Reiner Keller Wissenssoziologische Diskursanalyse
Interdisziplinäre Diskursforschung Herausgegeben von Reiner Keller,...
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Reiner Keller Wissenssoziologische Diskursanalyse
Interdisziplinäre Diskursforschung Herausgegeben von Reiner Keller, Achim Landwehr, Wolf-Andreas Liebert, Martin Nonhoff
Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich im deutschsprachigen Raum in den Geschichts-, Sprach- und Politikwissenschaften, in der Soziologie und in angrenzenden Disziplinen eine lebendige und vielfach vernetzte Szene der diskurstheoretisch begründeten empirischen Diskurs- und Dispositivforschung entwickelt. Die interdisziplinäre Reihe trägt dieser neuen interdisziplinären Aufmerksamkeit Rechnung. Sie bietet ein disziplinenübergreifendes Forum für die Entwicklung der Diskurstheorien sowie der empirischen Diskurs- und Dispositivforschung und stärkt dadurch deren Institutionalisierung. Veröffentlicht werden • thematisch zusammenhängende inter- und transdisziplinäre Bände, die sich mit ausgewählten Theorien, Methodologien und Themen der Diskurstheorie sowie der empirischen Diskurs- und Dispositivforschung beschäftigen; • disziplinspezifische Monographien und Diskussionsbeiträge, die theoretische, methodologische und methodische Reflexionen sowie Forschungsergebnisse aus einzelnen Disziplinen bündeln; und • herausragende Theorie- und Forschungsmonographien.
Reiner Keller
Wissenssoziologische Diskursanalyse Grundlegung eines Forschungsprogramms 3. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
3. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17837-0
Inhalt
2
Einführung
11
1.1 Möglichkeiten und Ziele einer soziologischen Diskursanalyse
11
1.2 Die Gliederung der Arbeit
18
Etappen der Wissenssoziologie
21
2.1 Die soziale Bedingtheit des Wissens
24
2.1.1 Von der Ideenlehre zur Ideologiekritik: Karl Marx und Friedrich Engels
27 29
Durkheim
33
2.1.2 Die Seinsverbundenheit des Wissens: Karl Mannheim 2.1.3 Die soziale Herkunft und Funktion der Klassifikationen: Emile
2.2 Die soziale Konstruktion des Wissens
37
2.2.1 Wissen als soziale Konstruktion: Peter L. Berger/Thomas Luckmann 2.2.2 Eine strukturalistisch-konstruktivistische Wissensanalyse: Pierre
40
Bourdieu
49
Ludwig Fleck zu den Social Studies of Science
54
2.2.3 Der empirische Konstruktivismus der Wissenschaftsforschung: Von
2.3 Die kommunikative Konstruktion des Wissens 2.3.1 Cultural und practice turn: Die neue Konjunktur der
60
2.3.2 Der systemtheoretische Konstruktivismus von Niklas Luhmann 2.3.3 Das interpretative Paradigma
60 64 66
2.4 Wissensgesellschaft
88
2.5 Perspektiven der Wissenssoziologie
93
Wissenssoziologie
6 3
4
Inhalt
Diskurs: Wissen und Sprachgebrauch
97
3. I Die Geschichte des Diskursbegriffs
99
3.1.1 Die frühe Begriffsentwicklung 3.1.2 Die Karriere des Diskursbegriffs seit den 1950er Jahren 3.1.3 Zwischen Discourse Analysis und Diskurstheorie: Diskursforschung heute
109
3.2 Der "Planet Foucault"
122
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6
124 126 131 136 142
Verschwunden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand? Das Programm einer Kritischen Ontologie Diskursanalyse als Archäologie des Wissens Diskursanalyse als Genealogie von Macht/Wissen-Regimen Foucault vergessen? Zwischenbilanz: Bausteine der Diskurstheorie für eine Wissenssoziologische Diskursanalyse
99 102
149
3.3 Diskurstheorien nach Foucault
151
3.3.1 Perspektiven der kritischen Diskursforschung 3.3.2 Die postmarxistische Diskurstheorie von Emesto LaclauiChantal Mouffe 3.3.3 Der Kreislauf der Kultur: Das Diskurskonzept der Cultural Studies 3.3.4 Eine Bilanz der Nachfolge
151 160 166 173
3.4 Perspektiven der Diskursforschung
174
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
179
4. I Die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit
180
4.1.1 Desiderate der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie 4.1.2 Der Einbau der Diskursperspektive 4.1.3 Das Theorie- und Forschungsprogramm
180 185 187
4.2 Die wissenssoziologische Grundlegung der Diskursperspektive
193
4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5
195 205 209 223 228
Zeichen, Typisierungen, Diskursuniversum Diskursive Ereignisse Soziale Akteure und Diskurse Diskurse und Praktiken Diskursive Formationen: Spezialdiskurse und öffentliche Diskurse
Inhalt
5
7
4.3 Grundbegriffe
233
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
233 235 240 252
Überblick Diskurs Inhaltliche Strukturierung Die Materialität der Diskurse
4.4 Fragestellungen
262
4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5
263 265 266 266 267
Wie werden Diskurse erzeugt? Wie werden Phänomene konstituiert? Was sind die Machtwirkungen der Diskurse? Diskurse und Alltagswissen Typen diskursiver Formationen
4.5 Methodologie
268
4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.5.5
269 272 273 274 276
Ein Diskurs über Diskurse: Selbstreflexivität und Konstruktivismus Verstehen und Erklären Diskursforschung ist Interpretationsarbeit Die Adaption qualitativer Methoden Mehr als Textanalyse
4.6 Bilanz
276
Diskurse und Sozialer Wandel
279
5.1 Eine neue Grammatik der Verantwortlichkeit
280
5.2 Risikoereignisse, Risikodiskurse und symbolische Ordnung
289
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
293 297 300 306
Ein fliegender See Risikoereignisse Distanziertes Mitleiden und kollektives Drama Die Konkurrenz der Interpretationen
5.3 Bilanz und Ausblick: Die Politik der Diskurse
314
6
Ein Resümee
317
7
Literaturverzeichnis
327
"Heutige Kommentare betonen nicht nur die Brüche und Paradigmenwechsel, sondern auch die Ähnlichkeiten und Kontinuitäten zwischen älteren und neueren Traditionen: beispielsweise zwischen Webers klassischer interpretativer ,Soziologie der Bedeutung' und Foucaults Betonung des ,Diskursiven'." (Stuart Hall 2002: 111 [1997]) "Ich wünschte mir, dass meine Bücher eine Art tool-box wären, in der die anderen nach einem Werkzeug kramen können, mit dem sie auf ihrem eigenen Gebiet etwas anfangen können." (Michel Foucault 2002a: 651 [1973]) "Wie ist es möglich, daß subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird? Oder, in der Terminologie Webers und Durkheims: Wie ist es möglich, daß menschliches Handeln (Weber) eine Welt von Sachen hervorbringt? So meinen wir denn, daß erst die Erforschung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit - der ,Realität sui generis' - zu ihrem Verständnis fuhrt. Das, glauben wir, ist die Aufgabe der Wissenssoziologie." (Peter L. Berger/Thomas Luckmann 1980: 20 [1966]) "Eine Aufgabe, die darin besteht, (...) die Diskurse (...) als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen." (Michel Foucault 1988a: 74 [1969])
Vorwort zur zweiten Auflage Gewiss freut es jede Autorin, jeden Autor, wenn ein Buch schon nach kurzer Zeit eine Neuauflage erfahrt. Im Falle der "Wissenssoziologischen Diskursanalyse" ist das vielleicht auch ein Indiz dafür, dass die sozialwissenschaftliche Untersuchung gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken in den letzten Jahren in Gestalt vielfaltiger Suchbewegungen stark an Bedeutung gewonnen hat. In diesem Zusammenhang formuliert die vorgeschlagene Diskursperspektive einen Beitrag zur Erneuerung wissenssoziologischer Programmatiken für die Gegenwartsanalyse. In mancher Rezension der ersten Auflage wurde davon gesprochen, das Buch wolle zugleich ein Forschungsprogramm und dessen empirische Einlösung vorstellen. Allerdings habe ich in der ersten Auflage explizit darauf hingewiesen, dass es mir in dieser Arbeit nicht um die empirische Umsetzung geht. Entsprechende Erwartungen kann ich deswegen nur auf die von mir genannten oder durchgeführten Studien verweisen. Vorschläge zum konkreten Vorgehen sind in meiner "Einführung in die Diskursforschung" enthalten, auch in einigen zwischenzeitlich erschienenen Artikeln. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die Herausarbeitung der theoretischen Grundlagen, Konzepte und Ziele der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Das vorletzte Kapitel diskutiert mögliche gegenwartsdiagnostische Einsätze und Erträge der Diskursperspektive fur die Soziologie. Für die zweite Auflage habe ich formale Korrekturen vorgenommen und die Literatur aktualisiert. An wenigen Stellen wurden (kleinere) Ergänzungen der Argumentation eingefügt. Aufgrund des großen Interesses und vieler entsprechender Nachfragen habe ich mich entschlossen, ein Diskussionsforum zu Fragen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse einzurichten. Die genaue Organisationsform stand zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Auflage noch nicht fest. Informationen dazu sind über meine Webseite verfügbar. R.K.
1 Einführung
1.1 Möglichkeiten und Ziele einer soziologischen Diskursanalyse Die vorliegende Arbeit entwickelt in Auseinandersetzung mit der Wissenssoziologie sowie mit verschiedenen diskurstheoretischen Perspektiven - insbesondere mit der Foucaultschen Diskurstheorie - die theoretische Grundlegung und das Konzept einer eigenständigen wissenssoziologischen Diskursanalyse. Sie verknüpft mit Hermeneutischer Wissenssoziologie und Diskursforschung zwei Traditionen der sozialwissenschaftlichen Analyse von Wissen, die bislang nur sporadisch miteinander in Kontakt getreten sind und entwickelt daraus einen systematischen Vorschlag zur Analyse der diskursiven Konstruktion symbolischer Ordnungen. Eine in der Hermeneutischen Wissenssoziologie eingebettete und auf die Untersuchung ,institutioneller Diskurse' bezogene Diskursanalyse kann verschiedene Defizite und Probleme der vorliegenden diskursorientierten Programmatiken beheben: •
•
• • • •
•
Sie verfugt, bezogen auf die existierenden Ansätze der Diskurstheorie, über ein theoretisches Gerüst, das Prozesse der gesellschaftlichen Objektivierung von symbolischen Ordnungen ebenso erfasst wie die Rückwirkung dieser Ordnung auf soziale Akteure und deren subjektive Sinnkonstitution. Sie vermeidet die in Diskurstheorien implizierte Ontologisierung bzw. Verdinglichung der Diskurse durch die Einfuhrung eines Akteurskonzepts, mit dem soziale Akteure sowohl als diskursiv konstituierte wie als regelinterpretierend Handelnde, als aktive Produzenten und Rezipienten von Diskursen verstanden werden. Sie begreift Institutionen im Sinne des interpretativen Paradigmas der Soziologie als umstrittene, vorübergehend kristallisierte symbolische Strukturen der Ordnung von Welt, die das individuelle Handeln zugleich ermöglichen und beschränken. Sie historisiert die soziologische Analyse von Wissen und Praktiken und vermittelt zwischen handlungs- und struktur- bzw. institutionentheoretischen Ansätzen der Sozialwissenschaften. Sie bezieht die wissenssoziologische Perspektive auf das von ihr bisher vernachlässigte Feld historisch orientierter Gesellschaftsanalysen und erweitert dadurch den Gegenstandsbereich der Hermeneutischen Wissenssoziologie selbst. Sie begreift Diskursanalyse als unumgängliche Interpretationsarbeit. Deren methodische Kontrolle kann und muss über hermeneutisch reflektierte Vorgehensweisen erfolgen, sofern Diskursforschung als ein empirisches Unternehmen der Sozialwissenschaften konzipiert wird. Im Unterschied zu den weitgehend intransparenten Analyseschritten vorhandener Diskurstheorien schließt sie dazu an die Methodologie und das Methodenspektrum der qualitativ-interpretativen Sozialforschung an. Sie versteht sich als Form der grounded theory, d.h. als ein zur Selbstkorrektur fähiger Prozess der Theoriebildung auf empirischer Grundlage, und nicht, wie verschiedene
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
12
•
Einfuhrung diskurstheoretische Programme, als deduktive Anwendung oder Nachweis des selbstbezüglichen Funktionierens einer abstrakten Diskursordnung. Erst dadurch erreicht die Analyse von Diskursen die Tiefenschärfe, die notwendig ist, um das komplexe Wechselspiel zwischen Wirklichkeitskonstruktion, Wirklichkeitsobjektivierung sowie den Interessen und Strategien sozialer Akteure als kontingenten sozialen Ordnungsprozess zu verstehen.
Wie lässt sich in einer ersten und vorläufigen Annäherung das Diskursverständnis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse konturieren? Mit Michel Foucault begreift sie Diskurse als Praktiken, "die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen" (Foucault 1988a: 74 [1969]). Damit wird zunächst deutlich, dass es um mehr als Text- oder Ideenanalyse geht. Die Diskursforschung interessiert sich nicht nur fur die im Zeichengebrauch konstruierten Gegenstände, sondern auch fur den Konstruktionsprozess selbst, also die Bedeutungsgenerierung als strukturierten Aussagezusammenhang und regulierte Handlung. Im Unterschied zu Foucault betont sie die Rolle der handelnden Akteure im Prozess der Diskursproduktion und Diskursrezeption. Im Anschluss an Foucault beschäftigt sie sich mit den gesellschaftlichen Effekten von Diskursen. Als Diskurse bezeichne ich institutionell-organisatorisch regulierte Praktiken des Zeichengebrauchs. In und vermittels von Diskursen wird von gesellschaftlichen Akteuren im Sprach- bzw. Symbolgebrauch die soziokulturelle Bedeutung und Faktizität physikalischer und sozialer Realitäten konstituiert. Der Wissenssoziologischen Diskursanalyse geht es um die Erforschung der Prozesse der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. kollektiven Akteuren und um die Untersuchung der gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse. Die Bedeutung von Zeichen, Symbolen, Bildern, Gesten, Handlungen oder Dingen ist in sozial, räumlich und historisch situierten - deswegen wandelbaren - Zeichenordnungen mehr oder weniger stark festgelegt. Sie wird im konkreten Zeichengebrauch bestätigt, konserviert oder auch verändert. Insoweit ist jede fixierte Bedeutung eine Momentaufnahme in einem sozialen Prozess, der eine unendliche Vielfalt von möglichen Lese- und Interpretationsweisen zu generieren vermag. Diskurse lassen sich als Anstrengungen verstehen, Bedeutungen bzw. allgemeiner: mehr oder weniger weit ausgreifende symbolische Ordnungen auf Zeit zu stabilisieren und dadurch einen verbindlichen Sinnzusammenhang, eine Wissensordnung in sozialen Kollektiven zu institutionalisieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse beschäftigt sich mit diesem Zusammenhang zwischen dem Zeichengebrauch als sozialer Praxis und der (Re-)Produktion/Transformation von gesellschaftlichen Wissensordnungen. Wissenssoziologische Diskursanalyse ist keine spezifische Methode, sondern eine innerhalb der Soziologie theoretisch fundierte Forschungsperspektive auf besondere, eben als Diskurse begriffene Forschungsgegenstände. Von Wissenssoziologischer Diskursanalyse wird gesprochen, weil diskursorientierte Perspektiven aufgrund ihrer Forschungsinteressen in der Tradition soziologischer Wissensanalyse verortet werden können und von einer Anbindung an diese Tradition profitieren. Spezifischer wird damit ein Konzept der Diskursanalyse vorgestellt, das einen Brückenschlag zwischen handlungsund strukturtheoretischen Traditionen der Wissenssoziologie anvisiert. Dieser Ansatz trägt dazu bei, den Gegensatz zwischen Wissensanalysen, die auf die Emergenz kollektiver
Einführung
13
Wissensordnungen fokussieren, und solchen, in denen die Definitionskämpfe gesellschaftlicher Akteure betont werden, zu überwinden. Die vor allem durch Auseinandersetzungen mit dem Werk des französischen Philosophen Michel Foucault ausgelöste gegenwärtige Konjunktur diskursorientierter Theoriebildungen und Forschungen zeigt sich in verschiedenen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, bspw. in Geschichts-, Sprach-, Literatur- und Politikwissenschaften oder der Soziologie. 1 Der Bezug auf den Begriff Diskurs erfolgt meist dann, wenn sich die theoretischen Perspektiven und Forschungsfragen nicht nur auf die sprachpraktische Konstitution und Konstruktion von, Welt' im konkret-alltäglichen Zeichengebrauch beziehen, sondern dabei auch zugrunde liegende Struktunnuster bzw. den Zusammenhang von institutionellen Settings sowie konventionalisierten Regeln, Fonnen und Inhalten der Bedeutungs(re-) produktion in den Blick nehmen. Soziologische Studien, die in jüngerer Zeit im deutschsprachigen Raum an Foucault anknüpfen, erschließen im Dickicht zwischen diskurstheoretischer Fundierung und empirisch-methodischer Umsetzung neue Gegenstandsbereiche und Fragestellungen für die Soziologie. Die vorliegende Arbeit versteht sich als systematisierender Beitrag in und zu dieser Entwicklung. Sie geht davon aus, dass eine Einbettung des Diskurskonzepts in die (Henneneutische) Wissenssoziologie möglich ist und der Soziologie wichtige Impulse zu geben vennag. 2 Das entfaltete Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse visiert eine Vermittlung Foucaultscher Konzepte mit der durch Peter L. Berger und Thomas Luckmann begründeten wissenssoziologischen Tradition an. Schon eine solche Ankündigung unterläuft die gängigen Kanonisierungen oder ,Stammesbildungen ' dieser unterschiedlichen Theoriepositionen und kann entsprechende Irritationen auslösen. Zu betonen ist deshalb, dass mit dem auszuführenden Vorhaben die bestehende erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretische, wissenschaftsprogrammatische und methodologische Unvereinbarkeit der Theorieprogramme von Berger/Luckmann einerseits, von Foucault andererseits nicht bestritten wird. Auch geht es mir weder um den Nachweis von Konvergenzen beider Theorieentwicklungen noch um überzogene oder gar ,imperiale' Anstrengungen der Vereinnahmung. Das Vorhaben lässt sich angemessener mit der Kategorie der Übersetzung zwischen Theoriesprachen bzw. Sprachspielen beschreiben. Das Übersetzen ist, wie Jacques Derrida (I 997) bemerkt, eine zugleich ,notwendige' und letztlich ,unmögliche' Aufgabe. Im Vokabular der Aktor-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour, Michel Callon u.a. bezeichnet "Übersetzung" zwischen zwei alternativen Deutungsangeboten: "Ein drittes Ziel, das keinem der beiden ursprünglichen Handlungsprogramme mehr entspricht. (...) Diese Ungewißheit der Ziele nenne ich eine Übersetzung. (...) Es geht bei Übersetzungen nicht um den Wechsel von einem Vokabular zu einem anderen, wie beispielsweise vom Französischen ins Englische, als ob die beiden Sprachen unabhängig voneinander bestünden. Wie Michel Serres verstehe ich unter Übersetzung eine Verschiebung oder Versetzung, eine AbweiVgl. Keller (1997b, 2004) und die Beiträge in KellerIHirseland/SchneiderNiehöver (2001,2003). Ich konzentriere mich auf den zunächst notwendigen Schritt einer wissens soziologischen Begründung der Diskursforschung. Im Anschluss daran wäre dann eine Auseinandersetzung mit den neueren Entwicklungen der Medien- und Kommunikationstheorien sowie mit den verschiedenen Öffentlichkeitstheorien zu führen. Bspw. schließt der Medientheoretiker Friedrich Kittler (1995) direkt an Foucault an. Vgl. zum Überblick über Medientheorien Kloock/Spahr (2000), Pias u.a. (1999), Leschke (2003); zu Theorien öffentlicher Kommunikation BentelelRühl (1993), BenteleIHaller (1997), Bentele (2003); zu Konzepten von Öffentlichkeit Imhof (2003), Habermas (1990), Neidhardt (1994), Dewey (1996), Pellizzoni (2003). I
2
14
Einführung chung, Erfindung und Vermittlung, die Schöpfung einer Verbindung, die in dieser Form vorher nicht da war und in einem bestimmten Maße zwei Elemente oder Agenten modifiziert." (Latour 1998: 34)3
Die zu diskutierenden Fragen lauten in diesem Zusammenhang: Wie lassen sich Konzepte, Ideen und Anregungen der Foucaultschen Diskurstheorie innerhalb der Wissenssoziologie gewinnbringend reformulieren? Welche Veränderungen bringt dies für die Wissenssoziologie? Und welche neuen Perspektivierungen von Gegenstandsbereichen werden dadurch ermöglicht? Angestrebt wird damit eine konstruktive Weiterführung wissenssoziologischer Theoriebildung. Dementsprechend steht nicht die umfassende, exegetisch-werktreue Rekonstruktion der genannten Klassiker im Vordergrund. Ziel ist das auf gegenwärtige soziologische Belange bezogene Erkunden von Ansatzpunkten einer solchen Übersetzung und die Erprobung ihrer Möglichkeit auch dann, wenn damit einzelne Positionen oder Absichten der herangezogenen Werke ignoriert oder modifiziert werden bzw. ihnen widersprochen wird. 4 Nancy Fraser hat in ihren Bemühungen um eine Vermittlung zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus eine solche Haltung folgendermaßen beschrieben: "Wir sollten die pragmatistische Haltung einnehmen, daß es eine Vielfalt verschiedener Blickwinkel gibt, von denen aus soziokulturelle Phänomene verstanden werden können. Welcher am besten ist, hängt von den Zwecksetzungen ab. (...) Da wir in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Aufgaben übernehmen, muß es uns möglich sein, verschiedene theoretische Werkzeuge aufzugreifen und beiseite zu legen. (... ) Konzeptionen des Diskurses sollten allgemein genauso wie Konzeptionen der Subjektivität als Werkzeuge behandelt werden, nicht als das Eigentum kriegftihrender metaphysischer Sekten. Ein solcher pragmatistischer Ansatz (... ) gründet (... ) in der Ansicht, daß soziale Phänomene eine irreduzibel signifikatorische Dimension enthalten und nicht objektivistisch verstanden werden können. (... ) Ein pragmatistischer Ansatz macht aber ausdrücklich, was wir bereits gesehen haben: diskursive Phänomene können ganz nach Situation und Zielsetzung aus mehreren verschiedenen Blickwinkel fruchtbar angegangen werden." (Fraser 1993b: 157f)
Die beabsichtigte Grundlegung einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse möchte ich in sechs Thesen formulieren: I.
2.
Die vorliegende Arbeit begreift die Hermeneutische Wissenssoziologie, die sich im Anschluss an die Theorie der Wissenssoziologie von BergerlLuckmann herausgebildet hat, als umfassendes wissenssoziologisches Paradigma. Dieses Paradigma entwickelt ein theoretisches Gerüst sowohl für Prozesse der gesellschaftlichen Objektivierung von Wissen als auch für diejenigen der sozialisatorischen Aneignung und kreativen Interpretation kollektiver Wissensbestände. Die bisherige Entfaltung dieses Ansatzes unterliegt spezifischen Engführungen auf die Untersuchung der Wissensbestände individueller Akteure in ihren alltagspraktischen, privaten oder professionellen Handlungskontexten hin. Diese Einseitigkeit hat ihre
Vgl. auch Latour (1995: 261ft) im Anschluss an Callon (1986), der den Begriff zur Bezeichnung der Strategien von Naturwissenschaftlern benutzt, die andere ,Aktanten' für ihre Zwecke mobilisieren, in dem sie die Passungsfahigkeit ihrer Vorhaben für deren eigene Anliegen betonen. 4 In Keller (2004) diskutiere ich Formen der empirisch-methodischen Umsetzung. J
Einfiihrung
3.
4.
5.
6.
15
Grundlage in kontingenten Entwicklungslinien und folgt keineswegs notwendig oder gar zwingend aus der theoretischen Grundposition. Zur Analyse der Prozesse institutioneller Wissensproduktion und öffentlicher Wissenszirkulation hat die Henneneutische Wissenssoziologie bislang jedoch kein angemessenes theoretisch-konzeptuelles Vokabular entwickelt. Zur Behebung dieses Defizits können Konzepte der Foucaultschen, auf Diskurse bezogenen Wissenssoziologie in die Henneneutische Wissenssoziologie übersetzt und eingebaut werden. Als Wissenssoziologische Diskursanalyse ist Diskursforschung dann ein Bestandteil- unter anderen - der Henneneutischen Wissenssoziologie. Die Auslotung der in diesem Sinne bestehenden Vennittlungspotenziale kann sich auf Weiterfiihrungen der phänomenologischen Tradition der Wissenssoziologie im Symbolischen Interaktionismus stützen. Der Symbolische Interaktionismus bietet mit seinen Karriere-Untersuchungen sozialer Probleme in öffentlichen Arenen Ansatzpunkte zum Einbau einer Diskursperspektive in die Wissenssoziologie, ohne diese systematisch zu entfalten. Umgekehrt kommen Adaptionen der Foucaultschen Diskurstheorie in verschiedenen gegenwärtigen Ansätzen der Diskursanalyse - etwa im Rahmen der Cultural Studiesdurch ihren verstärkten Rekurs auf soziale Akteure dem anvisierten Vorhaben entgegen. Die Verankerung des Diskurskonzepts in der Wissenssoziologie hat Vorzüge in zweierlei Hinsicht: Für die Henneneutische Wissenssoziologie selbst eröffnet sie neue Gegenstandsbereiche und Fragestellungen. Der bisherigen Diskursforschung bietet sie eine Anknüpfung an die im interpretativen Paradigma der Soziologie entwickelten Kompetenzen des qualitativen Methodenzugangs.
Mit dem Vorschlag der systematischen Einbindung des Diskurskonzepts in die (Wissens-) Soziologie ist nicht nur, bezogen auf die Henneneutische Wissenssoziologie, ein Binnenvorhaben der Theorieerweiterung verknüpft. Vielmehr verbinde ich damit auch ein Interesse an verschiedenen gegenwartsdiagnostischen Fragen, die in der vorgeschlagenen Perspektive empirisch untersucht werden können. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse eignet sich in besonderem Maße zur Analyse derjenigen Phänomene und Fragen des sozialen Wandels, die unter den Begriffen der WissensgesellschaJt, der !nformationsgesellschaJt, der KommunikationsgesellschaJt, der RisikogesellschaJt etc. diskutiert werden. Diese sozialwissenschaftlichen Gegenwartsbestimmungen und die anschließenden Forschungen nutzen bislang weder die Potenziale der wissenssoziologischen Tradition noch diejenigen der Diskursforschung, obwohl dies doch nahe liegt, da sie ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit durchgängig auf die Bedeutung gesellschaftlicher Wissensverhältnisse, der Infonnationsflüsse und Kommunikationsprozesse sowie deren Wandel verweisen. Wie wir heute unsere Wirklichkeit(en) wahrnehmen, ist nicht nur - und vielleicht nicht einmal mehr hauptsächlich - durch lebenspraktische Erfahrungen und Begegnungen mit signifikanten Anderen bestimmt. Auch die prägende Kraft tradierter Deutungs- und Handlungsmuster hat deutlich abgenommen. An die Stelle überlieferter symbolischer Ordnungen treten die massenmedial vermittelte, ausgedehnte und beschleunigte Welterfahrung einerseits, die wissenschaftliche und professionelle Wissensproduktion und deren Sedimentierung in die außerwissenschaftliche Deutungs- und Handlungspraxis andererseits. Diese permanente Erzeugung und Verstreuung von Wissen ist zur allgegenwärtigen Tradition der modemen Gesellschaften ge-
16
Einführung
worden. Das Konzept der Wissenssoziologischen Diskursanalyse formuliert hier ein Angebot, wie solche Prozesse aus wissenssoziologischer Perspektive untersucht werden können. So hat sich Michel Foucault als wichtigster Impulsgeber diskursorientierter Perspektiven in seinem Programm einer "Geschichte der Gegenwart" mit der Herausbildung neuer, wissenschaftlich-professioneller Wissensfelder und deren Umsetzung in machtvolle Institutionen und gesellschaftliche Praktiken beschäftigt. In den Sozialwissenschaften wies im letzten Jahrzehnt etwa Anthony Giddens darauf hin, dass sich modeme Gesellschaften als "posttraditionale" Gefüge von anderen historischen Gesellschaftsformationen dadurch unterscheiden, dass sie ein reflexives Verhältnis zu sich selbst auf Dauer gestellt haben, welches auf die in ihnen entstehenden Phänomene der Enttraditionalisierung reagiert und sie zugleich befördert. Soziale Praktiken und das diesbezügliche gesellschaftliche Wissen stehen unter wissenschaftlich-professioneller Dauerbeobachtung und sind in einen ständigen intervenierenden Feedback-Prozess eingebunden (Giddens 1996).5 Dieser institutionalisierte Reflexionsprozess ist das vielleicht bedeutsamste Merkmal gesellschaftlicher Modernität. Die These einer besonderen Eignung des Diskurskonzepts zur Untersuchung der damit angesprochenen Prozesse sozialen Wandels und gesellschaftlicher Modernisierung lässt sich im Rekurs auf das Konzept der "Defmitionsverhältnisse" entfalten, das Ulrich Beck (1988: 24 u. 211 ff; 1999: 328) im Kontext seiner Risikoanalyse eingeführt hat. Beck betont damit den Konstruktcharakter und die Wissensabhängigkeit der Risikowahrnehmung sowie die daraus sich entfaltenden Konflikt- und Wandlungspotenziale: "Dieser Begriff der ,Definitionsverhältnisse' ist als Parallelbegriff zu dem der Produktionsverhältnisse von Karl Marx und zwar in der Weltrisikogesellschaft konzipiert. Gemeint sind damit Regeln, Institutionen und Ressourcen, welche die Identifikation und Definition von Risiken bestimmen. Es handelt sich dabei um die rechtliche, epistemologische und kulturelle Matrix, in welcher Risikopolitik organisiert und praktiziert wird." (Beck 1999: 328)
Man muss die von Beck vorgenommene Zuordnung der Analyse solcher Definitionsverhältnisse auf Risikophänomene nicht übernehmen. Als Definitionsverhältnisse lassen sich ganz allgemein die gesellschaftlichen Wissensverhältnisse begreifen, also all die Institutionen, Organisationen, Mechanismen und Akteure der gesellschaftlichen Wissensproduktion und -zirkulation. Während damit eine bestehende Wissens-Ordnung bezeichnet ist, kann man von Wissenspolitiken sprechen, um die Rolle der Prozesse und Akteure mit ihren Interessen und Strategien zu erfassen, die dieses Gefuge durchlaufen, stabilisieren oder verändern. Es gilt jedoch auch diesen Begriff vor einschränkenden Festlegungen zu bewahren. So spricht Nico Stehr (2000, 2003) von Wissenspolitik, um ein neu entstehendes Politikfeld zu bezeichnen: die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Kontrolle der Wissenschafts- und Technikentwicklung. Doch Wissenspolitik findet nicht nur hier statt - letztlich verwechselt Stehr die Fokussierung öffentlicher Aufmerksamkeit mit der Sache selbst. Sehr deutlich hatte schon Clifford Geertz (1973) vor langer Zeit dar-
Giddens (1991) hat das am Beispiel der Ratgeberliteratur zu individuell-biographischen Entscheidungsproblemen verdeutlicht, aber die Diagnose lässt sich für alle gesellschaftlichen Praxisfelder verallgemeinern (Fairclough 2001). Ob bzw. welche Folgen dies hat und wie die konkreten Aneignungsformen aussehen, ist eine empirische Frage, die zur Grundlage neuerlicher Beobachtung und Wissensgenerierung führt oder führen kann. 5
Einfuhrung
17
auf hingewiesen, dass man Wissen als eine Form der Politik begreifen könne, und nicht von ungefähr hatte Michel Foucault den Konnex von Macht und Wissen hervorgehoben. Mit seiner "Wissenssoziologie der Armut" liefert bspw. Lutz Leisering (1993) einen Beitrag zur Untersuchung gesellschaftlicher Definitionsverhältnisse und Wissenspolitiken in einem ganz anderen Gegenstandsbereich. Eva Barlösius (200 I) oder Luc Boltanski und Eva Chiapello (Boltanski/Chiapello 1999) verweisen auf die Wissenspolitiken des Neoliberalismus. Die verschiedensten Autorinnen der Frauen- und Geschlechterforschung untersuchen seit langem die Definitionsverhältnisse der Modeme mit Bezug auf die Festschreibung von biologischem und sozialem Geschlecht (z.B. Honegger 1991). Umfassend hat Peter Wagner (1995) die Genese der modemen Staatenbildung im Medium des (sozialwis- . senschaftlichen) Wissens als diskursvermittelte Konturierung von Wissensverhältnissen rekonstruiert. Definitionsverhältnisse und Wissenspolitiken sind also allgemeine Konzepte zur Analyse gesellschaftlicher Wissenszirkulation, die nicht nur rur die Bestimmung von wissenschaftlich-technisch induzierten Risikolagen Anwendung finden können. Eine vergleichbare Offenheit gilt auch rur den Begriff des Diskurses. Als Prozessbegrifffür eine der sozialwissenschaftlichen Analyse zugängliche Gestalt der Wissenspolitiken verweist er auf die Ereignisse, Aussagen, Akteure und Praktiken, in denen Wissen aktualisiert, verbreitet, angegriffen, bestritten, verändert und verworfen wird. Dazu zählen öffentliche Problemdiskurse ebenso wie wissenschaftliche Spezialdiskurse in unterschiedlichsten Themenfeldern und Fachgebieten, wobei "Risikodiskursen" (Lau 1989) sicherlich in den vergangenen Jahrzehnten ein zentraler Stellenwert in der öffentlichen Aufmerksamkeit zukommt. Das Programm einer Untersuchung gesellschaftlicher Definitionsverhältnisse und Wissenspolitiken als Analyse von Diskursen stellt jedoch eine umfangreiche wissenssoziologische Agenda dar. Um die Wissens-Ordnung von Gesellschaft als permanenten Prozess zu verstehen, müssen, wie dies Law (1994), Link (1997), KendalVWickham (1999) oder Wagner (1990, 1995) je unterschiedlich fordern, die Praktiken, Akteure und institutionellen Felder untersucht werden, die solche Ordnungen erzeugen, stabilisieren oder transformieren. Darin genau liegt die Leistung des Diskurskonzeptes rur die Soziologie: • •
• • •
Wissenssoziologische Diskursanalyse zielt auf die soziohistorisch orientierte Rekonstruktion von Diskursen, um deren Verläufe zu verstehen und auf der Grundlage der gewonnen Erkenntnisse zu erklären. Ihr geht es damit um die Nachzeichnung der Schließung kontingenter Entwicklungen im Prozess institutioneller Wirklichkeitsbestimmung, um die Aufklärung über bestehende und verworfene Alternativen sowie über die Interessen, Strategien und Handlungsressourcen der in den erwähnten Prozessen agierenden Akteure. Sie entwickelt dabei allgemeine theoretische Kategorien und Hypothesen über typisierbare Formen und Mechanismen von Diskursen. Über einzelne Diskursverläufe hinaus untersucht sie die Herausbildung typisierbarer Diskursformationen und die Prozesse ihrer soziohistorischen Transformation. Als eine zwischen mikro- und makrotheoretischen Herangehensweisen der Soziologie vermittelnde Analyse gesellschaftlicher Wissensprozesse zielt sie auf die empirische Untersuchung von Formen, Ausmaß und Folgen gesellschaftlicher Definitionsverhältnisse und Wissenspolitiken.
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Einruhrung Damit versteht sie sich als klassisches wissenssoziologisches Programm gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung.
1.2 Die Gliederung der Arbeit Die vorliegende Untersuchung ist in sechs Kapitel gegliedert. Das nachfolgende Kapitel 2 rekonstruiert die unterschiedlichen Herangehensweisen, Forschungsfragen und Forschungsgegenstände auf dem Gebiet der Wissenssoziologie. Dabei zeichne ich die Entwicklung wissenssoziologischer Fragestellungen seit ihren Anfangen in der "Deutschen Ideologie" von Karl Marx und Friedrich Engels über Karl Mannheim, die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie, die Wissenschaftsforschung u.a. bis hin zu den aktuellen Theorieund Forschungsansätzen der wissenssoziologischen Analyse kommunikativer Gattungen und der symbolisch-interaktionistischen Rekonstruktion der Karriere sozialer Probleme in öffentlichen Diskursen nach. In den verschiedenen Etappen ihrer Konsolidierung erweitert die Wissenssoziologie (besser wäre: die Wissenssoziologien) sukzessive ihr theoretisches Programm und ihre Fragestellungen auf neue Gegenstandsbereiche. Gleichzeitig lässt sich eine Akzentverschiebung oder Umstellung von einem eher theoretisch-reflektierenden Ansatz der Ideenanalyse hin zur empirischen Untersuchung der ,tatsächlichen' Konstruktionsprozesse beobachten, die in eine Fokussierung der kommunikativen Konstruktion des Wissens münden. Abschließend erläutere ich in einer ersten Annäherung, inwieweit das Programm einer wissenssoziologischen Diskursforschung, d.h. die Umstellung von der kommunikativen auf die diskursive Konstruktion des Wissens eine wichtige Erweiterung der wissenssoziologischen Perspektive darstellt. In Kapitel 3 wende ich mich Traditionen der sozial- und geisteswissenschaftlichen Wissensanalysen zu, die mit dem Begriff des Diskurses operieren. Die Entwicklung diskursorientierter Zugänge zu Prozessen der gesellschaftlichen Wissensproduktion und Wissenszirkulation greift zwar zunächst in spezifischer Weise auf die Durkheimsche Grundlegung der Wissenssoziologie zurück und verknüpft diese mit Überlegungen der sprachwissenschaftlichen Theoriebildung, entfernt sich dann aber zunehmend von ihrer soziologischen Herkunft. Beide Traditionen - die Wissenssoziologie einerseits, die Diskurstheorie und Diskursanalyse andererseits - bestehen weitgehend ohne wechselseitige Berührungspunkte und Kenntnisnahme. Die Rekonstruktion diskurstheoretischer und diskursanalytischer Ansätze zielt auf die Konturierung derjenigen theoretischen Annahmen, Konzepte und ,Eigenheiten' der Diskursperspektive, die in entsprechender Modifikation rur die Ausarbeitung einer diskursorientierten Wissenssoziologie notwendig sind. Zunächst betrachte ich dazu die Geschichte des Diskursbegriffs bis hin zu seiner Durchsetzung als wissenschaftliches Konzept im französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus. Daran anschließend diskutiere ich das gegenwärtige Spektrum und die aktuellen Konjunkturen der Diskursforschung. Diskurstheorien und diskursanalytische Forschungsprogramme bewegen sich zwischen verschiedenen disziplinären Herkünften und rekurrieren bislang kaum auf Theorieangebote der Soziologie. Auch können sie in einem soziologischen Bezugsrahmen nicht als bekannt vorausgesetzt werden. Deswegen erläutere ich ihre paradigmatischen Ausprägungen in exemplarischer Form. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf der Diskussion der Foucaultschen Diskurstheorie und der damit verknüpften Herausarbeitung der Bausteine einer diskursbezogenen Erweiterung der Wis-
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senssoziologie. Die Ausarbeitung dieser ,Denkwerkzeuge' innerhalb des "Planeten Foucault" (Paul Veyne) bleibt für soziologische Forschungszwecke in mancherlei Hinsicht unzureichend. Deswegen wende ich mich nach der Auseinandersetzung mit Foucault den wichtigsten neueren diskurstheoretischen und diskursanalytischen Ansätzen zu. Diese nehmen für sich in Anspruch, die Foucaultschen Impulse in je unterschiedlichen Programmatiken der empirischen Diskursforschung weiter zu entwickeln. Aus der Beschäftigung mit den verschiedenen Weiterführungen diskursanalytischer Programmatiken insbesondere in den Ansätzen der Kritischen Diskursforschung, der Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe und den diskursorientierten Zweigen der Cultural Studies lassen sich Hinweise und Hilfen für die Soziologisierung der Foucaultschen Diskurstheorie gewinnen. Diese werden im Abschluss des Kapitels resümiert. In Kapitel 4 erfolgt der Hauptschritt der Argumentation: die Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Dazu diskutiere ich einleitend, inwiefern die wissenssoziologische Theorie von BergerlLuckmann zwar zunächst die Sphäre der institutionellen Wissensproduktion und -ordnung von Gesellschaften in ihrem theoretischen Rahmen entwickelt, dann jedoch Weichenstellungen vornimmt, durch die eine Bearbeitung der damit aufgeworfenen Fragen aus ihrem Blick gerät. An dieser als Defizit beschriebenen Lage, die sich in die Weiterentwicklung der Hermeneutischen Wissenssoziologie hinein verlängert, setzt der auf die Analyse von Diskursen bezogene Erweiterungsvorschlag an. Die vorgenommene Übersetzung (im oben ausgeführten Sinne) der in Kapitel 3 rekonstruierten diskurstheoretischen Bausteine in die Wissenssoziologie bezieht sich auf die zeichentheoretischen Annahmen, das Verhältnis von Diskurs und diskursivem Ereignis, die Rolle der Akteure, das Verständnis von Praktiken und die Beziehung zwischen diskursiven Formationen, Spezialdiskursen und öffentlichen Diskursen. Daran anschließend entwickele ich ausgehend von einer Definition und Erläuterung des Diskursbegriffs der Wissenssoziologischen Diskursanalyse den grundbegrifflichen Rahmen einer solchen Perspektive anhand von Konzepten zur Erfassung der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen einerseits, zur Analyse ihrer material-konkreten Erscheinung andererseits. Mit diesem Begriffsgerüst werden im nächsten Schritt exemplarische Fragestellungen verknüpft. Zu den zentralen Aufgaben einer entsprechenden Diskursforschung gehört die Untersuchung von Formen der Diskursproduktion, die Analyse der darin vorgenommenen Phänomenkonstitution sowie die mit diesen Prozessen verbundenen Effekte von Diskursen in gesellschaftlichen Praxisfeldern, ihr Verhältnis zu den Wissensvorräten und Deutungspraktiken der ,Akteure des Alltags' sowie der Vergleich von diskursiven Formationen. Abschließend diskutiere ich methodologische Implikationen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Im Einzelnen erläutere ich ihren selbst-reflexiven Standpunkt als Diskurs über Diskurse, das Vorhaben einer Rekonstruktion und Erklärung diskursiver Prozesse, den interpretativen Charakter dieses Unternehmens, die Besonderheiten des diskursanalytischen Zugriffs auf qualitative Methoden der Sozi alforschung sowie die notwendige Lösung von der Textzentriertheit der bisherigen Diskursforschung. Im nachfolgenden Kapitel 5 greife ich die weiter oben formulierte These auf, dass sich das Forschungsprogramm einer Wissenssoziologischen Diskursforschung in besonderem Maße zur Analyse von Prozessen des sozialen Wandels eignet, die unter den zeitdiagnostischen Etiketten der Wissensgesellschaft, der Risikogesellschaft u.a. verhandelt werden. Zunächst diskutiere ich zusammenfassend die Ergebnisse der bisherigen Umwelt- und Risikodiskursforschung im Hinblick auf die dort sichtbar werdenden Veränderungen ge-
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sellschaftlicher Diskursordnungen in den letzten beiden Jahrzehnten. Am Beispiel der in Gestalt von Risikodiskursen auftretenden Deutungsarbeit sozialer Akteure an Umwelt- und Technikkatastrophen und den dadurch konstituierten gesellschaftlichen Erfahrungslagen rekonstruiere ich dann die Diskursdynamik moderner Wissensverhältnisse als Zusammenspiel von Ereignissen und Diskursen. Damit kann gezeigt werden, wie ein wissenssoziologisch-diskursanalytischer Zugang zu gesellschaftlichen Wissenspolitiken und Definitionsverhältnissen Möglichkeiten der empirischen Analyse von soziokulturellen Transformationsprozessen eröffnet. In diesem Sinne konstituiert die Wissenssoziologische Diskursanalyse eine umfangreiche Forschungsagenda zur Politik der Diskurse. Das abschließende Kapitel 6 resümiert die einzelnen Schritte der Argumentation. Christoph Lau, Angelika Pofer! und Willy Viehöver haben Entwürfe der vorliegenden Arbeit mit hilfreichen Kommentierungen versehen. Dafür danke ich ihnen vielmals. Gewidmet ist das Buch meinen Eltern und meinen Kindern: Mar!ene, der großen Unermüdlichen, und Eva, der kleinen Mutigen.
2 Etappen der Wissenssoziologie
In den Sozialwissenschaften besteht ein Grundkonsens darüber, dass die Beziehungen der Menschen zur Welt durch kollektiv erzeugte symbolische Sinnsysteme oder Wissensordnungen vermittelt werden. 6 Die verschiedenen soziologischen Paradigmen unterscheiden sich nach dem theoretischen, methodischen und empirischen Stellenwert, den sie dieser Einschätzung einräumen. Der Begriff ,Wissenssoziologie' bezieht sich auf heterogene theoretische Positionen und unterschiedliche Forschungsinteressen, die sich mit der sozialen Genese, Zirkulation und den Effekten von Wissen beschäftigen. Diese Positionen haben sich weitgehend unabhängig von diskurstheoretischen und diskursanalytischen Analysen der Wissensprozesse entwickelt, trotz einiger ,Abstammungsgemeinsamkeiten' in der Soziologie Durkheims. Unter dem Begriff des Wissens werden sehr unterschiedliche Phänomene verstanden: elaborierte gesellschaftliche Ideensysteme wie Religionen oder politische Weltanschauungen, naturwissenschaftliche Faktizitätsbestimmungen, implizites, inkorporiertes Können, alltägliche Klassifikationsschemata etc. Wissen bezeichnet also nicht nur sach- oder faktizitätsbezogene, durch Erfahrung gewonnene und revidierbare Kognitionen, sondern auch Glaubensvorstellungen, Körperpraktiken, Routinen alltäglicher Lebensfuhrung usw., die als Kenntnisse aufgezeichnet sein können, als Vermögen den Individuen zukommen oder als gesellschaftlicher Bestand bspw. in Institutionen tradiert werden.? Schon von ihrer Entstehung als Disziplin an hatte sich die Soziologie mit Fragen nach gesellschaftlicher Herkunft, Stabilisierung, Bedeutung und Folgen objektivierter Wissensordnungen beschäftigt und damit an das Programm der ursprünglichen französischen ,Ideologie', der Lehre von den Ideen angeknüpft. 8 Ungeachtet der Vielfalt und Heterogenität wissenssoziologischer Reflexionen zeigen sich im Durchgang durch das historische und gegenwärtige Spektrum der Ansätze verschiedene Entwicklungslinien, die der nachfolgenden Diskussion orientierend zugrunde liegen. 9 Robert Merton sprach 1949 von funf LeitGrundlegend fUr die Thematisierung symbolischer Formen in den Sozialwissenschaften sind die Arbeiten von Cassirer (1972,1994); vgl. zu einem positiven Bezug von Foucault auf die Arbeiten von Cassirer Foucault (2001: 703). Hülst (1999) verfolgt die wissenssoziologischen und sprachtheoretischen Symbolkonzepte von Durkheim über Mead und Schütz bis zu Bourdieu. 7 Vgl. zur vie1fliltigen Bedeutung von "Wissen" in der Wissenssoziologie bspw. McCarthy (1996), Maasen (1999), Knoblauch (2005); zur ideologiekritischen Tradition Ritsert (2002) und Hirseland/Schneider (200 I); zum interpretativen Paradigma Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1981), Abels (1998), Keller (2008a). Auf die Diskussionen über "implizites Wissen" (Polanyi 1985) gehe ich hier nicht weiter ein; sie spielen in der Wissenssoziologie eine untergeordnete Rolle (vgl. auch Böhle u.a. 200 I; HeymannlWengenroth 200 I). 8 Vgl. dazu den historischen Rück- und Überblick von Ritsert (2002). 9 Vgl. als Überblicke Maasen (1999), Knoblauch (2005) und eher lückenhaft, aber mit stärkeren Bezügen zur Ideologiekritik Ritsert (2002). Ich konzentriere mich hier auf die Hauptströmungen der Wissenssoziologie. Sie werden von unterschiedlichen Entwürfen einer "Soziologie des Nichtwissens" begleitet, die von Georg Simmels Reflexionen über das Geheimnis und die Geheime Gesellschaft, Mertons Konzept des spezifischen Nichtwissens (Merton 1987), das wissenschaftlich konturiert zum Anhaltspunkt weiterer Forschung wird, allgemeinen wissenssoziologischen Konzeptualisierungen des Nichtwissens und seiner Funktion in Gesellschaften bei Smithson 6
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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fragen der ,klassischen' Wissenssoziologie und diskutierte die unterschiedlichen Antworten der soziologischen Klassiker darauf (vgl. Kapitel 2.1). Die Entfaltung wissenssoziologischer Programrnatiken kann entlang dieser Fragen als mehrfache Akzentverschiebung rekonstruiert werden: Zunächst nimmt die Wissenssoziologie ihren Ausgangspunkt in der Analyse der sozialen Bedingtheit bzw. Standortgebundenheit des Wissens. In den 1960er Jahren tritt an die Stelle dieser Forschungsinteressen die Beschäftigung mit der sozialen Konstruktion des Wissens. In jüngerer Zeit geraten spezifische und grundlegende Modi dieser Konstruktion, insbesondere Kommunikationsprozesse und soziale Praktiken in den Blick. Diese Akzentverschiebung ist zugleich eine empirische Konkretisierung des wissenssoziologischen Forschungsprogramms, die als Bewegung von der allgemeinen theoretischen Reflexion über die Präzisierung der theoretischen Grundlagen bis hin zur Spezifizierung konkreter Gegenstandsfelder und Forschungskonzepte erfolgt. Im Einzelnen rekonstruiere ich die Entwicklung der Wissenssoziologie in folgenden Schritten: 10 Kapitel 2.1 diskutiert die Entstehungsphase der modernen Wissenssoziologie. Die "existentiellen Grundlagen des Wissens" (Robert Merton) stehen hier im Zentrum der wissenssoziologischen Reflexion. Als Ausgangsproblem erscheinen zunächst die Fragen nach den sozialen Grundlagen der Wissensentstehung bzw. der sozialen Bedingtheit des gesellschaftlichen und individuellen Wissens. Diese werden bei Kar! Marx und Friedrich Engels in der gesellschaftlichen Organisation der menschlichen Arbeit lokalisiert. Kar! Mannheim generalisiert die Marxschen Konzepte hin zur Untersuchung der allgemeinen ,Standortgebundenheit und Seinsbezogenheit des Denkens'. Er betont, dass unterschiedlichste Faktoren - Generationenlagen, raum-zeitliche Kontexte wie Stadt/Land-Differenzen, Gruppeninteressen u.a. - die soziale Strukturierung des Denkens auf individueller und kollektiver Ebene prägen. Auch fuhrt Mannheim in die Wissenssoziologie die Frage nach ihrem eigenen Standort, also die Perspektive der Selbst-Reflexion ein, die von da an weite Teile der Soziologie beschäftigen wird. Emile Durkheim und Marcel Mauss schließlich betonen verallgemeinernd die soziale Funktionalität von Wissensordnungen und richten den Blick auf gesellschaftliche Kollektiverfahrungen und soziale Strukturen als Grundlagen der Wissensgenese. In Kapitel 2.2 zeichne ich die ,Neuauflage' der Wissenssoziologie in den 1960er und 1970er Jahren nach. Angesichts der hier ansetzenden Beschäftigung mit der sozialen Konstruktion des Wissens lässt sich von einer konstruktivistischen Wende der Wissenssoziologie sprechen. Mit dem Begriff der Konstruktion rückt die Praxis der Wissenserzeugung in den Mittelpunkt. Dies geschieht einmal im wissenssoziologischen Programm des sozialen Konstruktivismus, wie es Peter Berger und Thomas Luckmann in ihrem Buch über "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" (BergerlLuckmann 1980 [1966]) formulieren. 11 In Frankreich entwirft Pierre Bourdieu seine Sozialtheorie der Praxis und macht mit dem Konzept des Habitus einen spezifischen Vorschlag zur soziologischen Analyse (1985), Popitz (1968), Ravetz (1987) bis hin zu den neueren Überlegungen von Beck (1999) zur Bedeutung des Nichtwissens in Risikokonflikten reichen. Vgl. dazu als Überblick Wehling (2001). 10 Die Darstellung konzentriert sich im Rahmen des vorliegenden Vorhabens auf die wichtigsten Protagonisten. Sie wäre bspw. um das wissenssoziologische Werk von Aaron Gurvitch (1971), Werner Stark (1960) oder Norbert Elias (1987) u.a. zu ergänzen, sofern es um eine lückenlose Geschichte der Wissenssoziologie ginge. Große Nähe zu wissenssoziologischen Theorien hat auch das in Frankreich von Serge Moscovici entwickelte sozialpsychologische Konzept der Sozialen Repräsentationen (Moscovici 1988; Flick 1995). 11 Vgl. zur Unterscheidung verschiedener Spielarten des Konstruktivismus Knorr-Cetina (1989).
