in dieser Darstellung darum, ein lebendiges und vollständiges Porträt zu zeichnen, welches sich in die Geschichte der ideologischen Debatten der Gegenwart integrieren läßt. Das hier behandelte Problem gehört zum Bereich der Bewußtseinssoziologie und diese stellt eine Problematik dar, die für die Zukunft der marxistischen Theorie von größter Bedeutung ist, denn auf diesem Gebiet wird sich die Validität oder Falschheit dieser Theorie bezüglich jener "Zukunft, die schon begonnen hat", entscheiden müssen. Trotz seines bedeutenden Beitrages zum Problem des "conscience possible" nimmt diese Fragestellung nur einen sekundären Rang im Gesamtwerk von Lucien Goldmann ein, welcher ja in erster Linie ein Literatursoziologe war. Die oben vorgebrachte Kritik bezieht sich also nur auf einen kleinen Bereich eines Theoriegebäudes von beachtlichem Ausmaße, dessen unerhört fruchtbarer Einfluß auf die Entwicklung der marxistischen Forschung in Frankreich kaum angezweifelt werden kann.
Anmerkungen 1 Lucien Goldmann, Gesellschaftswissenschaften und Philosophie, Frankfurt 1971, S. 44. 2 Pierre Zima, Goldmann, Dialectique de l'immanence, Paris 1973, S. 18. 3 Man braucht hier nur an die verschiedenen Stellungnahmen von Marxisten aller Richtungen zur Frage der entfremdenden Funktion des Staates zu erinnern. 4 Die "Uridentifikation'" der stalinistischen Ideologie drückte sich in der Identifizierung von Partei und Klasse aus, der dann als eine logische Ableitung eine ganze Serie von anderen Identifikationen folgen. Wenn das Interesse der Partei mit dem der Klasse identisch ist, so stehen alle Gegner der Partei virtuell auf der gleichen Stufe, was sich dann in Ausdrücken wie "hitlerotrotskisme" oder "Sozial-Faschismus" niederschlägt. Man sieht hier, daß die Identifikation die dialektische Funktion ebensogut blockieren wie auch fördern kann. 5 Cf. hierzu die folgende Passage aus "Ideologie und Utopie", Frankfurt 1965, S. 138: "Dieses Mißtrauen ist aber nur ein Symptom für den soziologischen Tatbestand, daß das Aufgehenwollen der Intellektuellen in einer ihnen fremden Klasse seine Grenze findet an ihrer geistigen und ständischen Bedingtheit. Diese ist soziologisch so gewaltig, daß sie sogar dem Proletarier, sofern er sich zum Intellektuellen emporarbeitet, einen ständischen Einschlag beibringt. Es kann
Bindung und die Notwendigkeit, das eigene und das fremde Mißtrauen zu überwinden." 6 Die politischen Konzepte wie "links", "rechts" oder "Faschismus" haben in der politischen Literatur der letzten Jahrzehnte zwei verschiedenen Formen der egozentrischen Distorsion unterlegen. Zum einen einer positiven egozentrischen Distorsion: alles, was der UdSSR gegenüber positiv eingestellt ist, wird als "links" eingestuft, was ihr entgegenläuft als "rechts". Dem übergeordnet ist seit einiger Zeit ein anderer Prozeß der negativen egozentrischen Distorsion: alles, was sich der Politik der Vereinigten Staaten widersetzt, wird apriori als "links" eingeordnet und kann somit der Definition nach nicht faschistisch sein. Diese Verzerrung der politischen Konzepte hat die faschistischen Dimensionen der Ereignisse im Iran völlig verschleiert. (Kult der charismatischen Führerpersönlichkeit, Massenbewegung, Antikommunismus, antifeministische Einstellung, egalitaristische Demagogie, eine Anti-Minoritäten-Politik, rassistische Ausschreitungen.) Mannheims Ruf nach der "frei schwebenden Intelligenz" hatte die Gefahr solcher Verzerrungen im Auge, von theoretischen Kenntnissen ist hier nicht die Rede. Sein Intellektueller ist hier jedoch eher ein "Idealtypus", d. h. Träger eines möglichen Bewußtseins ("conscience possible"), und nicht ein Intellektueller aus Fleisch und Blut, der mit einem wirklichen psychischen Bewußtsein ausgestattet ist. 7 Georges Gurvitch, Les classes sociales, Paris 1966, S. 121 und S. 137. 8 Raymond Aron, s. hierzu: Zeitschrift für Sozialforschung, Paris 1937, ders., Les etapes de la pensee sociologique, Paris 1967, hierin: das Kapitel über Pareto; ders., Ecrits politiques, Paris 1972; ders., Lectures de Pareto, in: Contrepoint, 1974. 9 S. hierzu die Diskussion über die trotzkistischen Thesen in: Rizzi, La bureaucratisation du monde, Paris 1939. 10 Geza Roheim, Magic and Schizophrenia, New York 1955, S. 35. 11 Herbert Marcuse, Le marxisme sovietique, Paris 1963, S. 255. 12 Andrew Feenberg in: Revue Fran .. aise de Sociologie, April 1979, S. 300. 13 Georg Lukacs, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1955, S. 500. 14 Friedrich Meinecke, Die Idee der Staatsräson, München 1963, S. 6. Aus dem Französischen übersetzt von Franz Schultheis.
KAUSALITÄT, ANSCHAULICHKEIT UND INDIVIDUALITÄT ODER WIE WESEN UND THESEN, DIE DER QUANTENMECHANIK ZUGESCHRIEBEN, DURCH KULTURELLE WERTE VORGESCHRIEBEN WURDEN! Von Paul F orman
I. Einleitung
Im folgenden sollen das Wesen der Quantenmechanik und der philosophische Sinn, der ihr von Physikern zugeschrieben wird, diskutiert werden, und zwar in Hinblick auf das geistig ideologische Milieu im deutschsprachigen Mitteleuropa, wo diese grundlegende physikalische Theorie ihren Ursprung hatte. Die Diskussion hat die Form von drei "Stichproben", das heißt drei Untersuchungen der Art und Weise, in der zeitgenössische Physiker - und insbesondere die Schöpfer der Theorie - die Quantenmechanik mit gewissen philosophischen Grundbegriffen oder, besser gesagt, zentralen Kulturwerten, nämlich Kausalität (Abschnitt II), Anschaulichkeit (Abschnitt IlI) und Individualität (Abschnitt IV), in Beziehung setzten. Hinsichtlich jeden einzelnen Grundbegriffes oder Kulturwertes gehe ich folgendermaßen vor: 1. Der tatsächliche Charakter der Quantenmechanik im Hinblick auf diesen bestimmten Begriff. 2. Wesen, philosophischer Sinn oder weltanschauliche Implikationen, die der Quantenmechanik im Hinblick auf den betreffenden Begriff von zeitgenössischen Physikern zugeschrieben wurden. 3. Kulturellelideologische Faktoren, die für die Diskrepanz zwischen (A) und (B), d. h. zwischen dem wahren und dem zugeschriebenen Charakter verantwortlich sind. Ich spreche hier kühn von dem "wahren" Charakter der Quantenmechanik. Es sollte jedoch nicht angenommen werden, daß ich deshalb an eine transzendente "Wahrheit" glaube oder logischerweise verpflichtet bin, dar an zu glauben. Denn man sollte bedenken, daß hier nicht die Frage ist, ob die Quantenmechanik oder irgendeine andere physikalische Theorie, ,,8", wahr ist, das heißt, ob ,,8" die Welt so darstellt, wie sie wirklich ist, sondern lediglich, ob ,,8" als solche gewisse spezifische Merkmale hat. In diesem Fall, nämlich ob sie die Welt auf anschauliche Weise darstellt, ob sie den subatomaren Einheiten, mit denen sie sich befaßt, Individualität beläßt und ob sie die Ablehnung des Begriffs der Kausalität in den Abläufen der Natur gewähr-
vorgibt, ist uns nicht möglich. Unser Fall jedoch liegt im Grunde anders; denn das Dargestellte ist nicht die Wirklichkeit, sondern die Theorie ,,8" per se, und diese präsentiert sich uns tatsächlich direkt als eine intellektuell erfaßbare Größe. Es ist an dieser Stelle durchaus vernünftig und im Grunde auch angebracht, "Objektivität" zu verlangen oder unvoreingenommene Beobachter, die fähig sind, aufgrund vernunftmäßiger Überlegungen und aufgrund des Beweismaterials zu erkennen, "was der Fall ist" (um einen Ausdruck des frühen Wittgenstein zu verwenden). Es ist also die Disparität zwischen den wahren Eigenschaften einer Theorie und den ihr zugeschriebenen Eigenschaften, das heißt, den ihr nachgesagten philosophischen Implikationen, die eine historische Erklärung erfordert. In der Tat deuten für den Historiker solche Disparitäten auf das Vorhanden sein starker kultureller Vorurteile oder Voreingenommenheiten hin. Andererseits läßt sich die Stärke der Vorurteile daran ermessen, daß sie verhindern können, daß die Theorie als das erkannt und akzeptiert wird, was sie wirklich ist und wirklich impliziert. Der Ursprung solcher Prädisponiertheiten liegt in den meisten Fällen in der wissenschaftlichen Theorie selbst. Oder sie können sich in außergewöhnlichen Fällen aus dem Einfluß des allgemeinen intellektuellen Milieus ergeben. Diese zuletztgenannten Fälle sind für den Historiker aus verschiedenen Gründen von besonderem Interesse. Einer der weniger wichtigen Gründe ist der, daß diese Fälle häufig mit öffentlicher Kontroverse verbunden und dadurch durch Manifeste und Gegenmanifeste reichhaltig dokumentiert sind. Einer der wichtigeren Gründe ist der, daß diese Fälle häufig größere konzept~onelle Umwandlungen darstellen: im Großen und Ganzen entstehen revolutionäre Veränderungen der Weltanschauung nicht in der Wissenschaft, sondern werden aus dem allgemeinen kulturellen Milieu in die Wissenschaft importiert. Dieser kurze Aufsatz behandelt einen Fall der zuletztbeschriebenen Kategorie, und zwar die in den zwanziger Jahren eingeführten Quantenmechanik. Was ich mitzuteilen habe, ist, abgesehen von der Darstellung des Kausalitätsstreits, kein Destillat umfassender Forschungen. Vielmehr möchte ich eine Hypothese darlegen und ein Untersuchungsprogramm. Die apothegmatische Form wurde aus Gründen der Kürze und der Klarheit des Ausdrucks gewählt, und weil ich dazu neige, meinen Vorurteilen zu vertrauen. Ich beabsichtige, es glaubhaft zu machen, daß dieser Fall tatsächlich zur zuletztgenannten Kategorie gehört, indem ich zeige, (1) wie außergewöhnlich groß die Abweichungen der Eigenschaften und Implikationen, die der Quantenmechanik damals von den Physikern zugeschrieben wurden, von ihrem wahren Charakter und ihrem wahren Sinn sind; (2) wie diese Verkehrtheit bei der Zu schreibung von Eigenschaften und dem Ableiten von philosophischen "Lehren" durch Bezugnahme auf den Inhalt des damaligen intellektuellen Milieus verständlich gemacht werden kann 2 .
Von Anfang an wurde der Matrizenmechanik eine im Grunde statistische Prägung gegeben, als sie im Sommer und Herbst des Jahres 1925 etwa entlang der Achse Göttingen-Hamburg-Kopenhagen entwickelt wurde. Die "quantentheoretischen Größen", die Heisenberg konzipierte und die Born als Matrizen erkannte, waren entweder Wahrscheinlichkeiten von atomaren Übergängen oder Summen, Produkte und Ableitungen usw. solcher Wahrscheinlichkeiten. Zwar sollte die von Schrödinger im Winter 1925/26 als Antithese zur Matrizenmechanik entwickelte Theorie der Wellenmechanik eine kontinuierliche, kausale Raum-Zeit-Darstellung des Verhaltens individueller Elementarteilchen liefern. Aber die Wellengleichung und ihre Lösungen (die Wellenfunktion "') ließen eine derartige Interpretation in Einklang mit den Fakten der Atomphysik nicht zu. Schrödinger selber demonstrierte im Frühjahr 1926 die formale Äquivalenz der Matrizen- und Wellenmechanik und gab damit selbst den Weg frei für Borns statistische Interpretation der Wellenfunktion im Sommer (lesselben J ahres3 • Somit wurde auch die Wellenmechanik zu dem, was die Matrizenmechanik schon immer gewesen war, nämlich zu einer statistischen Theorie atomarer Prozesse. Und von diesem letzten Ausdruck gibt es nur eine natürliche Minimalkonstruktion ohne jede unnötige ontologische Beigabe: die "'-Funktion beschreibt eine Gesamtheit identisch angeordneter Systeme und gibt somit nur die Verteilung der Ergebnisse einer großen Anzahl von erkennbar identischen Experimenten wieder; die "'-Funktion beschreibt nicht das einzelne Elementarteilchen4 . Um es noch einmal zu sagen, von Anfang an sahen sich die Erfinder der neuen Quantenmechanik mit der verwirrenden Situation konfrontiert, daß die "quantentheoretischen Größen" - ob sie nun durch Matrizen, Differentialoperatoren oder "q-numbers" dargestellt wurden -:- nicht immer untereinander kommutieren. Als Folge dieser charakteristischen Eigenheit der Quantenmechanik sind die statistischen Verteilungen des Variablenpaars, das zur Bestimmung des dynamischen Zustands eines gegebenen Freiheitsgrades des atomaren Systems ausreicht, nicht unabhängig. Sie unterliegen vielmehr einer Bedingung - dem Heisenbergschen Unbestimmtheitsprinzip - , die den Streubereich, auf den sich die statistischen Verteilungen dieser beiden Variablen gleichzeitig reduzieren lassen, nach unten hin abgrenzt.
2. Die Quantenmechanik erweist die Ungültigkeit des Kausalitätsgesetzes
Born betonte in seiner allerersten kurzen Veröffentlichung, in der er im Zusammenhang mit einer wellenmechanischen Behandlung der Kollision eines Elektrons mit einem Atom die wahrscheinlichkeitstheoretische (statistische) Interpretation der Schrödingerschen "'-Funktion vorschlägt, "vom Standpunkt unserer Quantenmechanik gibt es keine Größe, die im Einzelfall den Effekt eines Stoßes kausal fest-
daß die Quantenmechanik deutlich mache, daß das Prinzip der Kausalität nicht aufrechterhalten werden kann 6 . Diese Erklärung erreichte ihren Höhepunkt in Heisenbergs berühmt gewordenem Artikel über das Unbestimmtheitsprinzip. Heisenberg erklärte darin im März des Jahres 1927: "Vielmehr kann man den wahren Sachverhalt viel besser so charakterisieren: Weil alle Experimente den Gesetzen der Quantenmechanik ... unterworfen sind, so wird durch die Quantenmechanik die Ungültigkeit des Kausalgesetzes definitiv festgestellt 7 ." Man beachte, daß Heisenbergs Behauptung eine absolut kategorische ist. Er hat nicht nur Borns Einschränkung "in der atomaren Welt" fallengelassen, sondern seine Behauptung ist derart allgemein, derart umfassend, daß man annehmen könnte, sie treffe sogar auf den Bereich des menschlichen Willens und Handelns zu. Meiner Ansicht nach ist es durchaus gerecht zu sagen, daß Heisenberg auch nichts anderes beabsichtigte. Deutliche Anspielungen in dieser Richtung wurden zur Zeit bereits von Sommerfeld und anderen gemacht, und Bohr - mit dem Heisenberg täglich Kontakt hatte - sollte bald mit sehr expliziten Parallelen zwischen den Gesetzen der Quantenmechanik und denen des menschlichen Denkens hervortreten 8 . Ableitungen der Willensfreiheit aus der Quantenmechanik wurden in den folgenden Jahren immer häufiger und immer dogmatischer und wurden dann von Bohr auch im vitalistischen Sinn erweitert 9 • Die Disparität zwischen der Quantenmechanik per se und den ihr nicht nur von Philosophen, sondern auch Physikern zugeschriebenen weltanschaulichen Implikationen ist ganz deutlich eine große. Die Quantenmechanik ist lediglich eine statistische Theorie. Folglich kann sie nicht, wie Einstein wiederholt, aber vergeblich betont hat, als vollständige Darstellung einer unabhängig existierenden mikroskopischen Welt betrachtet werden. Ebenso wenig kann sie als angemessene begriffliche Grundlage für eine Darstellung unserer makroskopischen Welt angesehen werden, wo wir es zweifelsohne mit individuellen Dingen und Ereignissen zu tun haben, nicht mit statistischen Gesamtheiten lO • Somit gehen die kategorischen Aussagen über die Ungültigkeit des Kausalitätsgesetzes selbst für die physische Welt viel zu weit, und dies nicht zuletzt, weil sie die Tatsache verwischen, daß die Quantenmechanik in jedem Fall eine deterministische Theorie der Wahrscheinlichkeiten ist. Was die allgemeiner formulierten, der Quantenmechanik zugeschriebenen weltanschaulichen Implikationen betrifft daß sie die Willensfreiheit garantiert oder daß sie eine physio-chemische Beschreibung des Lebens ausschließt - , so muß man sagen, daß diese völlig ungerechtfertigt sind.
3. Warum die Quantenmechanik als Grundlage für verallgemeinernde epistemologische Aussagen mißbraucht wurde
Diese unmittelbaren anti-kausalen Interpretationen der Quantenmechanik und die Aufbauschung der Bedeutung dieser Theorie waren fast gänzlich auf den deutsch-
tenmechanik keine Beachtung, bis sie durch ihre mitteleuropäischen Kollegen dazu gezwungen wurden l l . Dies traf im großen und ganzen auch für amerikanische Physiker zu, von denen einige jedoch wenige Jahre später ebenfalls verallgemeinernde in deterministische weltanschauliche Schlüsse aus der Quantenmechanik zogen 12 . Die französischen Physiker, das ist mein Eindruck, waren gar nicht glücklich über die Unbestimmtheit der Quantenmechanik und entnahmen ihr daher im Hinblick auf generelle weltanschauliche Implikationen am wenigsten. Wir müssen also nach besonderen Umständen suchen, die das Milieu der deutschsprachigen mitteleuropäischen Physiker in einzigartiger Weise, oder überwiegend einzigartiger Weise, kennzeichneten und die den Mißbrauch der Quantenmechanik veranlaßt haben könnten. Kurz gefaßt, die entscheidenden Merkmale des kulturellen Milieus waren: a) Ein anti-intellektualistischer, romantischer Irrationalismus, der das "Leben" und das unmittelbare, nichtanalysierte Erlebnis verherrlichte. Zum Beispiel sagte Richard Müller-Freienfels in der Einleitung zu seiner "Philosophie der Individualität": "Ich behaupte nämlich, darin mit vielen neueren Denkern einig, daß die rationale Logik nur eine Art der Erkenntnis, nicht die Erkenntnis schlechthin begründe. Denn das Leben ist mehr als die rationale Wissenschaft, und Philosophie ist mir nicht bloß Wissenschaftslehre, sondern Erkenntnis auch dessen noch, was nicht in die Wissenschaft eingeht. - Ja, Philosophie ist mehr noch als Erkenntnis; Philosophie ist selber Leben 13 ."
b) Abneigung gegen Kausalität. Wie eine derartige weitverbreitete, aber in hohem Maße verworrene Lebensphilosophie erwarten läßt, wurde die Bewegung von ihren Verfechtern hauptsächlich negativ definiert, das heißt, durch das, was sie ablehnten. Am häufigsten und beharrlichsten richtete sich diese Ablehnung gegen die Kausalität, gegen den "Mechanismus und Determinismus einer alles in Elemente auflösenden, alles gleichmachenden und alles im voraus berechnenden Kausalerklärung"14. c) Feindseligkeit gegen die exakte Naturwissenschaft, insbesondere gegen die theoretischen Physiker. Diese erwuchs zunächst daraus, daß der Physiker, oder zumindest die kognitiven Zielsetzungen des Physikers in seiner Eigenschaft als Physiker, gerade das verkörperten, was die Lebensphilosophie ablehnte. Zweitens, die Physik wurde für die moderne Technik und Industrie und damit für unsere daraus folgende Entfremdung von der Natur, von unserer eigenen Natur, vom "einfachen Leben" usw., verantwortlich gemachtlS . Der deutsche Physiker, insbesondere der theoretische Physiker, der vor dem und während des Ersten Weltkrieges hohes Ansehen genoß, wurde nun in der Weimarer Zeit verachtet. Die kulturellen Werte und Attitüden, die ihm immer wieder eine ehrenvolle Stellung in der deutschen Gesellschaft und an seiner Universität gesichert hatten, waren dahin, vertrieben durch andere, die der Zielsetzung des theoretischen Physikers ausgesprochen feindlich gegenüberstanden. Einzelne deutsche Physiker hatten in dem Bemühen, ihr Fachgebiet wieder mit den herrschenden Kulturwerten in Einklang zu bringen, schon vor der Entdeckung der Quantenmechanik Manifeste
überraschend, daß sie, nachdem sie nun eine nicht-deterministische Theorie atomarer Prozesse in Händen hielten, dazu geneigt waren, diese Theorie als Mittel zur allgemein gewünschten Befreiung vom Prinzip der Kausalität anzusehen und öffentlich anzubieten!6.
IlI. Anschaulichkeit 1. Die Quantenmechanik ist eine abstrakte, unanschauliche Theorie
Als Heisenberg im Frühjahr 1925 mit der Arbeit auf dem Gebiet begann, das ihn so überraschend schnell zur Matrizenmechanik brachte, geschah dies mit dem festen Vorsatz, die bildhaften Modelle von Atomen, mit denen er und andere Atomtheoretiker gearbeitet hatten, aufzugeben. Aus Verzweiflung über die Widersprüche, die derartige Bildmodelle mit sich zu bringen schienen, versuchte Heisenberg, der Bohrsehen Behauptung, daß eine Lösung der verwirrenden Probleme der Atomphysik nur durch Verzicht auf die kausale Raum-Zeit-Darstellung der submikroskopischen Welt erzielt werden könne, konkreten Ausdruck zu verleihen!7. (Kausalität und Raum-Zeit-Darstellung, die Bohr 1927 als komplementäre Bestimmungsmöglichkeiten ansah, wurden noch 1924-25 von ihm und anderen als mehr oder weniger äquivalent angesehen.) Sicherlich kann man die in hohem Grade abstrakte, von ihm, Born, Jordan und Dirac entwickelte Theorie am allerwenigsten mit den Attributen anschaulich, intuitiv, bildhaft versehen. Im Gegensatz dazu wurde die Theorie der Wellenmechanik von Schrödinger als eine in hohem Grade anschauliche Darstellung von Atomen und atomaren Prozessen entwickelt. Allerdings erwies sich die Anschaulichkeit dieser Version der Quantenmechanik bald als größtenteils illusorisch. Erstens stellten die "Wellen" oder "Wolken" nicht die Dichte von Masse oder Elektrizität dar, wie Schrödinger meinte, sondern Wahrscheinlichkeitsdichten. Zweitens existieren die Wellen gar nicht in unserem dreidimensionalen Raum der Wirklichkeit, sondern in dem sogenannten Konfigurationsraum, einem Raum also, dessen Dimensionen so mannigfaltig sind, wie es Freiheitsgrade im atomaren System gibt. Schließlich beschreibt, wie oben hervorgehoben, die Wellenfunktion nicht das Verhalten eines einzelnen Elementarteilchens (geschweige denn das Teilchen per se), sondern das Verhalten einer statistischen Gesamtheit von identischen Elementarteilchen oder Systemen!8.
2. Das Attribut "anschaulich" wird auf die Quantenmechanik angewendet Dem ursprünglichen Programm ihrer Begründer nach sollte die Matrizenmechanik ganz explizit eine Theorie atomarer Dynamik sein, die frei war von allen anschau-
Also gab es wohl etwas an dem Ton seiner Kollegen, an der Art und Weise, in der der Ausdruck benutzt wurde, das Heisenberg als kränkend empfand. Was Heisenberg hier heraushörte und auf das er so heftig reagierte, war die Abneigung von vielen seiner Kollegen gegen eine Quantenmechanik, die so ganz entschieden unanschaulich aussah2o . Im Verlaufe des Sommers des Jahres 1926 meinte der weniger resolute Born, in seiner probabilistischen Interpretation der Schrödingerschen Wellenfunktion einen Mittelweg gefunden zu haben, der zwar "die kausale Bestimmtheit des Einzelereignisses" ablehnte, aber trotzdem "die Beibehaltung der gewöhnlichen Darstellungen von Raum und Zeit, in denen sich die Ereignisse in ganz normaler Weise abspielten"21, ermöglichte. Heisenberg gefiel Borns Abweichung vom quantenmechanischen Glauben, seine Konzessionen an die "populäre Anschaulichkeit" der Wellenmechanik gar nicht22 • Zunächst versuchte er, das Problem mit dem Argument abzutun: "Die aus den experimentellen Erfahrungen entstandene Hypothese von der atomistischen Struktur der Materie ist von vornherein unanschaulich23 ." Bald jedoch wurde es zu seiner Hauptbeschäftigung; die Theorie mußte vom Stigma der Unanschaulichkeit gereinigt werden. Wie sehr Heisenbergs Gedanken um dieses Problem kreisten, wird aus einem Artikel über Programm und Erfolge der Quantenmechanik ersichtlich, der im Herbst 1926 in "Die Naturwissenschaften" erschien. Heisenberg verwendet "Anschauung", "anschaulich" und andere von derselben Wurzel abgeleitete Worte im Durchschnitt einmal für jedes der 250 Wörter, im ganzen sechzehnmal, und kommt zu dem Schluß: "Zu einer widerspruchsfreien anschaulichen Interpretation der ja an sich widerspruchsfreien Experimente fehlt bis jetzt noch irgendein wesentlicher Zug in unserem Bilde vom Bau der Materie 24 ." Heisenbergs Auseinandersetzung mit dem Problem dauerte den Winter 1926/27 hindurch an und resultierte in seinem Aufsatz über das Unbestimmtheitsprinzip, dem er den Titel gab "Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik". In diesem Aufsatz und anschließend daran versuchte Heisenberg, durch Neudefinierung der Eigenschaft "anschaulich" das Stigma der Unanschaulichkeit von seiner unverbesserlich unbildhaften Quantenmechanik zu entfernen. In dieser Neudefinierung wurde "anschaulich" mit "zufriedenstellend" im streng positivistischen Sinn gleichgesetzt: "Von einer in diesem Sinne anschaulichen Theorie kann also nur verlangt werden, daß sie in sich widerspruchsfrei sei und für alle in ihrem Gebiete denkbaren Experimente die Ergebnisse eindeutig vorherzusagen gestatte25 ." Die Leichtfertigkeit dieser Lösung des Problems wird vielleicht am besten durch die Tatsache deutlich, daß Heisenberg und Born (der sich dieser Neudefinierung anschloß) in den Augen ihrer Kollegen die übliche, akzeptierte Bedeutung des Wortes einfach auf den Kopf gestellt hatten. So spricht Arnold Sommerfeld dann auch von der "Unschärfe oder Unanschaulichkeit (in Heisenbergs Ausdrucksweise die ,Anschaulichkeit') unseres gegenwärtigen Weltbildes26 ."
Die Faktoren, die auf die Erfinder der Quantenmechanik dahingehend einwirkten, daß sie ihre Theorie fast notwendigerweise als anschaulich bezeichnen mußten, waren im großen und ganzen die gleichen wie die weiter oben in der Diskussion um die Kausalität angeführten. In diesem Fall jedoch stand der tatsächliche Charakter der Theorie im Gegensatz zum herrschenden Zeitgeist anstatt, wie im Falle der Kausalität, den Physikern Gelegenheit zu geben, mit dem Strom zu schwimmen. Während Kausalität das verdammende Schlagwort der "Lebensphilosophie" war, gehörten Anschaulichkeit, Anschauung usw. zu den beliebtesten Losungsworten dieser anti-intellektualistischen Bewegung. Es ist kein reiner Zufall, daß gerade zu diesem Zeitpunkt die deutschen Mathematiker von dem Vorschlag ihres holländischen Kollegen L. E. J. Brouwer, eines Vorläufers der anti-intellektualistischen und anti-kausalistischen Bewegung, angetan waren, in dem eine sogenannte intuitionistische Mathematik gefordert wurde27 - angetan trotz oder vielmehr wegen der Tatsache, daß diese völlige Umänderung der Grundlagen der Mathematik, wie im Fall der Akausalität in der Physik, eine starke Einschränkung der epistemologischen Beanspruchungen dieser Wissenschaft bedeutete. Die Verschleierung des unanschaulichen Charakters der Quantenmechanik, der Versuch, Anschaulichkeit derart umzudefinieren, daß das Attribut auf diese Theorie anwendbar wurde, waren somit im wesentlichen Ergebnisse der sehr schwachen gesellschaftlich/ideologischen Position der Physiker in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg; sie hatten einfach nicht die Kraft, sich dem Zeitgeist zu widersetzen 28 •
IV. Individualität 1. Die Quantenmechanik schließt Zuordnung von Individualität an Elementarteilchen und atomare Prozesse aus
In einer Kritik an dem "Schlagwortkomplex" der Komplementarität stellte Schrödinger 1949 fest: "So scheint mir während dieses zwanzigjährigen Herumgeredes und durch es der wichtigste Fund der "neuen Mechanik" in Vergessenheit geraten zu sein, der physikalisch und philosophisch bedeutungsvollste Aufschluß. Jeder Physiker weiß darum, aber man spricht nicht davon, hält es für minder wichtig, überdeckt die Sache durch einen bequemen, aber verschleiernden Jargon. Die Korpuskel ist kein identifizierbares Individuum. Individualität im absoluten Sinne gibt es nicht meh~9."
Diese am wenigsten bestreitbare Konsequenz der neuen Quantenmechanik für unsere Weltanschauung beruht auf zwei Grundlagen. Die erste liegt in der Quantenmechanik als solcher, das heißt dem Unbestimmtheitsprinzip, das, so wird allgemein behauptet, unserer Fähigkeit, den Verlauf einer Partikel zu verfolgen, Grenzen setzt und es uns unmöglich macht zu wissen, ob wir nun die Partikel mit einer anderen identi-
so bestünde nicht die Gefahr, sie miteinander zu verwechseln. Ich glaube vielmehr, man sollte einfach sagen, daß der Quantentheorie Platz und Mittel fehlen, den subatomaren Partikeln Individualität zuzuschreiben, und daß die Konsequenzen aus dieser logischen Erfordernis sich experimentell voll bestätigt haben. Die andere Grundlage für die Schlußfolgerung, daß die Bestandteile des physikalischen Weltbildes jede Individualität vermissen lassen, liegt in der sogenannten Bose-Einstein- und Fermi-Dirac-Statistik. Die neue Statistik, die zwar zum Teil unabhängig von der Quantenmechanik, aber zum gleichen Zeitpunkt wie diese eingeführt wurde, war das Resultat neuer Regeln zur Bestimmung der relativen Wahrscheinlichkeit der verschiedenen möglichen Zustände eines aus sehr vielen gleichartigen Partikeln oder Atomen bestehenden Systems. Diese neuen Regeln unterscheiden sich von den der klassischen statistischen Mechanik zugrundeliegenden Regeln genau darin, daß in den älteren Regeln Unterscheidbarkeit und daher "Individualität" der im System zusammengefaßten Partikel oder Atome vorausgesetzt wurde, während die neuen Regeln für die atomaren und subatomaren Partikel einer bestimmten Spezies ausdrücklich das Gegenteil voraussetzen. Obwohl man sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts allgemein darüber einig war, daß die Atome eines bestimmten chemischen Elements "as alike as manufactured articles" sind 3o , dachte man kaum daran, dies als absolute Ununterscheidbarkeit zu betrachten. Außerdem erlaubten die klassischen Theorien der Physik nicht, einem solchen Gedanken in irgendeiner natürlichen Form Ausdruck zu verleihen 31 . Erst die Quantenmechanik im Verein mit der Quantenstatistik beraubte die Bestandteile unseres physikalischen Weltbildes wohl oder übel aus prinzipiellen Gründen aller Individualität.