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inkorporierter Wissens- als Sozialstrukturen. Er belegt sein theoretisches Programm mit dem Etikett des strukturalistischen Konstruktivismus. Eine dritte Spielart der Erneuerung der Wissenssoziologie entwickelt sich mit der Forschungsprogrammatik des empirischen Konstruktivismus, also in der ethnomethodologisch informierten und ethnographisch arbeitenden Laborforschung im Rahmen der neueren Wissenschaftsstudien (Social Studies of Science). Kapitel 2.3 diskutiert die vorerst letzte Etappe der Entfaltung der wissenssoziologischen Traditionen. Diese Phase, die Mitte der 1970er Jahre ansetzt, kann in Anlehnung an Begrifflichkeiten von Thomas Luckmann und Hubert Knoblauch als Verschiebung von der "sozialen" zur kommunikativen Konstruktion der Wirklichkeit und des Wissens bezeichnet werden. 12 Im Kontext einer mehrfach diagnostizierten, wissenssoziologisch inspirierten kulturalistischen oder auch ,praxeologischen' Wende der allgemeinen Soziologie fokussiert die Analyse des Wissens nunmehr zunehmend auf den Sprachgebrauch und die Kommunikationsprozesse, in denen Wissen gesellschaftlich zirkuliert. Niklas Luhmann bspw. entwirft in seinem radikal-konstruktivistischen Programm einer kommunikationstheoretisch fundierten Systemtheorie eine eigene Perspektive der Wissenssoziologie. In der Tradition der sozialphänomenologisch begründeten Wissenssoziologie machen Thomas Luckmann, Jörg Bergmann und Hubert Knoblauch mit dem Konzept der kommunikativen Gattungen einen Vorschlag zur Untersuchung der sprachlichen Organisationsmuster, in denen sich die gesellschaftliche Wissenszirkulation im Sprachgebrauch vollzieht. Im Kontext von sozialkonstruktivistischer Wissenssoziologie und Symbolischem Interaktionismus entstehen Ansätze der Untersuchung öffentlicher Diskurse, die den gesellschaftlichen Aushandlungsprozess von Problemdefmitionen und Handlungsoptionen in den Blick nehmen. Dabei handelt es sich um die bislang einzige, genuin der Soziologie zurechenbare Perspektive der Diskursforschung. 13 Kapitel 2.4 befasst sich mit der Verwendung des Wissensbegriffs in den gegenwartsdiagnostischen Diskussionen über Wissensgesellschaft. Diese beschäftigen sich mit der These einer veränderten sozio-ökonomischen und kulturellen Bedeutung von insbesondere wissenschaftlichem, ökonomischen und professionellem Wissen und erörtern die sich daraus auf gesellschaftsstruktureller Ebene ergebenden Konsequenzen. In den von Daniel Bell, Nico Stehr u.a. gefuhrten Debatten spielen die Ansätze der Wissenssoziologie keine Rolle. Sofern hier jenseits der Aggregation statistischer Daten empirische Konkretisierungen vorgenommen werden, geht es in erster Linie um die Verwendung wissenschaftlichen Wissens in unterschiedlichen Handlungsfeldern, ohne dass auf das theoretische Vokabular und die methodischen Werkzeuge der Wissenssoziologie rekurriert wird. Die bisherige ,Soziologie der Wissensgesellschaft' kann also paradoxerweise nicht der Wissenssoziologie zugerechnet werden. Sie könnte jedoch durch eine Bezugnahme auf die Wissenssoziologie ihre 12 Knoblauch (1995) spricht mit Bezug auf die Berger/Luckmannsche Wissenssoziologie von deren "kommunikativer Wende". 13 Das von Michel Foucault in den 1960er Jahren ohne Bezüge auf die Soziologie vorgestellte diskurstheoretische Programm nimmt ebenfalls die öffentliche Sprachzirkulation zum Ausgangspunkt. Es ließe sich als Diskurskonslruktivismus ohne Konstrukteure bezeichnen und damit im Hinblick auf die hier erläuterten wissenssoziologischen Ansätze verorten. In Auseinandersetzung mit der Soziologie, aber doch in überwiegend eigenständiger Theoriebildung haben auch die Cultural Sludies als Variante des social constructionism Vorschläge zur Analyse der Prozesse gesellschaftlicher Wissens- oder Kulturkreisläufe entwickelt. Ich gehe auf diese Ansätze im nachfolgenden Kapitel 3 ein.
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Empirie deutlich verbessern. Umgekehrt bietet die These der Wissensgesel1schaft der Wissenssoziologie einen Weg zur Beschäftigung mit makrostrukturel1en Phänomenen des sozialen Wandels, die sie bisher vernachlässigt hat. 14 Das in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagene Diskurskonzept zielt auf eine entsprechende Vermittlung. Kapitel 2.5 resümiert die verschiedenen Etappen der Wissenssoziologie und zeigt die Anschlusspunkte auf, an denen eine diskursorientierte Perspektive die Überlegungen zur sozialen und kommunikativen Konstruktion des Wissens aufgreifen und weiterentwickeln kann. Dadurch lässt sich gleichzeitig eine forschungsprogrammatisch hilfreiche Relationierung des Verhältnisses von Wissenssoziologie und, Wissensgesellschaft' erreichen.
2.1 Die soziale Bedingtheit des Wissens In seiner 1949 erschienenen Bilanz der Etablierungsphase wissensbezogener Perspektiven in der Soziologie fasste Robert Merton (1985: 223 ff) die zentralen Fragestel1ungen des klassischen wissenssoziologischen Programms in fünf Punkten zusammen. Die Beantwortung dieser Fragen durch Karl Man<, Emile Durkheim, Karl Mannheim u.a. markiere, so Merton, die Unterschiedlichkeit des wissenssoziologischen Spektrums. Im Einzelnen nennt er folgende Fragen: • • • • •
"Wo wird die existentiel1e Basis der geistigen Produktionen angesiedelt?" "Welche geistigen Produktionen werden soziologisch analysiert?" "Wie werden geistige Produktionen auf die existentielle Grundlage bezogen?" "Warum" besteht dieser Bezug? "Wann kommen die angenommenen Beziehungen zwischen existentieller Grundlage und Wissen ins Spiel?"
Die von Merton skizzierten Perspektiven wissenssoziologischer Fragestel1ungen lassen sich im Rekurs auf Karl Mannheim zunächst als Fragen nach der "Standortgebundenheit" bzw. dem Nachweis der sozialen Bedingtheit des Wissens zusammenfassen. 15 Dies ist im Wesentlichen das Grundproblem der klassischen Wissenssoziologie, wie es auch im von Louis Wirth 1937 verfassten Vorwort zur englischen Ausgabe von Karl Mannheims "Ideologie und Utopie" zum Ausdruck kommt,16 Das wissenssoziologische Interesse am sozialen Entstehungszusammenhang des Wissens hänge, so Merton weiter, von zeitgeschichtlichen Umständen ab, insbesondere von der durch den soziohistorischen Kontext bedingten und deswegen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts besonders intensiven gesellschaftlichen Erfahrung der Pluralisierung und Zersplitterung des gesel1schaftlichen Zusammen14 Eine Ausnahme bildet hier gewiss die Analyse des "Unbehagens in der Modernität" von BergerlBergerfKeliner (1987). Wie eine handlungstheoretisch begründete und historisch orientierte Analyse moderner Wissensformationen aussehen könnte, verdeutlichen einige Beiträge in Laborierrrrom (2003). 15 Die Antworten von Karl MarxfFriedrich Engels, Karl Mannheim und Emile Durkheim diskutiere ich nachfolgend. 16 Nach Wirth beschäftigt sich die Wissenssoziologie mit der Ausarbeitung der Theorie des Wissens, der Rekonstruktion historischer Denkstile und -methoden, der Untersuchung der Konflikte zwischen Wissens-Gruppen, der Frage nach den sozialen (gruppenbezogenen) Grundlagen des Wissens, der systematischen Analyse der institutionellen Organisation von Wissenschaft und Bildung und den Intellektuellen (Wirth 1969: XXIVff).
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hangs, also von der zunehmenden Bedeutung divergierender gruppenbezogener Denkweisen und Wertvorstellungen gegenüber einer gemeinsamen ,kulturellen' Basis. Dazu gehöre die Tatsache, dass sich "mit der Zunahme gesellschaftlicher Konflikte (...) die Unterschiede zwischen den Werten, Einstellungen und Denkweisen der verschiedenen Gruppen bis zum dem Punkt (erweitern), wo die diesen Gruppen zuvor gemeinsame Orientierung von unvereinbaren Gegensätzen überschattet wird." (Merton 1985: 28t)
Bereits Mannheim sah in gesellschaftlichen Differenzierungserfahrungen und Distanzierungsprozessen die wesentliche Voraussetzung und Grundlage wissenssoziologischer Reflexionen: "Für einen Bauernsohn, der im engen Bezirke des Dorfes aufwächst und sein Leben lang in diesem seinem Heimatdorfe bleibt, ist das Denken und Reden in der Weise des Dorfes etwas schlechthin Selbstverständliches. Für einen Bauernsohn, der in die Stadt wandert und sich allmählich der Weise des Städters anpasst, hört die dörfliche Weise des Lebens und Denkens auf, etwas Selbstverständliches zu sein. Er hat Distanz zu ihr gewonnen und unterscheidet jetzt vielleicht sogar mit aller Bewußtheit Denkweisen und Gehalte, die er als ,dörflich' bezeichnet, von solchen, die er als ,städtische' kennt. In dieser Unterscheidungen liegt der erste Ansatz zu jener Haltung, die die Wissenssoziologie voll auszubilden trachtet." (Mannheim 1969: 241)
Am Beginn der Wissenssoziologie steht, folgt man dieser Einschätzung von Merton und Mannheim, eine gesellschaftliche Pluralisierungserfahrung, ein Zerfall der bis dahin rur alle sozialen Gruppen innerhalb eines abgrenzbaren Gesellschaftsgeruges gleichermaßen gültigen Weltbilder. 17 Diese ist jedoch nicht die einzige Quelle oder Antriebskraft der wissenssoziologischen Reflexion. Bereits ein Jahrhundert (und länger) zuvor entwickelt sich vor dem Hintergrund ähnlicher gesellschaftlicher Umbrüche im Kontext der Aufklärung und der Entfaltung der Naturwissenschaften ein wissenschaftliches Interesse an der Erforschung von, Ideen', das die bis dahin dominierende philosophische Reflexion ablösen will (Ritsert 2002: 9ft). In Frankreich entwirft Antoine Destutt de Tracy in den Jahren 18011815 in seiner vierbändigen Abhandlung über "Les elements de I' ideologie" die Grundzüge einer Wissenschaft von den Bewusstseinsprozessen der Individuen, von deren Sinneseindrücken, Empfindungen und Denkprozessen. Diese ,Ideenlehre' sollte zur Grundlage eines aufklärungs-pädagogischen Programms zur Gestaltung des Erziehungs- und Bildungswesens im Besonderen und des gesamten nach-revolutionären französischen Staates im Allgemeinen werden (ebd.). Aber auch die wiederum zwei Jahrhunderte zuvor von Francis Bacon vorgelegte ,Idolenlehre' von den Vorurteilen, die eine klare Verstandestätigkeit trüben, gehört zur Ahnentradition der Wissenssoziologie, und Ähnliches ließe sich rur die Werke und Gedanken von Giovanni Battista Vico oder Friedrich Nietzsche u.a. ausruhren. 18 Für die Entwicklung soziologischer Zugänge zum Wissen war dann insbesondere die 17 Diese Situation ist vielleicht vergleichbar derjenigen, die in den 1970er Jahren Jean-Franyois Lyotard (1986) zur Gegenwartsdiagnose des Endes moderner Metaerzählungen durch postmoderne Aufsplitterungen führte. Entsprechende Diagnosen einer Differenzierung oder Erosion des "Kollektivbewusstseins" liegen auch Durkheims Analysen des Wandels der Solidaritätsformen und der anomischen Prozesse zugrunde. 18 Bspw. zeigt Corradi (1981), dass Vico den Vorrang der historisch existierenden Sprach- und Schreibtraditionen vor dem menschlichen ,Geist' betont, eine Idee, die später dann von Michel Foucault radikal ausbuchstabiert wird.
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materialistische Wendung der Ideenlehre in den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels einflussreich. Innerhalb der Soziologie gehören Auguste Comte und Vilfredo Pareto zweifellos zu den Ahnherren der Wissenssoziologie, auch wenn erst Max Scheler und dann Kar! Mannheim den Begriff in der heute gängigen Form geprägt haben. Auguste Comte (1974: 137ft) bspw. griff eine geläufige geschichtsphilosophische Unterscheidung von Entwicklungsstufen der Gesellschaftsgeschichte und der Erkenntnisformen auf und interpretierte den gesellschaftlichen Prozess als Fortschritt im Durchgang durch verschiedene Stadien des Wissens mit je korrespondierenden Organisationsformen der Gesellschaft. So spricht er von einem theologischen oder fiktiven Stadium, in dem es um das Erkennen der göttlichen Ordnung geht und dem eine militärische gesellschaftliche Ordnung entspricht. Die zweite Stufe bildet das metaphysische bzw. abstrakte Stadium mit feudalistischer Gesellschaftsform. Schließlich nennt er das wissenschaftliche Stadium, das nicht zuletzt in seiner eigenen "positiven Philosophie", also der Soziologie zum Ausdruck kommt und die Erkenntnis von Natur- und Sozialgesetzen durch Vernunft, Logik, Beobachtung, Experiment, Klassifikation, kurz: Empirie präferiert. Diesem Stadium entspricht - so Comte - die gesellschaftliche Ordnung des Industrialismus. Seine Betonung wissenschaftlicher Erkenntnisformen und des Entsprechungsverhältnisses von sozialen Erkenntnis- bzw. Wissensordnungen und gesellschaftlichen Organisationsformen macht ihn zum Ahnherren der heutigen Debatten über "Wissensgesellschaft". Während Comte seinen "Cours de Philosophie Positive", in dem die erwähnten Interpretationen des Geschichtsprozesses vorgelegt werden, im Jahre 1842 veröffentlichte, arbeitete Vilfredo Pareto, dessen soziologische Hauptwerke in den Jahren 1916-1921 erschienen, bereits im Kontext einer ansatzweise institutionell etablierten Soziologie. Pareto (1955) bestimmte als eine der Hauptaufgaben der Soziologie die Untersuchung von nichtlogischen Handlungen, d.h. Handlungsweisen, die durch Gefuhle, Glaubensvorstellungen oder weltanschauliche Elemente geleitet werden und sich deswegen der utilitaristischökonomischen Zweck-Mittel-Kalkulation nicht fugen bzw. daraus nicht erklärt werden können. In den Worten Max Webers geht es ihm also um die Typen des wertrationalen, des affektiven und des traditionalen HandeIns. Pareto spricht bezüglich der erwähnten Faktoren von "Residuen", fur die Menschen dann rationale und rationalisierende Rechtfertigungen so genannte "Derivationen": Behauptungen, Autoritäts-, Gefuhls- oder Prinzipienverweise - erfinden: "Die Residuen, Derivationen und ihre Beziehungen zu den Handlungen der Menschen stellen die Grundtatsachen und den Erkenntnisgegenstand der Soziologie dar. Dahinter steht die Auffassung, dass nicht Ideen das Handeln leiten - diese sind nur Illusionen - sondern Gefühle und Interessen. In Paretos Soziologie ist daher auch eine Wissenssoziologie enthalten, in der Ideen Derivationen von emotionalen oder interessegeleiteten Reaktionen auf reale soziale Gegebenheiten darstellen. Da die IdeenlDerivationen nicht nur zur Rechtfertigung des HandeIns dienen, sondern es auch motivieren, verändern sie ihrerseits die realen Bedingungen, sodaß die Abhängigkeit zwischen dem realen Geschehen und den Ideen eine wechselseitige ist." (Mikl-Horke 2001: 79)
Vgl. allgemein die Hinweise auf die philosophische Vorgeschichte wissenssoziologischer Reflexionen bei StehrlMeja (1981 b), Maasen (1999) und Ritsert (2002).
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Paretos wissenssoziologische Reflexionen spielen freilich in der gleichzeitig von Max Scheler vorbereiteten und später dann von Karl Mannheim entscheidend gefassten Konzeption der Wissenssoziologie als einer explizit mit dem entsprechenden Etikett versehenen soziologischen Teildisziplin keine Rolle. Die wichtigsten Einflüsse gehen hier vielmehr von Friedrich Nietzsches Historisierung und Kontingenzbehauptung hinsichtlich der Wahrheitsansprüche von Ideen einerseits, und vor allem von der durch Karl Marx und Friedrich Engels etwa zeitgleich zu Auguste Comte entwickelten Praxistheorie und Ideologiekritik andererseits aus.
2.1.1
Von der Ideenlehre zur Ideologiekritik: Karl Marx und Friedrich Engels
Marx und Engels entwerfen in ihrer "Deutschen Ideologie" aus den Jahren 1845/1846 (MarxlEngels 1960) nicht nur die Grundlagen aller späteren Praxistheorien, sondern auch einen zentralen Gedanken der modemen Wissenssoziologie - die Idee von und Frage nach der Standortgebundenheit oder Seinsverbundenheit des Denkens. Ihre Kritik des ,Idealismus' und der ,Ideologie' leiten sie mit einem Beispiel ein, dessen Pendants sich bis heute in den wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen über ,Realismus versus Konstruktivismus' großer Beliebtheit erfreuen: "Ein wackrer Mann bildete sich einmal ein, die Menschen ertränken nur im Wasser, weil sie vom Gedanken der Schwere besessen wären. Schlügen sie sich diese Vorstellung aus dem Kopf, etwa indem sie dieselbe für eine abergläubige, für eine religiöse Vorstellung erklärten, so seien sie über alle Wassergefahr erhaben. Sein Leben lang bekämpfte er die Illusion der Schwere, von deren schädlichen Folgen jede Statistik ihm neue und zahlreiche Beweise lieferte." (MarxiEngels 1960: 13)19
Die menschliche, soziale Produktion von Ideen, Vorstellungsinhalten u.a. ist, so Marx/Engels, immer Resultat des tatsächlichen "Lebensprozesses" und damit eines bestimmten historischen Standes der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Der Mensch gilt ihnen als tätiges Gattungswesen, das sich durch vergesellschaftete Arbeit, d.h. gesellschaftlich-arbeitsteilig organisierte Auseinandersetzung mit der Natur individuell und als Gattung reproduziert und dadurch vom Tier unterscheidet (Engels 1977). Im Vorwort zur "Kritik der Politischen Ökonomie" erscheint dieser Ausgangspunkt der Wissenssoziologie in der berühmten Formel: "Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt" (Marx 1971: 9). Voraussetzung der menschlichen Existenz und aller Fähigkeit, "Geschichte machen" zu können, ist demnach die Befriedigung der Grundbedürfuisse der Produktion des Lebens selbst bzw. die Erzeugung der Mittel dazu. Aus der Befriedigung dieser Bedürfuisse entstehen neue Bedürfuisse. Neben dem Erhalt des einzelnen Körpers ist der Erhalt der Gattung, also die 19 Marx!Engels richten diese Polemik gegen den "Typus des neuen deutschen revolutionären Philosophen", der glaube, er müsse Ideen verändern, um die Wirklichkeit zu verändern: "Die Forderung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d.h. es vermittels einer anderen Interpretation anzuerkennen" (Marx!Engels 1960: 14). Demnach muss die revolutionäre Tat der Veränderung der Ideen vorausgehen. Vgl. zu aktuellen Versionen des Argumentes die amüsierte Diskussion über "Tod und Möbelstücke" bei EdwardslAshmorefPotter (1995).
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Organisation der Fortpflanzung eine weitere Grundbedingung der menschlichen Existenz. Beide Arten der Reproduktion, also diejenige der Gattung und die materielle Reproduktion der Einzelexistenz sind immer in ein gesellschaftliches Verhältnis eingebunden. Das individuelle Bewusstsein und Wissen der Einzelsubjekte ist immer schon sprachlich, sozialhistorisch geformtes Bewusstsein: "Jetzt erst, nachdem wir bereits vier Momente, vier Seiten der ursprünglichen, geschichtlichen Verhältnisse betrachtet haben, finden wir, daß der Mensch auch ,Bewußtsein' hat. Aber auch dies nicht von vornherein, als ,reines Bewußtsein'. Der ,Geist' hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie ,behaftet' zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz der Sprache auftritt. Die Sprache ist das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen. (... ) Das Bewußtsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren." (MarxlEngels 1960: 27) Und weiter heißt es: "Diese Geschichtsauffassung beruht also darauf, den wirklichen Produktionsprozeß, und zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln und die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende und von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen, als Grundlage der ganzen Geschichte aufzufassen und sie sowohl in ihrer Aktion als Staat darzustellen, wie die sämtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse und Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral etc. etc., aus ihr zu erklären und ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen, wo dann natürlich auch die Sache in ihrer Totalität (und darum auch die Wechselwirkungen dieser verschiedenen Seiten aufeinander) dargestellt werden kann. Sie hat in jeder Periode nicht, wie die idealistische Geschichtsanschauung, nach einer Kategorie zu suchen, sondern bleibt fortwährend auf dem wirklichen Geschichtsboden stehen, erklärt nicht die Praxis aus der Idee, erklärt die Ideen formationen aus der materiellen Praxis (... )." (ebd.: 35)
Die zunächst sehr allgemein gehaltene Konzeption des Verhältnisses zwischen Sein (Praxis) und Bewusstsein (Denken, Weltbilder, Normen usw.) wird zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Basis (den Produktionsverhältnissen) und entsprechendem Überbau erweitert. Für den vorliegenden Argumentationszusammenhang ist es weniger bedeutsam, wie eng Marx und Engels dieses Verhältnis gekoppelt haben, ob es sich also um ein einseitiges Determinationsverhältnis, wie durch den orthodoxen Marxismus vorgegeben, oder um ein Geflecht vielfältiger Wechselbeziehungen handelt, die auch Raum fur den Einfluss mehr oder weniger eigenständiger Ideenentwicklungen etwa nach Art der Weberschen Interpretation der Protestantischen Ethik zulassen. Wichtiger fur die weitere Entwicklung der Wissenssoziologie sind die grundlegenden Überlegungen zur Praxisbezogenheit des Bewusstseins, zur entstehenden Arbeitsteilung zwischen materieller und geistiger Arbeit und die Vorstellung von der Machtwirkung der daraus resultierenden Denkinhalte: Wo die herrschenden Ideen die Ideen der Herrschenden sind und als totale, vom gesellschaftlichen Produktionsapparat abgekoppelte Ebene des ,Ideenhimmels' bzw. der Ideologie den gesellschaftlichen Denkhorizont dominieren, da entstehen gleichursprünglich Ideologieverdacht und, falsches Bewusstsein', also ein Wissensverhältnis, das die tatsächlichen gesellschaftli-
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chen Ausbeutungsverhältnisse verschleiert bzw. im Unerkannten hält. 20 Die Überlegungen von Marx und Engels zur Wissensanalyse als Ideologiekritik hinterlassen ihre Spuren in nahezu allen späteren Auseinandersetzungen mit Wissensphänomenen. 2J Dies gilt nicht nur für die marxistische Tradition bei George Lukks, Antonio Gramsci, Louis Althusser u.a., für marxistisch orientierte Ansätze der aktuellen Diskursforschung oder die Vertreter der Frankfurter Schule, sondern auch für die Soziologie Bourdieus, für postmarxistische Kulturtheorien und (sogar) die Wissenssoziologie von Berger/Luckmann. 22 Sieht man von der später einsetzenden Engführung auf Ideologiekritik ab, dann entwerfen MarxlEngels in ihren Frühschriften die Grundlagen einer allgemeinen empirischen Wissenssoziologie. Als deren anerkannte Gründerväter gelten heute allerdings neben Max Scheler insbesondere Karl Mannheim und Emile Durkheim. 23 Diese Soziologen sind in unterschiedlicher Weise bemüht, die von Marx und Engels aufgeworfenen Fragen nach dem Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft von ihrer ideologiekritischen Zuspitzung zu lösen und zur Grundlage eines soziologischen Forschungsprogramms zu machen. Als Besonderheit der damaligen deutschsprachigen Entfaltung der Wissenssoziologie kann die mit der Vorstellung der sozialen Bedingtheit des Wissens einhergehende Reflexion auf das sich daraus ergebende Relativitätsproblem - also auf Fragen nach den verbleibenden Möglichkeiten von ,wahrer Erkenntnis', einschließlich derjenigen des eigenen Arbeitens - gelten (Srubar 1981: 343).
2.1.2 Die Seinsverbundenheit des Wissens: Kar' Mannheim Kurz bevor Mannheim sein entsprechendes Programm entfaltete, hatte bereits Max Scheler in seinen Arbeiten über "Die Wissensformen und die Gesellschaft" (1980 [1926]) und "Versuche zu einer Soziologie des Wissens" (1924) den Begriff der Wissenssoziologie in der deutschsprachigen Soziologie besetzt. Mit Mannheim teilt Scheler einen zentralen Grundgedanken der neu entstehenden Teildisziplin: "Wenn alles Wissen sozialbedingt ist, dann läßt sich seine notwendige Relativität zeigen. Hiermit kann der Wahrheitsanspruch einzelner gruppenbezogener Deutungen in Frage gestellt werden, ohne daß eine Wertung des Inhalts erfolgen müßte. Dadurch wird der Weg zu einem alternativen, die Relativität des Wissens reflektierenden Entwurf der Wirklichkeitsinterpretation im Prinzip freigemacht." (Srubar 1981: 345)
"Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht." (MarxlEngeis 1960: 44) 21 Vgl. dazu den in Kapitel 3.3.1 eingefügten Exkurs zum Verhältnis von Ideologiekritik und Diskursforschung. Zur wissenssoziologischen Beerbung der Ideologiekritik vgl. die nachfolgenden Ausfuhrungen zur Wissenssoziologie von Karl Mannheim sowie die allgemeine Diskussion in Ritsert (2002). 22 Vgl. dazu bspw. die Analyse des "Unbehagen(s) in der Modernität" (Berger/BergerlKellner 1987). 23 Auch wenn Max Weber (1978) in seiner "Protestantischen Ethik" die Affinitäten zwischen einer religiös begründeten Ethik und Methodik der Lebensführung mit den Anforderungen des sich entfaltenden Kapitalismus analysierte und ganz allgemein die Kulturbedeutung von Ideen sowie die Prozesse des Sinnverstehens betont, so wird er doch heute, abgesehen von der expliziten Vereinnahmung der Traditionslinie von Max Weber zu Alfred Schütz bei BergerlLuckmann, nur selten in einen engeren Zusammenhang mit wissenssoziologischen Fragestellungen gebracht. 21)
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Scheler schlägt eine Unterscheidung von Wissensformen - religiöses, metaphysisches und wissenschaftlich-technologisches Wissen - vor, deren gesellschaftliche Bedeutung empirisch erforscht werden könne. Auch differenziert er zwischen "Idealfaktoren" als den prinzipiellen, unabhängig existierenden Potenzialen von Bewusstsein und kollektiver Ideenwelt einerseits, und "Rea!faktoren" wie Blutsverwandtschaften, politische Machtverhältnisse und ökonomische Strukturen als den konkreten, faktischen Bedingungen der Selektion aus dem Bereich des Möglichen andererseits. Die spätere Wissenssoziologie greift jedoch kaum auf Schelers Bemühungen zurück. Dafiir mag die starke lebensphilosophischvitalistische Prägung seiner Argumentation verantwortlich sein, aber auch die Schwierigkeit, die Existenz von "Idealfaktoren" in einem soziologischen Bezugsrahmen überzeugend zu begründen. Völlig anders verhält es sich demgegenüber mit der Rezeption der Wissenssoziologie von Kar! Mannheim. Darur sind sicherlich werkimmanent verschiedene Faktoren verantwortlich: Mannheim generalisiert nicht nur die Marxsche Theorie der Praxisbindung des Wissens und der Ideologiekritik hin zu den Konzepten der unaufhebbaren Standort- oder Seinsgebundenheit der Denkgebilde und einer entsprechend allgemeinen Ideologieanalyse,z4 Er diskutiert auch die sich daraus ergebenden Probleme des Wissens- und ErkenntnisRelativismus,25 sucht nach Möglichkeitsbedingungen der Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Rationalitätsstandards des politischen Prozesses - nicht zuletzt sieht er hierin eine zentrale praktische Aufgabe der Soziologie - und stellt Überlegungen zur empirischen Vorgehensweise der Wissenssoziologie an, die unter dem Konzept der "dokumentarischen Methode der Interpretation" die Entwicklung der heutigen qualitativen Sozialforschung geprägt haben. 26 Mannheims Konzeption der Wissenssoziologie lässt sich mit Srubar kurz charakterisieren: "Mannheim spricht von Gesellschaftsstruktur, von sozialgeschichtlichem Prozeß, der in die Konstitution verschiedener Denkstandorte hineinragte, und ihre Aspektstruktur, das heißt, ihr Relevanz- und Deutungsraster, konstitutiv bestimmt. Sozialen Schichten kommen so bestimmte geistige Schichten zu, Denkstile haben ihre sozialen Träger, die Klassen, deren Trägerschaft zu 24 Man könnte dies als eine - nunmehr allerdings soziologisierte - Reorientierung auf das ursprüngliche Programm der Ideologie als ,Ideenlehre' interpretieren. Hier ist die Rezeption der von George Lukacs (1976 [19241) vorgenommenen Ausarbeitung der marxistischen Überlegungen zum Zusammenhang von Klassenlage und Bewusstsein von Bedeutung. Das Konzept der Standortbezogenheit des Wissens wird bei Mannheim mit dem Bemühen um 'objektive Erkenntnis' durch Relationierung unterschiedlicher Perspektiven verknüpft. In der zeitgenössischen feministischen Theoriediskussion haben sich die 'Standpunkttheorien' vor allem damit beschäftigt, wie wissenschaftliche Erkenntnisprozesse selbst durch - in diesem Fall geschlechtsbezogene - Standpunktfaktoren geprägt werden (vgl. Harding 1990; Haraway 1995). 25 Diese Fragen werden in den I 970er Jahren zu zentralen Diskussionspunkten der Social Studies of Science und der allgemeinen angelsächsischen Debatte um social constructionism. 26 Die wichtigsten Arbeiten in diesem Zusammenhang sind "Ideologie und Utopie" aus dem Jahre 1929 und deralle anderen Beiträge zusammenfassende - Handbuch-Beitrag "Wissenssoziologie" aus dem Jahre 1931. Beide Texte wurden gemeinsam als "Ideologie und Utopie" wiederveröffentlicht (Mannheim 1969). Zentrale wissenssoziologische Reflexionen finden sich auch in mehreren kleineren Arbeiten, u.a. zur wissenssoziologischen Methode die "Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation" (1921/1922), der Aufsatz "Das Problem einer Soziologie des Wissens" (1925), der mit dem Begriff der "Problemkonstellation" wissenssoziologische Fragen aufwirft, die später dann Michel Foucault in seiner "Ordnung der Dinge" in anderer Weise bearbeiten wird, sowie die Beiträge über "Das konservative Denken" (1927), "Das Problem der Generationen" (1928) und "Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen" (1929), die allesamt als materiale wissenssoziologische Analysen gelesen werden können (Mannheim 1970).
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enthüllen und zu untersuchen ist. Die soziale Gebundenheit des Wissens, seine Seinsverbundenheit also, stellt für Mannheim eine Tatsache, eine ,Faktizität' dar, die an empirischen Beispielen, etwa durch den Nachweis variierender Begriffsbedeutung bei verschiedenen sozialen Trägem, zu belegen ist. Die Aufgabe der Wissenssoziologie besteht also in einer Schritt fur SchrittRekonstruktion des Zusammenhangs vom jeweiligen Denkstil und seinem sozialen Standort in seiner historischen Entwicklung." (Srubar 1981: 349) Mannheim nimmt die von Marx und Engels skizzierte Ausgangsposition der Verankerung von Wissensprozessen in der arbeitsteiligen menschlichen Tätigkeit und Reproduktionspraxis auf und ergänzt die dort behaupteten Faktoren der ,Seinsbedingtheit' um verschiedene Sozialfaktoren (etwa die Generationenlage oder die sozialräumliche Einbindung). In einem zweiten Schritt diskutiert er die mit dem ideologiekritischen Programm verbundenen erkenntnistheoretischen Probleme. Vor diesem Hintergrund entwickelt er schließlich drittens ein Fundament fur die soziologische Analyse und Beratung gesellschaftlicher Prozesse. 27 In den Worten Mannheims ist "die Wissenssoziologie (...) eine neuerdings entstandene soziologische Disziplin, die als Theorie eine Lehre von der sogenannten ,Seinsverbundenheit' des Wissens aufzustellen und auszubauen und als historisch-soziologische Forschung diese ,Seinsverbundenheit' an den verschiedenen Wissensgehalten der Vergangenheit und Gegenwart herauszustellen bestrebt ist." (Mannheim 1969: 227) Eine so konzipierte Wissenssoziologie müsse zunächst deutlich machen, dass es faktisch keine allein immanenten Eigenentwicklungen von Erkenntnisprozessen gebe. Sie solle auch zeigen können, dass die das Wissen bestimmenden Seinsfaktoren nicht nur der Erzeugung von Wissen zugrunde liegen, sondern es auch in seiner inhaltlichen Gestalt, oder, wie Mannheim sagt, seiner "Aspektstruktur" (Begriffe, Kategorien, Problemkonstellationen) 28 prägen: "Aspektstruktur bezeichnet in diesem Sinne die Art, wie einer eine Sache sieht, was er an ihr erfaßt und wie er sich einen Sachverhalt im Denken konstruiert (... ) Von den Merkmalen, durch die die Aspektstruktur einer Aussage charakterisierbar ist, von den Kriterien, durch die sie in der Zurechenbarkeit bestimmbar ist, wollen wir hier nur einige anführen: Bedeutungsanalyse der zur Anwendung gelangenden Begriffe, das Phänomen des Gegenbegriffs, das Fehlen bestimmter Begriffe, Aufbau der Kategorialapparatur, dominierende Denkmodelle, Stufe der Abstraktion und die vorausgesetzte Ontologie." (Mannheim 1969: 234) Wissen ist fur Mannheim unabdingbar ein kooperativer Gruppenprozess (Mannheim 1969: 3ff).29 So wie sich das Wissen des Einzelnen aus den besonderen sozialen und raumzeitlichen Bedingungen seines Aufwachsens - etwa auf der Stadt oder auf dem Land 27 Wirth (1969: XVI) verweist in seinem Vorwort zur Neuauflage von "Ideologie und Utopie" auf die Nähe zwischen Mannheims Vorstellungen über die Möglichkeit von objektiver Erkenntnis und dem Programm des amerikanischen Pragmatismus. 28 Forschungspraktisch könne dies so geschehen, dass man zunächst bspw. unterschiedliche Denkstile oder Weltanschauungen im politischen Raum rekonstruiere, dann nach ihren Trägergruppen frage und schließlich die Zusammenhänge zwischen beidem in den Blick nehme. 29 Etwa gleichzeitig vertritt auch schon Ludwig Fleck diese Position und macht sie zur Grundlage seiner empirischen Untersuchung über die Genese medizinischen Wissens (vgl. Kapitel 2.2.3).
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aufbaut, so spielen auf der Ebene der Weltanschauungen und auch wissenschaftlichen Theorien kollektive Prozesse eine zentrale Rolle. Dazu gehören Generationenlagen und spezifisch damit einher gehende Erfahrungsmomente ebenso wie Prinzipien der geistigen Konkurrenz oder der Bildung von Denkschulen. 30 Obwohl Mannheim sein wissenssoziologisches Programm umfassend anlegt, konzentriert er sich in seinen materialen Analysen auf die politischen Weltanschauungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, auf die Analyse von Ideologien und Utopien. 31 Gegen seine These der unabänderlichen Seinsbezogenheit und Standortgebundenheit solcher Weltanschauungen, von der er nur naturwissenschaftlich-mathematisches Wissen ausnimmt,32 wird sofort der Vorwurf des Relativismus erhoben: Wo alle Weltanschauung mithin partiell und parteiisch sei, verschwänden die notwendigen Kriterien rur eine einstufende Bewertung der unterschiedlichen Positionen, ja dadurch werde die Erkenntnis von Wahrheit überhaupt unmöglich. Diesem Vorwurf begegnet Mannheim mit einem "relationalen" Wahrheitsbegriff - auch wenn keine Position rur sich das Erkennen von Wahrheit beanspruchen könne, so sehe doch jeder Standpunkt einen Aspekt, den andere nicht sehen. Die soziologische Aufgabe bestehe daher im Relationieren der Standpunkte, d.h. in der Rekonstruktion, Reflexion und dem In-BeziehungSetzen dessen, was jeweils ,richtig' gesehen werde. Damit will Mannheim dem Problem entkommen, das er bei Karl Marx sieht: dort wo die Ideologiehaftigkeit nur dem Gegner unterstellt wird, bleibt unbesehen, von welchem Standpunkt, im Namen welcher Wahrheit man selbst denn spricht. Womit lassen sich also die Aussagen über die Standortbezogenheit der Weltanschauungen anderer legitimieren? Worin liegt der eigene Zugang zur Wahrheit? Während Marx bei der Beantwortung dieser Fragen auf die unterstellte Objektivität wissenschaftlich-theoretischer Erkenntnis rekurriert und sie mit politischer Parteinahme verknüpft, wählt Mannheim eine andere Antwort: Er vertraut auf die Unabhängigkeit der gemäß einem von Alfred Weber entlehnten Begriff - "sozial freischwebenden Intelligenz" und die Kraft argumentativer Rationalität. 33 ,Objektive Erkenntnis' setzt zwar damit ähnlich wie bei Marx einen unabhängigen Beobachterstandpunkt voraus, der von der Seinsbezogenheit des Wissens unberührt zu bleiben scheint. Allerdings lehnt Mannheim die Annahme ab, die wissenschaftliche Analyse allein könne die ,tatsächliche Faktizität' der Verhältnisse im direkten Zugang erfassen. Sie vermag jedoch durch ihren herausgehobenen Beobachterstandpunkt zu erkennen, was an den jeweiligen Positionen oder Weltanschauungen als ,zutreffend' gelten kann. Dadurch setzt sie aus dem Puzzle der ,richtigen Ele30 Ohne ausdrücklichen Bezug auf Mannheim, aber mit expliziter Verortung in der damaligen wissenssoziologischen Debatte benutzt Fleck ähnliche Konzepte wie bspw. dasjenige des "Denkstils" (vgl. Kap. 2.2.3). 3J Mannheim (1969) unterscheidet drei Ideologiebegriffe: den partikularen Ideologiebegriff (dem Gegner wird eine absichtliche Täuschung unterstellt), den totalen Ideologiebegriff a la Marx (das gesamte Denken des Gegenüber ist ungewusste Täuschung) und den allgemeinen Ideologiebegriff, der mit der Annahme einer prinzipiellen Standortgebundenheit des Denkens zusammenfällt. Vgl. zur Diskussion des Verhältnisses von Ideologie, Ideologiekritik und Wissenssoziologie die Beiträge in Lenk (1984) sowie Ritsert (2002). 32 Fast zur gleichen Zeit formuliert Fleck die Argumente, mit denen die Social Studies of Science etwa 40 Jahre später diesen von der an Mannheim anschließenden Wissenssoziologie beibehaltenen Sonderstatus des naturwissenschaftlichen Wissens wirkungsvoll angreifen (s.u. Kap. 2.2.3). 33 Auch heute lässt sich diesem Problem letztlich nur durch den Rekurs auf methodisch kontrollierte und dadurch nachvollziehbare Vorgehensweisen und den Verweis auf den Kollektivcharakter des wissenschaftlichen Unternehmens, auf argumentative Auseinandersetzungen und (vorläufige) Konsensbildungen begegnen. Allerdings hat die Idee der 'Wahrheit' als Referenzpunkt der wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse selbst zwischenzeitlich eine starke Relativierung erfahren.
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mente' verschiedener Perspektiven oder Standpunkte die ,angemessene' Beschreibung der Wirklichkeit zusammen. Sie bedient sich einer Methodik der kontrollierten Interpretation, um die Gültigkeit der Rekonstruktionsprozesse zu gewährleisten. Doch diese Lösung des Objektivitätsproblems gelingt nur scheinbar: Auch die Herausarbeitung der ,wahren' Aspekte einzelner Positionen bedarf der Prüfkriterien, die das ,Gültige' vom ,Ungültigen' trennen. Die Maßstäbe einer solchen Auswahl bleibt Mannheim jedoch schuldig - der Verweis auf methodisch kontrollierte Vorgehensweisen, bspw. die "dokumentarische Methode der Interpretation" bietet dafür keinen Ersatz. Trotz ihrer umfassenden wissenssoziologischen Grundlegung und der Erarbeitung von wichtigen Konzepten der Wissensanalyse ist Mannheims "Weltanschauungs-Interpretation" letztlich ein vergleichsweise abstraktes, auf die Untersuchung politischer Standpunkte, kollektiver Großgruppenlagen oder die Ebene der ,großen Ideen' bezogenes Unternehmen, das in erster Linie theoretische Erklärungen für Wissensprozesse - bspw. Generationenlagen und damit verknüpfte Kollektiverfahrungen, geistige Konkurrenzbeziehungen u.a. - fonnuliert, sich jedoch nicht in die Niederungen einer empirischen Analyse der alltäglichen Prozessierung von Wissen begibt. Im Rekurs auf Mannheim, Max Weber und die Philosophie des Pragmatismus hat Charles W. Mills (1940, 1963) wenige Jahre später und eher erfolglos eine solche Wendung der Wissenssoziologie eingefordert: Eine zentrale Aufgabe der Soziologie bestehe in der Rekonstruktion des Zusammenhangs gesellschaftlich erzeugter "Motivvokabularien" mit Situationen bzw. der Situiertheit von Handlungen und darüber hinaus in der Analyse der in einem historischen Kontext durch Sprache bzw. Diskurse verfügbaren Motivketten: 34 "A labour leader says he performs a certain act because he wants to get higher standards of living for the workers. A businessman says that this is rationalization, or a lie; that it is really because he wants more money for hirnself from the workers. A radical says a college professor will not engage in radical movements because he is afraid for his job, and besides, is a 'reactionary'. The college professor says it is because he just likes to find out how things work. What is reason for one man is rationalization for another. The variable is the accepted vocabulary of motives, the ultimates of discourse, of each man's dominant group about whose opinion he cares. Determination of such groups, their location and character, would enable delimitation and methodological control of assignment of motives for specific acts ( ... ) What is needed is to take all these terminologies of motive and locate them as vocabularies of motive in historic epochs and specified situations. Motives are of no value apart from the delimited societal situations for which they are the appropriate. They must be situated (... ) Motives vary in content and character with historical epochs and societal structures." (Mills 1940: 448ff)35
2.1.3 Die soziale Herkunft und Funktion der Klassifikationen: Emile Durkheim Bereits zwei Jahrzehnte vor Mannheim entwarf auch der französische Klassiker der Soziologie Emile Durkheim eine eigenständige Konzeption wissenssoziologischer Fragestellungen, die eine völlig andere Lösung der durch Marx und Engels aufgeworfenen Fragen anviTrom (2001) diskutiert die Bedeutung des Konzepts der MotivvokabuJarien fur die neuere symbolischinteraktionistische Bewegungsforschung im Anschluss an Snow, Gamson u.a. Luc Boltanski und Laurent Thevenot haben mit ihren empirischen Untersuchungen zur gesellschaftlichen Moralökonomie einige Überlegungen von Mills aufgegriffen (BoltanskifThevenot J991; Thevenot 1998,2001). ]5 Vgl. dazu auch Horowitz (1981). J4
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sierte. Als wichtigste Veröffentlichungen in diesem Zusammenhang gelten die gemeinsam mit Marcel Mauss verfasste Abhandlung "Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen" aus dem Jahre 1903 (Durkheim/Mauss 1987) sowie die daran anschließende Analyse der "Elementaren Formen des religiösen Lebens" aus dem Jahre 1912 (Durkheim 1984). Während Mannheim gesellschaftliche Erfahrungs- und Interesselagen zum Ausgangspunkt seiner Frage nach der Standortgebundenheit des Denkens machte, beschäftigte sich Durkheim mit Sozial- bzw. Gruppenstrukturen als den sozialen Grundlagen und Determinanten der logischen Klassifikationen und des "Kollektivbewußtseins". In der Durkheimtradition geht es dann auch sehr viel stärker um die Funktionsweise einer als emergent begriffenen Ebene der kollektiven Repräsentationen, um die Funktionalität der mentalen Klassifikationen fur die realen Gruppenstrukturen 36 und um den moralischen Zusammenhalt einer arbeitsteiligen, durch Spezialisierung und spezialisiertes Weltwissen vom Zerfall bedrohten Gesellschaft. Mit dem soziologisch verunglückten, weil ein einheitliches Kollektivsubjekt suggerierenden Begriff des "Kollektivbewußtseins,,37 bezeichnet Durkheim schon in den "Regeln der soziologischen Methode" (Durkheim 1999 [1895]) eine emergente soziale Ebene der kollektiven Vorstellungen, Denkkategorien, Klassifikationsweisen usw., die als Gruppenphänomen und -prozess der Weltwahrnehrnung der Individuen vorausgesetzt sind. Die Frage, wie sich der Nachweis der Sozialbedingtheit der Klassifikationssysteme fuhren ließe, fuhrt ihn zur Untersuchung "primitiver Klassifikationssysteme" australischer Stammesgesellschaften. Dort, im ,sozialwissenschaftlichen Ersatz' fur ansonsten unbeobachtbare historische Frühformen menschlicher Gemeinschaften, zeige sich deutlich - so DurkheimlMauss (1987) - wie die Logik der Klassifikation der Welt und der äußeren Natur von den sozialen Strukturen, den Klassifikationen der Stammesmitglieder hergeleitet würde und die Klassifikation der Natur dadurch die sozialstrukturelle Teilung der Gruppe reproduziere. Die Frage der Entstehung sozialer Strukturen selbst, also der noch ursprünglicheren Klassifikationssysteme, ist damit jedoch noch nicht beantwortet. In seiner Untersuchung der "Elementaren Formen des religiösen Lebens" erst bietet Durkheim dafur eine Erklärung an: Ihr Ursprung ist eine besondere kollektive Gemeinschaftserfahrung, aus der heraus das Verbindende, die Religion als Form der gesellschaftlichen Selbst-Vergötterung entsteht. In Zuständen kollektiver ,Erregung' entfaltet sich die gesellschaftliche Selbst- und Kollektiverfahrung der vom Einzelnen unabhängigen Wirklichkeit sui generis des Sozialen. Gleichzeitig wird dadurch der Zusammenhalt des Kollektivs erneuert und mit neuen ,Idealen' versehen: "Wenn die Religion alles, was in der Gesellschaft wesentlich ist, hervorgebracht hat, dann deshalb, weil die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist." (Durkheim 1984: 561) Und weiter: "Damit die Gesellschaft sich ihrer bewußt werden kann und dem Gefühl, das sie von sich hat, den nötigen Intensitätsgrad vermitteln kann, muß sie versammelt und konzentriert sein. Dann bewirkt diese Konzentration eine Überschwenglichkeit des moralischen Lebens, die sich in einer Summe von idealen Vorstellungen äußert, in denen sich das neue Leben abzeichnet, das damit erwacht ist (... ) Diese Schöpfung ist für sie nicht irgendeine Ersatzhandlung, mit der sie 36 Diese Fragestellungen werden von Claude Levi-Strauss (vgl. Kapitel 3.1.2.1), Michel Foucault (vgl. Kapitel 32), Pierre Bourdieu (vgl. Kapitel 2.2.2) und Mary Douglas (vgl. Kap. 4.3.3.2) jeweils in unterschiedlicher Weise aufgegriffen und weitergeführt. 37 Vgl. dazu König (1999: 31 ff).
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sich ergänzt, wenn sie einmal gebildet ist, es ist der Akt, mit dem sie sich bildet und periodisch erneuert." (ebd.: 565)
Aus der religiösen Kollektiverfahrung entstehen auch die ersten Raster der Kategorisierung von Welt, bspw. in der Unterscheidung von heiligen und profanen Sphären und Dingen: "Seit langem weiß man, daß die ersten Denksysteme, die sich der Mensch von der Welt und von sich selbst gemacht hat, religiösen Ursprungs sind (...) Die Menschen verdanken ihr nicht nur zu einem bedeutenden Teil den Inhalt ihrer Kenntnisse, sondern auch die Form, nach der diese Kenntnisse sich gebildet haben (... ) Das allgemeinste Ergebnis des Buches ist, daß die Religion eine eminent soziale Angelegenheit ist. Die religiösen Vorstellungen sind Kollektivvorstellungen, die Kollektivwirklichkeiten ausdrücken; die Riten sind Handlungen, die nur im Schoß von versammelten Gruppen entstehen können und die dazu dienen sollen, bestimmte Geisteszustände dieser Gruppen aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen." (Durkheim 1984: 27f)
Kollektive Erfahrungskategorien und Ordnungsvorstellungen wie Zeit, Raum, Persönlichkeit, Kausalität u.a. haben, so Durkheim, ihren Ursprung in religiösen Erfahrungen, also in "Kollektivgefühlen". Kategorien sind im historischen Prozess gesellschaftlich geschmiedete "Denkinstrumente" oder "Werkzeuge",38 welche ausgehend von der sich wiederholenden religiösen Urerfahrung die verschiedenen Zustände eines Kollektivs zum Ausdruck und damit auf den Begriffbringen. Um dies leisten zu können, bedürfen sie sozialer Konventionalisierung und Verbindlichkeit: "Wenn aber die Kategorien (...), so wie wir glauben, wesentlich Kollektivvorstellungen sind, dann drücken sie vor allem Kollektivzustände aus: Sie hängen von der Art ab, wie diese Kollektivität zusammengesetzt und organisiert ist, von ihrer Morphologie, von ihren religiösen, moralischen, wirtschaftlichen usw. Einrichtungen (...) Die kollektiven Vorstellungen sind das Ergebnis einer ungeheuren Zusammenarbeit, die sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit ausdehnt (... ) Daher kann die Gesellschaft die Kategorien nicht der Willkür der Individuen überlassen, ohne sich selbst aufzugeben. Um leben zu können, braucht sie nicht nur einen genügenden moralischen Konformismus; es muss auch ein Minimum an logischem Konformismus vorhanden sein, den sie nicht entbehren kann." (ebd., 36ff)
Wissenschaft ist für Durkheim eine säkularisierte Weiterführung und einseitige Vervollkommenung der Religion mit anderen Mitteln, an deren Autorität und Wahrheitsgehalt wir kollektiv glauben. So überträgt er die Ergebnisse und Schlussfolgerungen seiner Analyse der religiösen Klassifikationssysteme auf die Begriffsapparate der modemen Wissenschaften und des modemen Denkens überhaupt. Begriffe bzw. Begriffssysteme sind demnach fixierte, kristallisierte "Denkarten" (ebd.: 579). Das sozial konventionalisierte und in seiner Integrationsfunktion unverzichtbare, un- weil überpersönliche Begriffs- und damit Denksystem des Alltagslebens ist die Sprache; vermittels der Begriffe "kommunizieren die menschlichen Intelligenzen" (ebd.: 580). Sprache - und damit das "System der Begriffe" ist ein kollektives Produkt: "Es drückt die Art und Weise aus, wie sich die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit die Objekte der Erfahrung vorstellt. Die Begriffe, die den verschiedenen Elementen der Sprache entsprechen, 38
Ann Swidler (1986) hat diesen Gedanken mit ihrer Formulierung von "culture as toolkit" neu belebt.
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Etappen der Wissenssoziologie sind also kollektive Vorstellungen (... ) Im Wort also verkörpert sich ein Wissen, an dem ich nicht mitgearbeitet habe, ein mehr als nur individuelles Wissen: (... ) Wenn es sich aber vor allem um kollektive Vorstellungen handelt, dann fügen sie dem, was uns unsere persönliche Erfahrung lehren kann, all das hinzu, was die Gemeinschaft an Weisheit und Wissen im Lauf der Jahrhunderte angesammelt hat." (ebd.: 581ff)39
Nach Durkheim ist das begriffliche Denken gleichursprünglich mit der Entstehung der Menschheit - es ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Aus der kollektiven Selbsterfahrung entstehen mit den Religionen die ersten Klassifikationssysteme als SelbstKlassifikationen des Sozialen und entwickeln sich von da aus zu Klassifikationen der Welt und ihrer Phänomene. Durkheims Ansatz der Wissenssoziologie wurde vielfach der Kritik unterzogen. Diese bezog sich einerseits auf die von ihm und Mauss vorgenommene Interpretation des Quellenrnaterials, und andererseits genereller auf den Vorwurf, die Entstehung der sozialen Klassifikationssysteme nicht hinreichend geklärt zu haben. So setzt bspw. die Kollektiverfahrung, aus der Religion entsteht, eben bereits ein Kollektiv voraus, das zumindest diese Erfahrung von anderen unterscheiden kann - also Klassifikation. Die funktionalistisch begründete Vorstellung einer Projektion sozialer Kategorien auf natürliche Phänomene entspreche nicht der Realität der untersuchten Stämme und argumentiere tautologisch: 40 "Durkheim 's class-category analysis is tautological: The categories are said to be projected onto the natural world, while the natural world reflects them back. This essentially reflective relationship does not prove causality, nor is there any inherent or compelling reason why there should be a primary causallink in all societies ofthis kind." (Manning 1982: 56)41
Ungeachtet dieser berechtigten Einwände wurden die von Durkheim aufgeworfenen Fragen zu einem wichtigen Impulsgeber nicht nur der Saussureschen Sprachtheorie (vgl. Kap. 3.1.2.1), sondern gerade auch der weiteren sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Klassifikationssystemen. 42 Saussures Sprachtheorie kann als sprachwissenschaftliche Präzisierung von Durkheims Begriff des Kollektivbewusstseins verstanden werden. Zunächst sind es vor allem der französische ethnologisch-anthropologische Strukturalismus von Claude Levi-Strauss und die strukturalistische Semiotik bei Roland Barthes u.a., die an dieses Programm anschließen. 43 Levi-Strauss hat wiederholt betont, mit seiner Ethnologie und Strukturalen Anthropologie das von Durkheim und Mauss entworfene Programm einer An diesem Zitat wird deutlich, wie eng BergerfLuckmann (J 980) in ihrer "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" an Durkheim anknüpfen bzw. welche große Nähe zwischen der Wissenssoziologie von Durkheim und der sozialphänomenologischen Tradition besteht (vgl. Kapitel 2.2. J). 40 Vgl. zur Kritik Needham (1963), König (J 999), Joas (J 987) und Bloor (1981). 41 Manning (1982) diskutiert weitere Kritikpunkte an Durkheims wissenssoziologischem Ansatz und erörtert verschiedene Lösungsvorschläge, die von Levi-Strauss, Douglas oder Bourdieu dafür formuliert wurden. Vgl. dazu auch BergerfLuckmann (J 980) und Douglas (1991). 42 Vgl. hierzu Kapitel 3.1. 43 Genauer: Levi-Strauss schließt an die Saussure-Rezeption durch Ronald Jakobson an, der mit seiner Phonologie deutlich macht, wie aus einzelnen nicht-sinntragenden Einheiten (den Phonemen) im Sprachsystem ein Sinnsystem entsteht. Bezüge zwischen den verschiedenen Spielarten des Strukturalismus und der strukturalistischen Semiotik zu Durkheim und zur Wissenssoziologie werden von Manning (1982) diskutiert. Manning verfolgt den Weg von Durkheim über den Strukturalismus zur Diskurstheorie von Foucault. Leach (1978) zeigt, wie strukturalistischsemiotische Perspektiven innerhalb der Kulturanthropologie sinnvoll adaptiert werden können. 39
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Analyse der Repräsentationen aufzugreifen und mit den Saussure folgenden Entwicklungen der Sprachtheorie zu verknüpfen. 44 In spezifischer Umkehrung von Durkheims Überlegungen behandelt er die Klassifikationsmuster als allgemeine Strukturen des menschlichen Geistes. Michel Foucault wiederum bezieht sich auf die Strukturale Anthropologie und Ethnologie von Levi-Strauss, wenn er sein eigenes Forschungsprogramm als dasjenige einer ,Ethnologie der eigenen, abendländischen Kultur' bezeichnet,45 Auch Bourdieus Analyse des Verhältnisses von "Klassen und Klassifizierungen" (Bourdieu 1982: 727ft) steht in wichtigen Teilen in der Nachfolge Durkheims, obwohl er eine marxistische Lösung fur das Problem der Herkunft der Klassifikationssysteme vorschlägt: Er fuhrt in seiner Theorie und Empirie der (Distinktions-)Praxis gesellschaftliche Klassifikationssysteme auf die soziale Klassendifferenzierung zurück (Kap. 2.2.2).46 Mary Douglas dagegen bemüht sich um eine stärker an Durkheim angelehnte Fundierung der Entstehung und des Gebrauchs von Klassifikationen und entwickelt dazu ihre Unterscheidung verschiedener Integrationsmodi sozialer Gruppen, die sich über spezifische Klassifikationsprozesse intern stabilisieren. 47 Im Anschluss an Durkheim und Ludwig Fleck arbeitet sie den Zusammenhang von Institutionen und Klassifikationen heraus (Douglas 1991; Kap. 4.3.3.2). Schließlich entstand in der neueren Wissenschaftsforschung ein starkes Interesse an der Genese, der Durchsetzung und den Implikationen wissenschaftlicher Klassifikationssysteme. Dieser Ansatz versteht sich als Alternativprogramm zu Durkheims Thesen und erklärt die Herkunft der Klassifikationen nicht aus ihren sozialen Funktionen, sondern aus ihrer sozialen Konstruktion (Bloor 1981).48
2.2 Die soziale Konstruktion des Wissens Ungeachtet ihres eindrucksvollen Erscheinens in den Werken von Emile Durkheim, Max Scheler oder Karl Mannheim fristet die Wissenssoziologie in den Jahrzehnten danach ein eher dürftiges Dasein. Die aufgeworfenen Fragen nach der sozialen Bedingtheit des Wissens verlieren - trotz des erwähnten Plädoyers von C.W. Mills, den Vermittlungsbemühungen von Robert Merton oder Werner Stark u.a. - in den 1940er und 1950er Jahren an Bedeutung. In ihrer Einleitung zum 1981 erschienenen Sonderheft "Wissenssoziologie" der Kölner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie bezeichnen die Herausgeber des Bandes, Nico Stehr und Volker Meja, die Wissenssoziologie deswegen als ein "in vieler Hinsicht eigenartiges und eher untypisches Spezialgebiet der Soziologie" (StehrlMeja 1981 b: 7). Sie sei zwar spätestens seit Ende der 20er Jahre "unbestrittener Bestandteil" der Vgl. Levi-Strauss (1967), seine Antrittsvorlesung vom Januar 1960 am College de France über "Das Feld der Anthropologie" (in Levi-Strauss 1975: 20ft) und seine Einleitung in die "Soziologie und Anthropologie" von Marcel Mauss (Levi-Strauss 1974). Vgl. auch Dosse (1996: 36ft). 45 Vgl. Kapitel 3.2.2; auch die Diskussionen bei Schäfer (1995) und Honneth (1985: 121ft). 46 Thevenot (1998) bilanziert die Entwicklung von Durkheim zu Bourdieu, von den primitiven Formen der Klassifikation zu den Klassifikationskämpfen und stellt Bezüge zur Wissenssoziologie von BergerfLuckmann her. Allgemeiner fokussiert er die Entwicklung der sozial-statistischen Selbstrepräsentation moderner Gesellschaften einerseits, und, im Anschluss an seine Arbeiten mit Luc Boltanski, pragmatisch-alltägliche Klassifikationsregime andererseits. 47 Exemplarisch etwa in ihrer Beschäftigung mit der Risikodebatte (DouglaslWildavsky 1982; zur Kritik KellerlPoferl 1998). 48 Ich greife das Thema der Klassifikationen an späterer Stelle (Kap. 4.3.3.2) wieder auf. 44
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Soziologie und treffe gleichzeitig auf ein enormes Interesse in vielerlei Disziplinen und Zusammenhängen. Gleichzeitig stagniere aber ihre Entwicklung und es bestünde der Eindruck, die Wissenssoziologie habe sich selbst erschöpft, "und zwar lange, bevor sie ihr umfassendes Programm überhaupt erst einlösen konnte" (ebd.). Stehr und Meja zielen durch ihre Auswahl der in den erwähnten Band aufgenommenen Beiträge auf eine zweifache Neukonstituierung der Wissenssoziologie: als Soziologie insbesondere wissenschaftlichen Wissens einerseits, als soziologiegeschichtliche Auseinandersetzung mit den im vorangehenden Abschnitt erwähnten bzw. diskutierten klassischen Programmatiken andererseits. 49 Gewiss reagieren Stehr/Meja damit auf eine wichtige Weiterfuhrung wissenssoziologischer Perspektiven, die Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Social Studies of Science ansetzt und sich der bei Mannheim ausgesparten naturwissenschaftlichen Wissensproduktion annimmt. Doch gleichzeitig weist die von ihnen vorgenommene Bilanzierung und Restrukturierung des wissenssoziologischen Feldes ein großes Defizit auf - die vollständige Ignoranz gegenüber einem Phänomen, das Roland Robertson (1993: 85) als allgemeinen, "sociology of knowledge turn" der Soziologie diagnostiziert. Robertson bezieht sich mit der Einschätzung einer, wissenssoziologischen Wende' der Soziologie im Unterschied zur einseitigen Darstellung bei Stehr/Meja auf den in den 1960er Jahren beobachtbaren Aufschwung interpretativer und kulturalistischer Positionen, die sich gegen den empirischen Positivismus der quantitativen Sozialforschung einerseits, gegen das systemtheoretische Paradigma von Talcott Parsons andererseits wenden. 50 Schon in den 1960er Jahren erfährt die Wissenssoziologie eine Reaktualisierung, die in einer wichtigen Akzentverschiebung zum Ausdruck kommt: Es geht nicht länger um die Reflexion der sozialen Bedingtheit des Wissens, sondern um die Konturierung eines theoretischen Verständnisses und empirischen Forschungsprogramms zur Analyse seiner sozialen Konstruktion. Unter dem Sammelbegriff des "social constructionism" (Burr 1997, Gergen 1999, Hacking 1999) werden mittlerweile im angelsächsischen Sprachraum eine Vielzahl von sozialwissenschaftlichen Perspektiven miteinander verknüpft, die sich auf unterschiedliche Weise mit der sozialen Herstellung von Wissen beschäftigen. 51 Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von ,Konstruktionismus' gesprochen, um eine Verwechslung mit Ansätzen des mathematischen oder ingenieurwissenschaftlichen Konstruktivismus zu vermeiden. Der Rekurs auf den Begriff der Konstruktion schließt letztlich an das Marxsche Tätigkeits- und Praxiskonzept an und betont die Herstellung von Wissen durch soziales Handeln. Dieser Herstellungsprozess kann, wie bspw. in der Wissenschaftsforschung (s.u. Kapitel 2.2.3) als intendiertes Phänomen analysiert werden. Überwiegend fungiert die Idee Vgl. die gleichzeitig von Meja/Stehr (1981) editierten Bände zum "Streit um die Wissenssoziologie" Kar! Mannheims Ende der InDer Jahre und das von Stehr/König (1975) herausgegebene Sonderheft 18 "Wissenschaftssoziologie" der KZfSS. Auffallend ist, dass die von Peter Berger und Thomas Luckmann ja schon Mitte der 196Der Jahre vorgelegte "Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie" wie im Übrigen das gesamte Werk von Alfred Schütz - in dem genannten Band über "Wissenssoziologie", von Marginalien abgesehen, nicht in Erscheinung tritt. 50 Im weiteren (sozial)philosophischen und sozialwissenschaftlichen Kontext ist diesbezüglich meist von einem "Iinguistic turn" (Richard Rorty), auch vom "cultural turn" (Roland Robertson) die Rede, der in der zunehmenden Beschäftigung mit Sprache, Bedeutung und Interpretation zum Ausdruck komme. Dass dabei wissenssoziologische Fragestellungen mit behandelt werden, bleibt vielfach unter der Oberfläche der Etikette verborgen. 51 Dazu zählen neben der hier behandelten Wissenssoziologie auch die verschiedenen (z.B. diskurstheoretischen) Positionen des Poststrukturalismus (vgl. Kapitel 3). 49
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der Konstruktion jedoch als Metapher für den Aspekt der Tätigkeit und das ,gemacht sein' durch Menschen, ohne einen entsprechenden Plan oder einen gezielten Herstellungsprozess zu implizieren. Mit der Hinwendung zum Thema der Konstruktion gehen Neuakzentuierungen dessen einher, was die soziologische Analyse als Wissen und am Wissen interessiert. Clifford Geertz (1964) plädiert in seinem Aufsatz über "Ideology as a Cultural System" für eine Neubegründung der Wissenssoziologie als einer "sociology of meaning". Die Anfang der 1960er Jahre anhebende Karriere des Symbolischen Interaktionismus bzw. der verschiedenen Ansätze des interpretativen Paradigmas kann als deutliches Indiz einer so transformierten Wiederaufnahme wissenssoziologischer Fragestellungen verstanden werden. Zunächst erfährt der Wissensbegriff selbst also eine Ausweitung: Nicht mehr nur Ideen, Klassifikationssysteme oder Ideologien bzw. Weltanschauungen gehören zu den Untersuchungsobjekten, sondern - wie bei Berger/Luckmann - die gesamte Bedeutungsstruktur der Wahrnehmung. Auch die bis dahin als ,tabu' geltende Wissensform des naturwissenschaftlichen Wissens wird nun zum Gegenstand wissenssoziologischer Analyse. Deren Fokus verschiebt sich gleichzeitig auf Formen der sozialen Konstruktion von WissenlBedeutungen in alltäglichen Interaktionsprozessen und in naturwissenschaftlichen Handlungskontexten. Damit werden die Fragestellungen der Klassiker sehr unterschiedlich aufgegriffen. Das klassische Werk der wissenssoziologischen Wende zur ,sozialen Konstruktion' ist die im Jahre 1966 erscheinende Arbeit "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie" von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. Berger und Luckmann (1980) formulieren einen integrativen allgemeinen Neuansatz der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie. 52 Sie bauen auf sozialphänomenologischen Vorarbeiten von Alfred Schütz und den Symbolischen Interaktionismus auf, rekurrieren aber gleichzeitig auf zentrale Ideen der Theorieprogramme von Weber, Marx und Durkheim. Ihre Position ist Gegenstand des nachfolgenden Kapitels 2.2.1. Auch Pierre Bourdieu entwickelt in der zweiten Hälfte der I960er Jahre seinen Ansatz eines "strukturalistischen Konstruktivismus" (Kapitel 2.2.2). Die von ihm vorgestellte "Theorie der Praxis" enthält wichtige wissenssoziologische Elemente. Bourdieu entfaltet sie in teilweise polemischer Auseinandersetzung mit den Positionen des interpretativen Paradigmas und bezieht sich stärker, aber ebenfalls in kritischer Absetzung, auf die theoretischen Ansätze des französischen (Post-)Strukturalismus. Den allgemeinen Leitfaden seines Entwurfs liefert jedoch eine marxistische Interpretation des Programms von Durkheim und Mauss, die eine Vereinseitigung der Theorie im Allgemeinen und ihrer wissenssoziologischen Elemente im Besonderen auf Fragen der Reproduktion von Klassenherrschaft durch ,Klassifikationsherrschaft' zur Folge hat. Eine dritte Erscheinungsform des konstruktivistischen "sociology of knowledge turn" bilden die auch bei StehrfMeja im Mittelpunkt stehenden Social Studies of Science (bzw. Social Studies ofScientific Knowledge). Karin Knorr-Cetina (1989) hat sie mit dem Etikett des "empirischen Konstruktivismus" belegt. Damit sind mehrere Forschungsprogramme bezeichnet, die seit Anfang der 1970er Jahre an die Wissenssoziologien von Kar! Mannheim und Ludwig Fleck anschließen, jedoch die dort vorgenommene Ausklammerung Im Weiteren beziehe ich die Rede von der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie immer auf die Position von Berger und Luckmann bzw. die daran anschließenden Ansätze; diese Begriffsverwendung ist enger als diejenige im Rahmen des "social constructionism".
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naturwissenschaftlichen und mathematischen Wissens ablehnen und gerade diese Wissensformen zu ihrem Gegenstand machen. Es geht dabei nicht länger, wie noch in der soziologischen Wissenschaftsforschung von Robert Merton u.a., um die Analyse der sozialen Verzerrung naturwissenschaftlichen Wissens und naturwissenschaftlicher Erkenntnisproduktion, also um Interessen, Machtkonstellationen etc., welche die Formulierung eines reinen, objektiven Wissens verhindern. Stattdessen werden im Sinne einer "symmetrischen Perspektive" (David Bloor) die Prozesse der sozialen Herstellung dessen, was als naturwissenschaftliches Wissen gilt, in den Blick genommen, also sowohl das als wahr und gültig anerkannte Wissen wie auch die als falsch verworfenen Erkenntnisse (Kapitel 2.2.3).
2.2. I
Wissen als soziale Konstruktion: Peter L. Berger/Thomas Luckmann
Die von Peter L. Berger und Thomas Luckrnann verfasste "Theorie der Wissenssoziologie" stellt in verschiedener Hinsicht ein Schlüsselwerk der weiteren wissenssoziologischen Entwicklungen dar. Als Wissen gilt ihnen alles, was in einer Gesellschaft als solches anerkannt ist; betont werden die Prozesse der gesellschaftlichen Objektivierung und der subjektiven Aneignung von Wissensbeständen. Die "gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" wird als permanenter Prozess der interaktiven Objektivierung und Stabilisierung sowie der sozialisatorischen Aneignung von Wissensordnungen beschrieben. In den Worten von Stephan Wolff ist dieses Theorieangebot der "wichtigste, vielleicht sogar der einzige allgemeintheoretische Versuch, die Gesellschaftstheorie von einem systematischen Verständnis der Bedeutung menschlicher Kommunikation für den gesellschaftlichen Aufbau der Wirklichkeit her zu entwickeln" (Wolff 1997: 50).53 Berger/Luckmann stützen ihre Theorie auf ein breites Fundament: Zunächst knüpfen sie an die philosophisch-anthropologischen Perspektiven von Hellmuth Plessner und Arnold Gehlen an: Die exzentrische Positionalität des Menschen, also die anthropologische Grundvoraussetzung einer selbstretlexiven Zuwendung ist Ausgangspunkt für eine durch Gehlen inspirierte Institutionentheorie, nach der Institutionen als gesellschaftlich konstruierter Instinktersatz die Voraussetzung für das Überleben der menschlichen Gattung darstellen. Im Anschluss an Marx und im Rekurs auf den Pragmatismus konzipieren Berger/Luckrnann menschliche Praxis als beständige arbeitsteilig-interaktive Tätigkeit der Externalisierung, Stabilisierung, Objektivierung und Wiederaneignung symbolischer Ordnungen: 54
53 Dabei schränkt er relativierend ein, BergerlLuckmann hätten mit ihrem Buch die Wissenssoziologie zugleich geöffnet und wieder geschlossen; gerade die anvisierte Neubegründung sowie die Eröffnung weiterer theoretischer und empirischer Horizonte sei durch die Hermetik des Entwurfs und den mitgeführten protosoziologischphänomenologischen Ballast verhindert worden (Wolff 1997: 46). Er verweist demgegenüber auf die gleichzeitig erschienenen Schriften Garfinkeis zur Ethnomethodologie, die ebenfalls an Alfred Schütz anschließen und - in den Augen von Wolff - eher dem Programm einer empirischen Wissenssoziologie entsprechen. Wolffübersieht dabei, dass Berger/Luckmann eine Grundlagentheorie entwickelt haben, die zahlreiche empirische Arbeiten - bspw. im Rahmen des Symbolischen Interaktionismus - anleitet, dazu aber der weiteren Übersetzung bedarf. Garfinkeis Programm formuliert keine grundsätzliche Alternative, sondern eine Möglichkeit einer solchen Übersetzung (vgl. Garfinkeis Anknüpfen an Schütz in Garfinkel 1981). 54 Zur Verortung der Programmatik der "Gesellschaftlichen Konstruktion" in der Marxschen Anthropologie vgl. insbesondere Luckmann (2002a).
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"Auf welche Weise entsteht gesellschaftliche Ordnung überhaupt? Die allgemeinste Antwort wäre, daß Gesellschaftsordnung ein Produkt des Menschen ist, oder genauer: eine ständige menschliche Produktion. Der Mensch produziert sie im Verlauf seiner unaufhörlichen Externalisierung." (Berger/Luckmann 1980: 55)
Max Webers Grundlegung der verstehenden Soziologie liefert ihnen das Fundament einer handlungstheoretisch angelegten Perspektive auf die Bedeutung des Sinnverstehens und das Soziale als Sinnzusammenhang. Mit Durkheim interessieren sie sich aber gerade für diejenigen Mechanismen, durch die symbolische Ordnungen als "ärgerliche Tatsache der Gesellschaft" (Ralf Dahrendorf), als entfremdete Produkte menschlichen Handeins und Zwang ausübende "soziale Dinge" (Emile Durkheim) erscheinen. Alfred Schütz wird mit seinen phänomenologischen Analysen der Konstitution von Wirklichkeit im individuellen Bewusstsein herangezogen, um die Aufschichtungen und Zusammenhänge zwischen individuellen und kollektiven Wissensvorräten zu beschreiben und die, Wirkweise' des Wissens bei der Strukturierung menschlicher Praxis zu erfassen. Sie führen Berger/Luckmann auch zur Betonung der Wirklichkeitsordnung der alltäglichen Lebenswelt, des Allerweltsoder Jedermann-Wissens als permanent produzierte und reproduzierte Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung. Die pragmatistische Sozialtheorie des Symbolischen Interaktionismus bietet dann nicht nur eine Vorstellung über die konkreten Aushandlungsprozesse von Situationsdefinitionen und Wissensbeständen,55 sondern mit der Meadschen Sozialisationstheorie auch die Grundgedanken dafür, wie gesellschaftliche objektivierte Wissensbestände in Sozialisationsprozessen wiederum angeeignet und damit weitergegeben werden. 56 Im Ergebnis entwickeln Berger/Luckmann eine Theorie der sozialen Konstruktion von Deutungs- und Handlungswissen, das gesellschaftlich institutionalisiert und in Sozialisationsprozessen an Individuen vermittelt wird. In dieser Theorie gilt als Wissen alles, was Bedeutung trägt, Sinn macht oder doch sinnvoll interpretiert werden kann, etwa Handlungsmuster, Deutungsmuster, Normen und Regeln, Sprache, Klassifikationen, Institutionen, Berufe, Gefühle und Empfindungen, Routine- und Referenzwissen. Der gesellschaftliche Wissensvorrat ist sehr komplex, keineswegs homogen und konsistent; es gibt soziale Strukturen seiner Verteilung und Differenzierung. Nicht jeder verfügt über alles Wissen; nicht jeder lebt damit - zumindest in modemen Gesellschaften - in der gleichen Welt. Es gibt Experten, Spezialisten für dies und das, aber auch unwissende Laien. Es gibt Hierarchien der Wissensverteilung und differenzierte, ungleiche Chancen, Wissen zu produzieren, gesellschaftlich durchzusetzen oder sich individuell anzueignen. Nach sozialen Orten und Gruppenzugehörigkeiten werden unterschiedliche Bestandteile dieses Wissensvorrates subjektiv angeeignet und relevant. Damit sind nicht Argumentationsprozesse gemeint, sondern, im Anschluss an das Thomas-Theorem, mehr oder weniger unbewusst und permanent ablaufende Prozesse wechselseitigen Anzeigens und Interpretierens dessen, um was es sich in einer Situation handelt. Dass solche Aushandlungsprozesse explizit werden und reflexive Zuwendung erfahren, ist ein empirischer Sonderfall, den Jürgen Habermas (I 981) in den spezifischen Handlungstypus des "Kommunikativen Handeins" fasst. Vgl. zu den Parallelen zwischen den Positionen von William I. Thomas und der Wissenssoziologie von BergerlLuckmann den Vergleich bei Hitzier (1999). Goffmans "Rahmen-Analyse", die ebenfalls an Alfred Schütz und auch an den Pragmatismus von William James anschließt, lässt sich als weitere Variation über das Thema der ,Definition der Situation' lesen (Goffman 1980). 56 Zur starken Affinität zwischen der Wissenssoziologie von BergerlLuckmann und dem Symbolischen Interaktionismus vgl. etwa Gildemeister (1997); zur pragmatistischen Tradition des Symbolischen Interaktionismus Strauss (1991). 55
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Berger/Luckmann (1980) entwickeln nun ein begriffliches Gerüst zur Analyse sozialer Phänomene, in dem Gesellschaft in zweifacher Weise gedacht wird: als objektive und subjektive Wirklichkeit zugleich. Was ist damit gemeint? Der Sinn, die wahrnehmbare Wirklichkeit der Welt erschließt sich dem erkennenden, deutenden, handelnden Subjekt immer als sozial konstruierter, als Wissen, das aus dem übersubjektiven gesellschaftlichen Wissensvorrat stammt und sowohl Inhalte wie Handlungsweisen, Regeln, Normen oder Moralvorstellungen umfasst. Dieser historisch entstandene und kontingente Wissensvorrat wird dem Individuum von den verschiedensten Vermittlungsinstanzen (z.B. Familie, Peergroups, Bildungseinrichtungen, Massenmedien) als objektiv gegeben vorgestellt und von den Subjekten in unterschiedlichsten Prozessen und Situationen angeeignet. Gesellschaft ist die in einer Vielzahl von symbolischen Sinnwelten objektivierte, d.h. institutionalisierte, legitimierte, realisierte Realität, gemachtes Faktum einerseits, sozialisatorisch angeeignete Realität andererseits. Es gibt kein begreifbares ,an sich' der Welt jenseits der Bedeutungszuschreibungen, auch wenn ihre materiale Qualität uns durchaus Widerstände entgegensetzt, Deutungsprobleme bereitet und nicht jede beliebige Beschreibung gleich evident erscheinen lässt. 57 Unser Deutungs- und Handlungswissen über die Welt ist Teil gesellschaftlich hergestellter, mehr oder weniger konflikthafter, im Fluss befindlicher symbolischer Ordnungen bzw. Wissensvorräte. Dadurch wird Wissen und Nicht-Wissen zugleich gesetzt: eine besondere, kontingente Sinnordnung der Welt. Prozesse gesellschaftlicher Objektivierung von Sinn - etwa durch Zeichensysteme, Institutionen, Sprache und materielle Objekte - sind konstitutiv für das ,soziale Wirklichwerden' der Wirklichkeit: "Wissen über die Gesellschaft ist demnach Verwirklichung im doppelten Sinne des Wortes: Erfassen der objektivierten gesellschaftlichen Wirklichkeit und das ständige Produzieren eben dieser Wirklichkeit in einem." (BergerILuckmann 1980: 71)
Die Beziehung zwischen objektiviertem Wissen und gesellschaftlicher Handlungspraxis wird dialektisch gedacht. Jedes Deuten und Handeln greift auf typisierte Wissenselemente zurück. Diese werden im Deutungs- und Handlungsprozess aktualisiert, transformiert, angesichts neuartiger Problemsituationen modifiziert oder erweitert. Die Vortypisierung bietet zugleich Entlastung, Ermöglichung und Einengung von Deuten und Handeln. Gesellschaft ist objektivierte und deswegen objektive Wirklichkeit einerseits, subjektiv angeeignete/gebrochene und deswegen subjektive Wirklichkeit andererseits. Der subjektive Wissensvorrat umfasst nicht nur reflexiv verfügbare Deutungsmuster, sondern auch das routinehaft bzw. habituell verfügbare Rezeptwissen für Alltagspraktiken und entspricht insoweit dem Konzept und den Funktionsweisen des Habitus bei Bourdieu, sofern man vom dort damit verkoppelten ,Strukturreduktionismus' absieht. 58 Die Aktualisierung von Elementen des Wissensvorrates erfolgt meist als pragmatisch-fragloser Routineprozess, der nur in Situationen der Irritation und Störung, wenn es Probleme gibt, eine besondere Zuwendung und Reflexionsarbeit notwendig macht. Die intersubjektiv beständig justierte Wirklichkeitsordnung gilt als Faktum. Der Sinn von Phänomenen wird im einzelnen Bewusstsein nur insoweit ,erzeugt', als dort die praktische Sinnattribution zu weltlichen Phänomenen im Vgl. allgemein SchützlLuckmann (1979: 30ft); mit Blick auf die naturwissenschaftliche Wissensproduktion z.B. Pickering (1995). 58 Vgl. die Diskussion bei Meuser (1999). 57
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Rückgriff auf den verfiigbaren Wissens- bzw. Typisierungsvorrat erfolgt - Sinn ist also immer sozialer Sinn bzw. in seinen verbleibenden subjektiven Attributen der soziologischen Analyse nicht zugänglich. Mit dem Begriff Wissen werden mithin sozial objektivierte Angebote der Sinnzuweisung (Bedeutungen) bezeichnet, die von der Art und Weise der Routinepraxis des Essens bis hin zu theoretischem Sonderwissen reichen. Der gesellschaftliche Wissensvorrat bildet ein Sinnreservoir, das den Einzelsubjekten als historisch vorgegeben und sozial auferlegt, als sozio-historisches Apriori entgegentritt. Die intersubjektiv verbindlichen Erfahrungsschemata bauen auf elementaren Typisierungen der Wirklichkeit auf und bilden eine grundlegende Schicht gesellschaftlich anerkannter Problemlösungen, die durch sprachliche Objektivierung in einen geschichtlichen Bedeutungszusammenhang gestellt und Teil des kollektiven Wissensvorrates werden; insoweit konstituieren Zeichensysteme ein sozio-historisches Apriori (Luckmann 2003: 20t). Die Möglichkeitsspielräume menschlichen HandeIns im individuellen Leben werden zuerst durch Gattungsmerkmale, dann durch die Sozialstruktur und soziale Schichtung (also durch Verhältnisse von Institutionen, Gruppen, Klassen u.a.) geformt (Luckmann 2002b). Für den Aufbau subjektiver Wissensvorräte, deren Bestandteile überwiegend aus dem, Warenlager' der objektiven Wissensvorräte stammen, ist die sozialstruktureIle Prägung der kollektiven Wissensorganisation und -vermittlung von entscheidender Bedeutung. Die Sozialstruktur ist die soziologisch bedeutsamste Ebene der Strukturierung des individuellen Handelns und der gesellschaftlichen Wissensverteilung (Knoblauch/Raab/ Schnettler 2002). Wie entsteht nun überindividuelles Wissen? Basale gesellschaftliche Prozesse der Wissenskonstruktion verlaufen als Stufenabfolge der situativen Externalisierung von Sinnangeboten, der interaktiven Verfestigung von Handlungen und Deutungen in Prozessen der wechselseitigen Typisierung durch unterschiedliche Akteure, der habitualisierten Wiederholung, der Objektivation durch Institutionenbildung etwa in Rollen und der Weitergabe an Dritte in Formen sozialisatorisch vermittelter Aneignung. Typisierungen sind nichts anderes als pragmatische, handlungsorientierte Taxonomien - klassifizierende Einordnungen von Phänomenen in eine umfassendere Sinnstruktur, eine symbolische Ordnung. Institutionen stellen Wissensvorräte aufübersituative Dauer, ,verschleiern' ihre geschichtliche Kontingenz und setzen dazu verschiedenste Kontroll- und Sanktionsmechanismen ein. Institutionen sind legitimierte Regelkomplexe fiir Handeln (Luckmann 2002c).59 Mit der institutionellen Vorstrukturierung von Deutungs- und Handlungsmustern entsteht zugleich das Problem der Kontrolle von Abweichungen. Entsprechend werden Sanktionspotenziale aufgebaut. Institutionen schließen schon durch ihr Vorhandensein, durch die Art und Weise ihrer spezifischen sinnhaften Ordnung von Wirklichkeitsbereichen Alternativen aus. Sie gewinnen ihren Charakter als objektive Faktizität vor allem dann, wenn sie an Dritte vermittelt werden, die an ihrer Entstehung nicht beteiligt waren (Berger/Luckmann 1980: 49 ft): "Das Fortwirken einer Institution gründet sich auf ihre gesellschaftliche Anerkennung als ,permanente' Lösung eines ,permanenten' Problems. Potentielle Akteure für institutionalisierte Aktionen müssen daher systematisch mit institutionalisiertem Sinn bekanntgemacht werden. Ein ,Erziehungs'prozeß wird nötig. Die institutionalen Bedeutungen müssen sich dem Bewußtsein des Individuums kraftvoll und unvergeßlich einprägen (... ) Die objektivierte Sinnhaftigkeit institutionalen HandeIns wird als, Wissen' angesehen und als solches weitergereicht. (...) Weiterga59 Zur Prägung von Institutionalisierungsprozessen durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse vgl. Luckmann (1992: 140ft).
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Etappen der Wissenssoziologie be braucht immer einen gesellschaftlichen Apparat. (... ) Der Charakter des Apparates variiert natürlich von Gesellschaft zu Gesellschaft." (BergerlLuckmann 1980: 74t)
Institutionalisierungsprozesse implizieren ,überzeitliche' Geltung. Dafur werden Erklärungen und Rechtfertigungen fur das Bestehen der Institutionen und ihren Geltungsanspruch entwickelt - es wird eine entsprechende Geschichte erzählt, in der die institutionelle Ordnung begründet und sowohl als kognitiv wie normativ einzig mögliche ausgewiesen wird. Sprache ist fiir diese Prozesse unabdingbar. Der Objektivitätscharakter der konstruierten Wirklichkeit wird durch unterschiedliche Mittel legitimiert. Gesellschaftliche oder gruppenspezifische Wissensvorräte und symbolische Ordnungen bilden keine harmonische Gesamtordnung, sondern stehen häufig in Konkurrenzbeziehungen. Dann entscheiden Interessen konkreter Personengruppen und Herrschaftsverhältnisse über ihre relative Geltung: "Wer den derberen Stock hat, hat die bessere Chance, seine Wirklichkeitsbestimmung durchzusetzen." (ebd.: 117) Macht in der Gesellschaft schließt die Verfugung über Sozialisationsprozesse ein, und "damit die Macht, Wirklichkeit zu setzen (...)" (ebd.: 128). Die ,Einverleibung' der Institutionen in die Individuen läuft über Rollen. Institutionen werden von Individuen durch deren Rollenspiel verwirklicht, reproduziert und transformiert: "Nur in ihrer Repräsentation durch Rollen manifestiert sich die Institution als wirklich erfahrbar. Mit ihrem Ensemble ,programmierter' Handlungen ist sie so etwas wie ein ungeschriebenes Textbuch eines Dramas, dessen Aufführung von der immer wiederkehrenden Darstellung vorgeschriebener Rollen durch lebendige Akteure abhängt (... ) In der Perspektive der institutionalen Ordnung erscheinen die Rollen als institutionelle Repräsentationen und als mögliche Vermittler zwischen den verschiedenen institutionell objektivierten Wissensaggregaten. In der Perspektive der Rollen selbst hat jede einzelne Rolle ihr gesellschaftlich festgelegtes Wissenszubehör. Seide Perspektiven weisen auf das eine umfassende Phänomen hin: die fundamentale Dialektik der Gesellschaft. Von der ersten Perspektive her wäre das Resumee: Gesellschaft ist nur, wo der Einzelne sich ihrer bewußt ist. Von der zweiten her wäre es: Das individuelle Bewußtsein ist immer gesellschaftlich determiniert (... ) Für die Wissenssoziologie ist Rollenanalyse besonders wichtig, weil sie die Brücken zwischen den Makro-Sinnwelten einer Gesellschaft und den Formen, in denen diese Sinnwelten für den Einzelnen Wirklichkeitscharakter erhalten, sichtbar macht." (ebd.: 79ft)
Die Beschäftigung mit den Prozessen der Institutionalisierung und ihren Ergebnissen Komplexen aus Institutionen/Rollen - fuhrt Berger/Luckmann zur Beschreibung einer in unterschiedlichste "Subsinnwelten" differenzierten - und in Teilen ,verdinglichten ,60 Wissensstruktur der modemen Gesellschaften, zu dem also, was Alfred Schütz in seinen Analysen der "Strukturen der Lebenswelt" erläutert. So wird etwa davon gesprochen, dass es in modemen Gesellschaften zur Ausdifferenzierung von Sonderwissensbeständen kommt, die von Expertengruppen getragen werden und spezifische Subsinnwelten mit entsprechenden Zugangsregeln, Praktiken und Rückwirkungen auf den Alltag konstituieren (SchützlLuckmann 1979: 363ff, SchützlLuckmann 1984).
"Das Grund-,Rezept' für die Yerdinglichung von Institutionen ist, ihnen einen ontologischen Status zu verleihen, der unabhängig von menschlichem Sinnen und Trachten ist." (BergerfLuckmann 1980: 97)
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Institutionen bedürfen, wie erwähnt, der symbolischen Rechtfertigung, wenn sie über längere Phasen in der Zeit existieren und für (nachgeborene) Andere gelten sollen. Den Prozess, in dem dies geschieht, nennen Berger/Luckmann "Legitimierung". Dabei handelt es sich um eine "sekundäre Objektivation von Sinn" (ebd.: 98), die den ,Sinn der Institutionen' noch einmal in expliziten Legitimationstheorien aufbereitet. Solche Theorien können in unterschiedlichen Graden - etwa als alltäglich tradierte Sprichwörter oder umfassende theoretische Gedankengebäude - ausgearbeitet sein. Betont wird auch das Zusammenspiel von Wissen und Normativität: "Daß Legitimation sowohl eine kognitive als auch eine normative Seite hat, darf nicht außer acht gelassen werden. Sie ist, mit anderen Worten, keineswegs einfach eine Frage der ,Werte', sondern impliziert immer auch, Wissen'. (...) Legitimation sagt dem Einzelnen nicht nur, warum er eine Handlung ausführen soll und die andere nicht ausführen darf. Sie sagt ihm auch, warum die Dinge sind, was sie sind. Mit anderen Worten: bei der Legitimierung von Institutionen geht das, Wissen' den, Werten' voraus." (ebd.: 100)
Die erwähnten theoretischen Konstruktionen zur Legitimation sozialer Subsinnwelten werden durch unterschiedlichste Formen "gesellschaftlicher Organisation" gestützt. Neben Wissen bzw. ,kognitive Gültigkeit' tritt die Stabilisierung durch Macht- und Herrschaftsbeziehungen und deren nicht-sprachliche Ressourcen. Resümierend lässt sich festhalten, dass Berger/Luckmann, ausgehend von den basalen Prozessen der interaktiven Typisierung, Routinisierung und Habitualisierung von Wissen die Konzepte der InstitutioniInstitutionalisierung, der Rolle, der LegitimationiLegitimierung und der Sozialstruktur vorschlagen, um die gesellschaftlichen Objektivierungsweisen der Wissensordnung zu beschreiben. Im Anschluss an die Untersuchung der "Gesellschaft als objektive Wirklichkeit" wenden sich Berger und Luckmann der "Gesellschaft als subjektiver Wirklichkeit" und damit der Frage nach der Internalisierung dieser Ordnung in das individuelle Bewusstsein zu. Dieser Aneignungsprozess bildet die allgemeine Grundlage fur menschliches Handeln in historisch konkreten Gesellschaften. Menschen bringen qua Geburt eine "Disposition für Gesellschaft" mit auf die Welt und internalisieren insbesondere in Prozessen der primären Sozialisation die basalen Wissensstrukturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit (BergerlLuckmann 1980: 139ft). Im Anschluss an sozialisationstheoretische Überlegungen von William James, Charles H. Cooley und insbesondere George Herbert Mead gehen sie von der Vermittlung der gesellschaftlichen Strukturen in das kindliche Bewusstsein durch signifikante Andere aus, ein Prozess, der über die Identifikation mit diesen Anderen deren Einstellungen zum eigenen Selbst in einem dialektischen Prozess spiegelt. Über die Generalisierung der signifikanten Anderen kommt es schließlich zur Übereinstimmung oder "Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit. Was ,außen' wirklich ist, entspricht dem, was ,innen' wirklich ist. Objektive Wirklichkeit kann leicht in subjektive Wirklichkeit ,übersetzt' werden - und umgekehrt -, wobei Sprache natürlich das Hauptvehikel dieses fortwährenden Übersetzungsprozesses in beiden Richtungen ist. Wichtig ist jedoch, daß die Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit nicht vollkommen sein kann. Die beiden Wirklichkeiten entsprechen einander, ohne sich zu decken. Immer ist mehr objektive Wirklichkeit ,erreichbar', als tatsächlich von irgendeinem Bewußtsein internalisiert wird, und zwar einfach deshalb, weil die Inhalte der Sozialisation durch die gesellschaftliche Zuteilung von Wissen bestimmt sind (... ) Andererseits gibt es immer auch Bestandteile der subjektiven
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Etappen der Wissenssoziologie Wirklichkeit, die nicht in der Sozialisation wurzeln. Das des eigenen Körpers lnnesein ist zum Beispiel vor und unabhängig von allem, was in der Gesellschaft über ihn erlernbar ist. Das subjektive Leben ist nicht völlig gesellschaftlich. Der Mensch erlebt sich selbst als ein Wesen innerhalb und außerhalb der Gesellschaft. Das deutet daraufhin, dass die Symmetrie zwischen objektiver und subjektiver Wirklichkeit niemals statisch, niemals ein unabänderlicher Tatbestand ist. Sie muß immer in actu produziert und reproduziert werden." (BergerlLuckmann 1980: 144t)
Aus der aus Sicht des Kindes relativen ,Alternativlosigkeit' bezüglich der signifikanten Anderen resultiert die tiefgreifende Einschreibung des durch diese Anderen spezifisch gefilterten gesellschaftlichen Wissensvorrates in das kindliche Bewusstsein. Demgegenüber setzen die Prozesse der sekundären Sozialisation in unterschiedliche gesellschaftliche Subsinnwelten erst zu einem Zeitpunkt ein, wo eine weitreichende Grundformung, eine Ausstattung mit den erforderlichen Basiskompetenzen des Lebens in Gesellschaft erreicht ist. Sekundäre Sozialisation ist ein Prozess, der sich über das ganze Leben erstrecken kann und immer wieder neue Sozialisationen im Hinblick auf erlebte Subsinnwelten erfordert: "Sekundäre Sozialisation ist die Internalisierung institutionaler oder in Institutionalisierung gründender ,Subsinnwelten '. Ihre Reichweite und ihre Eigenart werden daher von der Art und dem Grade der Differenziertheit der Arbeitsteiligkeit und der entsprechenden gesellschaftlichen Verteilung von Wissen bestimmt. Auch allgemein relevantes Wissen kann natürlich gesellschaftlich bemessen sein - zum Beispiel in Form von Klassen-, Versionen'. Was wir jedoch hier meinen, ist die gesellschaftliche Verteilung von ,Spezialwissen', das heißt Wissen, das als Ergebnis der Arbeitsteiligkeit entsteht und dessen ,Träger' institutionell bestimmt sind. Wir können sagen, daß sekundäre Sozialisation (...) der Erwerb von rollenspezifischem Wissen ist, wobei die Rollen direkt oder indirekt von der Arbeitsteiligkeit herkommen (...) Die sekundäre Sozialisation erfordert das Sich-zu-eigen-Machen eines jeweils rollenspezifischen Vokabulars. Das wäre einmal die Internalisierung semantischer Felder, die Routineauffassung und -verhalten auf einem institutionalen Gebiet regulieren. Zugleich werden die ,stillen Voraussetzungen', Wertbestimmungen und Affektnuancen dieser semantischen Felder mit erworben (... ) auch die Subwelten sind mehr oder weniger kohärente Wirklichkeiten mit normativen, kognitiven und affektiven Komponenten." (BergerlLuckmann 1980: 149)
In der sekundären Sozialisation spielen Identifikationsprozesse eine untergeordnete Rolle. Da der Sozialisand um die verfügbaren alternativen Subsinnwelten mehr oder weniger weiß und vor dem Hintergrund seiner Primärsozialisation auch eine gewisse Distanz zu den sich ihm neu erschließenden Wirklichkeitsbereichen aufbringt, sind hier stärkere äußere Stützungen des Prozesses - durch Legitimationstheorien, Zwang etc. - notwendig, wenn aus der Perspektive der institutionellen Felder eine möglichst tiefgehende Wirkung auf den Sozialisanden erreicht werden sol1. 61 Die Aufrechterhaltung der jeweiligen Sinnbezüge im individuellen Bewusstsein erfordert unablässig einen kommunikativen Input: "Das notwendigste Vehikel der Wirklichkeitserhaltung ist die Unterhaltung. Das Alltagsleben des Menschen ist wie das Rattern einer Konversationsmaschine, die ihm unentwegt seine subDie modeme Erfahrung der Vielfalt von auf dem Markt der Möglichkeiten angebotenen, Welten' erzeugt eine generalisierte Disposition der Rollendistanz, die sich nicht nur auf ungeliebte Rollen, sondern auf das Rollenspiel überhaupt bezieht: "Unsere heutige Situation schreit nach Analysen des Wirklichkeits- und Identitätspluralismus in seinem Verhältnis zur strukturellen Dynamik des Industrialismus und besonders zu den ihm eigentümlichen Modellen für gesellschaftliche Umschichtung." (ebd.: 184f)
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jektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekonstruiert. (... ) Der Austausch von ein paar Worten wie: ,So allmählich wird's Zeit, daß ich zum Bahnhof gehe' und: ,Stimmt, Schatz, mach's gut im Büro', setzt eine ganze Welt voraus, innerhalb deren die anscheinend so einfachen Aussagen Sinn haben. Kraft dieser Eigenschaft bestätigt ein solcher Austausch die subjektive Wirklichkeit der Welt." (Berger/Luckmann 1980: 163) "Konversationsmaschinen" sind also Objektivierungsmaschinen: die sprachliche Vergegenwärtigung von Welt blendet wechselnde Wirklichkeitsbereiche ein, andere aus. Sprache objektiviert Welt, weil sie den Erfahrungen eine Ordnung unterlegt: "Durch die Errichtung dieser Ordnung verwirklicht die Sprache eine Welt in doppeltem Sinne: sie begreift sie und erzeugt sie." (ebd.: 164) Der permanente Gebrauch einer gemeinsamen Sprache bildet den Grundmodus der permanenten Konstitution von Wirklichkeit. Die subjektive Wirklichkeit bedarf der beständigen gesellschaftlichen Vergegenwärtigung ihrer Plausibilitätsstrukturen, obwohl sie immer auch in gewissen Grenzen im Fluss ist: "In-der-Gesellschaft-Sein ist an sich schon ein ständiger Modifikationsprozeß" (ebd.: 167). In spezifischen Krisensituationen und Ausnahmemomenten sind dann jedoch mehr oder weniger plötzliche und komplette Transformationen dieser subjektiven Wirklichkeitsverhältnisse - bspw. im Rahmen von Konversionsprozessen - möglich. Zwischen der "Gesellschaft als objektiver Wirklichkeit" und der "Gesellschaft als subjektiver Wirklichkeit" interveniert die Sozialstruktur in die Internalisierungsprozesse der Sozialisation: "Die Sozialisation findet immer innerhalb einer spezifischen Gesellschaftsstruktur statt. Nicht nur ihre Inhalte, auch das Maß ihres ,Erfolges' haben sozial-strukturelle Grundlagen und sozialstruktureIle Folgen. Mit anderen Worten: mikrosoziologische oder sozialpsychologische Analysen der Intemalisierungsphänomene müssen immer auf dem Hintergrund eines makrosoziologischen Verständnisses ihrer strukturellen Aspekte vorgenommen werden." Und ergänzend heißt es: "Unser Gedanke impliziert die Notwendigkeit eines makrosoziologischen Horizontes für die Analysen der Internalisierung, d.h. ein Verständnis der Gesellschaftsstruktur, in der die Internalisierung vor sich geht." (ebd.: 174) Mit diesen Hinweisen auf die sozialstrukturelle Prägung der individuellen Aneignung gesellschaftlicher Wissensvorräte schließen BergerlLuckmann den Kreis zurück zum alten Programm der Wissenssoziologie: der Fragen nach den sozialen Strukturierungen des Wissenserwerbs, auf die schon Marx und Mannheim hinwiesen. Nicht zufcillig erinnern sie gegen Ende ihrer Ausführungen noch einmal an ersteren: "Die Einsicht in die Dialektik zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und individuellem Dasein in der Geschichte ist keineswegs neu. Kein geringerer als Marx hat sie der modernen GeseIlschaftsphilosophie hinterlassen. Die theoretische Orientierung der Sozialwissenschaften braucht dringend einen Schuß Dialektik." (ebd.: 199) Das wissenssoziologische Programm von BergerlLuckmann hat, so lässt sich an dieser Stelle bilanzieren, verschiedene Vorzüge und einige Nachteile. Die wesentlichen Vorteile
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liegen darin, dass beide Ebenen gesellschaftlicher Wissensverhältnisse - kollektive und individuelle Wissensvorräte - in ihren wechselseitigen Konstitutionsverhältnissen und als pennanenter Herstellungsprozess im Blick gehalten werden. Mit der Betonung der Interaktionsprozesse bei der Wissensgenerierung und Objektivierung insistieren sie auf der Bedeutung von Handlungen bzw. Praktiken für den gesellschaftlichen Wirklichkeitsaufbau. Die Verweise auf den Zusammenhang von Institutionalisierungsprozessen, Legitimationsfonnen, Verdinglichungen und subjektiven Aneignungen bieten einen systematischen und umfassenden Entwurf der soziologischen Wissenstheorie als Sozialtheorie an, zu dem bislang keine Alternative existiert. Mit der Einbettung in die philosophischen Anthropologien von Plessner und Gehlen sowie die Sozialphänomenologie von Schütz besitzt die Theorie schließlich eine über den soziologischen Bezugsrahmen hinaus reichende Fundierung. Welche Nachteile können demgegenüber festgehalten werden? Trotz der breiten Grundlegung der wissenssoziologischen Perspektive verknüpfen BergerfLuckmann ihr Programm mit der Forderung nach einer bevorzugten Analyse des Jedennann- Wissens (vgl. KapiteI4.1.I). Die Begriffe der Wissens-,Konstruktion' und der Wissensinternalisierung erzeugen einen intentionalistischen und kognitivistischen Bias des bewussten und kontrollierten Wissensbesitzes, der in dieser Fonn sicherlich von den Autoren nicht beabsichtigt ist und auch ihren eigenen Ausführungen nicht entspricht. Individuen erscheinen als Produzenten und Anwender von statisch gefassten Wissensbeständen, ohne dass deutlich wird, wie dieser Anwendungsprozess selbst anders denn als Nonnbefolgung im Rollenspiel gedacht werden kann. Damit einher gehen Suggestionen von Stabilität, Konsistenz und Kohärenz, die den komplexen, chaotischen und kontlikthaften Wissensverhältnissen in modemen Gesellschaften kaum angemessen erscheinen. Fragen der Materialisierung solcher Bedeutungen in Objekten werden nicht oder allenfalls marginal thematisiert. Auch geht das dem Ansatz zugrunde liegende Subjektkonzept von weitgehend stabilen Subjektstrukturen und Identitätsmustern aus. Es wäre jedoch ein bedauerlicher Fehlschluss, aufgrund der genannten Defizite das sozialkonstruktivistische Programm der Wissenssoziologie zu verabschieden. Zunächst zeigen schon die Ausführungen von BergerfLuckmann selbst sowie die daran anschließenden Forschungsprogramme, dass der Begriff des Wissens in seiner ,praktischen' Handhabung keineswegs kognitivistisch verengt wird, auch wenn dies das Vokabular nahe zu legen scheint. Gleichzeitig haben die vorangehenden Ausführungen deutlich gemacht, wie umfangreich hier das Programm der Wissenssoziologie konzipiert wird, selbst dann, wenn in der widersprüchlichen Einordnung der Ideengeschichte und der Ablehnung von ,Ideenanalyse' noch deren Verständnis in der Wissenssoziologie von Mannheim oder Scheler anklingt (vgl. Kap. 4.1.1). Die Kritik verweist jedoch auch darauf, dass Weiterführungen des ursprünglichen Programms dieser Wissenssoziologie, die sich der genannten Defizite annehmen, unumgänglich sind. Die "Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" sollte nicht als abgeschlossenes Grundlagenprogramm der Wissenssoziologie verstanden werden. Sie bietet vielmehr einen Entwurf mit zahlreichen Anregungen, Möglichkeiten der Ergänzung und auch der Revision, wie sie in Teilen bereits in den verschiedenen Entwicklungen des interpretativen Paradigmas vorgenommen wurden (vgl. Kapitel 2.3.3). Eine solche Zielrichtung prägt das Selbstverständnis der vorliegenden Ausarbeitung einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse.
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2.2.2 Eine strukturalistisch-konstruktivistische Wissensanalyse: Pierre Bourdieu Unter den soziologischen Alternativen zur Wissensanalyse von Berger/Luckmann formuliert Pierre Bourdieu in seiner Theorie der Praxis den umfassendsten Anspruch einer Zusammenruhrung der Positionen der Klassiker Marx, Durkheim und Mannheim mit der von Weber betonten Sinnhaftigkeit sozialen Handelns. 62 Bourdieu greift die von Durkheim aufgeworfene Frage nach der Herkunft und den Funktionsweisen gesellschaftlicher Klassifikationssysteme auf und gibt darauf eine - bei Durkheim mit den Hinweisen auf soziale Funktionalität nur vorsichtig angedeutete - marxistische Antwort: Klassifikationen und Akte des Klassifizierens sind Einsätze im Klassenkampf. Die verschiedenen gesellschaftlichen Klassen sind in Klassifikationskämpfe verstrickt, die gleichzeitig Konflikte um gesellschaftliche Über- und Unterordnung darstellen. Diese Prozesse werden als konkrete Tätigkeiten und Konstruktionsleistungen sozialer Akteure begriffen. 63 Innerhalb des durkheimianisch-marxistischen Rahmens dient das Konzept des Habitus einerseits zur Konkretisierung der sozialen Positionierungen und Erfahrungslagen der Individuen, auf deren Bedeutung rur die individuelle Wissensaneignung bereits Mannheim hingewiesen hatte. Daraus ergibt sich andererseits auch die von Bourdieu vorgeschlagene Lösung des Weberschen Sinnproblems: Die im individuellen, aber zugleich sozial typischen Habitus vollzogene Inkorporierung der gesellschaftlichen Klassifikationen und Klassifikationsverhältnisse bildet die Grundlage der Übereinstimmung handlungspraktischer Sinnzuweisungen zwischen sozialen Akteuren und damit auch der Stabilität und Reproduktionsfähigkeit der symbolischen Ordnung der Gesellschaft. Soziologie müsse angesichts der skizzierten theoretischen Ausgangsposition "eine Soziologie der Perzeption der sozialen Welt umfassen, das heißt eine Soziologie der Konstruktion der unterschiedlichen Weltsichten, die selbst zur Konstruktion dieser Welt beitragen. Aber da wir selbst den sozialen Raum konstruiert haben, wissen wir auch, daß diese Gesichtspunkte, das Wort selbst sagt es, Ansichten von einem bestimmten Standort, von einer bestimmten Position im sozialen Raum aus sind. Und wir wissen auch, daß es unterschiedliche bis antagonistische Gesichtspunkte gibt, hängen die Gesichtspunkte doch ab von dem Punkt, von dem aus sie getroffen werden, hängt doch die Sicht des Akteurs von diesem Raum ab von dessen Position in diesem. Damit weisen wir das universelle Subjekt ab, das transzendentale Ego der Phänomenologie, das die Ethnomethodologen übernehmen. Gewiß besitzen die Akteure eine aktive Apprehension der Welt. Gewiß konstruieren sie ihre Weitsicht. Aber diese Konstruktion geschieht unter strukturellen Zwängen." (Bourdieu 1992: 143) 64
Obwohl sich Bourdieu kritisch mit der französischen strukturalistischen Tradition auseinandersetzt - die Sprachlehre von Saussure (vgl. Kapitel 3.1.2.1) erscheint ihm als reinste Verkörperung eines unhaltbaren "Objektivismus" (Bourdieu 1976: 146ff; insbes. 15Ift)-
Allerdings hat Bourdieu keine explizite Wissenssoziologie vorgelegt. Barläsius (200 I) hat kürzlich im Anschluss an Bourdieu eine Beschäftigung der Soziologie mit den Repräsentationsformen sozialer Ungleichheit eingefordert. 64 Ebd. führt Bourdieu seine Kritik an der mikrosoziologischen Perspektive der ,sozialen Konstruktion' weiter aus, der er (zu Unrecht) unterstellt, die soziale Formung der kognitiven Strukturen zu übersehen. 62
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überwiegen doch seme Vorbehalte gegenüber dem "Subjektivismus" der interpretativen Soziologie: 65 "Kurz, der Versuch, die Sozialwissenschaft auf die bloße Aufdeckung objektiver Strukturen einzuengen, darf mit Recht zurück gewiesen werden, wenn dabei nicht aus den Augen verloren wird, daß die Wahrheit der Erfahrungen gleichwohl doch in den Strukturen liegt, die diese determinieren. Die Konstruktion objektiver Strukturen (Preiskurven, Chancen des Zugangs zu höheren Bildungsinstitutionen, Gesetze des Heiratsmarktes) gestattet faktisch erst, das Problem der Mechanismen anzugehen, durch welche die Beziehungen zwischen den Strukturen und den Praktiken oder den mit ihnen einhergehenden Repräsentationen gestiftet werden - und keineswegs die zur determinierenden Ursache stilisierten und als ,Grund' oder ,Motiv' behandelten gedanklichen Gegenstände. In der Tat reduziert der Interaktionismus, indem seine Analyse nur berücksichtigt, was in der Praxis und in den Repräsentationen der Logik der symbolischen interaktionen und, noch spezifischer, der Repräsentation geschuldet ist, die sich die Handlungssubjekte qua Antizipation oder Erfahrung von der Handlung der anderen, denen sie unmittelbar konfrontiert sind, machen können, die Beziehungen zwischen Positionen innerhalb objektiver Strukturen auf intersubjektive Beziehungen der die Positionen einnehmenden Individuen: Indem der Interaktionismus auf diese Weise stillschweigend all das ausschließt, was die Interaktionen und deren Repräsentationen in den Individuen diesen Strukturen schulden, übernimmt er implizit die Spontantheorie des Handeins, die das Handlungssubjekt und dessen Repräsentationen zum letzten Prinzip all der Strategien erhebt, die die soziale Welt hervorzubringen und zu verändern in der Lage sind (was letztlich darauf hinausläuft, die kleinbürgerliche Sicht gesellschaftlicher Beziehungen als etwas, was man macht und was man sich macht, auf das Niveau einer Theorie der sozialen Welt zu erheben)." (Bourdieu 1976: 1491)
Folgerichtig bezeichnet Bourdieu seinen eigenen Ansatz der praxistheoretischen Vermittlung zwischen Objektivismus und Subjektivismus als strukturalistischen Konstruktivismus: "Hätte ich meine Arbeit in zwei Worten zu charakterisieren, das heißt, wie es heute oft geschieht, sie zu etikettieren, würde ich von strukturalistischem Konstruktivismus oder von konstruktivistischem Strukturalismus sprechen, dabei das Wort Strukturalismus allerdings in einer ganz anderen Bedeutung fassen als in der Tradition von Saussure oder Levi-Strauss. Mit dem Wort ,Strukturalismus' oder ,strukturalistisch' will ich sagen, daß es in der sozialen Welt selbst - und nicht bloß in den symbolischen Systemen, Sprache, Mythos usw. - objektive Strukturen gibt, die vom Bewußtsein und Willen der Handelnden unabhängig und in der Lage sind, deren Praktiken oder Vorstellungen zu leiten und zu begrenzen. Mit dem Wort ,Konstruktivismus' ist gemeint, dass es eine soziale Genese gibt einerseits der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die ftir das konstitutiv sind, was ich Habitus nenne, andererseits der sozialen Strukturen und da nicht zuletzt jener Phänomene, die ich als Felder und als Gruppen bezeichne, insbesondere die herkömmlicher Weise so genannten sozialen Klassen." (Bourdieu 1992: 135)
Bourdieu geht es also um die im historischen Prozess sich entfaltende Wechselbeziehung von gesellschaftlichen Strukturen und Wissensbeständen. Seine entsprechenden wissenssoziologischen Reflexionen beziehen sich im Rahmen der Untersuchung gesellschaftlicher Bourdieu wendet sich mit dem Objektivismusvorwurf auch gegen die strukturale Anthropologie von LeviStrauss und führt mit Hinweis auf Wingensteins Analyse des Regelbegriffs - insbesondere der am Beispiel einer häufigen Zugverspätung ausgeführten Warnung, von statistischer Regelmäßigkeit auf eine zugrunde liegende Erzeugungsregel zu schließen - seinen Begriff des Habitus als Mechanismus der Erzeugung von Handlungsdispositionen ein (vgl. ebd.: 161ffund die nachfolgenden Ausführungen).