2. Die Quantenmechanik soll angeblich die Individualität von Elementarteilchen und atomaren Prozessen beweisen In keiner ihrer Lehren ist die Quantenmechanik eindeutiger als in der Verneinung der Individualität der Elementarteilchen. Diese hervorstechendste Konsequenz der Theorie wurde auch nicht völlig übersehen. Heisenberg gab in der Tat in dem erwähnten Aufsatz über "Quantenmechanik" vom Herbst 1926 als eines der wichtigsten Resultate der Quantenstatistik an: "Die Individualität einer Korpuskel kann verloren gehen 32 ." Nie wieder ist meines Wissens diese einfache Wahrheit aus Heisenbergs Feder geflossen. Aber es war Bohr überlassen, das Schweigen zu überwinden und die sonderbare These zu verkünden, daß die wichtigste unter den Lehren der Quantentheorie, die Individualität atomarer Prozesse, ja sogar die "unzerstörbare Individualität" von Materieteilchen ist. Darüber hinaus stellte Bohr explizite Analogien auf zwischen dieser angeblichen atomaren Individualität und der Individualität lebender Organismen und menschlicher Lebewesen 33 .
so weit gegangen wie er (C. F. von Weizsäcker ging vielleicht am weitesten34 ). Doch hat keiner der Physiker Bobrs Schlußfolgerung offen widersprochen, viele dagegen fanden es bequem und auch ganz natürlich, Bobrs Behauptung die Reverenz zu erweisen, und dies nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa und den Vereinigten Staaten35 •
3. Gründe für die Umkehrung der ontologischen Folgerung der Quantenmechanik und -statistik Das Konzept der "Individualität" galt traditionsgemäß als einer der stärksten Kulturwerte unter den gebildeten Eliten des wesdichen Europas und insbesondere in Deutschland, wo die Idealvorstellung von der autonomen Persönlichkeit die Deutschen für den in langer Tradition im sozialen und politischen Bereich ausgeübten Autoritarismus kompensieren sollten 36 . Da diese Idealvorstellung ferner eine zentrale Rolle in der Romantik spielte, hatte sie gerade in Deutschland große Anziehungskraft wegen der besonders starken romantischen Tradition dieses Kultur- und Sprachgebietes37 . In einer sehr scharfsichtigen Studie der Entwicklungen auf dem Gebiet der deutschen wissenschafdichen Ideologie um die Jahrhundertwende fiel Fritz Ringer "the amazingly frequent reappearance of certain themes and images in modern German academic literature" auf. Ringer stellte fest, daß "the principle of individuality was one such theme", und hob hervor, daß "it is impossible to imagine the mandarin creed without the concept of individuality"38 . In der Weimarer Zeit, von Zeitgenossen im allgemeinen als Rückkehr zur Romantik des vorigen Jahrhunderts angesehen, wurde diesem Kulturwert noch freierer Lauf gelassen als in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, als in Deutschland wie auch anderswo in Europa und den Vereinigten Staaten eine progressivistische Ideologie herrschte 39 . Die Schwerpunkte dieser progressivistischen Ideologie lagen auf rationaler Organisation und Koordination, wobei allerdings dem Konzept "Individualismus" weiterhin eine wichtige Stelle eingeräumt wurde - der im übrigen vom Konzept "Individualität" scharf zu trennen ist. Der für die Vorkriegszeit typische Modus der Forschungsförderung bestand in der Einrichtung großer, zentral geleiteter Forschungsinstitute, die fest integrierte Forschungsprogramme verfolgten. In der Weimarer Zeit dagegen bestand die typische Art der Förderung überwiegend aus der breiten Verteilung kleiner Forschungsbeihilfen an einzelne Personen für die Durchführung unabhängig von einander entwickelter Forschungsprojekte40 • Obwohl hinter dieser auffallenden Umorientierung viele Faktoren steckten, war die romantische Betonung der Individualität des Forschers sicherlich ein sehr wichtiger Faktor. Im Deutschland der Weimarer Zeit war der Ruf nach Individualität überall zu vernehmen41 • Das Wort Individualität kam in Buchtiteln fast so häufig vor wie das Wort Kausalität 42 . Das Schlagwort paßte vorzüglich zu der irrationalistischen Lebensphilo-
die Individualität läßt sich mit Worten und Begriffen nicht erfassen'; unsere irrationalismusfreudige Zeit würde dafür vielleicht am besten sagen: ,Individualität ist etwas Irrationales,43. " Diese Gleichsetzung kommt in Bobrs erster Darlegung der Individualitätsdoktrin auf dem Comer Kongreß im September 1927 vollkommen deutlich zum Ausdruck: das Quantenpostulat impliziert einerseits die Individualität atomarer Prozesse und enthält andererseits einen "innewohnenden Zug von Irrationalität,,44. Es sollte uns nicht überraschen, daß Irrationalität und Individualität mit einem Versagen des Kausalitätsprinzips in Verbindung gebracht wurden. Ein Biologe und Philosoph, der sich nicht auf die Quantenmechanik stützte, sondern auf die von deutschen Physikern Anfang der zwanziger Jahre verfaßten anti-kausalen Manifeste, konnte zu derselben Zeit schreiben: "Das kausale Weltbild des Physikers löst sich auf - an seine Stelle tritt ein solches, das die Individualität, selbst für den molekularen Vorgang, anerkennt45 ." Außerdem dürfen wir nicht meinen, daß Bobrs Versuch, ein "Prinzip der Individualität" in die Atomphysik einzuführen, der einzige war. Artbur Korn, ein deutscher Physiker, der an dem veralteten Programm des 19. Jahrhunderts festhielt und nach einer mechanischen Grundlage der Physik trachtete, schlug 1926 als Brükkenschlag zur Quantentheorie vor, den Determinismus der klassischen Mechanik durch ein "Individualitätsprinzip" aufzuheben, dessen Wirkung in oszillatorischen Prozessen hoher Frequenz spürbar wird46 .
v.
Zusammenfassung und abscbließende Bemerkungen
Die in den Jahren 1925/26 eingeführte Quantenmechanik erwies sich in der Tat als eine Theorie unvollständiger Kausalität. Sie erfüllte somit in gewissem Grade die Verpflichtung, die viele deutschsprachige mitteleuropäische Physiker unter Druck von. Seiten ihrer Umwelt auf sich genommen hatten, nämlich die Verpflichtung, das Prinzip der Kausalität aus ihrer Wissenschaft und ihrem Weltbild zu entfernen. Diese Physiker versuchten dann, aus dem akausalen Aspekt der Quantenmechanik soviel wie möglich herauszuholen, indem sie ihn überbewerteten und überbetonten. Die Theorie aber widersprach, insbesondere in ihrer frühsten Matrizenfassung, aufs gröbste den Anforderungen der Anschaulichkeit, eines der stärksten positiven Werte des Kulturmilieus. Anstatt dieses wesentliche Merkmal der Quantenmechanik zu einer der in epistemologischer Hinsicht wichtigen "Lehren" der Atomphysik zu machen, versuchten die, deutschen Begründer der Matrizenmechanik, ihre Theorie von dem Stigma der Unanschaulichkeit zu befreien. Sie taten dies, indem sie die Bedeutung des Wortes für die Naturwissenschaft umdefinierten. Die eine unbestreitbare "Lehre" der Quantenmechanik und der Quantenstatistik ist endlich die, daß die Eigenschaft der Individualität in der atomaren Welt nicht existiert. Die Physiker haben diese klare Folgerung, die mit den Kulturwerten nicht nur Deutschlands, sondern auch
Ich komme also zu dem Schluß, daß zwischen der Quantenmechanik und den auf ihr aufgebauten philosophischen Konstruktionen oder den aus ihr gewonnenen weltanschaulichen Implikationen nur geringer Zusammenhang bestand. Die Physiker erlaubten sich - und die Philosophen und andere ließen dies im großen und ganzen zu - , die Theorie so darzustellen, daß sie ihren Absichten entsprach, oder anders ausgedrückt, den Vorstellungen, die das kulturelle Milieu verlangte. Diese Schlußfolgerung klingt zwar radikal. Sie berührt jedoch die Frage der sozialen Konstruktion von Realität nicht so direkt, wie man zunächst annehmen könnte. Sie sagt weder etwas aus über die praktische Tätigkeit der Physiker im Labor noch über deren Theorien als Darstellungen der Wirklichkeit. Sie ist vielmehr eine Meta-Meta-Aussage, eine Aussage über die Aussagen, die Physiker über ihre Wirklichkeitsdarstellungen machen47 .
Anmerkungen 1 Dieser Artikel ist eine nur leicht revidierte und erweiterte Fassung eines Vortrages, den ich arn 3. September 1979 in Lecce hielt anläßlich des "Workshop on the Growth of Quantum Mechanics in the Cultural, Economic and Social Context of the Weimar Republic", der vom Istituto di Fisica - Istituto die Matematica, Universita di Lecce und der Gruppe di Storia della Scienza deli' Istituto di Fisica G. Marconi, Universita di Roma, durchgeführt wurde. 2 Ähnliche Versuche, Ursprung und Interpretation der Quantenmechanik mit kulturellen Faktoren zu erklären, sind zu finden in: Lewis Feuer, Einstein and the Generations of Science, New Vork 1974, und S. G. Brush, The Chimerical Cat: The Philosophy of Quantum Mechanics in Historical Perspective, 1979 (Manuskriptfassung) .. 3 Eine allgemeine Einleitung und Bibliographie gibt Armin Hermann, Die Jahrhundertwissenschaft, Stuttgart 1977. Eingehendere Darstellungen dieser Entwicklungen sind enthalten in den Büchern von Max Jammer, The Conceptual Development of Quantum Mechanics, New Vork 1966, und ders., The Philosophy of Quantum Mechanics, New Vork 1974. Die Matrizenmechanik als eine ab initio im Grunde statistische Theorie wird hervorgehoben durch Arthur Fine, Einstein's Critique of the Quantum Theory: The Roots and Significance of EPR, 1979 (Manuskriptfassung). 4 Dieser Punkt war Einstein klar: Elementare überlegungen zur Interpretation der Grundlagen der Quantenmechanik, in: Scientific Papers presented to Max Born, Edinburgh 1953, S. 33-40. 5 Max Born, Zur Quantenmechanik der Stoßvorgänge (vorläufige Mitteilung), in: Zeitschrift für Physik, 37, 1926, S. 866. 6 Z. B. Arnold Sommerfeld, Zum gegenwärtigen Stande der Atomphysik, in: Phys. Zeitschrift, 28, 1927, S. 231-239; p. Jordan, Kausalität und Statistik in der modernen Physik, in: Naturwissenschaft, 15, 1927, S.105-11O. 7 Werner Heisenberg, über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik, in: Zeitschrift für Physik, 43, 1927, S. 197; ebenfalls ders., über die Grundprinzipien der "Quantenmechanik", in: Forschungen und Fortschritte 3, 83, 1927. 8 Niels Bohr, The Quantum Postulate and the Recent Development of Atomics Theory, in: Nature, 121, 1928, S.580-590, Vortrag beim Corner Kongreß, 16. September 1927. Deutsche übersetzung in: Bohr, Atomtheorie und Naturbeschreibung, Berlin 1931, S. 34-59. 9 Paul Forman, Weimar Culture, Causality, and Quantum Theory, Adaptation by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment, in: Historical Studies in the Physical Sciences, 3, 1971, S.1-115, auf S.108-109; Niels Bohr, Atomtheorie und Naturbeschreibung, Berlin 1931, S.14-15, 66, 76. 10 Albert Einstein, a.a.O., Anmerkung 4.
12 Z.B. A. H. Compton und P. W. Bridgman. 13 Richard Müller-Freienfels, Philosophie der Individualität, Leipzig 1923, 2. Aufl. (Erstausgabe 1921), S. 3. 14 Theodor Litt, Die Philosophie der Gegenwart ... (1927), zitiert in Paul Forman, a.a.O., Fußnote 9, S.18. 15 Paul Forman, ebd., S. 8-19. 16 Ders., ebd. 17 Besser noch unter dem Einfluß von Bohr und Pauli: Daniel Serwer, Unmechanischer Zwang: Pauli, Heisenberg, and the Rejection of the Mechanical Atom 1923-1925, in: Historical Studies in the Physical Sciences, 8, 1977, S. 189-256. 18 Fast alle Physiker, welcher Nationalität auch immer sie sein mögen, des Zeitraumes 1927 bis zur Gegenwart würden zwar diese Tatsache, wenn in die Enge getrieben, letztendes anerkennen, würden aber, sobald unter sich und insbesondere bei der Popularisierung ihrer Theorie, vorgeben, daß die Wellenfunktion nicht nur das Verhalten einzelner Partikel beschreibt, sondern eigendich die Partikel selbst. 19 Heisenberg an Pauli, 16. November 1925, in A. Hermann et al., Hrsg., Wolfgang Pauli. Wissenschafdicher Briefwechsel... BandI: 1919-1924, New York/Heidelberg/Beriin 1979, S.255. Wegen des folgenden siehe PaulForman, a.a.O., 1979, Anmerkung 11, und ArthurI.Miller, Visualization Lost and Regained: The Genesis of the Quantum Theory in the Period 1913-27, in: 1. Wechsler, Hrsg., On Aesthetics in Science, Cambridge, Mass., 1978, S.78-102, der aber dieses Ringen um Anschaulichkeit ganz anders deuten will. 20 Heisenberg an Einstein, 16. November 1925, Einstein Archive, Princeton, N. J. Mlf 12. 21 Max Born, Quantenmechanik der Stoßvorgänge, in: Zeitschrift für Physik, 38, 1926, S. 826. 22 Werner Heisenberg, a.a.O., Anmerkung 7, S.196. 23 Ders., Quantentheoretische Mechanik, in: Deutsche Mathematiker-Vereinigung, Jahresbericht, 36, 1927, S. 24-25, Auszug aus einem Vortrag anläßlich der Naturforscherversammlung, Düsseldorf, 23. September 1926. 24 Ders., Quantenmechanik, in: Naturwissenschaft, 14, 1926, S.989-994, auf S.994. Dieser ausführliche Text des in der vorangehenden Anmerkung zitierten Vortrages unterscheidet sich erheblich von dem Auszug, der wahrscheinlich vorher_angefertigt wurde. 25 Max Born und Werner Heisenberg, La mecanique des quanta, in: Electrons et photons. Rapports et discussions du cinquieme conseil de physique (Solvay) 1927, Paris 1928, S.144. Eine Kopie des deutschen Originaltextes dieses Berichts befindet sich im Humanities Research Center, University of Texas, Austin, Texas. Die erste Seite, die die betreffende Stelle enthält, ist wiedergegeben in A. C. Lewis, Albert Einstein 1879-1955, A Centenary Exhibit, Austin, Texas, 1979, keine Seitenangabe. Heisenbergs ursprüngliche Neudefinierung von Anschaulichkeit, enthalten in den ersten Zeilen von "über den anschaulichen Inhalt ... ", wich nicht ganz so weit von der akzeptierten Bedeutung des Wortes ab. 26 Arnold Sommerfeld, Ober Anschaulichkeit in der Modemen Physik, in: Unterrichtsblätter für Mathematik und Naturwissenschaft, 36, 1930, S. 161-167, auf S. 165. 27 Paul Forman, a. a.O., 1971, S. 60-61; L. E. ]. Brouwer, Collected Works, Band 1: Philosophy and Foundations of Mathematics, Amsterdam, 1975, S, 2-4,481-487. 28 Während nur die Anhänger der Matrizenmechanik ein Interesse daran hatten, die charakteristische Form dieser Version der Quantenmechanik zu verbergen, war das Konzept der Anschaulichkeit sowohl innerhalb als auch außerhalb des Fachbereiches Physik ein derart allgemeingültiger Kulturwert, daß Schrödingers Wellenmechanik als scheinbar anschauliche Theorie eine weit größere Anziehungskraft hatte als die Matrizenmechanik, und zwar in Großbritannien und den Vereinigten Staaten nicht weniger als in Deutschland. 29 Schrödinger an Sommerfeld, 13. Februar 1949 (SHQP 34,2). Lewis Feuer, a. a.O., S. 116-7, 198-9, wies auf "Individualität" hin im Zusammenhang mit einem psychologischen Charakterbild von Niels Bohr, das mir zutreffend scheint. Ich meine aber, daß Feuer das Konzept der Individualität mit den beiden anderen Seiten des Dreiecks, nämlich der Quantenmechanik und dem Kulturmilieu, nicht auf die richtige Weise in Verbindung gebracht hat.
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stischen Standpunkt aus, daß "individuality me ans limitations and unhappiness", S.46, und behauptete folglich, daß das Konzept der Individualität an der Basis des wissenschaftlichen Weltbildes nicht zu finden ist, das für ihn die Grundlage unseres persönlichen, sozialen und ethischen Weltbildes war. Ein relevanteres Beispiel ist enthalten im Schlußkapitel von J. W. Gibbs, Elementary Principles in Statistical Mechanies, 1902. Es gibt jedoch keinen Beweis dafür, daß irgendeiner von Gibbs' scharfsinnigen Zeitgenossen oder unmittelbaren Nachfolgern von der logischen Lücke, die Gibbs zu füllen versuchte, beeindruckt war. Siehe M. J. Klein, Paul Ehrenfest, Amsterdam 1970, 1: 136. Werner Heisenberg, a. a.O., Anmerkung 23, S. 993. Niels Bohr, a.a.O., Anmerkung 9, S.14-15, 37,43,65. Carl Friedrich von Weizsäcker bleibt ein Rätsel. Seine gesammelten semi-populären Schriften, Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 1958, 7. Aufl., sind voll des Konzeptes der Komplementarität, enthalten jedoch kein Wort über Individualität. Trotzdem gibt es verschiedene indirekte Hinweise, daß Weizsäcker Individualität als eine der Hauptlehren der Atomphysik unterstützte. So erschien im lahre 1943 unter Weizsäckers Protektorat eine deutsche übersetzung der Sammlung semi-populärer Essays mit dem Titel "Elementarteilchen, Individualität und Wechselwirkung", die Louis de Broglie 1941 unter dem Titel "Continu et discontinu en physique moderne" veröffentlicht hatte. Und dann wieder im lahre 1965 fertigte K. M. Meyer-Abich, ein Schüler von Weizsäcker, seinen Mentor wiederholt zitierend, eine außergewöhnlich scharfsinnige, wohlwollende Untersuchung über das physikalische Denken Niels Bohrs an mit dem Titel "Korrespondenz, Individualität und Komplementarität", worin Bohrs Behauptungen hinsichtlich der Individualität in der Atomphysik voll akzeptiert werden. Zum Beispiel V. F. Lenzen, Individuality in Atomism, in: The Problem of the Individual, University of California Publications in Philosophie, Band 20, Berkeley, Cal. 1937, S. 31-52. Zum Beispiel Leonard Krieger, The German Idea of Freedom, Boston 1957, S.130 et passim. Peter Kapitza,. Die frühromantische Theorie der Mischung: über den Zusammenhang von romantischer Dichtungstheorie und zeitgenössischer Chemie, München 1968, S.158-59, 176-78; LudwigW. Kahn, Social Ideals in German Literature 1770-1830, New York 1938 (Neuauflage 1969), S. 6-7,14-23,91-95 et passim. Fritz Ringer, Decline of the German Mandarins, Cambridge, Mass. 1969, S. 108. über .diese progressivistische Phase der euro-amerikanischen Kultur ist mir keine Untersuchung bekannt; ich habe in einer unveröffentlichten (und noch unvollständigen) Untersuchung über die sozialen Institutionen der Physiker um die lahrhundertwende auf einige charakteristische Erscheinungsformen hingewiesen. Paul Forman, Financial Support and Political Alignment of Physicists in Weimar Germany, in: Minerva, 12, 1974, S. 39-66. Ernst Troeltsch, The Idea of Natural Law and Humanity in World Politics, Ansprache an der Hochschule für Politik, Oktober 1922, ist eine klassische Aussage über die These des deutschen Konzeptes der Individualität gegenüber dem Westen. Troeltschs Bestätigung des Wertes Individualität ist umso bedeutender, als er im allgemeinen gegen die radikale Lebensphilosophie der Zeitepoche eingestellt war. Aufgeführt im Sachverzeichnis von Kaysers Bücherverzeichnis. Theodor Haering, über Individualität in Natur- und Geisteswelt, Leipzig & Berlin 1926, S. 1. Niels Bohr, a.a.O., Anmerkung 8, S. 59. Ludwig von Bertalanffy, über die Bedeutung der Umwälzung in der Physik für die Biologie, in: Biologisches Zentralblatt, 47,1927, S. 653-662, auf S. 656. Arthur Korn, Die Konstitution der chemischen Atome, Berlin 1926, S.118-119; Phys. Zeitschrift, 27, 1926, S. 802. Oder eine Meta-Meta-Meta-Aussage, wenn man zwischen dem Formalismus der Quantenmechanik und der üblichen sprachlichen Interpretation und Explikation dieses Formalismus unterscheiden will. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Welge
Von Robert Cumming
Soziologie des Wissens ist eigentlich eine inkorrekte Bezeichnung, da sie sich normalerweise gar nicht mit Wissen als solchem beschäftigt, sondern nur die These von der sozio-historischen Bedingtheit des Denkens vertritt, wie immer auch die primären Determinanten identifiziert sein mögen und wie immer auch ihre relative Bedeutsamkeit eingeschätzt sein mag. Eine besonders ehrgeizige Version der Wissenssoziologie tendiert dazu, alle anderen Auffassungen auf bloßes Denken oder sogar ideologische Verzerrungen zu reduzieren, um letztlich selbst als einzige Wissensform zu verbleiben; allerdings überlebt sie in diesem Fall nicht, denn es bleibt für sie kein Wissen, das sie soziologisch analysieren kann. Da das extreme wissenssoziologische Programm selbstvernichtend ist, beschäftige ich mich hier mit dem weniger ehrgeizigen und verbreiteteren Programm. Auch hier handelt es sich nicht um Wissen oder Wissensansprüche, zumindest befaßt man sich nicht mit der Art, in der diese strukturierter, systematischer sind als alltägliches Wissen!. Die Mehrzahl der Historiker der Sozialgeschichte und der Interpreten der Ideengeschichte benutzt in gewissen Zusammenhängen einen der genannten Ansätze und unter anderen Umständen den anderen Ansatz, ohne daß ihnen klar wird, daß, wie wir zeigen werden, beide unvereinbar sind. Die Historiker, auf die ich verweisen werde, sind sich dagegen ihrer Vorgehensweise eher bewußt. Der erste Ansatz arbeitet mit Hilfe des "versteckten Zusammenhangs" (hidden sequence), wie man dies vielleicht nennen könnte. Ein Beispiel hierfür ist die bewundernswerte, von Albert O. Hirschmann verfaßte Ideengeschichte in "The Passions and the Interests". Der Autor verweist zunächst darauf, daß er verfolgt: "a sequence of concatenated ideas and propositions whose final outcome is necessarily hidden from the proponents of the individual links, at least in the early stages of the process; for they would have shuddered - and revised their thinking - had they realized where their ideas would ultimately lead". Die Möglichkeit eines solchen Erschauderns und Revidierens deutet an, daß sich der versteckte Zusammenhang als Ausarbeitung von Implikationen durchsetzen wird, die über die von den Wissensträgern selbst herausgearbeiteten Implikationen hinausgehen. Systematisches Denken wird durch die von Hirschmann verwendete Art der "reconstruction of such a sequence" darüber hinaus abgewertet. Denn, wie er ausführt, "one must normally draw on evidence from many sources and can give but scant attention to the systems of thought in wh ich that evidence is embedded ,,2.
Ideengeschichte durchaus üblich ist, verstorbene Denker an für sie versteckte Zusammenhänge anzuketten, sind bestimmte Rechtfertigungen für meine Entscheidung notwendig, zwei Denker miteinander zu konfrontieren und nicht "Interessen versus Leidenschaften" oder einen anderen Ansatz zu versuchen, der auf freischwebenden Ideen beruht. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle einige meiner Gründe anführen: 1. Denkt man etwa an das Risiko der Selbstvernichtung, so kann man unterstellen, daß die Wissenssoziologie eine komplexe und beinahe unmögliche Angelegenheit ist, zugleich aber auch fast unumgänglich ist, sofern andere Formen der Soziologie möglich sein sollen; denn fast jede Form institutionalisierten Verhaltens hat bestimmte kognitive Komponenten. Und sofern man bereit ist, sich mit dem Problem des Wissens oder der Wissensansprüche als solchem zu beschäftigen, sollte man relativ entwickelte Theorien untersuchen. 2. Man muß unterstellen, daß die soziologische Theorie selbst eine dieser Theorien ist und eine Soziologie der Soziologie ein äußerst interessantes Unterfangen wäre. 3. Soziologische Erklärungen der Entwicklung soziologischer Theorie (wie auch immer definiert) haben breitere Anerkennung gefunden als jede andere Erklärung des Verfalls der häufig als die erste voll entwickelte soziologische Theorie eingestuften Ideen der schottischen Schule des 18. Jahrhunderts. (In der Tat wie könnte ein einmal als zwingend anerkannter soziologischer Ansatz seinen Einfluß verlieren?) 4. Der wichtigste Beitrag zur Entwicklung der schottischen Soziologie stammt von Adam Smith; er ist für uns nicht nur deshalb von Interesse, weil er den Weg für Marx und seine Wissenssoziologie vorbereitete, sondern auch, weil er seine eigene rudimentäre Wissenssoziologie ausarbeitete. s. Wenn Smith als frühem Soziologen kaum Aufmerksamkeit geschenkt wird, so liegt das daran, daß wir ihn als Ökonomen betrachten, da die Entwicklung der ökonomischen Theorie in England von der Aufgabe soziologischer Überlegungen, auf die sich Smiths ökonomische Theorie damals bezog und auf die sich die Theorie von Marx noch heute bezieht, begleitet war. 6. Der Prozeß der Aufgabe dieser Überlegungen wurde von der Entwicklung des Utilitarismus gefördert. Als alternative Beschreibung des Verfalls der schottischen Soziologie hat deshalb Donald Winch vorgeschlagen: "It is ... not possible to bridge the gap between his politics (Smith's social politics) and the radica individualism of nineteenth century (Benthamite) utilitarianism 3 ."
Wenn man sich aber mit diesem Bruch zufriedengibt und nicht einmal in der Lage ist, seinen Ursprung zu verfolgen, fehlen uns empirische Beweise, die es erlauben würden, eine soziologische oder andere Art von Erklärung des stattgefundenen Verfalls der Soziologie zu formulieren.
I. Der Bruch
Dieser Bruch ergibt sich teilweise, so nehme ich an, als Nebenprodukt einer gegenwärtig einflußreichen Methodenentwicklung des zweiten, eingangs von mir genann
outcome is necessarily hidden from the proponents of the individual links" zu etablieren. Historiker, die den zweiten Ansatz akzeptieren, betrachten es als unhistorisch, einem verstorbenen Denker ein Erschaudern im Sinne von Hirschmann zu entlocken. Stattdessen beschränken sie ihre historische Sicht auf die engen Grenzen seiner eigenen Periode. Wenn also Winch berichtet, daß der "Bruch" "unüberbrückbar" ist, so versucht er, Smith als Denker des 18. Jahrhunderts vor dem "Anachronismus" der verbreiteten Interpretation Smiths als Apologet des Kapitalismus, zu dem er im 19. J ahrhundert wurde, zu retten. Winch verweist auf die methodische Einsicht, die er Quentin Skinner, den ich hier als den gewichtigsten Sprecher in Nordamerika gegen den "Anachronismus" heranziehe, verdankt. Eine der von Skinner vertretenen Thesen zugunsten der Verengung der Perspektive ist fast eine reductio ad absurdum des zweiten Ansatzes: jede "Aussage" ist zu interpretieren als "the embodiment of a particular intention, on a particular occasion, addressed to the solution of a particular problem, and thus specific to its situation in a way that it can only be naive to try to transcend,,4. In diesemKontext bezieht sich "Aussage" (statement) auf die Aussage eines politischen oder sozialen Denkers. Ist die These auch dann noch plausibel, wenn man sie auf die Aussage einer bona fide Theorie anwendet? üb der Theoretiker nun Newton oder Smith heißt, sein Interesse gilt der Formulierung von Aussagen, die bestimmte Intentionen transzendieren, den bestimmten Anlässen ihrer Formulierung und den bestimmten Situationen, auf die sie sich beziehen mögen. Da Skinner auf bestimmten Intentionen als Kontext besteht, kann man Winchs Präferenz für einen "Bruch" gegenüber einem versteckten Zusammenhang besser verstehen. "If there is one intention", bemerkt Winch spöttisch, "he (Smith) was incapable of forming, it was that of anticipating what later generations, with or without warrant, would make of his views". Winch äußert sich ebenfalls ironisch über die Art und Weise, in der der "Bruch" zwischen Smith und dem Utilitarismus häufig durch einen versteckten Zusammenhang überbrückt wird: Die Gesellschaftspolitik von Smith "is not an episode ... that occurred some way along a road which runs from Locke to Marx. Smith was not in the grip of some hidden historical force which destined him to work out in more detail or more frankly the ramifications of a set of problems posed by Locke, the true and sinister import of which was only discerned by Marx. Smith did not advocate ... a particular economic order called capitalism. "5
Es trifft sich, daß ich mit dem "Bruch" zwischen Smith und dem Utilitarismus fertig werden kann, ohne mich völlig auf unmögliche Antizipationen verlassen zu müssen. Smith sah sich der Kritik von Bentham ausgesetzt und soll zugegeben haben, daß Bentham ihm "some hard knocks" versetzt habe. Diese Formulierung implizierte, wie Bentham annahm, daß Smith die Kritik akzeptierte 6 . Ich möchte zeigen, daß Bentham unrecht hatte, indem ich mich mit der Frage des "Beweises" beschäftige, einer Frage, der Winch ausweichen würde, die aber ohne Anachronismus nicht ver-
überzuwechseln. Daß Smiths Konzession nicht schlüssig ist, liegt wohl daran, daß er der Ansicht war, mehr zu diesem Thema sagen zu müssen, es aber nicht tat, wei dies zum Teil schon in seiner "Inquiry" geschehen war, andererseits vielleicht auch, weil er alt war und sich nicht sehr wohl fühlte.
II. Meta-Theorie
Folgende Überlegung möchte ich zusätzlich im Sinne von Smith anführen: Es läß sich behaupten, daß das, was Smith gesagt hat, schon eine von mir so bezeichnete "entwickelte Theorie" darstellt, in der Fragen des "Beweises" detaillierter behandel werden. Von nun an benutze ich diesen Ausdruck, um solche Theorien zu kennzeichnen, die vom Theoretiker selbst formulierte Aussagen meta-theoretischen Charakters enthalten und die sich für die Interpretation der für die Theorie kennzeichnenden Struktur des Wissens als hilfreich erweisen. Hilfreiche Hinweise dieser Art sind in diesem Zusammenhang relevant, insbesondere da die Wissenssoziologie selbst eine Meta-Theorie ist, die auf die Interpretation von Theorien angewandt wird. Die MetaTheorie, die mir vorschwebt, sollte die Eigenschaft umfassen, die Struktur des Wissens als Beziehung zwischen der bevorzugten Theorie und anderen Theorien (z.B. wie schon erwähnt, die Beziehung zwischen soziologischer und ökonomischer Theorie) und zwischen der Theorie als Theorie und Praxis zu erfassen. Ich bin jetzt in der Lage, meine methodologischen Überlegungen präziser zu fassen. Die Mehrzahl der Ideengeschichtler verwendet implizit eine Wissenssoziologie, die sich gegen entwickelte Theorien sperrt. Um die gesellschaftliche Relevanz zu erhöhen, ziehen sie häufig die Analyse einer Reihe weniger bedeutender Denker den zwe oder drei entwickelten Theorien, die eine historische Periode hervorzubringen vermag, vor. Ein weiterer Vorteil ist methodischer Art: Es ist leichter, die relativ unbedeutenden Implikationen nicht entwickelter Theorien herauszuarbeiten. Auf diese Weise ist es dem Historiker möglich, die wie auch immer geartete Struktur entwickelter Theorien, die man in einer Periode vorfindet, zugunsten seines eigenen umfassenden Konstrukts zur Seite zu schieben. Dies ist ungefähr das, was man im Fall von Hirschmann beobachten kann, wenn er sich Smith zuwendet:
"By drawing on a wide range of sources I have attempted to show that the thesis ("the 'interests versus-passions thesis"') was part of ... the "tacit dimension", that is, propositions and opinions shared by a group and so obvious to it that they are never fully or systematically articulated. I is a characteristic feature of this situation that a number of important authors - including, interest ingly enough, Adam Smith himself - developed special applications or variants oftbe non-articu lated basic tbeory 7."
Skinner, Winch und andere sind besonders daran interessiert, die nicht ausgearbeiteten Aspekte zurückzuweisen. Allerdings läßt sich bei Skinner beobachten, daß er gleich zeitig eine Präferenz für Theoretiker hat, deren Theorien ebenfalls nicht ausgearbeite
Paradigmata, Wittgensteinsche linguistische Konventionen und Austinsche "How to do Things with Words" gewinnen dann eine größere Bedeutung als alles, was der Theoretiker in seiner historischen Epoche über sich selbst gesagt haben mag. Es folgt, daß Historiker, die einem Anachronismus gegenüber skeptisch eingestellt sind, flagrante Anachronismen begehen können. Da ich der Ansicht bin, daß Anachronismus manchmal erhellend wirken kann, basiert mein Einwand gegen ihre Verfahren darauf, daß keiner dieser drei gegenwärtig modernen Meta-Theoretiker eine eigene Sozialtheorie erarbeitet hat, so daß ihre Theorien keine intrinsischen Hinweise darüber enthalten, wie es sich mit den strukturellen Verbindungen verhält, die zwischen einer Sozialtheorie und einer Meta-Theorie bestehen können.
III. Bequeme Positionen Als Illustration für eine meta-theoretische Aussage möchte ich einen der von Bentham an Smith geäußerten Kritikpunkte anführen: "In combatting error, .. .instead of taking opinions one by one, he has taken them in the lump ... : a mode of proceding which is never favourable to perspicuity." Bentham schlägt eine alternative Vorgehensweise vor: "If (an opinion) is embraced generally there can scarcely be any difficulty of finding some one writer who has fathered it, and in whose words it may be exhibited 8 ." Warum nun sollte Bentham gegen das Übernehmen einer Meinung im Großen und Ganzen und für Vaterschaft sein? Und warum sollte Smith im Gegensatz dazu für grobes Zusammenfassen und ein solches Übernehmen sein? Um eine Antwort zu erhalten, müssen wir uns von ihren Theorien entfernen und ihre Meta-Theorien betrachten. Dies wird Zeit erfordern. Ich möchte zu dem "Brocken" zurückkehren, den Winch wahrscheinlich am wenigsten bereit ist zu schlucken, nämlich die liberale oder kapitalistische Ideologie, und will versuchen, im Hinblick darauf eine Vorgehensweise einzunehmen, die Bentham für die Interpretation von Ideen vorschlägt, die "generally embraced" werden - "there can scarcely be any difficulty of finding some one writer who has fathered it, and in whose words it may be exhibited". Die folgenden Zeilen können sicher als erste umfassende und treffende Aussage der kapitalistischen Ideologie gelten: ,,(1) The constant tendency of mankind to get forward in the career of prosperity, (2) the prevalence of prudence over imprudence, ... and (3) the superior fitness of individuals for managing their own pecuniary concerns, of which they know the particulars and the circumstances, in comparison to the legislator, who can have no such knowledge 9 ."