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Distinktionsprozesse auf den Zusammenhang von sozialen Klassen und Klassifizierungen des Sozialen. Gesellschaftliche Klassifikationssysteme haben - so Bourdieu - ihren Ursprung in der gesellschaftlichen Teilung der sozialen Klassen in Herrschende und Beherrschte. Alltäglich praktisch eingesetzte Klassifizierungsweisen - etwa die Unterscheidung von hoch/niedrig, fein/grob, einzigartig/massenhaft u.a. - lassen sich demnach auf die soziale Grundunterscheidung von Elite und Masse, von Oberschicht und Unterschicht zurückfuhren. Solche Begriffsschemata gewinnen ihre Bedeutung immer in einem konkreten Verwendungszusammenhang, einem Sprachspiel bzw. einem "univers de discours" (Bourdieu 1982: 733).66 Jeder Akt der Erkenntnis von Welt ist hier, wie schon bei Marx, eine Tätigkeit, ein Konstruktionsakt. Soziale Akteure sind Produzenten von klassifizierbaren und klassifizierenden Akten, die ihrerseits klassifiziert sind. Zwischen ihre objektive soziale Lage oder Position im sozialen Raum bzw. Feld (die "Ding gewordene Geschichte", Bourdieu 1985: 69), mit der eine spezifische Kapitalienstruktur67 verknüpft ist, und ihrem praktischen Handeln in feldspezifischen Situationen schiebt sich die strukturierende Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungstätigkeit der Akteure, die durch ihren Habitus vermittelt ist. Der Begriff des Habitus, die "Leib gewordene Geschichte" (Bourdieu 1985: 69) bezeichnet ein in Sozialisationsprozessen inkorporiertes und strukturiertes System stabiler Dispositionen - Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata - , ein praktisches Wissen, das als gesellschaftliche, unhinterfragte doxa die Praxisformen der Akteure erzeugt und strukturiert: "Wer sich in dieser Welt ,vernünftig' verhalten will, muß über ein praktisches Wissen von dieser verfUgen, damit über Klassifikationsschemata (... ), mit anderen Worten über geschichtlich ausgebildete Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die aus der objektiven Trennung von ,Klassen' hervorgegangen (Alters-, Geschlechts-, Gesellschaftsklassen), jenseits von Bewußtsein und diskursivem Denken arbeiten. Resultat der Inkorporierung der Grundstrukturen einer Gesellschaft und allen Mitgliedern derselben gemeinsam, ermöglichen diese Teilungs- und Gliederungsprinzipien den Aufbau einer gemeinsamen sinnhaften Welt, einer Welt des sensus communis." (Bourdieu 1982: 730)
Die Struktur des Habitus ergibt sich aus den mit der Position im sozialen Raum verknüpften Kapitalstrukturen und Klassenlagen. Gleiche Soziallagen in Bezug auf Klasse, Alter oder Geschlecht erzeugen einen gleichförmigen Habitus; daraus wiederum entsteht in und durch die Praktiken der Akteure die relative Binnen-Homogenität der unterschiedlichen Lebensstil-Positionen. Der Habitus strukturiert in wesentlichen Teilen die Handlungs- und Sprachpraxis der Individuen, und damit auch die Produktion bzw. Reproduktion symbolischer Ordnungen: "Jede Praxis impliziert kognitive Operationen, mobilisiert mentale Repräsentationen und damit strukturierende und organisierende Schemata dessen, was ist und was getan wird. Soziale Praxis ist, darauf insistiert Bourdieu, klassifizierende Praxis, eine Praxis, die durch Klassifikationssysteme geordnet und strukturiert wird. Die Wahrnehmung wird angeleitet durch OrdnungsvorstelDer Begriff des "univers de discours", den Bourdieu hier ohne weitere Referenz benutzt, stammt aus der pragmatistischen Sprachphilosophie ("universe of discourse"; vgl. Kap. 4.2.1.). 67 Bourdieu unterscheidet zunächst zwischen ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital. Intellektuelles Kapital kann als Sonderform des kulturellen Kapitals betrachtet werden. Symbolisches Kapital ist die öffentlich als legitim anerkannte Form der anderen Kapitalsorten. 66
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Etappen der Wissenssoziologie lungen, die nicht nur vorgeben, wie die Welt gesehen wird, sondern auch, was überhaupt wahrgenommen wird, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet." (Krais 1993: 211)
Sprachgebrauch gilt im Werk Bourdieus als Bestandteil des Kampfes um Symbole, Repräsentationen bzw. Klassifikationsweisen in spezifischen sozialen Feldern. Die Praxis des Sprechens und Schreibens ist einerseits durch den je erworbenen Habitus geprägt. Jede Aussage ist darüber hinaus ein Beitrag - eine Aktualisierung oder Transfonnation - einer spezifischen symbolischen Ordnung, innerhalb derer sie ihre Bedeutung erhält. Der gesellschaftliche Stellenwert von Aussagen hängt von dem institutionellen Ort, der sozialen Position in einem Feld und der damit verknüpften Kapitalienstruktur ab, von der aus sie fonnuIiert wird. Diese Position reguliert sowohl die Möglichkeiten der Herstellung wie auch die Fonnen der Rezeption von Aussagen. Bourdieu betont in seiner Sozialtheorie die Bedeutung sozialer Kämpfe zwischen gesellschaftlichen Klassen um die Durchsetzung legitimer symbolischer Ordnungen bzw. Repräsentationen der Wirklichkeit. Die Macht legitimer Benennung und Weltdeutung ist nicht nur, aber doch wesentlich im Staat und dessen Verwaltungen konzentriert, wird aber von kollektiven Akteuren immer wieder herausgefordert. Auch kulturelle Auseinandersetzungen, etwa diejenigen über den "legitimen Geschmack", sind Klassifikationskämpfe sozialer Gruppen. Dabei ist jeder Sprachgebrauch ein Beitrag im Kampf um Deutungsmacht, eine Stabilisierung oder Infragestellung symbolischer Herrschaft. 68 Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Herrschaftspositionen sind immer auch Kämpfe um die Anerkennung und Durchsetzung einer spezifischen klassifikatorischen Ordnung der Welt. Bourdieu betont dies unennüdlich: ,,(... ) noch die scheinbar formalsten Grenzziehungen - wie die zwischen Altersklassen - (fixieren) einen bestimmten Stand der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, d.h. einen bestimmten Stand der Verteilung von Rechten und Pflichten: Recht etwa auf Sondertarife und auf Pensionierung, Schul- und Wehrpflicht." (Bourdieu 1982: 743). "Darum geht es in den Auseinandersetzungen um die Definition des Sinns der Sozialwelt: um Macht über die Klassifikations- und Ordnungssysteme, die den Vorstellungen und damit der Mobilisierung wie Demobilisierung der Gruppen zugrunde liegen. Es geht um das Evokationsvermögen der sprachlichen Äußerung, das anders sehen läßt (...) oder das, indem es Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata modifiziert, anderes sehen läßt (... ); es geht um das Trennungsvermögen, Distinktion (... ), das aus der unteilbaren Kontinuität diskrete Einheiten auftauchen läßt, aus dem Undifferenzierten die Differenz." (Bourdieu 1982: 748) "Die Kämpfe zwischen den individuellen wie kollektiven Klassifikations- und Ordnungssystemen, die auf eine Veränderung der Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien der sozialen Welt selbst abzielen, bilden eine vergessene Dimension der Klassenkämpfe." (ebd.: 755)
Vgl. Bourdieu (J985, 1990, 1992a, 1992b, dort insbes. 135ft). Bourdieu hat sich in seinen Untersuchungen immer wieder mit solchen Klassifikationsprozessen (in Schulen, Universitäten, auf der Ebene der Geschmacksurteile u.a.) beschäftigt, aber keine systematischen Analysen der Strukturen und Verläufe von Diskursen vorgelegt. Seine Hinweise auf Herrschafts- und (symbolische) Ordnungsfunklionen der Sprache sind überwiegend als theoretische Überlegungen formuliert.
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"WiIl man die Welt ändern, muß man die Art und Weise, wie Welt ,gemacht' wird verändern. Das heißt, man muß die Weitsicht und die praktischen Operationen verändern, mit denen die Gruppen produziert und reproduziert werden. Symbolische Macht (...) beruht auf zwei Bedingungen. Erstens, symbolische Macht muß, wie jede Form von performativem Diskurs, auf dem Besitz vom symbolischem Kapital begründet sein. (... ) Zweitens, die symbolische Wirksamkeit hängt davon ab, wie weit die vorgeschlagene Sicht in der Wirklichkeit fundiert ist. (...) Symbolische Macht ist die Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen. Nur wenn sie wahr ist, das heißt den Dingen adäquat, schafft die Beschreibung die Dinge." (Bourdieu 1992: 152f)
Der Staat mit seinen Institutionen ist der Träger der "offiziellen Klassifizierung" (Bourdieu 1992: 150) und des "offiziellen Diskurses" (ebd.), der legitimen gesellschaftlichsymbolischen Ordnung. Er diagnostiziert die gesellschaftliche Position der Akteure, verknüpft damit spezifische Verhaltenserwartungen und beobachtet, ob die Akteure diesen Erwartungen genüge tun. 69 Bourdieu verbindet nach eigener Einschätzung in der Theorie der Praxis Bausteine des soziologischen "Subjektivismus" mit denjenigen des "Objektivismus" oder Strukturalismus. Dies geschieht jedoch um den Preis eines starken soziologischen Reduktionismus, der soziale Phänomene immer und nur auf ihre Dimension der Teilnahme am ,Klassen- und Klassifikationskampf , an der Reproduktion gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in den Blick nehmen kann. Er äußert sich bspw. da, wo existierende ,Klassifikationsverhältnisse' kurzschlüssig als Ausdruck existierender Klassenverhältnisse gedeutet werden und der ,Kampf um Definitionen' immer nur als Kampf um Klassenherrschaft und Kapitalakkumulation in sozialen Feldern bestimmt wird. Gewiss kann man zugestehen, dass mit dem Modell des Habitus ein zunächst hilfreicher Vorschlag gemacht wird, wie die durch soziale Akteure vollzogene situativ-praktische Anwendung von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata als inkorporiertes Wissen, das den Akteuren selbst nicht bewusst sein muss, verstanden werden kann, und wie sich die Frage der Genese und Struktur dieser Dispositionen aus den Sozialisationskontexten heraus bearbeiten lässt. Insoweit verweist seine Theorie auf ein tatsächliches Defizit des interpretativen Paradigmas, das sowohl in Gestalt des Symbolischen Interaktionismus wie auch in der von Berger/Luckmann ausgearbeiteten Wissenssoziologie nur über ein sehr allgemeines Sozialisationskonzept verfugt, dem die sozialstrukturelle Prägung der Sozialisationsprozesse bislang entgeht. Trotz Bourdieus Verweis auf die Kombination von Klassen-, Alters- und Geschlechtslagen ist seine Analyse doch immer auf Positionen und Prozesse der Über- und Unterordnung bezogen. 7o Entsprechend unklar bleibt im letztlich marxistischen Funktionalismus der Bourdieuschen Theorie der Praxis die Komplexität alltäglicher Deutungs- und Handlungsroutinen, der über hierarchisierende Klassifikation hinausgehende Bedeutungsüberschuss aller Praktiken In den Überlegungen von Bourdieu zum Zusammenhang von Sprachpraxis und symbolischen Ordnungen nimmt der Begriff des Diskurses keinen systematischen Stellenwert ein. Dennoch werden sie auch zur Fundierung diskursanalytischer Ansätze herangezogen (vgl. Kap. 3.2.5 u. 3.3). 70 Zur Kritik am Ungleichheits-Reduktion ismus insbesondere der Bourdieuschen Sprachtheorie vgl. Schröer (2002a), allgemeiner bezogen auf das Habituskonzept Meuser (1999). Meuser und Schröer betonen beide, dass eine angemessene Berücksichtigung sozialstruktureller Prägungen sowohl von Kommunikationsprozessen als auch des Aufbaus subjektiver Wissensvorräte der Hermeneutischen Wissenssoziologie durchaus zu Gute käme. Meuser (ebd.) schlägt dazu eine Orientierung an Mannheims Begriff des "konjunktiven Erfahrungsraumes" vor, der bspw. die weiter oben erwähnten Generationenlagen und sozialräumlichen Kontexte umfasst. Allerdings ist diese Diskussion in der Hermeneutischen Wissenssoziologie bislang nicht weitergeführt worden.
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und das Vermögen sozialer Akteure aus unterschiedlichen Habitusformationen, gelingende Interaktionsprozesse aufzubauen. Für die skizzierten wissens- und sprachsoziologischen Reflexionen im Werk von Bourdieu gilt also, was ganz allgemein als Kritik an der Theorie der Praxis formuliert wird: obwohl einerseits das Verhältnis von Struktur, Praxis und Habitus als komplexes Gebilde angelegt und durchaus in der Lage ist, Einseitigkeiten objektivistischer oder subjektivistischer Provenienz zu vermeiden, konzipiert Bourdieu in der Ausführung und empirischen Anwendung seiner Theorie einen einfachen Strukturdeterminismus, der gesellschaftliche Klassen- und Herrschaftsverhältnisse zur alles determinierenden Macht avancieren lässt und in erster Linie die Reproduktion von Ungleichheitsordnungen zu erklären vermag. Die soziale Konstruktion des Wissens wird ausschließlich als Herrschaftsfunktion analysiert. Dem entspricht eine Konzeption gesellschaftlicher Akteure und sozialer Praktiken, die erstere als unbewusst nutzen- bzw. kapitalmaximierende Strategen und Kämpfer um soziale Vormacht, letztere nur als Distinktions- und Herrschaftspraktiken erscheinen lässt. Eine solche Sichtweise verengt den Blick auf die vielschichtigen Mechanismen des Sozialen und vermag letztlich immer nur das zu erkennen, was ihr Theoriekonzept als wirkend vorsieht.
2.2.3 Der empirische Konstruktivismus der Wissenschaftsforschung: Von Ludwig Fleck zu den Social Studies ofScience Gegenüber den bislang diskutierten Ansätzen des wissenssoziologischen Konstruktivismus ist die hier abschließend betrachtete Position der Social Studies of Scientific Knowledge bescheidener und radikaler zugleich. Bescheidener erscheint sie zunächst, weil sie sich in ihrem Gegenstandsbezug nahezu ausschließlich auf die Analyse der Konstruktionsprozesse naturwissenschaftlichen Wissens bezieht. Als radikaler kann sie insoweit begriffen werden, wie sie den Begriff der Konstruktion wörtlich nimmt und nachzeichnet, wie das ,exakte' Wissen, das in der Wissenssoziologie bis dato als der soziologischen Analyse weitgehend unzugänglicher Härtefall galt, als Ergebnis eines tatsächlichen sozialen Konstruktionsvorgangs zu verstehen ist. Bruno Latour (1996) hat dies in einem Wortspiel formuliert: "Les faits sont faits!" - die Fakten sind gemacht! Erst damit ist letztlich die Allgemeinzuständigkeit wissenssoziologischer Reflexionen überzeugend belegt. David Bloor, einer der wichtigsten Protagonisten dieses Ansatzes, bezeichnet die neue soziologische Perspektive auf naturwissenschaftliches Wissen als "strong programme in the sociology of knowledge" (Bloor 1976: 4f).71 Demnach gelte es, keinen Unterschied zwischen wahrem und falschem Wissen zu machen - beides sei durch das gleiche Set von Faktoren zu erklären. In dieser Anfang der I970er Jahre entstehenden wissenssoziologischen Wissenschaftsforschung treffen zwei Traditionen der klassischen Wissenssoziologie aufeinander. 72 Dabei handelt es sich einerseits um das durch Durkheim und Mauss eingeführte, aber unzureiVgl. zur Einbenung der Soziologie wissenschaftlichen Wissens auch Barnes (1974). Die demgegenüber seit langem etablierte allgemeine soziologische Wissenschaftsforschung beschäftigte sich mit den sozialen Prozessen des institutionellen Feldes der Wissenschaft, aber gerade nicht mit dem dort erzeugten positiven, d.h. anerkannten Wissen - oder doch nur insoweit, wie letzteres als durch gesellschaftliche Interessen bedingte Fälschung, Ideologie usw. betrachtet wurde (vgl. Weingart 2003). Ich diskutiere nachfolgend die Social Studies of Science nicht in ihrer Breite, sondern fokussiert auf die dortigen Analysen der Bedeutung von Sprache im Prozess der Wissenserzeugung. 71
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chend behandelte Interesse am sozialen Ursprung bzw. der sozialen Bedingtheit nicht nur primitiver, sondern auch moderner logischer Klassifikationen. Auf der anderen Seite hatte Mannheims Auslassung des ,harten' Wissens in seiner Konzeption der Seinsverbundenheit des Denkens diesen Bereich nachhaltig aus dem soziologischen Aufmerksamkeitshorizont verschoben und damit die Radikalität des wissenssoziologischen Programms eingeschränkt. Mannheims oft zitierter Verweis auf die Formel 2 x 2 = 4, die unabhängig von ihrer Herkunft kontextlos gelte (Mannheim 1969: 251), erklärte das naturwissenschaftliche und mathematische Wissen zum tatsächlich ,standortfreien' Wissen. In der Folge beschäftigte sich die sozialwissenschaftliche Wissenschaftsforschung mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Organisationsformen der Naturwissenschaften unter Absehung von den Inhalten. Mannheims Annahme, dass in den, weichen' Wissensbeständen die soziale Strukturierung ihrer Genese als "Aspektstruktur" bis in ihre Inhalte hinein wirke (vgl. Kap. 2.1.2), konnte unberücksichtigt bleiben. Allenfalls falsches Wissen schien demnach durch soziale Faktoren geprägt: gefalschte Ergebnisse und Daten dienten Karrierezwecken; politische Ideologien manipulierten das Wissbare usw. ,Wahre' Erkenntnisse wären demgegenüber frei von sozialen Einflüssen. Wie sollte eine solche Auffassung mit den Positionen von Durkheim und Mauss verknüpft werden? Die von den Protagonisten der Social Studies of Scientific Knowledge (oder kurz: Social Studies 0/ Science) entwickelten Vorschläge lauteten: Auch dasjenige Wissen, das als, wahr' gilt, hat einen sozialen Konstruktions- und Anerkennungsprozess durchlaufen: Es wurde in Labors unter Einsatz von Maschinen und anderweitigen Ressourcen erzeugt, es wurde in Diskussionen ausgehandelt, es wurde schriftlich als gültig fixiert, kurz: es ist durch und durch und unabänderlich Ergebnis sozialer Prozesse, unumgänglich eine empirisch-soziale Konstruktion. Damit wird sein Wahrheitsstatus zwar relativiert, sofern er die Unterstellung einer einzig möglichen Wissenserfassung von Wirklichkeit impliziert, aber nicht grundsätzlich angegriffen oder abgelehnt, da eine solche Infragestellung die Möglichkeit der Bezugnahme auf ein ,reines', nicht konstruiertes Wissen voraussetzen würde. Schon ein Zeitgenosse Mannheims, der Biologe Ludwig Fleck, entwickelte lange Zeit vor diesem Neuansatz der Wissenschaftssoziologie in den 1930er Jahren eine Betrachtung der Erzeugung naturwissenschaftlichen Wissens als Konstruktionsprozess, der durch Denkstile und Denkkollektive, also soziale Faktoren strukturiert wird: "Definieren wir ,Denkkollektiv' als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen, so besitzen wir in ihm den Träger geschichtlicher Entwicklung eines Denkgebietes, eines bestimmten Wissensbestandes und Kulturstandes, also eines besonderen Denkstiles." (Fleck 1980: 54f)73
Fleck schließt an die Wissenssoziologie Durkheims an, erwähnt auch deutschsprachige Veröffentlichungen u.a. von Max Scheler und skizziert ein umfassendes Programm der wissenssoziologischen Erforschung wissenschaftlichen Wissens, das sowohl den äußeren gesellschaftlichen Kontext der Wissenschaften, soziale Strukturen des wissenschaftlichen Das Konzept des Denkkollektivs hat mittlerweile in politikwissenschaftlichen Debatten als ,epistemic community' Bedeutung erlangt (Haas 1992). Knorr-Cetinas Arbeit über "Epistemic Cultures" (Knorr-Cetina 1999) erwähnt zwar Fleck nicht, folgt jedoch unmittelbar dem Fleckschen Programm. Vgl. zur Diskussion des Werkes von Fleck auch die Einleitung von Schäfer/Schnelle (1980).
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Feldes wie auch die konkrete Konstruktionstätigkeit der Forschergruppen in den Blick nimmt. Dazu zählen die Untersuchung der Wissenschaftlergemeinschaften, der impliziten Grundlagen des Erkennens in den jeweiligen Arbeitsbereichen als Möglichkeiten des "Gestaltsehens" bei der Interpretation von Daten oder der Ausbildung von Wissenschaftlern in bestimmten Denk- und Analysetraditionen. In den Blick kommt auch die Bedeutung des gesellschaftlich-kulturellen Kontextes, der implizit - in Gestalt kultureller Vor-Urteile bspw. über die Bedeutung von Geschlechtskrankheiten oder sogenannter, Urideen', historisch lang zurückreichender Zusammenhangsvermutungen - bzw. explizit durch politisch gewollte Forschungsprogramme bestimmte Forschungsrichtungen und -fragen bevorzugt, andere ignoriert. Schließlich geht es ihm um die Arbeitsteiligkeit und Prozesshaftigkeit der Wissenserzeugung in den Labors, die Wechselwirkung zwischen all diesen Prozessen sowie plötzlich auftretende "Mutationen" der Interpretation. All diese Analysedimensionen erläutert Fleck sehr detailliert am Beispiel der Entwicklung des Syphilis-Begriffs bis hin zu den ersten diagnostischen Testverfahren, die Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt werden (Fleck 1980 [1935]). In den Social Studies of Science entstehen verschiedene Blicke auf Wissenschaft als Konstruktions-Praxis von Wissen. Sie konzentrieren sich meist auf einen oder wenige der von Fleck erwähnten Faktoren (Heintz 1993). Das von Bloor u.a. verfolgte "Interessemodell" schließt durchaus an die vorgängige Wissenschaftsforschung an und fragt nach wissenschaftsexternen Faktoren und wissenschaftlichen Berufsinteressen als bestimmenden Faktoren der Wissensgenese, die sowohl rur wahres wie auch rur falsches Wissen Geltung besitzen. Die konstruktivistische Laborforschung, als deren klassische Studien Latour/Woolgars "Laboratory Life" aus dem Jahre 1979 (Latour/Woolgar 1996) und KnorrCetinas (1984) "Fabrikation von Erkenntnis" zählen, erschließt die Welt der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion durch direkte Beobachtung vor Ort und verdeutlicht die Kontingenz und Machtprozesse, die bei der Konstruktion von ,Natur' eine Rolle spielen. 74 Mit seinem Methodenhandbuch über "Science in Action. How to follow scientists through society" richtet Latour (1987) dann explizit den Blick über den Tellerrand des Labors hinaus auf die Strategien der gesellschaftlichen Anerkennung dessen, was als wissenschaftliches Faktum gilt. Dabei spielen Formen der Versprachlichung des Wissens eine wichtige Rolle. Diese Bedeutung der Sprache im Prozess der Herstellung naturwissenschaftlichen Wissens wurde insbesondere von Michael Mulkay und Harry Collins mit ihrem "Diskursmodell" der Social Studies of Science betont und in den Kontext der interpretativen Sozialforschung gestellt (Heintz 1993). Mulkay und Collins analysieren die Kommunikationsund Konsensbildungsprozesse innerhalb der wissenschaftlichen Deutungs- und Erkenntnisgenese (Mulkay 1979). Die Erzeugung wissenschaftlichen Wissens wird hier als Ergebnis der sprachlichen Aushandlung begriffen. 75 Dieser Zweig der Wissenschaftsforschung Eine Diskussion der einzelnen Studien ist an dieser Stelle nicht möglich. Vgl. zum Überblick über die Laborforschung Knorr-Cetina (1995); zur harten - und überzogenen - Kritik daran HasselKrückenlWeingart (1994); zum Überblick über die Wissenschaftsforschung Golinski (1998), Weingart (2003), FeltINowotnyrraschwer (1995). 75 Damit wird der Objektivitätsstatus nicht bestritten, nur wird die Objektivität des Wissens nicht länger in der Wirklichkeitsadäquanz verankert, sondern - ähnlich wie schon bei Mannheim bezüglich der weicheren Wissensformen - als Resultat kommunikativer Rationalität begriffen. So folgen nicht länger die (positivistischen Varianten der) Sozialwissenschaften dem naturwissenschaftlichen Ideal, sondern eher umgekehrt gilt für das ,harte' Wissen auch das, was bis dato als Makel des, weichen' Wissens erschien. 74
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nimmt damit in gewisser Weise die kommunikative Wende der Wissenssoziologie vorweg, die im nachfolgenden Abschnitt erläutert wird (vgl. Kap. 2.3) und stellt erste Bezüge zwi76 schen der Wissenssoziologie und einem spezifischen Diskurskonzept her. Entsprechende Untersuchungen orientieren sich zunächst an der Theorie der Symbolischen Interaktion, später dann stärker an der sprachwissenschaftlichen bzw. ethnomethodologisch informier77 ten discourse analysis. Knorr-Cetina und Mulkay sprechen diesbezüglich von einem "linguistic turn" der Wissenschaftsforschung (Knorr-Cetina/Mulkay 1983b: 9). Ein solches Etikett ist allerdings überzogen, da der Ansatz mehr oder weniger zeitgleich mit den anderen Vorgehensweisen der Science Studies entwickelt wurde und keineswegs alle diese Ansätze erfasst, integriert oder ersetzt. Gegen die Annahmen, naturwissenschaftliches Wissen sei durch physikalische Zusammenhänge der Welt, nicht aber durch Soziales bestimmt, insistiert Mulkay im Anschluss an den Symbolischen Interaktionismus bzw. das interpretative Paradigma auf den Interpretations- und Aushandlungsprozessen, in denen die Objektivität des naturwissenschaftlichen Wissens sozial fixiert wird: "In particular, the central assumption that scientific knowledge is based on a direct representation of the physical world has been criticised from several directions. For instance, factual statements have been shown to depend on speculative assumptions. Observation has been shown to be guided by linguistic categories. And the acceptance of knowledge-claims has been shown to involve indeterminate and variable criteria. Scientific knowledge, then, necessarily offers an account of the physical world which is mediated through available cultural resources; and these resources are in no way definitive. The indeterminacy of scientific criteria, the inconclusive character of the general knowledge-claims of science, the dependence of such claims on the available symbolic resources all indicate that the physical world could be analysed perfectly adequately by means of language and presuppositions quite different from those employed in the modern scientific community. There is, therefore, nothing in the physical world which uniquely determines the conclusions of that community. It is, of course, self-evident that the external world exerts constraint on the conclusions of science. But this constraint operates trough the meanings created by scientists in their attempts to interpret the world. These meanings, as we have seen, are inherently inconclusive, continually revised and partly dependent on the social context in which interpretation occurs. If this view, central to the new philosophy of science, is accepted, there is no alternative but to regard the products of science as social constructions like all other cultural products. Accordingly, there seems every reason to explore how far and in what ways scientific knowledge is conditioned by its social milieu, how change of meaning is brought about and how knowledge is used as a cultural resource in various kinds of social interaction." (Mulkay 1979: 60f) Mulkay lenkt den Blick der Wissenschaftsforschung auf die Rhetorik naturwissenschaftlicher Diskurse sowie die Aushandlungsprozesse zwischen den beteiligten Wissenschaftlern, in denen anerkannte Interpretationen spezifischer Datenlagen erzeugt und festgeschrieben werden. Dabei geht es nicht um den Kurzschluss von der sozialen Situation der Wissenschaftler auf den Inhalt des wissenschaftlichen Wissens:
Die in Kapitel 4 vorgestellte Wissenssoziologische Diskursanalyse kann an die in den Social Studies of Science für ein spezifisches Wissensfeld entwickelten Vorgehensweisen anschließen, um ,Diskursen durch die Gesellschaft zu folgen'. Dies gilt insbesondere ftir die methodische Umsetzung des Forschungsprogramms (vgl. Kap. 4.3 und 4.4). 77 Vgl. dazu Kapitel 3.1.3.1.
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Etappen der Wissenssoziologie "A rather better general formulation would be that seientifie knowledge is established by proeesses of negotiation, that is, by the interpretation of eultural resourees in the course of socia! interaetion." (Mulkay 1979: 95)
Kulturelle Ressourcen sind sowohl innerwissenschaftlich wie auch wissenschaftsextern verrugbar. In ihren Verhandlungen mit nichtwissenschaftlichen Akteuren (bspw. Politikern) nützen Wissenschaftler wissenschaftliche Ressourcen zur Verfolgung ihrer Anliegen. Diese Position wird von Mulkay im Sinne einer sprachorientierten discourse analysis (Mulkay 1991 )78 auf wissenschaftliche Texte, Aussagen von Wissenschaftlern etc. bezogen. Ein entsprechendes Plädoyer rur eine solche Analyse wissenschaftlicher Diskurse enthält ein gemeinsam mit Jonathan Potter, einem späteren Protagonisten der Diskursiven Psychologie, und Steven Yearly verfasster Text: 79 "The eentral feature distinguishing discourse analysis from previous approaehes to the sociology of seienee is that, in the now familiar phrase, it treats participants' discourse as a topie instead of as a resouree (...) What it may be able to do instead is to provide closely doeumented deseriptions of the reeurrent interpretative praetiees employed by seientists and embodied in their discourse; to show how these interpretative proeedures vary in aeeordanee with variations in soeial eontext; and to reveal with inereasing clarity how the seeondary, ana!ytical literature on seienee is largely derived from, as weil as eonstrained by, the diseursive praetiees eonstitutive of seientifie eulture." (MulkaylPotter/Yearly 1983: 1961)
Bereits in den Laborethnographien von Latour/Woolgar (1996 [1979]) oder Knorr-Cetina (1984) spielten Analysen der wissenschaftlichen Textkonstruktion und der Aushandlungsprozesse bei der Dateninterpretation eine wichtige Rolle. Latour (1996: 59ff) widmet in seinem Methodenbuch dem wissenschaftlichen Schreibstil und der darin vollzogenen Transformation einer ,schwachen' in eine ,starke' Rhetorik als einem Hauptelement der Konsolidierung von naturwissenschaftlichem Wissen eine umfassende Betrachtung (neben den Laboratorien, Maschinen, Professionen u.a.).80 In einer systematisierenden Zusammenfassung der Diskursperspektive innerhalb der Social Studies of Science differenziert Jan Golinski (1998: 103ff) die Ansatzpunkte einer solchen Vorgehensweise. Zur formal-rhetorischen Dimension wissenschaftlicher Texte gehören so erstens die literarischen Gattungen und Konventionen über legitime sprachliche Mittel, zweitens das adressierte Publikum, insoweit es antizipierend in die Struktur eines 78 Der Begriff discourse analysis bezieht sich auf verschiedene Ansätze der empirischen mikroanalytischen Gesprächsforschung (Deppennann 1999), die den Sprachgebrauch in einzelnen Kommunikationssequenzen analysieren (Kap. 3.1.3.1). ,Discourse' wird hier zur Bezeichnung etwa von Rede, Gespräch, Konversation benutzt, ohne dass damit die Perspektiven der in Kapitel 3.2 u. 3.3 diskutierten Diskurstheorien verknüpft werden. 79 Vgl. Potter (1996; 2001; dazu auch Kap. 3.1.3.1) und Heintz (1993). Auf das Dilemma, den Status der sozialwissenschaftlichen Beobachtung der naturwissenschaftlichen Konstruktion von Wissen nicht gleichzeitig, sondern allenfalls in zeitlich versetzter Analyse zum Gegenstand machen zu können - das ,Reflexivitätsproblem' - haben Mulkay, Latour u.a. mit neuen rhetorischen Stilen reagiert, die die engen Korsette der Wissenschaftlichkeit sprengen (sollten). Vgl. z.B. einige Beiträge in Mulkay (1991) oder auch Latour (1992) sowie Woolgar (1988). Das Faible für solche Strategien scheint mittlerweile jedoch wieder verschwunden zu sein. 80 Anselm Strauss (1991) weist zu Recht auf eine Einseitigkeit der Aktor-Netzwerk-Theorie von Latour u.a. hin: er beschäftige sich nur mit den Strategien der Naturwissenschaftler ohne zu sehen, dass diese ihrerseits von anderen Akteuren (bspw. Politikern) in deren Strategien eingebunden werden. Strauss schlägt deswegen die Analysebegriffe der ,Arena' oder der ,social worlds' für die Untersuchung entsprechender Aushandlungsprozesse vor.
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Textes einbezogen ist und drittens die Situationen bzw. sozialen Kontexte, in denen ein Diskurs stattfindet. Allerdings wendet Golinski gegen einen solchen Ansatz der Diskursforschung zu Recht ein, die Analyse wissenschaftlicher Diskurse dürfe sich nicht auf die Untersuchung der Rhetorik beschränken: "This is to say that rhetorical analysis should be framed within a more comprehensive process of herrneneutics, the act of interpretation being directed both at the author and the readers of texts." (Golinski 1998: 119)
Der Sprachgebrauch in Kommunikationsprozessen besitzt neben seinen formalen Eigenschaften natürlich auch eine Bedeutungsdimension, und genau hier solle eine hermeneutische Analyse der Textinterpretation als Analyse der Sprachspiele und Lebensformen im Sinne Wittgensteins ansetzen. Metaphern fungieren bspw. als Übersetzungshilfen zwischen verschiedenen Arenen oder Sprachspielen, zwischen Wissenschaftlern und Laienpublikum, aber auch als Generatoren neuer Ideen, neuen Wissens, neuer Bedeutungen. 81 Diese bezüglich der soziologischen Wissenschaftsforschung formulierte Position beruht auf der Rezeption der Foucaultschen Diskurstheorie und daran anknüpfender Debatten (Kap. 3.2). Golinski schlägt deswegen drei Bestandteile einer erweiterten Analyse des wissenschaftlichen Sprachgebrauches vor: "first, sernantic, in which the meanings of certain key words in particular local contexts are discerned; second, serniotic, wh ich is concerned with interpretations of symbolism and imagery; and third, narratological, wh ich focuses on the assemblage of linguistic elements into narrative structures or stories." (Golinski 1998: 127)
Darüber hinaus habe eine entsprechende Analyse auch die Infrastrukturen (Netzwerke) der Erzeugung spezifischen Wissens - die "Konstruktions-Regime" (Golinski I998: 172ft) zu erfassen. Die von Golinski vorgeschlagene Erweiterung des Untersuchungsfokus der Wissenschaftsforschung auf die Konstruktion wissenschaftlichen Wissens als Kommunikationsprozess im Rahmen spezifischer Infrastrukturen der Wissenszirkulation korrigiert die von Mulkay u.a. vorgenommene Reduzierung des interpretativen Ansatzes auf die konversationsanalytisch orientierte Rekonstruktion einzelner Kommunikationssequenzen und beiträge. Diese Korrektur stützt sich bereits auf die wissenschaftshistorischen Analysen und diskurstheoretischen Vorschläge von Michel Foucault u.a. und zeigt damit im Bezugsrahmen der Wissenschaftsforschung eine erste Möglichkeit der diskurstheoretischen Anreicherung wissenssoziologischer Forschungsinteressen. 82 Damit stellen die Social Studies of Science der Wissenssoziologie wichtige Instrumente zur Untersuchung der Orte, Mittel und Strategien der Diskursproduktion zur Verfügung, die über wissenschaftliche Settings hinausgehend auch breitere gesellschaftliche Arenen umfassen.
Vgl. bspw. MaasenIWeingart (1995) Latours Vorschlag zur Entgrenzung der Perspektive der Laborforschung hin auf die, Verfolgung der Wissenschafler(innen) durch die Gesellschaft' (Latour 1996) markiert die verschiedenen nicht-textförmigen Bausteine der von Golinski erwähnten "Konstruktions-Regime". Zu den Bezügen und Affinitäten zwischen den Positionen Foucaults und Latours untereinander und zur Ethnomethodologie vgl. KendallIWickham (1999). 81
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60 2.3 Die kommunikative Konstruktion des Wissens
Für die 1980er und 1990er Jahre lässt sich eine weitere Diffusion wissenssoziologischer Reflexionen in die allgemeine Soziologie beobachten. Insoweit kann hier von einer Ausweitung des "sociology of knowledge turn" (Roland Robertson) gesprochen werden. Während damit für die 1960er Jahre die beginnende Karriere des interpretativen Paradigmas in Gestalt des Symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie u.a. bezeichnet war, geht es nun um die Feststellung einer breiten ,Re-Kulturalisierung' der Soziologie, einer quer durch die theoretischen Paradigmen verlaufenden Betonung der Bedeutung symbolischer Ordnungen und Sinnstiftungen für gesellschaftliche Prozesse. In jüngerer Zeit wird die Behauptung eines cultural turn durch die Feststellung - oder Forderung - eines practice turn ergänzt. Swidler/Arditi (1994) sprechen so exemplarisch von einer "new sociology ofknowledge", die sich damit befasse, "how kinds of social organization make whole orderings of knowledge possible. (... ) It also expands the field of study from an examination of the contents of knowledge to the investigation of forms and practices of knowing." (Swidler/Arditi 1994: 306)
1m nachfolgenden Kapitel 2.3.1 erläutere ich kurz die damit verbundenen Annahmen und Ansätze. Sie bilden den allgemeineren Kontext einer Spezifizierung der vorangehend diskutierten Wende der Wissenssoziologie hin zur Analyse der sozialen Konstruktion des Wissens. Dabei tritt wie schon in Teilen der Social Studies of Science die Bedeutung des Sprachgebrauchs bzw. der Kommunikationsprozesse für die Wissenszirkulation in den Vordergrund. Diese Weiterführung betrachtet Wissen nicht primär als Bestand in den ,Köpfen' oder als abstrakter gesellschaftlicher Wissensvorrat, über den Individuen oder Kollektive verfügen, sondern als Prozess einer permanenten Produktion, Fixierung und Transformation von Zeichen und Bedeutungen, dessen soziale Strukturierung sich im Sprachgebrauch dokumentiert und darüber zugänglich wird. Zu dieser "kommunikativen Wende" (Knoblauch 1995) zählen die radikal-konstruktivistische und systemtheoretische Wissenssoziologie von Niklas Luhmann (Kapitel 2.3.2) und das "kommunikative Paradigma" (Luckmann 2002e) innerhalb der sozialkonstruktivistischen Perspektive, zu dem man neben den Weiterführungen des Programms von Berger/Luckmann auch die Analysen öffentlicher Diskurse im Symbolischen Interaktionismus sowie das Konzept der Kommunikationskulturen von Hubert Knoblauch, das diese Ansätze verknüpft, rechnen kann (Kapitel 2.3.3).83
2.3.1 Cultural und practice turn: Die neue Konjunktur der Wissenssoziologie Die vereinseitigende Konzeption einer auf Klassikerexegese und Wissenschaftsforschung reduzierten Wissenssoziologie, die der in Kapitel 2.2 erwähnte Band von Stehr/Meja (1981 a) nahe legte, verfehlte in mehrerlei Hinsicht eine angemessene Darstellung der geAuch die Cultural Studies (Kap. 3.3.3), die in gewisser Weise die soziologischen, poststrukturalistischen und marxistischen Theorien der Bedeutungsanalyse zusammenführen, und die Diskurstheorie von Foucault (Kap. 3.2) beziehen sich auf die gesellschaftliche Wissenszirkulation in Kommunikationsprozessen.
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genwärtigen Bedeutung wissenssoziologischer Reflexionen. Dies gilt nicht nur fur die diskutierten Beiträge von Berger/Luclanann und Bourdieu, sondern auch fur die breitere Entwicklung, die im angelsächsischen Raum mit dem "sociology of knowledge turn" der I960er Jahre einsetzt und sich zur Gestalt eines allgemeineren "cultural turn" - ein Begri ff, der Anfang der 1990er Jahre wiederum von Roland Robertson (1992: 32ft) benutzt wird verfestigt. Robertson bezieht sich damit in einem weit ausholenden Rückblick auf die Traditionen der soziologischen Beschäftigung mit der sozialen Genese und den Konsequenzen gesellschaftlicher Sinnstiftungen, angefangen bei den Werken von Emile Durkheim und Max Weber über Clifford Geertz bis hin zu den zeitgenössischen Arbeiten von Robert Wuthnow, Pierre Bourdieu, den Cultural Studies und der wissenssoziologischen Tradition. 84 Auch zahlreiche andere Autoren und Autorinnen sprechen von einer Kulturalisierung der Sozialwissenschaften. Die verschiedenen Aufzählungen der Protagonisten dieses Prozesses verweisen auf die zunehmende Auseinandersetzung und wechselseitige Kenntnisnahme zwischen soziologischen Ansätzen und poststrukturalistischen Theorieentwicklungen. Wuthnow/Hunter/BergeseniKurzweil (1984) bspw. sehen entsprechend konvergierende Theorieentwicklungen in den Werken von Peter L. Berger, Mary Douglas, Michel Foucault und Jürgen Habermas. Ann Swidler (1986) plädiert fur ein Verständnis von Kultur als "tool kit", dessen sich soziale Akteure bedienen. John Law (1986) versammelt zur Präsentation neuer wissenssoziologischer Entwicklungen Arbeiten der marxistischen Tradition im Anschluss an Louis Althusser, von Mary Douglas als Fortfuhrung der Durkheimschen Wissenssoziologie und der Aktor-Netzwerk-Theorie bzw. der Science Studies als durch Michel Foucault inspirierte Analysen. Wuthnow/Witten (1988) gruppieren Studien der Wissenschaftsforschung, der Organisationsforschung, der Untersuchung öffentlicher Diskurse u.a. zu einem Überblick über neue Entwicklungen der Kulturanalyse. Eisenstadt (1988) skizziert Vorschläge einer Neuausrichtung der Wissenssoziologie zur Analyse symbolischer Hauptachsen und Ordnungsprozesse des Wissens nach Maßgabe des Konzepts der "Achsenzeit". Philip Smith (1998) präsentiert ,neo-klassische' Beiträge von Jeffrey Alexander über Paul DiMaggio und William Gamson bis Robert Wuthnow als "New American Cultural Sociology". Reckwitz (1999; 2000) unterscheidet zwischen einem PraxisParadigma (entstehend aus dem ethnomethodologischen Anschluss an Schütz, dem Pragmatismus, Wittgenstein und verschiedenen poststrukturalistischen Strömungen), einem Autopoiesis-Paradigma (Luhmann) und einem Text-Paradigma (Foucault) innerhalb des cultural turn und untersucht Konvergenzen der Theorieentwicklung. 8s Mit stärkerem Bezug auf die Wissenssoziologie von Berger/Luckmann skizziert Diane Crane (1994a) Herausforderungen der neuen Kultursoziologie(n) an die Soziologie insgesamt. Verschiedene Beiträge in Long (1997) diskutieren die möglichen wechselseitigen Anregungspotenziale zwischen Soziologie und Cultural Studies. McCarthy (1996) sieht mit den semiotischen und diskurstheoretischen Traditionen des französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus, der marxistischen Ideologiekritik und deren Fortfuhrung in den Cultural Studies Innerhalb der Philosophieentwicklung entspricht dem cultural turn der "linguistic turn", also die Hinwendung zur Sprache, die Richard Rorty (1967) diagnostizierte. 85 Vgl. zum Überblick und zur Diskussion dieses "Paradigmenwechsels" auch die Beiträge in Reckwitz/Sievert (1999). Die Zurechnung Foucaults zum Text-Paradigma lässt sich jedoch mit dem Hinweis aufseine Untersuchung von Diskursen als Praktiken bestreiten; insoweit kann er auch dem Praxis-Paradigma zugeordnet werden (vgl. Kap. 3.2) 84
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sowie mit der Sozialisationstheorie des Symbolischen Interaktionismus einen konvergierenden sozialwissenschaftlichen Trend zu einem wissenssoziologischen Programm der Untersuchung von Wissen als ,Kultur'. Das bedeute, die ,alte' soziologische Frage nach der sozialen Determination des Wissens mit Theorien der kulturellen Konstitution der menschlichen Erfahrung zusammenzubringen. Im Anschluss an die Social Studies of Science präsentiert auch Power (2000) verschiedene Dimensionen und Fragestellungen einer zeitgemäßen empirischen Untersuchung gesellschaftlicher "Wissensfelder", die sich auf Klassifikationsprozesse, Wahrheits- und Objektivitätsansprüche u.a. richten solle. Als florierender deutscher Sonderweg muss schließlich die Etablierung und Ausarbeitung einer Hermeneutischen Wissenssoziologie im Anschluss an die Grundlegungen von Alfred Schütz, Peter Berger und Thomas Luckmann genannt werden, wenn man die gegenwärtige Situation der Wissenssoziologie - oder doch zumindest wichtige Eckpfeiler derselben angemessen beschreiben will (Knoblauch 1995; Hitzler/ReichertzJSchröer 1999a). Kate Nash (2000; 2001) skizziert in ihrer Analyse des "Cultural Turn in Social Theory" die Bedeutung des Kulturbegriffs fur das Verstehen von ,cultural politics', d.h. Politiken der Signifikation. Sie versammelt dabei in exemplarischer Weise die argumentativen Grundelemente der kulturalistischen Wende: Es gehe um die Analyse von Repräsentationen als sozialen Kämpfen um Bedeutung, die nur vorübergehend kristallisieren. Gesellschaft werde dabei als Prozess, nicht als feste Struktur und Ordnung betrachtet. Mit dem Verzicht auf die Unterstellung universeller Wahrheiten und Werte sei ein AntiEssentialismus verbunden, dem zufolge Identitäten und Strukturen als historisch kontingente Konstruktionen betrachtet werden. 86 In jüngerer Zeit wird im Rahmen des cultural turn zunehmend auch von einem practical oder practice turn der Sozialwissenschaften gesprochen. 87 Die Hinwendung zu Praktiken des Handlungsvollzugs impliziert keineswegs eine Abkehr von kulturalistischen und wissenssoziologischen Perspektiven, sondern fuhrt diese auf anderer Ebene weiter, indem sie das soziologische Interesse an der gesellschaftlichen Erzeugung und Regulierung von Handlungsweisen und Signifikationsprozessen miteinander verschränkt. Dem liegt die Einsicht zu Grunde, dass es vielleicht ,sinnlose', aber keine ,bedeutungslosen' Praktiken gibt. 88 Sprachgebrauch ist also nicht die einzige Form der Aktualisierung von symbolischen Ordnungen oder Ordnungsmustern. Anthony Giddens (1979: 39) fasst diese Einsicht in einem kurzen Satz zusammen: "There are no signifying practices; signification should rather be understood as an integral element of social practices in general."
Zur Begründung verweist sie auf die Werke von Anthony Giddens, Emesto Laclau und Chantal Mouffe, Scon Lash u.a. sowie insbesondere auf die neuere Bewegungsforschung, die ihrerseits aus Entwicklungen der symbolisch-interaktionistischen Untersuchung der Karrieren öffentlicher Probleme hervorgegangen ist und sich mit der Herausforderung und Transformation kultureller Codes beschäftigt (Melucci 1996). 87 Entsprechende Argumente und Erläuterungen finden sich bspw. bei Bourdieu (1976), Giddens (1979, 1987), Hörning (1999), Reckwitz (2000, 2002, 2003) oder SchatzkifKnorr-CetinalSavigny (2001). Swidler (200 I) sieht in der Analyse von Praktiken und Diskursen die zukünftige Hauptaufgabe und Chance einer Soziologie, die von allzu starken Konzeptionen des ,Subjekts' Abstand nimmt. Thevenot (1998,2001) diskutiert die Einbindung wissenssoziologischer Konzepte in den practice turn. 88 Deswegen sprechen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe missverständlich in ihrer Diskurstheorie davon, alles sei Diskurs, also bedeutungszuweisende und -tragende Praxis (s.u. Kapitel 3.3.2). 86
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Der Begriff der Praktiken verweist auf, Verkörperungen' von Wissen in mehr oder weniger routinisierten und konventionalisierten Handlungsmustern. Soziale Strukturen und symbolische Ordnungen werden in Praktiken aktualisiert, (re)produziert und transformiert. Praktiken sind regelorientiert, ohne in der strikten Befolgung von Regeln aufzugehen. Es handelt sich um "Instruktionen" (Renn 2003), die der mehr oder weniger bewussten und mitunter regelverändernden Interpretation durch die Handlungsträger bedürfen. Die verschiedenen Praxistheorien beanspruchen, tradierte Dualismen der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung wie etwa die Unterscheidung von Handlung und Struktur, Subjekt und Objekt usw. zu überwinden. Dezidiert und sehr früh hat dies wiederum Giddens formuliert: "The pressing task facing social theory today is not to further the conceptual elimination of the subject, but on the contrary to promote a recovery 0/ the subject without lapsing into subjectivism. Such a recovery, I wish to argue, involves a grap of 'what cannot be said' (or thought) as practice. (... ) 'Action' or agency, as I use it, thus does not refer to aseries of discrete acts combined together, but to a continious flow 0/ conduct. We may define action (... ) as involving a 'stream of actual or contemplated causal interventions of corporeal beings in the ongoing process of events-in-the world'. (... ) Rules generate - or are the medium of the production and reproduction of - practices." (Giddens 1979: 44ff)
Für die gegenwärtig behauptete praxeologische Wende der Soziologie werden meist die Theorien von Giddens, Bourdieu, aber auch die Ethnomethodologie von Garfinkel u.a. als Grundlagen und Auslöser in Anspruch genommen. Garfinkeis Interesse galt der Herstellung gesellschaftlicher Ordnung durch soziale Akteure im praktischen Handlungsvollzug. Bourdieu setzte in seiner in Kapitel 2.2.2 vorgestellten "Theorie der Praxis" die Logik sozialer Felder und den Habitus an die Stelle von ,Objektivismus' und ,Subjektivismus'. Giddens entwarf in seiner "Theorie der Strukturierung" ein Konzept der "Dualität von Struktur", das im Anschluss an die Sprachspieltheorie von Wittgenstein poststrukturalisti· sche Theorieelemente mit solchen des sozialwissenschaftlichen interpretativen Paradigmas verknüpfte (vgl. Kap. 4.2.2).89 Schon lange werden in der Tradition der Hermeneutischen Wissenssoziologie Praktiken als stabilisierte Handlungsroutinen und als eine Form des Wissens verstanden (Honer 1999: 53; Luckmann 1992). Worin bestehen die wissenssoziologischen Implikationen der Rede von ,Praktiken'? Sprachliche und nicht-sprachliche Praktiken können als Materialisierung von kollektivem, sozial erzeugtem und bereitgestelltem Wissen verstanden werden. Einzelne Individuen sind Träger und Interpreten der gesellschaftlich konventionalisierten Praktiken, auch wenn solche Interpretationen mitunter nur als ,körperliche Reaktionsweisen' erscheinen. Praktiken sind als typisierte Handlungsmuster Bestandteil der kollektiven Wissensvorräte. Von den Individuen werden sie in Prozessen der Sozialisation und des Lemens als Routinekompetenzen des HandeIns und Be-Deutens zugleich inkorporiert, ohne dass dies notwendig eine im starken Sinne bewusst-reflexive Zuwendung zum jeweiligen Handlungsakt erfordert: 90
89 Einige Diagnosen des practice turn behaupten Konvergenzen zwischen poststrukturalistischen und soziologischen Theorieentwicklungen. 90 Solche Zuwendungen sind schon in der phänomenologischen Motiv-Analyse von Alfred Schütz (1974: 115ft) eher pro- oder retrospektive ,Sonderfälle'.
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Etappen der Wissenssoziologie "A specific social practice contains specific forms of knowledge. For practice theory, this knowledge is more complex than 'knowing that'. Jt embraces ways of understanding, knowing how, ways of wanting and of feeling that are linked to each other within a practice. In a very elementary sense, in a practice the knowledge is a particular way of 'understanding the world', wh ich includes an understanding of objects (including abstract ones), of humans, of oneself (... ) This way ofunderstanding is a collective, shared knowledge." (Reckwitz 2002: 249ff)91
Die verschiedenen Debatten über den behaupteten und geforderten practice turn der kulturalistischen Ansätze innerhalb der Soziologie entfalten bislang sehr unterschiedliche Vorstellungen der konzeptuellen Implikationen dieser Wende, bspw. bezogen auf die damit einhergehende Vorstellung von der Rolle der sozialen Akteure als regelinterpretierende Subjekte, taktische Vollzieher oder regelausruhrende Träger der Praktiken. Ungeachtet der Vorläufigkeit dieser Auseinandersetzung ist jedoch ihre wissenssoziologische Relevanz unbestreitbar (vgI. Kap. 4.2.4). Dies gilt auch oder gerade rur die Praktiken des Sprachgebrauchs, die der gesellschaftlichen Wissenszirkulation zugrunde liegen. Der entsprechenden Rolle von Kommunikationsprozessen in der neuerer Wissenssoziologie wende ich mich nun zu.
2.3.2 Der systemtheoretische Konstruktivismus von Niklas Luhmann Niklas Luhmann hat in seinen Studien zum Zusammenhang von "Gesellschaftsstruktur und Semantik" ab Anfang der I980er Jahre systemtheoretisch konzipierte wissenssoziologische Analysen vorgelegt (Luhmann 1993). Zunächst reformuliert er die klassische wissenssoziologische Ausgangsfrage nach der Seinsbezogenheit des Wissens als Frage nach den Entsprechungsverhältnissen, Korrelationen oder Kovariationen zwischen den sich evolutionär entfaltenden unterschiedlichen Formen sozialer Differenzierung - segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierung - und den ebenfalls evolutionären Veränderungen der "gepflegten Semantik", also den als ,bewahrenswert' tradierten Bestandteilen der sozialen Kommunikation. Die unterschiedlichen Differenzierungsformen - Luhmann interessiert sich hier insbesondere für den Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung - begrenzen die Variationsspielräume der Semantik, ohne diese direkt zu determinieren. Sie ermöglichen oder befördern auch die Herausbildung gesellschaftlicher Sondersemantiken innerhalb und mit den entstehenden Funktionssystemen, die sich, bestehend aus Kommunikationen, ja gerade über spezifische Codierungen entfalten und stabiliVgl. auch Reckwitz (2003). Die Darstellung von Reckwitz ist allerdings unvollständig. Schon seine Studie über Konvergenzentwicklungen unterschiedlicher Theorietraditionen (Reckwitz 2000) zu einem ,kulturalistischen' oder ,praxeologischen' Paradigma der Sozialwissenschaften muss verschiedene Auslassungen und überzogene Stilisierungen vornehmen, bspw. dann, wenn vom Übergang Foucaults von einer textlastigen Position zur Handlungstheorie gesprochen wird, oder wenn die Positionen von Alfred Schütz nur anhand des Frühwerkes rekonstruiert und dann zur ,Sackgasse' stilisiert werden. So kann man dann fordern, die Diskurstheorie müsse, anders als Foucault, Diskurse endlich als Praktiken begreifen (Reckwitz 2003: 298) und dabei übersehen, dass genau dies die Foucaultsche Bestimmung von Diskursen aus der "Archäologie des Wissens" aus dem Jahre 1969 ist (vgl. Kapitel 3.2.3). Ähnlich verhält es sich mit dem ,Nachschub' zur Sozial phänomenologie in Gestalt einer Fußnote: "Die spätere Sozial phänomenologie, insbesondere in SchützlLuckmanns ,Strukturen der Lebenswelt' entfernt sich jedoch zunehmend vom Mentalismus und weist Parallelen zur Theorie sozialer Praktiken auf' (Reckwitz 2003: 288). Auf Rezeptionsdefizite der Rekonstruktion von Reckwitz weist auch Endreß (2002) hin. 91
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sieren. Die Veränderung von Ideen und allgemeinen Vorstellungen wird damit nicht, wie in der marxistischen Tradition oder auch bei Mannheim sozialen Trägergruppen, deren Aufstieg oder Niedergang zugerechnet, sondern auf Veränderungen der Gesellschaftsstruktur und die sie begleitenden Prozesse der Variation, Selektion und Stabilisierung von Semantiken, nicht zuletzt in literarischen und wissenschaftlichen Traditionen der Auseinandersetzung mit Texten bezogen. 92 Die systemtheoretische Wissenssoziologie entfaltet Luhmann spezifischer in seiner Analyse der Wissenschaft als modemes Funktionssystem (Luhmann 1994, 1995). Während er der klassischen Wissenssoziologie (zu Unrecht) vorwirft, Wissen zu sehr nach dem Modell der Abbildung bzw. Repräsentation von Wirklichkeit konzipiert zu haben, deswegen dem Problem der Selbstreflexivität93 aufgesessen und daher eher bedeutungslos geblieben zu sein, besteht die systemtheoretische ,Neuerung' in der Umstellung auf Beobachtungen erster und zweiter Ordnung. 94 Wissenschaft wird bestimmt als gesellschaftlich ausdifferenzierte Sondersphäre der Beobachtung und Autopoiesis von Kommunikationen nach dem Code ,wahr/falsch'. Wissen ist immer Voraussetzung von Kommunikation und zugleich kondensierte Kommunikation. Als Kommunikationen gelten empirisch beobachtbare Operationen, die Unterscheidungen und damit Bezeichnungen prozessieren. Die wissenschaftliche Beobachtung ist kein Zugang zur Wirklichkeit, sondern eine Beobachtung zweiter Ordnung, also eine Beobachtung von Beobachtungen (deren Struktur oder Aufbau). Eine Soziologie der Wissenschaft ist ebenfalls eine solche Beobachtung zweiter Ordnung: sie untersucht, wie andere Beobachter mit der Unterscheidung von wahr und falsch umgehen, also ihrerseits Wissenschaft betreiben; sie kann selbst zum Gegenstand von Beobachtung werden. Damit ist für Luhmann das Problem der, Wahrheit' und der damit verbundene infinite Regress der klassischen Wissenssoziologie - was ist der eigene Standort der soziologischen Analyse? - gelöst. Wissen ist - so Luhmann - "kognitiv stilisierter Sinn": als Wissen lassen sich alle diejenigen Erwartungen bzw. Erwartungshaltungen bezeichnen, die im Enttäuschungsfall, also durch Irritationen korrigiert werden. 95 Die Wissensentwicklung verläuft als evolutionärer zeitlicher Prozess von Variationen, Selektionen und Stabilisierungen; sie setzt damit Lemmöglichkeiten voraus. Mit seinem Ansatz hat Luhmann eine Reformulierung wissenssoziologischer Perspektiven vorgelegt, die verschiedene Probleme der Wissenssoziologie in anderer Weise konzipiert, ohne sie dadurch selbst zu vermeiden oder gar zu lösen. So entgeht auch die Umstellung auf ,Beobachtung' nicht dem Problem des infiniten Regresses, jedenfalls nicht mehr und nicht weniger, als die ,herkömmliche' Wissenssoziologie wissenschaftlichen Wis-
Vgl. dazu als exemplarisches Analysebeispiel Luhmanns Untersuchung der Liebessemantik (Luhmann 1982). D.h. auch die soziale Relativität ihres eigenen Wissens behaupten zu müssen und folglich keinen ,sicheren' Standort einnehmen zu können. 94 Alfred Schütz ftihrte in den 1950er Jahren in seinen methodologischen Reflexionen die Unterscheidung von Konstruktionen erster und zweiter Ordnung ein. Demnach sind sozial wissenschaftliche Typenbildungen immer Konstruktionen zweiter Ordnung, die den Konstruktionen der sozialen Akteure im Feld, also den Konstruktionen erster Ordnung, nachgebildet sind bzw. entsprechen sollten, ohne in diesen aufgehen zu können (Schütz 1971 a). Der Unterschied zwischen beiden Konzepten besteht in den Relevanzsystemen, auf welche die Beobachtungen zweiten Grades bezogen werden: Bei Schütz geht es um die Adäquanz zu den Selbstbeschreibungen der Akteure, bei Luhmann gerade um die Möglichkeiten der systemtheoretischen Fremdbeschreibung. 95 Dies unterscheidet dann bspw. Wissen von Glauben und generalisiert augenscheinlich das Poppersche Falsifikationsprinzip. 92 93
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sens. 96 Die vergleichsweise inhaltsleere Bestimmung der Prozesse der Wissensentwicklung durch die evolutionstheoretische Formel für Zufall - also Variation, Selektion, Stabilisierung - und deren abstrakte Kombination mit gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen hat keine eigenen Möglichkeiten, Kontingenzen der Wissensentwicklung empirisch nachzuzeichnen. Luhmanns wissenssoziologische Untersuchungen von Sondersemantiken erinnern deswegen stark an den soziologisch informierten historischen Ansatz der Begriffsgeschichte. Eines der dabei auftretenden Probleme ist der ex-post Schluss von faktisch Durchgesetztem - bspw. einer spezifischen Liebescodierung für totale Intimbeziehungen (Luhmann 1982) - auf seine Funktional ität im Differenzierungsprozess, die dann wiederum als Ursache der Durchsetzung betrachtet wird - sofern überhaupt Gründe angegeben und nicht nur ,Gleichzeitigkeiten' festgestellt werden können. Für Luhmann ist Wissen per definitionem Resultat von Kommunikation und diese wiederum die Existenzweise des Sozialen, also der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Seine Theorie im Allgemeinen und seine Wissenssoziologie im Besonderen liefern Phänomenbeschreibungen nach Maßgabe der systemtheoretischen Grundkonzeption, bei denen bislang nicht abzusehen ist, inwieweit sie der Korrektur durch empirische Forschung zugänglich sind, d.h. wie sie den Forschungsprozess anders denn als Deskription der Phänomene durch das theoretische Vokabular angehen können. Damit stellt sich rur die Systemtheorie selbst die Frage, ob sie als Wissen gelten kann - zeichnet sich letzteres doch, wie Luhmann ausführt, als eine Erwartungshaltung aus, die im Enttäuschungsfall korrigierfähig ist.
2.3.3 Das interpretative Paradigma Die in Kapitel 2.2.1 diskutierte sozialkonstruktivistische Erneuerung der Wissenssoziologie durch Berger/Luckmann führte Theoriebausteine aus unterschiedlichen soziologischen Traditionen der Wissensanalyse zusammen. Durch ihre integrative Ausrichtung fungiert sie als eine Art Grundlagenwerk des sozialwissenschaftlichen interpretativen Paradigmas bzw. der interpretativen Wende der Soziologie (Rabinow/Sullivan 1979), in dem die "gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" als Aushandlungsprozess symbolisch vermittelter Wissens-Ordnungen zwischen sozialen Akteuren und als Herstellungsleistung in sozialen Praktiken untersucht wird. Innerhalb des interpretativen Paradigmas wurden unterschiedliche Ansätze zur Untersuchung gesellschaftlicher Konstruktionsprozesse entwickelt, die sich aus den Traditionen der handlungstheoretischen und sinnverstehenden Soziologie, aus dem Pragmatismus und der soziologischen Chicago School sowie aus sprachphilosophischen Entwicklungen speisen (vgl. Keller 2008a). Einige dieser Ansätze - wie bspw. der Neoinstitutionalismus und die Hermeneutische Wissenssoziologie - stellen sich mit sehr unterschiedlichen Akzentuierungen in die direkte Nachfolge von Berger/Luckmann. Demgegenüber haben sich die Ethnomethodologie und der Symbolische Interaktionismus zwar Sie hat Vorteile gegenüber einigen Spielarten der Social Studies of Science, die versuchen, durch nichtwissenschaftliche Stilmittel ihren eigenen Analyseergebnissen einen Status außerhalb der wissenschaftlichen Selbstbezüglichkeit zu geben. Im Übrigen zeigt der Cartoon, mit dem Karin Knorr-Cetina (1984) ihre Laborstudie eröffnet - Wissenschaftler beobachten Wissenschaftler bei der Arbeit, die Wissenschaftler beobachten etc. - , dass diese Position seit langem auch in der Wissenschaftsforschung gesehen und vertreten wird. 96
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in Kontakt mit der phänomenologisch-wissenssoziologischen Tradition entwickelt, betonen jedoch zugleich jeweils eigene Traditionslinien. Die durch das Werk von Alfred Schütz beeinflusste und wesentlich von Harold Garfmkel ausgearbeitete Ethnomethodologie, deren Programmatik Teilen der weiter oben erläuterten Social Studies of Science zugrunde liegt, interessiert sich für die permanente praktische Herstellung sozialer Ordnung in den Interaktionssequenzen sozialer Akteure: "Für die Ethomethodologen ist das Individuum ein kompetent Handelnder, dem es möglich ist, in den alltäglichen Handlungssituationen seine Wissenssysteme reflexiv, methodisch und situationsbezogen zu gebrauchen. Die Bedeutung der Ethnomethodologie liegt wohl darin, daß sie mit diesem theoretisch formulierten und empirisch aufgezeigten Bild vom kompetent handelnden Menschen die Brücken zu den deterministischen Modellen behavioristischer und strukturell-funktionaler Theoretiker in den Sozialwissenschaften abgebrochen und, durch die philosophische Tradition der Phänomenologie angeleitet, Wege aufgezeigt hat, das zielgerichtet handelnde Individuum bei der Herstellung der gesellschaftlichen Realität zu beobachten und diese dadurch zu erkennen." (Weingarten/Sack 1976: 20f)
Man kann dieses Programm als eine Möglichkeit der radikalisierten Umsetzung der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie begreifen. 97 Dafür spricht die Ausarbeitung der Ethnomethodologie als konversationsanalytische Untersuchung der mikro-sozialen Ordnungsstrukturen sprachlicher Interaktionen (Eberle 1984, 1997).98 Das weiter unten diskutierte Konzept der "kommunikativen Gattungen" funktioniert in der neueren deutschsprachigen Hermeneutischen Wissenssoziologie als direktes Bindeglied zwischen der Konversationsanalyse und der phänomenologisch-wissenssoziologischen Tradition. Der soziologisch-politikwissenschaftliche Ansatz des Neo-Institutionalismus greift mit seiner entschiedenen Hinwendung zur Institutionenanalyse das sozialkonstruktivistische Programm auf und ergänzt es in spezifischer Weise. lohn Meyer (1992), einer der wichtigsten Protagonisten des Neo-Institutionalismus, akzentuiert eine vierfache Weiterführung der Theorie von Berger/Luckmann: 99 Erstens bezieht der Neo-Institutionalismus größere Räume und historische Zeitspannen, also umfassendere institutionelle Kontexte in die Analyse der Konstruktionsprozesse ein. Zweitens wird die Kategorie der Akteure von der Ebene der unmittelbaren Interaktionsteilnehmer gelöst und um kollektive (z.B. die Professionen) bzw. institutionelle (z.B. der Staat) Varianten erweitert, die sich allesamt an Prozessen der gesellschaftlichen Bedeutungskonstruktion beteiligen. In diesem Zusammenhang hebt der Neo-Institutionalismus die Strukturierung des Möglichkeitsrahmens von Wirklichkeitskonstruktionen durch Machtverhältnisse hervor. Drittens betont der Ansatz die Produktivität von Inkonsistenzen und Widersprüchen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen Dies scheint mir plausibler als die weiter oben in Kapitel 2.2.1 erwähnte Interpretation von Stephan Wolff, der darin ein Alternativprogramm vermutet. Vgl. auch die Würdigung des Werkes von Schütz durch Garfinkel (1981: 216) und die dort herausgearbeiteten Bezüge zur phänomenologischen Wissensanalyse. Siehe auch Psathas (1981). 98 Mit der ethnomethodologisch orientierten Konversationsanalyse und der Ethnographie der Kommunikation sind soziologische Varianten der Sprach- und Kommunikationsforschung entstanden, die an verschiedenen Stellen mit der wissenssoziologischen Perspektive von BergerlLuckmann verknüpft wurden (Knoblauch 2000). 99 Eine explizite Verortung des Neoinstitutionalismus in der wissenssoziologischen Tradition, wie sie Meyer vornimmt, ist jedoch selten. Eine ausführlichere Diskussion der Grundlegung des Neo-Institutionalismus in der Wissenssoziologie von BergerlLuckmann findet sich bei Dobbin (1994). Vgl. neben dem erwähnten Text von Meyer auch ThomasfMeyerlRamirezIBoli (1987), PowellfDiMaggio (1991) und HasselKrücken (1999). 97
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und zwischen möglichen Identitätsformen. Schließlich wird viertens kritisiert, dass Berger/Luckrnann der Kategorie des, Wissens' zu viel Aufmerksamkeit gewidmet hätten und darüber den Begriff der ,Bedeutung' (meaning) vernachlässigten. Gegen die empirischen Arbeiten, die aus Meyers Version des Neo-Institutionalismus hervorgegangen sind, lässt sich allerdings umgekehrt der Einwand formulieren, dass sie einer eher quantifizierenden Diffusionsperspektive institutioneller Muster folgen, in der die ursprünglich betonte Wissensdimension auf die Benennung von "Rationalitätsmythen" reduziert und nicht eigentlich zum Analysegegenstand wird (vgl. Meyer 2005).100 Gewiss hat in der deutschsprachigen Rezeption der sozialphänomenologisch fundierten Wissenssoziologie die Beschäftigung mit Bedeutungen immer schon eine zentrale Rolle gespielt; letztlich wurde und wird die Kategorie des, Wissens' hier vielfach synonym mit ,Bedeutung' oder ,Typisierung' eingesetzt. Doch mag die Konzentration auf ,Wissens'soziologie auch dazu beigetragen haben, dass bis heute der Symbolische Interaktionismus nur selten in Zusammenhang mit der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie gebracht wird. lol Gleichwohl geht es dabei um Aushandlungen kollektiver Wirklichkeitsdefinitionen in öffentlichen Arenen und Diskursen, die in Analogie zu den von Berger/Luckmann skizzierten Prozessen reziproker Wissensobjektivierung analysiert werden. In der nachfolgenden Betrachtung der kommunikativen Konstruktion des Wissens im interpretativen Paradigma diskutiere ich zunächst die "kommunikative Wende" der Berger/Luckmann-Tradition. In einem zweiten Schritt gehe ich auf die wissenssoziologisch fundierte Entfaltung der Analyse öffentlicher Diskurse innerhalb des Symbolischen Interaktionismus ein. Drittens erörtere ich den Vorschlag von Hubert Knoblauch zur Verknüpfung der Analyse kommunikativer Gattungen mit der Diskursperspektive des Symbolischen Interaktionismus im Konzept der "Kommunikationskulturen". 2.3.3.1
Die kommunikative Wende der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie
Die Wissenssoziologie der sozialphänomenologischen Tradition zielt, wie in Kapitel 2.2.1 erläutert, auf die Analyse von individuellen und gesellschaftlichen Wissensbeständen. Als deren Grundlage wird ein soziales Handeln bestimmt, das nicht solitären Entwürfen folgt, sondern im Rückgriff auf gesellschaftliche Wissensvorräte in Interaktionsprozessen erfolgt, aus denen wiederum intersubjektiv geteilte Deutungs- und Handlungsmuster hervorgehen und zu Institutionen gerinnen. Sprache als vielleicht wichtigste soziale Institution spielt in diesen Prozessen eine zentrale Rolle sowohl als Medium der gesellschaftlichen Sinnorganisation wie als Speicher der Wissensvorräte. Trotz der von Berger/Luckrnann hervorgeho100 Insoweit bietet die Wissenssoziologische Diskursanalyse eine hilfreiche Ergänzung des Neo-Institutionalismus an. Meyer selbst verweist verschiedentlich auf die Bedeutung einer Foucaultschen Perspektive für die Analyse des westlichen Akteurs- oder Subjektmodells hin, das mit den institutionellen Mustern ebenfalls weltweit diffundiert, ohne dies allerdings näher zu erläutern. Im Bamberger Graduiertenkolleg "Märkte und Sozialräume in Europa", das wesentlich an den Neo-Institutionalismus anschließt, nutzen inzwischen einige sozialwissenschaftliche Studien Diskursperspektiven (vgl. etwa Bechmann 2007). 101 Zu den Ausnahmen gehören u.a. Gusfield (1981) und Schetsche (1996, 2000). Im englischsprachigen Raum werden Verbindungen zwischen dem Symbolischen Interaktionismus (bis hin zu den letzten Werken von Anselm Strauss) und der Position von Berger/Luckmann häufiger gesehen (vgl. etwa Clarke 2005; Jackson/Scon 2007). Knoblauch (1995) stellt zwar Bezüge zwischen den Perspektiven her, geht jedoch nicht auf den Entstehungszusammenhang ein.
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benen Rolle der Sprache rur die permanente (Re-)Produktion der Wirklichkeit geraten Kommunikationsprozesse im damaligen Kontext ebenso wenig in ihren Blick wie Formen der Wissensvermittlung jenseits der Sozialisation. Die Konzentration auf Typenrekonstruktion anstelle von Prozessanalyse prägt auch die Fragestellungen der Hermeneutischen Wissenssoziologie (Hitzler/Reichertz/Schröer 1999a), die sich als Weiterfiihrung der Tradition von Berger/Luckmann im deutschsprachigen Raum zunächst eher rur die Rekonstruktion der Deutungs- und Handlungsmuster von ,Akteuren des Alltags' in deren Lebensvollzug, praktischen Tätigkeiten (Handlungen) und ihrem Mikrokosmos kleiner sozialer Lebenswelten interessierte (HitzIer 2000; grundlegend Hitzier 1988). Es handelt sich dabei um eine Programmatik zur Versammlung von noch in den 1980er Jahren eher verstreuten Ansätzen der qualitativ-interpretativen Sozialforschung unter einem gemeinsamen theoretischkonzeptionellen Dach, die Anfang der I990er Jahre insbesondere von Jo Reichertz und Norbert Schröer vorgeschlagen wurde. 102 Die besondere Akzentsetzung der Hermeneutischen Wissenssoziologie innerhalb der sozialkonstruktivistischen Tradition besteht in der Reflexion der Deutungsprozesse, welche die Soziologie bzw. spezifischer das interpretative Paradigma und die qualitative Sozialforschung in Bezug auf ihr Datenmaterial vornehmen. Dazu hat sie unterschiedliche Vorschläge zur methodischen Kontrolle der Interpretationsvorgänge entwickelt. 103 Die Hermeneutische Wissenssoziologie ist als theoretisches, methodologisches und methodisches Konzept "Teil einer mundanphänomenologisch informierten Soziologie des Wissens und methodisch/methodologisch Teil einer hermeneutisch die Daten analysierenden, strukturanalytisch modellbildenden interpretativen Sozialforschung." (HitzlerlReichertz/Schröer 1999b: 10)
Sie zielt, folgt man dem Selbstverständnis ihrer Protagonisten, auf eine Integration von strukturorientierten und interaktionistischen Traditionen der Soziologie, um dadurch dem "Doppelcharakter von Wirklichkeit" Rechnung zu tragen, einerseits in Bewusstseinstätigkeiten konstituiert und andererseits zugleich gesellschaftlich konstruiert zu sein. Als "strukturanalytischer Handlungstheorie" geht es ihr um die Rekonstruktion von Regeln, die Handlungen zu Grunde liegen. Gleichzeitig wird vor einem überzogenen Regel- oder Strukturdeterminismus gewarnt: Soziale Akteure können sich ,frei' auf solche Regeln beziehen, also ,eigen-willig' oder ,eigen-sinnig' Stellung nehmen: Sie legen das im kollektiven Wissensvorrat angebotene Wissen nach ihren Dispositionen aus und entwerfen Handlungsziele, die aus Gründen der Routinisierung und Handlungsentlastung in der Regel nahe beim gesellschaftlichen Konsens liegen. Dennoch ist diese Ebene der subjektiven Verarbeitung ein konstitutiver Bestandteil des Handeins. Sie hält die soziale Ordnung lebendig, weil sie Bewahrung und Erneuerung strukturell auf Dauer stellt. Indem sich Menschen auf Wissensangebote deutend beziehen, könne sie diese reproduzieren oder verändern. Die strukturelle Komplexität der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der entstehenden Handlungsprobleme erfordert ständig neue Varianten der Auslegung. Insoweit ist die gesellschaftliche Konstruktion ein permanenter Prozess; gesellschaftliche Wirklichkeit ergibt sich nicht 102 Die Hermeneutische Wissenssoziologie wird innerhalb der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik verortet. Die wichtigsten neueren Arbeiten sind Hitzier (1988), Soeffner (1989), Schröer (1994), Reichertz (I 997a), Schröer (1997, I997a) und die Beiträge in HitzlerfReichertzJSchröer (I 999a). 103 Vgl. die in der vorangehenden Fußnote angegebene Literatur.
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allein aus dem angebotenen Wissensvorrat, sondern auch aus und in den alltäglichen Herstellungs- und Interpretationsleistungen dieser ,Vorauslegungen ' durch selbstreflexive Subjekte, die Adressaten und Deuter zugleich sind. So heißt es bei HitzlerlReichertz/Schröer (1999b: 1I f), die programmatische Gesamtidee der Hermeneutischen Wissenssoziologie bestehe nunmehr "in der Einnahme einer bestimmten Perspektive und der sich daraus ergebenden ,Großfragestellung', welche das Arbeitsfeld der hermeneutischen Wissenssoziologie öffnet und bildet. Die Grundzüge einer solchen Perspektive lassen sich etwa so fassen: In Gesellschaften bzw. durch deren Institutionen stehen den sozialen Akteuren relativ komplexe, teilweise hochkomplexe Wissensbestände zur VerfUgung. Dieses Wissen bezieht sich zum ersten auf die Welt im Ganzen, zum zweiten auf die Gesellschaft und deren Ordnung und zum dritten auch auf das Verständnis des Einzelnen, auf seine Bedeutung und auf sein Verhältnis zu anderen, zur Gesellschaft und zur Welt ,im Ganzen'. Dieses Wissen und auch die Institutionen, in denen es bewahrt, gestützt und verteilt wird, sind im Laufe der menschlichen Geschichte(n) gesellschaftlich erarbeitet, kontrolliert und auch bewertet worden. Dieses Wissen ist grundsätzlich handlungsorientiert, d.h. es dient insbesondere dazu, gesellschaftlich als relevant erachtete Handlungsprobleme und -möglichkeiten, Optionen und Obligationen, Chancen und Risiken zu identifizieren (...) Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, daß aber auch dann, wenn in einer bestimmten Gesellschaft bestimmten Akteuren zum Erreichen eines bestimmten Ziels in einer typischen Situation typische Mittel zur Verfügung stehen, und auch wenn manche Mittel nahegelegt und andere als mit Gefahren verbunden beurteilt werden, dies bei den darauf rekurrierenden Akteuren dennoch nicht automatisch zur Ausführung entsprechender typischer Handlungen führt (...) Die subjektive Verarbeitung des gesellschaftlichen Typenrepertoires durch den Akteur ist handlungskonstitutiv, und sie hält letztlich die soziale Ordnung lebendig, weil sie sowohl Bewahrung als auch Erneuerung strukturell auf Dauer stellt."
Richteten sich die empirischen Forschungsinteressen dieses Ansatzes zunächst auf die erwähnte Analyse von typisierbaren Deutungs- und Handlungsmustern auf der Ebene des Alltagshandeins, so lässt sich in den 1990er Jahren eine Ergänzung um die Untersuchung von Kommunikationspraktiken und -prozessen beobachten, die im Kontakt mit der Konversationsanalyse in das Programm einer wissens- und sprachsoziologischen Analyse "kommunikativer Gattungen" eingeflossen ist. Kommunikative Gattungen gelten als geseIlschaftsspezifisch und historisch konventionalisierte Handlungsmuster zur Lösung wiederkehrender kommunikativer Abstimmungsprobleme, die sprachliche Interaktionen strukturieren (Günthner/Knoblauch 1997: 282). Damit wird das wissenssoziologische Programm von Berger/Luckmann aufgegriffen und in der Untersuchung von Kommunikationsprozessen realisiert: "In diesem Sinne aber verfolgen die hermeneutischen Verfahren ebenso wie die in der Sprachsoziologie repräsentierten anderen qualitativen Ansätze eines der Ziele, das schon die Begründung der Sprachsoziologie leitete: indem sie das Problem der Orientierung von Handlungen durch Sinn behandeln, sind sie entschieden wissenssoziologisch. Und weil sie auch die empirische Tradition der qualitativen Sozialforschung fortsetzen, die sich mit den pragmatischen und kommunikativen Aspekten des Wissens beschäftigt, ließe sich der gegenwärtige Schwerpunkt der ehemaligen Sprachsoziologie am ehesten mit dem Begriff der empirischen Wissenssoziologie umschreiben." (Knoblauch 2000: 54)
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Die Beschäftigung mit Sprache ergibt sich aus dem Wissensbegriff und der dahinter stehenden Zeichentheorie der sozialphänomenologischen Tradition. Alfred Schütz entwickelte eine Theorie des "Fremdverstehens", die das Problem des Sinnverstehens, bezogen auf das Handeln Anderer, lösen sollte. Die wesentliche Grundlage dieser Theorie ist eine Unterscheidung verschiedener Zeichenarten und -funktionen. Schütz skizziert damit zugleich die Vermittlung zwischen dem individuell-subjektiv konstituierten Sinn und dem gesellschaftlich-intersubjektiven Wissensvorrat der Bedeutungen: "Die Welt des Alltags ist von vornherein intersubjektiv" (Schütz 1971 f: 360; vgl. ebd. 331 ft).104 Die Zeichenbeziehung ist von Beginn an eine öffentliche Kommunikationsbeziehung zwischen zeichensetzendem Ich und zeichendeutendem Anderen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Appräsentation: Zeichen verweisen als Kopplung von materialem Zeichenträger und Bedeutung auf etwas außerhalb ihrer selbst. Schütz benennt im Anschluss an Husserl diesen Prozess als denjenigen der "Appräsentation" - es handelt sich um den Schluss von dem Präsenten auf etwas Nicht-Präsentes. Appräsentation ist die Grundlage aller Benutzung von Zeichensystemen. 105 Nach SchützfLuckmann (1984: 207ft) sind Sprache und andere Zeichensysteme als appräsentative Strukturen zu verstehen, die sich intersubjektiv aufbauen, geschichtlich abgelagert und gesellschaftlich vermittelt werden (vgl. Kap. 4.2.1). HansGeorg Soeffuer (1991) verweist darauf, dass sich der Prozess der "Appräsentation" auf unterschiedlichste sozial objektivierte Zeichenformen bezieht. Diese sind ihrerseits aus kommunikativen Handlungen hervorgegangen und haben insofern reflexiven Charakter, wie sie solche Handlungen einerseits überhaupt ermöglichen und andererseits darin reproduziert oder transformiert werden. 106 Sie existieren also nicht, wie dies die strukturalistische Semiotik (vgl. Kapitel 3.1.2.1) suggeriert, losgelöst von ihrem Gebrauch in Handlungskontexten. Schon Schütz betonte nicht nur die kommunikative Erzeugung, sondern auch die kommunikative Vermittlung gesellschaftlicher Wissensvorräte in das Einzelbewusstsein; die Lebenswelt des Alltags ist in erster Linie eine "gemeinsame kommunikative Umwelt" und "kommunikative Lebenswelt" (vgl. Schütz 1971 f: 363 [1955]). Luckmann insistiert ebenfalls darauf, dass wir ,empirisch' die Welt nur durch die Vermittlung kommunikativer 104 Schütz (1971f: 331ff[l955]) setzt sich hier mit den Theorien von Whitehead, James, Morris, Cassirer, Langer u.a. auseinander. lOS Schütz (1971 f: 353ff und 368ft) unterscheidet nach ihren Funktionen und den dabei vorgenommenen Sinnverweisen vier Arten von Zeichen: "Merkzeichen" sind subjektive Markierungen zur Erinnerung, bspw. ein Lesezeichen in einem Buch. "Anzeichen" werden solche Zeichen genannt, die auf etwas schließen lassen, ohne ihre Beabsichtigung, also Intentionalität vorauszusetzen. Blänerbewegungen gelten dann bspw. als Indiz für starken Wind. Spezifisch als "Zeichen" begreift er intersubjektiv konstituierte und die Verständigung ennöglichende Zeichenformen wie bspw. die Sprache. Ihre Verwendung setzt Intentionalität voraus. Als "Symbole" gelten schließlich intersubjektiv konstituierte Zeichen, die auf andere Wirklichkeitsbereiche verweisen. Anzeichen, Merkzeichen, Zeichen und Symbole sind soziale Phänomene und besitzen Bedeutungsgehalte, die über die unmittelbare Situation ihres Gebrauchs hinausgehen. Vgl. dazu auch die Zusammenfassung der Zeichentheorie von Schütz bei Hanke (2002: 57ft). 106 Gegen Jacques Derridas These, es gäbe keinen systemisch fixierten Sinn, mithin keine Wiederholung oder Reproduktion, sondern nur beständige Sinnverschiebung (differance; Derrida 1990) muss betont werden, dass die pennanenten Koordinationsleistungen von Handlungen ein hinreichendes Absehen von dieser Sinnindividualität oder -verschiebung erfordern. In der sozialphänomenologischen Tradition steht dafür das Konzept der Typisierungen. Eco (1999) weist in einem Kommentar zu einer durch Derrida verschickten Tagungseinladung darauf hin, dass auch letzterer unumgänglich Konventionalisierungen von Sinn voraussetzen muss, um Handlungen zu koordinieren - also bspw. Eco tatsächlich auf seiner Tagung zu sehen.
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Vorgänge kennen. Das von ihm in den 1980er Jahren zusammen mit Jörg Bergmann, Hubert Knoblauch u.a. entwickelte Programm der Analyse kommunikativer Gattungen greift auf Denkfiguren und Konzepte der russischen Sprachphilosophen Mikhail Bakhtin (1986) und Valentin N. Volosinow (1975) zurück, die auch in der Diskurstheorie eine wichtige Rolle spielen (vgl. Kapitel 3.1.2.2).107 Bakhtin und Volosinow, die im Grunde bereits das gesamte Konzept der kommunikativen Gattungen entwarfen, interessierten sich für die soziale Strukturierung des Sprachgebrauchs und skizzieren bereits sehr früh eine deutlich von der Saussureschen Sprachtheorie abgesetzte Vorstellung von Alltagssprache. Sie betonen insbesondere die Regulierung des Sprachgebrauchs in "speech genres", d.h. besonderen Themen, Konstruktionen und linguistischen Muster für typische Sprechsituationen. Diese Grundidee - jedes kommunikative Handeln unterliege also Regeln, die das Verhalten vorzeichnen und so für eine gewisse Strukturierung des kommunikativen Geschehens sorgen - wird bei Luckmann zum Ausgangspunkt einer Wissenssoziologie der kommunikativen Deutungs- und Darstellungsformen, des kommunikativen Haushaltes einer Gesellschaft, der seinerseits als Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensvorrates gilt (KnoblauchlRaab/Schnettler 2002: 28ff). Gesellschaftliche Wissensvorräte werden in Kommunikationsprozessen verschiedenster Art auf unterschiedlichen Ebenen aufgebaut, aufrechterhalten, verändert und weitergegeben. Kommunikationen dienen der Vermittlung von Typologien und Taxonomien sowie derjenigen von Wert- und Relevanzkriterien zur Handlungssteuerung und -koordination (Luckmann 2002d). Soziologisch beobachtbar ist die typische Abfolge kommunikativer Abläufe in sozialen Veranstaltungen und sozialen Milieus. In diesem Zusammenhang spricht Luckmann (2002e) selbst vom "kommunikativen Paradigma der neuen Wissenssoziologie" und von der "kommunikativen Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit", die der theoretischen Ausweitung und empirisch-methodologischen Neuausrichtung der Wissenssoziologie zur Analyse des Verständigungshandelns in seinen Einzelheiten zugrunde liege (Knoblauch/Raab/Schnettler 2002).108 Der Begriff des "kommunikativen Haushaltes" dient als Bezeichnung für die dynamische Seite der Objektivierungs- und Vermittlungsprozesse des Wissens, die Berger/Luckmann programmatisch skizzierten: "Der kommunikative Haushalt bildet zusammen mit dem gesellschaftlichen Wissensvorrat die Kultur einer Gesellschaft. Dabei stellt der kommunikative Haushalt ein Komplement zum gesellschaftlichen Wissensvorrat dar. Bezeichnet der gesellschaftliche Wissensvorrat als statische Kategorie das sozial abgeleitete, subjektive Wissen der Handelnden, dessen soziale Verteilung und institutionelle Verankerung, so werden mit dem kommunikativen Haushalt gleichsam die dynamischen Aspekte der Objektivierung und Vermittlung des Wissens erfaßt. Schon zum typischen subjektiven (und damit auch gesellschaftlichen) Wissensvorrat gehört freilich auch die kommunikative Kompetenz der Handelnden, die als Grundlage aller Kommunikation das Wissen über kommunikative Formen, die Fertigkeiten zum Vollzug kommunikativer Handlungen und die sozial verteilte Verfügbarkeit kommunikativer Mittel umfasst (... ) Ausgehend von der funktionalen Annahme, daß sich Verfestigungen kommunikativer Vorgänge und Situationen dort ausbilden, wo relevante Probleme bewältigt werden, dient das Konzept des kommunikati107 In der Literatur wird wiederholt auf die Vermutung hingewiesen, die zitierte Arbeit von VoJosinow sei tatsächlich von Bakhtin verfasst worden (vgl. Collins 1999; Maybin 200 I). 108 Die Analyse kommunikativer Gattungen wurde im Forschungszusammenhang von Luckmann, Bergmann und Knoblauch an verschiedenen empirischen Gegenstandsbereichen insbesondere der Moral- und Alltagskommunikation durchgeführt.
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ven Haushalts gewissermaßen als eine Relieflandkarte des gesellschaftlichen Relevanzsystems." (Knoblauch 1995: 3030
Innerhalb der Hermeneutischen Wissenssoziologie hat Hubert Knoblauch (1995) das Konzept der kommunikativen Gattungen in programmatischer Zielsetzung aufgegriffen und unter Einbezug diskursorientierter Ansätze des Symbolischen Interaktionismus zu einer wissenssoziologischen Theorie der "Kommunikationskulturen" erweitert. Dabei handelt es sich um den bislang einzigen Vorschlag zum Einbezug des Diskurskonzepts in die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie. Bevor ich darauf in Kapitel 2.3.3.3 eingehe, werde ich zunächst erläutern, wie die Analyse öffentlicher Diskurse im Rahmen des Symbolischen lnteraktionismus entfaltet wird. 2.3.3.2
Öffentliche Diskurse und die ,Definition der Situation': Symbolischer Interaktionismus
Der Symbolische Interaktionismus gehört - zumindest im angelsächsischen Bereich - zu den wichtigsten Teilströmungen des interpretativen Paradigmas der Soziologie. Vor dem Hintergrund der pragmatistischen Philosophie, des Meadschen Sozialbehaviorismus und der Chicago School der Soziologie wird diese Perspektive vor allem in den 1960er Jahren in den USA entwickelt und sehr schneH auf Karriereprozesse sozialer Probleme und darauf bezogene Definitionskonflikte in der Öffentlichkeit bezogen. Mit der Analyse von öffentlichen Diskussionsprozessen als ,public discourses' ruhrt der Symbolische Interaktionismus in anderer Akzentuierung als die weiter oben diskutierte Wissenschaftsforschung und ohne Beschränkung auf einen spezifischen Gegenstandsbereich - allerdings mit Bezug auf einen spezifischen Ort, die öffentliche Arena solcher Aushandlungen - einen Diskursbegriff in die interpretative Tradition ein. Die wissenssoziologische Theorie von Berger/Luckmann, die etwa zeitgleich mit wichtigen Grundlagen der symbolisch-interaktionistischen Perspektive ausgearbeitet wurde, weist zahlreiche Bezüge bzw. Affinitäten zu den Annahmen des Symbolischen Interaktionismus auf. Das gilt nicht nur rur ihre sozialisationstheoretischen Annahmen, sondern auch rur die Mechanismen der interaktiven Objektivierung symbolischer Ordnungen. 109 Sie wurde im Symbolischen Interaktionismus im Kontext der Analysen kollektiver Kämpfe um die Definition sozialer Probleme rezipiert. Deswegen erscheint es nicht als übertrieben, diese spezifische Ausarbeitung einer diskursorientierten Perspektive in die Tradition des Sozialkonstruktivismus zu steHen (Gusfield 1981; Schetsche 2000: 17ff; 1996). Die Grundposition des Symbolischen Interaktionismus lässt sich nach wie vor am besten mit den drei Prämissen formulieren, die Herbert Blumer in den 1960er Jahren vorgeschlagen hat: "Die erste Prämisse besagt, daß Menschen ,Dingen' gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Unter ,Dingen' wird alles gefaßt, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag - physische Gegenstände, wie Bäume oder Stühle; andere Menschen, wie eine Mutter oder einen Verkäufer; Kategorien von Menschen, wie 109 Vgl. dazu bspw. die Hinweise bei Gildemeister (1997) oder auch die Darstellung bei Abels (1998), Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (1981), Schröer (1994a).
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Etappen der Wissenssoziologie Freunde oder Feinde; Institutionen, wie eine Schule oder eine Regierung; Leitideale wie individuelle Unabhängigkeit oder Ehrlichkeit; Handlungen anderer Personen, wie ihre Befehle oder WUnsche; und solche Situationen, wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen. Die zweite Prämisse besagt, daß die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, daß diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozeß, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden." (Blumer 1981: 81)
Während Schütz in seinem Werk eine Analyse der sozialen Typik individueller Bewusstseinsinhalte und der Wissensstrukturen der alltäglichen Lebenswelt vorgenommen hat, insistiert der Symbolische Interaktionismus auf dem symbolischen Gehalt aller Zeichenformen und dem symbolvermittelten Charakter von Interaktionen. In Übereinstimmung mit der vorangehend skizzierten Zeichentheorie bei Schütz wird die Notwendigkeit von Interpretationsprozessen betont, auch die überindividuellen Verstrickungen wechselseitiger Situationsdefinitionen und der Prozess der kollektiven Aushandlung sozialer Wirklichkeit. Menschen weisen demnach materiellen wie immateriellen Dingen Bedeutung zu, entwickeln konventionalisierte Deutungs- und Handlungsmuster und konstruieren dadurch gemeinsam die Realität ihrer bzw. ,der' Welt. Die Bedeutungen sind nicht Resultat individueller Idiosynkrasien, sondern sozial objektiviert, d.h. in Interaktion mit anderen entstanden, verfestigt, weitergegeben und modifiziert. Die Bedeutungszuweisung ist kein Automatismus, sondern ein aktiver und auch kreativer Handlungsprozess, der seinerseits Teil eines Netzwerkes von Handlungen ist (Blumer 1981: 99). Mithin geht es keineswegs um eine ,Spontantheorie' der Bedeutungszuweisung. Auch der Prozess der Aushandlung von Situationsdefinitionen sollte nicht wörtlich als tatsächlicher Argumentationsprozess verstanden werden, wie dies bspw. Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handeins konzipiert. ,Aushandlung' meint vielmehr eine sukzessive Abfolge der wechselseitigen Entäußerung und Interpretation von Zeichen in Interaktionsprozessen, also eine intersubjektive und fortlaufende Abstimmung von Interpretationsprozessen zwischen Bestätigung und Korrektur. Dies muss nicht notwendig sprachlich vermittelt sein, sondern kann über Körperausdruck, Gesten u.a. erfolgen. In Weiterfiihrung bzw. Ausweitung des Symbolischen Interaktionismus auf die Arenen, Ebenen und Prozesse kollektiver Aushandlungen von sozialen Problemen wurden bspw. im Ansatz des ,Iabeling approach' und in den Forschungen über Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen - seit Anfang der 1970er Jahre die konjlikthaJten Auseinandersetzungen zwischen kollektiven Akteuren über gültige Wirklichkeitsdefinitionen als öffentliche Diskurse begriffen. IID Herbert Blumer, Malcolm Spector und John Kitsuse bspw. hat110 VgJ. klassisch Becker (1981); als Einführung in die Soziologie (der Karriere) sozialer Probleme Schetsche (1996); einige Beispiele in Knoblauch (1995); zur kulturalistischen Bewegungsforschung etwa die Beiträge in JohnstonlKlandermans (1995), auch Giugni (1999), Gamson (1988a), Jasper (1997), zur (unterschiedlichen) Adaption in Deutschland Gerhards (1992, 2003), BrandfEderlPoferl (1997), Keller (1998, 2000). Einflussreich ist der Symbolische Interaktion ismus auch in der soziologischen Debatte über ,Medikalisierung'; dort trifft er auf Foucaultsche Perspektiven. VgJ. etwa Conrad/Schneider (1980), Conrad (1992), Lupton (1997). 1983 hat Foucault sein Arbeiten folgendermaßen beschrieben: "Ich versuchte von Anfang an, den Prozeß der ,Problematisierung' zu analysieren - was heißt: Wie und warum bestimmte Dinge (Verhalten, Erscheinungen, Prozesse) zum Problem wurden. Warum wurden zum Beispiel bestimmte Verhaltens formen als, Wahnsinn' gekennzeichnet und klassifiziert, während ähnliche Formen in einem bestimmten historischen Augenblick völlig vernachlässigt wurden;
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ten diesbezüglich vorgeschlagen, soziale Probleme als soziale Konstruktionen zu untersuchen. ,Public discourse(s)' sind öffentliche Definitionskämpfe zwischen kollektiven Akteuren; sie werden nicht nur über Argumente, sondern über praktische sowie symbolischrhetorische Strategien und im Rückgriff auf unterschiedlichste Ressourcen ausgetragen. 1) I Hilfreich zur Annäherung an die diskursorientierte symbolisch-interaktionistische Wissenssoziologie ist zunächst das Karrieremodell sozialer Probleme von Hilgartner/Bosk (1988). Soziale Probleme sind Phänomene, die in Arenen öffentlicher Diskurse und öffentlichen Handeins als problematisch etikettiert werden. 112 Ihre Karriere wird durch die Kontexte öffentlicher Aufmerksamkeit (mit) bestimmt. Dazu zählen die institutionellen Strukturen der Medien und die Aufmerksamkeitsökonomie des Publikums. Soziale Probleme konkurrieren mit anderen ThemenlProblemen um die entsprechende Zuwendung und sind eingebettet in komplexe Definitionsverhältnisse der Problemformulierung und -zirkulation. Die Konkurrenz um Problemdefinitionen und zwischen Problemen gilt als Konkurrenz sozialer Gruppen: "ln its most schematic form, our model has six main elements: ). a dynamic process of competition among the members of a very large 'population' of social problem claims; 2. the institutional arenas that serve as 'environments' where social problems compete for attention and grow; 3. the 'carrying capacities' of these arenas, which limit the number of problems that can gain widespread attention at one time; 4. the 'principles of selection'. or institutional, political, and cultural factors that influence the probability of survival of competing problem formulations; 5. patterns of interaction among the different arenas, such as feedback and synergy, through which activities in each arena spread throughout the others; and 6. the networks of operatives who promote and attempt to control particular problems and whose channels of communication crisscross the different arenas." (HilgartnerlBosk 1988: 56).
Gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion findet mithin nicht nur im alltäglichen Leben statt, sondern ist auch ein andauernder Prozess zwischen kollektiven Akteuren, die in einem symbolischen Kampf um die Durchsetzung ihrer Weltdeutungen (Problemdefinitiodasselbe gilt fiir Verbrechen und Kriminalität, dieselbe Frage der Problematisierung gilt für die Sexualität." (Foucault 1996: 178) Ähnlich äußert er sich etwa gleichzeitig in der Begründung für seine Umarbeitung des Programms zur Analyse von ,Sexualität und Wahrheit' (vgl. Foucault 1989b, S. 9ff, insbes. S. 22ft). Die Überschneidungen dieses Forschungsprogramms mit den Analysen des Symbolischen Interaktionismus sind deutlich. Vgl. auch zur Diskussion möglicher Weiterführungen des Symbolischen Interaktionismus durch Foucaultsche Konzepte Castellani (1999) sowie (implizit) verschiedene Analysen von lan Hacking (1999). Kürzlich hat Adele Clarke (2005) vor dem Hintergrund der Grounded Theory und der von Anselm Strauss vertretenen Position der "social world perspective" ein Plädoyer für die Erweiterung des Symbolischen Interaktion ismus um eine an Foucault orientierte Diskursperpektive vorgelegt, das einige Parallelen zum Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse aufweist, jedoch die Analyse von "Situationen" fokussiert. Ihre Ausführungen konzentrieren sich allerdings stärker auf Fragen der methodischen Umsetzung bzw. des forschungs praktischen Vorgehens; insoweit bieten sie auch einige hilfreiche Anregungen für das Vorgehen der Diskursforschung (vgl. dazu Keller 2004). 1II Vgl. den Überblick über den ,constructionist view' bei Schneider (1985). 112 Vgl. ähnlich den Vorschlag von Anselm Strauss (1991: 233ft) zu einer symbolisch-interaktionistischen ,social world perspective', die unterschiedliche gesellschaftliche Ebenen und Arenen in den Blick nimmt; zur Verbindung dieses Ansatzes mit diskurstheoretischen Überlegungen vgl. auch Clarke (2005).
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nen, Verantwortungszuschreibungen, Handlungskonsequenzen) stehen. Wenn diesen Aushandlungsprozessen eine allgemeine Teilnehmer- und Publikumsorientierung unterliegt, wird dabei von allgemeinöffentlichen Diskursen gesprochen - im Unterschied zu Spezialdiskursen, zu denen nur begrenzte Teilnehmer und Publika zugelassen sind (vgl. Kap. 4.2.5). Die Studien, die im Symbolischen Interaktionismus zur Karriere sozialer Probleme vorgelegt wurden, haben jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vorgenommen. Nachfolgend erläutere ich exemplarisch drei Autoren und ihre Ansätze: Joseph Gusfield betont das Zusammenspiel von Prozessen der Wissenskonstruktion mit der institutionellen Strukturierung von Handlungsfeldem. William Gamson analysiert insbesondere Problemkarrieren in den Massenmedien. Michael Schetsche hat vor kurzem die Überlegungen zur "Wissenssoziologie sozialer Probleme" systematisiert und eine "relativistische Problemtheorie" vorgeschlagen. In den Arbeiten dieser Autoren werden verschiedene, je rur sich bedeutsame Akzente der Diskursforschung des Symbolischen Interaktionismus sichtbar, die im Rahmen einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse integriert werden können. Die Kultur und Struktur öffentlicher Probleme: Joseph Gusfield
Joseph Gusfield gilt als Vertreter des "kontextuellen Konstruktivismus", in dem es um die Analyse sozialer Probleme als Untersuchung von Definitionsleistungen sozialer Akteure in ihrem institutionellen Kontext geht (Schmidt 2000).113 Er untersuchte u.a. die usamerikanische öffentliche Diskussion über ,Trunkenheit am Steuer' und die Konstruktion eines entsprechenden Wissens- und Handlungsfeldes. Gusfield (1981, 1996) entwickelt in seinen vor allem auf die Rolle von Wissenschaft und Recht sowie das Verhältnis von öffentlichen Diskursen und individuellen Handlungsweisen gerichteten Analysen der sozialen Konstruktion gesellschaftlicher Vorstellungen von Alkoholproblemen einen konzeptionellen Ansatz, der viele Elemente einer diskursanalytischen Perspektive enthält, ohne den Begriff des Diskurses zu benutzen - er spricht vielmehr von der "culture of public problems". In seiner Analyse, die mit ethnographischen und textinterpretierenden Methoden vorgeht, knüpft er an Berger/Luckmann (1980) und Kenneth Burke an. 114 Gusfield analysiert die Karriere umstrittener öffentlicher Problemdefinitionen sowohl im Hinblick auf ihre konkret-materiellen Aspekte (Institutionen, Mittel und Folgen), auf ihre semantisch-symbolische Ebene, die verschiedenen, in Konflikte verstrickten Akteure und auf die eingesetzten Sprach-, Argumentations- und Visualisierungsstrategien. Dabei betont er die wirklichkeitskonstituierende Macht der produzierten symbolischen Ordnungen ebenso wie ihre exkludierende Funktion im Hinblick auf andere Deutungsmöglichkeiten. Öffentliche Diskurse werden als Wirklichkeitsbereiche sui generis betrachtet, deren
113 Etwa seit Mitte der I960er Jahre haben sich Vertreter des Symbolischen Interaktion ismus wie Howard Becker oder Joseph Gusfield mit der kollektiven, öffentlichen Definition sozialer Probleme und abweichenden Verhaltens beschäftigt. 114 Burke hat in seinem Werk wichtige Elemente einer Theorie des menschlichen Symbolgebrauchs im Handeln und in der Sprachverwendung entwickelt; er betont die Bedeutung umfassender symbolischer Ordnungen für die konkreten Situationsdefinitionen der Individuen (Burke 1969). Gusfield (1989) diskutiert die Beziehungen der Arbeiten von Burke zu C.W. Mills, E. Goffinan, A. Schütz, M. Foucault, A. Gramsci u. a.