Der einzige Begriff, der mich in diesem Zusammenhang unmittelbar interessiert, ist der zuletztgenannte - "Wissen". Zunächst befasse ich mich mit den Bedingungen, unter denen das, was diesen Individuen zugeschrieben wird, als Wissen zu bezeichnen ist, insbesondere deshalb, weil die dritte These - die liberale, kapitalistische Folgerung - davon abhängt, daß sie und nicht die Gesetzgebenden dieses Wissen besitzen.
nämlich für die Annahme der drei vorgestellten Thesen als Wissen. Die Unterteilung d Überlegungen in drei Thesen habe ich aus folgendem Grund vorgenommen, da, w schon erwähnt, unter den Beziehungen, die durch die Kriterien in der Struktur d Wissens bestimmt werden (und in der Meta-Theorie explizit aufgeführt sind), auch d Beziehungen zwischen Theorien zu finden sind. Die erste These kann der ökonom schen Theorie zugerechnet werden, die zweite der Psychologie und die dritte d politischen Theorie und der Rechtstheorie. Da ich besonders daran interessiert bin, mich dem Wort "Wissen" zuzuwenden, i es notwendig, seinen Ursprung näher zu untersuchen. Bentham verweist auf Smi als Ursprung. Es sind, so erklärt er Smith (an den er schreibt), "those comfortab positions of which you have made such good and frequent use". Bentham faßt de Inhalt der "Inquiry" mit Hilfe dieser drei Thesen zusammen, hofft aber auch, da Smith einsieht, aus diesen Thesen in der nächsten Auflage der Inquiry die Rücknahm seiner Zustimmung zu den die Zinshöhe beschränkenden Gesetzen gegen Wuch abzuleiten 1o .
IV. Worte
An einer Stelle beschreibt Bentham Smith gegenüber seine eigene Interpretation weise als "giving you back your own words"ll. Obwohl diese Vorgehensweise nic in Austins kanonischen "How to do Things with Words" vorkommt, wird sie von u häufig benutzt: Eheleute sind dafür bekannt, daß sie sich ihre Worte gegenseit zurückgeben; Politikern gibt man ihre Worte regelmäßig zurück, damit sie das Ve gnügen haben, an ihnen zu ersticken; der Psychoanalytiker soll uns unsere Worte einer Weise zurückgeben, die es uns ermöglicht zu verstehen, was sie wirklich bedeute und der Wissenssoziologe erhofft ein vergleichbares Verständnis der Implikatione indem er Worte in ihren sozialen Kontext zurückführt. Aus diesem Grund sollten w uns mit den verschiedenen Möglichkeiten beschäftigen, mit denen Implikation verfolgt werden können, wenn man Worte zurückgibt. Außerdem, das sollte ich hi zufügen, mit dem Wie und Wann des Abbrechens dieser Verfolgung, so etwa, we Winch die Äußerung von Smith von den anachronistischen Implikationen für d Entwicklung der kapitalistischen Ideologie, die sie seiner Meinung nach kennzeichn ten, befreit und an den Smith des 18. Jahrhunderts zurückgibt. Man sollte Winch zugestehen, daß er viele von Benthams eigenen Äußerungen da benutzt, die Implikationen von Smith für eine Neubewertung von Smith herausz arbeiten, und diese darauf hindeuten, daß seine Trennung von Smith einen "Bruc konstituiert. Smith würde sich nicht als jemanden bezeichnen, der von "bequem Positionen" "Gebrauch" macht; er würde sich nicht auf frivole Äußerungen, wie d von Bentham, einlassen: "It's an old maxim of mine that interest (on money), love and religion, and so many other pretty things should be free 12 ." Für Smi
können sie von denjenigen weiter untersucht werden, die ein Interesse daran haben, Unterschiede von Geschichtsepochen zu verfolgen. Allerdings ist es gleichfalls eine geschichtliche Tatsache, daß Bentbam von Wincbs historischem "Bruch" nichts wußte, als er Smitb seine Worte zurückgab; und je tiefer, unüberbrückbarer Wincb den "Bruch" machen will, desto interessanter dürfte Bentbams Desinteresse am Geschichtlichen werden. Später will ich den Versuch machen, dies zu erklären. Bentbam gibt Smitb seine Äußerungen zurück, weil er überzeugt ist, daß Smitbs Einstellung zu den Wuchergesetzen mit den drei aus der "Inquiry" herausgearbeiteten Thesen inkonsistent ist; sobald die Frage der Konsistenz gestellt ist, lassen wir Sensibilität zugunsten von Sinn hinter uns und erzielen eine höhere Stufe von Generalisierbarkeit. Um mich mit dieser Frage näher zu beschäftigen, werde ich versuchen, Wincbs historischen "Bruch" zwischen Smitb und Bentbam nicht etwa durch eine Brückenstruktur zu ersetzen, sondern durch den Prozeß der Restrukturierung, der stattfindet, wenn Bentbam Smitbs Worte an diesen zurückgibt.
v.
Kapital
Eine höhere Ebene der Generalisierbarkeit ist, wie Bentbam schließlich erkennt, durch einen Verweis auf ein bestimmtes Prinzip erreicht. Bentbams "Defense of Usury" führt ihn zum "Development of the Principle ... Capital Limits Trade". Bentbam gibt zu, daß dieses Prinzip von Smitb nicht vertreten wird. Lassen Sie mich jedoch hier unterbrechen, um die Aufmerksamkeit noch einmal auf die Art und Weise der Verwendung des Impliziten zu lenken. Bentbam stellt ein Paradox auf: "Without ever saying a syllable about it (this principle), he (Smith) conforms to it in every recommendation he gives and writes almost throughout as if it were constantly uppermost in his thoughts." Immer dann, wenn jemand, der Worte zurückgibt, einen Hinweis auf "Gedanken" hineinschmuggelt, die einen weniger eindeutigen Beweischarakter haben, und diese mit einer eigenen Struktur versieht (in diesem Fall Bentbams "uppermost"), besteht seine Suche nach Implikationen im Restrukturieren 13 . Diese Suche kann durch ein anderes Vorgehen übertroffen werden - durch den Verweis, wie vorteilhaft das Explizitsein ist. Allerdings ist das Explizite nur selten, wenn überhaupt, die Explikation des Impliziten. Bentbam besteht darauf, daß Smitbs explizite Annahme des Prinzips "might have spared hirn so me inconsistencies and mistakes" (wie zum Beispiel die Zustimmung zu den Wuchergesetzen), da es "the whole subject (of political economy) at the very outset in a very clear point of view" stellt. Der Gebrauch der Worte "at the very outset" ruft in Erinnerung, daß "Prinzip" etymologisch "Anfang" bedeutet 14 . Veränderungen des "Prinzips" zeigen sich häufig in anderen Anfängen, die die gesamte Struktur einer Theorie beeinflussen. So gibt Bentbam Smitb nicht die Worte seines ersten Buches zurück, in dem Smitb selbst mit
wir fest, daß der vollständige Titel des Kapitels, in dem sich Smitb für die Wuchergesetze ausspricht (und in dem er den unmittelbar relevanten theoretischen Hintergrund darlegt), "Of the Accumulation of Capital or Of Productive and Unproductive Labour" lautet. Das Wort "or" deutet eine Korrelation an, die die zunehmende Produktion von Waren - von Smitb selbst als "Gebrauchsgüter" bezeichnet - hervorhebt. Wenn aber Bentbam das klärende Prinzip "Capital Limits Trade" aufstellt, überspringt er nicht nur den ersten Band der "Inquiry", um mit dem zweiten Band zu beginnen. Er eliminiert zugleich eine Unterscheidung, die im zweiten Band von Bedeutung bleibt, nämlich die zwischen Geld und "Gebrauchsgütern". Smitb erklärt hierzu: "Money by means of which the whole revenue of society is regularly distributed among all its different members, makes itself no part of that revenue. The great wheel of circulation is altogether different from the goods which are circulated by it."
Bentbam spricht sich dagegen aus: "He asks himself of what a revenue is composed, whether of money or of the things which are bought for the money in as far as it is spent: he gets entangled in this knot and in the end decides in favour of the things 15 ."
Was uns schließlich hieran interessiert, ist Bentbams methodische Vorgehensweise auf der meta-theoretischen Ebene bei der Lösung von kniffligen Problemen. Es handelt sich um die gleiche analytische Vorgehensweise, die wir bereits als seine Ablehnung, Einstellungen "als Ganzes" zu behandeln, kennengelernt haben. Die von Smitb angewandte, gegensätzliche Vorgehensweise können wir an dieser Stelle noch nicht untersuchen, aus diesem Grund müssen wir uns zunächst von der Meta-Theorie ab- und den Fragen der ökonomischen Theorie zuwenden. Die Entscheidung von Smitb "zugunsten ... von Dingen" steht im Zusammenhang mit der Bedeutung, die er der Arbeit zurechnet, sofern sie zur Produktion von Dingen verwendet wird, sowie mit der Wahl der Arbeitsteilung als Ausgangspunkt, da er sie als den wichtigsten Grund für ein Wachstum der Produktion ansieht. Natürlich sind in einer Theorie Dinge nicht immer nur Dinge. In der ökonomischen Theorie von Smitb ist ein Ding ein "Gebrauchsgut", und die Bedeutung seiner Dauerhaftigkeit besteht darin, daß bestimmte "Arbeitseinheiten" in der Ware "aufbewahrt" sind und später, wenn die Ware verkauft wird, "put into motion a quantity of labour equal to that which originally produced it"16. Im Hintergrund steht Smitbs methodische Bindung an die Struktur eines Newtonschen Universums, so daß ein Prinzip, das uns fremd vorkommt, als Eigenschaft einer Ware relevant bleibt - das Prinzip der Erhaltung von Bewegung durch Dinge in diesem Universum. Hier haben wir eine jener Situationen, in denen der Wissenssoziologe nicht vorzeitig eine soziologische Erklärung von Wissen suchen sollte. Andere Wissensformen außerhalb der Soziologie mögen von unmittelbarerer Relevanz sein. So findet Bentbam in der Chemie Anregung für seine Entscheidung für ein analytisches Prinzip. Bentbam erinnert im "Fragment on Government", das den Beginn seiner wissenschaftlichen
Erklärung in einem Aufsatz, der mit dem Triumph von Newtons Naturphilosophie endete 17 . Der Begriff "Dauerhaftigkeit" bleibt selbst für Smitbs Zustimmung zu den Wuchergesetzen relevant. Wie die doppelte Kapitelüberschrift andeutet - "Of the Accumulation of Capital or Of Productive and Unproductive Labour" - , hängt das ökonomische Wachstum nach Smitbs Ansicht nicht nur vom Vorhandensein von Kapital ab, sondern von dessen Investition in Arbeit, die "Dinge" produziert, im Gegensatz zu unproduktiver Arbeit (z. B. Dienstleistungen), in der Arbeit "in the very instance of its production" verschwindet. Die Wuchergesetze haben in dieser Theorie die Funktion, dazu beizutragen, daß akkumuliertes Kapital nicht in die Hände von unproduktiven Verschwendern und Pläneschmieden gelangt 18 .
VI. Projekte An dieser Stelle unternimmt Bentbam weitere Restrukturierungen. Smitb ist vor allem daran interessiert, Verschwendung zu vereiteln, während Bentbam Verschwendung nicht als das "Hauptproblem" betrachtet. Es handelt sich dabei nicht nur um eine geringe Verschiebung des Schwergewichts. Der Umfang der Restrukturierung wird in dem in "Defence of Usury - To Dr. Smith, on Projects in Arts, etc." enthaltenen längsten Brief deutlich. Bisher haben wir uns nur mit dem "etc." beschäftigt, und zwar aufgrund der falschen Annahme, daß Bentbam Smitb dessen Worte zurückgibt und daß es sich deshalb um eine komprimierte Fassung der ökonomischen Theorie aus der "Inquiry" handelt, obwohl es um eine Fassung geht, irr der "Reichtum" nicht mit Waren im Unterschied zu Geld gleichgesetzt wird. Versuchen wir nun, Klarheit über Bentbams eigenen Titel zu gewinnen. Er macht Smitb darauf aufmerksam, daß "you appeal to history for the constant and uninterrupted progress of mankind .. .in the career of prosperity". Er fügt jedoch hinzu: "But what and whom are we to thank for it, but projects, and projectors?" Er bittet Smitb, "to consider whether of all that host of manufactures, which we both exult in as the causes and ingredients of natural prosperity, there be a single one, that could have existence at first but in the shape of a project?"
Leute mit Plänen sollen deshalb anerkannt werden als "the authors of all the arts to which the world owes its prosperity" 19. Eine der offensichtlichen Konsequenzen dieser Restrukturierung ist die Diskreditierung der Wuchergesetze. Bentbam macht deutlich, daß "the projector cannot hope for money at the highest rate of interest at present legal, because that may always be had with more safety from old established trades". Eine Unterscheidung, die für Smitb sehr viel weniger Bedeutung hat, wird in der restrukturierten Theorie erkennbar, wo sie Probleme auffangen soll, die aufgrund der von Bentbam aufgegebenen Smitbschen Unterscheidungen, wie zum Beispiel die von Waren und Geld, auftreten.
have them to be, adjusted to the situation which the sort of trader is in, whose trade runs in old channels."
Es folgt, daß ein Geldverleiher "will not meddle with projects at all. He will pick o old-established trades ... , for with a new project, be it ever so promising, he never w have anything to d0 2o ." Es handelt sich bei diesen Äußerungen offenbar um ökonomische Problematik, all dings überträgt Bentham die Theorie von Smith aus ihrem in seinen Kontext. D Übertragung resultiert in einer drastischen Anpassung in den Beziehungen zwisch der ersten und der zweiten These, die Bentham aus Smith ableitet. Die Berufu auf Fortschritt ist bei Smith eine "Berufung auf die Geschichte", während sie dageg bei Bentham die Bedeutung der zweiten These - der psychologischen These von d "prevalence of prudence over imprudence" - für die restrukturierte Theorie deutli macht. Die sozio-historische "tendency of man kind (in Smith) to get forward in t career of prosperity" wird unmittelbar zum Resultat der psychologischen Voraussic individueller Planer, die die Erfinder sind.
VII. Aufmerksamkeit
Bevor ich näher auf Benthams eigenen Kontext eingehe, möchte ich den Stelle wert von Erfindungen in Smiths Kontext analysieren. Der erste Satz des ersten Ka tels der Inquiry kennzeichnet die Arbeitsteilung nicht nur als eine "of the greate improvements in the productive powers of labour", sondern auch als "the grea part of the skill, dexterity, and judgment with wh ich it is anywhere directed or a plied". Ein Bereich, auf den Arbeit mit Kenntnis und Ges,chicklichkeit gelenkt u angewandt werden kann, ist bei der Erfindung einer Maschine, die die produktive' Kr der Arbeit selbst verbessern kann. Allerdings ist die technische Anwendung der Arb eine der nicht beabsichtigten Folgen der Arbeitsteilung:
"The invention of all those machines by which labour is so much facilitated and abridged see to have been originally owing to the division of labour. Men are much more likely to disco easier and readier methods of attaining any object when the whole attention of their mind directed towards that single object than when it is dissipated among a great variety of things 21 ."
Es hat den Anschein, als sollten Smiths Theorie und Benthams Restrukturieru dieser Theorie an dieser Stelle übereinstimmen, da die Erfindung, psychologis gesehen, in vieler Hinsicht die gleiche Aufmerksamkeitsanpassung erfordert. Es gibt aber Unterschiede. Die Aufmerksamkeitsanspannung wird bei Smith dur Situationsfaktoren, denen sich der Erfinder als Konsequenz der sozialen Arbeitsteilu ausgesetzt sieht, hervorgerufen: die zunehmende Teilung der Arbeit beschränkt d Umfang der Aufmerksamkeit des Arbeiters, so daß er mit großer Wahrscheinlichk erfinderisch werden kann. Diese Betrachtung von Erfindung ist ein Teil jener ru
obwohl ihre Bindung an psychologische Erklärungen durch die neutrale und offene Bezeichnung - "Theorie des Wissens" - verdeckt wird. Während bei Smith die Frage der Erfindung auf die "Erfindung von Maschinen" beschränkt ist, betrachtet Bentham Erfindung im umfassenderen Sinn als Methode zum Erreichen eines jeden Objektes. Für Bentham repräsentiert "Erfindung" die "kognitive Macht" oder kognitive "Fähigkeit", die zur Realisierung von Erfindungen verwandt wird. So setzt Bentham auch in der Tat "Erfindung" mit "erfinderischer Fähigkeit" gleich, die zur primären Ursache für wirtschaftliches Wachstum (im Sinn von "career of the arts" - technischer Fortschritt) wird und daher die Arbeitsteilung, das soziale System, welches bei Smith Ursache wirtschaftlichen Wachstums (im Sinne von wachsender Produktivität) ist, ablöst. Bentham definiert "Erfindung", oder besser "erfinderische Fähigkeit", als die Imagination, die von der Aufmerksamkeit geleitet und zur Erreichung eines bestimmten Objektes verwandt wird. Im Vordergrund steht hier die psychologische Initiative, die besonders einleuchtend durch den klug Planenden repräsentiert wird. Die Aufmerksamkeit lenkt; sie wird nicht, wie bei Smith, als Folge eines sozio-historischen Arkulationsprozesses - der Arbeitsteilung - , der sich sozusagen extern und unabhängig von individuellen Intentionen entwickelt, "gelenkt". Benthams Meta-Theorie stellt eine "Logik des Willens" dar, in deren Rahmen Aufmerksamkeit als Folge "of an exercise of the will" verstanden wird und dennoch auch progressiver Artikulationsprozeß ist, wie dies für die Arbeitsteilung bei Smith der Fall ist: "By attention, applying itself all along with still doser and doser grasp, by this faculty it is that advances, fresh and fresh advances, are continually made in the world of arts and science. Each laborious and inventive adventurer proceeds on ... , as far as his inclination and the force of his mind will carry hirn .... By successive labourers of this pioneering dass, the road is made gradually smoother and smoother."22
VIII. Wissen Mit der dritten These - "the superior fitness of individuals for managing their own pecuniary concerns, in comparison to the legislator, who can have no such knowledge" - kommt Bentham nicht nur zu liberalen, kapitalistischen Schlußfolgerungen, sondern schließt auch die Rekonstruktion der sozio-ökonomischen Theorie von Smith als psychologische Theorie ab. Die in Frage kommende Passage aus der Inquiry, die Bentham in extenso zitiert, umfaßt die folgenden Äußerungen: "Wh at is the species of domestic industry which his capital can employ, and of which the produce is likely to be of the greatest value, every individual (you say) ... can ... judge much better than any statesman or lawgiver can do for hirn."
Dieser Kontrast wird durch Bentham zu einer noch deutlicheren Antithese: "On the side of the individual ... , there is the most perfect and minute knowledge and information, which interest ... can ensure; on the side of the legislator the most perfect ignorance."
Wissen ist für Bentbam "perfect and minute", da es das Ergebnis aufmerksamer Ana lyse ist. Der Grad der Aufmerksamkeit hängt vom Grad des Interesses des Individuum ab. Die ökonomische Theorie steht nicht mehr, wie bei Smitb, mit einem sozio-histo rischen Prozeß in Verbindung, sondern mit einem psychologischen Prinzip:
"That principle of action is most to be depended upon, whose influence is most powerful, mos constant, most uniform, most lasting, and most general among mankind. Personal interest is tha principle; a system built on any other foundation is built upon quicksand 24."
Diese logische Folgerung deutet auf eine "lineare" Wissensstruktur hin, da sie auf ei nem einzigen Prinzip basiert. Bentbam kommt zu dieser Folgerung, indem er sich ebenfalls auf Begriffe beruft, die eine einzelne, eindeutige Bedeutung haben, und metaphorischen Bedeutungsverän derungen mißtraute Dennoch gesteht er in seiner Meta-Theorie (in seinem "How to Do Things with Words" zu, daß "figurative language is useful for facilitating conception when it· follows in the train of simple language and when one is ready mentally to translate (it) back into simple language"25. Wenn er sich also stolz darauf beruft daß er niemals "serpent for fish, sentiment or metaphor for an argument" gibt, muß man "serpent" als eine Metapher für etwas übersetzen, das nicht nur (im Gegensat zu einem Fisch) nutzlos, sondern auch zugleich unaufrichtig und gewunden ist. Was ic oben zunächst beiseiteschob, als handele es sich lediglich um eine Frage der Sen sibilität, kann manchmal auch Ausdruck für ein Gefühl für Struktur sein. Es gibt ein räumliche Struktur, die Bentbams Metaphern charakterisiert. Mißtrauen gegen Falsch heit und Ungradlinigkeit haben wir bereits als Teil des "Knotens" kennengelernt, i dem sich, Bentbam zufolge, Smitb verfangen hatte, als er behauptete, daß Geld "th great wheel of circulation is altogether different from the goods which are circulate by means of it'". Bentbam wendet sich selbst gegen die Metapher "Zirkulation", un die Vehemenz seiner Gegenargumente ist ein weiterer Hinweis auf seine Bindung a das Lineare, das Gerade: "The metaphor of circulation has confused the ideas o Adam Smith; it has led hirn astray from the subject (deviousness again); it has set hir talking ~bou t wheels26 . " Der Höhepunkt der Abweichung von der geraden Linie und der Verwicklung ist fü Bentbam im "Wirr-Warr" und, Labyrinth" erreicht. An dieser Stelle ist ein kurze Hinweis auf seine vorrangige Beschäftigung mit der Frage der Gesetzgebung notwen dig. "Defence of Usury" ist eine Verteidigungsrede (eine Metapher, die sich aus dem Rechtswesen ableitet) auf das unbeschränkte Wirken des Selbstinteresses und gege die in den Wuchergesetzen repräsentierten Vorurteile. Wie ich bereits ausführte begann Bentbams Karriere mit dem "Fragment on Government" (1776); es handel sich dabei nur um ein Fragment der Rechtstheorie, an der er arbeitete, die er aber bi 1789, als er endlich das Niveau von "Principles of Morals and Legislation" erreichte nicht publizierte. Bentbam ruft ins Gedächtnis zurück, wo er sich zunächst befand "He found hirnself unexpectedly entangled in an unsuspected corner of the meta physical maze." Und an anderer Stelle fügt er hinzu, "I had gotten into a mizmaze
imaginary crime of usury" einzuräumen. Es paßte weder in eine angemessen abgeleitete Rechtstheorie noch in eine angemessen abgeleitete ökonomische Theorie. Benthams Eintreten für Rechtsreformen als geraden Weg aus dem Labyrinth steht wahrscheinlich in Zusammenhang mit der seinem an Smith gerichteten Dank, er verdanke ihm "alles", hinzugefügten Einschränkung "as far as your track coincides with mine". Ich bezweifle, daß es weitestgehende Übereinstimmung gibt, auch was die durch die Metapher "track" angedeuteten methodischen Bindungen betrifft. Im Gegensatz zu Metaphern wie "Knoten", "Verwicklung", "Labyrinth" zieht Bentham Metaphern wie "Bahn" oder "Weg" als "useful for facilitating conception" vor, da sie für ihn die Aufmerksamkeit auf die "lineare" Struktur lenken, die das Wissen als Folge progressiver Aufmerksamkeitsprozesse aufgrund individuellen Selbstinteresses annimmt. Metaphern selbst sollten "the train of simple language" folgen; ökonomischer Fortschritt ist "the road to opulence"; es ist "the great road which receives the footsteps of projectors"27.
IX. Austausch Wenn es Bentham nicht möglich ist, diese Metaphern bei Smith zu finden, um sie ihm zurückzugeben, so liegt das daran, daß für Smith der menschliche Fortschritt nicht in dieser gradlinigen Form abläuft - von Intentionen zu Folgen, von Prämissen zu ableitbaren Schlüssen. Welche Wissensstruktur läßt sich in Smiths Werk finden? Diese Frage kann hier nur in Bezug auf die Beziehung zwischen seiner ökonomischen und psychologischen Theorie beantwortet werden, da uns gerade diese Beziehung als Grundlage unserer Analyse der Wissensstruktur bei Bentham diente. Bentham bezieht sich an keiner Stelle auf Smiths psychologische Theorie, die "Moral Sentiments"; er zieht es dagegen vor, seine eigene psychologische Theorie implizit in Smiths ökonomischer Theorie zu entdecken. Ich kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Problematik der Beziehung von "Moral Sentiments" und der "Inquiry" eingehen, Fragen, die einst die deutsche Wissenschaft als Das Adam Smith Problem stark beschäftigten. "Moral Sentiments" umfaßt in erster Linie eine Behandlung persönlicher Themen, während die Inquiry eine Analyse der unpersönlichen Austauschbeziehungen ist, die als Folge der Arbeitsteilung vorherrschen. Smith macht deutlich: "When the division of labour has been once thoroughly established, every man .. .lives by exchanging or be comes in some measure a merchant, and the society itself grows to be what is properly a commercial society. " Bei der Wahl des sozialen Systems der Arbeitsteilung als Ausgangspunkt muß Smith klar gewesen sein, daß Locke die produktive Tat des einzelnen Arbeiters betont hat. Zumindest hätte ich dies unterstellt, wäre ich nicht durch Winchs Warnung gegen jede Interpretation der Smithschen Theorie als "an episode ... that occurred some way along the road that runs from Locke to Marx,,28 eingeschüchtert worden. Auf jeden
Smith läßt sich feststellen, daß diese Eigenschaft ursprünglich rhetorischer Art war:
"If we should enquire into the principle in the human mind (on which the exchange relation foundedl it is clearly the natural inclination every one has to persuade. The offering of a shilli which to us appears to have so plain and simple a meaning, is in reality offering an argument persuade one to do so and so as it is for his interest29 ."
In der Inquiry wird die psychologische Deutung dieser Neigung zum Tausch überflü sig, obwohl die Neigung selbst beiläufige Erwähnung verdient. Denn "the division o labour is limited to the extent of the market", und in einer kommerziellen Gese schaft hat der Markt derartige Ausmaße, daß die wirtschaftlichen Beziehungen d Einzelnen unpersönlich geworden sind - viel umfangreicher als seine persönliche Beziehungen, die, welche psychologische Bedeutung sie auch immer für ihn selb haben mögen, in wirtschaftlicher Hinsicht unwichtig sind: "In a civilized society, h stands at all times in need of the cooperation and assistance of great multitude while his whole life is scarcely sufficient to gain the friendship of a few persons." Wä rend also Smith in seiner ökonomischen Theorie ein Individuum vor Augen hat, d am unpersönlichen Austausch von Dingen beteiligt ist, hat er in seiner psychologische Theorie eine andere Tauschsituation vor Augen, in der das Individuum aufgrun des Mechanismus von Sympathiebindungen "is changing places in fancy" mit andere Personen 30 . Beide Theorien sind jedoch soziologische Theorien.
X. Monetäre Sprache
Was geschieht in Benthams psychologischer Theorie mit den Personen, die in Smith Sozialpsychologie eine solch prominente Rolle spielen? Die Unterscheidung, die Smit zwischen den wirtschaftlichen Beziehungen des Individuums und dessen rhetorische Beziehungen zu anderen Personen macht, kann genauso wenig bestehen bleiben w Smiths Unterscheidung zwischen Dingen und Geld in Benthams ökonomischer Theor bestehen bleiben kann. Bentham analysiert ein Individuum als eine Person, die "inte est in any subject, insofar as the subject is considered as more or less likely to be t hirn a source of pleasure" hat; und Bentham erläutert, daß sich "subject" hier ohn Differenzierung auf "Ding oder Person" bezieht. Wenn diese Unterscheidung we fällt, dann fällt auch die Unterscheidung Subjekt-Objekt, die bei Smith zwische Ökonomie und Psychologie bestand, weg. Das psychologische Problem, dem b Bentham jedes Individuum gegenübersteht, besteht darin, durch Interesse dazu ang regt, aufmerksam zu analysieren; dieser Prozeß der Analyse erreicht jedoch nur dan methodologische Genauigkeit, wenn Selbstinteresse als "the pecuniary motive" ident fiziert und der analytische Prozeß in die ökonomische Terminologie übertragen wird:
"I beg a truce here of our man of sentiment and feeling; while from necessity ... 1 speak ... a me cenary language. Money is the instrument for measuring the quantity of pain or pleasure. Tho who are not satisfied with the accuracy of this instrument must find out some other that sha
Behandlung der ursprünglichen psychologischen Neigung zu solchen Tauschhandlungen war es rhetorisches Mittel: "The offering of a shilling ... is in reality offering an argument to persuade one to do so and so as it is for his interest." Bei Bentham nimmt Geld aufgrund seiner Akkuratesse als Zahlungsmittel eine völlig andere Form an. Wenn sich Smith in seiner ökonomischen Theorie für die Dinge entscheidet, so entscheidet sich Bentham in seiner psychologischen Theorie "Politics and Morals" für das Geld. In Benthams ökonomischer Theorie übernimmt der Wucherer eine Rolle, die in ihrer exemplarischen Bedeutung mit der Rolle des "Händlers" vergleichbar ist, zu dem in der Inquiry "jedermann" wird, der "vom Tausch lebt". Ein Wucherer ist in Benthams Definition ein Individuum, das "is exchanging present money for future money". Diese Definition wird gelegentlich als Benthams wichtigster Beitrag zur Entwicklung der ökonomischen Theorie angesehen 32 . In Anbetracht der Tatsache jedoch, daß diese Theorie im Grunde eine psychologische Theorie ist, wird durch diesen Beitrag Benthams Sorge um jene Phase der Analyse des Selbstinteresses, die im Mittelpunkt seiner psychologischen Theorie steht, deutlich: das Verhalten des Wucherers ist insofern exemplarisch, als der Tausch von gegenwärtigem gegen zukünftiges Geld eine bemerkenswert akkurate Exemplifikation von Klugheit ist, mit der jeder Mensch gegenwärtigen Vergnügen zugunsten größerer zukünftiger Vergnügen entsagen sollte. In Benthams Definition von einem Wucherer liegen die Dinge, die für Geld zu haben wären, außerhalb des Interessenbereichs des Wucherers, dessen Interesse auf Geld gerichtet ist. Der Wucherer, der gegenwärtiges Geld gegen zukünftiges tauscht, tauscht nicht mit einer anderen Person, für die bei Smith ein Shilling ein Überredungsmittel ist. Der Wucherer nimmt den Tausch mit sich selbst vor. Er kalkuliert sein eigenes Selbstinteresse und überredet nicht eine andere Person dazu, daß hier irgendetwas "von Interesse für sie" sei. Der soziologische Kontext des Tauschprozesses ist verschwunden, der nicht nur Smiths Inquiry, sondern auch seine "Moral Sentiments", in dem Individuen in psychologischer Hinsicht miteinander die Plätze wechseln, strukturierte. Schritt für Schritt haben wir die "radikale Form des Individualismus" erreicht, zu der, so meinte Winch, von Smith aus keine Brücke führen kann. Dieses radikal-individualistische Charakteristikum der Benthamschen Theorie wird durch die exemplarische Stellung illustriert, die einem Individuum, dem Wucherer, eingeräumt wird, das das Konzept von der Anhäufung von Kapital ersetzt - jenes unpersönliche Prinzip, das im zweiten Band von Smiths Inquiry vorherrscht. Was geschieht dann mit dem anderen exemplarischen Individuum, das auch zukunftsorientiert ist, dem Planer, dem das vom Wucherer angehäufte Kapital zur Verfügung steht? Das radikal-individualistische Charakteristikum von Benthams Theorie wird auch hierin deutlich, denn die schöpferische Findigkeit des Planers tritt als Ursache des wirtschaftlichen Fortschritts an die Stelle der Arbeitsteilung, die im ersten Band der Inquiry vorherrscht.
Theorie zugefügt hat, ist es doch etwas überraschend zu erfahren, daß, Bentbams Ansicht nach, Smitb selbst das Individuum ist, das der exemplarische Planer ist. Zur Kapitalinvestition hatte Smitb, so bemerkt Bentbam, auch "the acquired and useful abilities of all the inhabitants or members of the society" gezählt. Smitb hatte erklärt, daß "the acquisition of such talents by the maintenance of the acquirer du ring his education, study, or apprenticeship, always costs areal expense, which is a capital fixed and realized, as it were, in his person". Eine solche Kapitalinvestition, würde Bentbam hinzufügen, ist Adam Smitb:
"To omit in an inventory of the sources of wealth the one wh ich gives birth to all the others would be a very inconvenient and misplaced delicacy .... Adam Smith, by an analogy which is as striking as it was original, considers the exertion spent on the acquisition of knowledge of high value as a mass of capital fixed, so to speak, and realized, in the person whose mind has received that extraordinary cultivation. According to this measure, what would be the value that would have to be assigned to that novel branch of productive capital, to that species of knowledge or science which, during apart of the last century, was as c1early described by the name of Adam Smith as by that of political economy33?"
Welches Kompliment für die Urheberschaft könnte noch eindrucksvoller sein? Dies ist in der Tat die einzige Stelle in der "Defence", wo Bentbam das Wort "productive" an Smitb zurückgibt. Was jedoch die Emphase des Wortes betrifft, so liegt sie bei Smitb nicht auf dem Produzieren der Sache, sondern auf der Produktivität des schöpferischen Individuums. In der Tat ist es zweifelhaft, ob der Autor der Inquiry das Kompliment annehmen könnte, denn so vieles an der Theorie ist "verlegt" worden: die Arbeitsteilung, ein soziales System, hat ihre Vorrangstellung als Quelle des Reichtums an das Individuum, dessen schöpferische Fähigkeit von der politischen Ökonomie nicht zu unterscheiden ist, als Quelle des Reichtums "which gives birth to all the others" verloren. Die Fähigkeit, die Smitb in der Stelle, auf die Bentbam sein Kompliment stützt, meint, ist "the improved dexterity of a workman", die "may be considered in the same light as a machine or instrument of trade wh ich facilitates and abridges labour". Smitb wandte jedoch diese "Analogie" nicht auch wie Bentbam auf "Wissensarten" an, wenn dieser die "Analogie" noch "treffender" macht, indem er sie auch auf die Schöpfung oder Produktion der politischen Wirtschaftswissenschaft ausdehnt. Ich muß also meine Interpretation der Smitbschen Behandlung des Konzepts Schöpfung/Erfindung als Teil seiner Wissenssoziologie korrigieren: sie ist nur Teil der Wissenspsychologie Bentbams. In diesem Zusammenhang handelt es sich um eine andere Struktur des Wissens. In Smitbs Wissenssoziologie gilt, wie wir gesehen haben, folgendes: "the invention of all those machines by which labour is so much facilitated and abridged seems to have been owing to the division of labour", da "men are much more likely to discover easier and readier methods of attaining any object when the whole attention of their minds is directed towards that single object than when it is dissipated among a great
nicht möglich: "In the progress of the division of labour, the employment of the ... great body of the people, comes to be confined to a few very simple operations .... The man whose whole life is spent in performing a few simple operations, of wh ich the effects are perhaps always the same, or very nearly the same, has no occasion to exert his understanding or to exercise his invention in finding out expedients for removing difficulties which never occur. He ... generally becomes as stupid and ignorant as it is possible for a human creature to become 34 ."