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gesellschaftliche Funktion in der ritualistischen Vergegenwärtigung der Möglichkeit des Bestehens symbolischer und damit sozialer Ordnung liegt. I 15 Eine schöne Illustration dieser Forschungsperspektive bietet die erwähnte Studie zur öffentlichen Konstruktion von, Trunkenheit am Steuer'. Dort geht es darum, wie ein soziales Phänomen - Autofahren unter Alkoholeinfluss - zum öffentlichen Problem gemacht wird und dabei eine spezifische Deutung erfährt, an die bestimmte institutionelle und materiale Konsequenzen anschließen. Gusfield beschäftigt sich mit verschiedensten Aspekten der Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit dieses Problems. Neben den mit der Faktenherstellung befassten Wissenschaften (einschließlich der Unfallstatistiken, Blutproben, Testverfahren und Rhetorik wissenschaftlicher Berichte) zählen dazu die zugrunde liegende Theorie des Autofahrers als Unfallverursacher, die soziale Organisation der Datengrundlage einschließlich der involvierten Akteure (z.B. der Nationale Sicherheitsrat), die Dramatisierung des Phänomens in der öffentlichen Arena und die Behandlung im Recht. Der gesamte Prozess wird als öffentlich-dramatisches Ritual der Schaffung einer kollektiven moralischen Ordnung interpretiert. Zunächst sei, so Gusfield, von der Konkurrenz von Problemdefmitionen und Problemlösungen auszugehen. Eine erste Frage der soziologischen Analyse bezieht sich auf die Definition von Akteuren bzw. Institutionen, die fur die Problembearbeitung zuständig sind - eine Zuschreibung, die bereits in die jeweilige Problemdefinition mit eingebaut ist. Das Problem der Zuständigkeit und Verantwortung besitzt einerseits eine "kulturelle Dimension": Damit sind Fragen der Wahrnehmung und Bedeutung anvisiert, also bspw. Vorstellungen darüber, ob der Konnex von Alkoholgenuss und Autofahren als Entscheidungsprozess einer zurechnungsfähigen Person betrachtet wird oder als Ergebnis eines medizinischen Sachverhaltes, einer Krankheit, die keine Entscheidung zulässt (Alkoholismus). Anderseits muss auch die strukturelle Ebene dieses Phänomenbereichs einbezogen werden: Die Fixierung von Zuständigkeiten erhebt gleichzeitig unterschiedliche Institutionen und Personen - bspw. die Kirchen, das Recht, die Polizei, die Medizin usw. - mit ihren Handlungsspielräumen in den Rang involvierter Akteure, und dies kann sich je nach der kognitiven Konstruktion des Problems sehr stark unterscheiden. Betrachtet man Alkoholprobleme als Krankheit, gewinnt die Medizin einen stärkeren Einfluss, wohingegen das Recht mit seinen Handlungsmöglichkeiten eher eingeschränkt wird. Die institutionelle und strukturelle Dominanz einer spezifischen Problemsicht kanalisiert die verfugbaren Lösungen und schließt Alternativen schon als Denk-Möglichkeiten aus. 116 Öffentliche Probleme werden, das zeigt Gusfields Studie sehr deutlich, in der Öffentlichkeit - der "public arena" - in soziohistorisch spezifischer Weise begrifflich und instituGusfield hat seinen Ansatz meines Wissens nicht zu einer systematischen Diskursforschung ausgebaut. "The people whom I talked with (... ) presented a fairly uniform view ofthe problem. Alcoholleads to impaired driving and increases the risk of accident, injury and death. Since drinking coupled with driving ,causes' auto accidents, solutions lie in strategies which diminish either drinking or driving after drinking. The available strategy is to persuade the drinker not to get behind the wheel of the car. Law enforcement and punishment perhaps supplemented by education are the most useful and acceptable means to diminish auto accidents due to drinking. (... ) This homogenous consciousness of alcohol and automobile use appears to the sociologist as a salient form of social control. It eliminates conflict or divergence by rendering alternative definitions and solutions unthinkable. This subtle, unseen implication of cultural ideas is perhaps the most powerfuI form of constraint. Unlike the conflict of power it goes unrecognized. What we cannot imagine, we cannot desire. (... ) The absence of alternative modes of transportation is logically as much a cause of drinking-driving as is the use of alcohol." (Gusfield 1981: 11 ) 115
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tionell geordnet, strukturiert. Dabei sind die Legitimitätszuschreibungen, Einfluss- und Definitionschancen sozialer Akteure sehr unterschiedlich verteilt und im zeitlichen Verlauf Verschiebungen unterworfen. Dies gilt auch fur das, was als "Struktur" eines Problem- und Handlungszusammenhangs in Erscheinung tritt: "At any moment the 'structure' itself may be fought over as groups attempt to effect the definitions of problems and authority to affect them. (... ) Structure is process frozen in time as orderliness. It is a conceptual tool with which we try to make that process understandable. What is important to my thought here is that all is not situational; ideas and events are contained in an imprecise and changing container." (Gusfield 1981: 5ff)
Mit seiner expliziten Verankerung in der wissenssoziologischen Tradition von BergerlLuckmann, der Betonung des Wechselverhältnisses zwischen Wissen, Institutionen, Akteuren und Praktiken sowie einem Verständnis von Strukturen als zu Ordnungszusammenhängen eingefrorenen Prozessen leistet Gusfield einen entscheidenden Beitrag zur Öffnung des symbolisch-interaktionistischen Blicks auf gesellschaftliche Arenen, die in die Strukturierung einzelner Interaktionssequenzen hineinwirken. Abgesehen davon, dass er den Begriff des Diskurses nicht oder nur sehr randständig benutzt, werden hier doch Ansatzpunkte einer wissenssoziologischen Diskursforschung entwickelt. Massenmediale OjJentlichkeit und Diskurskonkurrenzen: William Gamson Eine wichtige Ergänzung in Richtung einer Analyse der massenmedialen Öffentlichkeit als Diskursarena haben die sozialkonstruktivistischen Perspektiven auf die gesellschaftliche Konstruktion sozialer Probleme in der ,kulturalistischen Wende' der us-amerikanischen Forschungen über Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen erfahren, in deren Kontext die Diskursuntersuchungen von William Gamson u.a. entstanden (JohnstonIKlandermans 1995; Melucci 1996). Soziale Bewegungen werden dort als kollektive Akteure untersucht, die mit ,kulturellen Mitteln' die dominierenden gesellschaftlichen Weltdeutungen und kulturellen Codes herausfordern und dadurch auch die allgemeine Perzeption solcher Wirklichkeitszusammenhänge erneuern bzw. transformieren. Stärker als in dem diskutierten Ansatz von Gusfield geht es hier um die gesellschaftliche Rezeption neuer kognitiver Strukturierungen, um die Erscheinungsweisen und Effekte sozio-kultureller Definitionskämpfe unter Bedingungen der massenmedialen Öffentlichkeit. Untersucht wird zum einen, wie soziale Bewegungen sich selbst mit Hilfe kultureller Ressourcen (Deutungsschemata, Rituale u.a.) konstituieren, wie sie im strategischen Gebrauch solcher Ressourcen fur ihre Anliegen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit mobilisieren und wie schließlich dadurch gesellschaftlich etablierte Bedeutungsordnungen transformiert werden. I I? Gamson entwickelte mit seinen MitarbeiterInnen seit den 1980er Jahren Vorschläge zur Analyse öffentlicher Diskussions- und Mobilisierungsprozesse als Diskurse. 118 Er geht in seiner frame analysis davon aus, dass soziale Bewegungen in themenspezifische Inter117 Vgl. bspw. Gamson (1995), Swidler (1995); in Verbindung zum Diskursbegriffder Diskursiven Psychologie Billig (1995), mit kognitiv orientiertem Diskursbegriff lohnston (1995). 118 Vgl. etwa zu "affirmative action" GamsonlModigliani (1987), zur Kernenergie-Debatte GamsonlModigliani (1989).
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pretationskämpfe um die angemessene Deutung gesellschaftlich-politischer Probleme verwickelt sind. 119 In der Bewegungsforschung wurde Mitte der I980er Jahre an Goffmans Begriff der "Rahmenanalyse" (frame analysis; Goffman 1980) angeknüpft, um Prozesse der Mobilisierung von Zustimmung durch den Einsatz spezifischer Deutungs- bzw. Framing-Strategien zu untersuchen. (Nicht nur) Bewegungsakteure konstruieren im Kontext öffentlicher Auseinandersetzungen über strittige Themen ihre ProbJemdeutungen in der strategischen Absicht, möglichst breite öffentliche Resonanz rur ihre Anliegen zu erzielen und sich selbst als legitime, verantwortungsbewusste Akteure und Anbieter von Problemlösungen zu präsentieren (Gerhards 1992). So kann bspw. der Hinweis auf die Gefahrdung, die von Kernkraftwerken als militärischen Zielen im Kriegsfall ausgeht, dazu dienen, einen Schulterschluss zwischen Anti-AKW- und Friedensbewegung herzustellen. Gamson versteht öffentliche, in den Printmedien dokumentierte Auseinandersetzungen als Austragungen der erwähnten Interpretationskonflikte. Die daran beteiligten Akteure versuchen, durch resonanzfähige Deutungen ihrer Problemsicht möglichst breite öffentliche Zustimmung zu erhalten. In diesem Sinne gelten die Medien als zentrale Arenen der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion. Sie bieten ,Rahmungen' von Themen bzw. Problemkomplexen an, die bei ihrem Publikum Resonanz erzeugen, also ,erkannt' und ,übernommen' werden sollen. Inwieweit dies tatsächlich geschieht, muss über entsprechende Untersuchungen auf Rezipientenseite gezeigt werden. Der Ansatz von Gamson u.a. wurde insbesondere zur quantifizierenden Analyse von Themenkarrieren in den Massenmedien eingesetzt und hat in den 1990er Jahren einige diskursorientierte Forschungen in der Bundesrepublik inspiriert. 120 Allerdings vernachlässigt er das von Gusfield in den Blick genommene institutionelle Problem- und Handlungsfeld. So bleibt letztlich offen, welche Konsequenzen den massenrnedial zirkulierenden ,frames' zugeschrieben werden können. Insoweit bedarf dieser Ansatz sicherlich einer Korrektur durch eine stärker auf Institutionen, Akteure und Praktiken bezogene Diskursperspektive.
Die Wissenssoziologie sozialer Probleme von Michael Schetsche Michael Schetsche (2000; 1996) hat kürzlich eine "Wissenssoziologie sozialer Probleme" vorgestellt, die Diskursperspektiven der symbolisch-interaktionistischen bzw. sozialkonstruktivistischen Forschungen über soziale Probleme aufuimmt und mit einem auf "Wissensgesellschaft" bezogenen gegenwartsdiagnostischen Anspruch verknüpft, der an die von Jean Baudrillard formulierte Simulakren-Theorie anschließt. Baudrillard (1982: 77ft) hatte 119 Spezifischfur diesen Ansatz ist die Verknüpfung von qualitativen Textanalysen mit der quantifizierenden Auswertung großer Datenmengen, die aus Artikeln der Printmedien bestehen. Auch werden sowohl Texte wie bildliche Darstellungen (etwa Cartoons) untersucht. Der frame-Begriff oszilliert zwischen interpretativem Paradigma und kognitiver Anthropologie. Vgl. bspw. auch GamsonlLasch (1983), Gamson (1988a), Gamson u.a. (1992), Gamson/Stuart (1992), als Gesamtdarstellung Donati (200 I). 120 Bspw. Untersuchungen umweltpolitischer Auseinandersetzungen, der Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen, öffentlicher Kontroversen über Abtreibung u.a.m.; dabei wurden jeweils spezifische Modifikationen und Weiterentwicklungen vorgenommen. Vgl. zum Müll Keller (1998) und Viehöver (2000); zum Klima Viehöver (1997); zur Tschernobyl-Berichterstattung Poferl (1997); zum umweltpolitischen Diskurs allgemein BrandlEder/ Poferl (1997); zu Mobilisierungsprozessen Gerhards (1992), zur Abtreibungsdebatte Gerhards/NeidhartlRucht (1998); Gerhards (2003); zur Rezeption des Ansatzes in Frankreich vgl. Cefai"/Trom (200 I).
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schon vor längerer Zeit einen gesellschaftshistorischen Übergang von einem Zeitalter der "Ordnung der Produktion" zur "Ordnung der Simulation" diagnostiziert, zu einem Gesellschaftszustand also, in dem, so Baudrillard, die Unterscheidung zwischen Realität und Repräsentation kaum mehr zu treffen sei und Zeichen nicht länger als Abbildung von Welt, sondern als Hervorbringung von Welt funktionierten. Diese Transformation sei, so Baudrillard weiter, Teil einer allgemeineren soziohistorischen Abfolge dreier kommunikativer Ordnungen bzw. "Simulakren", fur die je ein spezifisches Verhältnis zwischen der materiellen und der symbolischen Welt charakteristisch war. 121 Kennzeichnend tur die historische Phase einer "Ordnung der Imitation" ist die Nachbildung der Wirklichkeit in der symbolischen Ordnung. Die anschließende "Ordnung der Produktion" fokussiert die materielle Herstellung einer künstlichen Welt, ohne auf die Nachbildungsvorstellung zu verzichten. Kennzeichnend tur sie ist die Annahme einer klar zu treffenden Unterscheidung von Realität und Fiktion. In der "Ordnung der Simulation" werde diese letzte Unterscheidung jedoch hinfällig. Die Zeichen selbst konstituieren nunmehr die handlungsrelevante Wirklichkeit. Baudrillard bestreitet damit nicht das Weiterbestehen der materiellen Ökonomie und Prozesse; er betont jedoch, dass das "Hyperreale", die massenmediale Erzeugung und Verbreitung von Modellen des HandeIns, von simulierten Ereignissen usw. ein Bedeutungsübergewicht bekommen habe, auch wenn weiterhin die Bemühungen im Vordergrund stünden, die Illusion der Faktizität aufrecht zu erhalten. 122 Schetsche greift die skizzierten Überlegungen auf, um einerseits einen Lösungsvorschlag tur ein Grundproblem der sozialkonstruktivistischen Soziologie sozialer Probleme zu entwerfen - wie kann angesichts konkurrierender Problemdefinitionen über die Angemessenheit einzelner Problembeschreibungen befunden werden?123 Darüber hinaus sieht er darin ein Argument tur die Dringlichkeit der von ihm eingeforderten "Wissenssoziologie sozialer Probleme" angesichts eines gesellschaftlichen "take off' der symbolischen Konstruktion der Wirklichkeit': In der Ordnung der Simulation sind soziale Probleme ausschließlich symbolisch-diskursiv konstruiert: als soziales Problem kann nur analysiert werden, was als solches thematisiert wird, d.h. die Kriterien werden aus dem Gegenstand selbst rekonstruiert. Die Soziologie sozialer Probleme müsse in diesem Zusammenhang unterscheiden zwischen der diskursiven Verwandlung sozialer Sachverhalte in soziale Probleme und der symbolischen Erzeugung solcher Sachverhalte durch gesellschaftliche Problemdiskurse. Sie solle demnach ihre Fragestellungen darauf richten, wie "Problemwissen" gesellschaftlich verbreitet werde, wie es soziale Akteure erreiche und in Institutionen und Praktiken wirksam werde. In dieser an die diskutierten Vorschläge von Gusfield und Gamson erinnernden Programmatik gelte es, Wissenszirkulationen als Konkurrenzprozesse zwischen unterschiedlichen Problemen, Akteuren und Arenen zu beschreiben. Gleichzeitig müsse sich die Wissenssoziologie sozialer Probleme von der Frage nach einer eigenständigen Bestimmung des zugrunde liegenden sozialen Sachverhaltes verabschieden, d.h. von der Vorstellung einer invarianten objektiven Sachlage, auf die sich ,nur' unterschiedliche 121 Die Bezüge und Parallelen zwischen dieser Theorie der Simulakren und der Foucaultschen Untersuchung der "Ordnung der Dinge" wären genauer zu klären (vgl. Kapitel 3.2). 122 Dies hat er unter anderem in der vor einigen Jahren provozierenden These, der "Goltkrieg habe nicht stattgefunden", ausgeführt (Baudrillard 1991 a). 123 Dieses Problem beschäftigt im Übrigen auch die sozialkonstruktivistische Umweltsoziologie und wird ganz allgemein in den Auseinandersetzungen über ,social constructionism' von dessen Gegner als unhaltbarer ,Relativismus' thematisiert.
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Deutungen richteten. Soziale Probleme konstituieren sich in der Konkurrenz von Diskursen, in denen kollektive Akteure unter Rückgriff auf unterschiedliche Diskursstrategien bestrebt sind, ihre Deutungen massenmedial zu verbreiten und damit die öffentliche Problemwahmehmung zu bestimmen. Als objektiver Kern von Sachverhalten kann nicht eine außerdiskursive Realität benannt werden, sondern, so Schetsche, nur noch der konsensuale Kernwissensbestand, auf den sich Befürworter und Gegner im symbolischen Kampf einigen können. 124 Problemwissen wird durch die Massenmedien und digitale Kommunikationsformen verbreitet; Kommunikationsflüsse halten sich nicht mehr an nationale Grenzen. Münch (1995) prognostiziert deswegen die Versorgung der gesamten Weltgesellschaft mit einem einzigen Wissenssystem, eine globale Vereinheitlichung des Wissens, sofern es sich um "kulturneutrale" Deutungen handele. Die Selektionsmechanismen der Massenmedien, aber auch wissensbezogene Faktoren wie bspw. die Kohärenz von Aussagezusammenhängen gelten als strukturierende Mechanismen in diesem Prozess. 125 Bereits Anfang der 1990er Jahre hatte Jürgen Gerhards (1992) in Anlehnung an die frame analysis von Gamson u.a. Mobilisierungsprozesse sozialer Bewegungen untersucht und mehrere Diskursdimensionen und Diskursstrategien unterschieden. Soziale Bewegungen müssen in solchen symbolischen Kämpfen demnach ein Thema als problematischen Sachverhalt deuten, dabei Ursachen und Verursacher ebenso benennen wie einen oder mehrere Adressaten der Forderungen, die sie bezüglich der Problemintervention erheben. Wichtig erscheint auch die Angabe von Zielvorstellungen, die interpretative Besetzung von ,Erfolgen' und die Selbstlegitimation als berechtigter öffentlicher Akteur etwa durch Rekurs auf Sachverstand und übergeordnete Werte. Diese Diskursdimensionen können, wie schon die letztgenannten Beispiele andeuten, im Rahmen unterschiedlicher Diskursstrategien verfolgt werden, die sich auf Mobilisierung von Unterstützung und Legitimierung des eigenen Akteursstatus richten. Dazu zählen dramatisierende und moralisierende ,framings' ebenso wie mitunter auch die faktenbezogene Argumentation. 126 Schetsche (1996: 21ft) unterscheidet im Anschluss an Gerhards die Dimensionen der Problemgeschichte, der Typen kollektiver Akteure, der Problem- bzw. Deutungsmuster für Sachverhalte und der Diskursstrategien. Im Rekurs auf die Karrieremodelle sozialer Probleme, wie sie Blumer, HilgartnerlBosk u.a. vorgeschlagen haben, differenziert er die Akteurstypen der Betroffenen, der Advokaten, der Experten, der Problemnutzer, der sozialen Bewegungen, der moralischen Unternehmer, der Massenmedien und der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen. Die erwähnten Deutungs- bzw. Problemmuster bestehen aus einem Identifikationsschema für einen konkreten Fall, der dadurch zum Problem wird, aus einer Problembeschreibung, Bewertungsmaßstäben, Handlungsanleitungen zur Problemlösung und affektiven Elementen. Als wichtigste Diskursstrategien benennt Schetsche Selektionsprozesse der massenmedialen Berichterstattung und Mobilisierungsformen wie Dramatisierung (etwa durch die Beschwörung großer Betroffenheiten, selektive Falldarstellungen und Schwarz-Weiß-Malerei), Moralisierung (also Appelle an hohe Werte und deren Verletzung) und den Rekurs auf Alltagsmythen, gängige Klischees usw., die scheinbar bestätigt 124 Schetsche trifft eine Unterscheidung von realen und virtuellen Problemen, die an diesem Kriterium einsetzt: Bei virtuellen Problemen sei kein entsprechender Konsens rekonstruierbar. 125 Vgl. die Hinweise auf die sozialkonstruktivistische Medienforschung bei Hilgartner/Bosk (1988). 126 Bernhard Gießen hat im Rekurs auf den Symbolischen Interaktionismus die von Howard Becker eingefuhrte Figur des ,moralischen Unternehmers' in die Diskussion der bundesdeutschen Soziologie eingebracht (Giesen 1983).
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werden. Zwar sind in solchen Auseinandersetzungen immer konkurrierende Diskurse und Akteure involviert, doch der Erfolg gerade gesellschaftlich marginalisierter Alternativdeutungen hängt davon ab, ob bestehende hegemoniale Strukturen durch historische ,Gelegenheitsfenster' geöffnet werden können. In einer Auseinandersetzung mit Ulrich Oevermann über das Konzept des Deutungsmusters haben Plaß/Schetsche (200 I: 522ft) kürzlich diesen Ansatz der Wissenssoziologie sozialer Probleme zur generellen Analyse der Zirkulation sozialer Wissensformen in öffentlichen Arenen bzw. zu einer "wissenssoziologischen Theorie sozialer Deutungsmuster" erweitert (vgl. dazu Kap. 4.3.3.1). Sie schlagen damit vor, Prozesse der historisch spezifischen Genese, Produktion, Zirkulation und Aneignung von Deutungsmustern in gesellschaftlichen Arenen und Kollektiven zum Gegenstand der Analyse zu machen. Deutungsmuster sind demnach "sozial geltende, mit Anleitungen zum Handeln verbundene Interpretationen der äußeren Welt und der inneren Zustände", die in Kommunikations- und Sozialisationsprozessen vermittelt werden und - was neu entstehende Deutungsmuster betrifft die ihre soziale Geltung in erster Linie durch mediale Verbreitung erwirken. Sie reduzieren Komplexität bezüglich der Wirklichkeitsbestimmung (Erfahrungsweisen und Handlungsformen), erlauben die Antizipation von Situationsentwicklungen und damit Handlungsentwürfe, erleichtern die Verständigung über Grenzsituationen und stiften die Gemeinsamkeit einer geordneten Alltagswelt und -gemeinschaft. In Verallgemeinerung der oben erwähnten, bei Schetsche (2000) skizzierten Funktion von Problem- bzw. Deutungsmustern in öffentlichen Definitionskonflikten sprechen die AutorInnen von sechs Bestandteilen solcher Muster: einem Situationsmodell, einem Erkennungsschema, Prioritätsattributen, Hintergrundwissen, Emotionsmustern und Handlungsanleitungen (Plaß/Schetsche 2001: 528ft). Schließlich weisen sie darauf hin, dass das von ihnen entworfene Programm der Deutungsmusterforschung sich stark an die Diskursanalyse annährt, auch wenn sie sich explizit von der Foucaultschen Diskurstheorie und dem Diskursbegriff distanzieren. Damit fehlt ihnen jedoch letztlich, sieht man von dem skizzierten Karrieremodell ab, eine allgemeinere theoretische Einbettung der Kategorie des Deutungsmusters bzw. der "Wissenssoziologie sozialer Deutungsmuster". Die gesellschaftliche Karriere solcher Muster kann dann zwar rekonstruiert werden, isoliert diese aber aus den soziohistorischen Kommunikationskontexten, in denen sie prozessiert werden. Aus diesem Dilemma bietet der wissenssoziologisch-diskurstheoretische Ansatz einen Ausweg. 2.3.3.3
Die Analyse von Kommunikationskulturen bei Hubert Knoblauch
Im Anschluss an die Arbeiten von Thomas Luckmann und die in Kapitel 2.3.3.1 diskutierte kommunikative Wende der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie hat Hubert Knoblauch (1995) ein Programm zur Analyse von "Kommunikationskulturen" vorgeschlagen, in dem die Untersuchung kommunikativer Gattungen mit Bausteinen der Diskursperspektive des Symbolischen Interaktionismus verknüpft und auf drei "kulturelle Kontexte" bezogen wird. Knoblauch vermutet angesichts der Debatten über Wissensgesellschaft eine besondere Aktualität des Kommunikationsbegriffs und eine starke Zunahme von Kommunikationsprozessen. Er plädiert rur eine durchgängige Reinterpretation der "gesellschaftlichen Konstruktion" der Wirklichkeit als "kommunikative Konstruktion", soweit sie die Erzeugung und Reproduktion von Sinnbezügen betrifft.
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Im Rückbezug auf Soeffners Diskussion der Zeichentheorie von Alfred Schütz unterscheidet Knoblauch drei Ebenen kultureller Kontexte, mit denen sich die Analyse von Kommunikationskulturen befassen müsse: 127(l) Kontexte unmittelbarer Kommunikation, also face-to-face Prozesse;128 (2) (technikvermittelte) Kontexte mittelbarer Kommunikation,129 und (3) gesellschaftliche Kontexte, d.h. öffentliche (Medien-)Arenen. 130 Diesen allgemeinen Kontextebenen werden spezifische Zeichenarten sowie Kommunikations- und Beziehungsformen zugeordnet. Auch können für jede Kontextebene spezifisch konkretisierte Kontextbeispiele angegeben werden, die Knoblauch in thematisch fokussierten empirischen Fallstudien analysiert. Die nachfolgende Tabelle aus Knoblauch (1995: 83) verdeutlicht die Relationen: Kontexte
Zeichenarten
Unmittelbare Kontexte
Merkzeichen, Anzeichen, Symptome, Gesten
Mittelbare Kontexte
Zeichen, Embleme, alltagsästhetische Schemata
Gesellschaftliehe Kontexte
Rituale, Symbole, Ikone
Kommunikationsform Beziehungsform Face-to-face Kommunikation Wir-Beziehung Alltagsrituale mediale, institutionell vermittelte Kommunikation Ihr-Beziehung symbolisch vermittelte Kommunikation Kosmion
Spezifisch untersuchte Kontexte
Untersuchte Beispiele
Gattungen, Veranstaltungen, Mikromilieu
Streit Familie "Nica"
Szene, Medienkultur, Repertoire, Milieu
Anrufbeantworter, "Anonymus"
Diskurs, Arena, Haushalt
Golfkrieg Nichtraucher
Während also kommunikative Gattungen, Veranstaltungen und Mikromilieus als Beispiele für unmittelbare Kontexte fungieren, gelten Diskurse, öffentliche Arenen und kommunikative Haushalte als Formen gesellschaftlicher Kontexte. Knoblauch überführt in seinen illustrierenden Fallstudien die bei Soeffner diskutierte Verschachtelung der drei Kontexttypen in ihre tatsächliche - nicht nur analytische - Trennung und ordnet ihnen je eigene Formen kommunikativer Gattungen zu: Die Regulierung der situativen Abfolge von Kommunikationen wird durch entsprechende Gattungen in unmittelbaren Kontexten geleistet, 127 Soeffner leitetet aus der in Kap. 2.3 .3.1 erläuterten Schützschen Bestimmung von Anzeichen, Zeichen und Symbolen drei Ebenen kultureller Kontexte ab, die diesen Zeichentypen entsprechen: Unmittelbare Kontexte der face-to-face Interaktion, mittelbare Kontexte institutionell bzw. technisch vermittelter Interaktionen und die Ebene der gesamtgesellschaftlichen Kontexte, der Weltbilder bzw. des "Kosmions". Diese Unterscheidung verweise auf Dimensionen oder Wirklichkeitsebenen, die in jedem gesellschaftlichen Handeln bzw. Interagieren präsent sind: die konkrete Interaktionssituation, ihr institutionell-organisatorischer Kontext und der allgemeine gesellschaftliche Kontext (Knoblauch 1995: 79ft). 128 Als Untersuchungs beispiele für diese Ebene dienen familiäre Tischgespräche oder Gruppensitzungen der "Anonymen Nikotinsüchtigen" ("Nica"). 129 Diese Ebene setzt keinen unmittelbaren face-to-face-Kontakt voraus, bezieht sich aber dennoch auf ,direkte' Kommunikationen ohne allgemeinen Öffentlichkeitsbezug. Knoblauch analysiert hier stellvertretend technikvermitteIle Kommunikationen (Botschaften auf Anrufbeantwortern) und standardisierte Kommunikationsmuster innerhalb sozialer Felder (wie etwa das etablierte Repertoire religiöser Kommunikation in den Broschüren der "Anonymen Nikotinsüchtigen"). 130 Damit bezeichnet Knoblauch Kommunikationen in öffentlichen Arenen (Bsp. Nichtraucherkampagnen; Radiosendungen und Hörereinschaltungen zum Golfkrieg).
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also in sozialen Situationen der Kopräsenz, die von zufälligen Kontakten über absichtsvolle Begegnungen bis hin zu institutionalisierten Veranstaltungen oder geplanten Vorfuhrungen und sozialen Mikromilieus reichen (Knoblauch 1995: 176ft). Mittelbare Kontexte gehen über die Situation der Kopräsenz hinaus und werden durch technische bzw. institutionellorganisatorische Vermittlung möglich, also durch technische Medien und/oder soziale Netzwerke, die ihrerseits dafur spezifische kommunikative Gattungen aufbauen bzw. nutzen und dabei erhöhte Grade der Anonymisierung ermöglichen. Szenen und soziale Milieus bilden entsprechende Kontextformen; der Begriff des "kommunikativen Repertoires" bezeichnet die jeweils typisch nutzbaren kommunikativen Formen innerhalb eines institutionellen Bereichs, einer "Domäne" (ebd.: 187ft). Die Annäherung an gesellschaftliche Kontexte erfolgt im Anschluss an die symbolisch-interaktionistischen Untersuchungen über die Karriere sozialer Probleme. l3l Dort wurde, wie erläutert, ein spezifischer Begriff von "public discourse(s)" als themenbezogenen öffentlichen Aushandlungsprozessen eingefuhrt, den Knoblauch übernimmt: "In modemen Gesellschaften handelt es sich in der Regel um eine ,Community of operatives', die im Wesentlichen in den großen Institutionenbereichen beheimatet sind. Die Zusammenarbeit dieser Akteure nun erzeugt einen Kontext eigener Art: Arenen, die sich zwischen diversen Institutionen etwa der Politik, der Religion, der staatlichen Administration oder privatwirtschaftlichen Betrieben ausbilden. Könnten Arenen als eine Struktur aus sozialen Beziehungen zwischen den an der Konstruktion eines sozialen Problems Beteiligten gelten, so sollte betont werden, dass es sich genauer um ,arenas of public discourse' (HilgartnerlBosk 1988: 70) handelt. Die Handlungen, aus denen die Arenen bestehen, sind im wesentlichen kommunikativer Art. Das Gesamt der Kommunikation, die zu einer Arena gehört, können wir deswegen als Diskurs bezeichnen (und die "community of operatives" stellt die Träger dieses Diskurses, die ,Diskursgemeinschaft')." (Knoblauch 1995: 254)
Damit wird der Begriff ,Diskurs' mit thematisch fokussierten problembezogenen Diskussions-, Argumentations- und Aushandlungsprozessen in öffentlichen Arenen, in denen gesellschaftliche Topoi zirkulieren, gleichgesetzt. 132 Ein solches Diskurskonzept hatte Robert Wuthnow in seinen religionssoziologischen Studien entwickelt. Wuthnow (1989) untersuchte den Zusammenhang von Ideen bzw. Ideologien und sozialem Wandel am Beispiel des Aufkommens des Protestantismus, der Aufklärung oder in der Entwicklung des europäischen Sozialismus im 19. Jahrhundert. Dazu entwickelt er ein begriffliches Raster, mit dem analysiert werden kann, wie soziale Gruppen zu Trägem bestimmter Ideen werden, wie sie diese artikulieren und verbreiten, welche Ideen dabei erfolgreich, d.h. gesellschaftlich resonanzfähig sind, wie diese institutionalisiert werden und welche gesellschaftlichen Folgen beobachtbar sind. Von Diskursen ist dabei in eher alltagssprachlicher Form die Rede, um die Sprachhandlungen und Positionen gesellschaftlicher Akteure (z.B. der Diskurs der Reformatoren) zu bezeichnen, die ihrerseits Diskursgemeinschaften bilden:
Vgl. Gusfield (1981), Hilgartner/Bosk (1988), Becker (1981), Schetsche (1996,2000), Strauss (1991). Vgl. Knoblauch (1995: 305ft) und zur Zusammenfassung Knoblauch (200Ia). Dieses Diskursverständnis steht in einem Spannungsverhältnis zur Foucaultschen Diskurstheorie. Letztere unterscheidet mehrere Ebenen der Diskursspezifikation, geht jedoch durchgängig davon aus, dass Diskurse Themen spezifisch konstituieren; demnach kann ein Thema selbst nicht das sein, was heterogene Beiträge zu einem Diskurs verbindet. 131
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"Discourse subsumes the written as weil as the verbal, the formal as weil as the informal, the gestural or ritual as weil as the conceptual. It occurs, however, within communities in the broadest sense of the word: communities of competing producers, of interpreters and critics, of audiences and consumers, and of patrons and other significant actors who become the subjects of discourse itself. It is only in these concrete living and breathing communities that discourse becomes meaningful." (Wuthnow 1989: 16)
Wuthnow trennt mehrere Ebenen, die eine entsprechende Diskursanalyse in den Blick nimmt: die al1gemeineren gesellschaftlichen Kontextbedingungen, eher situative organisatorisch-institutionel1e Kontexte und Handlungssequenzen innerhalb dieser konkreten Kontexte. Der Prozess der Artikulation von Positionen kann weiter differenziert werden in die Dimensionen der Produktion und Verbreitung von Ideen, der Auswahl spezifischer Textund Sprachgattungen und schließlich der Institutionalisierung dieser Elemente. Unter dem Begriff des Diskursfeldes ("discursive field") versteht Wuthnow "a symbolic space or structure within the ideology itself. In the ideologies to be considered here a relatively simple discursive field defined by some fundamental opposition of binary concepts is often evident, but more complex discursive structures are sometimes evident as weIl. In Luther's discourse a recurrent theme consists of the opposition between the received authority of the church on the one hand and the authority of the Word of God on the other hand. The received authority of the church was a matter of coercion, of chains and imprisonment C..), part of 'Satan's plan' (... ) The Word of God, in contrast, offered freedom, liberty (...) These oppositions define a basic polarity that gives structure and organization to Luthers reforming ideology. Many of his observations about specific social or theological issue are mapped onto this basic discursive field. They give it objectivity; it in turn organizes the relations among them, thereby shaping the manner in which they are interpreted. A discursive field of this kind provides the fundamental categories in which thinking can take place. It establishes the limits of discussion and defines the range of problems that can be addressed." (Wuthnow 1989: 13)
Knoblauch interessiert sich nun dafur, wie kommunikative Strukturmuster qua Diskurse zum Einsatz kommen und als Kommunikationsprozesse in massenmedialen Öffentlichkeiten dazu beitragen, eine gesel1schaftliche Wirklichkeitsebene zu konstruieren, die sich der unmittelbaren Al1tagserfahrung entzieht. Er bezieht das Erscheinen von Diskursen direkt auf "gesel1schaftliche Relevanzen" und "Handlungsprobleme": "Diskurs ist ein Sammelbegriff flir eine Vielzahl kommunikativer Handlungen der verschiedensten Akteure und Institutionen, mit denen ein bestimmtes Thema auf mehreren Kontextebenen zugleich (für die Beteiligten oder für andere) relevant gemacht wird. (... ) So vielfaltig diese Ausdrucksformen gesellschaftlicher Diskurse sind, so kreisen sie doch um eine begrenzte Anzahl relevanter Probleme. Gesamtgesellschaftlich relevante Probleme finden gleichsam ihre ,Artikulation' (Wuthnow) in Diskursen, d.h. Diskurse sind durch das ,Problem der Artikulation' direkt an gesellschaftliche Relevanzen gekoppelt." (ebd.: 305) lJ3
Empirisch il1ustriert wird das Arena- und Diskursmodell zum einen an Nichtraucherkampagnen in Kalifomien, deren Strukturen und Netzwerken involvierter Akteure sowie der 111 Vgl. auch Maeder (2002) mit seiner wissenssoziologischen Analyse moralischer Kreuzzüge am Beispiel des ,New Public Management'.
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Art und Inhalte ihrer Beteiligung. Das zweite Fallbeispiel der Untersuchung gesellschaftlicher Kontexte hat die massenmedial vermittelte Präsenz eines entfernten Ereignisses - des Golfkrieges - zum Thema: Es geht um die kommunikative "Konstruktion der Wirklichkeit eines Krieges (...) die eine gesamte Gesellschaft betrifft, ohne daß diese Wirklichkeit in dieser Gesellschaft erfahren werden konnte" (Knoblauch 1995: 275). Dazu werden wiederkehrende Argumentationsfiguren, Standardbeispiele u.a. als Topoi begriffen und rekonstruiert. Knoblauch spricht in Bezug auf den dadurch hergestellten gesellschaftlichen Sinnoder Deutungshorizont in direktem Anschluss an Schütz (197If: 388ft) vom "Kosmion". Die diskursiv entfalteten Prozesse symbolischer Kommunikation appräsentieren die sozialen und institutionellen Strukturzusammenhänge einer Gesellschaft: "Durchaus im Sinne Durkheims bemerkt Schütz nämlich, daß Symbole auch auf eine recht weltlich und alltäglich anmutende Größe verweisen: schon soziale Kollektive und ,die Gesellschaft' bedürfen der symbolischen Appräsentation. Wenn ihr auch wenig von dem mystischen Schauer der anderen Wirklichkeit anhaftet, so hat ,die Gesellschaft' mit jener Wirklichkeit doch gemein, daß sie nichts von der konkreten Wahrnehmbarkeit des Unmittelbaren hat; genauso wenig erlaubt sie jene Wechselseitigkeit, die noch mittelbare Kontexte prägt. Diesen Kontext einer mittels Symbolen konstruierten Wirklichkeit bezeichnet Schütz, in Anlehnung an Voegelin, als Kosmion. Kosmion ist keineswegs nur ein kognitives Gebilde ,in den Köpfen der Leute'. Wie die gedachte Ordnung des Golfkrieges diskursiv erzeugt wird, bezeichnet Kosmion jenen Kontext, der aus symbolischen Handlungen konstruiert wird. Kosmion umfaßt jene Prozesse der symbolischen Kommunikation, in denen die innere Struktur einer Gesellschaft und die Relationen zwischen den Gruppen und Gruppen von Gliedern durch Ritus, Mythos und Theorie appräsentiert werden. (...) Die kommunikative Konstruktion symbolischer Wirklichkeit ruht im wesentlichen auf den gesamtgesellschaftlichen Diskursen und den sie tragenden Diskursgemeinschaften." (Knoblauch 1995: 297f)
Knoblauch betont die Anschließbarkeit des Hegemoniekonzeptes von Gramsci (s. u. Kapitel 3.3.1) an dieses Diskursverständnis: Wo spezifische Diskursgemeinschaften ausschließlich über die Mittel der Konstruktion von Diskursen verfügen, damit die dominante symbolische Ordnung definieren und Gegenpositionen einschließen, kann von einer hegemonialen Situation gesprochen werden. Auseinandersetzungen um die Besetzung der hegemonialen Position sind symbolische Kämpfe im Sinne Bourdieus (vgl. Kapitel 2.2.2). Mit dem Konzept der "Kommunikationskulturen" hat Knoblauch in der Tradition der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie einen wichtigen ersten Schritt der Erweiterung der sozialphänomenologisch-wissenssoziologischen Perspektive hin zur Analyse von Diskursen formuliert. Dieser Vorschlag ist insoweit wegweisend, als er darauf zielt, verschiedene Ansätze innerhalb des interpretativen Paradigmas in einer gemeinsamen sozialphänomenologisch fundierten Theorie- und Forschungsarchitektur zu verbinden, die jeder Perspektive eine spezifische Analyseebene und -funktion zuweist. Doch das von Knoblauch skizzierte Programm bietet keine vollständig überzeugende Lösung für die Einführung der Diskursperspektive in die Wissenssoziologie, denn es enthält einige Probleme, die einerseits das skizzierte Diskurskonzept betreffen und die sich andererseits auf die Unterscheidung kommunikativer Kontexte beziehen. Ein erster Problemkomplex entsteht aus dem Bezug des Diskursbegriffs auf institutionelle Arenen, Akteure und die dort stattfindenden Aushandlungsprozesse. Die Akteure in diesen Arenen werden als durch einen gemeinsamen Themenbezug konstituierte Diskursgemeinschaften begriffen. Dazu zählt auch
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die Relationierung des Diskursbegriffs auf gesellschaftlich relevante Handlungsprobleme. Ein solcher Vorschlag ,übersieht' die Konstruktionsleistung von Diskursen für Themen und die mögliche Konflikthaftigkeit diskursiver Arenen und Felder. Eher wäre von der Konkurrenz unterschiedlicher Diskurs-Koalitionen auszugehen, die in Anerkennungskämpfe darüber verstrickt sind, was überhaupt als Problem gilt und wie ein solches Problem besteht. Gesellschaftlich relevante Handlungsprobleme sind ein Ergebnis von Diskursen, kein Relevanzkriterium für ihr Erscheinen. Hier erweist sich der alleinige Rekurs auf die Diskurstradition des Symbolischen Interaktionismus als unzureichend; eine weiterführende Auseinandersetzung mit Foucault und den poststrukturalistischen Diskurstheorien wird jedoch von Knoblauch in diesem Zusammenhang nicht geleistet. Der zweite Problemkomplex besteht in argumentativen Widersprüchen und analytischen Ungenauigkeiten, die zwischen dem theoretischen Modell und seiner empirischen Anwendung entstehen. Die von Soeffner betonte Verschachtelung kommunikativer Kontexte wird von Knoblauch in eine Trennung überführt, die nicht nur analytischen Charakter hat. Zunächst erfolgt ihre Begründung über unterschiedliche Zeichenarten und Erreichbarkeiten von in der Kommunikation aktualisierten Wirklichkeitsebenen. Gleichzeitig werden die Kontexte als unmittelbare, mittelbare und gesellschaftliche Kontexte bezeichnet. Die von Knoblauch verfolgten empirischen Studien überführen jedoch diese analytische Kontexttrennung in eine empirische Unterscheidung von privaten, technisch und organisatorisch vermittelten semi-privatenlhalb-öffentlichen und allgemeinöffentlichen Kommunikationssituationen. Tatsächlich erzeugt der Anschluss der Kontextunterscheidung an die Schützsche Differenzierung von Zeichenarten, denen je unterschiedliche Kommunikationsund Beziehungsformen zugewiesen werden, eine Distanz zwischen diesen Kontexten, die den zuvor behaupteten Zusammenhang unter der Hand auflöst. Entsprechend suggerieren die erwähnten exemplarischen Untersuchungen eine faktische Trennung der Ebenen. Demgegenüber ist darauf zu verweisen, dass in allen genannten Beispielen direkte Kommunikationsprozesse stattfinden. Dies gilt für das Familientischgespräch ebenso wie für die Sitzung der Selbsterfahrungsgruppe der Nikotinsüchtigen, aber auch für die technisch vermittelten Telefonate zwischen Hörern und Moderatoren einer Rundfunksendung. Eher sind es also die Inhalte oder Wirklichkeitsreferenzen, deren Verschiedenheit in den angeführten Beispielen zwar gegeben, aber keineswegs zwangsläufig ist. Auch beim familiären Mittagessen oder bei Treffen politischer Aktionsgruppen kann über den Golfkrieg gesprochen werden und massenmedial vermittelte Kommunikation kann mitunter den Charakter von Familienklatsch annehmen. Die auf der Unterschiedlichkeit der Zeichenverwendung beruhende Stilisierung der kommunikativen Kontexte kann deswegen nicht überzeugen, weil sie die innerhalb einer sozialen Situation im Hinblick auf dadurch aktualisierte soziale Kontexte unterscheidbaren Zeichenfunktionen in die Differenzierung von verschiedenen Situationen mit je spezifischer Zeichenverwendung überführt. Stattdessen wäre die vorgeschlagene Kontextunterscheidung besser mit deren institutioneller und thematischer Fokussierung zu begründen. So ist quer durch die Studien zur Gruppe der Nikotinsüchtigen und der Nichtraucherkampagne der gemeinsame Diskursbezug offensichtlich. Eine diskursorientierte Perspektive im Sinne der weiter unten vorgeschlagenen Wissenssoziologischen Diskursanalyse würde hier nicht die Trennung, sondern die situative Verschachtelung und diskurspraktische bzw. institutionelle Regulierung der Kontexte fokussieren, also die von Knoblauch getrennten Ebenen gerade im Hinblick auf ihre Relationierung durch einen gemeinsamen Diskursbezug untersuchen. Der Blick auf die diskursive Konstruktion
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zeigt, wie solche Kontexte, angefangen von der konkreten Interaktionssituation bis zu mehr oder weniger weit reichenden soziohistorischen ,Gesellschaftslagen' in einzelne Diskursereignisse hineinwirken und andererseits aus diesen heraus konstituiert werden. Darüber hinaus begreift die Wissenssoziologische Diskursanalyse Diskurse nicht nur als die Sammlung aller Redebeiträge in einem gesellschaftlichen Konfliktfeld, sondern als Strukturierungszusammenhang der entsprechenden Aussagen (vgl. Kap. 4.2). Mit dieser Bilanz der von Knoblauch vorgeschlagenen Verknüpfung zwischen der Analyse kommunikativer Gattungen und der Diskursperspektive des Symbolischen Interaktionismus ist die Diskussion der im engeren Sinne wissenssoziologischen Tradition der sozialwissenschaftlichen Wissensanalyse abgeschlossen. Die vorgenommene Rekonstruktion hat gezeigt, dass die Wissenssoziologie in ihrer Entwicklung eine Wendung von der Frage der sozialen Bedingtheit zur empirischen Untersuchung der sozialen Herstellung von Wissen vollzogen hat, die schließlich in unterschiedliche Programme der Analyse von Kommunikationsprozessen mündet. An verschiedenen Stellen - in den auf Sprach- und Kommunikationsprozesse orientierten Ansätzen der Social Studies of Science, in den Arbeiten des Symbolischen Interaktionismus und innerhalb der sozialkonstruktivistischen Tradition in Knoblauchs Vorschlag zur Untersuchung von Kommunikationskulturen wurde dabei auf den Diskursbegriffreki.miert, ohne dass bislang eine systematisch entfaltete Perspektive der wissenssoziologischen Diskursforschung erkennbar ist. Der Begriff des ,Wissens' spielt seit einiger Zeit auch im Zusammenhang sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen in der Rede von der "Wissensgesellschaft" eine wichtige Rolle. Dieser Beschäftigung mit der Bedeutung des wissenschaftlichen und professionell-ökonomischen Wissens in modemen Gegenwartsgesellschaften wende ich mich nun abschließend zu.
2.4 Wissensgesellschaft Den Kern des Konzepts der "Wissensgesellschaft" bildet die sozialwissenschaftliche Diagnose eines Strukturwandels des Wirtschaftssektors in den reichen Industrieländern, eine Verlagerung von der Industrie- zur Dienstleistungsproduktion bzw. zu den Feldern der Wissensproduktion, -vennarktung und -vennittlung, die zuerst von David Riesmann, Alain Touraine und dann von Daniel Bell prognostiziert wurde. 134 Böhme/Stehr (1986a: 8f) bspw. bezeichnen damit eine Gesellschaft, die in all ihren Lebensbereichen durch wissenschaftliches Wissen geprägt wird. Dabei geht es nicht einfach um einen Anstieg der Wissensproduktion, sondern um einen gesellschaftlichen Funktions-, Struktur- und FonnwandeI. Merkmale der Wissensgesellschaft sind neben der Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche die Professionalisierung des Wissens (als Ersetzung vorhandener Wissensfonnen durch wissenschaftliches Wissen), die Bedeutung der Wissenschaft als Produktivkraft, Entwicklungen der Technokratie, der Aufstieg der Intellektuellen zur neuen herrschenden Sozialklasse u.a.: 134 Der Begriff der, Wissensgesellschaft' wird in den USA mindestens seit den 60er Jahren von verschiedenen Autoren benutzt (vgl. dazu die Hinweise in Bell 1996: 179ff; Stehr 2000: 51 ff). Bell verknüpft das Konzept u.a. mit weitreichenden Überlegungen über gesellschaftlichen Elitewandel. Er diskutiert insbesondere auch Wachstumsstrukturen (etwa Publikationshäufigkeiten) und Differenzierungsprozesse des wissenschaftlichen Wissens. Vgl. jetzt auch Berger (1999) und Degele (2000).