Glücklicherweise ist nicht gerade jedermann ein Arbeiter. Für eme kommerzielle Gesellschaft gilt: "Though there is little variety in the occupations of the greater part of individuals, there is alm ost infinite variety in those of the whole society. These varied occupations present an almost infinite variety of objects to the contemplation of those few, who, being attached to no particular occupation themselves, have leisure and inclination to examine the occupations of other people. The contemplation of so great a variety of objects necessarily exercises their minds in endless comparisons and combinations, and renders their understandings in an extraordinary degree, both acute and comprehensive 35 ."
Smith erklärt hier, wie es kommt, daß wir zum ersten Mal in emer kommerziellen Gesellschaft das eigenartige Phänomen des Professors vorfinden. Zwar gelang es der amerikanischen Öffentlichkeit nicht, die 200-J ahr-Feier zu überstehen, ohne daß Professoren darauf hinwiesen, daß das Jahr 1776 auch als das Erscheinungsjahr der Inquiry als Ausdruck der Ideologie des Kapitalismus gefeiert werden sollte, doch wies niemand darauf hin, daß eine ebensolche Feier für die Tatsache angebracht wäre, daß der Autor der erste Professor Großbritanniens war, der in der Geschichte einen Schritt vorwärts gemacht hat - noch dazu ein Professor der Philosophie. Außerdem lieferte die Inquiry nicht nur eine sozio-historische Erklärung für das Erscheinungsbild des Professors und für die Art seines Wissens, sondern brachte auch einem Professor das Ansehen, das ihm die Aufgabe seiner Professorenrolle ermöglichte, um eine einträglichere Position in der Regierung anzunehmen. Adam Smith wurde ZollCommissioner für Schottland und Commissioner für die Salzeinfuhr.
XII. Die Öffentlichkeit Für diejenigen unter uns, die immer noch mit professoralen Bindungen an Wissen belastet sind, will ich die von mir erarbeiteten gegensätzlichen Strukturen noch einmal darlegen. Wo Smith Wissen, einschließlich ökonomischer Theorie, als das Ergebnis der Kontemplation über eine Vielzahl von Dingen beschreibt, wobei das Verständnis durch Vergleiche und Kombinationen herbeigeführt wird, mißtraut Bentham den Kombinationen: nicht nur solchen wie den Knoten in Argumenten, sondern auch der Kombination von Personen. Daher resultiert sein Bemühen um den Wucherer darin, daß dieser Wucherer den Geldtausch mit sich selbst vornimmmt. Diese radikale Form
and representing such systems as being adopted not only by individuals, but by whol parties". Was Bentham hier anspricht, ist Smiths Kritik an dem "landwirtschaftliche (physiokratischen) System". Smiths Kritik ist jedoch, genauso wie die Darlegun seines eigenen Systems, an das Grundprinzip der Arbeitsteilung gebunden; denn d wichtigste Trennung besteht "between inhabitants of the town and those of th country", der wichtigste Tauschprozeß findet zwischen ihnen statt, und "the polic of some nations has given extraordinary encouragement to the industry of the coun try". Da seine ökonomische Theorie eine soziologische Theorie ist, die sich als Wi senssoziologie ausbauen läßt, kann Smith die Irrmeinung des "landwirtschaftliche Systems" erklären, ohne den einen oder anderen Autoren finden zu müssen, der s aufrechterhält. Bentham sieht sich, nachdem er das Wucherturn gegen Smith verteidigt hat, einem anderen Problem der Erklärung gegenüber. "After having had the boldness to accus so great a master of having fallen unawares into error", nimmt sich Bentham "th still further liberty of setting conjecture to work to account for it". Da Bentham Mutmaßung im Rahmen seiner eigenen Meta-Theorie, die eine Psychologie des Wi sens ist, und im Rahmen der Analysierungsmethode, die diese Theorie rechtfertig und veranschaulicht, zur Anwendung kommt, wird uns zum letzten Mal Gelegenhe gegeben, die jeweiligen Strukturen des Wissens mit den entsprechenden Strukture zwischenmenschlicher Beziehungen zu vergleichen. Bei Smith hat Wissen eine inne soziale Dimension, und zwar in einem Ausmaß, daß es schließlich und endlich au grund der Wirkung von Sympathiebindungen ableitbar ist aus "that principle t persuade which so much prevails in human nature". Bei Bentham aber trägt die Irrmeinung innersoziale Züge, wie er in der folgende Erläuterung Smiths andeutet:
"You heard the public voice ... proclaiming all around you, that usury was a bad thing, and usure a wicked and pernicious set of men, you heard ... that projectors were either a foolish and co temptible race, or a knavish and destructive one: Hurried away by the throng ... you have joine the cry36."
XIII. Alte Throne
Skinner ist wahrscheinlich immer noch über meine Naivität bei dem Versuch beun ruhigt, Benthams "besondere Intention" für die Niederschrift von "Defense of Usury zu ,transzendieren", um zu seiner Meta-Theorie zu gelangen. Dabei habe ich de "besonderen Anlaß" noch nicht einmal erwähnt, obwohl sich Bentham auf ihn z beziehen scheint, wenn er seinem Freund Wilson erklärt: "I am writing !etters ... abu ing Pitt for being about to reduce the rate of interest." Aber dann transzendie Bentham selbst die Besonderheit dieses Anlasses, indem er den Satz folgendermaße weiterführt: "and abusing the world for limiting the rate of interest at all". Daraufhi
fahren: "It is at all time sufficiently in people's minds to make it interestingj and perhaps new doctrines concerning it, will have more weight that they do not appear to be published on the spur of the occasion." Wenn ich trotzdem einen anderen, nicht ganz so relevanten Anlaß erwähnte, so deshalb, weil Wilsons Ermutigung die "Inquiry" mit dem Jahr 1776 und seinen Folgen in Verbindung brachte: "lndeed, on all points of political economy, there is an evident change in public opinion within these ten years, wh ich may be in some degree owing to the circulation of Smith's book, but still more to the events which have happened in our political and commercial connexion with America, to the utter disgrace of the old thrones 37 ."
Ich habe diese amerikanische "connexion" nicht voll ausgenützt. Sie ist ein zu großes Thema ohne Besonderheit, um als Anlaß zu qualifizieren. Und obwohl Bentbams Sorge, daß "alte Throne" völlig verloren gehen, genauso groß ist wie die um die Verteidigung des Wuchers, transzendiert er sie auch hier und erreicht meta-theoretisches Niveau: mit der ökonomischen Tyrannei, die Smitb bekämpfte, als er die "impertinence and presumption of kings and ministers" rügte, die vorgeben, die ökonomischen Verhältnisse von Privatpersonen zu überwachen, ist die Tyrannei vergleichbar, die Bentbam auf meta-theoretischem Niveau bekämpft - die rhetorische "tyranny of sounds", der Smitb selbst zusammen mit "der großen Masse der Menschheit" unterliegt, wenn sie "are unable or unwilling to be at pains of analyzing their ideas". Diese Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft ist gerade der Grund dafür, daß sich die Menschheit bei Bentbam aus einer sozialen "Masse" zusammensetzt und daß er sich vornehmlich mit der Lösung von Knoten beschäftigen muß, mit der one-by-one-Betrachtung von Meinungen, die "klumpenförmig" betrachtet wurden, und damit, einen "Weg" aus dem "Labyrinth" zu finden. Seine analytische Methode wäre nebensächlich, wenn sie nicht einen Antagonismus zwischen der Aufmerksamkeit, mit der "das findige Individuum" (der kluge Planer, ein Smitb) Entscheidungen trifft, und "the envy, and vanity, and wounded pride of the uningenious herd,,38 aufdecken würde. Sobald die von Bentbam in seiner ökonomischen Theorie getroffene Unterscheidung zwischen "old-established trades" und "innovations" oder "projects" auf dieses meta-theoretische Niveau gebracht worden ist, befinden wir uns dann nicht in unmittelbarer Nähe des Antagonismus, den Jobn Stuart Mill zwischen der sozialen "tyranny of the prevailing opinion and feeling" und der "originality", deren allein das Individuum fähig ist, entdeckt? Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, daß bedeutende Unterschiede vorliegen 39 . Aber soll uns das davon abhalten, solche Unterschiede festzustellen, indem wir Wincbs Ablehnung der These von der "unbroken tradition of liberalism or bourgeois ideology, stretching from Locke through Smitb and Hume to Jobn Stuart Mill" folgen? Wir haben gesehen, daß Wincb diese Zurückhaltung bestärken würde, indem er sich auf Smitbs Gedanken folgendermaßen konzentriert: "not an episode - however crucial - that occurred some way along a road which runs from Locke to Marx. Smith was not in the grip of some hidden historical force which destinated hirn to work out in more detail and more frankly the ramifications of a set of problems posed by Locke, the ttue and sinister import of which was only discemed by Marx."
unüberbrückbar (oder mir darlegenswert) erschienen, wenn Marx nicht Smith eine anderen Tradition, in der Liberalismus zu einer Bourgeois-Ideologie wird, zugeordne hätte. Gibt der Historiker, der nicht davon überzeugt ist, daß sukzessive Denker unte diesen Rubriken zusammengefaßt werden können, vor, daß er selbst in seiner eigenen Denkweise den Rahmen beider Traditionen völlig verlassen hat? Kann er dann außer dem vorgeben, die Fragen zum Thema Wissen beantwortet zu haben, die die britische Tradition stellte, die jedoch noch problematischer wurden, als Smith von Marx de Tradition zugeordnet wurde, in der diese Probleme zu Problemen der Wissenssoziologie wurden, während sie zuvor psychologischer Art zu sein schienen?
Anmerkungen
1 Ich benutze kurz den schwerfälligen Begriff "Wissensansprüche" , um zu vermeiden, daß "Wis sen" im Sinn einer besonderen, herausragenden Leistung, z.B. einer bestätigten Theorie, miß verstanden wird. Die einer Theorie eigene Struktur hängt, wie auch immer sie aussehen mag nicht vom Grad ihrer Bestätigung ab. Wenn ich den Ausdruck "Struktur des Wissens" und nich "Struktur einer Theorie" benutze, so hängt dies damit zusammen, daß ich die Beziehungen zwischen Theorien für Eigenschaften dieser Struktur halte. 2 Albert o. Hirschmann, The Passions and the Interests, Princeton 1977, S. 4-5. 3 D. Winch, Adam Smith's Politics, Cambridge 1975, S. 181. Ich halte dieses Buch immer noch für die beste Sammlung des sozialen Denkens von Smith, obwohl ich mich kritisch über sein Methodologie äußern werde. 4 Zitiert nach Charles D. Tarlton, Historicity, Meaning, and Revisionism, in: History and Theory 12, S.314. Tarltons Analyse von Skinner ist vernichtend und durch Skinners Rückzüge in "Some Problems in the Analysis of Political Thought and Action", in: Political Theory, 2. Au gust 1974, wohl kaum adäquat gelöst. Ein Rest dieser ursprünglichen Arroganz ist sogar noch in dem von ihm vorgelegten Programm einer "realen Geschichte" vorhanden, die "would hav many values, quite apart from providing us for the first time with a realistic picture of how political thinking in all its various forms was carried on in the past ... It would ... enable u to begin to establish the connections between the world of ideology and the world of politica action. And this in turn would enable us to add an extra dimension to the study of genera history which seems at the moment to be missing even in the work of its most distinguished practitioners" (S.280, meine Hervorhebung). Skinners Historizismus ist undicht. Denn di Geschichte selbst ist, wie Sartre es ausdrückte, trouee - "voller Löcher". Fast alle besonderen Intentionen, ebenso wie die besonderen Anlässe, die den Interpreten zu einem bestimmten Zeitpunkt bewegt haben mögen, werden unerheblich. Sogar im Fall der Geschichte eine Individuums sind die besonderen Intentionen oder besonderen Anlässe, an die es sich erinnert normalerweise von den allgemeineren Implikationen, die sie für dieses Individuum haben beeinflußt, wodurch das Wie und Warum des Erinnerns bestimmt wird. In diesem Fall besteh Skinners Ausflucht im Hinweis auf "a strictly limited and precisely identifiable audience" (a.a.O., S. 288). Allerdings handelt es sich bei diesem Verweis um eine Illusion, die sich nu ein Autor, der für eine wissenschaftliche Zeitschrift mit begrenzter Zirkulation schreibt, lei sten kann. 5 Donald Winch, a. a. 0., S. 180. Winch argumentiert nicht nur gegen Marxisten wie Macpherson sondern auch gegen Cropsey, Wolin und mich. Ein derart schlecht sortiertes Quartett zeig besonders deutlich, was Winch als unser aller Laster betrachtet - Parteinahme für Zusam menhänge, die dem Schöpfer des Gedankens verborgen geblieben waren. Ich schlage freiwillig Hirschmann als Ersatz für mich vor.
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the rate of interest" (zitiert in W. Stark (Hrsg.), Jeremy Bentham's Economic Writings, New York 1952, 1:27.). Albert o. Hirschman, a.a.O., S. 69. W. Stark (Hrsg.), a.a.O., 1: 225. Ebd., S. 173. Ebd., S. 173, 188-90. Ebd., S. 173. Ernest Mossner und Ian Moss (Hrsg.), a.a.O., S. 386. W. Stark (Hrsg.), a.a.O., 1: 201, 233. Platzmangel schließt eine Behandlung der Veränderung hier aus, die sich mit Benthams Restrukturierung in der bei Smith vorherrschenden Beziehung zwischen Theorie und Praxis vollzieht. Mir ist es außerdem nicht möglich, im Detail zu zeigen, daß keine der drei Hypothesen, die Bentham Smith zuschreibt, von diesem bestätigt wurden. Was den Entwurf einer kapitalistischen Ideologie durch Bentham und Smith betrifft, so könnte ich, wenn Bentham nicht Argumente von maßgebender Stelle ablehnen würde (Handbook of Political Fallacies, New York 1962, erster Teil), Marx zitieren, der ihn für den Bourgeois par excellence hielt. Ebd., S.125. Siehe auch Robert Cumming, Starting Point, Chicago 1979. W. Stark (Hrsg.), Economic Writings, 3, S. 80 (Inquiry ... , Band 2, Kapitel 2). Adam Smith, Inquiry ... , Band 2, Kapitel 2. Siehe Robert Cumming, Human Nature and History, Chicago 1969, 2, S. 234, 262. Adam Smith, a.a.O., Kapitel 2, 3. W. Stark (Hrsg.), a.a.O., 1, S.133, 174, 179. Ebd., S.127, 170-17l. Adam Smith, a.a.O., Band 1, Kapitell. lohn Bowring (Hrsg.), Works, NewYork 1962, S. 74,76,100; siehe auch S. 20l. W. Stark (Hrsg.), a.a.O., 1, S.178-179. Ebd., 3, S. 433. Ebd., 1, S.96. "Lineal methodization or arrangement" schlägt Bentham vor, mittels "a right line" darzustellen, die "of all figures" die bekannteste ist (zitiert in lohn Bowring, a.a.O., S. 226 und 260). W. Stark (Hrsg.), a.a.O., 3, S. 15. Selbst wenn sich Bentham genau an das Wörterbuch hält, mißtraut er der "ursprünglichen Bedeutung" des Begriffs: "Moving continually in a circle is not the way to get on" (John Bowring (Hrsg.), a.a.O., S. 73; siehe auch S. 223). Zu einigen Problemen im Zusammenhang mit räumlicher Struktur und Metaphern habe ich mich in einem kurz vor der Veröffentlichung stehenden Artikel über Heidegger und Derrida geäußert (in: The Review of Metaphysics). W. Stark (Hrsg.), a.a.O., 1, S.180. Donald Winch, a.a.O., S.180. Adam Smith, a.a.O., Band 1, Kapitel 2; R. L. Meek, D. D. Raphael, P. G. Stein (Hrsg.), Lectures on Jurisprudence, Oxford 1978, S. 352. Adam Smith, a.a.O., Band 1, Kapitel 3, Kapitel 2; ders., Moral Sentiments, Teil 1, Abschnitt 1, Kapitell. W. Stark (Hrsg.), a.a.O., 3, S.422; 1, S.117. Ebd., S. 34. Ebd., S. 77-78. Adam Smith, a.a.O., Band 1, Kapitel 2; Band 5, Kapitell. Ebd., Band 5, Kapitell. W. Stark (Hrsg.), a.a.O., 1, S.184-85. Ernest Mossner und Ian Ross (Hrsg.), a. a. 0., S. 386. W. Stark (Hrsg.), a.a.O., 1, S.169, 184. Ich habe versucht, einige dieser Unterschiede in Robert Cumming, a.a.O., 1969, Band 2, Kapitel 16 dazulegen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Barbara Welge.
Von Janet Wolff
Die Ideologienlehre hat sich für die erst in jüngster Zeit in Großbritannien entwickelte Kunstsoziologie als fördernd und hindernd zugleich erwiesen. Sie trug zum tieferen, umfassenderen Verständnis der Beziehung zwischen Kunst und sozialer Struktur bei und vermied dabei simplistische Formulierungen und reduktionistische Darstellungen. Gleichzeitig allerdings ermutigte ihre Ablehnung empirizistischer und positivistischer Kulturanalysen viele Soziologen dazu, die entscheidenden, mit der Produktion und dem Konsum von Kulturwerken verknüpften Prozesse zu stark zu ignorieren. Es wird Zeit, ein Verständnis von Kunst-als-Ideologie mit einer Betrachtung von Kunst-als-Produktion zu verbinden. In diesem Artikel werde ich einige der wichtigsten theoretischen Entwicklungen betrachten, die während der vergangenen fünfzehn Jahre in Großbritannien auf dem Gebiet der sozialwissenschaftlichen Untersuchung von Kunst stattfanden, wobei ich einige der Eigenschaften und Entdeckungen besonders hervorheben werde, die ich für ihre wichtigsten halte. Ich werde argumentieren, daß die wissenschaftliche Untersuchung von Kunst in der Gesellschaft als Tei der Ideologienlehre und der Wissenssoziologie wertvolles analytisches Werkzeug und theoretische Erkenntnisse geliefert hat, die es uns ermöglichen, die Interdependenz von Kunst, Künstler und Publikum innerhalb des größeren sozialen und kulturellen Bezugsrahmens zu verstehen. Ich werde dann vorschlagen, daß in den vergangenen Jahren viel Energie an eine eher sterile, theoretizistische Debatte über das exakte Verhältnis von Kultur, Ideologie und sozialer Struktur verschwendet wurde, die nicht dazu beitrug, die tatsächlichen Kulturprodukte und -praktiken einer bestimmten Gesellschaft deutlicher zu machen, und die meiner Meinung nach zu endloser, ergebnisloser Argumentation verdammt ist. Zum Schluß setze ich mich für ein viel symbiotischeres Verhältnis zwischen konkret geleisteter kunstgeschichtlicher Arbeit und theoretischer Generalisierung ein und illustriere diese Ansicht mit Beweismaterial aus meinen eigenen jüngsten Arbeiten über die bildenden Künste im Manchester der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwei der hervorstechendsten Merkmale von Arbeiten auf dem Gebiet der Kunstsoziologie in Großbritannien sind erstens, daß sie ungewöhnlich interdisziplinär durchgeführt werden und zweitens in ungewöhnlich starkem Maße generelle theoretische •
Ich möchte John Seed und Rohert Towler für hilfreiche Kommentare zu einigen der in diesem Artikel behandelten Ideen und dem Social Science Research Council, London, für die während der Anfangsstadien dieser Forschungsarbeit geleistete rmanzielle Unterstützung danken.
senschaftlern, die sich mit dem Feminismus beschäftigen, als auch von Soziologen, die ihr technisches Instrumentarium einfach auf einen neuen Bereich des sozialen Lebens anwandten. In dieser Hinsicht besteht ein Unterschied zu den Vereinigten Staaten (wo die Kunstsoziologie der jüngsten Zeit eine etwa gleich lange Entwicklung durchgemacht hat); im Fall der amerikanischen Arbeiten scheint es jedoch keine Kreuzung der Interessen und keinen Austausch von Ideen unter Soziologen, Kunsthistorikern und anderen zu geben. In Großbritannien haben neue Fachzeitschriften!, Tagungen 2 und ein allgemeiner Dialog über dieses Thema eine einzigartige Kollaboration und Kommunikation von Männern und Frauen manifestiert, die traditionsmäßig getrennten Einzeldisziplinen angehören 3 . Folglich haben wir jetzt Studienprogramme in Fächern, die diese traditionellen Grenzen erfolgreich überschreiten und eine Vielzahl von Perspektiven für Gebiete kultureller Aktivität eröffnen: zum Beispiel die Fachbereiche Kulturforschung, Kommunikations- und Medienforschung und Erforschung der Stellung der Frauen 4 • Unzufriedenen Literaturkritikern und Kunstgeschichtlern, davon überzeugt, daß der ideologische Anspruch auf unabhängige, universale ästhetische Beurteilung aufgegeben werden muß, scheint der Marxismus nützliche Anhaltspunkte für bessere, selbstreflexive Textanalysen geboten zu habenS. Auf diesem Gebiet nun trifft eine Minderheit kritischer Geisteswissenschaftler mit einer Gruppe von Wissenssoziologen zusammen, die ihre Aufmerksamkeit von Kultur auf KULTUR gerichtet haben. Gleichzeitig wird deutlich, daß sich beide Gruppen vor wichtige theoretische Probleme gestellt sehen mußten, die sich aus dem vom Marxismus angebotenen Modell der Kulturanalyse ergaben. Frühe Arbeiten von Marxisten über Literatur und Gesellschaft konnten zum Beispiel leicht aufgrund ungenauer Formulierungen, des Übersehens bestimmter qualitativer Eigenschaften der literarischen Inhalte und der Tendenz kritisiert werden, eine unilineare, monokausale Beziehung zwischen sozio-ökonomischen Merkmalen und kulturellen Produkten eines Zeitraums festzustellen 6 . Es war daher wichtig, eine verfeinerte Ausgabe dieses Modells anzufertigen, und folglich ist die Entwicklungsgeschichte der Kunstsoziologie der jüngsten Zeit größtenteils auch die Entwicklungsgeschichte der Bemühungen, dies zu bewerkstelligen. Bevor ich mich einigen daraus entstehenden Problemen zuwende, möchte ich einen Überblick über die äußerst wertvollen, bisher gemachten theoretischen Fortschritte geben. In progressiver Abwandlung des Modells von Basis und Überbau können diese am besten dargestellt werden, indem man die Vielzahl der an Produktion und Konsum von Kunst beteiligten Mediationen berücksichtigt. Ich will hier vier spezifische Arten von Mediationen behandeln. Als erstes wurde erkannt, daß literarische und andere Kunstarten bei weitem nicht nur einfach Klassenunterschiede oder andere Aspekte der Sozialstruktur "reflektierten", sondern durch das komplexe Gefüge sozialer Gruppen vermittelt werden. Hierauf bestand Theodor W. Adorno bereits 1938 in einigen kritischen Bemerkungen über Walter Benjamins Arbeiten (enthalten in einem Brief an Benjamin), dem vorgeworfen wird, den mediatisierenden Einfluß des sozialen Prozesses bei der Kulturproduktion
sein sozialer Gruppen vermittelt perzipiert8 . In jüngster Zeit haben die Arbeiten von Nicos Hadjinicolaou, die 1978 ins Englische übersetzt wurden, hervorgehoben, wie wichtig es ist, die Unterteilungen in gegenseitigen Beziehungen von Klassengruppen in ihrer Darstellung in der visuellen Ideologie zu verstehen 9 • Es ist immer deutlicher geworden, daß die einfache Zweierbeziehung von Kulturform und uniformen, statischen sozialen Gruppen völlig inadäquat ist. Und das "Reflexions"-Modell der Literatur ist dann deutlich nicht mehr zutreffend, wenn andere soziale Faktoren zwischen den verursachenden Faktor und dessen literarisches Spiegelbild treten. Die zweite Mediation findet durch die Biographie des Künstlers/Autors statt. Dies zeigt sich wiederum schon sehr früh in der Literatursoziologie Sartres, in dessen Arbeiten über Baudelaire , Flaubert und Genet eine wichtige psycho-biographische Komponente in die eigentliche Klassenanalyse einbezogen wird 1o . Und trotz hin und wieder geäußerter Kritik an der Arbeit von Goldmann, daß nämlich das "transindividuelle Subjekt" den einzelnen Autor verdrängt und an dessen Stelle tritt l l , wird zumindest in Goldmanns frühen Arbeiten über das Frankreich des 17. Jahrhunderts deutlich, daß die Berücksichtigung der besonderen Stellung des Autors (in diesem Fall Pascal und Racine) in der soziologischen Analyse von Texten ein entscheidendes Moment ist. Unter dem Einfluß solcher Arbeiten, die in Großbritannien in den sechziger Jahren in englischer Übersetzung zugänglich wurden, wurden in der größten Anzahl der besten Essays und Untersuchungen auf diesem Gebiet reduktionistische Darstellungen vermieden, die den Kulturproduzenten irgendwie aus der Kulturproduktion ausklammern. Obwohl nur wenige Soziologen Sartre dahingehend gefolgt sind, sich mit einer detaillierten Psycho-Biographie der Kreativität zu beschäftigen, ist die spezifische mediatisierende Stellung des Autors allgemein in die Soziologie der literarischen Produktion integriert worden 12. In jüngster Zeit hat das Legat späterer Entwicklungen auf dem Gebiet der Ideologienlehre (wiederum aus Frankreich importiert) eine fragwürdigere Wirkung auf die marxistische Theorie über Autor und Text gehabt. Einerseits wirkte der explizite Anti-Humanismus des strukturalistischen Marxismus (Altbusser und in England solche Autoren wie Barry Hindess und Paul Hirst) entfremdend auf jene, die der eher traditionellen, humanistischen Konzeption vom Autor als Produzenten verhaftet blieben 13 . Andererseits besteht, wie von anderen Kollegen festgestellt wurde, wenig Zweifel darüber, daß strukturalistische und post-strukturalistische Analysen die schwachen Stellen eines solchen präreflektierenden Humanismus aufdeckten und die Möglichkeit für eine rigorosere Darstellung von Wesen und Konstitution der menschlichen Sujets in Ideologie und Geschichte andeuteten; in diesem Sinne wurde durch diese Analysen die Möglichkeit des Verständnisses darüber potentiell vergrößert, welche Rolle einzelne Kulturproduzenten beim Vorgang der Mediation zwischen Ideologie und kulturellem Text spielen. Schließlich ist, aus einer ganz anderen traditionellen Richtung her, die Ansicht wieder aufgenommen worden, die vom Autor "als Produzenten" ausgeht. Obwohl in einigen Fällen dabei die Produktionsbedingungen nur am Rande untersucht werden 14 und zweifellos Fragen über den Autor als geformter statt un-
fache Weise gleichsetzen oder in Beziehung bringen will. Walter Benjamin und die russischen Formalisten gehören zu den ersten Vertretern dieser Vorgehensweise, die kürzlich durch Übersetzungen und zeitgenössische Essays wieder neu belebt wurde 15 . Der dritte Mediationstypus könnte "ästhetische Mediation" genannt werden und tritt in zwei Formen auf. Zunächst einmal haben ein oder zwei Autoren darauf hinzuweisen begonnen, daß es für ein Verständnis des Verhältnisses von Kunst und sozialer Klasse von entscheidender Bedeutung ist, die tatsächlichen Beziehungen zwischen künstlerischer Produktion, die zwischen Ideologie und Intention vermitteln, und deren ästhetischer Wiedergabe zu untersuchen 16. Mit anderen Worten, die produzierte und in die "große Tradition" eingehende Literatur und Kunst wird auf vielfache Weise durch eine Reihe von Faktoren determiniert, die außerhalb der Kontrolle des Autors/ Künstlers und seiner/ihrer sozialen Gruppe liegen. Unter diesen befinden sich die Produktionsverhältnisse, die es bestimmten Personengruppen ermöglichen, überhaupt erst einmal künstlerisch tätig zu werden (die empirisch belegte Tatsache, daß Frauen stets von Bereichen künstlerischer Tätigkeit ausgeschlossen waren, ist ein wichtiges Beispiel für diese These 17 ); die Rolle von "Mediatoren" (wie Besitzern von Kunstgalerien, Verlegern, Kritikern, Administratoren) bei der Entscheidung darüber, welche Werke in welcher Form dem Publikum präsentiert werden; und schließlich die Konsumverhältnisse, die auch die Möglichkeit (in geographischer oder finanzieller Hinsicht) des Galerie- und Konzertbesuchs, Analphabetentum und weiteres einschließen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind jedoch, mit der bedeutenden Ausnahme der Medienuntersuchungen 18 , diese Denkansätze in Großbritannien kaum aufgegriffen worden; ich werde gleich darauf zurückkommen, warum es wichtig ist, sich mit der vermittelnden Funktion der Kunstproduktionsverhältnisse (und auch mit deren technischen Koordinaten) zu befassen. Ein anderer Aspekt der ästhetischen Mediation, dem in den vergangenen Jahren in Großbritannien viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist die Mediation von Ideologie durch die Methoden und Formen der Textdarstellung. Diese Betrachtung führt interessanterweise zu einigen eher traditionellen Themen der Literatur- und Kunstkritik zurück, die sich auf formale Eigenschaften der Texte konzentrieren. Es scheint fast so, als sei der soziologische Enthusiasmus, der zu Beginn der Entwicklung der schöngeistigen und kunstgeschichtlichen Kritik entstand, bei dem Versuch, zwischen Inhalt und sozio-historischen Faktoren einen Zusammenhang herzustellen, darin zu weit gegangen, bestimmte Eigenschaften und Merkmale des Textes als irrelevant zu betrachten. Heute wird größtenteils akzeptiert, daß die Art und Weise, in der die soziale Wirklichkeit im Text reproduziert wird, stark durch die künstlerische Ausdrucksweise determiniert, vermittelt, eingeengt und konstruiert wird. Das Wiederaufleben des Interesses an den Arbeiten der russischen Formalisten hängt ebenfalls hiermit zusammen, denn sie enthalten Techniken der Textanalyse, die das Wesentliche und Dauerhafte von Textstrukturen (Geschichten, Gedichte usw.) verdeutlichen. Jüngere Entwicklungen auf dem Gebiet der Sprach- und Diskursanalyse in
Richtung eine wichtige Debatte über die "Diskurstheorie" und ihre Beziehung zu materialistischen Analyse statt; mehrere Autoren argumentieren, daß Codierungs und Diskursverfahren in vielen Fällen zu völlig eigenständigen Bestimmungsgröße geworden sind und nicht mehr nur als Mediatoren von Ideologie und Text angese hen werden können 2o • Der letzte Mediationstypus, der als das Gegenmodell zum Reflexionsmodell vo Kunst und Gesellschaft gilt, hat mit der Aufnahme von Kunstwerken durch das Pub likum zu tun: die konstruktive Rolle des Publikums und der Leser. Unter dem Ein fluß der Hermeneutik, der Semiotik und der Rezeptionstheorie, und wiederum mi starker Unterstützung durch Importe vom Kontinent, haben Kunstsoziologen di Vorstellung, daß der Text irgendwie endgültige und eigenständige oder einheitlich Sinngebungen enthalte, mehr und mehr aufgegeben. Daß der Prozeß des "Entschlüs selns" von Publikum zu Publikum variiert, zwang zu einer wichtigen Revision de einfachen Darstellung von Gesellschaft-Ideologie-Text, denn der Text an sich, ob Roman, Fernsehprogramm oder Werbephoto, kann nicht von möglichen Interpre tationen durch potentielle Konsumenten abstrahiert dargestellt werden 21 . Die Zunahme von kunstsoziologischen Untersuchungen über Mediationen ist ein zu begrüßende, wichtige Entwicklung. Es ist außerdem deutlich, daß diese Entwick lung in überwältigender Weise wissenschaftlichen Importen aus anderen europäische Denkrichtungen zu verdanken ist, die in einer Menge von wissenschaftlichen Zeit schriften und einer beträchtlichen Zahl übersetzter Arbeiten verfügbar wurden. Ins besondere muß die Bedeutung der neo-marxistischen Theorie in Italien und Deutsch land (das Wiederaufleben des Interesses an Gramsei und an den ersten Mitglieder der Frankfurter Schule sowie Arbeiten jüngeren Datums) und der semiotischen und hermeneutischen Traditionen in Frankreich und Deutschland bei der Darstellun ,der beträchtlichen Fortschritte hervorgehoben werden, die in Großbritannien au dem Gebiet der marxistischen Kunsttheorie gemacht wurden, obwohl die dabei ent standene besondere Mixtur ohne Zweifel typisch englisch ist. Tatsächlich stellt da Internationale an den Arbeiten dieses Themenbereichs in der britischen Soziologi und in britischen wissenschaftlichen Arbeiten im allgemeinen etwas genauso Unge wöhnliches und Bemerkenswertes dar wie ihr Übergreifen auf andere Diszipline und ihr Hang zum Theoretisieren. Mir scheint nun erwiesen, daß die verschiedene Verbesserungen des Basis- und Überbau modells für die marxistische Ideologien- und Kulturtheorie vorbehaltlos als nützlich bewertet werden können und alle allzu leich erho benen Vorwürfe des ökonomischen Determinismus und Reduktionismus au dem Wege räumen, indem die relativ unabhängige Funktion von solchen Mediations faktoren wie sozialen Gruppen und deren Selbstverständnis, ästhetische Codes und die Individualität der Autoren/Produzenten und Leser/Konsumenten hervorgehobe wird. Allerdings gibt es auch ein bösartigeres Resultat dieser Art von Theorie und Analyse, das ich hier kurz untersuchen möchte. Für manche marxistischen Soziologen hat die Anerkennung der sogenannten relati ven Eigenständigkeit der Ideologie (und damit auch in diesem Fall der Kultur) zu so
Anerkennung. Wenn also Ideologie - der Überbau - von den Produktionskräften und -beziehungen unabhängig ist, wie ist es dann möglich, den genauen Grad dieser Unabhängigkeit festzustellen, und könnte nicht sogar am Ende totale Unabhängigkeit dabei herauskommen? Natürlich behandelt die marxistische Ästhetik Kunst und Kultur notwendigerweise als relativ eigenständige Kräfte, denn mit der marxistischen Kunsttheorie entwickelte sich auch zugleich die Einstufung verschiedener Richtungen und Werke als potentiell radikalisierend und subversiv. Daher der scheinbare Widerspruch. Einerseits werden Literatur und Kunst auf irgendeine Weise - und zwar durch eine Vielzahl von Mediationen - durch soziale und ökonomische Faktoren bestimmt perzipiert; andererseits ist die Möglichkeit, daß Literatur und Kunst wiederum ihre soziale Basis beeinflussen oder sogar umwandeln, als selbstverständlich angenommen und in der Vergangenheit in bestimmten historischen Augenblikken auch bestätigt worden. Darüber hinaus stellt die Tatsache, daß neuerdings darauf bestanden wird, daß Kunstwerke ästhetisch unabhängig sind und sich jeder groben ideologischen und propagandistischen Kategorisierung widersetzen (das sind die bereits von mir erwähnte ästhetische Mediation und die Eigenständigkeit von Codes und Diskursen) ebenfalls eine Herausforderung an eine materialistische Kulturtheorie dar. Versuche, die Situation dadurch zu retten, daß Codes selbst als "materiell" bezeichnet werden, wie es gewisse Autoren getan haben, sind unredlich und helfen nicht weiter; denn in welchem Sinne man auch immer Sprache und Symbole als materiell bezeichnen kann (etwa bei ihrer Verwendung in Kulturinhalten oder ihrer Einflußnahme auf die Ideologie), mit Materialismus im Marxschen Sinn hat das nichts zu tun. Gerade hierin liegt doch die Problematik 22 • Die Schwierigkeiten, die sich aus einem Appell an Engels' These, daß die Ökonomie letztlich determinierend sei, ergeben, wie er von Althusser und vielen anderen nach ihm gemacht wurde, sind ebenfalls allgemein bekannt. Schließlich schloß man aus der Tatsache, daß Ideen relativ eigenständig sind, daß zwischen Ideen und sozialer Struktur keine notwendige Verbindung besteht 23 • Die Widersprüche und Konfusionen, die im Zusammenhang mit der Vorstellung von der relativen Eigenständigkeit entstanden sind, resultieren aus einer falschen Vorstellung über die Eigenart der Theorie und insbesondere über den Status der These, daß soziale und ökonomische Faktoren in gewissem Sinne Primärfaktoren sind. So lange wie die materialistische Geschichtsauffassung als abstraktes allgemeines Modell betrachtet wird, das auf der apriori Annahme aufbaut, daß die Produktionskräfte und -verhältnisse ideologische und kulturelle Phänomene determinieren, wird es weiterhin unmöglich sein, dieses Modell so zu modifizieren, daß es einer nichtreduktionistischen Version entspräche. Dies würde wahrscheinlich die abstrakte Bestimmung der genauen Beziehung zwischen Klasse, Bewußtsein und Kultur, des genauen ökonomischen Determinationsgrades (75 %?) und des möglichen Ausmaßes der unabhängigen Einwirkung von überbaulichen Faktoren (nicht mehr als 25 %?) innerhalb einer im Grunde materialistischen Darstellung erfordern. Es würde außer-
macht werden. Ganz offensichtlich sind politische Ideen oder Bühnenwerke ode religiöse Glaubensvorstellungen in manchen Situationen weit weniger von ökonom schen und klassenbedingten Beziehungen abhängig als in anderen und haben dennoc auf sozialen Wandel oder die Bestimmung des Schicksals der Gesellschaft einen größe ren Einfluß. Hierdurch werden die Grundsätze des historischen Materialismus nich entwertet. Denn jene Grundsätze selbst sind, wie aus Marx' eigenen Schriften he vorgeht, nichts anderes als historische Generalisierungen, die auf der genauen Unter suchung einer Vielzahl spezifischer sozialer Prozesse und Transformationen basie ren. Ihnen kommt daher der Stellenwert zu hervorzuheben, daß sich im allgemeine und aposteriori ökonomische Faktoren bei historischen Ereignissen und Entwick lungen als höchst wichtig erwiesen haben. Sie werden also durch die Entdeckung daß die anderen "Ebenen" des sozialen Lebens auch wirksam oder sogar manchma in der Geschichte von überragender Bedeutung sind, nicht falsifiziert. Das Ausma der Eigenständigkeit von Ideologie und Kultur ist stets eine historische, empirisch Frage, die jeweils nur durch eine Untersuchung der betreffenden Prozesse und Inst tutionen gelöst werden kann24 . Um nur ein einfaches Beispiel aus dem Bereich de Literatur zu nennen: um die potentielle Wirkungskraft der Schriftstellerei in einem bestimmten historischen Zeitraum verstehen und feststellen zu können, müssen w die Rate des Analphabetentums, die Produktions- und Rezeptionsbedingungen fü literarische Werke und deren Kompositionsregeln (in einigen Gesellschaften weitau starrer als in anderen)25, Stärke, Kohärenz, Widersprüchlichkeiten und Spaltunge der Ideologie in dieser Gesellschaft im allgemeinen und so weiter kennen. Diese An gelegenheit läßt sich nicht auf der Grundlage von Inhalt oder Form des Kunstwerke selbst entscheiden. Die Verbesserung der Ideologienlehre hat somit einige völlig unnötige Verdrehunge und Verwirrungen, für die marxistische Soziologie mit sich gebracht, die die Wissen soziologie im allgemeinen und die Kunstsoziologie im besonderen beschäftigen. Ma beginnt nun einzusehen, daß es viel profitabler ist, wenn man diese Theorie nicht a abstraktes Modell, sondern als Anleitung zur Forschung benutzt. Es ist wenig sinn voll, das Modell weiterhin ohne Berücksichtigung der konkreten empirischen Fo schung verbessern zu wollen, weil dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist. In die sem Sinne hat E. P. Tbompson recht, wenn er von der "Armut der Theorie,,26 sprich obschon er, worauf auch andere Autoren hingewiesen haben, in seinen Themen gege Theorie zu weit geht27 . Die enge Beziehung zwischen Theorie (als historische Genera lisierung) und empirischer Forschung ist entscheidend, und obwohl die Empirie no wendigerweise von den Richtlinien abhängt, die von der Theorie gesetzt werden ist die Theorie selbst lediglich das Produkt einer Vielzahl von empirischen Untersu chungen, die sie bestätigen und modifizieren. Für die Kunstsoziologie bedeutet die daß es Zeit wird, sich von der andauernden völligen Konzentration auf das Konzep Kunst-als-Ideologie abzuwenden (ohne die wichtigen ideologischen Aspekte vo Kunst zu vergessen) und die tatsächlichen Prozesse der künstlerischen Produktio
lich mit dem ideologischen Aspekt dieser Inhalte. Jeder weitere Fortschritt auf diesem Gebiet hängt davon ab, daß die weiter oben erwähnte ästhetische Mediation - die Kunstproduktionsverhältnisse - ernst genommen wird. Hierbei dürfte die Betrachtung der Arbeiten amerikanischer Soziologen von Nutzen sein. In den Vereinigten Staaten hat sich die Kunstsoziologie in einer völlig anderen Richtung entwickelt als in Großbritannien. Erstens fehlt ihr, wie ich bereits anführte, deren Interdisziplinarität. Außerdem vertiefte sie sich nicht in allgemeine theoretische Fragen. Schließlich hat sie sich nicht anhand ständiger, eklektischer Importe von Arbeiten aus anderen Traditionen und Sprach bereichen entwickelt. Ihr Wirkungsbereich ist vielmehr Teil der allgemeinen Richtung der amerikanischen Soziologie und umfaßt Untersuchungen über Kunstorganisationen und -institutionen mit Schwergewicht auf empirischer Arbeit. Diese Schwerpunktdifferenz in beiden Ländern erklärt die Vorliebe amerikanischer Soziologen für Analysen der darstellenden Kunst (Oper, Ballett, Schallplattenindustrie)29 statt der des Romans oder der bildenden Kunst, da in diesen Bereichen die Organisationsverhältnisse der Kunstproduktion so komplex sind, daß eine soziologische Untersuchung angebracht erscheint; Kunstsoziologen der englischen Tradition mag der ideologische Aspekt des Romans oder Gemäldes analytisch besser erfaßbar erscheinen als der einer Symphonie. Die amerikanische Kunstsoziologie wird oft als "Kunstproduktionsforschung" bezeichnet30 ; ihr Schwergewicht liegt, wobei das unter Repräsentanten dieser Richtung variiert, auf den Kunstproduktionsverhältnissen und den institutionellen Prozessen, in denen und durch die Kunst und Kultur produziert werden. Die sich ergebenden Untersuchungen erstrecken sich auf solche Themen wie Photographie, Kunsthochschulen, Galerien und Museen und "country music" im Radi0 31 . Obwohl man einem großen Teil dieser Arbeiten mangelnde theoretische und historische Perspektive sowie ein völliges oder relatives Übersehen des künstlerischen Stils und des Kulturprodukts vorwerfen kann, so liegt doch ihr besonderer Wert in dem Stellenwert, den sie der Funktion dessen, was ich die Mediationsstrukturen nenne, einräumen. Diese Arbeiten könnten ein besseres Verständnis der Art und Weise ermöglichen, in der Ideologie in Kulturprodukten mediatisiert wird. Denn eine adäquate Kunstsoziologie muß Kunst sowohl als Ideologie als auch als Produktion betrachten. Im folgenden werde ich einige dieser Themenpunkte anhand ausgewählter Ergebnisse aus meinem kürzlich durchgeführten Forschungsunternehmen erläutern. Es handelt sich um eine Untersuchung der Entwicklung der bildenden Künste im Manchester der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und deren Beziehung zu sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in demselben Zeitraum. Dieses spezielle Forschungsvorhaben wurde durch eine Reihe von Faktoren angeregt. Erstens war Manchester zweifellos eine Stadt, in der sich die aus der industriellen Revolution resultierenden Veränderungen am frühesten und deutlichsten bemerkbar machten, wie die zahlreichen zeitgenössischen Berichte über soziale Zustände der damaligen Zeit beweisen32 . Demnach könnte man logischerweise die Hypothese aufstellen, daß sich auch die Wirkung
gewesen ist, von wo eine Reihe erfolgreicher Schriftsteller herstammten (die bekann teste war Mrs. Gaskell), wo 1857 eine große nationale Kunstausstellung stattfand das Halle-Orchester gegründet wurde und dessen Baukunst, insbesondere die einige der zwischen 1840 und 1860 gebauten Lagerhäuser von Tbe Builder, zu den beste Englands gezählt wird. Die erste Landeshochschule für Gestaltung wurde 1838 i Manchester gegründet, und die erste öffentliche Bücherei wurde dort 1852 eröffne Außerdem bestand schon zu einem früheren Zeitpunkt traditionelles kulturelle Interesse und man war zum Beispiel in Chören und Blaskapellenwettbewerben aktiv Dieses Aufblühen der Künste läßt zumindest eine Beziehung zwischen materiellem Wandel und Fortschritt und kultureller Produktion vermuten, die eine Untersuchun wert ist. Aber am allerwichtigsten ist vielleicht, daß das Manchester des frühe 19. Jahrhunderts genau der richtige Ort ist, um übernommene Klischees über di sogenannte "Ideologie der Bourgeoisie" in der viktorianischen Kunst zu testen, di seit einiger Zeit nicht nur im Marxismus in Umlauf sind und die relativ kritiklo mit dem neuerlich anwachsenden Interesse an der viktorianischen Malerei wiede aufgegriffen werden 33 . Es folgen einige Beispiele für solche Charakterisierungen de viktorianischen Kunst. Im Jahre 1951 schrieb Arnold Hauser:
"In the academicism of their age the Pre-Raphaelites recognize and combat what Ruskin inte prets as the degeneration of art since the Renaissance. Their attack is aimed at the classicism, th aesthetic canon of the school of Raphael, that is to say, at the empty formalism and smooth ro tine of an art with which the bourgeoisie wants to provide the proof of its respectability, pur tanical morality, high ideals and feeling for poetry. The Victorian middle dass is obsessed wi the ideas of "high art", and the bad taste wh ich dominates its architecture, its painting, its ar and crafts is partly the result of its self-deception - of the ambitions and pretensions which muff the spontaneous expression of its nature 34 ."
In jüngerer Zeit schrieb E.}. Hobsbawm:
"The bourgeoisie of the mid-century was tom by a dilemma which its triumph made even mo acute. The image of itself which it desired could not represent all reality in so far as that reali was one of poverty, exploitation and squalor, or materialism, of passions and aspirations whos existence threatened astability which, in spite of all self-confidence, was feit to be precariou ... At best the bourgeois version of "realism" was a socially suitable selection, as in the famou Angelus of ].-F. Millet (1814-75), where poverty and hard labour seemed to be made acceptab by the obedient piety of the poor; at worst it tumed into the sentimental flattery of the famil portrait 35 . "
Und aus der Kritik einer kürzlich stattgefundenen Ausstellung viktorianischer Kuns
"This was the art of the newly powerful and enlarged middle dass. It is the art of a dass certa of the universality of its own common experience, knowledge and values 36 ."
Was wir jedoch wissen müssen, ist, in welcher Beziehung die Kunst Ausdruck de Mittelklasse war und warum Vorstellungen und Werte der Bourgeoisie in Bildform dargestellt wurden. Diese Frage bezieht sich auf die Struktur des Kunstmarktes, au
In einer Untersuchung der Welt der französischen Malerei der Mitte des 19. Jahrhunderts, die vor einiger Zeit von Harrison und Cyntbia Wbite durchgeführt wurde, wird behauptet, daß der Erfolg der Impressionisten nur verstanden werden kann, wenn man den Kunstmarkt, die Entwicklung des Händler-Kritiker-Systems, das an die Stelle des Direktkaufes trat, und den Aufstieg einer neuen Schicht potentieller Käufer von Kunstwerken betrachtet. Die These der beiden Autoren lautet, daß das Händler-Kritiker-System erfolgreich zwischen einem Überfluß an Künstlern, von denen viele außerhalb des Systems der Kunstakademien arbeiteten, und einer rasch anwachsenden Zahl von potentiellen Sammlern, von denen viele aus Investitionsgründen am Kauf interessiert waren, mediatisierte. Die neureiche Mittelklasse suchte nach innovativen Werken und war bereit, in Bezug auf Gemälde, die womöglich im Verlauf der Jahre an Wert zunahmen, Risiken einzugehen 37 . Obwohl keine vergleichbare Untersuchung der britischen Malerei vorliegt (und natürliche keine direkte Parallele zum Impressionismus), haben eine Reihe von Autoren angedeutet, daß dort ähnliche Motive mitwirkten und daher die von der britischen Kunst im 19. Jahrhundert eingeschlagene Richtung zum großen Teil durch das Entstehen der Mittelklasse determiniert war. Die Rolle der Kaufleute und Industriellen aus den Midlands und Nordengland als Förderer und Unterstützer der Präraphaeliten läßt sich dagegen gut nachweisen 38 . Insbesondere in Liverpool, aber auch in Birmingham und Manchester, hatten Künstler dieser Richtung schon Erfolg, bevor sich Ruskin ihrer annahm und sie von dem Kunstestablishment im allgemeinen ernst genommen wurden. Es steht außerdem fest, daß der Mittelklasse angehörende Sammler zu den ersten zählten, die zeitgenössische englische Kunst anstelle alter Meister kauften, mag dies nun aus Unsicherheit über ihre eigene Kunstkenntnis und der damit verbundenen Furcht vor Fälschungen alter Meister geschehen sein oder wegen des potentielien Investitionswertes des neuen, zeitgenössischen Kunstwerks oder aus beiden Gründen 39 . Auch Francis Haskell hat darauf hingewiesen, daß das wachsende Interesse an frühitalienischer Kunst Anfang des 19. Jahrhunderts in gewisser Weise auf die innovativen Sammlergewohnheiten der Kaufleute und Fabrikanten zurückzuführen ist40 • Dies sagt jedoch nicht viel über die Arbeitsweise der Künstler aus: ob sie potentielle Käufer bei ihrer Arbeit berücksichtigten; ob daraus geschlossen werden darf, daß die Werke die "Ideologie der Bourgeoisie" ausdrückten (und was das bedeuten könnte); ob bei Kaufpraktiken sowohl ästhetische Überlegungen als auch Investitionsgründe relevant waren oder nicht usw. Um einige dieser Fragen etwas näher zu betrachten, habe ich mich auf die Institutionen und Praktiken auf dem Gebiet der Kunst in Manchester konzentriert, und zwar insbesondere während des Zeitraums 1820-60, um die Rolle der Mittelklasse in der Produktion von Kunst zu untersuchen. Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers spielten bei der in diesem Zeitraum in Manchester stattfindenden Gründung und Etablierung der wichtigsten Institutionen für die bildenden Künste eine bedeutende Rolle. Das Royal Manchester Institute wurde im Jahre 1823 gegründet und sollte anfangs für Manchester jährlich Ausstellungen
Kunstgalerie zu dienen. Zwar kam der ursprüngliche Anstoß für die Gründung de R.M. I. von einer Gruppe von Künstlern, die damit dem Erfolg von Ausstellunge der Northern Society in Leeds nacheifern wollten, doch waren bald Geschäftsleut und führende Mitglieder der Manchester Gesellschaft beteiligt; zu ihnen gehört Benjamin Arthur Heywood, Mitglied einer Bankiersfamilie aus Lancashire 42 . Dem Council of Governors gehörten dann sowohl Handelsleute, die G. W. Wood als auc ansässige Mitglieder des Land- und Hochadels (Sir Oswald Mosley, der Earl o[ Wilton und der Earl o[ Stam[ord and Warrington als erster Präsident) an 43 . Bei der Grün dung der Hochschule für Gestaltung im Jahre 1838 in Manchester (anfangs im Kel ler des Royal Manchester Institute untergebracht) spielten einheimische Fabrikan ten eine besonders große Rolle. Die Einrichtung von Hochschulen für Gestaltun in ganz England war das direkte Ergebnis der Arbeit eines Select Committee on Art and Manufactures, das im Jahre 1835 ermittelte. Dieses Komitee wurde auf Vor schlag von William Ewart, einem Liverpooler Parlamentsmitglied und Sohn eine Kaufmanns44 , der zugleich Vorsitzender des Komitees war, zusammengestellt un beschäftigte sich hauptsächlich mit der geringeren Qualität britischer Fabrikate im Vergleich zu französischen und der Bedeutung, die eine verbesserte Gestaltung de Fabrikate für den Handel haben könnte45 . Das Komitee empfahl die Einrichtun von Schulen für Gestaltung in London und den einzelnen Provinzen mit dem Zie diesem Übel abzuhelfen. Es sollte daher nicht überraschen, daß in den Anfangsjahre der Manchester Schule solche Fabrikanten wie George Jackson, Manager eines Deko rationsbetriebes und honorary secretary der Schule, Edmund Potter und Jame Thomson, beide Kattundrucker und Mitglieder des council, aktiv waren46 . Benjami Heywood, ein Bankier und Neffe von Benjamin Arthur Heywood vom R.M.I., wa der Gründer des Technischen Instituts in Manchester, das seit 1824 existierte un das unter anderem auch Kunstunterricht erteilte47 ; ebenfalls tätig waren William Fairbairn, ein Ingenieur, Richard Roberts, ein technischer Erfinder, und G. W. Wood George Philips und Joseph Brotherton, alles Geschäftsleute 48 . Und bei der große Landeskunstausstellung 1857 in Manchester, der Art Treasures Exhibition, spielte wieder einheimische Geschäftsleute bei der Planung und Organisation eine wichtig Rolle, unter anderem auch Thomas Fairbairn (Sohn von William Fairbairn), Thoma Ashton und Edmund Potter49 • Was das Sammeln von Kunstwerken und den direkten Kauf betrifft, so bestätigen di in Manchester gesammelten Daten die These, daß die neureiche Mittelklasse in de Entwicklung der Vorliebe für zeitgenössische britische Kunst und auch italienisch primitive Kunst eine wichtige Rolle spielten50 . Samuel Ashton, ein Kaufmann un Barchentfabrikant, besaß eine Sammlung von Gemälden und Aquarellen der engl schen Schule, die Werke von Turner, Calcott, Egg und Stan[ield enthielt51 . Auc einheimische Künstler wurden von Manchester Sammlern unterstützt, zu denen Davi Holt, Otho Hulme und Thomas Kershaw gehörten 52 • Angesichts dieser vielseitige Art und Weise der Unterstützung und Förderung der Kunst in Manchester währen
unberücksichtigt lassen. Ihr Handeln und ihre Haltungen beeinflußten Kunst, Erziehung und Ausbildung von Künstlern, Ausstellung und Verkauf von Werken, den Erfolg einheimischer und anderer englischer Maler, die Vorliebe für bestimmte Themen in der Malerei des 19. J ahrhunderts S3 und sogar den geographischen Ort, wo für Künstler die Möglichkeit zum Erfolg bestand 54. Hierin stellte das in Manchester vorhandene Netzwerk der Unterstützung und Förderung von Kunst mehr dar als eine Lokalstudie, weil die nationale geld-, macht- und sozialpolitische Stellung dieser Menschen den Verlauf der Kunstgeschichte in ganz Großbritannien beeinflußte. Es gibt jedoch verschiedene Gründe dafür, warum eine Gleichsetzung von Mittelklasseneinfluß und irgendwe1chen bestimmten "bourgeoisen" Merkmalen der Kunst nicht zu leicht gemacht werden sollte. Erstens war es in Bezug auf die Kundschaft keineswegs so, daß Sammler zeitgenössischer englischer Werke ausnahmslos "neue" waren. Sir lohn Leicester (später Lord Tabley), der übrigens auch an den Anfängen des R.M. I. mitwirkte, war ein großer einheimischer Käufer englischer Kunst 55 , und es gibt viele weitere Beispiele von Mitgliedern des Hochadels und des Landadels, die ähnliche Sammlungen besaßen. Auch Kaufleute und Fabrikanten fehlten keineswegs unter den Sammlern Alter Meister. Darcy nennt mehrere Beispiele von Kaufleuten und Fabrikanten aus Lancashire 56 • Zweitens sagt die Tatsache, daß ein Käufer einer bestimmten sozialen Klasse angehört, nichts über Kaufmotive eines Kunden aus oder auf welche Weise er Werke bewertete. Das Forschungsmaterialläßt die Vermutung zu, daß manchmal aus Investitionsinteresse gekauft wurde 57 j ebenso deutlich zeigt sich jedoch, daß die neue Klasse in vielen Fällen dem Landadel nachzueifern versuchte oder jedenfalls mit dessen Kriterien eines Kunstkenners vorgingen58 • In beiden Fällen kann man nicht ohne weiteres schließen, daß Kunstwerke gefielen, weil sie ideologisch akzeptabel waren, denn wenn sie nur aus Investitionsgründen gekauft wurden, ist anzunehmen, daß der Inhalt irrelevant oder nebensächlich war; im zweiten Fall dagegen würde die Art der produzierten, sogar eine radikale Umwandlung der Klassenbasis der Gesellschaft überdauernden Werke mehr Kontinuität aufweisen. Wenn wir vom direkten Kauf zur indirekten Unterstützung übergehen, dann zeigt sich auch hier, daß das Thema der "Ideologie der Bourgeoisie" alles andere als unkompliziert ist. Das beste Beispiel hierfür ist die eher widersprüchliche Rolle, die jene Fabrikanten spielten, die mit der Schule für Gestaltung zu tun hatten. In den Anfangsjahren der Schule wurde lange und hitzig über die Art der Ausbildung debattiert; dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob die Ausbildung rein handwerklicher oder künstlerischer Art sein sollte mit dem Schwergewicht auf figurativem Zeichnen. In dieser Debatte waren die Fabrikanten Potter und Thomson gegen eine handwerkliche Schule, was man vielleicht nicht erwartet hätte, wenn man aus ihren pragmatischen Motiven hinsichtlich der Schulgründung voreilige Schlüsse zieht 59 . Hier zeigt sich jedoch, daß wir die besonderen Wertvorstellungen und Einstellungen solcher Männer wie Potter und Thomson, sowohl zur Kunst als auch im allgemeinen,
die sogenannte "Ideologie der Bourgeoisie" geschehen. Schon der Versuch, Ansich ten und Vorstellungen bestimmter Repräsentanten einer sozialen Gruppe näher zu betrachten, schafft wohlbekannte Probleme. Können wir diese Ansichten Briefe und Tagebüchern entnehmen oder verbergen selbst diese persönlichen Aussage tiefere, vielleicht unbewußte Bedeutungen? Was können wir über die Einstellung eine bestimmten Person zu Gemälden aussagen, wenn wir hierüber widersprüchliche Kom mentare oder Beweise entdecken? Und was vielleicht noch wichtiger ist: wie könne wir dann aufgrund irgendeiner detaillierten Untersuchung von einigen wenigen Indi viduen auf die soziale Gruppe schließen? Dennoch, glaube ich, wird deutlich, da wir es ohne eine solche Studie nicht einmal wagen könnten, über "Ideologie der Bour geoisie", über die ästhetische Präferenz einer Klasse oder über die Motive der Mit telklasse für Kauf und Förderung von Kunst zu sprechen. In Bezug auf das Manchester des frühen 19. Jahrhunderts wird außerdem rasch deut lich, daß die Vorstellung von einer identifizierbaren, einheitlichen Gruppe - de "Mittelklasse" - irreführend ist; und dies wird durch einen Vergleich mit andere Gemeinden noch unterstrichen. Zum Beispiel bestand im späten 18. und frühe 19. Jahrhundert in Leeds ein viel deutlicherer Unterschied zwischen der Kaufmanns schicht und den neuen Fabrikanten, und es war weit weniger üblich, daß Kaufleut oder aus Kaufmannsfamilien stammende Personen mit der Umwandlung der Pro duktion in die Industrie gingen6o . Andererseits waren die alteingesessenen Kaufleut von Leeds durch Einheirat und gemeinsame Geschäftsinteressen, besonders auf de Gebieten von Transport und Bergbau, wo viele dieser Familien ihr Kapital angeleg hatten, viel besser in den einheimischen Landadel integriert. Die neuen Industriali sten waren gesellschaftlich von dieser Gruppe und ihrem Lebensstil ausgeschlossen In Manchester dagegen, mit seinem im Vergleich zum Wollhandel im West Riding vo Y orkshire relativ kürzer bestehenden Baumwollhandel, bestand eine traditionsmäßi enge Beziehung und sogar Identität zwischen Kaufmann und Fabrikant61 . Obwoh die Funktionen dieser Gruppen eigentlich im 19. Jahrhundert voneinander getrenn wurden, kontrollierten die Kaufleute weiterhin die Endprozesse 62 ; und hinsichtlic der ökonomischen Tätigkeit und auch der sozialen Stellung können diese beide Gruppen durchaus als eine integrierte Einheit angesehen werden. Andererseits ist e wichtig, und zwar insbesondere hinsichtlich einer älteren, etablierteren Gruppe de Mittelklasse, der Mediziner, Wissenschaftler und andere Akademiker sowie einig alteingesessene erfolgreiche Kaufleute angehörten 63. Ihre politische und religiös Überzeugung (Tory und anglikanisch) stimmte oft nicht überein, und sie differen zierte sich von der "neuen" Mittelklasse - den selj-made Männern der 20er und 30e Jahre - , der Ingenieure, Industrielle und andere angehörten, die gewöhnlich radi kale politische Ansichten vertraten, Anhänger des Freihandels und mit der Kirch uneins waren. Es scheint nicht unwahrscheinlich, daß diese erste Generation vo Mitgliedern der Bourgeoisie ohne entsprechende Mittelklassenbildung weniger Ver trauen als die frühere Generation in ihre Kenntnis und ihr Kunstverständnis hatte
telklassenkategorie der Ladenbesitzer und Handwerker unterschieden werden, die völlig andere Interessen und Einstellungen als die bereits erwähnten Gruppen hatte. Dies sind weitere Gründe dafür, warum die Vorstellung von der Mittelklassenideologie äußerst vorsichtig in der besonderen historischen Situation dekonstruiert und untersucht werden muß. Wahrscheinlich ist es möglich zu beweisen, daß der Teil der Mittelklasse, der den entscheidenden Einfluß auf die Produktion von Kunst hatte, zugleich auch in Bezug auf die Entwicklung des Kapitalismus in Großbritannien eine Schlüsselstellung in der Klasse als ganzer innehatte. Es gibt also genug Beweismaterial dafür, daß Mitglieder der Kaufmanns- und Fabrikantenschichten der Mittelklasse Manchesters in der Kunstproduktion auf verschiedenste Weise eine aktive Rolle spielten. Betrachten wir Kunst als Produktion, so sind wir gezwungen, Art und Ausmaß dieser Rolle zu untersuchen, und dabei sollte man zögern, die sich entwickelnde viktorianische Richtung ohne weiteres als bourgeois zu bezeichnen. Neben der eher komplizierteren Art und Weise, in der die Mittelklasse Kunst und Künstler unterstützte, gibt es andere wichtige Aspekte der Kunstproduktionsverhältnisse, die berücksichtigt werden müßten und die zwischen wirtschaftlicher und politischer Unterstützung und der Ausführung der Kunstwerke vermitteln. Hierzu würden zum Beispiel die Organisation des Kunstmarktes selbst gehören (die Art und Weise, in der durch die Royal Academy in einem wichtigen Selbstauswahlprozeß unter Künstlern der Erfolg oder zumindest die Entscheidung darüber, welche Werke auf diesem wichtigen Forum käuflich zu erwerben waren, beeinflußt wurde; Herkunft, Bildung und Einstellungen der Künstler (ob es sich zeigen läßt, daß sie potentielle Kunden und deren Präferenzen bei der Anfertigung des Kunstwerks berücksichtigten, von Portraits und anderen Direktaufträgen abgesehen); die Rolle der Händler bei der Geschmacksbildung und der Mediation zwischen Sammlern und Künstlern; die entscheidende Bedeutung von Reproduktionstechniken und des Verkaufs von Drucken und somit der Einfluß des allgemeinen Geschmacks auf den Erfolg des Künstlers. Alle diese Faktoren müßten in eine umfassende Sozialgeschichte der Kunst hier und jetzt eingehen. Wenn wir jetzt zu meinem Ausgangspunkt zurückkehren, nämlich Kunst als Ideologie und nicht nur als Produktion zu betrachten, so läßt sich durch die weiter oben umrissene Forschungsarbeit demonstrieren, daß die Analyse von Gemälden an sich schon eine komplexe Angelegenheit ist, denn Ideologie wird darin nicht einfach dargestellt oder reflektiert, sondern durch bildhafte Codes konstruiert. Eine Untersuchung der britischen Kunst des 19. Jahrhunderts als Kunst der Mittelklasse müßte also zwei Faktoren einbeziehen: die tatsächlichen Prozesse der Kunstproduktion und die Bedeutungszusammenhänge der Gemäldeinhalte.
2 Die Jahrestagung der British Sociological Association im Jahre 1978 in Sussex über das Thema Kultur; die literatursoziologischen Tagungen an der Universität von Essex. 3 Diese Entwicklung wird in Kapitel 2 meines Buches The Social Production of Art, London 1980, behandelt. 4 Aus verschiedenen Gründen fanden jedoch diese Innovationen in Großbritannien eher an den polytechnischen Hochschulen als den Universitäten statt, wo im großen und ganzen immer noch weniger interdisziplinär gearbeitet wird. 5 Zum Beispiel john Berger und T. j. Clark auf dem Gebiet der Kunstgeschichte; Raymond Williams und Terry Eagleton auf dem Gebiet der Literaturkritik. 6 Zum Beispiel die kritischen Bemerkungen zu den Arbeiten von Lukacs, den sowjetischen Ästhetikern und den englischen Marxisten der 30er Jahre in Alan Swingewood, The Novel and Revolution, London 1975. 7 Theodor W. Adorno, Letters to Walter Benjamin, in: Ernst Block et al., Aesthetics and Politics, London 1977. 8 Seine späteren Arbeiten über die Soziologie des Romans sind oft wegen ihrer Rückkehr zur eher mechanistischen Form kritisiert worden. Eine Rechtfertigung Goldmanns in diesem Punkt findet sich auf S. 29 von William Q. Boelhowers Einleitung zu Lucien Goldmann, Essays 'on Method in the Sociology of Literature, St. Louis 1980. 9 Nicos Hadjinicolaou, Art History and Class Struggle, London 1978. 10 jean-Paul Sartre, Baudelaire, Paris 1947; ders., Saint Genet, Comedien et Martyr, Paris 1952; ders., L'Idiot de la FamilIe, Paris 1971-72. 11 Zum Beispiel David Caute, A Portrait of the Artist as Midwife: Lucien Goldmann and the "Transindividual Subject", in: ColIisions, London 1974. 12 Siehe zum Beispiel Terry LovelI, Jane Austen and the Gentry: a Study in Literature and Technology, in: Diana Laurenson (Hrsg.), The Sociology of Literature: Applied Studies, Keele 1978, Sociological Review Monograph 26; T. j. Clark, Image of the People: Gustave Courbet and the 1848 Revolution, London 1973; Terry Eagleton, Myths of Power: a Marxist Study of the Brontl!s, London 1975. 13 Siehe john Lewis, The Althusser Case, in: Marxism Today, 16, 1 und 2, 1972. Für eine Kritik dieser Position vgl. Rosalind Loward, Class, "cuIture" and the social formation, in: Screen 18, 1, 1977. Der humanistische Einwand beruht oft auf einem Mißverständnis des strukturalistischen Standpunktes. 14 Ich würde sagen, daß dies auf Walter Benjamins Analyse in The Author as Producer, in: ders., Understanding Brecht, London 1973, zutrifft. 15 Siehe Stanley MitchelI, From Shklovsky to Brecht: Some Preliminary Remarks towards a History of the Politicisation of Russian Formalism, in: Screen, 15, 2, 1974. 16 Terry Eagleton, Criticism and Ideology, London 1976, für diese Art Beweisführung. 17 Germaine Greer, The ObstacIe Race: the Fortunes of Women Painters and their Work, London 1979; Linda Nochlin, Why have There Been no Great Women Artists?, in: Thomas B. Hess und Elizabeth C. Baker (Hrsg.), Art and Sexual Politics, London 1973. 18 Beispiele hierfür sind zu finden in james Curran et al. (Hrsg.), Mass Communication and Society, London 1977; Denis McQuail (Hrsg.)., Sociology of Mass Communications, Harmondsworth 1972; jeremy Tunstall (Hrsg.), Media Sociology, London 1970. 19 Zum Beispiel Essays in der Zeitschrift Screen. Siehe auch Victor Burgin, Two Essays on Art Photography and Semiotics, k.A., 1976. 20 Siehe Nicholas Garnham, Subjectivity, Ideology, Class and Historical Materialism, in: Screen, 20, 1, 1979; Kevin Robins, Althusserian Marxism and Media Studies: the Case of Screen, in: Media, Culture and Society, 1, 4, 1979; Raymond Williams, Politics and Letters, London 1979, S. 167. 21 Stuart Hall, Encoding and decoding in the television discourse, in: Media Series, SP No. 7, Centre for Contemporary Cultural Studies, Birmingham; judith Williamson, Decoding Advertisements, London 1978. 22 In diesem untergeordneten, erweiterten Sinn wird der Ausdruck von Rosalind Coward und lohn Ellis, Language and Materialism, London 1977, und von Raymond Williams, Marxism and Literature, Oxford 1977, angewandt.