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"What justifies the designation of the emergent society as a knowledge society rather than, as is at times the case, a science society, an information society or as technological civilization? The kinds of changes we attempt to analyze in particular are developments which occur with respect to the forms and dominance of knowledge itself. The focus is not merely science but the relationships between scientific knowledge and everyday knowledge, declarative and procedural knowledge, knowledge and non-knowledge." (Böhme1Stehr 1986a: 8f)
Den Diskussionen über Wissensgesellschaft liegt ein Begriff von Wissen als wissenschaftlicher, technischer sowie ökonomischer Bestandsgröße und Ressource zugrunde, der nicht in die wissenssoziologische Tradition eingebettet ist. Bell definierte zunächst Wissen als "Sammlung in sich geordneter Aussagen über Fakten oder Ideen, die ein vernünftiges Urteil oder ein experimentelles Ergebnis zum Ausdruck bringen und anderen durch irgendein Kommunikationsmedium in systematischer Form übermittelt werden." (Bell 1996: 180)
Allerdings spiegelt diese Definition noch eine vergleichsweise starke Wissenschaftsbezogenheit des Konzeptes, die vor dem Hintergrund der Planungseuphorie der 1960er Jahre verständlich ist, mittlerweile jedoch zugunsten einer Betonung der ökonomischen Verwertbarkeit, der kulturindustrielIen Zirkulation und der technisch-medialen Entgrenzung von unterschiedlichsten Wissensformen in den Hintergrund getreten ist. Wissensgesellschaft ist nunmehr eine Gesellschaftsform, in der die Ware Wissen in Gestalt von wissenschaftlichtechnischem Wissen, Bildung, Produkten, Kulturindustrien, Informationstechnologien usw. von ökonomisch zentraler Bedeutung ist. Beils Überlegungen wurden Ende der 1970er Jahre durch den französischen Philosophen Franr;:ois Lyotard rezipiert und mit einer erweiterten philosophischen Kultur- und Zeitdiagnose verknüpft. Im Unterschied zu Bell betonte Lyotard weniger die gesellschaftlichen Machtverlagerungen aus den klassischen Industriebranchen zu den neuen (wissenschaftlichen) Wissenseliten. Er interessierte sich stärker rur die philosophischen bzw. kulturell-gesellschaftlichen Implikationen des damit einhergehenden Wandels und ruhrte dazu den Begriff der "Postmoderne" in die philosophische Debatte ein. Lyotard spitzte seine Reflexionen über die neuartige Netzwerkstruktur der Wissensflüsse zur These eines ,Endes der Legitimationskraft der großen Meta-Erzählungen der Modeme' zu: Weder die Suche nach, Wahrheit' und Emanzipation (Aufklärung) noch die verschiedenen, bspw. marxistischen Formen der Geschichtsteleologie oder der säkulare Fortschrittsglaube an die stetige Entwicklung zum Besseren vermögen demnach noch, gesellschaftlich-kollektive Projekte zu mobilisieren und zu legitimieren. An deren Stelle treten - so Lyotard - konkurrierende, widersprüchliche, nicht ineinander übersetzbare Sprachspiele einer zersplitterten Situation, in der das Subjekt seinen ,Platz' auf Knotenpunkten der Informationsflüsse habe, die das postmoderne "soziale Band" bildeten. An die Stelle der Legitimation durch die modemen Metaerzählungen trete die Legitimation durch Leistung. Dies gelte rur Ausbildung, Wissenschaft und Technik gleichermaßen. Die soziologischen Diskussionen über "Wissensgesellschaft" sind jedoch der philosophischen Debatte über Postmoderne eher fern geblieben und konzentrieren sich auf den auch bei Lyotard im Anschluss an Bell diagnostizierten gesellschaftlichen Strukturwandel, also insbesondere auf Strukturverschiebungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft sowie die damit einhergehenden sozial-strukturellen Veränderungen. Hinzu kamen Überle-
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gungen aus der Wissenschaftsforschung über die sich verändernden Beziehungen zwischen grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung sowie - immer bezogen auf Fragen der ,Wissensverhältnisse' - zwischen Wissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und Wirtschaft. Sie reichen bis zu dem kürzlich von Nico Stehr formulierten Vorschlag, Wissenspolitik als eine neue Form der öffentlich-politischen Intervention in wissenschaftliche Wissensproduktion und technisch-ökonomische Anwendung zu begreifen (Stehr 2000: 237ff; 2003). In diesen Zusammenhang gehören auch Untersuchungen über den inner- und intragesellschaftlichen Wissenstransfer zwischen verschiedenen institutionellen Feldern, bspw. über die Verwendung wissenschaftlichen Wissens in der und durch die Politik oder um die Prozesse der gesellschaftlichen Diffusion neuer Wissensbestände und Technologien, um Wissensströme, Experten- und Wissenssysteme. 135 Nicht nur naturwissenschaftlich-technisches Wissen, sondern auch die Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens insbesondere in der Politik avancierte - begleitet von wechselseitigen Ignoranz- und Irrelevanzvorwürfen zwischen Wissenschaft und Politik zu einem Dauerthema der Sozialwissenschaften. 136 Wissen galt in diesen Forschungen als je abgrenzbares Paket von SachaussagenlFähigkeiten fur die sozialwissenschaftlich optimierte politische Gesellschaftsgestaltung. Ob kritisch oder sozialtechnologisch konnotiert, der Einsatz wissenschaftlichen Wissens wurde im Wesentlichen als instrumentelle ,Anwendung' eines überlegenen Wissenstypus verstanden, die der Politik nur eine ausfuhrende Rolle zuschrieb und damit schon die Klagen über ,Verständigungsprobleme' vorzeichnete. Die verschiedenen Grundannahmen eines solchen Wissenschaftszentrismus wurden in der "revidierten" Verwendungsforschung (BeckJBonß 1989a) aufgegeben. Der gesellschaftliche Gebrauch sozialwissenschaftlichen Wissens erscheint nun als Transformations- bzw. Aneignungsprozess durch eine nicht-wissenschaftliche Praxis, die sich nach Maßgabe der ihr eigenen Rationalitäten des wissenschaftlichen Wissens bedient. 137 Mit der Unterscheidung von "primärer" und "reflexiver Verwissenschaftlichung" wird der Beobachtung Rechnung getragen, dass Wissenschaft in den verschiedenen Praxisfeldern zunehmend auf Spuren ihrer selbst trifft. Unterschieden wurden weiterhin "strategische" von "diskursiven" Lerneffekten sowie mehrere Ebenen der Wissensverwendung, die nur mit je eigenen Konzepten analysiert werden können. Die außerwissenschaftliche Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens erscheint nicht länger als Trivialisierung und Transformation, die das rezipierte Wissen bis zur Unsichtbarkeit modifiziere, wie noch BeckJBonß (1984) vermuteten, sondern als auf verschiedenen Stufen stattfindender Prozess der handlungspraktischen Neugestaltung wissenschaftlicher Deutungsmuster, der im Rahmen einer Theorie der Verwissenschaftlichung gesellschaftlicher Problembearbeitung interpretiert werden müsse. ,Verwendung' wird so als Prozess des induktiven Umgangs mit handlungsentlastet produIJS Vgl. etwa die Beiträge in den Zeitschriften "Knowledge" sowie "Knowledge in Society"; auch Dunn (1986a,b), Machlup (1980, 1984), Holzner/Marx (1979) sowie in jüngerer Zeit Stehr (2000, 2003), Stichweh (2002), Weingart (2001, 2003) oder Wehling (2001) und KellerfPoferl (2000). 1J6 Interessanterweise nehmen die Einführungen zur Wissenschaftsforschung die Forschungen über sozial wissenschaftliches Wissen überhaupt nicht zur Kenntnis (vgl. etwa Weingart 2003). ]J7 Vgl. die Überblicke in Keller (1990a,b) sowie Lüders (1991a), zur deutschsprachigen Debatte die Beiträge in Beck (1982), Beck/Bonß (1989a). Beck/Bonß gehen davon aus, dass Sozialwissenschaften Interpretationen anbieten, "eine Ware, die im Unterschied zu vielen anderen (... ) wiederum nur im Durchgang durch Interpretationen aktiv konsumiert werden kann. Der Verwendungsprozeß vollzieht sich ganz und gar im Medium von Sprache und Interpretation, genauer, im Bruch zwischen Sprachen: Wissenschafts- und Alltagssprache, aber auch den Sprachen der beteiligten und interessierten sozialen Kontrahenten, Kulturen, Professionen." (Beck/Bonß 1989b: 25)
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zierten Deutungsangeboten interpretiert, der sowohl die außerwissenschaftliche Praxis wie auch die Wissenschaft von dieser Praxis verändere. Die Ebene der institutionellen Veränderungen bezeichnet die "Umstellung auf wissenschaftliche Deutungsmuster innerhalb organisierter Kontexte", d.h. die Verwissenschaftlichung institutioneller Entscheidungen insbesondere in Politik und Verwaltung und ihr Einfließen in öffentliche Diskurse. Davon unterschieden wird die berufliche Verwendung in Professionen und schließlich die alltägliche Verwendung, d.h. "das Eindringen sozialwissenschaftlicher Interpretationsmuster in die Alltagswelt" (BecklBonß 1989b: 31 ff). Anthony Giddens (1991) hat das Reflexivitäts-Verhältnis zwischen Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis zu einem zentralen Merkmal der modemen Gesellschaft erklärt. Die wissenschaftliche Dauerbeobachtung der Praxis durch modeme Expertensysteme fuhrt zu Ergebnissen - Interpretationen, Technologien - die in diese Praxis eingespeist und dort nach deren Eigenlogik rezipiert werden. Sie transformieren dadurch Praxis und werden erneut Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung. "Dauerreflexion" (Helmut Schelsky) ist nichts anderes als der Modus der Entwicklung der modemen Gesellschaften selbst. Eines der Hauptprobleme der erwähnten Forschungen bestand in der Identifizierung von ,benutzten' Wissensbeständen - sollte dies anhand von Begriffen, Kausalitätsannahmen oder Theorien usw. festgestellt werden? Was hatte als Angebot, was als Nachfrage zu gelten? Die entsprechenden Probleme werden sehr deutlich in dem paradoxen Vorschlag von BeckIBonß (1984), die Nichtidentifizierbarkeit des wissenschaftlichen Wissens als erfolgreichste Variante von Verwendung zu betrachten - eines Wissens also, dass sich im Zuge seiner Verwendung spurlos in die Praxis integriert. Bereits 1976 hatte Comelißen (1976) hier die wesentlichen Schwierigkeiten benannt: Abgesehen davon, dass jede begriffliche Identifizierungsstrategie einen festen Wissensbestand, zumindest einen historisch relativ stabilen und eindeutig einer Wissenschaft zurechenbaren Korpus von Begriffen und Verbindungen zwischen Begriffen (Theorien, Argumentationen) postulieren muss, lassen sich ,transformierte' wissenschaftliche Begriffe kaum eindeutig ihrem wissenschaftlichen Ursprungsbegriff zuordnen. Darüber hinaus kann von der Äußerung eines Begriffs nicht auf den damit verbundenen kognitiven Rahmen geschlossen werden: "Da sich in der Beobachtung auch zeigt, daß die Verwender wissenschaftlich klingender Begrifflichkeiten nicht automatisch mit denen identisch sind, die offiziell oder doch zumindest von ihrer Ausbildung her daftir zuständig sein sollten, kann man eigentlich weniger von, Verwendung von Wissenschaft', als von der situationsspezifischen Übernahme bestimmter gesellschaftlich grassierender Arten des Daherredens - was gleichwohl recht systematisch geschehen kann - sprechen. In dieser Perspektive kann allerdings keine begründete Unterscheidung mehr gemacht werden zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Prozessen der organisatorischen und interaktiven Problembewältigung." (WolfflKroner 1989: 44)
Wingens (1988) bzw. Wingens/Fuchs (1989) plädierten deswegen dafUr, aus der Perspektive der jeweiligen Praxisfelder zu rekonstruieren, was dort als sozialwissenschaftliches Wissen wahrgenommen und eingesetzt wird. Stärker auf öffentliche Diskurse und deren Transformationen durch wissenschaftliche Deutungen bezogen Lau/Beck (1989). Sie beschäftigten sich mit der strategischen Verwendung von sozialwissenschaftlichem Wissen bei der argumentativen Begründung von (bildungs-)politischen Entscheidungen, d.h. mit der
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Etappen der Wissenssoziologie "Analyse der sozialen Bedingungen und Netzwerke, unter denen bestimmte Teilbereiche und Institutionen des politisch-administrativen Systems mehr und mehr unter Zwang geraten, sozialwissenschaftliche Argumentationsstrukturen intern zu reproduzieren, um ihr eigeninteressegeleitetes Handeln und Entscheiden wissenschaftlich abzusichern, und die auf diese Weise nicht nur Einzelergebnisse, sondern möglicherweise komplexere Problemdeutungen und Kausalinterpretationen für ihre ,Diskurspolitik' übernehmen." (LauIBeck 1989: 20)
So wird die Frage nach der Wissensverwendung in einen breiteren Zusammenhang von Diskursprozessen gestellt, die hier ähnlich wie in den schon erwähnten, aus der symbolisch-interaktionistischen Tradition stammenden Ansätzen zur Untersuchung öffentlicher Diskurse als strukturierte öffentliche Auseinandersetzungen über Definitionen gesellschaftlicher Probleme verstanden werden. 138 Neben die ,Logik der Praxis' tritt die ,Logik öffentlicher Diskurse' als Aneignungsbedingung, wobei letztere in dem Maße an Bedeutung gewinnt, wie die Arena der Verwendung unter öffentliche Beobachtung gerät. Dort lösen sich wissenschaftliche Argumente von den strategischen Interessen oder Zielen der Akteure und entfalten eine nicht kontrollierbare argumentative Eigendynamik: "Verwissenschaftlichung von öffentlichen Diskursen bedeutet gleichzeitig eine Veralltäglichung des wissenschaftlichen Ergebnisangebots ebenso wie eine Öffnung des sozialwissenschaftlichen Deutungsmonopols gegenüber dem kundigen Common Sense des Laien." (LauIBeck 1989: 40)
Als "Rationalisierungsgrenze" fiir öffentliche Diskurse gelten kognitive Strukturen von Alltagstheorien - der dualistische Charakter von Problemschematisierungen, die Linearität der akzeptierten Kausalmodelle, ihre kontrafaktische Geltung, semantische Unschärfen und Vorlieben fiir Schlüsselbegriffe. Es sind also nicht einfach und nicht nur die Handlungszwänge der Praxis, sondern auch die im praktischen Handeln bedeutsamen ,Denkschemata' , die eine komplette Übernahme sozialwissenschaftlichen Wissens verhindern. Über den Filter der Struktur alltagstheoretischer Erklärungen und Kommunikationen werden "all die möglichen und faktischen wissenschaftlichen Ergebnisse abgeschirmt, die nicht die Merkmale alltagstheoretischer Begründungen aufweisen. Diese selektive Dominanz von zweckrationalen Begründungen trifft allerdings nur auf der strukturellen, nicht auf der inhaltlichen Ebene zu. Die Verwissenschaftlichung öffentlicher Diskurse hat hinsichtlich des Inhalts und der empirischen Triftigkeit von Aussagen durchaus gewichtige Folgen, die die Bedingungen und die Möglichkeiten rationaler Entscheidungsbegründung nachhaltig verändern. Diese Veränderung betrifft insbesondere die ,Ressourcen' und die Regeln argumentativer Auseinandersetzungen." (LauJBeck 1989: 152f)
Was fiir den Alltag gilt, betrifft auch die Handlungsfonnen und -spielräume politischen HandeIns: Handeln ist nur durch Komplexitätsreduktion, also durch Konzentration auf wenige und bearbeitbare Handlungsparameter möglich. Es kann zwar Vorteile gegen unerwünschte Begleiteffekte abwägen, aber in der Regel nur ex post umfassend, d.h. unter Einbezug vorher nicht wissbarer oder gewusster Effekte darauf reflektieren, dass es nicht nur im intendierten Sinne in den Bedingungen interveniert, die ihm zugrunde lagen: 139 Vgl. dazu auch den Bezug auf Risikodiskurse bei Lau (1989). Ein klassisches Beispiel dafür ist die Handhabung bildungspolitischer Bedarfsprognosen, die ungewollt über die Schaffung von Anreizen in Mangelsituationen Überangebote erzeugt. 138
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"Paradoxerweise heißt dies: Um erfolgreich zu handeln, müssen wir die Ursachen unseres Handelns kognitiv ausblenden, müssen wir eine nicht-begründbare Wirklichkeitsselektion und -interpretation vornehmen und müssen wir schließlich unsere Erfolgskriterien und Zieldefinitionen so flexibel und unpräzise halten, dass identitätsverbürgende Deutungsspielräume offengehalten werden, die es uns erlauben, gewissermaßen nicht lernen zu müssen (...). Hinsichtlich der kognitiven Strukturierung von Handlungsproblemen sind die Sozialwissenschaften der Alltagstheorie keineswegs überlegen." (ebd.: 173ft)
In den gegenwärtigen Diskussionen über Wissensgesel1schaft spielen Fragen nach sozialwissenschaftlichen Wissensbeständen und Strukturprinzipien öffentlicher Diskurse keine Rolle. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dagegen die Produktionsweisen und ökonomischen Nutzungsformen naturwissenschaftlich-technischen Wissens sowie die ökonomischen Verwertungsprozesse von Symbolproduktionen und Informationen. Die begleitenden Diskurse werden - abgesehen von Hinweisen auf veränderte Akzeptanzbedingungen wissenschaftlich-technischer Diskurse in öffentlichen Arenen und eine damit einhergehende veränderte Rol1e wissenschaftlicher Experten - nicht zum Gegenstand systematischer Analyse. Gleichwohl stehen sie als gesel1schaftliche "Risikodiskurse" (Lau 1989) im Zentrum der neueren Debatten über gesel1schaftliche Transformationsprozesse. Die im Kontext der Verwendungsforschung formulierten Hinweise auf Entfaltungsbedingungen öffentlicher Diskurse verdeutlichen, wie die Diagnose der, Wissensgesellschaft' im Rahmen einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse empirisch untersucht werden kann. Es geht dabei nicht nur um die Interpretation statistischer Bestandsgrößen, wie sie den Analysen der Strukturverschiebungen zugrunde liegen, sondern um diskursiv gebündelte Formen der gesellschaftlichen Wissenszirkulation, um spezifische Kombinationen von institutioneller und praktischer Strukturierung der Wissensflüsse. Eine solche Diskursanalyse der Wissensgesellschaft könnte die bisherigen Überlegungen und Untersuchungen zu deren Ursachen und Folgen in der erläuterten Form ergänzen.
2.5 Perspektiven der Wissenssoziologie Wie lässt sich die Entwicklung der Wissenssoziologie abschließend und im Hinblick auf die Entfaltung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse bilanzieren? Zunächst bedeutet die Unterscheidung von sukzessiven Phasen der Beschäftigung mit der sozialen Bedingtheit, der sozialen Konstruktion und schließlich der kommunikativen Konstruktion des Wissens, die mit den gezeigten Erweiterungen der Gegenstandsbereiche und einem Wandel der wissenssoziologischen Fragestel1ungen einhergehen, keine vol1ständige Ersetzung der jeweils vorangehenden Paradigmen. Eher handelt es sich um Weiterruhrungen und Akzentsetzungen, die neue Fragen generieren, ohne die Bearbeitung der alten obsolet werden zu lassen. D.h. mit anderen Worten, dass die verschiedenen wissenssoziologischen Ansatzmöglichkeiten bis heute nebeneinander bestehen und bearbeitet werden. An der damit angedeuteten Heterogenität der Wissenssoziologie wird zugleich sichtbar, warum sie nicht nur auf eine wechselhafte Karriere zurück blickt, sondern inwiefern auch ihre zukünftige Entwicklung ungewiss erscheint. Problematisch ist nicht die Breite der paradigmatischen Orientierungen und Wissensbegriffe - diesen Zustand teilt die Wissenssoziologie mit der Mehrzahl der anderen Spezialsoziologien. Bedeutsam ist vielmehr
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ein Moment, das sich hinter der von Roland Robertson formulierten Diagnose eines "sociology of knowledge turn" der gesamten Soziologie verbirgt. Während es anderen Spezialsoziologien gelungen ist, sich über einen spezifisch konturierten Gegenstand als Teildisziplin innerhalb der Soziologie zu konstituieren, ist dies für die Wissenssoziologie vergleichsweise schwierig, und zwar deswegen, weil kein sozialer Praxisbereich, kein institutionelles Feld als wissensunabhängig gedacht werden kann. So kann die Wissenssoziologie gewiss formale Struktureigenschaften, Prozesse und Transformationen gesellschaftlicher Wissensverhältnisse - bspw. die Umstellung von religiösem auf wissenschaftliches Wissen, die Säkularisierung von Expertenrollen (vgl. Kap. 5), die gesellschaftliche Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft u.a. - zu ihrem Gegenstand erklären. Um zu allgemeinen Aussagen über solche Wissensprozesse und -strukturen zu gelangen, muss sie sich jedoch immer in bestimmte Praxisfelder begeben, auf die solches Wissen bezogen ist bzw. in denen es generiert wird. Insofern oszilliert die Wissenssoziologie durchgängig zwischen der Perspektive einer allgemeinen Soziologie und den verschiedenen Bemühungen, sie als Spezialsoziologie zu betreiben. Welche generellen Antworten bietet die heutige Wissenssoziologie auf die von Merton formulierten Fragen nach der Bestimmung ihres Gegenstandsbereichs (vgl. Kap. 2. I)? Zunächst hat sie den Begriff des Wissens, der ja bei Marx, Durkheim oder Mannheim je unterschiedlich, aber mit großer Reichweite eingeführt, dann jedoch auf Ideologien, Weltanschauungen und kollektive Klassifikationssysteme reduziert wurde, von diesen Einengungen befreit. Wissen ist - in der Formulierung von Berger/Luckmann - nunmehr all das, was in der Gesellschaft als Wissen gilt, und mehr: die gesamte symbolische Ordnung der Wirklichkeit, von der Sinnstiftung im privaten Alltag bis zur Wissenskonstruktion im Labor wird zum Gegenstand der Wissenssoziologie. Die Perspektivenverschiebung von der sozialen Bedingtheit über die soziale hin zur kommunikativen Konstruktion stellt eine Konkretisierung der Wissenssoziologie als empirisches Forschungsprogramm dar. Sie verlagert die "existentielle Basis der geistigen Produktionen" (Karl Mannheim) in die sprachvermittelten Interaktions- und Aushandlungsprozesse, in sozial strukturierte gesellschaftliche Kommunikationsprozesse und in Praktiken als Kommunikationen. Institutionen sind Kristallisationen solcher Prozesse, Ordnungen des Wissens mit begrenzter Geltung. Damit ist auch die ,neue' Grundfunktion der Konstruktion von Wissen beschrieben: es geht nicht im Sinne einer Repräsentationsperspektive um die Abbildung von Welt - schon die Klassiker der Wissenssoziologie setzten sich von solchen Annahmen ab, ohne jedoch letztlich überzeugende Alternativvorschläge zu formulieren. Die soziale und kommunikative Konstruktion verweist vielmehr auf die Orientierungsleistungen symbolischer Ordnungen für menschliches Handeln in der Welt, die sich gewiss praktisch zu bewähren haben, aber dafür nicht auf den Anspruch wahrer WeItabbildung verwiesen sind. Schließlich bedarf Wissenssoziologie nicht länger einer besonderen gesellschaftlichen Konjunkturlage im Sinne der Eingangs skizzierten Pluralisierungserfahrung. Ihre gegenwärtige Ausgangsbedingung ist vielmehr die Veralltäglichung des Pluralismus. Es geht ihr mithin nicht mehr um den Nachweis der Kontingenz des Wissens oder die Aufklärung über Verzerrungen, sondern um die Momente der sozialen Strukturierung von pluralen Wissensjlüssen, sei es in Form kommunikativer Gattungen, in den strategisch-kommunikativen Prozessen naturwissenschaftlicher Wissensfixierung oder in den Karrieremustern öffentlicher Probleme. Mit diesem Hinweis ist angedeutet, wo eine Diskursperspektive der Wissenssoziologie ansetzen kann und sollte. Ihren Ausgangspunkt nimmt sie in der Position der sozialen Kon-
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struktion des Wissens und dem damit verbundenen erweiterten Wissensbegriff. Sie greift dann den Gedanken der kommunikativen Konstruktion, also der Bedeutung der Sprachprozesse für die Wissenszirkulation auf. An verschiedenen Stellen der Diskussion wurde hier bereits deutlich, wie innerhalb der wissenssoziologischen Ansätze selbst Bezüge zu Diskurskonzepten entstanden sind, auf die eine Wissenssoziologische Diskursanalyse aufbauen kann: In den Social Studies 0/ Science wurde die Bedeutung sprachvermittelter Aushandlungsprozesse für die naturwissenschaftliche Wissensgenerierung zunächst im Anschluss an das interpretative Paradigma und dann mit stärkeren Bezügen auf konversationsanalytische Ansätze betont. Erst in jüngerer Zeit finden sich hier, wie die Position von Golinski (1998) exemplarisch zeigt, programmatische Bemühungen um eine Erweiterung der Diskursperspektive im Anschluss an Foucault u.a. Allerdings bleibt dieses Programm auf das spezifische Wissensfeld des naturwissenschaftlichen Wissens eingeschränkt. Die auf öffentliche Diskurse bezogene Analyseperspektive des Symbolischen Interaktionismus entwickelt an einem davon deutlich unterschiedenen Gegenstandsbereich ihr Diskurskonzept. Sie illustriert den Stellenwert sozialer Akteure, institutioneller Strukturierungen und Ressourcen der, Wissensaushandlung' in symbolischen Kämpfen und verankert ihre diskursorientierte Perspektive in der soziologischen Tradition des interpretativen Paradigmas, ohne jedoch die damit verbundenen verstreuten Forschungsinteressen in einem systematisierten Konzept der Diskursforschung zu bündeln. Schließlich hat Knoblauch mit seinem Vorschlag zur Analyse von Kommunikationskulturen einen wichtigen, wenn auch letztlich unbefriedigenden Schritt zur Integration der Analyse kommunikativer Gattungen und der Diskurstradition des Symbolischen Interaktionismus unter dem Dach der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie skizziert. Bislang stellt die Vermittlung dieser Ansätze in einer konsistenten wissenssoziologischen Diskursperspektive ein Desiderat der wissenssoziologischen Theoriebildung dar. Mit der Grundlegung einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse schlage ich deswegen vor, den allgemeinen Begriff der kommunikativen Konstruktion durch denjenigen der diskursiven Konstruktion zu spezifizieren. Es geht also nicht um eine Verabschiedung der ,kommunikativen Wende', sondern um eine an den bisherigen Entwicklungsverlauf anschließende und darüber hinaus gehende Präzisierung der empirischen Wissensforschung. Mit dem Konzept der diskursiven Konstruktion sind spezifische, keineswegs alle Strukturierungen von Kommunikationsprozessen bezeichnet. Damit wird die Betonung der Bedeutung des Sprach- bzw. Zeichengebrauchs für die Wissensprozesse beibehalten. Der Begriff des Diskurses verweist jedoch auf die Beziehungen, die dabei zwischen unterschiedlichsten Aussageereignissen, gesellschaftlichen Arenen, institutionellen Feldern, Praxisbereichen und Akteuren bestehen. Die Diskursperspektive führt also eine Strukturierungshypothese in die wissenssoziologische Analyse ein, entlang derer gesellschaftliche Wissensflüsse in institutionellen Feldern der Gesellschaft in ihrer zeitlich-räumlichen Genese, ihrer Fixierung und ihrem Wandel rekonstruiert und erklärt werden können. Sie betont die soziale und institutionelle Strukturierung der symbolischen Ordnung von Wirklichkeit sowohl im Hinblick auf ihre Praktiken wie Inhalte. In diesem Zusammenhang von einer Spezifizierung, nicht von einem Ersatz der ,kommunikativen Konstruktion' zu sprechen, bedeutet, dass andere Perspektiven auf kommunikative Wissensprozesse, wie sie bspw. im Rahmen der Hermeneutischen Wissenssoziologie vorliegen, möglich und notwendig sind. Ihr Nutzen wird von der Wissenssoziologischen Diskursanalyse keinesfalls bestritten.
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Die Wissenssoziologische Diskursanalyse erlaubt schließlich einen spezifischen empirischen Zugang zu den Phänomen, mit denen sich die Zeitdiagnosen der Wissensgesellschaft beschäftigen. Sie löst diese Diagnosen von ihrer bisherigen Konzentration auf die Interpretation der Bedeutung aggregierter statistischer Bestandsgrößen der Wissensproduktion und macht Vorschläge, wie Wissenszirkulationen als tatsächliche soziale Prozesse rekonstruiert und in ihren Formen sowie Effekten erklärt werden können. Die Rede von der ,Wissensgesellschaft' könnte damit als Indikator fiir eine Transformation gesellschaftlicher Wissens- oder Definitionsverhältnisse gelten, innerhalb derer sich die Bedingungen und Strukturierungsformen der Diskurse selbst verändern. Wichtige Hinweise zur Analyse der diskursiven Konstruktion des Wissens, also darauf, wie die wissenssoziologische Diskursforschung ,Diskursen durch die Gesellschaft' 140 folgen kann, lassen sich aus der Auseinandersetzung mit der Foucaultschen Diskurstheorie und daran anschließenden Ansätzen gewinnen. Damit beschäftigen sich die nachfolgenden Ausfiihrungen.
'40 Die Wendung modifiziert einen Buchtitel von Bruno Latour (1987): "Science in Action. How to follow scientists and engineers through Society" (Harvard; in franz. Version Latour 1995).
3 Diskurs: Wissen und Sprachgebrauch
Neben der Wissenssoziologie hat sich ein anderer Zweig der Sozialwissenschaften mit Wissensphänomenen, ihrer historischen Genese und gesellschaftlichen Zirkulation im Sprachgebrauch beschäftigt. Als Leitbegriff dieser Traditionen der Wissensanalyse firmiert der Begriff Diskurs. ,Discourse' meint im angelsächsischen Sprachalltag ein einfaches Gespräch, eine Unterhaltung zwischen verschiedenen Personen. In der französischen bzw. den romanischen Sprachen ist ,discours' (,discorso') eine geläufige Bezeichnung für eine gelehrte Rede, einen Vortrag, eine Abhandlung, Predigt, Vorlesung und dergleichen mehr. Seit einigen Jahren taucht auch in der deutschen Alltagssprache der Begriff ,Diskurs' auf, meist, um damit ein öffentlich diskutiertes Thema (z.B. der Hochschulreformdiskurs), eine spezifische Argumentationskette (z.B. der neoliberale Diskurs) oder die Position/Äußerung eines Politikers, eines Verbandssprechers usw. (z.B. der Gewerkschaftsdiskurs) in einer aktuellen Debatte zu bezeichnen, zuweilen auch, um von organisierten Diskussionsprozessen zu sprechen. Als alltagsweltlicher bzw. nicht-wissenschaftlicher Begriff ist ,Diskurs' im Englischen und Französischen sehr viel geläufiger als im Deutschen. Auf den dort vorfindbaren Konnotationen beruht der überwiegende Teil seiner wissenschaftlichen Karriere, die ihren Ausgangspunkt in verschiedenen sprachwissenschaftlichen Traditionen nimmt. Unter ,Diskurs' wird heute in der Alltagssprache wie auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften sehr Unterschiedliches verstanden. Das gilt sowohl für die theoretische Konzeptualisierung wie für die methodische Umsetzung in konkreten Forschungsprojekten. Während die angelsächsische Tradition der Diskursforschung innerhalb der Sprachwissenschaften entstand und entsprechend dem anglo-amerikanischen Alltagsverständnis von ,discourse' als ,discourse analysis' unterschiedlichste Prozesse des alltagspraktischen Sprachgebrauchs unter Fragestellungen der Linguistik untersucht, greifen die (zunächst) französischen Diskurstheorien auf die Bedeutungsassoziationen der institutionellen Regulierung und des Öffentlichkeitsbezugs zurück, die in Vorstellungen wie ,Rede' oder ,Abhandlung' usw. anklingen. In diesem Zusammenhang wird insbesondere - aber nicht nur - von Michel Foucault ein Diskurskonzept entwickelt, das sich unter gesellschaftstheoretischen, philosophischen und geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten mit Diskursen als Erscheinungs- und Zirkulationsformen des Wissens beschäftigt. In der historischen Rekonstruktion lässt sich zeigen, dass gerade die Foucaultsche Theorie Themen der Wissenssoziologie von Durkheim aufgreift, insbesondere die Frage nach der Herkunft kollektiver klassifikatorischer Ordnungen. Dies geschieht jedoch nicht im direkten Rückgang auf die Arbeiten Durkheims, sondern im Anschluss an deren Rezeption in der Sprachphilosophie von Ferdinand de Saussure. Letzterer begreift Sprache als historisch aus den konkreten Sprachhandlungen der Individuen einer Gesellschaft entstehendes System mit einer spezifischen Struktur, in der die einzelnen Elemente (Zeichen) ihre Bedeutung durch die Stellung im gesamten System erhalten. Die emergente Strukturebene dieser "langue" liegt den konkreten Sprechak-
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ten, der "parole" der Individuen, als generierender Erzeugungsmechanismus zugrunde. Foucault interessierte sich allerdings weder fur die sprachwissenschaftlichen Fragen, denen Saussures Aufmerksamkeit galt, noch folgt er unmittelbar dessen Sprachtheorie. Für ihn ist Sprache ein Mittel zum Zweck der Analyse diskursiver Praktiken, die ihrerseits als Schlüssel eines empirischen geschichtswissenschaftlich-philosophischen Zugangs zu historisch abgrenzbaren Wissensformationen auf der Ebene der ,kollektiven Wissensbestände' gelten. Die Diskurstheorie und -analyse verfolgt hier also im Unterschied zur sprachwissenschaftlichen Tradition die gesellschaftlichen Transformationen von Wissensordnungen. Es ist dieser Zweig der diskursorientierten Ansätze, auf den ich mich in erster Linie beziehe. Im anschließenden Kapitel 3.1 erläutere ich zunächst in einem kurzen historischen Rückblick die philosophische Karriere des Diskursbegriffs bis zu den Auseinandersetzungen um Strukturalismus und Poststrukturalismus in der französischen Diskussion der 1960er Jahre, in deren Kontext Foucault seine Diskurstheorie entwickelt. Das Kapitel endet mit einem Überblick über das gegenwärtige Spektrum der Ansätze, die mit Diskursbegriffen arbeiten. Kapitel 3.2 diskutiert den "Planeten Foucault .. (Paul Veyne). Michel Foucault hat in den verschiedenen Etappen seines Werkes zahlreiche theoretische sowie methodologische Vorschläge zur Diskurstheorie vorgelegt und in materialen Analysen der Verflechtungen von Diskursen und Praktiken ebenso schillernd wie anschaulich illustriert. Gesellschaftliche Wissensordnungen werden von ihm als emergente diskursive Phänomene mit eigenen Regeln betrachtet. Im Rückgriff auf den in Kapitel 2.2 benutzten Begriff der Konstruktion kann man die Foucaultsche Perspektive als ,Diskurskonstruktivismus ohne Konstrukteure' bezeichnen. Dieser Ansatz ist in den letzten Jahrzehnten zur allgemeinen sozialtheoretischen Grundlage verschiedener Ausprägungen des angelsächsischen "social constructionism" geworden (Burr 1997; Hacking 1999), der die Konstitution und Konstruktion von Wirklichkeit in Diskursen betont. An Foucaults Überlegungen zur (Diskurs-) Archäologie der Wissensformationen, zur Genealogie von Macht/Wissen-Komplexen und zum Verhältnis zwischen Diskursen und Praktiken lassen sich die verschiedenen Ansatzpunkte herausarbeiten, die eine Wissenssoziologische Diskursanalyse berücksichtigen muss, um über die in Kapitel 2.3 erläuterten wissenssoziologischen Bezüge auf Diskurskonzepte hinaus eine angemessene Übersetzung des Diskurskonzepts in den handlungstheoretischen Rahmen der sozialkonstruktivistischen Perspektive zu leisten. In der Diskussion der Foucaultschen Theorie wird deutlich, dass ihr Diskurskonzept fur soziologische Forschungsinteressen in mancherlei Hinsicht unbefriedigend bleibt. Diese Mängel beziehen sich zum einen auf die theoretische Formulierung der Verknüpfung von Diskurs (als Gesamtstruktur) und einzelnen diskursiven Ereignissen. Zum anderen betreffen sie die vorgenommene Relationierung des Verhältnisses von sozialen Akteuren und Diskursen. Das Kapitel schließt mit einer Diskussion der wichtigsten Kritiken an der Foucaultschen Theorie und einem Resümee der Punkte, an denen die Wissenssoziologische Diskursanalyse ansetzen kann. Das nachfolgende Kapitel 3.3 beschäftigt sich mit Weiterfuhrungen seiner Diskurstheorie in verschiedenen neueren diskurstheoretischen Entwicklungen, die sich insbesondere auf das Verhältnis von Diskursen und diskursiven Ereignissen sowie auf die Fragen nach dem Stellenwert von Subjekten und Akteuren richten. Im Einzelnen behandele ich zunächst Ansätze der kritischen Diskursforschung, die sich vor sprachwissenschaftlichem Hintergrund um die Heranfuhrung der Diskurstheorie an die detaillierte empirische Untersuchung von diskursiven Ereignissen bemühen. Sie verknüpfen dazu die eingangs erwähnte discour-
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se analysis mit den Traditionen der Diskurstheorie. Im Anschluss daran greife ich die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe formulierte postmarxistische Diskurstheorie auf, die Gesellschaft als Signifikationsprozess begreift und sich damit auseinander setzt, wie Diskurse soziale Identitäten konstituieren und welche Artikulationsformen den sozialen Akteuren zugeschrieben werden können. Zuletzt werde ich die Diskursperspektive der Cultural Studies erläutern. Es handelt sich dabei gewiss um den am stärksten soziologisierten Ansatz der diskurstheoretischen Tradition. In den Cultural Studies wurde ein Modell der Wissenszirkulation als ,Kreislauf der Kultur' vorgestellt, das Überlegungen der Foucaultschen Diskurstheorie sehr entschieden mit akteurs- und handlungstheoretischen Perspektiven der Sozialwissenschaften verknüpft. Kapitel 3.4 bilanziert die Auseinandersetzung mit den Perspektiven der Diskursforschung. Dabei geht es um Fragen nach den Bezügen zwischen den erläuterten Ansätzen, nach ihren Übereinstimmungen und Unvereinbarkeiten im Hinblick auf den Diskursbegriff, nach ihrem Beitrag zur Lösung der angesprochen Probleme des Foucaultschen Ansatzes und um eine Gesamteinschätzung der diskurstheoretischen Entwicklungen tur das Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse.
3.1 Die Geschichte des Diskursbegriffs 3.1.1 Die frühe Begriffsentwicklung Die Sprachwurzein des Diskursbegriffs liegen in den altlateinischen Wörtern ,discurrere'/,discursus', die ursprünglich eine Bewegung des ,Hin- und Herlaufens' bzw. des orientierungslosen Umherirrens bezeichnen: "Frühen Belegstellen zufolge werden damit genau jene Gesprächsverläufe bezeichnet, die von Zuhörern als ausgesprochen enervierend empfunden worden sein dürften. Im Unterschied zur offenen Atmosphäre eines Gespräches erscheint der Diskurs in seiner ursprünglichen Bedeutung zunächst als eine nicht leicht zu ertragende, monologisierende weit ausschweifende Redefolge, bei der die Wortführer selbst zwischenzeitlich offenbar die Orientierung darüber verlieren, was sie eigentlich hatten sagen wollen. Die Teilnehmer kommen ,nach langem Herumirren aus dem Wald heraus', als solche, ,die viel reden, aber nichts sagen'." (Nennen 2000a: VII)
Es handelt sich dabei um ein ,,Allerweltswort" (Schalk 1997/98: 61), das in vielen unterschiedlichen Kontexten benutzt wird - etwa zur Beschreibung von ruckartigen Körperbewegungen, des Blutkreislaufs, der Bahn der Gestirne oder des Fluchtverhaltens geschlagener Armeen - und sich kaum auf eine dominierende Bedeutung festlegen lässt. 14 J Im 13. Jahrhundert avanciert der Begriff ,discursus' zur scholastischen Fachterminologie und bezeichnet formale Strukturen logischen Schlussfolgerns und die Verstandestätigkeit. Diese Denktradition wird bei David Hume Ende des 18. Jahrhunderts oder bei Jeremy Bentham Anfang des 19. Jahrhundert auch in Beziehung zum tatsächlichen Sprachgebrauch gesetzt: Sprache gilt letzterem als Instrument des Diskurses und damit des Denkens (Schalk 1997/98: 64ff). 141
Vgl. hierzu und im Folgenden vor allem Schalk (1997/98), Kohlhaas (2000), auch schon Stierle (1984).
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Eine andere, von Anfang an nicht auf Logik, sondern auf Sprachgebrauch hin orientierte Verbreitungstradition des Diskursbegriffs entwickelt sich in der italienischen Renaissance. ,Diskurs' bezeichnet hier einerseits die mündliche, öffentliche, akademische oder institutionelle Rede, andererseits die schriftliche, gelehrte, schließlich wissenschaftlichdialogische Abhandlung. Solche Abhandlungen - bspw. die 1533 erschienenen Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio von Niccolo Machiavelli, die Essais von Michel Montaigne, die in italienischer Übersetzung 1590 als Discorsi morali, politici e militari veröffentlicht werden, auch verschiedenste Publikationen Galileo Galileis wie der Discorso dei jlusso e rejlusso dei mare aus dem Jahre 1612 oder im französischen Sprachraum Rene Descartes Discours de la methode, der 1637 erscheint - unterscheiden sich einerseits von der sprachlichen Form des Traktats dadurch, dass sie stärker argumentierend, in der reflexiv-dialogischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen und Möglichkeiten des Gedankengangs angelegt sind: "Wenn er seine Abhandlung einen Diskurs statt einen Traktat über die Methoden nenne, erklärt Descartes in einem Brief an Mersenne, dann bedeute dies soviel wie, Vorwort' oder ,Hinweis zur Methode' (...), ,um zu zeigen, daß ich nicht die Absicht habe, sie zu lehren, sondern nur, darüber zu sprechen.''' (Kohlhaas 2000: 51)
Andererseits folgen discorsi im Unterschied zum tatsächlichen Gespräch bzw. zur Konversation dem Ziel, einen durchgehenden Gedankengang, ein einziges Thema im Zusammenhang zu entwickeln. In diesem Verständnis als einer neuen sprachlichen (Kommunikations-) Form mit eigenen Strukturierungsregeln setzt sich der Diskursbegriff in den folgenden Jahrhunderten im französischen Sprachraum zunehmend durch - im Englischen werden damit auch stärker essayistische Darstellungsformen und unterhaltsame argumentierende Reden bezeichnet - und findet über diesen Weg im 16. Jahrhundert in die deutsche Sprache. 142 Diskurse haben, so argumentieren bspw. Diderot und D' Alembert 1754, als eine Art "Plädoyer" eine formale Struktur von "Einleitung, Bericht, Darlegung, Beweis und Schlussfolgerung"; als Form logischer Darstellung, Argumentation und Schlussfolgerung bezüglich komplexer Sachverhalte sind sie in unterschiedliche Argumentationsschritte und Aussagen gegliedert (Schalk 1997/87: 83ft): "Im Begriffsverständnis der Aufklärung spiegelt sich das Zugleich gegensätzlicher Konzeptualisierungen wider. So geht der Artikel ,discours' der von Diderot und D' Alembert herausgegebenen Encyclopedie (1751-80) von einer normativen Definition aus. Danach ist der Diskurs ,eine Versammlung von Sätzen und Worten, die nach allen Regeln der Kunst vereinigt und angeordnet sind' (...). Gleichzeitig legt der Verfasser aber Wert darauf, daß dieses Gebilde nicht selbst wieder zu einer systematischen Abhandlung wird, sondern den Bedürfnissen der lebendigen Rede im Gegenüber ihrer Adressaten durch die Berücksichtigung emotiver und aufmerksamkeitssteigernder Mittel (...) Rechnung trägt." (Kohlhaas 2000: 51)
Im Bemühen, der Wortgeschichte treu zu bleiben, finden sich in deutschsprachigen philosophischen Wörterbüchern auch folgende Erläuterungen:
142 Schalk (1997/98) erwähnt eine Bibliotheksrecherche, die etwa 1500 Titel im Zeitraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nachweist, die alle den Diskursbegriff enthalten.
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" 'Discours, Bedeutet eigentlich eine an einander ordentlich zusammenhängende Rede, wodurch man seine Gedanken andern entdecket (...) Nachdem sich einige die Gedanken als eine innerliche Rede vorgestellt, und mithin die Rede in eine äußerliche und eine innerliche eingetheilet, so hat man das Wort Discours auch in dem Verstande gebraucht, daß es den Vernunftschluß anzeiget, da unterschiedliche Ideen miteinander verknüpft würden, wie bey der äußerlichen unterschiedene Worte'." (Johann Georg Waleh, 1775, zit. nach Schalk 1997/98: 82) ,,'Discurs (von discurrere, hin und herlaufen) heißt ein Gespräch, weil dabei die Rede von einer Person zur anderen übergeht, der Verstand also in den redenden Personen gleichsam hin und her läuft, indem sie sich gegenseitig verständigen wollen'." (Wilhelm Traugott Krug, 1832, zit. nach Schalk 1997/98: 82)
Jean-Jacques Rousseau, der selbst in den Titeln seiner Arbeiten für die französischen Akademien - etwa im Discours sur l 'origine et les fondements de l'imigalite parmi les hommes (1753) - mehrfach den Diskursbegriff einsetzt, fonnuliert auch eine prominente Kritik am Diskurs als ,schöner' oder ,schöngeistiger' Rede, die nicht Ausdruck der, wahren Bedürfnisse' des Menschen sei. Die wissenschaftliche Karriere der neuen Kommunikationsfonn ,Diskurs' kommt im 19. Jahrhundert an ihr vorläufiges Ende. An ihre Stelle treten auf dem Feld der naturwissenschaftlichen Wissensvennittlung fonnal strengere Abhandlungsstile in engerer Anlehnung an die Idee des Traktats; der Diskursbegrifftaucht eher in der Literatur oder in den neu entstehenden Sozialwissenschaften auf (Kohlhaas 2000: 52t). Im Kontext des philosophischen Pragmatismus benutzen Charles S. Peirce und George Herbert Mead den Begriff des "universe of discourse" für die Bezeichnung des Zusammenhangs von Sprachgemeinschaften und Sinnhorizonten. 143 Sie kommen damit heutigen Begriffsverwendungen sehr nahe: "Es wird davon ausgegangen, daß sich die Bedeutung sprachlicher Äußerungen immer in Relation zu einem die Kodierung und Dekodierung reglementierenden ,Diskursuniversum', dem konkreten Kontext einer Äußerung, erschließt." (Schalk 1997/98: 93)
Der Diskursbegriff bezeichnet hier nicht mehr (nur) eine kommunikative Fonn oder Gattung, sondern die Verknüpfung von einzelnem Sprachereignis und den (sprachlichsozialen) Kontexten der Bedeutungszuweisung, wie sie für die Semiotik und den (Post-) Strukturalismus später in je spezifischer Weise zentral werden. Der Pragmatismus prägt auch das bereits in Kapitel 2.3.3.2 erläuterte Verständnis von ,public discourse', also von Öffentlichkeit als Arena der kollektiven Aushandlung von WirkJichkeitsbestimmungen in den Diskursansätzen des Symbolischen Interaktionismus. 144
143 Dieser Begriff verbreitet sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Teilen der englischsprachigen Philosophie der Sprache, der Logik und des Denkens. Vgl. dazu Kapitel 4.2.1. 14. Vgl. dazu auch die Rekonstruktion des "Strukturwandels der Öffentlichkeit" durch Jürgen Haberrnas (1990).
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3.1.2 Die Karriere des Diskursbegriffs seit den 1950er Jahren Die neuere Karriere des Diskursbegriffs beginnt in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. 145 Dafiir sind verschiedene disziplinspezifische und -übergreifende Diskussionslinien von Bedeutung, zu denen vor allem die diskurstheoretischen und diskursanalytischen Entwürfe aus dem französischen (Post}Strukturalismus zählen. Sie werden im Anschluss genauer erläutert. Auch die linguistische Analyse mündlicher Rede hat wesentlich zur Popularität des Diskursbegriffs beigetragen. 1m us-amerikanischen sprachwissenschaftlichen Strukturalismus und der Distributionslinguistik benutzte bspw. Zelig S. Harris 1952 den Begriff der discourse analysis zur Bezeichnung seines Ansatzes einer strukturell-grammatikalischen Analyse von Indianersprachen; ,discourse' bezeichnet hier satzübergreifende sprachliche Strukturen (Harris 1952). Unter dem Label discourse analysis entwickelte sich ein breites Spektrum der sprachpragmatischen Erforschung von Kommunikationsprozessen. Darin flossen auch Überlegungen der Sprachphilosophie von Ludwig Wittgenstein, John Austin und John Searle sowie sprachsoziologische und ethnomethodologisch-konversationsanalytische Fragestellungen ein. Die Vorschläge von Harris wurden im Kontext des französischen Strukturalismus rezipiert und zur Inspirationsquelle fiir quantifizierende Analysen großer Textkorpora im Schnittpunkt von Sprach- und Geschichtswissenschaften (Guilhaumou 2003). Zu den genannten Entwicklungen traten in den 1970er und 1980er Jahren weitere Gebrauchsweisen von ,Diskurs'. So verschaffte Jürgen Habermas mit seinem normativen Modell der Diskursethik dem Begriff in der wissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeit seit dieser Zeit große Prominenz. 146 Nachfolgend diskutiere ich zunächst die Entfaltung des Diskurskonzepts im französischen Strukturalismus (Kap. 3.1.2.1) und anschließend seine Weiterentwicklung im Poststrukturalismus (Kap. 3.1.2.2), aus dem die wichtigsten Impulse fiir die gegenwärtige Konjunktur der Diskursforschung außerhalb der Sprachwissenschaften stammen. 3.1.2.1
Die Bedeutung des französischen Strukturalismus
Die theoretisch-konzeptionellen Ursprünge der Verwendung des Diskursbegriffs im französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus sind fiir seinen heutigen Gebrauch von zentraler Bedeutung. Sie können hier nur in wenigen Stichworten umrissen werden. 147 Als Strukturalismus wird ein in den 1950er und 1960er Jahren in Frankreich entstandenes heterogenes Ensemble von Theorien und Forschungen in unterschiedlichen Disziplinen bezeichnet, deren Gemeinsamkeit in einem spezifischen Rückgriff auf die Sprachtheorie von 145 Vgl. dazu neben der im Text erwähnten Literatur z.B. auch die neueren Einführungen, Reader und Überblicke von Landwehr (2001), Mills (1997), Howarth (2000), WetherelllTaylorNates (2001a,b), JaworskifCoupland (1999); zur Entwicklung einer pragmatistischen Tradition der Diskursanalyse im interpretativen Paradigma (Symbolischer [nteraktionismus, Konversationsanalyse u.a.) auch Angermüller (2001). 146 Vgl. dazu den Exkurs in Kapitel 3.1.3. Die in Kapitel 2.3.3.2 erwähnte Diskursperspektive des Symbolischen Interaktionismus ist demgegenüber zumindest im deutschen Sprachraum bislang von untergeordneter Bedeutung. 147 Fast alle der nachfolgend genannten Autoren haben sich in ihrer Werksgeschichte mit dem Diskursbegriff befasst und ihm jeweils eine spezifische Wendung gegeben. Die Breite dieser Diskussion kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Vgl. als Überblicke insbes. Frank (1983), Schöttler (1988,1989), Dosse (1996, 1997), Williams (1999), Reckwitz(2000), Stäheli (2000).
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Ferdinand de Saussure besteht. In Auseinandersetzung mit verschiedenen Einwänden gegen die strukturalistischen Thesen entwickeln einige der Protagonisten dieser Debatten ab Mitte der 1960er Jahre die modifizierten Positionen des Poststrukturalismus. Während im Strukturalismus Diskurse als abstrakte, objektive Regelstrukturen begriffen und untersucht wurden, wandte sich der Poststrukturalismus stärker den Wechselwirkungen zwischen abstrakten symbolischen Ordnungen und dem konkreten Sprach- bzw. Zeichengebrauch, d.h. dem Verhältnis von Strukturen und Ereignissen - meist Sprachhandlungen bzw. sozialen Praktiken - zu. 148 Ferdinand de Saussure: Das System der Sprache Am Ausgangspunkt der Entwicklung des Strukturalismus steht zunächst die durch den Ethnologen Claude Levi-Strauss vermittelte Rezeption der Sprachtheorie des Genfer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure in den französischen Sozial- und Geisteswissenschaften. 149 Saussure (1967 [1916]) entwarf in seinen 1907-1911 gehaltenen "Vorlesungen über Allgemeine Sprachwissenschaft" einen wissenschaftlichen Begriff von Sprache, der diese als System von Zeichen - die "langue" - begreift, das dem konkreten Sprechen und Schreiben, d.h. dem praktischen Sprachgebrauch der Individuen (der "parole") zugrunde liegt. 150 Dieses Sprachsystem wird als eine historisch entstandene soziale Institution - vergleichbar dem politischen System oder dem Recht - verstanden, deren Genese auf die sprachlichen Interaktionen innerhalb einer Sprachgemeinschaft zurückgeführt werden kann. Allerdings handelt es sich dabei um ein emergentes Phänomen, das sich als Ganzes aus der Summe der einzelnen Beiträge ergeben hat, ohne mit dieser identisch zu sein. Nicht von ungefähr enthält diese Beschreibung Anklänge an die Soziologie von Emile Durkheim: "Die soziologische Bedeutung des Begriffs Langue/Parole liegt auf der Hand. Schon sehr früh hat man die offenkundige Verwandtschaft der Sprache im Saussureschen Sinn (langue) mit dem Durkheimschen Begriff des Kollektivbewußtseins hervorgehoben, das von seinen individuellen Manifestationen unabhängig ist: man hat sogar behauptet, daß Durkheim einen direkten Einfluß auf Saussure gehabt habe; Saussure soll die Auseinandersetzung zwischen Durkheim und Tarde 148 Vgl. zur soziologischen Kritik am ,objektivistischen' Vorgehen des Strukturalismus Bourdieu (1976, 1992). Dosse (1996, 1997) zeichnet nach, wie verschiedene Autoren des Strukturalismus Kritik aus hermeneutischen, phänomenologischen sowie sprachanalytischen Perspektiven aufnehmen und ihre Theorieansätze modifizieren, bis es schließlich in Frankreich zur "Humanisierung der Humanwissenschaften" kommt (Dosse 1995). Eine ausführliche Diskussion der Bedeutung von Saussure sowie der strukturalistischen und poststruktural istischen Theorien für die Soziologie findet sich in Giddens (1979; 1987). 149 Vgl. zur Einführung in das Werk von Saussure Prechtl (1994) und insbesondere Chandler (2003), einen guten Einblick gibt auch Rica:ur (1973); zur Verortung der Arbeiten Saussures und anderer sprachwissenschaftlicher bzw. sprachphilosophischer Beiträge in der Entwicklung diskurstheoretischer und diskursanalytischer Perspektiven z.B. Williams (1999), Howarth (2000), Kress (200 I). ISO Saussure betrachtet die Sprache als wichtigstes Zeichensystem; die Überlegungen lassen sich allerdings analog auf andere Zeichenformen übertragen. In diesem Sinne werden in der Semiotik alle kulturellen Prozesse als Kommunikationsprozesse, d.h. als Prozesse der Entäußerung und Rezeption von Zeichen verstanden. Vgl. dazu sowie zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der Sprachtheorie von Saussure und der pragmatistischen Semiotik von Charles S. Peirce z.B. Eco (1991: 28ft). Letzterer sieht bei Peirce die umfassendere Zeichentheorie, weil sie verschiedene Arten von Zeichen unterscheidet und die Zeicheninterpretation mit berücksichtigt. Eine stärker den Sprachgebrauch anvisierende Sprachphilosophie, die tur Diskurstheorien bedeutsam wurde, hat auch Mikhail Bakhtin entwickelt (vgl. dazu Kap. 2.3.3.1 und 3.1.2.2 sowie Chandler 2003: 17ft).
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aus der Nähe verfolgt haben; seine Auffassung der Sprache soll von Durkheim kommen und seine Auffassung des Sprechens eine gewisse Konzession an Tardes Ideen über das Individuelle sein." (Barthes 1981: 21 [1964])
Von der Sprache als einem System zu sprechen, impliziert die Annahme bestimmter Beziehungen, Regelmäßigkeiten bzw. Strukturen zwischen den Systemelementen; diese steuern als Code den praktischen Sprachgebrauch: "Das Individuum muß die Sprache in dem Sinne lernen, dass es um das Ineinandergreifen ihrer Regeln weiß bzw. damit umzugehen weiß. (... ) Die Sprache ist eine Ordnung, die jedem individuellen Sprechen, jedem einzelnen Sprechakt und jedem Verstehen von sprachlichen Äußerungen zugrunde liegt. Diese Regelstruktur nennt Saussure auch ,Code' einer Sprache. Dieser stellt gleichsam das Potential oder die reine Möglichkeit der Sprache dar, die erst reale Gestalt und damit ihre Verwirklichung im aktuellen Sprechen gewinnt." (Prechtl 1994: 54f)
Elemente des Systems "langue" sind die Zeichen. Ein Zeichen besteht aus der Verknüpfung von Lautbild (Ausdruck, Signifikant) und Vorstellung (Sinn, Bedeutung, Signifikat, d.h. das, was den Inhalt bzw. ,empirischen' Bezugspunkt bildet). Folgenreich für die Entwicklung diskursanalytischer Ansätze ist die entschiedene Verabschiedung einer Repräsentationsperspektive, d.h. der Vorstellung, Lautbild und Bedeutung eines Zeichens seien eine Widerspiegelung des empirischen Phänomens, auf das es sich bezieht. 151 Nach Saussure drängt sich der Gehalt eines Zeichens (Lautbild/Bedeutung) nicht durch außersprachliche Phänomene gleichsam ,natürlich' auf; vielmehr ergibt er sich sowohl für das Lautbild wie für die Bedeutung aus der Stellung des Zeichens im Zeichensystem der langue, d.h. in den Differenzbeziehungen zu den anderen Zeichen, von denen es sich unterscheidet. In diesem Sinne ist er willkürlich oder ,arbiträr', weil ihm keine außersprachliche Notwendigkeit zukommt. Dies meint jedoch nicht, dass man im Sprechen Zeichen beliebig einsetzen könne, denn dann wäre keine Verständigung möglich. Erst das System der Sprache erlaubt Verständigung, weil es den Zeichengebrauch durch die verschiedenen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft strukturiert. Diese haben in ihrer Sprachsozialisation das Sprachsystem als Struktur sich unterscheidender Zeichen, d.h. als System von Differenzen internalisiert und können nur deswegen Zeichen benutzen und verstehen. So liegt die abstrakte Systemstruktur der langue mit ihren willkürlichen, durch sprachsystem-immanente Regeln bestimmten Differenzbildungen dem konkreten Sprachereignis im menschlichen Sprechen (der parole) zugrunde. Die wissenschaftliche Aufgabe der Sprachwissenschaft besteht - für Saussure - in der Analyse dieser objektiven Struktur von Sprachen.
Die Saussure-Rezeption im Strukturalismus Das hier nur in wenigen Grundzügen vorgestellte Sprachmodell von Saussure wird von Claude Levi-Strauss erstmals Ende der 1940er Jahre auf Fragestellungen der Ethnologie
151 Saussure steht damit nicht alleine: Die Abbildfunktion der Sprache wird auch bei Kant, Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger, im Pragmatismus etc. verabschiedet. Entsprechende Positionen lassen sich bis zu Platon zurückverfolgen (Dosse 1996: 76ff; Rorty 1981, 1989; Reckwitz 2000; Chandler 2003).