Marxism, London 1980. 25 Terry Eagleton, Criticism and Ideology, London 1976, S. 48. 26 E. P. Thompson, The Poverty ofTheory, London 1978. 27 Perry Anderson, a. a. 0.; Keith Nield und John Seed, Theoretical Poverty or the Poverty of Theory: British Marxist Historiography and the Althusserians, in: Economy and Society, 8, 4, 1979. 28 Siehe z. B. Artikel in der Zeitschrift Literature and History; in Diana Laurenson, a. a. 0.; und in Francis Baker et al. (Hrsg.), 1848: The Sociology of Literature, Essex 1978. 29 Rosanne Martorella, The Relationship between Box Office and Repertoire: A Case Study of Opera, in: Sociological Quarterly, 18, 1977; Sondra Forsyth und Pauline M. Kolenda, Competition, Cooperation, and Group Cohesion in the Ballet Company, in: Milton C. Albrecht et al. (Hrsg.), The Sociology of Art and Literature, London 1970; Edward R. Kealy, From Craft to Art: The Case of Sound Mixers and Popular Music, in: Sociology of Work and Occupations, 6, 1, 1979. 30 Siehe zwei Artikelsammlungen unter diesem Titel: Richard A. Peterson (Hrsg.), The Production of Culture, London 1976, und Lewis Coser (Hrsg.), The Production of Culture, Social Research, 45, 2, 1978. 31 Barbara Rosenblum, Photographers at Work: a Sociology of Photographie Styles, New York 1978; Judith Adler, Artists in Offices: An Ethnography of an Academic Art Scene, New Brunswick, N.J., 1979; Marcia Bystryn, Art Galleries as Gatekeepers, in: Social Research, 45, 2, 1978; Richard A. Peterson, The Production of Cultural Change: The Case of Contemporary Country Music, in: Social Research, 45, 2, 1978. 32 Friedrich Engels, The Condition of the Working Class in England (1844), London 1969; Joseph Aston, A Picture of Manchester (1816), Manchester 1969; James Phillips Kay, The Moral and Physical Condition of the Working Classes Employed in the Cotton Manufacture in Manchester (1832), Manchester 1969, und vieles andere. 33 Zum Beispiel die Ausstellung der Royal Academy "Great Victorian Pictures" im Jahre 1978 und aus jüngster Zeit Ausstellungen der Werke von Atkinson Grimshaw und Clarkson Stanfield. 34 Arnold Hauser, The Social History of Art, London 1962, Erstausgabe 1951, Band 4, S. 104. 35 E. J. Hobsbawm, The Age ofCapitaI1848-1875, k.A., 1977, S. 339-40. 36 Andrew Brighton, in: Art Monthly, 18, Juli/August 1978, S. 25. 37 Harrison C. White und Cynthia A. White, Canvases and Careers: Institutional Change in the French Painting World, New York 1965. 38 Siehe zum Beispiel Mary Bennett, The Pre-Raphaelites and the Liverpool Prize, in: Apollo, Dezember 1962; und William E. Fredeman, Pre-Raphaelitism: A Bibliocritical Study, Cambridge, Mass., 1965. 39 Siehe C. P. Darcy, The Encouragement of the Fine Arts in Lancashire 1760-1860, Manchester 1976. 40 Francis Haskell, Rediscoveries in Art, London 1976. 41 S. D. Cleveland, The Royal Manchester Institution, Manchester 1931. 42 C. P. Darcy, a.a.O., S.43 und 66. Heywood, der auch zu den Förderern des Liverpool Royal Instituts gehörte, stiftete dem R.M.1. den Betrag von 500 Pfund für die Vergabe von Medaillien für hervorragende Arbeit (Darcy, a.a.O., S. 68, und Cleveland, a.a.O., S. 7). 43 S. D. Cleveland, a. a. 0., S. 14. 44 John Willett, Art in a City, London 1967, S. 31. 45 Stuart Macdonald, The History and Philosophy of Art Education, London 1970, S.67-71; Quentin Bell, The Schools of Design, London 1963, Kapitel IV. 46 Stuart Macdonald, a. a. 0., S. 86. 47 Mabel Tylecote, The Mechanics' Institutes of Lancashire and Yorkshire Before 1851, Manchester 1957, Kapitel V und S. 287. 48 Ebd., S. 129. 49 C. P. Darcy, a.a.O., S.151. 50 Ebd., S.136-151, 152. Darcy zeigt außerdem, welch wichtige Rolle die Händler bei diesen Käufen spielten, was auf Ähnlichkeiten mit der Situation der Impressionisten in Frankreich hindeutet (S. 139-141).
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schaften. Siehe auch Roy Strong, And When Did Vou Last See Vour Father? The Victoria Painter and British History, London 1978; und Richard Jenkyns, The Victorians and Ancien Greece, Oxford 1980. Trevor Fawcett, The Rise of English Provincial Art, Oxford 1974, worin die Auflösung de Norwich Society of Artists beschrieben wird, die mit dem Mangel einheimischer Käufer i Beziehung gebracht wird. Seine Rolle wird erläutert von Trevor Fawcett, a. a. 0., S.89-92, und von C. P. Darcy, a. a. 0 S.67-8. C. p. Darcy, a.a.O., S. 124-36. Ebd., S. 134, 159. Ebd., S. 134-5. Stuart Macdonald, a. a.O., S. 86; Quentin Bell, a. a.O., S. 117-19. R. G. Wilson, Gentlemen Merchants: The Merchant Community in Leeds 1700-1830, Man chester 1971. D. A. Farnie, The English Cotton Industry and the World Market 1815-96, Oxford 1979 S.61. Ebd., S.62. Siehe auch A. P. Wadsworth und]. De Lacy Mann, The Cotton Trade and In dustrial Lancashire1600-1780, Manchester 1931, S. 250-51. Siehe V. A. C. Gatrell, The Commercial Middle Class in Manchester c. 1820-57, Dissertation Cambridge 1971. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Welge
1. Ein wissenssoziologischer Begriff von Wissen
Die Wissenssoziologie ist bisher mit einem viel zu geringen Anspruch aufgetreten: Wissenssoziologie - das las sich so wie Jugendsoziologie, Stadtsoziologie, Industriesoziologie. Wissen, ein Gegenstand, auf den sich das soziologische Interesse richten kann. Aber schlimmer noch als bei Jugend-, Stadt- und Industriesoziologie, die doch immerhin für sich in Anspruch nehmen kann, auch zu sagen, was soziologisch gesehen Jugend, was Stadt, was Industrie ist, überließ die Wissenssoziologie die Bestimmung von Wissen der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie. Sie sah ihre Aufgabe, wie Georges Gurvitch sagt, in "The study of functional correlations which can be established between the different types ... of knowledge, and ... the social frameworks, such as global societies, social classes, particular groupings, and various manifestations of sociality (microsocial elements)" (Gurvitch 1971, 16 f.). Der Anspruch einer bloßen Untersuchung der funktionalen Beziehungen zwischen Wissensformen und Sozialformen ist zu gering, er konnte auch so gar nicht festgehalten werden, sondern wurde in den einzelnen Untersuchungen tendenziell immer überschritten - weil darin die soziale Funktion von Wissen, die Bedeutung von Wissen als Moment des Sozialen unterschätzt ist. Zur Bestimmung eines wissenssoziologischen Begriffs von Wissen wollen wir vom Begriff der ideellen Reproduktion der Gesellschaft ausgehen: Als ideelle Reproduktion der Gesellschaft wollen wir die Reproduktion derjenigen Bestandsstücke des gesellschaftlichen Lebens bezeichnen, die durch die bloße materielle, nämlich biologische Reproduktion der Menschengattung nicht mitgegeben sind. Diese ideellen Bestände der Gesellschaft sind also die selbstproduzierten Formen des menschlichen Gattungslebens wie auch die Produkte der intellektuellen Naturaneignung. Als Wissens inhalte sind diese ideellen Bestände der Gesellschaft zu bezeichnen, als Wissen im wissenssoziologischen Sinne die Partizipation an diesen ideellen Beständen. Wissen in diesem umfassenden Sinne ist sowohl Lesenkönnen als auch einen Schlüssel * Dieses Kapitel ist aus einem Teil des theoretischen Entwurfs zu einem Projekt "Die Verwissenschafdichung der Geburtshilfe" entstanden, das ich zusammen mit Beatrice A dloff u. a. durchführen wollte. Wenn die folgenden Ausführungen, insbesondere was das historische Material betrifft, skizzenhaft bleiben, so sind dafür das Kuratorium der Stiftung Volkswagenwerk und die Referenten der Thyssenstiftung verantwordich, die Forschungen zu diesem Thema nicht für förderungswürdig hielten. Beatrice Adloff gilt mein Dank für die Kooperation bei der Ausarbeitung des Projektentwurfs.
zu partizipieren, die Herausbildung von Wissensschichten, von Herrschaftsstrukture durch die unterschiedlichen Zugangschancen; die Bildung von Subgesellschafte und Subkulturen, durch den gemeinsamen Zugang zu bestimmten Wissensbestän den, die Funktion dieser Bestände für die Sozialität solcher Subgesellschaften, die B deutung für die Abgrenzung gegen die Restgesellschaften und die Bildung von Klien telen. Ein natürliches Thema der Wissenssoziologie ist die Auseinandersetzung zw schen den Trägern von verschiedenen Wissensbeständen. Man kann sagen, daß ein Wissenssoziologie, die die Bedeutung von Wissen für Sozialität wirklich ernst nimm nicht eine Bindestrichsoziologie sein kann, eine Soziologie von einem bestimmte Gegenstand, sondern vielmehr Soziologie in einer bestimmten Perspektive ist: näm lich Soziologie, die Sozialität von der Partizipation an den ideellen Beständen de Gesellschaft her betrachtet. Man kann sagen, daß eine Überschreitung der bisherigen Wissenssoziologie in diese Richtung bereits vollzogen wurde. Die Ethnomethodologie betrachtet Alltagswisse in seiner Funktion für den Vollzug von Sozialität überhaupt. Aber auch in der de Wissenssoziologie eigenen Rede von verschiedenen Wissensformen hat sie ihre Selbs beschränkung längst überschritten, für ihren Partner, die Erkenntnistheorie oder d Wissenschaftstheorie, gibt es nämlich eine solche Pluralität von Wissensformen übe haupt nicht. Erkenntnistheorie ist schon bei Platon als Demarkationsdisziplin au getreten, und ihr später Abkömmling, die Wissenschaftstheorie von heute, ist auc nichts anderes: In ihr geht es darum zu bestimmen, was als Erkenntnis im eigen lichen Sinne zugelassen werden soll, d. h. umgekehrt um die Verdammung aller an deren "Wissensformen" als Nichtwissen, als Glaube, als bloße Meinung, als Mytho als Metaphysik. Man kann also sagen, daß die Wissenssoziologie durch ihren "neu tralen" empirischen Standpunkt bereits immer schon ihren eigenen Wissensbegri gehabt hat, d.h. empirisch als Wissen genommen hat, was sich als solches gab. G nauer besehen war sie dabei gar nicht neutral, praktizierte vielmehr eine höchst löb liche Parteilichkeit. So hat sie etwa den Wissensanspruch anderer Wissensformen g genüber der Alleinherrschaft der Wissenschaft verteidigt: Z. B. die Metaphysik gegen über der Naturwissenschaft bei Max Scheler. Oder sie hat als Ideologiekritik di Borniertheit bestimmter Wissensformen zu durchbrechen versucht (Karl Mannheim oder sie hat bestimmte Wissensinhalte wegen der Affinität zum Verhalten ihrer Tr gerschichten kritisiert (Sohn-Rethel, o. Ulrich). Damit ist die Wissenssoziologie fak tisch schon eingetreten in die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Wissen, d. um die Chance, am ideellen Bestand der Gesellschaft zu partizipieren. Die Wissenssoziologie geht also davon aus, daß alle Wissensinhalte gesellschaftlic reproduziert werden müssen. Die Unterscheidung von Wissensformen kann deshal nicht nur durch kognitive Strukturen allein geleistet werden!. Vielmehr gehört zu Bestimmung einer Wissensform die Bestimmung ihres Trägers, d. h. der sozialen K tegorie, Gruppe, Gemeinschaft oder Subgesellschaft. Es gehört die Bestimmung de Form der Partizipation an diesen Wissensinhalten dazu und der Funktion dies
kulturation, Lehre und Unterricht Themen der Wissenssoziologie. Man kann den umfassenderen wissenssoziologischen Begriff von Wissen vielleicht noch deutlicher machen, wenn man ihn von dem eingeschränkten Wissensbegriff der Wissenschaftstheorie absetzt. Die Wissenschaftstheorie orientiert sich fast ausschließlich am Paradigma neuzeitlicher Naturwissenschaft. Für dieses ist charakteristisch eine Trennung von Theorie und Praxis. Demgegenüber entspricht dem wissenssoziologischen Wissensbegriff eher das französische savoir faire, weil Wissen als Partizipation an ideellen Beständen von Gesellschaftlichkeit unmittelbar gesellschaftliches Können ist. Unter dem Paradigma neuzeitlicher Wissenschaft hat ferner die Wissenschaftstheorie die Teilhabe an Wissensinhalten gegenüber der Produktion neuer Wissensinhalte, die Reproduktion gegenüber der Innovation vernachlässigt. Der neuzeitliche man of knowledge ist nicht der Gelehrte, sondern der Forscher (Florian Znaniecki 1975). Schließlich sind aus einem wissenschaftstheoretischen Wissens begriff alle Relevanzstrukturen von Wissen ausgeblendet. Demgegenüber enthält der wissenssoziologische Begriff von Wissen als Partizipation unmittelbar den Aspekt der Relevanz von Wissen für den Wissensträger. Zur Bestimmung von Alternativen in der und zur neuzeitlichen Wissenschaft ist die Basis der traditionellen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie viel zu schmal, genauer: Diese Disziplinen waren geradezu dazu gemacht, solche Alternativen auszuschließen. So ist gegenüber dem wissenschaftlichen Wissen das lebensweltliche, bisher auch entweder schlicht als Nichtwissen oder als diffuseres, als schwächeres Wissen herausgekommen, d. h. also genaugenommen gar nicht als eigenständige Wissensform. Diese Eigenständigkeit wird sich erst erweisen, wenn man die Trägerschichten hinzunimmt, die soziale Funktionalität dieser Wissensform, und wenn man sich die historischen Kämpfe und Abgrenzungsbestrebungen zwischen den Wissensträgern vor Augen führt.
Il. Wissenschaftliches Wissen und lebensweltliches Wissen Die Frage nach dem lebensweltlichen Wissen ist vielleicht gegenwärtig die interessanteste, wenn man nach Alternativen zur neuzeitlichen Wissenschaft, besonders der neuzeitlichen Naturwissenschaft fragt. Es geht nämlich dabei darum, ob wir in unserer Alltagswelt noch über das Wissen verfügen, aufgrund dessen wir die Lebensvorzüge dieser Alltagswelt selbständig bewältigen können. Denn ist dies nicht der Fall, so werden diese Lebensvollzüge an Fachleute delegiert, d. h. aber zugleich, aus dem Lebenszusammenhang entfernt. Wir werden mit der Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe einen typischen Fall für diesen Vorgang behandeln: Geburt findet nicht mehr im Lebenszusammenhang statt, kann auch gar nicht mehr dort stattfinden, weil das Wissen von der Geburtshilfe dort nicht mehr präsent ist, Geburt findet im isolierten Raum der wissenschaftlichen Medizin statt.
aller Lebensvollzüge meint. Das ändert sich erst, wenn man von einer spezifischen Fragestellung ausgeht. Wenn wir von der Verwissenschaftlichung der Geburtshilf reden, so ist die Lebenswelt, auf die wir uns beziehen, der Lebenszusammenhang der gebärenden Frauen. Ferner kann man fragen, ob man nicht mit einer Verwis senschaftlichung von lebensweltlichem Wissen in dem Sinne zu rechnen hat, daß das wissenschaftliche Wissen in die Lebenswelt diffundiert. Wir glauben, daß dies Diffusion faktisch gar nicht stattfindet, daß lediglich Ausdrücke und Einzeldaten der Wissenschaft im Lebenszusammenhang auftauchen, daß vielmehr umgekehr die Verwissenschaftlichung darin besteht, daß bestimmte Lebensvollzüge an wissen schaftlich gebildete Fachleute delegiert wird. Ferner kann man die Entgegensetzun von Lebenswelt und Wissenschaft ideologisch oder politisch problematisieren, indem man nämlich darin gewisse irrationalistische und restaurative Züge aufzuspüren meint Diese Argumentation unterstellt aber bereits den linearen Fortschritt in der Ratio nalität, den die Verwissenschaftlichung von Lebensbereichen für sich in Anspruch nimmt, der aber gerade in Frage steht. Er unterstellt, daß Verwissenschaftlichun einfach eine Verbesserung, Präzisierung von lebensweltlichem Wissen ist, eine Über windung von Aberglauben und Irrtum. Die Möglichkeit, daß lebensweltliches Wis sen vielleicht einfach anders sein könnte und eine andere Funktionalität haben könn te als wissenschaftliches Wissen, wird dabei übergangen. Gerade dies aber sollte un tersucht werden. Wir haben schon früher 3 vorgeschlagen, das Verhältnis von lebensweltlichem Wissen un Wissenschaft an solchen Fällen zu untersuchen, wo sich für beide Wissensformen soziologisch identifizierbare Träger ausmachen lassen und wo die Entgegensetzung beider Wissensformen ein reales - d.h. nicht bloß theoretisches - Problem ist. Dies Bedingungen sind im Fall der Geburtshilfe erfüllt. In den Ärzten und Hebammen haben wir charakteristische Träger der jeweiligen Wissensformen und in der Verwissenschaft lichung der Geburtshilfe das Produkt ihrer jahrhundertelangen Auseinandersetzung Heute stellt sich das Problem eher ex negativo: Die Lebenswelt ist faktisch vom Wissen um die Geburt entleert. Geburten finden in den meisten europäischen Ländern zu fast 100 % in der Klinik statt4 . Sie werden verantwortlich geleitet von Ärzten wobei den Hebammen nur noch eine assistierende Funktion zukommt. Diese Situa tion wird trotz der dadurch erreichten außerordentlichen Sicherheit des Geburts vorganges als Mangel empfunden. Die Frauen haben erhebliche Schwierigkeiten das Geburtserlebnis, das außerhalb ihres Lebenszusammenhanges stattfindet, bio graphisch zu integrieren. Sie klagen über die Einsamkeit und Kälte des übertechni sierten Entbindungsraumes. Sie empfinden ihre totale Abhängigkeit vom Fachper sonal als eine Entmündigung; als eine Enteignung einer ihrer wichtigsten Lebens vollzüge. Die Diskontinuitäten zwischen Vorsorge, Klinikaufenthalt und Nachsorg sind objektive Mängel, die insbesondere zu Lasten der sozial schwächeren Schichten gehen. Die Professionalisierung der geburtshilflichen Betreuung führt hier wie auch
Wir haben gesagt, daß wir als die eigentlichen Träger lebensweltlichen Wissens von der Geburt die Hebammen benennen. Dagegen könnte eingewandt werden, daß die Hebammen bereits ein ausdifferenzierter Berufsstand sind, ihr Wissen also gerade nicht das Wissen der lebensweltlich Betroffenen, nämlich der Frauen, ist. Wir geben dies zu, allerdings mit der Einschränkung, daß es im strengen Sinne erst auf die moderne Hebamme zutrifft. Ursprünglich war Geburtshilfe solidarische Hilfe, d. h. Hilfe unter den Betroffenen, den Frauen selbst. Die Hebamme war unter den Frauen nur eine, die durch besondere Erfahrung im Lebenszusammenhang das Wissen, das die anderen Frauen im Prinzip auch besaßen, in besonderer Weise akkumuliert hatte. Wir möchten die Hebamme in diesem Sinne als eine Expertin der Lebenswelt verstehen. Wir haben Hebammen dieser Art in Europa auf dem Kontinent im wesentlichen noch bis 1800, in England sogar bis 1900. Vom 18. Jahrhundert an aber findet ein Vorgang statt, den man die Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe nennen kann, ein Vorgang, durch den die Hebammen nicht unberührt blieben, indem sie sich von der Expertin der Lebenswelt zum modernen Berufsträger entwickelten. Den Prozeß der Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe kann man durch folgende Merkmale charakterisieren: Er bedeutet den Übergang der entscheidenden Kompetenzen von den Hebammen an die Ärzte, d.h. aus den Händen von Frauen in die Hände der Männer. Durch die Verwissenschaftlichung geschieht eine Herauslösung des Geburtsvorganges aus dem Lebenszusammenhang, eine Verlagerung in den synthetischen Raum der Klinik. Der Geburtsvorgang selbst wird dort in fortschreitendem Maße unter die Bedingungen gestellt, die für mögliche Risikofälle erforderlich sind. Der Fortschritt in der wissenschaftlichen Geburtslenkung transformiert die Geburt selbst aus einem natürlichen, spontanen Ereignis in einem Kontrollierten Vorgang, die programmierte Geburt. Dadurch kommt das Gebären in der Geburtshilfe nicht mehr als subjektiv persönliches, sondern nur noch als objektiv sachliches Ereignis vor. Wenn wir nach dem lebensweltlichen Wissen von der Geburtshilfe fragen, so fragen wir also offenbar nach einem Wissen, das heute empirisch nicht mehr zu erheben ist. Wir fragen nach einem Wissen, das in Reinkultur nur unterstellt werden kann für die Zeit, bevor die Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe einsetzte, d. h. also eine Zeit, in der die Geburtshilfe - von heute gesehen - schlecht und ohnmächtig war. Was sollen wir aus dieser Zeit lernen? Darauf ist zweierlei zu antworten: Auf der einen Seite sollen die Erfolge wissenschaftlicher Geburtshilfe hier nicht bestritten werden, es geht nicht darum, vorwissenschaftliche Praktiken als die gegenüber wissenschaftlichen überlegenen zu erweisen. Vielmehr ist die Frage, ob der Verlust lebensweltlichen Wissens von der Geburt nicht Leerräume hinterlassen hat, die von dem wissenschaftlichen Wissen nicht auszufüllen sind. Ferner muß man um der historischen Gerechtigkeit willen feststellen, daß die Unzulänglichkeit traditioneller Hebammengeburtshilfe solche Fälle betraf, die wir heute als Risikofälle betrachten wür-
genstellt. Wie will man erfahren, was die traditionalen Hebammen wußten? Daß ihr Wissen nicht verwissenschaftlicht war, bedeutet ja unter anderem gerade, daß die meisten Hebammen weder lesen noch schreiben konnten, sondern ihr Wissen durch Absehen und Erfahrung gewonnen haben. Die wenigen Bücher schreibender Hebammen sind auch nicht als eindeutige Zeugnisse zu verwenden, weil sie naturgemäß durchweg eher ein Spiegel der Anfänge der Verwissenschaftlichung ihres Wissens als ein Bericht über die traditionalen Bestände dieses Wissens sind. So haben die beiden herausragenden Figuren, nämlich Louyse Bourgeois und }ustine Siegemundin, ihre Hebammenkarriere auf durchaus ungewöhnliche Weise begonnen, nämlich durch Lektüre anatomischer Bücher. Ihre eigenen Bücher sind also unter der Perspektive der Frage, was die Hebammen seinerzeit wußten, nur mit Vorsicht zu gebrauchen Ganz auszuschließen als Quellen sind sie natürlich nicht, zumal der Prozeß der Verwissenschaftlichung sich über Jahrhunderte erstreckt und sich in der Praxis der Hebammen wissenschaftliches und traditionales Wissen in dieser Zeit mischten. Das Problem aber bleibt, wie soll man ein im wesentlichen nicht dokumentiertes Wissen erforschen? Unsere Antwort ist darauf, daß es bei unserer Fragestellung auch nich darum geht, Details dieses Wissens zu rekonstruieren. Es geht vielmehr um den Wissenstyp, d.h. wie wir oben ausgeführt haben, um die Beziehung von Wissensinhal und Träger, um die Frage des Wissenserwerbs und die Tradition, um die soziale Bedeutung des Wissens für die Trägerschaft, um die Abgrenzungsprozesse gegenübe Klienten und anderen kompetitiven Trägerschichten, hier den Ärzten. In diesem Sinne läßt sich das traditionale Wissen der Hebammen durchaus rekonstruieren, nämlich aus der Sozialgeschichte des Hebammenstandes. Deshalb wollen wir im nächsten Abschnitt eine Skizze dieser Geschichte geben.
III. Zur Sozialgeschichte der Hebammen
Die Sozialgeschichte der Hebammen in Europa läßt sich im großen in vier Phasen einteilen, wobei die Phasen nicht scharf voneinander getrennt sind, sich jeweils Momente der einen Phase in der nachfolgenden in abgeschwächter Form wiederfinden Diese Phasen sind: Hebammendienste als solidarische Hilfe, die Hebammentätigkei als Amt, als traditionaler Beruf und schließlich als moderner Beruf. Geburtshilfe reicht sicher:ich in die frühe Geschichte der Menschheit zurück. Es finden sich dafür ja bereits Vorläufer im Tierreich, etwa bei den Delphinen. Geburts hilfe ist eher dem Ursprung nach die Hilfe, die sich Frauen untereinander bei de Geburt leisten. Natürlich interessiert in unserem Zusammenhang die Geburtshilfe nur insoweit, als zu ihr Wissen gehört, d. h. also über die bloße biologische Repro duktion hinausgehende Bestände an Kompetenzen, Riten und Institutionen, die durch Tradition vermittelt werden müssen. Diese Kompetenzen wurden zunächs
(Donnison 1977, S.51). Philipp und Koch (1940, S.217) drücken die Verhältnisse für diese Frühphase des Hebammenwesens wohl charakteristisch aus: "Jede Frau, die Kinder zur Welt gebracht hatte und somit eine gewisse persönliche Erfahrung besaß, konnte anderen Frauen als Hebamme beistehen. Auch nahmen sie, wenn sie sich durch Übung einige Kenntnisse angeeignet hatten, jüngere Frauen zu sich und zeigten ihnen die notwendigen Handgriffe." Aus den erfahrenen Frauen, die sich gegenseitig Hebammendienste leisteten, heben sich naturgemäß einige heraus, die als besonders erfahren gelten und denen die anderen besonderes Zutrauen entgegenbringen. Sie gelten dann als weise Frauen, als sage-femme - einer der ältesten Ausdrücke 5 für die Hebammen. Diese erste Unterscheidung zwischen den Hebammen und den anderen Frauen, die teils auf der besonderen Akkumulation geburtshilflichen Wissens bei einigen Frauen, teils auf dem Zutrauen, das die anderen ihnen entgegenbringen, beruht, führt zu jener Institution, die von Ackerknecht (1974, S.185) als "Hebammenwahl" bezeichnet wird: Sie ist die Voraussetzung dafür, daß später die Geburtshilfe das Amt bestimmter Frauen wird, ohne daß diese dafür eine spezifische Ausbildung genossen hätten. Diese Form der Rekrutierung rechtfertigt zugleich unsere Bezeichnung der traditionalen Hebamme als "Expertin lebensweltlichen Wissens". Die Zuweisung der Hebammenfunktion an bestimmte Frauen durch die anderen spielt bis zur Entstehung des modernen Hebammenberufes eine Rolle. Sie setzt voraus, daß Hebammen immer schon ältere, erfahrene Frauen sind. Wir müssen wohl davon ausgehen, daß diese Institution der ,~Gemeinde-Hebamme" bereits bestand, bevor durch obrigkeitliche Sanktionen das Amt der Hebamme geschaffen wurde. Ihre Basis ist eine Art "geburtshilfliehe Demokratie", wie Gubalke (1964, S. 63) sagt. Die Entwicklung des Hebammenwesens zum "Amt" hängt mit der Ritualisierung und kirchlichen Verwaltung des Lebenszusammenhanges im Mittelalter zusammen. Ein Amt ist weder ein Gewerbe noch ein Beruf im modernen Sinne. Ein Amt ist die obrigkeitlich sanktionierte Verwaltung eines in bestimmter Weise gestalteten lebensweltlichen Zusammenhanges. Die Hebamme ist nun nicht mehr nur die, die aus eigener Erfahrung und Zuschauen "weiß", wie ein Kind entbunden werden muß, sondern sie "weiß" nun auch, wie die Geburt als sozial kultureller Vorgang zu gestalten ist. So schreiben Philipp und Koch (1940, S.216) über die ersten kirchlichen Ordnungen des Hebammenwesens in Schleswig-Holstein: "Über die Hauptsache, die Ausbildung, Ausrüstung und die eigentliche geburtshilfliehe Tätigkeit der Hebammen, über ihre Pflichten und Rechte, wird nichts gesagt, auch nichts in späteren Urkunden, obwohl Vorschriften über die bei einer Geburt einzuhaltenden Sitten und Gebräuche genügend erhalten sind. So wird bestimmt, wieviel Essen, Wein, Bier und Kuchen bei einer Geburt, bei der stets viele Frauen zum Beistand versammelt waren, gereicht werden dürfen, und laut einer fürstlichen Konstitution aus dem Jahre 1600 wird den Hebammen ,bei ihren Eyden und Verlust ihres Amptes' auferlegt, über diese Dinge zu wachen." Es geht aber nicht nur um die Ausgestaltung der
nun ferner darüber zu wachen, daß bei der Geburt alles mit rechten Dingen zugeh d. h. Kinder nicht umgebracht werden, keine Kindsunterschiebungen stattfinden sie hat ferner den Vater des Kindes festzustellen, notfalls unter der Tortur der Ge burtsschmerzen von der Kreißenden zu erfragen (Donnison 1977). Die Hebamm wird dadurch zur amtlichen Geburtszeugin, daher auch der Name Kindbettbeseheri (Andriias 1900, S.139). Schließlich ist sie als Verwalterin eines der wichtigsten Le bensabschnitte in den universalen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen ein gespannt. Je mehr sie von Amts wegen über den rechten Vorgang wachen muß, dest mehr ist sie der Versuchung ausgesetzt, sich auf die Ränke des Gegenspielers, des Teu fels, einzulassen. Deshalb enthalten die ab 1452 (Regensburg) entstehenden Heb ammenordnungen auch immer Verbote gegen Hexerei, deshalb werden immer wie der Hebammen als Hexen verdächtigt (s. Forbes 1966). Amtshebammen werden durch obrigkeitlich-kirchliche Lizensierung eingesetzt, si werden auf Hebammenordnungen vereidigt, sie werden vorher einer Examinatio unterzogen. Dieses Examen war in der Regel aber nicht eine fachliche Prüfung de technischen Kompetenzen, wie wir es uns heute vorstellen würden. Zwar fand auc an manchen Orten eine Befragung vor einem Fachkonsortium von Ärzten, Chirurge und Hebammen statt (so in Paris, siehe Fasbender 1964, S. 83). In der Regel wurd aber, wie beispielsweise Donnison (1977, S.6) für England berichtet, auch dies Fachkompetenz der Kandidatin durch Zeugen bestätigt 6 . Mindestens ebenso wichtig wenn nicht wichtiger, waren aber diejenigen Zeugen, die der Hebammenkandidati das Leumundszeugnis ausstellen mußten ("to testify to the rectitude of their live and conversations", Donnison 1974, S.6), wie beispielsweise der Gemeindepfarrer Denn die Lizensierung der Hebammen betraf primär ihre soziale und religiöse Funk tion 7 . Die Hebammen wurden für ihre Tätigkeit zwar bezahlt, aber sie waren geha ten, daraus kein Geschäft zu machen. So verpflichteten sie sich durch ihren Eid nac den Hebammenordnungen, arm und reich in gleicher Weise zu dienen und wede untereinander Konkurrenz zu treiben noch sich selbst irgendwo ins Geschäft z bringen8 . Die Wandlung vom Hebammenamt zum traditionalen Beruf vollzog sich im Lauf des 18. Jahrhunderts. Diese Entwicklung hat wohl im wesentlichen drei Ursachen nämlich die einsetzende Säkularisierung des gesamten Lebens, die Einführung spez fischer Ausbildungen und Diplome für Hebammen und die entstehende Konkurren zu männlichen Geburtshelfern. All diese Punkte hängen miteinander zusammen Denn auf der einen Seite waren es christliche Weltanschauung und Ethik, die bis in 18. Jahrhundert hinein Männern den Zugriff auf den weiblichen Körper im wesent lichen verwehrten, so daß die Hebammen auch quasi als Frauenärzte für viele weib liche Leiden außerhalb des Geburtsgeschehens zuständig waren. Ferner war das, wa Hebammen außerhalb der Kompetenzen, die sie in ihrer Praxis erwarten, lerne mußten, im wesentlichen die Anatomie. Anatomie aber mußten sie von Männer
d.h. gemeindlichen Leben als Hebamme teil. Sie war jederzeit bereit, ihre Tätigkeit auszuüben. Ihre Tätigkeit als Hebamme war von ihrem sonstigen Lebensvollzug nicht wesentlich verschieden. Ackerknecht und Fischer-Homberger (1977, S. 264) drücken das so aus: "Die Hebamme orientierte ihre Aktivitäten mehr an denen der Mutter oder der Hausfrau". Und dann war das, was sie wußte, im wesentlichen noch immer eine Kompetenz, die sie durch Praxis erwarb, Lebenserfahrung und Selbsterfahrung als Gebärende waren immer noch Voraussetzung. Der Unterricht, in der Regel ein Kurs von drei Monaten, war eher eine theoretische Ergänzung zu der langen zuschauenden und mithelfenden Lehrzeit, die sie bei einer älteren Hebamme absolvierte. Wie sehr die Tätigkeit der Hebamme traditionalen Mustern verhaftet blieb, obgleich sie mehr und mehr in Hebammenschulen ausgebildet wurden und ihren Beruf als Gewerbe betrieben, wird erst deutlich, wenn man den modernen Beruf der Hebamme dagegenhält9 . Heute werden die Hebammen gleich nach der Schule, d. h. mit 17 oder 18 Jahren, an Schulen, die Kliniken angegliedert sind, ausgebildet. Ihre Tätigkeit hat mit ihrer moralischen Qualität und mit ihrer persönlichen Lebensführung nichts mehr zu tun. Sie ist der Vollzug spezifischer, erlernter Berufskompetenzen in einer dafür vorgesehenen Arbeitszeit außerhalb ihres Lebensbereiches - nämlich in der Klinik. Mit der Skizze der Veränderung der Berufsmuster der Hebammen ist zugleich auch ein Abriß ihrer sozialen Geschichte gegeben. Wir wollen aber noch ausführlicher auf zwei Punkte eingehen, die für die Bestimmung ihrer Wissensform bis hin zum traditionalen Beruf wesentlich sind, nämlich einerseits auf die Art ihres Kompetenzerwerbs und die Rekrutierung, andererseits auf die Auseinandersetzung mit den Ärzten. Von der Form der Hebammentätigkeit als solidarischer Hilfe über das Amt der Hebamme bis zum traditionalen Hebammenberuf erfolgte der Wissenserwerb durch eigene Erfahrung, durch Zuschauen und durch Vermittlung im Meister-Schüler-Verhältnis. Offenbar war es bis ins 19. Jahrhundert hinein eine allgemeine konsentierte Voraussetzung für die Hebammentätigkeit, verheiratet zu sein und selber Kinder geboren zu haben (Donnison 1974, S. 1, 3, 18). Andriias (1900, S.143) gibt wohl die Volksmeinung hierüber sehr gut wieder, indem er eine Gemeindeschrift aus der Oberpfalz von 1782 zitiert: "Ein Weib, welches mehrere Kinder geboren, sei ihr lieber als ein Accoucheur, der ebensowenig als ein Medicus jemalen ein Kind zur Welt geboren hat und daher ex mera theoria etwas daher sagt; bis er gleichwollen in praxis ganze Freydhöf angefüllet hat." Schon Platen versucht in seiner Schilderung der antiken Hebammenkunst im Dialog Theaitetos, dafür eine Begründung zu geben, indem er sagt, daß die menschliche Natur zu schwach sei, eine Kunst in Dingen zu erlangen, deren sie ganz unerfahren ist (Theaitetos, 140 c). Freilich hat es auch Gegenstimmen gegeben wie etwa den spätantiken Arzt Soranos (Fasbender 1964, S. 27; Gubalke 1964, S. 51), aber sie sind als Gegenstimmen häufig nur Zeichen für den sonst allgemeinen Brauch, wie beispielsweise die Äußerungen der berühmten Justine Siegemun-
ausgestanden von schweren Geburthen und gefährlichem Kreissen nicht gründlic schreiben könne, und dannenhero sich einbilden: mein Unterricht habe keinen Grund Angesehen es ja nicht nöthig, daß eine alle dergleichen Fälle an seinem eigenen Leib müsse erfahren haben, in welchen er andern wolle rathen oder behülfflich seyn" (Siege mundin 1756, BI. a2). Vom Zusehen hatte außerdem jede erwachsene Frau einige Kenntnis von der Ge burtshilfe, denn, wie Philipp und Koch (1940, S.217) schreiben, waren die Gebur ten große "Frauenversamblungen", bei denen es hoch herging und für die die Obrig keit offenbar Anlaß sah, die Zahl der Anwesenden auf höchstens 8 bis 10 zu beschrän ken lO • Hebammen kamen auch zu einer Geburt selten allein, sie waren in Begleitun anderer Frauen, die in einer Art Lehrlingsstellung zu ihnen standen, und das übe viele Jahre. Diesen wurden natürlich nicht nur Handgriffe gezeigt, sondern auch vie les mündlich mitgeteilt. Ein Spiegel davon mag das Buch der Siegemundin sein, da ja durchweg als Dialog einer älteren erfahrenen Hebamme mit einer jüngeren geschrie ben ist. Sehr häufig wurde das Wissen auch einfach von der eigenen Mutter übermi telt, so daß - wie sich das Wissen von der Geburt in die Familien tradierte - so auc der Hebammenberuf häufig von der Mutter auf die Tochter überging. So ist ein Te des Buches der ersten schreibenden Hebamme in ler Neuzeit der Louyse Bourgeoi als Brief an ihre Tochter geschrieben l l . Wie wurde man Hebamme? Wie rekrutierte sich dieser Beruf bzw. dieses Amt? Be der Beantwortung dieser Fragen muß man bedenken, daß es ja durchweg scho etwas ältere Frauen waren, die Hebammen "wurden", daß man sich nicht, wie heu zutage, in frühen Jahren zu einem solchen Beruf entschloß. Ein Weg wurde bereit von uns genannt: Eine Frau folgte ihrer Mutter als Hebamme, der sie schon viel Jahre assistiert hatte. Ein anderer, der Weg der Siegemundin, mag auch typisch sein Da man einmal bei einer Geburt erfolgreich Hand angelegt hatte, wurde man auc wieder von anderen Frauen zur Hilfe gerufen. Schließlich gab es, wie schon gesag die Institution der Hebammenwahl, wobei "Wahl" sowohl bedeuten kann, daß ein angesehene Frau in der Gemeinde zur Hebamme gewählt wurde oder aber von de Obrigkeit als solche ausgewählt wurde. Die Rekrutierung der Hebammen erfolgt also aus dem Kreis der schon erfahrenen, teils eben schon in der Geburtshilfe e fahrenen Frauen. Dabei ist zu beachten, daß die Hebammen in der Regel eher au den niederen Ständen kamen - was übrigens in einem merkwürdigen Gegensatz z ihrer sonst geachteten Stellung steht. Der Grund dafür wird wohl ein ökonomische sein: Nur Frauen aus dem niederen Stand hatten es nötig, aus der gelegentlich nach barschaftlichen Hilfe einen Dienst an der Gemeinde bzw. ein Gewerbe zu machen Der Hebammendienst war schwer, zeitraubend und unregelmäßig. Er wurde grund sätzlich von verheirateten Frauen ausgeführt, also von solchen Frauen, für die ei Zuverdienst für die Familie erforderlich war. Es mag übrigens auch sein, daß di Tatsache, daß Hebammendienst als Handarbeit galt, Frauen aus den höheren Schich ten abgehalten hat.
ammenordnungen bzw. den Eidesformeln, die überliefert sind 13 • Wir wollen quasi als Zusammenfassung der vielen Formulierungen das wiedergeben, was in Zedlers Universallexikon, Bd.l, Spalte 1535, als Qualitäten der Hebamme gefordert wurde: "Ihre vornehmsten Tugenden sollen seyn, Gottesfurcht, Ehrbarkeit, Wissenschaft, Übung, so sie theils durch Lesung guter Bücher, theils durch Handanlegung selbst erworben hat; ferner Geschicklichkeit, Hurtigkeit, Fleiß und Beständigkeit, Höflichkeit, Hertzhafftigkeit und Verstand: Hingegen muß sie Unwissenheit, Waschhafftigkeit (sic! muß aber wohl Naschhaftigkeit heißen), Soff, Kleinmüthigkeit, Geitz und Bosheit als ihre abscheulichsten Laster fliehen und meiden. " Ich möchte abschließend in der Skizze der Sozialgeschichte der Hebammen noch die Auseinandersetzung mit den Ärzten bzw. den Männern hervorheben, weil diese Auseinandersetzung die Entwicklung der Hebammentätigkeit vom Amt bis zum modernen Beruf aufs stärkste geprägt hat. Diese Auseinandersetzung beginnt im 18. Jahrhundert, hat aber ihre Wurzeln, wie Esther Fischer-Hornberger (1979, S. 85 f.) zeigt, bereits im Mittelalter. Doch bei dieser Auseinandersetzung handelte es sich weniger um das Geschäft der Geburtshilfe selbst, sondern vielmehr um die privilegierte Rechtsstellung, die den Hebammen zukam, weil sie allein Zugang zum weiblichen Körper hatten. Diese Privilegien hatten besondere Auswirkungen im gerichtsmedizinischen Bereich. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß die Hebammentätigkeit auch Zeugenshaft für die Echtheit des Kindes und, soweit möglich, für die Identifizierung des Vaters war. Ebenso erhielten die Hebammen in Fragen der Virginität und Schwangerschaft gutachterliche Kompetenzen. Esther Fischer-Hornberger vermutet, daß unter anderem auch ihre Parteilichkeit oder zumindest von den Männern unterstellte Parteilichkeit ein Interesse der Männer hervorgerufen hat, hier selbst zuständig zu werden. Jedenfalls wurde seit der frühen Neuzeit die Position der Hebamme vor Gericht von Ärzten angegriffen, wobei diese für sich in Anspruch nahmen, die bessere, nämlich anatomische Kenntnis des weiblichen Körpers zu haben 14 . Diese Auseinandersetzung mit den Männern, insofern sie Ärzte waren, führte zunächst aber noch nicht zu einer Konkurrenz auf dem Gebiet der Geburtshilfe, wenngleich doch bereits zu einer gewissen Abhängigkeit: Es setzte sich nämlich mehr und mehr die Auffassung durch, daß die Hebammen über ein gewisses anatomisches Wissen verfügen mußten. Dieses Wissen mußten sie aber "von außen" beziehen, es entstammte nicht ihrer eigenen Wissenstradition. Auf der anderen Seite konnten sie ihre eigene Tradition nicht in dieser Richtung erweitern, weil sie als Frauen von dem Bereich, in dem dieses Wissen erzeugt wurde, nämlich der Universität, ausgeschlossen waren. Die eigentliche Auseinandersetzung, die mit dem 18. Jahrhundert einsetzte, und zwar auf dem Gebiet der praktischen Geburtshilfe selbst, fand aber zwischen den Hebammen und den Chirurgen, Barbieren und sonstigen frei tätigen männlichen Geburtshelfern statt. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß die bloße Tatsache des Auftretens solcher "freier" Geburtshelfer die Hebammen ins Hintertreffen brachte, weil sie durch die Definition ihrer Tätigkeit als Amt gebunden waren 15 . Chirurgen
selbst nicht zustandekommen wollte. Ihre Tätigkeit war deshalb der Kaiserschni oder die gewaltsame Extraktion des - in der Regel toten - Kindes. Diese Arbeits teilung war auch indirekt durch die Hebammenordnungen abgesichert, insofern ihne nämlich in ihrer Tätigkeit der Gebrauch von Instrumenten, wie übrigens auch Med kamenten, untersagt war 16 • Die männliche Geburtshilfe existierte insofern seit lan gem, sie war im Typ charakteristisch von der weiblichen Geburtshilfe unterschiede - nämlich handwerklich instrumentelle Arbeit am Objekt - ihre Zuständigkeit wa der Bereich der abnormen Fälle. Entscheidend dafür, daß diese über lange Zeit rela tiv ausgewogene Arbeitsteilung zur Konkurrenz wurde, sind zwei Tatsachen. Wie fast jeder Bereich menschlichen Daseins, wird auch der Bereich der Geburtshilf in der Neuzeit dynamisiert, d. h. immer mehr durch Innovationen bestimmt. De Hebammenberuf war nun durch die Form der Wissensvermittlung (mündliche Trad tion, Vormachen und Absehen), durch ihre eidliche Bindung an Hebammenordnunge und durch ihre ausdrückliche Aufgabe, über die Einhaltung von Geburtsbräuchen z wachen, zu einer Dynamisierung nicht fähig. Die Innovationen setzten deshalb auc auf der anderen Seite, der "freien", der männlichen Geburtshilfe ein; es handelt sic um Innovationen auf dem Bereich der Instrumente, dann der operativen Geburt hilfe, schließlich der Antisepsis und Anästhesie. Eine entscheidende Rolle spie bereits im 18. Jahrhundert die Erfindung der Geburtszange: Gerade durch sie konn te die Zuständigkeit der männlichen G~burtshilfe auf den normalen Fall erweite werden, da hier erstmalig ein Instrument vorlag, das bei Risiko-Geburten das Kin lebend zur Welt zu bringen erlaubte und bei schweren Geburten eine Erleichterung de Vorganges brachte. Der zweite Gesichtspunkt, der der männlichen Geburtshilfe gegenüber der weibliche zum Vorteil gereichte, war die Tatsache, daß es den Chirurgen relativ bald gelan als akademischer Beruf anerkannt zu werden und allmählich Arztstatus zu erhalte Das hatte die Folge, daß die medizinische Wissenschaft von der Frau, die Gynäkolo gie, sich im Einzugsbereich der chirurgischen Lehrstühle entwickelte (Eu/ner 197 S. 283 ff.). Daß die männliche, die wissenschaftliche Geburtshilfe gegenüber der Geburtshil der Hebammen die herrschende wurde, hat schließlich mit der Entstehung der geburt hilflichen Klinik zu tun. Geburtshilfliche Kliniken entstanden zunächst als Ausbi dungsstätten für Hebammen in Form von Appendices zu gynäkologischen Lehrstü len. Denn das, was die Hebammen schulmäßig zu lernen hatten, waren ja gerade Wi sensinhalte, die in den ihnen verschlossenen Bereichen von Anatomie und Chirurg erzeugt worden waren. In der geburtshilflichen Klinik nun war die soziale Relatio zwischen männlicher Geburtshilfe und weiblicher Geburtshilfe von vornherein ein andere als in der Praxis draußen in der Gemeinde. Wurde dort der Arzt bzw. Chiru nur gelegentlich von der Hebamme hinzugezogen, so hatte der Arzt einfach aufgrun seiner institutionellen Stellung innerhalb der Klinik die Verantwortung für die G
sie zur geburtshilflichen Assistentin gemacht hat bzw. ganz, wie in den meisten Staaten Nordamerikas, zum Verschwinden gebracht hat (Ehrenreich und English 1979).
IV. Schluß
Der Unterschied der Formen des Wissens von der Geburt Wir wollen nun auf der Basis der Sozialgeschichte der Hebammen den Unterschied ihrer Wissensform von der ärztlichen Geburtshilfe zu unterscheiden versuchen. Dabei soll uns die Hebamme, wie in Abschnitt 11 erläutert, als Expertin lebensweltlichen Wissens gelten. Für das ärztliche Wissen von der Geburt wollen wir vorausschicken, ohne das im einzelnen nachzuweisen, daß es sich dabei um medizinisches Wissen handelt, das sich am Typ neuzeitlicher Naturwissenschaft orientiert. Die Verwissenschaftlichung im Sinne der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist nicht die einzig mögliche, die Führungsrolle dieses Wissenschaftstyps innerhalb der Medizin ist auch nicht unumstritten. Im Bereich der Geburtshilfe resultiert sie aus der Herkunft der Geburtshilfe von der Anatomie und Chirurgie, erst in allerletzter Zeit entwickeln sich zögernd psychosomatisch und anthropologisch orientierte Ansätze.
Wissen und Person Das Hebammenwissen gehört zum alteuropäischen Typ des Weisheitswissens (Znaniecki 1975). Dieser Typ ist charakteristisch etwa bei Platon zu finden in der Figur des Philosophen. Die Ausbildung zum Philosophen ist nicht durch bloße Wissensvermittlung möglich, sie setzt vielmehr die Bildung der Person, die Entwicklung moralischer Qualitäten voraus. Ähnlich bei den Hebammen: Schon ihre Benennung als sage-femme oder im Deutschen als Alte zeigen, daß die Hebamme die weise, die erfahrene, die gereifte Frau sein sollte. Persönliche Reife qualifizierte sie dafür, in einem Bereich tätig zu werden, der nicht jedermann (zumal nicht dem Mann) offenstand und der als Ort besonderer Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, zwischen Heil und Unheil galt. Die moralische Qualität der Hebamme war nicht nur Voraussetzung für ihr Amt, sondern auch Teil ihrer Kompetenz. Sie war Akteurin in einem sozialen Drama und konnte ihren Part nur kompetent übernehmen, wenn ihr von ihrer Klientin und den anderen Frauen das nötige Zutrauen entgegengebracht wurde. Das wissenschaftliche Wissen der Neuzeit dagegen ist durch eine entschiedene Trennung von Wissen und Person gekennzeichnet. Seit Galilei ist moralische Qualität nicht mehr Voraussetzung und Teil der wissenschaftlichen Qualität, und umgekehrt wird Irrtum nicht mehr moralisch zugerechnet (Luhmann 1972). Wahrheit und Gutsein sind voneinander unabhängige Qualitäten von Wissensinhalten. Das Wissen selbst
formalen Schwellen, durch die "jedermann" faktisch von diesem Wissen abgehalte wird.
Erfahrungstypen
Hebammenwissen ist im alteuropäischen Sinne Empirie: Der Erfahrene war der we Gefahrene, der, der herumgekommen ist. Erfahrungswissen in diesem Sinne ist an di Person gebunden, man muß die Erfahrung selbst gemacht haben, sie ist nicht vol ständig mitteilbar. Hierbei spielt eine besondere Rolle, daß die Hebammen Fraue waren und daß allgemein die Voraussetzung galt, daß sie selbst geboren haben sol ten. Ein solches Erfahrungswissen spielte natürlich eine besondere Rolle in eine Zeit, in der die Anatomie noch nicht weit entwickelt war bzw. anatomisches Wis sen noch wenig verbreitet. Hier war die Erfahrung am und mit dem eigenen Lei immer noch die sicherste Orientierung. Andererseits ist aber die Erfahrung, die di Hebammen als Frauen und solche, die geboren hatten, einbringen konnten, prinz piell von einer anderen Art als die, die die Anatomie bzw. Chirurgie gewinnen kann Die Erfahrung der Hebammen war Selbsterfahrung, die Erfahrung der Ärzte ist prin zipiell Erfahrung des Anderen, des anderen Körpers. Dieser Unterschied ist fundamen tal und muß sich für die Praxis zumindest in den psychischen Komponenten der Ge burtshilfe auswirken. Ob die Hilfe hier auf Einfühlung beruht oder auf objektivem Wissen des fremden Körpers, bleibt ein nicht zu überbrückender Unterschied. Ist die Erfahrung der traditionalen Hebamme Selbsterfahrung gewesen, so ist die de geburtshilflichen Arztes objektive Erfahrung. Es ist die Erfahrung von einem Gegen stand, der nicht empfunden wird, sondern der sich dem "ärztlichen Blick" (Foucau 1973) zeigt. Die wissenschaftliche Erfahrung ist mitteilbar, denn sie wird unter stan dardisierten Bedingungen gewonnen. Aufgrund dieser Tatsache ist es auch nich nötig, daß jedermann diese Erfahrungen wieder erneut macht, ihre prinzipielle Wi derholbarkeit erübrigt ihre faktische Wiederholung. Die ärztliche Erfahrung entfern sich wie die naturwissenschaftliche überhaupt tendenziell immer mehr von der sinn lichen Erfahrung und wird zur apparativen Erfahrung. War das Stethoskop des 19. Jah hunderts noch eine Verbesserung und eine Verlängerung des menschlichen Ohres, s sind Geräte wie die Kardiotokographie ein vollständiger Ersatz.
Erzeugungs-, Vermittlungs-, Verwendungszusammenhang
Das Hebammenwissen wurde im lebensweltlichen Zusammenhang gewonnen, un es bleibt auch in diesem Zusammenhang eingebunden. Die Wissensvermittlung fan in der Lebenspraxis selbst statt, eine Trennung von Theorie und Praxis gab es nich
Dagegen ist das wissenschaftliche Wissen von der Geburt klinisches Wissen. Es wird in einem besonderen abgegrenzten und von der Lebenswelt unterschiedenen Raum erzeugt, der Klinik. Es findet zumindest partiell eine Trennung von Theorie und Praxis statt, wenngleich, wie auch sonst in der Medizin, diese Trennung nie vollständig ist. Und doch hat sich institutionell der Unterschied von Schule und B~ch auf der einen Seite und Praxis auf der anderen Seite herausgebildet. Das ärztliche Wissen von der Geburtshilfe ist innovativ wie neuzeitliches Wissen überhaupt. Führend sein in diesem Wissensbereich, heißt fortschrittlich sein, wobei aber durchaus nicht ausgemacht ist, ob die ständige Umwälzung wissenschaftlicher Geburtshilfe, besonders in der letzten Zeit, eine ständige Kumulation von Verbesserungen war. Das medizinische Wissen hat inzwischen seine eigenen Fragestellungen erzeugt, die keineswegs noch durch den Praxiszusammenhang der Geburt begrenzt sind. Medizinisches Wissen von der Geburtshilfe hat gegenüber der Lebenspraxis der Gebärenden seine eigene abgetrennte Sinnprovinz (Schütz/ Luckmann 1975).
Beziehung zur Natur Die Beziehung zur Natur ist im traditionalen Hebammenwissen eine durchaus andere als in der medizinischen Geburtshilfe. Geburt war für die Hebamme Natur im Sinne der griechischen Physis-Vorstellung: Natur ist das, was von selbst geschieht, das Aufgehende, das sich Zeigende. Entsprechend war Geburtshilfe im Sinne der Hebammen nur Hilfe im eigentlichen Sinne, d.h. Unterstützung, Zusehen, Zuwarten, Hilfe beim Aushalten der Natur. Den Hebammen war durch die Hebammenordnungen explizit die aktive Beschleunigung oder Herbeiführung der Geburt, etwa durch wehentreibende Mittel, verboten, ebenso wie der Gebrauch von Instrumenten 17 . Demgegenüber bezieht sich die wissenschaftliche Geburtshilfe auf die Geburt als einen Prozeß, den man hervorbringen und dessen Bedingungen und dessen Ablauf man kontrollieren kann und muß. Für die Theoretiker der programmierten Geburt gibt es Natur im Sinne von das "Gegebene" überhaupt nicht mehr. Vielmehr gibt es nur unterstellte Optimalitäten, die natürlich in der konkret vorliegenden Natur niemals erfüllt sind 18 . Die wissenschaftliche Geburtshilfe hat, wie die Naturwissenschaft überhaupt, die Natur von den Auffälligkeiten her thematisiert, von den Effekten, von den "Phänomenen", die eine Erklärung verlangten. Wie Newton die Farbenlehre von Farben als Störungen bei optischen Abbildungen her entwickelte, so die medizinische Geburtshilfe in der Chirurgie von den anomalen, von den Risikofällen her. So entwickelte sich die medizinische Geburtshilfe als "Störungsvermeidungswissen" (Janich 1973). Auch die normale Geburt steht im Zusammenhang der medizinischen Geburtshilfe heute unter den Bedingungen des Risikos, der Pathologie.
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Wir erinnern daran, daß geburtshilfliches Wissen von seinem Ursprung her kollektive Wissen war: Es war nicht das individuelle Wissen, über das eine Frau verfügte, um sich selbst zu helfen. Es war vielmehr das Wissen des Kollektivs der Frauen, die sic gegenseitig helfen konnten. Als Hebammenwissen war dieses Wissen bereits partiell bei einzelnen akkumulier ihnen wurde von den anderen Frauen wie auch der Obrigkeit ein gewisses Privile zugeschrieben. Gleichwohl blieb das Geburtswissen bei den Hebammen kollektive Wissen der Frauen, das war durch die Form der Rekrutierung der Hebammen un durch die Form der Wissensvermittlung in den "Frauenversamblungen" gesichert. Die Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe hat demgegenüber tiefgreifende Verän derungen mit sich gebracht. Dadurch, daß die Hebammen seit etwa dem 18. Jahr hundert einen Teil ihres Wissens schulisch erwerben mußten, gerieten sie in partiell Abhängigkeit von einer anderen sozialen Gruppe. Das Wissen, das sie erwerben muß ten, war ein Wissen, das sie nicht selbst erzeugen konnten, nämlich insbesondere da anatomische Wissen. Diese wissensmäßig bedingte soziale Abhängigkeit führte dazu daß Hebammen nie in dem Sinne eine "Profession" werden konnten, daß sie eine eigenen Kanon akademischen Wissens verwalteten 19 • Die soziale Abhängigkeit der Hebammen von den Ärzten lieg auch ihr Wissen meh und mehr zu einem Handlangerwissen degradieren. Es wurde ein Wissen von Regeln deren Begründung nicht auf ihrem Gebiet lag, es wurden Kompetenzen, über dere Einsatz sie nicht mehr selbst verfügten. Die Entstehung der Klinik führte dazu, daß mit der Herausverlagerung der Geburt au der Lebenswelt das Wissen von der Geburt in der Lebenswelt verkümmerte. Die Fraue verfügten weder individuell noch kollektiv über die Kompetenzen, die Geburt z "leben". Das brachte sie in eine Situation der Unmündigkeit, der Abhängigkeit vo Experten, das führte auch dazu, daß sie wissenschaftlichen Moden ausgeliefert wa ren. Ihr Nichtwissen von den Zusammenhängen der Geburt und ihre Unfähigkei sich selbst oder sich gegenseitig kollektiv zu helfen, besetzte den Vorgang der Ge burt immer mehr mit Angst, was die Abhängigkeit von Klinik und ärztlichen Ge burtshelfern verstärkte. Die Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe hat eine fantastische Spezialisierung Steigerung und Präzision der technischen Kompetenzen der Geburtshilfe gebrach Faktisch verloren gegangen ist dabei das Wissen von der Geburt als einem biograph schen Ereignis und einem sozialen Handlungszusammenhang. Wie mit der Exterr torisierung der Geburt aus dem Lebenszusammenhang das Wissen im Lebenszusam menhang geschwunden ist, so ist auch umgekehrt mit dem Wissen von der Gebu als einem sozialen Geschehen dieses soziale Geschehen selbst verschwunden: Ge burt wurde zu einer störenden Unterbrechung in einem durch Arbeit und Urlau verplanten Leben.
Differenzierung von Wissen A) nach dem Gegenstand (Wissen von der äußeren Welt, vom anderen, politisches, technisches Wissen etc.) und B) nach dem Wissensstil (mystisches vs. rationales Wissen, symbolisches vs. konkretes Wissen etc.). Diese Unterscheidungen betreffen kognitive Differenzen der Wissensinhalte, während ich meine, daß ein wissenssoziologischer Begriff von Wissen die sozialen Differenzen der Beziehung von Wissensträgern zu Wissensinhalten betreffen sollte. 2 VergL dazu die Einleitung von Böhme und v. Engelhardt, Entfremdete Wissenschaft 1979. 3 Böhme, v. Engelhardt 1979, Einleitung. 4 European Public Health Committee, S. 6. 5 Hier eine Liste von Bezeichnungen, die ich während meiner Lektüre zusammengestellt habe: Hebamme, Hebmutter, Bademutter, Wehemutter, Kindbettbeseherin, Besechamme, Bademoene, Alte, sage-femme, ventriere, midwife. 6 "They had also to bring to the hearing six "honest matrons" whom they had delivered du ring their period of instruction and who were willing to testify to their skill." 7 Donnison 1974, S. 17. "Since this system of licensing was mainly concerned with the midwife's social and religious functions, it was not accompanied by any public provision for her instructions. " 8 "Nemlich, dass sy alle zeyt, tag und nacht, willig unnd gehorsam seyen, dienen dem armen als dem reichen, von welchen sy ye zu zeytten am ersten berufft unnd begert werden, auch keine arme frauwe in nötten zu verlossen unnd an ander ordt zu gon umb merer gewins unnd Ions willen... Item es sollen auch dieselben hebammen vy iren eyden kein schwangere frauwen bitten durch sich oder yemandt in iretwegen, sy zu kindts arbeit zu bruchen" (aus Freiburger Hebammenordnung von 1510, Baas 1913). 9 Zur Unterscheidung von traditionalem und modernem Beruf s. Parsons 1968. 10 Auf die Ausbildungsfunktion dieser Frauenversammlungen weist auch Donnison 1977, S. 3, hin. 11 In einer Vorrede des Doktor Gohl zum Buch der Justine Siegemundin wird auch das Lernen von der Mutter ausdrücklich erwähnt. Er zählt als Hauptvoraussetzungen für die Ausübung des Hebammenberufes auf: L Gottesfurcht, 2. Lesenkönnen, 3. Lernen bei der eigenen Mutter oder bei einer anderen erfahrenen Wehemutter. 12 Wir sprechen hier von den allgemeinen, normalen Bedingungen der Rekrutierung. Das schließt nicht aus, daß es auch erhebliche Mißstände gegeben hat, daß versoffene Hebammen nicht selten waren, daß sie als "Engelmacherinnen" tätig wurden usw. 13 S. etwa Vollmar 1977, S.4, für die Ulmer Hebammenordnung, die bei Donnison 1977, S. 229, abgedruckte Hebammenlizenz; ferner Philipp und Koch, S.216, oder noch einmal die Vorrede von Dr. Gohl zum Buch der Siegemundin. 14 Man mag es als einen Treppenwitz der Weltgeschichte bezeichnen, daß die Arzte gerade in dem anatomischen "Befund", auf den sie sich stützten, irrten: Die Hebammen hatten in der Regel die Existenz bzw. Nichtexistenz des Hymens zum Kriterium gemacht. Die Anatomen nun bestritten das Hymen als regelmäßige anatomische Erscheinung und damit die Basis, auf die sich das Hebammenurteil stütze (Fischer-Homberger 1979, S.89). Aber es liegt doch ein tieferer Sinn in diesem Irrtum, insofern nämlich die Anatomie eine Wissenschaft vom toten menschlichen Körper, d.h. also ein Wissen außerhalb des biographischen Zusammenhanges ist. 15 Die Marktchance der Männer lag hier übrigens, wie Donnison 1977, S. 22, mit Recht bemerkt, nicht darin, daß sie billiger waren als die Hebammen, sondern darin, daß sie teurer waren: "In this, as in many other occupations, men generally received higher remuneration than women; it was therefore important to the aspiring tradesman to show his neighbours that he could afford the higherpriced article." Dadurch wurde die Hebamme die Geburtshelferin für die Armen (s. Donnison 1977, chapter V), und mit wachsender Prosperität setzte sich die männliche Geburtshilfe durch. 16 Es wäre der Untersuchung wert, ob diese Formulierungen in den Hebammenordnungen bereits auf Initiativen der schon früh in Gilden organisierten Chirurgen zurückgeht, die nämlich damit den Zuständigkeitsbereich ihres Handwerks abgesichert haben könnten.
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ammenordnungvon 1510, Bass 1913. Vgl. allgemeiner Donnison 1977, 22). 18 Definition der programmierten Geburt: "Programmierte Geburt beinhaltet begrifflich die vol ständige Durchplanung des für Mutter und Kind optimalen Zeitpunktes in Vorbedingungen Vorbereitungen und Ablauf für alle beteiligten Personen und die notwendige Organisatio - mit dem Ziel der zeitgünstigsten Geburtseinleitung", HiliemannslSteiner 1978, S. 1. Späte (S.9) heißt es dann: "Die programmierte Beendigung der Schwangerschaft bzw. die ,getimet Geburt' ist eben gerade das Einleiten müssen, auch vor dem 282. Tag, gegebenenfalls im In teresse des Kindes. Auch erhebliche Zeit davor, selbstverständlich auch gerade dann, wenn di Mutter noch kaum Zeichen spontaner Geburtsbereitschaft zeigt, also auch dann, wenn z. B die Portio noch steht, rigide und geschlossen ist." 19 Zum Problem der Professionalisierung s. Hesse 1968. Anhand von Storers (1966) Definitio läßt sich besonders deutlich machen, was den Hebammen zur Professionalisierung fehlte Nach Storer gehört nämlich zu einer Profession ein Corpus spezialisierten Wissens, über de die Profession autonom verfügt, und ferner die Autonomie in der Rekrutierung. Donniso weist außerdem darauf hin, daß die Hebammen bis in unser Jahrhundert hinein keine Gild bzw. Standes- und Berufsorganisation zuwegegebracht haben und daß dann das Anfang de Jahrhunderts gegründete Central Midwives Board von Ärzten dominiert wurde (Donniso 1977, S.179).
Literaturverzeichnis
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Die in diesem Aufsatz vorgelegten Beobachtungen sind im Verlaufe einer ausgedehnten Fallstudie entstanden, die von der Frage ausging, ob und wie die moderne Logik zu einem Gegenstand der Wissenssoziologie gemacht werden könnte. Dieser Ausgangspunkt war anfangs in der zwar oberflächlich allgemein bekannten!, dennoch abe vernachlässigten Tatsache begründet, daß die klassische Wissenssoziologie von jehe einen ausgesprochen anti-logistischen Standpunkt vertreten hat. Es braucht hier nu daran erinnert zu werden, daß Max Weber (1903, S. 59), Max Scheler (1921, S.22) WilhelmJerusalem (1924, S.182), Ludwik Fleck (1935/1979, S.50, 144) und Kar Mannheim (1936, S. 71, 147, 274-5) gleichermaßen eine ablehnende Haltung gegen über den formal-logischen und mathematischen Ansätzen der modernen Wissenschaf ten einnahmen, und zwar in dem Maße, daß ihnen eine kritische Auseinandersetzung mit der derzeitigen Grundlagenforschung dieser Gebiete nicht nur abwegig, sondern auch ganz uninteressant erschien. Weber, zum Beispiel, begnügte sich damit, den Anspruch auf zeitlose Geltung der mathematischen Bestandteile der Naturwissenschaften schlechthin mit einem flüchtigen Hinweis auf die "mathematische Formel 2 x 2 = 4" zu parodieren. Offenbar gab es im Rahmen einer extrem historischen Einstellung zum "Irrationalitätsproblem" keinen Anlaß, den deduktiven Verfahren überhaup irgendeine Bedeutung für die Entwicklung der Wissenschaft beizulegen. Die tieferen Gründe für diese Haltung der Klassiker der Wissenssoziologie können hie nicht verfolgt werden. Daß es jedenfalls möglich war, die Frage nach der gesellschaft lichen Bedingtheit des logischen und mathematischen Wissens gar nicht erst zu stel len geschweige denn zu untersuchen, hatte zumindest erkenntnistheoretisch den Vor teil, der Gefahr eines relativistischen Regresses auszuweichen: man konnte stillschwei gend voraussetzen, daß die eigene "Logik" der Wissenssoziologie selbst nicht ,au etwaige "irrationale" Wissensbestandteile hinterfragt werden müßte. Wenn wir heute diese Autoren lesen, so ist es in erster Linie die erkenntnistheoretische Naivität de Begriffsbildung, die uns fremdartig berührt. Zentrale Innovationen, wie "Idealtypus" " Kollektivvorstellungen" , "gesellschaftliche Bedingtheit", " Denkstil ", "wissenschaft liche Gemeinschaft", "Denkkollektiv", "Denkzwang", "Ideologie", "Utopie" werden wenn überhaupt, lediglich deskriptiv, nicht aber analytisch definiert. Ein Begrif erlangt daher seine zentrale Stellung in einem bestimmten Kontext allein durch seine literarische Funktion; z. B. durch ständige Wiederholung, durch geistreiche Wort spielereien, durch ungewöhnliche oder paradoxe Wortverbindungen der Umgangs sprache ("Denkstil"!), durch rhetorische Fragen.
logischen "Denkens" als einen definierbaren Gegenstand erforschen. Ebenso unzulässig wäre es, bestimmte Schulen oder einzelne Sachbereiche der Logik als Manifestation von "wissenschaftlichen Gemeinschaften" zu behandeln. Das Begriffspaar "Ideologie/Utopie" ließe sich allenfalls auf gewisse Aspekte der mathematischen Philosophie, nicht jedoch auf verfahrenstechnische Entwicklungen anwenden. Allgemeiner ausgedrückt, um die Entstehung und Entwicklung der modernen formalen Logik überhaupt irgendwie erfassen zu können, werden wir neue wissenssoziologische Verfahren und Hypothesen benötigen, die zunächst nur pragmatisch durch trial and error zu entwickeln sein werden. Dieses Erfordernis ergibt sich schon dadurch, daß unser Beobachtungsmaterial - das Wachstum der Fachliteratur der (sogenannten) mathematischen Logik seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts - durch eine unaufhaltsame Zunahme des technisch-esoterischen Vokabulars ausgezeichnet ist. Das von äußeren Einflüssen ungestörte phänomenale Anwachsen insbesondere der Fachzeitschriftenliteratur vollzog sich gewissermaßen hinter dem Schutzwall einer unübersteigbaren esoterischen Schranke. In der Tat standen bereits die ersten Vorarbeiten zu unserem Projekt vor einem unlösbaren Dilemma. Wir hatten es offenbar mit einem Beobachtungsgegenstand zu tun, der sich nicht beobachten läßt, jedenfalls nicht mit den üblichen Methoden der Soziologie. Das heißt, das zu untersuchende Material ließ sich im ersten Zugriff nur negativ charakterisieren: man konnte lediglich feststellen, daß es qualitativ völlig "anders" erschien als alles, was vorher im Bereiche von traditioneller Logik und klassischer Mathematik betrieben worden war. Um einen vorläufigen Eindruck von der eigentümlichen Ausdifferenzierung der mathematischen Logik als einer "neuen" Spezialisierung zu gewinnen, empfiehlt es sich, einen Blick auf das hierarchische Klassifikationsschema von Peirce (1893) zu werfen. Dort zeigt sich, daß im Selbstverständnis von Peirce die "Mathematics of Logic" als ein Teilgebiet der mathematischen Wissenschaften aufgefaßt wurde, die ihrerseits zu den "Sciences of Discovery" und weiterhin zu der umfassenden Kategorie der" Theoretical Science" gehört. Dieses Schema ist natürlich zeitbedingt. Es reflektiert nur das erste Stadium der Entwicklung des neuen Faches, das im wesentlichen durch die Pionierarbeiten von Boole (1847), de Morgan (1847) und Peirce (1867) gekennzeichnet ist. Während dieser Phase war das maßgebliche Ziel eine Mathematisierung der philosophischen Logik: mit Hilfe exakter mathematischer (insbesondere algebraischer) Symbole und Verfahren wird die klassische (d. h. aristotelische) Logik präzisiert. Das nächste Stadium, das hauptsächlich mit den Arbeiten von Cantor (1847; 1884), Frege (1879), Weierstrass (1885), Peano (1889), Hilbert (1899), Russell (1903), Brouwer (1908) und Whitehead und Russel (1910-1913) verknüpft ist, brachte eine Schwerpunktverlagerung. Und zwar ist es nunmehr die Mathematik, nicht aber die Logik als solche, die im Vordergrund der Forschungsinteressen steht2 .
"Tbe Mathematical Analysis of Logic" (Boole 1847) "Matbematical Laws of Logic" (De Morgan 1847) "An Investigation of the Laws of Tbought" (Boole 1854) "On an Improvement of Boole's Calculus of Logic" (Peirce 1867) "Begriffsschrift, einer der aritbmetiscben nacbgebildete Formelsprache des reinen Denkens (Frege 1879) "Les paradoxes de la logique" (Russe1l1906) "Neuer Beweis für die Möglicbkeit einer Woblordnung" (Zermelo 1908) "Elementy logici matematycznej" (Lukasiewicz 1929) "Logische Syntax der Spracbe" (Carnap 1934) "Tbe Logical Paradoxes" (Grelling 1936) "Der Wahrbeitsbegriff in den formalisierten Spracben" (Tarski 1936) "On tbe Axiom of Reducibility" (Quine 1936) "Completeness in tbe Theory of Types" (Henkin 1950) "Algebraiscbe und logistiscbe Untersucbungen über freie Verbände" (Lorenzen 1951)
Zweite Phase: "Uber eine Eigenscbaft des Inbegriffes aller reellen algebraiscben Zahlen" (Cantor 1874) "Was sind und was sollen die Zablen?" (Dedekind 1888) " Una questione sui numeri transfiniti" (Burali-Forti (1897) "Bemerkungen zu den Paradoxien von Russell und Burali-Forti" (Grelling/Nelson 1907) "Principia Matbematica" (Whitehead/Russe1l1910-13) "Antynomje Logiki Formalnej" (Chwistek 1921) "Die logischen Grundlagen der Matbematik" (Hilbert 1923) "Zum Hilbertscben Aufbau der reellen Zahlen" (Ackermann 1928) " Uber formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme" (Göd 1931) "The Richard Paradox" (Church 1934) "Gödelian Sentences: A Non-Numerical Approacb" (Findley 1942) "Axiomatisierung des Fregescben Aussagenkalküls" (Schröter 1943) "Relatively Recursive Functions and the Extended Kleene Hierarcby" (Davis 1950) "A Symmetric Form ofGödel's Theorem" (Kleene 1950) " Tbree Uses of tbe Herbrand-Gentzen Tbeorem" (Craig 1957) "Tbe Bura/i-Forti Paradox" (Copi 1958) "Gödel'sProof' (Nagel/Newman 1959) "Turing-Maschinen und Markowsche Algoritbmen" (Asser 1959) "Boolean Algebras" (Sikorski 1960) "Platonism and the Skolem Paradox" (Thomas 1967-68)
Das Bemerkenswerte einer solchen Schwerpunktverlagerung liegt prinzipiell darin daß die ältere von der neueren Phase nicht etwa verdrängt wird, sondern parall weiter verläuft. Das bedeutet, es handelt sich um eine kumulative Ausdifferenzie rung 3 von neuen Spezialisierungen innerhalb des Gesamtbereiches der formalen Lo gik. Neu entstehende Problemansätze, Forschungsgegenstände, Theoreme, Kalküle Beweise, Verfahren und Symbole lassen sich deshalb nur auf der Basis eines fortlau fenden Vergleichs mit den jeweils vorangehenden Errungenschaften ausweisen. E ist daher kein Zufall, daß Einführungen in die moderne Logik ausnahmslos den Ch
te zu Schwierigkeiten. Die relevante Schwerpunktverlagerung schien sich in der Weise bemerkbar zu machen, daß bereits bestehende Theoreme, Beweisführungen und Axiomatisierungen stärker präzisiert und zunehmend verallgemeinert werden; gleichzeitig steigt die Komplexität sowohl der mathematischen Symbolik als auch der fachlichen Umgangssprache. Ferner entsteht in den sechziger Jahren eine neue Spezialität: die Philosophie der Logik (vgl. u.a. Quine 1960, Thompson 1960, Curry 1963, Benacerraf 1965, Mostowski 1966, Heyting 1966, Quine 1970, Putnam 1971, Pattee 1973, Stoll 1974, Lorenzen 1974, Weizenbaum 1976, Geach 1979). Wegen der ungewöhnlich hohen Abstraktheit und der unübersehbaren Mannigfaltigkeit dieser Entwicklungsphase ist es hier unangebracht, auf Einzelheiten einzugehen. Das ständige Bemühen der wachsenden Mannigfaltigkeit der kumulativen mathematischen, logischen und philosophischen Innovationen durch quantitative Beobachtungen Herr zu werden, führte dazu, aus den Sachverzeichnissen der einschlägigen Lehrbücher (Tarski et al. 1953, Church 1956, Ajdukiewicz 1958, Curry 1963, Goodstein 1971, Crossley 1972, Novikov 1973, Monk 1976) einen Katalog der am häufigsten behandelten Stichworte aufzustellen4 • Diese sollten dann so weit wie möglich nach esoterischen und exoterischen Bestandteilen des typischen Lehrbuchvokabulars aufgegliedert werden. Im Vordergrund stand die Frage, ob sich eventuell irgendwelche Regelmäßigkeiten in der Gesamtstruktur des überlieferten Lehrbuchwissens aufweisen ließen. Das war zugleich auch ein Versuch, den Esoterismus der mathematischen Symbolik einer wissenssoziologischen Behandlung zugänglich zu machen. Dieses Experiment führte schon im Anfang zu einem Zufallsergebnis: es zeigte sich, daß häufig esoterische Stichworte, die sich auf höchst komplexe mathematische Theoreme oder Beweise beziehen, schlechthin durch den Eigennamen der Erfinder vermerkt werden. Diese und ähnliche Beobachtungen verdichteten sich zu der Hypothese, daß sich im Prinzip alle mathematisch-logischen Eponyme auf Innovationen beziehen, denen nach der Ansicht der Lehrbuchautoren - ein hohes Maß an Langlebigkeit (longevity) zukommt. Dementsprechend vereinfachte sich das oben erwähnte Problem des "kumulativen" Wachstums. Wir konnten jetzt annehmen, daß ältere überlieferte Erfindungen zwar durch neue ergänzt oder verbessert, nicht jedoch ersetzt oder entwertet werden. Zumindest ließ sich erwarten, daß die wichtigsten eponymischen Innovationen im Durchschnitt eine Lebensdauer von mindestens drei Generationen haben. Beispielsweise werden viele der Erfindungen von Boole, de Morgan, Cayley und Cantor heute noch in ihrer ursprünglichen Form verwandt. Der nächste Schritt der Untersuchung lief darauf hinaus, die zeitliche Reihenfolge der mathematisch-logischen Eponyme zu ermitteln. Das benötigte, die Daten der erstmaligen Veröffentlichung von häufig zitierten Erfindungen in der Zeitschriftenliteratur festzustellen. In vielen Fällen erwies sich dies als umständlich und zeitraubend, zumal dabei oft subtile Veränderungen oder Unklarheiten sowohl in der technischen als auch der stilistischen Ausdrucksweise berücksichtigt werden mußten. Nichtsdesto-
relativen Hiiufigkeit der Zitierung von Eponymen gibt. In dieser Beobachtung drüc sich zweifellos eine unterschiedliche kognitive Bewertung der Wichtigkeit bestimm ter Innovationen innerhalb der Fachgemeinschaft aus. Verdeckte Wertungen kan man auch daran erkennen, daß (besonders in der älteren Fachliteratur) die erfolg reichsten Innovationen in der fachlichen Umgangssprache als "Entdeckungen" od "Durchbrüche" bezeichnet werden, weniger wichtige dagegen nur als "Erfindungen" Von wissenssoziologischem Interesse ist ferner die merkwürdige Erscheinung, daß d weit verbreitete und offenbar unentbehrliche Verwendung von Eponymen als ein völlig unproblematische Institution hingenommen wird. Auch in den neueren philo sophischen Beiträgen zur sogenannten "Grundlagenforschung" der Mathematik fin den sich keine Erörterungen darüber 6 . Die Ausarbeitung einer Tabelle der zeitlichen Reihenfolge der häufigst zitierten (d.h "wichtigsten") Eponyme wurde dadurch erleichtert, daß in den neueren Textbücher Innovationen gewöhnlich mit dem Datum der ersten Veröffentlichung versehen we den. Das ist eine relativ neue Institution, die darauf beruht, daß es vielen Logiker mehrfach gelang, einen eponymen Beitrag zur Entwicklung bestimmter Theorem zu machen. Betrachtet man die Tabellen in dem Lehrbuch von Monk (1976), so find man in der ersten Tabelle "Some decidable Theories" (S. 234) 19 und in der zweite Tabelle "Some undecidable Theories" (S.280) 15 datierte Eponyme, allein im Gebi der entscheidbaren und unentscheidbaren Theoreme, für die Zeit von 1915 bis 196 Wir können daher das bereits erwähnte Merkmal der Langlebigkeit mathematisch logischer Innovationen durch ein zweites Merkmal, die Datierbarkeit, ergänzen. Wi derum ist es auffallend, daß auch diese Institution als selbstverständlich in der Fac gemeinschaft betrachtet wird. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß in wissen soziologischer Hinsicht die Datierbarkeit wesentlich problematischer ist als die Lan lebigkeit. Es müßte u. a. untersucht werden, warum in vielen Fällen gewisse Innov tionen bereits innerhalb von ein bis zwei Jahren als datierte Eponyme zitiert werde in anderen Fällen erst im Verlaufe von ein oder zwei Generationen. Das 1931 verö fentlichte Unvollständigkeitstheorem von Giidel wurde erst Ende der fünfziger Jah in seiner umwälzenden Bedeutung allgemein anerkannr1. Russels Paradox der Me gentheorie von 1902 blieb jahrzehntelang umstritten 8 . Die nachhaltigen Errungen schaften von Cantor und Frege wurden erst nach dem zweiten Weltkrieg richtig ei geschätzt 9 . Für zukünftige wissenssoziologische Untersuchungen wird der Hauptvorteil von lan fristigen Zeitreihen datierter Eponyme in der Überwindung der Schwierigkeiten d esoterischen Vokabulars der mathematischen Logik liegen. Angesichts des enorme Wachstums und der unaufhörlich zunehmenden Komplexität der heutigen Fachlit ratur wird es anders kaum möglich sein, strukturelle Wandlungen in der kumula ven Entwicklung "neuer" Gegenstände, Aufgaben oder Verfahren der logisch Forschung aufzudecken. Allein die Tatsache, daß die jährliche Zuwachsrate der datie
was sind eigentlich die gesellschaftlichen Bestimmungsgründe der Entstehung und des Wachstums dieser merkwürdigen Institution? Zur Veranschaulichung des soziologisch relevanten Phänomens verdeckter kognitiver Wertungen von mathematisch-logischen "Entdeckungen" und "Erfindungen" seien hier einige einflußreiche Stellen aus der älteren Literatur zitiert. Sie deuten unverkennbar auf das seit Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschende Dogma eines erkenntnistheoretischen Realismus hin, demzufolge abstrakte Gedankengänge sich letzten Endes auf objektiv existierende Dinge der äußeren Welt beziehen. Entsprechend wurden alle bahnbrechenden Fortschritte in der Grundlagenforschung der Arithmetik, wie etwa die "Wiederentdeckung" der Paradoxien der klassischen Antike, mit großer Begeisterung als objektive Errungenschaften von umwälzender Bedeutung gewertet. So äußert sich Russell in seinen The Principles o[ Mathematics (1903, S. 347) wie folgt: "In this capricious world, nothing is more capricious than posthumous farne. One of the most notable victims of posterity's lack of judgement is the Eleatic Zeno. Having invented four arguments, a11 immeasurably subtle and profound, the grossness of subsequent philosophers pronounced hirn to be a mere ingenious juggler, and his arguments to be one and all sophisms. After two thousand years of continual refutation, these sophisms were reinstated, and made the foundation of a mathematical renaissance, by a German professor, who probably never drearned of any connection between hirnself and Zeno. Weierstrass, by strictly banishing a11 infinitesimals, has at last shown that we live in an unchanging world, and that the arrow, at every moment of its f1ight, is truly at rest. The only point were Zeno probably erred was in inferring (if he did infer) that, because there is no change, therefore the world must be in the sarne state at one time as at another."
Zwei Generationen später, in I. M. Copis The Theory of Logical Types (1971, S. 18 f.), manifestiert sich diese Entwicklung in einer Reihe berühmter Eponyme: "It is easy and tempting to deprecate the importance of the paradoxes: to regard them as riddles or jokes that are puzzling and entertaining but without serious implications for logic or mathematics. But they do have the most serious implications. The emergence of a contradiction shows that amistake has been made. Now what kind of mistake - or kinds of mistakes - do the paradoxes reveal? At first Russen thought there was an obvious and easily rectified error in the Burali-Forti paradox, writing that the " ... premiss ... that the series of a11 ordinal numbers is well-ordered ... must ... be rejected ... In this way ... the contradiction in question can be avoided" (Russell, 1903, p. 323). And he thought the Cantor paradox showed simply that in Cantor's proof " ... that there is no greatest number ... the master has been guilty of a very subtle fallacy" (Russen, 1901, p. 95; reprinted 1918, p.89). Indeed the first paradoxes published arose so dose to the fron tier of transfinite arithmetic that they occasioned little general distress. But RusseIl's own paradoxes revealed contradictions in that part of set theory which underlies an other branches of mathematics, and in the notion of "predication" that is central to logic itself. Frege acknowledged that RusseIl's paradox "shook the foundations" of his carefully worked out logico-mathematical system (Frege, 1903, p. 253; translated in Frege 1952, p. 234; and in Frege 1964, p. 127). The shock of its publication was described vividly by Hilbert, who wrote: " ... when it appeared in the mathematical world, it produced Iiterally the effect of a catastrophe" (Hilbert, 1926, p.169). Gödel characterized Russell's work on the paradoxes as "the most important of
Zum besseren Verständnis der Rolle von Eponymen in der Bewertung von kumul tiven Fortschritten seitens der mathematisch-logischen Empfangsgemeinschaft emp fiehlt sich ein Blick auf elementare Einführungen. In dem weitverbreiteten Lehrbuc von Nidditch (1962), The Development of Mathematical Logic, wird die gesam Entwicklung von Peacocks Algebra (1830) bis zu den Gödeltheoremen (1930; 1931 als eine ununterbrochene Serie von bedeutenden Entdeckungen und Erfindunge dargestellt, und zwar mit einem Mindestmaß an technischen Einzelheiten. So hei es beispielsweise:
" ... the four operations of addition and division and their opposites ... used to be done, as they a still done by schoolboys, more or less unconsciously by making whatever moves seemed rig and natural, the mies supporting these moves resting in the dark ... The need of forming a tab of and of being consciously guided by the laws of algebra was seen only by Peacock (in his boo A Treatise on Algebra, 1830) ... Another event causing the movement in the direction of Abstra Algebra was the surprising discovery by Abel and others that number values for equations of d gree 5 ... are generally unable to be got by arithmetic-like processes '" (S. 25). To those who we pained by the discoveries of Abel and Galois, worse was to come. They were given more, viole shocks by the discovery of Matrix Algebra ... in 1832" (S. 26).
Der Abriß der geschichtlichen Entwicklung von Nidditch endet mit dem Unentschei barkeitstheorem von Gödel, ohne jedoch den Leser darüber aufzuklären, warum die "Entdeckung" für die mathematische Empfangsgemeinschaft so "überraschend un schockierend" war. Auch die 1959 veröffentlichte Einzelstudie von Nagel und New man, "Gödel's Proof", betont im Vorwort, daß es didaktisch unmöglich sei, ohn Rückgriff auf höhere Mathematik die Gründe für Gödeis Berühmtheit aufzudecke Nichtsdestoweniger gelingt es den Autoren, die "revolutionäre Bedeutung" des Göde schen Beweisverfahrens zumindest für die philosophische Empfangsgemeinscha überzeugend herauszustellen:
"In 1931 there appeared in a German scientific periodical a relatively short paper with the fo bidding tide "über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandt Systeme" ... The paper is a milestone in the history of logic and mathematics ... When Harva Universiry awarded Gödel an honorary degree in 1952, the citation described the work as one the most important advances in logic in modern times (p. 3) '" Gödel's paper deals with a s of questions that has never attracted more than a comparatively small group of students. Th reasoning of the proof was so novel at the time of its publication that only those intimately co versant with the technical literature of a highly specialized field could follow the argument wi ready comprehension. Nevertheless, the conclusions Gödel established are now widely recogniz as being revolutionary in their broad philosophical import (p.4) ... "
Für die oben angeschnittene Frage des Wesens kumulativer logisch-mathematisch "Entdeckungen" sind die Schlußbemerkungen von Nagel und Newman besonde aufschlußreich (5.89 ff):
"The import of Gödel's conclusions is far-reaching, though it has not yet been fully fashione These condusions show that the prospect of finding for every deductive system ... an absolu
rules of proof. .. In the light of these circumstances, whether an all-inclusive definition of mathematical or logical truth can be devised, and whether, as Gödel hirnself appears to believe, only a thoroughgoing phiIosophical "realism" of the ancient Platonic type can supply an adequate definition, are problems still under debate and too difficult for further consideration here. (32) [footnote 32:] Platonic realism takes the view that mathematics does not create or invent its "objects", but discovers them as Columbus discovered America. Now, if this is true, the objects must in some sense "exist" prior to their discovery ... "
Der Hinweis auf einen philosophischen "Realismus" als Erklärungsgrundlage für kumulative "Entdeckungen" im Bereich deduktiver Systeme scheint zunächst durchaus plausibel, besonders, wenn man die allgemeinverständliche Einstellung dieser Studie berücksichtigt. Die eigentümliche Ausdrucksweise der bei den letzten Paragraphen (S.101 f.) läßt jedoch erkennen, daß damit das Wesen nachhaltiger "Erfindungen" um so problematischer wird: "Gödel's proof should not, be construed as an invitation to despair or mystery-mongering. The discovery that there are arithmetical truths which cannot be demonstrated formally does not mean that there are truths which are forever incapable of becoming known ... It does mean that the resources of the human intellect have not been, and cannot be, fully formalized, and that new principles of demonstration forever await invention and discovery ... The [incompleteness] theorem does indicate that the structure and power of the human mind are far more complex and subtle than any non-living machine yet envisaged. Gödel's own work is a remarkable example of such complexity and subtlety. It is an occasion, not for dejection, but for a renewed appreciation of the powers of creative reason."
Dies wurde vor zwanzig Jahren geschrieben. Seitdem hat sich immer stärker die erkenntnistheoretische Unzulänglichkeit der der Umgangssprache entlehnten Begriffe "Entdeckung" und "Erfindung" bemerkbar gemacht. Die früher herrschende Vorstellung von großen substantiellen "Entdeckungen" ist zunehmend durch den Gesichtspunkt von lediglich interessanten oder fruchtbaren "Erfindungen" im Sinne subtiler verfahrenstechnischer Innovationen verdrängt worden. Da gleichzeitig auch der Esoterismus und die Spezialisierung solcher Innovationen unaufhaltsam gestiegen sind, wird eine philosophische Lösung der Frage nach dem Ursprung und dem kumulativen Wachstum der modernen Logik kaum zu erwarten sein. Damit ist aber nicht gesagt, daß ein wissenssoziologischer Ansatz bessere Erfolgschancen hätte. In der Tat mag es zunächst scheinen, daß die vorstehend skizzierten Beobachtungen weder einer epistemologischen noch einer soziologischen Erklärung zugänglich sind. Denn obwohl die (bisher vernachlässigte) Erforschung von Empfangsgemeinschaften offensichtliche Vorteile für die soziologische Erschließung esoterischen Wissens bietet, darf nicht übersehen werden, daß dieser Gesichtspunkt einstweilen nur oberflächlich mit der wissenssoziologischen Tradition in Einklang zu bringen ist. Allein schon aus diesem Grunde wird es notwendig sein, den historischen Wandel von Empfangsprozessen nicht zu isolieren, sondern im engsten Zusammenhang mit der korrespondierenden Entwicklung von Erzeugungsprozessen zu konkretisieren. Wäh-
stigen Entwicklungen (wie etwa die von Euklid zu Lobachevsky und Hilbert) wi sich zweifellos die Datierbarkeit stärker einer soziologischen Erklärung widersetz als die Langlebigkeit. Für die weitere Frage, ob das unerwartete Zusammentreff der beiden Kriterien nur zufallsbedingt ist oder tiefere Gründe vermuten läßt, das bisherige Material unzureichend. Es muß durch intensive Fallstudien ergän werden, die sich mit der Ausdifferenzierung spezifischer Gegenstandskomplexe b fassen, welche über die formale Logik hinaus auch für bestimmte empirische Dis plinen relevant erscheinen 10.
Anhang Datierbare Eponyme der mathematischen Logik (1826-1963) 11
1826 (1829) 1830 1831 1847; 1854
Lobachevsky's geometry
Peacock's algebra Galois' groups Boolean algebra Boolean sum Boolean product Boolean ring Boolean functions 1847 de Morgan 's laws 1850 Cayley's matrix algebra 1851 Bolzano's paradoxes 1864 J evons-type functions 1867; Peirce's function 1880 Peirce's disjunction Peirce's arrow: ~ Peirce's sign: c 1874; Cantor's (two) diagonal methods 1884 Cantor's cardinals Cantor's ordinals Cantor's theorem 1878 McColl 's logic 1879; Frege's Begriffsschrift 1884 Frege's cardinals Frege's chains 1882 Pash's axioms 1884 Poretsky's identities 1885 Weierstrass' infinite sets 1888 Dedekind's paradoxes 1889 Peano's axiomatization (of arithmetic) 1890 Schröder's duality theorem 1894 Peano's notations (of mathematicallogic) 1897 Burali-Forti paradox 1899 Hilbert's axiomatization (of Euclidean geometry)
1899 1900 1902 1904 1905 1905 1906 1907 1908 1908
Cantor paradox Hilbert's tenth problem Russell paradox Zermelo's axiom of choice Richard paradox König's proof Peano paradox Grelling paradox Brouwer's programme Zermelo's axiomatization (of set theory) 1908; Whitehead-Russell (ramified) 1910 theory of types 1909 S chröder's logic 1911 Padoa's theorem 1912 Wiener's type theory 1913 Sheffer stroke 1914 Hausdorff's proof" 1915 Cantor's general theorem 1915 Löwenheim's theorem 1916 Lesniewski's quantifiers 1917 S uslin trees 1917 Povarnin's logic (of relations) 1917 (Löwenheim-)Skolem theorem 1917 Mirimanoff paradox 1918 Weyl's continuum thesis 1920 Löwenheim-Skolem (extended) theorem 1920 Lukasiewicz logics 1920 Post's theorem 1920 Hilbert's €-theorem 1922 Fraenkel's theory of types 1923 Skolem paradox 1923 von Neumann's (transfinite) numbers 1924 Schönfinkel's theorem 1924 Ackermann's proof
1927 1927 1927 1927 1928 1929 1930 1930 1930 1931 1931 1933 1933 1933 1934 1936 1936 1936 1936 1936 1936 1936 1936 1936 1936 1936 1936 1739 1937
Bernay's theorem Weyl's continuum thesis Brouwer lattice Skolem normal form Ackermann's iteration function Lesniewski's quantors Herbrand's disjuncture Gödel's completeness theorem Heyting la ttice Gödel's incompleteness theorem Gödel numbering Skolem's axiom system Church's X-conversion Jaskowski's theorem Gentzen calculus Church 's thesis Tarski's truth tables Tentzen's theorem Kleene (number-theretic) hierarchy Skolem lattices Rosser's theorem S tone' s lattices Malcew's rings Turing's thesis Turing machine Post's algorithm Quine's axiom (of reducibility) Stone's theorem Bemays' axiom system
1940 1940 1943 1943 1946 1946 1949 1949 1950 1950 1950 1951 1941 1952 1952 1954 1955 1955 1955 1956 1957 1958 1958 1959 1961 1962 1962 1963
Birkhoff's theorem Quine's e-cycles Kleene computability Gentzen's theorem Markow chain Post's theorem Tarski's axioms of geometry Robinson's consistency theorem Davis hierarchy Trachtenbrot's theorem Henkin's completeness theorem Beth 's completeness theorem. Horn's theorem Kleene hierarchy Schütte's theorem Pap hierarchy Ehrenfeucht-FraiSse's theorem Beth's (extended) completeness theorem IL.os's theorem Tarski hierarchy Craigh's lemma Chang-Morel's theorem Sirsov's subrings Addison's theorem Taitslin lattices Hanfnumber Spector's functionals Cohen hierarchy
Anmerkungen 1 Vgl. insb. D. L. Phil/ips (1975), N. Luhmann (1975, S.91), N. A. Wilterdink (1977, S.117-120). 2 Zur Veranschaulichung der gemeinsamen Verfahrensweise der beiden Phasen genügt hier ein empirisch beobachtbarer Aspekt, nämlich die a~sgedehnte Verwendung von mathematikähnlichen Symbolen, durch welche die überlieferten Erkenntnisse der antiken und scholastischen Logik präzisiert werden. Zum Beispiel: 1\ bedeutet "und"; V bedeutet "oder"; r "nicht"; = "ist gleich"; e "ist Element von"; - "äquivalent"; 3 "es gibt mindestens ein"; t-"aus ... ist ableitbar"; '0' "für alle ... gilt"; D "es ist notwendig, daß"; C "ist Teilmenge von". Das im folgenden entwickelte Verfahren verdankt wesentliche Anregungen dem von G. Böhme (1975) ausgearbeiteten Begriff der "Ausdifferenzierung" wissenschaftlicher Gemeinschaften. Gleichwohl ist unsere Fragestellung diametral entgegengesetzt. Denn wir haben es ja nicht, wie Böhme, mit der Differenzierung naturwissenschaftlicher "Gegenstandsbereiche" zu tun, sondern mit der - augenscheinlich - gegenstandslosen Akkumulation von abstrakten Innovationen. In diesem Bereich wäre es epistemologisch unzulässig, von der Voraussetzung auszugehen, daß "die Spezifität wissenschaftlicher Gegenstände durch die Spezifität wissenschaftlichen Umgangs mit den Gegenständen (Experiment und Datenerhebung) und wissenschaftlichen Redens bestimmt ist" (a. a. 0., S. 244). 4 über Einzelheiten dieser Methode wie vor allem die Herstellung künstlicher Stichwortver. zeichnisse siehe W. Baldamus (1979).
6 Das gilt im allgemeinen auch von der Einstellung zu Eponymen in medizinischen Textbüchern Eine Ausnahme ist M. Barr (1977), der immerhin eine konventionalistische Erklärung fü
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die Häufigkeit (neurologischer) Eponyme äußert: "Eponyms are used freely in neurology in spite of attempts to eleminate them; they frequently offer welcome alternatives to th more formal, and sometimes formidable, anatomic terms. Some facts concerning individua1 whose names are attached to structures are provided at the end of the book for students wh are curious about the source of eponyms" (Preface, S. IX). Siehe vor allem S. C. Kleene (1955), E. Nagel und j. R. Newman (1959), j. j. Smart (1961) G. j. Kneebone (1963), P. H. Fitzpatrick (1966), R. jeffrey (1967), P. Benacerraf (1967) j. Webb (1968), H. De Long (1970), B. Schinzel (1977), N.1. Kondakov et al. (1978), D. R Hofstadter (1979). Vgl. insb. W. V. O. Quine (1963),1. M. Copi (1971). Siehe E. Zermelo und A. Fraenkel (1962), j. van Heijenoort (1976). Eine derartige Fallstudie deutet sich beispielsweise in der auffallenden Kontinuität von hier archietheoretischen Konstruktionen an, zumal dieser Problemkreis auch für die langfristig Entwicklung biologischer und soziologischer Klassifikationsschemata relevant ist. Für eine ersten überblick sei hier auf die folgende Zeitreihe von typischen Beiträgen hingewiesen G. Cantor (1874), B. Russell (1908), K. Kuratowski (1920), K. Gödel (1931), A. Churc (1950), M. Davis (1950), L. Henkin (1950), T. Parsons (1951), E. W. Beth (1953), S. C Kleene (1955), A. Mostowski (1966), M. Rabin (1969), I. M. Copi (1971), H. H. Patte (1973), S. S. Muchnick (1976), T. C. Mclaughlin (1976), W. Baldamus (1976), D. Gills u. a 1977, M. Gardner 1978), R. Schock (1979), G. N. Georgacarakos und R. Smitb (1979) D. R. Hofstadter (1979), E. Rothstein (1980). Wie erwähnt, sind die Eponyme den Sachregistern führender Lehrbücher der mathematische Logik entnommen, Es handelt sich daher um institutionalisierte Fachausdrücke, die vom Standpunkt der Lehrbuchautoren ein unproblematisch akzeptiertes Inventar darstellen. Da schließt nicht aus, daß gelegentlich idiosynkratische Abweichungen in der Ausdrucksweis einzelner Autoren vorkommen. Die Frage, in welchem Grade die kumulative Entwicklun dieser Eponyme normativ bestimmt ist, muß offen bleiben, da sie systematische Vergleich mit dem entsprechenden Vokabular anderer Disziplinen erfordern würde. Es ist zu vermuten daß in den Naturwissenschaften, durch die Auswirkung induktiver Verfahren, die Verwen dung eponymischer Terminologien weniger standardisiert ist. Vgl. hierzu vor allem R. K. Mer ton (1965), (1973); N. Stehr (1978); S. M. Stigler (1980).
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