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und Kulturanthropologie übertragen. '52 Konkrete kulturelle Phänomene wie Verwandtschaftsbeziehungen oder die Erzählung von Mythen werden von ihm in Analogie zur Saussureschen Sprachtheorie als parole, d.h. als Ereignisse begriffen, denen eine subjektunabhängige Regelstruktur, etwa ein System der Verwandtschaftsstrukturen oder ein System der Mythen, d.h. jeweils eine Art langue zugrunde liegt. So wie die Zeichen im System der Sprache bilden auch hier die einzelnen Elemente ihren Wert, ihre Bedeutung durch die Differenzbeziehungen innerhalb dieses systemischen Strukturgeruges. Aufgabe der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ist dann die Rekonstruktion dieser Systeme bzw. objektiven Strukturen rur ihre jeweiligen Forschungsgegenstände. 153 Die durch LeviStrauss in Frankreich eingeleitete Rezeption der sprachwissenschaftlichen Theorie von Saussure in den Sozial- und Geisteswissenschaften zielt auf ihre gleichberechtigte Anerkennung als objektive Disziplinen im Kanon der (,harten') Wissenschaften, die den Naturwissenschaften ebenbürtig sind. In der Folge seiner Veröffentlichungen kommt es zu einem Boom von Strukturalismen in Philosophie, Sprachwissenschaft, Soziologie, Psychoanalyse u.a., der sich als Ausdruck spezifischer Konstellationen des damaligen intellektuellen Feldes in Frankreich verstehen lässt (Dosse 1996). Roland Barthes etwa skizziert seine Vorstellung von Semiotik im Rückgriff auf Saussure; demnach hat nicht nur die Sprache als langue eine rekonstruierbare objektive Struktur von Differenzen, sondern unterschiedlichste Objekte werden als Zeichenträger begriffen und alle Zeichen-Codes funktionieren entsprechend, egal ob es sich um die Mythen der Eingeborenen oder die Mythen des westlich-abendländischen Alltags, um Bilderwelten von Film und Werbung, um Kleidung oder Architektur handelt. 154 Für die spätere Begriffskonjunktur von ,Diskurs' sind allerdings die Arbeiten des Philosophen Michel Foucault am folgenreichsten. Im Kontext des strukturalistischen Elans veröffentlicht er 1966 seine Analyse der "Ordnung der Dinge" (Foucault I974a). Darin unterscheidet er im historischen Rückblick auf Renaissance, Aufklärung, Romantik und Moderne je spezifische, sukzessiv auftauchende und sich ablösende grundlegende Wissensordnungen bzw. allgemeine Erkenntnisstrukturen ("episteme"). So wie die langue der parole zugrunde liegt und sie erst ermöglicht, so liegen diese Strukturen des Erkennens den konkreten Erkenntnistätigkeiten und ihrer sprachlichen Fixierung in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen zugrunde. Obwohl Foucault in Interviews wiederholt auf die Bedeutung von Levi-Strauss verweist, orientiert er doch sein eigenes Strukturkonzept am Strukturbegriff von Georges Dumezil, der nicht am linguistischen Modell orientiert ist. Schon in Bezug auf seine Doktorarbeit über "Wahnsinn und Gesellschaft" äußerte er, befragt nach den Einflüssen: "Doch auch und an erster Stelle Dumezil." (...) "Durch seine Vorstellung von einer Struktur. Wie Dumezil dies für die Mythen tat, habe ich versucht, strukturierte Formen der Erfahrung zu entdecken, deren Schema sich, mit Modifikationen, auf verschiedenen Ebenen wiederfinden lässt... [Und was ist das für eine Struktur?] Die Struktur der sozialen Trennung, die Struktur der 152 Levi-Strauss seinerseits lernt die Theorie von Saussure im Exil durch die Vermittlung von Roman Jakobson kennen (Dosse 1996: 90ft). 153 Levi-Strauss spricht bezüglich der Mythen von ,Diskurs' (Frank: 1983: 58). 154 Vgl. Barthes (1981), Ricreur (1973), Bauernfeind (1995), auch Sahlins (1981), Baudrillard (1991), Eco (1991) sowie Dosse (1996: 117ft); zur Semiotik im Rahmen der Cultural Studies Barker (2000), zur Adaption der Semiotik in der Kulturanthropologie Leach (1978); zur Anwendung in der Organisationsforschung und Verknüpfung mit der interpretativen Tradition der Sozialwissenschaften Manning (1988).
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Ausschließung. (... ) Ich wollte die Veränderung einer Struktur des Ausschlusses beschreiben." (Foucault 2001 b: 235t)
Foucault verabschiedet - wie schon zuvor Friedrich Nietzsche und auch seine zeitgenössischen Vorbilder, der Wissenschaftsphilosoph Gaston Bachelard und der Wissenschaftshistoriker Georges Canguilhem - alle Vorstellungen einer kontinuierlichen historischen Wissenschaftsentwicklung im Sinne ständig fortschreitender Wahrheitsfindung. "Die Ordnung der Dinge", im Untertitel als "Archäologie der Humanwissenschaften" bezeichnet, "ist das editorische Ereignis des Jahres (... ) Nach Erscheinen des Buches im April 1966 mußten bereits im Juni fünftausend Exemplare nachgedruckt werden, dann dreitausend im Juli und noch einmal dreitausendfünfhundert im September. Foucault wird von der strukturalistischen Welle getragen, und sein Buch erscheint als die philosophische Synthese der seit rund fünfzehn Jahren geführten neuen Reflexion. Hat der Autor später das Etikett des Strukturalismus von sich gewiesen und es als Schmähung gewertet, so siedelt er sich doch 1966 mit Nachdruck im Kern des Phänomens an: ,Der Strukturalismus ist keine neue Methode, er ist das erwachte und unruhige Bewußtsein des modernen Wissens'." (Dosse 1996: 475)155
3.1.2.2
Vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus
Die Verbreitung strukturalistischer Annahmen ist von Anfang an in Frankreich einer von Edgar Morin, Paul Ricoour, Julia Kristeva, Jacques Derrida, später auch Pierre Bourdieu und vielen anderen formulierten Kritik ausgesetzt. 156 Die Einwände stützen sich auf phänomenologisch-hermeneutische Philosophietraditionen, die Semiotik des Pragmatismus, sprachphilosophische Reflexionen des tatsächlichen Sprachgebrauchs und alternative wissenschaftliche Theorien zur menschlichen Sprachfahigkeit. Vor allem gegen drei Merkmale der strukturalistischen Perspektiven wird Einspruch erhoben: Erstens wird der wissenschaftliche Objektivismus sowie die Ahistorizität und fehlende Dynamik der strukturalistischen Modelle als überzogen bezeichnet; bereits Saussures Bevorzugung der synchronen gegenüber der diachronen Sprachbetrachtung hatte entsprechende und nun kritisierte Akzentsetzungen vorgenommen. Beispielhaft für die abgelehnte Analysehaltung steht Foucaults Beschreibung des diskontinuierlichen Nacheinanders epochenspezifischer Wissensordnungen in der erwähnten Arbeit über die "Ordnung der Dinge", die explizit Fragen nach dem Warum und Wie ihres Wandels ausklammert. Der zweite Komplex von Einwänden richtet sich auf die - zugunsten der Strukturpräferenz - fehlende Beschäftigung mit dem konkreten Sprachgebrauch, d.h. mit den einzelnen Kommunikationsereignissen. Der Strukturalismus interessiert sich demnach nur für abstrakte Differenzsysteme, ohne dass er angeben kann, wie diese den konkreten Phänomenen zugrunde liegen. Bspw. insistiert Paul Ricoour darauf, es gelte, Denkmodelle zu entwickeln, die Sprache weder nur als Struktur noch als reines Ereignis begreifen, sondern als beständige "Umwandlung des einen in das
Vgl. zur Diskurstheorie Foucaults das nachfolgende Kapitel 3.2 Vgl. Dosse (1997), Frank (1983), Reckwitz (2000), Stäheli (2000), Amery (1997), Giddens (1979, 1987), Manning (1982). 155
156
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andere im Element der Rede" bzw. des "discours" (Ricreur 1973: 112).157 Schließlich wird drittens die mangelnde Reflexion der Bedeutungsdimension symbolischer Ordnungen und deren Anwendung in den Interpretationsleistungen von sozialen Akteuren beklagt. So abstrahiere der Strukturalismus von der Urheberschaft der Textproduzenten und den Interpretationsleistungen der Rezipienten, wenn es um den in Texten enthaltenen Sinn gehe, denn dahinter stecke ja, so die Annahme, die systemische Struktur der jeweiligen langue. Dies sei jedoch nur eine scheinbare Lösung des Interpretationsproblems, denn die Rede von Codes und Kodierung kommt nicht ohne einen Begriffvon Bedeutung aus: "A theory of meaning is a theory of coding." (Manning 1982: 61) Deswegen gelte: "Structuralist semiotics does not avoid the problem of interpretation by defining the subjective actor as a mere speaker, selector, or bricoleur. The hidden interstices are those linking the norms, rules, codes, and other formalized structures with the behaviour, practice and doing of social life." (Manning 1982: 69)
Dagegen verweist etwa die Rezeptionsästhetik (Jauß 1993 [1967])) auf die Möglichkeit prinzipiell unendlich verschiedener Textlesarten durch historisch situierte Interpreten. 158 Während solche und andere kritische Stimmen zunächst nur vereinzelt Gehör finden, ändert sich ihr Einfluss gegen Ende der 1960er Jahre. Im Kontext der Studentenunruhen entbrennt ein heftiger und polemischer Streit darüber, ob ,die Strukturen auf die Straße gegangen seien, oder die Menschen' (Dosse 1997: 152ft). Viele der durch den Strukturalismus geprägten Wissenschaftler versuchen, Argumente der Strukturalismuskritik in ihre Theorien einzubauen und stärker auf Fragen der "Logik der Praxis" (Bourdieu 1976; 1993), d.h. die tatsächlichen praktischen Gebrauchsweisen der Symbolsysteme einzugehen. Sie modifizieren ihre strukturalistischen Theorieentwürfe bzw. verabschieden sich davon und entwickeln Positionen, die heute als Poststrukturalismus bezeichnet werden. 159 Fragen nach dem Verhältnis von Strukturen und Ereignissen, Handlungen und Subjekten, Statik und Dynamik werden dabei in unterschiedlicher Weise beantwortet. Roland Barthes bspw. setzt in verschiedenen Veröffentlichungen, u.a. in den "Fragmenten einer Sprache der Liebe" (Barthes 1984; im Originaltitel: Fragments d'un discours amoureux [I977]), eine auf die eigene Subjektivität bezogene Perspektive der Interpretation von Texten und Phänomenen an die Stelle der Suche nach generalisierten Strukturen, wie sie dem Programm seiner "Semiologie" der frühen 60er Jahre zugrunde lag (Dosse 1997: 74ff u. 403ft). Michel Foucault modifiziert sein Diskursverständnis und seine theoretisch-konzeptionellen Perspektiven, um den Sprachhandlungen und Praktiken sozialer Akteure größeres Gewicht zu geben. Die erwähnten Neuorientierungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: "Was ist discours? Es ist zunächst einmal die sprachliche Äußerung, die im Gegensatz zum linguistischen Strukturalismus unabhängig von den Grenzen des Satzes betrachtet werden soll, im 157 Das Verhältnis von Struktur und Ereignis ist auch ein wichtiges Thema der kulturanthropologischen Perspektive von Marshall SahIins (1986, 1992a,b); zur Kritik am Saussuresehen Strukturalismus Sahlins (1986: 11ft). Vgl. auch Giddens Konzept der Dualität von Struktur, das aus einer vergleichbaren Kritik am Strukturalismus entwickelt wurde (Giddens 1979, 1987; Kapitel 4.2.2). 158 Ähnliche Positionen werden von Derrida (1990a [1966]) oder in anderer Weise von Ricreur (1973) vertreten. 159 Dosse (1995) spricht deswegen rur den Beginn der 1970er Jahre von einer vollständigen Rückkehr des Akteurs- und Subjektbezugs in die französischen Sozialwissenschaften. Claude Levi-Strauss dagegen hält am Strukturalismus fest.
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Diskurs: Wissen und Sprachgebrauch Prinzip also von der Einwortäußerung bis zum vollständigen, ausführlichen Text reicht. (...) Discours ist somit die sprachlich-kommunikative Tätigkeit, eingebettet in eine Kommunikationssituation mit ihren Hauptelementen Sprecher, Adressat und Referent. Während die saussuresche langue zur Konstituierung einer vereinheitlichenden Sprachwissenschaft führte, in der theoretisch kein Platz flir die Verschiedenheit der Sprachverwendung war, löst sie discours als gesellschaftlich determinierte und daher typologisch erfaßbare sprachliche Tätigkeit ab, die bei Saussure als in letzter Konsequenz wissenschaftlich nicht beschreibbar, als Abladeplatz aller Fakten betrachtet wurde, die die Kohärenz und Geschlossenheit des Systems störten." (Bochmann 1978: 197)
Der Übergang vom linguistisch beeinflussten Strukturalismus zum sozial- und geisteswissenschaftlichen Poststrukturalismus und dessen Diskurstheorien findet innerhalb der sprachphilosophischen Entwicklungen eine Entsprechung in der Rezeption und Konzeption von Positionen, die den Sprachgebrauch als Praktik bzw. Handlung thematisieren. 160 Dazu zählen u.a. die Herausbildung einer Semiotik, die im Anschluss an die pragmatistischen Sprachtheorien von CharIes S. Peirce und Charles W. Morris die Interpretationsprozesse in der Sprachpraxis betont. Auch die Sprachphilosophie von Ludwig Wittgenstein sowie die Sprechakttheorien von John Austin und John Searle gehören in diesen Zusammenhang (Potter 200Ia). Wittgensteins Hinweise auf die Sprachspiele, innerhalb derer der Gebrauch eines Wortes erfolgt und die deswegen seinen Bedeutungsgehalt prägen, impliziert eine Unterscheidung kommunikativer Gattungen (Befehlen, Geschichten erzählen usw.) und betont die soziale Regulierung von Diskurspraktiken. John Austin und später John Searle haben mit ihrer Sprechakttheorie darauf hin gewiesen, dass Worte Taten sind und damit ebenfalls den Diskurstheorien ein wichtiges Argument geliefert, auch wenn letztere im Anschluss an Foucault oder Bourdieu daran die berechtigte Kritik formulieren, dass sich die Effekte der Sprechakte nicht aus der alleinigen Macht der Sprache ergeben, sondern aus der Diskursposition (Foucault) bzw. der sozialen Position (Bourdieu) des Sprechenden. Als diskurstheoretisch einflussreich und, wie die Adaption des Programms einer wissenssoziologischen Analyse kommunikativer Gattungen durch Thomas Luckmann zeigt (vgl. Kapitel 2.3.3.1), überraschend kompatibel mit der pragmatistischen Tradition der Semiotik und der daran anschließenden Wissenssoziologie von Berger/Luckmann, erweist sich schließlich die bereits in den 1920er und 1930er Jahren entwickelte Sprachtheorie der russischen Sprachphilosophen Mikhail Bakhtin und V.N. Volosinow (Maybin 2001; Collins 1999; Bakhtin 1986, 1998). Bakhtin geht im Gegensatz zu Saussure davon aus, dass Sprache in sozialen Interaktionen und Kämpfen entsteht. Jeder Sprachgebrauch, jede Bedeutungszuweisung ist in solche Deutungskämpfe involviert. Es handelt sich hier also um ein interaktives Modell des Funktionierens von Sprache, das sich auf letztere nicht als abstraktes System, sondern als konkrete gelebte Realität bezieht. Die Bedeutung der Wörter entsteht aus dem akkumulierten dynamischen Gebrauch spezifischer Sprachformen in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zwecken. Unterschieden werden "zentripetale Kräfte", die vergleichsweise stark strukturierte Diskurse produzieren - Beispiele sind Religion oder Wissenschaft -, und "zentrifugale Kräfte", also die empirische Sprachvielfalt und Tendenz zur Pluralität der Sprechweisen ("Heteroglossia"). Die Alltagssprache ist - so Bakhtin und Volosinow - in Sprechgattungen organisiert, die sich durch je beson160 Vennittlungen zwischen den semiotischen Traditionen des Strukturalismus und der Sprachpragmatik finden sich in den Arbeiten von Roman Jakobson, Louis Hjelmslev oder Umberto Eco (Chandler 2003: 32ft).
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dere Themen, Konstruktionen und linguistische Muster fur typische Sprachsituationen unterscheiden. Jeder Sprachgebrauch greift notwendig auf verfugbare, von anderen formulierte Artikulationsweisen und Ausdrucksmöglichkeiten, Stimmen bzw. "voices" zurück Konzepte, die dem diskurstheoretischen Begriff der "Artikulation" zugrunde liegen (vgl. Kapitel 3.3.2). Schließlich wird die Rolle der Adressaten, des Publikums fur die Interpretation von Texten betont. Bedeutung oder Sinn liegt in der Kommunikationsbeziehung zwischen Textproduzenten und Rezipienten. Kommunikation gilt als unabänderlich dialogischer, interaktiver Prozess. Die in den 1970er Jahren vollzogene Überwindung des starren Strukturkorsetts kann sich also auf eine Fülle sprachtheoretischer Alternativen zum Saussureschen Strukturalismus stützen, ohne dass dadurch wesentliche Einsichten von Saussure zum Zusammenhang von Sprache als arbiträr geregeltem System und einzelnem Sprechereignis hinfällig werden.
3.1.3 Zwischen Discourse Analysis und Diskurstheorie: Diskursforschung heute Diskursorientierte Theorie- und Analyseperspektiven finden sich mittlerweile in einer Vielzahl disziplinärer Kontexte. Die jeweilige Bestimmung des Diskursbegriffs richtet sich, trotz einiger übergreifender Berührungspunkte, nach den disziplinspezifischen Forschungsinteressen. Abgesehen von sprachwissenschaftlichen Ansätzen der quantifizierenden Diskursforschung und im Gegensatz zu verstreuten anti-hermeneutischen Attacken von Michel Foucault verstehen sich Diskurstheorien und Diskursanalysen heute überwiegend als qualitative, hermeneutisch-interpretative Perspektiven oder werden diesen in Methodenüberblicken zugeordnet (z.B. Hitzler/Honer 1997; Flick 2002). Besonders bedeutsam fur das gegenwärtige Feld der discourse studies sind die sprachwissenschaftlich basierte discourse analysis einerseits, die poststrukturalistisch-diskurstheoretischen Perspektiven von Foucault u.a. andererseits. Discourse analysis ist ein Sammelbegriff fur verschiedene Ansätze der linguistisch fundierten Diskursforschung, die sich aus dem Zusammenspiel von sprachwissenschaftlicher Kommunikationsforschung, linguistischer Pragmatik, ethnomethodologischer Konversationsanalyse und der Ethnographie der Kommunikation entwickelt haben. Es handelt sich dabei um ein breites interdisziplinäres Feld der Gesprächs- und Textanalyse als ,Sprachgebrauchsforschung' (Van Dijk 1997a,b; Deppermann 1999). Die verschiedenen Ansätze einer Kritischen Diskursanalyse (Jäger 1999) bzw. Critical Discourse Analysis (Fairclough/ Wodak 1997) verknüpfen Elemente der discourse analysis mit den diskurstheoretischen Perspektiven von Foucault u.a. Im Unterschied zur discourse analysis, die einzelne Sprachsequenzen der Detailanalyse unterzieht, beschäftigen sich Diskurstheorien mit der gesellschaftlichen Meso- oder Makroebene des Sprachgebrauchs. Neben der Foucaultschen Position spielen hier die politikwissenschaftlich eingebettete Diskurskonzeption von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie die Diskursperspektive der Cultural Studies eine wichtige Rolle. 161 Der nachfolgende Überblick erläutert kurz die wichtigsten Grundannahmen und Bezüge zwischen den verschiedenen Ansätzen. Ein fur Irritationen sorgendes Spezifikum der Rezeption und Entwicklung diskursorientierter Perspektiven im deut161 Auf die Ansätze der Diskurstheorien und der Kritischen Diskursforschung gehe ich in Kapitel 3.2 und 3.3 näher ein. Weitere Hinweise auf diskursbezogene Perspektiven finden sich in KellerlHirseland/SchneiderlViehöver (2001, 2003a) und Keller (2004).
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schen Sprachraum ergab sich durch die Verwendung des Diskursbegriff in der sozialphilosophischen Diskursethik von Jürgen Habermas. 162 Die Diskursethik formuliert ein normatives Modell fiir das Arrangement von argumentativen Aushandlungsprozessen über umstrittene Gegenstände oder Themen in öffentlichen Kontroversen, das mitunter zur Untersuchung empirischer Verläufe von Diskussionen eingesetzt und als Orientierung fiir Analyseverfahren sowie kritischer Maßstab zur Beurteilung der untersuchten Prozesse herangezogen wird. Diese Position, die sich von den anderen diskursanalytischen und diskurstheoretischen Entwicklungen deutlich unterscheidet, möchte ich deswegen hier vorab und gesondert in einem Exkurs behandeln. Exkurs: Die verjahrensbezogene Diskursethik von Jürgen Habermas In Auseinandersetzung mit verschiedenen sprachphilosophischen und sozialwissenschaftlichen Theorien hat Jürgen Habermas seit Anfang der I970er Jahre seine umfangreiche "Theorie des kommunikativen Handeins" vorgestellt. In dieser Theorie spielt die Idee des "herrschaftsfreien Diskurses" eine zentrale Rolle. Eine der Kernaussagen seiner Überlegungen besteht in der Annahme, dass die menschliche SprachHihigkeit bzw. -kompetenz genau vier Geltungsansprüche impliziere, die in jedem konkreten, ernsthaft gemeinten Sprechakt eines sprachkompetenten, vernunftbegabten Sprechers mittransportiert und von den Kommunikationsteilnehmern wechselseitig unterstellt werden. Erst dadurch sei sprachliche Verständigung überhaupt möglich. So erwarten wir, dass Aussagen verständlich und wahr sind, dass der Sprecher Wahrhaftigkeit an den Tag legt und dass das Geäußerte richtig 163 iSt. Diese Eigenschaften kann man - so Habermas - gezielt in der Form von ,Diskursen' nutzen. ,Diskurse' sind hier Fortsetzungen des normalen kommunikativen Handeins mit anderen Mitteln, nämlich organisierte Prozesse argumentativer Auseinandersetzungen. Sie sollen durch explizite Regeln und Gestaltungsmaßnahmen eine möglichst weitgehende Einhaltung der erwähnten Geltungsansprüche gewährleisten; dies gilt auch für die Möglichkeit zur Teilnahme/Äußerung für alle, die von dem jeweiligen Thema ,betroffen' sind. Die Einhaltung der Geltungsansprüche fördere in "praktischen Diskursen" die Entfaltung kommunikativer Rationalität, d.h. einer Rationalität, deren Gehalt nicht substantiell, sondern durch die Verfahrensregeln und das dadurch ermöglichte konsensuelle Ergebnis bestimmt ist. Praktische Diskurse zeichnen sich durch verschiedene Merkmale aus: Jedes sprach- und handlungsfahige Subjekt darf an ihnen teilnehmen; jede(r) kann jede Behauptung aufstellen, sie kann immer problematisiert werden und ist begründungspflichtig; jede(r) TeilnehmerIn kann Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern; kein(e) Sprecher(In) darf durch diskursinterne oder -externe Zwänge daran gehindert werden, das Recht auf sprachliche Artikulation und Argumentation wahrzunehmen. Die Diskursethik formuliert also eine regulative Idee, an der reale Diskussionsprozesse gemessen, ausgerichtet und bewertet werden können. Es handelt sich somit um einen Verfahrensvorschlag daflir, wie vernünftigerweise diskutiert werden sollte, um ein Höchstmaß der Entfaltung kom-
162 Vgl. Habennas (1981 a,b; 1983, 1991, 1994), Nennen (2000), Gottschalk-Mazouz (2000). Diese Missverständnisse verstärkten sich durch die entschiedene Kritik, die Habennas (1985) gegen die Autoren des Poststrukturalismus formulierte. Dadurch wurde vielfach der falsche Eindruck erweckt, es handele sich hier um in jeder Beziehung konkurrierende Unternehmungen. Im angelsächsischen Sprachraum werden die Themen der Diskursethik im Zusammenhang der Theorien von Öffentlichkeit und Deliberation diskutiert. '63 Ausgehend von diesem ,Nonnalmodell' lassen sich dann Sprachfonnen unterscheiden, die diese Ansprüche gezielt missachten: bspw. ironische Rede oder strategisch-instrumenteller Sprachgebrauch. Auch Lügen ist nur möglich vor dem Hintergrund der Nonnalunterstellung aufrichtiger Rede.
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munikativer Vernunft zu gewährleisten, ohne vorzugeben, was, d.h. welche Inhalte in solchen Diskursen verhandelt werden. 164 Die Idee des Diskurses als einer an bestimmten Verfahrensregeln orientierten ,Diskussionsveranstaltung', die traditionelle politische und insbesondere auch neue zivilgesellschaftliche Akteure in einem Prozess argumentativer Auseinandersetzung zusammenbringt, hat seit Ende der 80er Jahre in England, den USA und der Bundesrepublik Deutschland als "Deliberation", "deliberative Politik" oder auch "argumentative turn" der Politikwissenschaften große politikwissenschaftliche, demokratietheoretische, öffentliche und politisch-praktische Wirkung gezeigt: Mediationsverfahren in der Umweltpolitik, verschiedenste Formen der Bürgerbeteiligung in infrastrukturellen Planungsprozessen, Dialog-Veranstaltungen, politische ,Konsensgespräche' und andere organisierte Diskussionsprozesse berufen sich mehr oder weniger explizit auf die Diskursethik und orientieren ihre konkreten organisatorischen Settings daran. Konsequent wird von Diskursen dann als geregelten Diskussionsprozessen im Feld politischer Entscheidungen gesprochen. 165 Die Verwendung des Diskursbegriffs im Sinne der Diskursethik und den sich darauf berufenden politikbegleitenden Verfahren sorgt für Missverständnisse, weil sich, wie nachfolgend noch deutlich wird, sein Gebrauch in diskurstheoretischen und diskursanalytischen Zusammenhängen davon erheblich unterscheidet. Nicht immer ist in der Literatur ersichtlich, welcher Diskursbegriff gerade benutzt wird (Schöttler 1997: 139ft). Die Diskursethik formuliert zunächst ein sozial- und sprachphilosophisch begründetes normatives Modell, das in der politikwissenschaftlichen Forschung durchaus zur Grundlage empirischer Forschungen über argumentative Verhandlungsprozesse gemacht werden kann und wird, auch wenn im Einzelfall die Begründung dafür, was ein ,überlegenes' und deswegen zu akzeptierendes Argument sei, und damit die Beantwortung der Frage, ob Argumente zählen oder nicht, schwer fallen dürfte. Als Messlatte für reale Kommunikationsprozesse wird das Habermassche Diskursverständnis allerdings auch in Forschungen eingesetzt, die ansonsten mit einem anderen Diskursbegriff operieren. So benutzt die österreichische Soziolinguistin Ruth Wodak in ihrem Ansatz einer critical discourse analysis die Diskursethik als Maßstab zur empirischen Feststellung von - gemessen am Idealmodell Verzerrungen bzw. Störungen ,realer Diskurse', d.h. realer Gesprächsverläufe. Die Diskursethik wird hier zur normativen Grundlage einer diskurskritischen Sprachforschung, die "Diskursunordnung", ,Diskursstörungen' und -verzerrungen in institutionellen Kontexten und organisatorischen Settings untersucht (Wodak 1996). Völlig anders dagegen ist der Bezug in den Diskursforschungen von Jürgen Gerhards u.a. Diese sind bemüht, anhand der Untersuchung medienvermittelter öffentlicher Diskussionsprozesse über umstrittene Themen (wie bspw. Abtreibung) empirisch nachzuweisen, dass die moderne Medienöffentlichkeit dem Habermasschen Diskursmodell nicht entspricht. Dies wird als Kritik an Habermas formuliert, und nicht etwa - wie bei Wodak - als Kritik an den Strukturen von ,Öffentlichkeit'. Mithin dient die Diskursethik hier nicht als normativer Maßstab, sondern es wird empirisch gezeigt, dass öffentliche Diskussionsprozesse nicht dem Ideal der regulativen Idee folgen. 166 Freilich vermag ein solches Ergebnis wenig zu überraschen - am allerwenigsten wahrscheinlich Jürgen Habermas selbst. Methodische Kompetenzen der discourse analysis können herangezogen werden, wenn argumentative Auseinandersetzungen über öffentlich strittige Handlungsprobleme auf die Bedeutung von rhetorischen Strategien, argumentationsexternen Ressourcen usw. hin analysiert werden. Insoweit bestehen durchaus Berührungspunkte. Dessen ungeachtet unterscheidet sich der Habermassche Dis164 Von Diskurstheorie spricht Habermas insoweit, wie er diskutiert, wie bspw. die Entwicklung des modernen Rechts oder der modernen Öffentlichkeit und Demokratie die Entfaltung diskursethischer Prinzipien zulässt oder behindert. Hier bildet die Diskursethik den Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Institutionen. 165 Vgl. etwa FischerlForrester (1993), GerhardslNeidhardt (1993), Köberle/GloedelHennen (1997); Nennen (2000) sowie die Kritik von KelierlPoferl (2000). 166 Vgl. z.B. Gerhards (1997, 2003), GerhardslNeidhardtlRucht (1998).
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kursbegriff stark von dem Verständnis von Diskursen, das in der discourse analysis oder in diskurstheoretischen Ansätzen formuliert wird. Es handelt sich deswegen auch dann, wenn vom normativen Anspruch der Diskursethik abgesehen und die in ihr entwickelte Argumentations- und Kommunikationstheorie ,nur' als Forschungsheuristik eingesetzt, also daraus Fragestellungen für die Untersuchung politischer Aushandlungsprozesse abgeleitet werden, um unterschiedliche Forschungsprogramme und -perspektiven, ohne dass dies im Sinne einer wechselseitigen Über- oder Unterlegenheit der Erklärungsleistung zugespitzt werden müsste. 167
Exkurs Ende
3.1.3.1
Discourse Analysis
Der Sammelbegriff discourse analysis bezeichnet eine Vielzahl von Forschungsansätzen, die sich aus linguistischen, soziolinguistischen, ethnomethodologisch-konversationsanalytischen, soziologischen und psychologischen Perspektiven mit der Analyse von natürlichen Kommunikationsprozessen in unterschiedlichen Kontexten beschäftigen. Dabei handelt es sich um die in der englischsprachigen Diskurs-Literatur sicherlich am weitesten verbreitete Variante des Diskursbegriffs. 168 Im Deutschen sollte vielleicht eher von qualitativer Sprachgebrauchsforschung oder empirischer Gesprächsforschung gesprochen werden, um Missverständnisse mit anderen Diskursbegriffen zu vermeiden (Deppermann 1999).169 Auch wenn die Konversationsanalyse dem Spektrum der discourse analysis zugeordnet wird, so spielen in letzterer doch Fragen des Kommunikationskontextes und die aktualisierten Inhalte eine größere Rolle. Disziplinübergreifend charakterisiert der niederländische Sprachwissenschaftler Teun van Dijk das Projekt der discourse analysis durch das Ziel einer Analyse von Sprachgebrauch als Realprozess im gesellschaftlichen Kontext: "text and talk in action".17o Der Kontextbegriff reicht von lokal-situativen bis hin zu gesamtgesellschaftlichen, historisch dia- und synchron weit ausgreifenden Einbettungen eines Kommunikationsereignisses. Die Bestimmung von Anfang und Ende eines Diskurses wird in Abhängigkeit von der Forschungsfrage getroffen. Zentrale Fragen richten sich darauf, wer in einem kommunikativen Ereignis wie, warum und wann Sprache gebraucht: "I have characterized discourse as essentially involving three main dimensions, namely language use, cognition, and interaction in their sociocultural contexts. Instead of vaguely summarizing, paraphrasing or quoting discourse, as is still often the case in social scientific ap167 Die Auseinandersetzung um den ,korrekten' Gebrauch des Diskursbegriffs beschäftigt vor allem die Politikwissenschaften. Thomas Risse (2003) bspw. hat in seinem Vortrag auf der Hamburger Tagung ,Does discourse matter?' den Foucaultschen und den Haberrnasschen Ansatz als rivalisierende Erklärungsunternehmen präsentiert; gleichzeitig konkurriert die Diskursethik hier mit Positionen der Rational-Choice-Tradition, die Verhandlungsprozesse zwischen "arguing" und "bargaining" ausloten (vgl. Prittwitz 1996; Risse 2000; Holzscheiter 2003). Eher polemisch gegen die Nutzung des Haberrnasschen Diskursbegriffs argumentieren Schöttler (1997) und Link (1999). 168 Darauf beziehen sich auch meist die Beiträge in ,Discourse & Society', ,Discourse Studies' und anderen sprachwissenschaftl ichen Fachzeitschriften. 169 Hier bestehen vor dem Hintergrund der ethnomethodologischen Tradition auch Bezüge zur Analyse kommunikativer Gattungen innerhalb der sozialphänomenologischen Wissenssoziologie (vgl. Kapitel 2.3.3.2) 170 Vgl. dazu insgesamt Van Dijk (1997a,b,c); als empirische Anwendung Van Dijk (1988); als z.T. anders akzentuierte Konzeptionen der discourse analysis BrownlYule (1983), McHoul (1994), Parkerrrhe Bolton Discourse Network (1999), Schiffrin (1994), SchiffrinrrannenlHamilton (2001), WoodlKroger (2000).
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proaches, discourse analytical studies distinguish various levels, units or constructs within each of these dimensions, and formulate the rules and strategies of their normative or actual uses, They functionally relate such units or levels among each other, and thereby also explain why they are being used, In the same way, they functionally connect discourse structures with social and cultural context structures, and both again to the structures and strategies of cognition, Discourse analysis thus moves from macro to micro levels of talk, text, context or society, and vice versa. It may examine ongoing discourse top down, beginning with general abstract patterns, or bottom up, beginning with the nitty-gritty of actually used sounds, words, gestures, meanings or strategies. And perhaps most importantly, discourse analysis provides the theoretical and methodological tools for a well-founded critical approach to the study of social problems, power and inequality," (Van Dijk 1997c: 32)
Van Dijk begreift die discourse studies als neue Querschnittsdisziplin, insbesondere als Brückenschlag zwischen Sprach- und Kognitionsforschung. Trotz seiner weiten Definition des Kontextbegriffs finden sich im Zusammenhang der discourse studies überwiegend Analysen des konkreten Sprachgebrauchs im situativen Kontext, typischerweise als Untersuchung der Ablaufprozesse von Gesprächen. Auch richten sich Forschungsinteressen auf formale Produktionsregeln und Gattungsstrukturen von Texten und Äußerungen, z.B. auf die Struktur von Nachrichten in Printmedien, auf soziale Faktoren im Gesprächsverhalten oder Grundmuster von mündlichen Kommunikationen (etwa zwischen Lehrern und Schülern, Männern und Frauen), auf die Beobachtung der Organisation kommunikativer Sequenzen (bspw. in der Gestaltung von Sprecherwechseln) usw. Es geht also um die Herstellung von kommunikativer Ordnung in der einzelnen sprachlichen Interaktionssequenz bzw. um die Rekonstruktion der Regeln, nach denen Sprach-Handelnde eine solche Ordnung erzeugen. Dabei spielen situationsexterne Kontexte als formende Bedingungen nur insoweit eine Rolle, wie sie in der Situation durch die Beteiligten aktualisiert werden. Dies gilt sowohl rur umgebende institutionelle oder organisatorische Settings und Ressourcen wie auch rur das Wissen über die Welt - die Forschungsperspektive richtet sich eher darauf, ,welche' Welt im konkreten Sprachgebrauch unterstellt wird. So nähert sich bspw. die von Jonathan Potter u.a. entwickelte Diskursive Psychologie (Potter 200 I) der ethnomethodologisch inspirierten Konversationsanalyse und untersucht psychische Zustände anhand der Konstruktionen und Verweise auf solche Zustände in Kommunikationsprozessen. Im Sinne einer strengen ethnomethodologischen Grundhaltung, wie sie in der deutschsprachigen Soziologie auch konversationsanalytischen Untersuchungen von Jörg Bergmann u.a. unterliegt, werden Prozessabläufe von sprachlichen Interaktionen als Ordnungs leistungen der beteiligten Akteure und Resultat des Einsatzes sprachbezogener Ethnomethoden analysiert. Dies gilt nicht nur rur die formalen Ablaufmuster oder kommunikativen Gattungen, sondern auch rur angezeigte Inhalte, die nur insoweit untersucht werden können, wie sie im Sprachhandeln erscheinen. Innerhalb der discourse analysis werden z.T. unvereinbare Perspektiven auf den AnaIysegegenstand der sprachlichen Interaktion verfolgt. Dies wird am Beispiel der Funktionalen Pragmatik deutlich, die sich explizit von den gerade erwähnten Interessen der Diskursiven Psychologie oder der Konversationsanalyse absetzt. So bestehe aus Sicht der Funktionalen Pragmatik der wesentliche Unterschied zwischen Diskursanalyse und Konversationsanalyse darin, dass letztere betrachte, wie
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Diskurs: Wissen und Sprachgebrauch "soziale Gegebenheiten von den Interaktanten in Konversationen produziert werden"; Diskursanalyse betone "demgegenüber die Vorgeformtheit sprachlichen HandeIns durch gesellschaftliche Zwecke und institutionelle Bedingungen und zielt darauf, das Wozu, die Zweckgerichtetheit des HandeIns zu rekonstruieren." (Brünner/Graefen 1994: 13)
Arnulf Deppermann (1999: 9) wiederum unterscheidet mit Bezug auf Kallmeyer (1985) sechs Ebenen der Interaktionskonstitution in Gesprächen, die zum Gegenstand der Gesprächsanalyse als einer teilweise um Kategorien des interpretativen Vorgehens erweiterten Konversationsanalyse werden: Demnach gehe es um die Untersuchung der Gesprächsorganisation (etwa im Hinblick auf Machtprozesse), die Analyse der Darstellung von Sachverhalten (Wissen, Klassifikationen), das Gespräch als zielbezogene Handlung, die sozialen Beziehungen zwischen den Teilnehmern, ihre Identitäten, den Modus eines Gesprächs und die Prozesse der Verständigung und Kooperation (Herstellung von Reziprozität). Auf die im strengeren Sinne ethnomethodologisch-konversationsanalytisch orientierten Ansätze der discourse analysis lassen sich die Kritiken beziehen, die auch sonst innerhalb der Soziologie gegenüber der Ethnomethodologie vorgebracht wurden. Dabei geht es im Wesentlichen um zwei miteinander verschränkte Einwände: Zunächst kann mit guten Gründen bestritten werden, dass die konversationsanalytische Untersuchung von Kommunikationssequenzen tatsächlich die anvisierten Prozessstrukturen und inhaltlichen Referenzbildungen immanent, d.h. ausschließlich aus dem verfugbaren empirischen Material was ihr unbedingter ,Empirismus' fordert - rekonstruieren kann. Vermutet wird, dass trotz dieser methodischen Maxime die Interpretationstätigkeiten der sozialwissenschaftlichen Beobachter intervenieren. Der zweite, damit zusammenhängende Einwand betrifft den expliziten Verzicht auf die Analyse der äußeren Situiertheit solcher Gespräche als Bedingung fur ihren Ablauf. Kontexte gelten hier nur insoweit als relevant, wie sie von den Beteiligten aktiv in die Kommunikation ,hereingeholt', also als solche im Interaktionsprozess konstruiert werden. Demgegenüber hat bspw. Pierre Bourdieu stellvertretend die kritischen Einwände in den Vorwürfen des "subjektivistischen Kurzschlusses" und des naiven Nachvollzugs der Perspektive der Akteure gebündelt. 171 Solche Einwände treffen die konversationsanalytisch orientierte discourse analysis jedoch nur bedingt. Gerade die ethnomethodologische Perspektive betont die soziale Konventionalisierung von Kommunikationssequenzen, bspw. als kommunikative Gattungen, die als generalisierte Lösungen fur Kommunikationsprobleme in historisch-konkreten Gesellschaften verstanden werden. Perspektivisch geht es eher um zwei unvereinbare Theoriepositionen, die einmal - in der Konversationsanalyse - die Ordnung von unten zum Ausgangspunkt machen, im anderen Falle - etwa der Critical Discourse Analysis oder der Diskurstheorie - auf die strukturelle Ordnung von oben verweisen, welche die inhaltlichen und formalen Abläufe der Kommunikationsereignisse präge. 172 Dabei besteht in der ethno171 Mit Bezug auf Bourdieu wirft Chalaby (1996) solchen Ansätzen deswegen vor, kein genuin soziologisches Diskurskonzept entwickeln zu können, sondern im "prison-house of language" gefangen zu bleiben. Vgl. auch die entsprechenden Vorwürfe der Kritischen Diskursforschung gegen die Konversationsanalyse, die bspw. Michael Billig formuliert (Billig/Schegloff 1999). 172 So endet die zunächst heftige Kontroverse zwischen Schegloff als Protagonist der Konversationsanalyse und Billig als Sprecher der Kritischen Diskursforschung in der wechselseitigen Versicherung, die vorgebrachten Einwände richteten sich nur gegen die jeweils ,schlechten' Arbeiten aus dem attackierten Programm, aber nicht gegen die Grundannahmen generell (Billig/Schegloff 1999).
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methodologischen Perspektive eine gewisse Spannung zwischen dem situativen Empirismus und der Annahme typisierbarer sozialer Konventionen, die eben überhaupt erst sozialwissenschaftliche Typisierungen der Ethnomethoden ermöglichen - letztlich können also auch hier Strukturannahmen nicht übergangen werden. In jüngerer Zeit wird gefordert, die discourse analysis stärker mit übergreifenden Diskurstheorien - etwa mit derjenigen von Emesto Laclau und Chantal Mouffe - zu verknüpfen, um ihr ein angemesseneres Sprachkonzept zu vermitteln und umgekehrt letztere empirisch-methodisch zu ,erden'. 173 Eine Verankerung in diskurstheoretischen Traditionen hatte sie dem Anspruch nach bereits in der Kritischen Diskursanalyse von Siegfried Jäger und in der Critical Discourse Analysis vor allem bei Norman Fairclough oder Ruth Wodak erfahren. 174 Beide Ansätze verfolgen ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse der Aufklärung über Verquickungen von Sprache und Herrschaft, das sich auf kleinere Kommunikationseinheiten ebenso richtet wie auf die Analyse der massenmedialen Kommunikation. Hinter diesen Auseinandersetzungen über eine diskurstheoretische Grundlegung des Diskursbegriffs verbirgt sich neben dem Unbehagen am ,naiven Realismus' der discourse analysis umgekehrt eine Unzufriedenheit mit der empirisch-methodischen Umsetzung der Forschungsprogramme, die in den poststrukturalistischen Diskurstheorien formuliert werden. Während die discourse analysis über vergleichsweise exakte Methoden der Sprach- und Textanalyse verfügt, bleiben die Analyse- und Interpretationsprozesse in poststrukturalistisch begründeten Untersuchungen intransparent bzw. bewegen sich auf einem Abstraktionsniveau, das wenig Rückbezüge auf empirische Daten zulässt. 175 3.1.3.2
Korpusbasierte Diskursforschung in Sprach- und Geschichtswissenschaften
Eine breite Anwendung findet der Diskursbegriff derzeit in der korpusbasierten Diskursforschung am Schnittpunkt von Geschichts- und Sprachwissenschaften. Dazu zählen die ,Französische Diskursanalyse ' (Williams 1999; Guilhaumou 2003), die bundesdeutsche linguistische Diskursgeschichte der Arbeitsgruppe um Georg Stötzel (Jung 200 I; Niehr/Böke 2003; Wengeier 2003), die unterschiedlichen Ansätze der Historischen Semantik (z.B. Reichardt 1998; Busse 1987) und - mit stärkeren Akzenten auf geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen - verschiedene, an Foucault orientierte Forschungen. 176 In Großbritannien hat die Cambridge School um Quentin Skinner und John Pocock politikwissenschaftliche Fragestellungen mit sprach- und geschichtswissenschaftlichen Perspektivierungen verbunden (Richter 1991; Tully 1988a). Als rein sprachwissenschaftlicher Ansatz untersucht die Korpuslinguistik quantifizierbare Korrelationen zwischen Wortverwen173 Vgl. z.B. Miller (1997), Wetherell (1998), Jorgensen/Philipps (2002), Gee (1999), PhilippslHardy (2002), BilligiSchegloff (1999). 174 Ich gehe in Kapitel 3.3 auf diese Ansätze näher ein. In der Einschätzung von Jorgensen/Philipps (2002) löst die Kritische Diskursforschung bislang jedoch diesen Anspruch nicht ein. 175 So argumentiert Wetherell, auf der empirischen Ebene zeige sich ein stärker kontextabhängig-situationsspezifischer Umgang mit Identitätskonstruktionen, als dies bspw. Laclau und Mouffe in ihrer Theorie annehmen. Insofern spiele der konkrete Interaktionsprozess eine wichtige Rolle (Wetherell 1998). Vgl. dazu auch Kapitel 3.3.2. 176 l.B. Landwehr (2001), Sarasin (200Ia,b), Martschukat (2002), Eder (2006); innerhalb der Soziologie Bublitz (1999,2003), BublitzIHanke/Seier (2000), Maasen (1998), Bührmann u.a. (2007).
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dungen und Begriffsfeldern in umfangreichen Textkorpora (Teubert 2003). Nachfolgend diskutiere ich kurz die wichtigsten Grundannahmen der erwähnten Ansätze. Die korpuslinguistische Diskursforschung begreift Sprache als emergentes soziales Phänomen, dessen Regelmäßigkeiten und Transformationen über die Analyse statistischer Zusammenhänge erschlossen werden können. Die Korpuslinguistik stellt innerhalb der Linguistik einen spezifischen Ansatz dar, der sich nicht mikroperspektivisch mit der Analyse einzelner Gesprächssequenzen beschäftigt, sondern umfangreiche Datenkorpora aus einzelnen diskursiven Ereignissen nach lexikalischen oder thematischen Kriterien zusammenstellt. Ein solches Korpus wird als inhaltlich oder statistisch repräsentative Auswahl aus dem virtuellen Gesamtkorpus aller prinzipiell nach dem Auswahlkriterium dazugehörigen Texte (dem ,Diskurs') behandelt; es kann sowohl historisch synchron wie diachron angelegt sein, Gegenwartstexte oder historische Texte enthalten. Innerhalb des Korpus wird unter Einsatz statistisch-quantifizierender Methoden nach Verbindungen und Streuungen von Wort- oder Aussageformen und deren Wandel im Zeitquerschnitt und -verlauf geforscht (Biber/Conrad/Reppen 1998). Dabei werden linguistische Fragestellungen nach Sprachwandel um solche der Semantik erweitert: "Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird. Zu einem Diskurs gehören alle Texte, die sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen, den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen im Hinblick auf Zeitraum/Zeitschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikationsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen, und durch explizite oder implizite (...) Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden. Konkrete (d.h. einer diskursanalytischen Untersuchung zugrunde liegende) Textkorpora sind Teilmengen der jeweiligen Diskurse. Bei der Auswahl stehen praktische Gesichtspunkte wie Verfügbarkeit der Quellen neben inhaltlich begründbaren Relevanzkriterien im Vordergrund; ausschlaggebend bleibt das Gestaltungsinteresse der Wissenschaftler, das das konkrete Textkorpus und damit den Gegenstand der Untersuchung konstituiert. Als Beispiel kann etwa der ,Historikerstreit' genannt werden. Alle Beiträge dieser Auseinandersetzung bilden gemeinsam den Diskurs. Ein konkretes Korpus zum Historikerstreit enthält eine Auswahl der Texte, in denen explizit oder implizit dazu Stellung genommen wird (... ) Sprachgeschichte wird so zu einem wichtigen Baustein einer Sozialgeschichte des sprachlich vermittelten und organisierten Wissens." (BusselTeubert 1994: 14)
Prominente Formen der auf geschichtswissenschaftliche Fragestellungen bezogenen korpusbasierten Diskursanalyse wurden seit Ende der 1960er Jahre in Frankreich durch Michel Pecheux, Regine Robin, Jacques Guilhaumou, Denise Maldidier u.a. entwickelt und wer-
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den als französische Schule der Diskursanalyse bezeichnet.'?? Diese marxistischideologiekritisch orientierte Diskursforschung knüpft an ideologietheoretische Konzeptionen von Louis Althusser und auch an einige Begriffe Michel Foucaults an (Guilhaumou 2003; lütte 2002). Vor diesem Hintergrund wurden zunächst Strategien der linguistischquantifizierenden Textanalyse im Anschluss an die Distributionslinguistik von Zelig HaITis (1952) eingesetzt, um (soziale) Sprachstrukturen bspw. in historischen Textkorpora - etwa Flugschriften aus der Zeit der Französischen Revolution - zu rekonstruieren. In dieser Forschungstradition hat Michel Pecheux das Projekt einer computergestützten "automatischen Diskursanalyse" konzipiert. 178 In den linguistisch-historischen Forschungen der französischen Schule gilt das Interesse unterschiedlichen Analyseebenen: u.a. der lexikologischen Ebene von Begriffen, Begriffsfeldern und Wortfeldstrukturen bspw. durch Analyse der Wortfrequenzen, der Erfassung semantischer Felder von verwandten oder assoziierten Begriffen, der Untersuchung der materialen Kommunikationsgrundlage. Diese Sprachphänomene werden auf die spezifischen sozialen Kontexte und Trägerschaften bezogen, in die sie eingebettet sind, bspw. als Sprache des Adels, der ,einfachen Leute' usw. I79 In seiner Entwicklung hat sich der französische Ansatz der Diskursanalyse zunehmend gegenüber anderen diskurshistorischen, semantischen, auch ethnomethodologischen Analysetraditionen, d.h. also gegenüber der vorangehend diskutierten discourse analysis sowie der englischen Diskursgeschichte von Quentin Skinner u.a. 180 oder der deutschsprachigen Begriffsgeschichte bzw. der von Reinhart Koselleck geprägten Historischen Semantik geöffuet. Dafur waren zunächst Einwände gegen die einfache Gleichsetzung von analysierten Sprachmustern mit sozialen Trägergruppen verantwortlich. Im Anschluss an das ethnomethodologische Programm ging es dann, ähnlich wie in der Soziologie, um den Herstellungsprozess sozialer Ordnung im Sprachgebrauch, also in den verfügbaren Dokumenten
177 Vgl. die Überblicke über Ansätze geschichtswissenschaftl icher Diskursforschung in Landwehr (200 I), EibachlLottes (2002), Bödeker (2002). Die französischen Entwicklungen der Diskursforschung wurden in der Bundesrepublik insbesondere in der Romanistik bzw. der historischen Frankreichforschung früh rezipiert (z.B. Brochmann 1978, Schöttler 1988, 1989, Lüsebrink 1998, Reichardt 1998). Verschiedene gegenwärtige Ansätze geschichtswissenschaftlicher Diskursforschung lehnen sich an Theorieperspektiven von Michel Foucault (z.B. Sarasin 200 Ib, Martschukat 2003) oder auch (zusätzlich) Pierre Bourdieu (z.B. Chartier 1992) an. In Frankreich hat Dominique Mainguenau (1999; 2007) mit seiner äußerungstheoretischen Diskursanalyse eine sprachwissenschaftliche Perspektive auf aktuelle Aussageereignisse entwickelt. 178 Vgl. Pecheux (1969), als Anwendungsbeispiele Pecheux (1984, 1988); auch die Diskussion in Diaz-Bone (2002: 93ft), MacdoneIl (1986: 43ft) oder Fairclough (1998: 30ft). Die von Pecheux vorgenommene Vermittlung zwischen der Althusserschen Position und Analysebegriffen Foucaults hat die Entwicklungen einer kritischen Diskursanalyse bei Norrnan Fairclough, Jürgen Link oder Siegfried Jäger beeinflusst (vgl. Kapitel 3.3.1). 179 Vgl. Lüsebrink (1998: 32ft), Guilhaumou (2003), Williams (1999). 180 Die Cambridge School der historischen Politikforschung von Quentin Skinner und John G.A. Pocock begreift Texte der politischen Ideengeschichte als politisch-linguistische Handlungen in einem konkreten historischen Kontext. Pococks Ziel ist die Analyse historischer politischer Sprachereignisse in ihrem zeitgenössischen Diskurskontext und die Geschichte dieser Diskurskontexte. Skinner geht es um die Rekonstruktion der Regeln des Sprachgebrauchs in politischen Texten und um Umbruchsituationen, in denen politische Denker Sprache gezielt verändern (Pocock 1962, 1965; Skinner 1978; Richter 1991; Hampsher-Monk 1984,2002; Rosa 1994, Tully 1988a). Vgl. zur Diskussion der Affinitäten zwischen der Cambridge School, der deutschen Begriffsgeschichte von KoselIeck und der Diskurstheorie Foucaults jetzt Wagner (2003).
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selbst. In jüngerer Zeit beschäftigt sich die analyse du discours wieder stärker mit dem Verhältnis von Sozialgeschichte/Sozialstruktur und Sprachgebrauch (Guilhaumou 2003).181 Im Zusammenhang der Korpuslinguistik haben in der neueren deutschsprachigen Diskursforschung Dietrich Busse, Fritz Hennanns, Wolfgang Teubert oder Georg Stötzel mit seinen MitarbeiterInnen den Ansatz der linguistischen Diskursgeschichte vorangetrieben. Die Aufmerksamkeit dieses Ansatzes richtet sich auf die semantisch orientierte Untersuchung von Phänomenen des Sprachwandels. Dazu hat Matthias Jung ein "Würfelmodell" des Diskurses vorgeschlagen, in dem Diskurse als virtuelle, auf ein Thema bezogene Aussagenkorpora - etwa: der Diskurs über ,Atomenergie' - begriffen werden (Jung 2001). Die Diskursanalyse stellt aus einem solchen virtuellen Korpus den tatsächlichen Untersuchungskorpus nach ihren Forschungsinteressen zusammen. In dieser Datenmenge werden dann der Wandel bzw. die Konstanz der eingesetzten Begriffe im Zeitverlauf, der Einsatz von Metaphern und Argumenten und die Sprachreflexivität im Sinne der Selbstthematisierung von Sprachverwendung in den Aussagen untersucht: 182 "Bei der Untersuchung des Diskurses über die Atomenergie, aber auch beim Düsseldorfer Projekt ,Migrationsdiskurs' wurden u.a. in einem ersten Schritt mit Hilfe des Registers Korpora aller einschlägigen Bundestagsdebatten zusammengestellt und maschinenlesbar aufbereitet. In diesen Korpora haben wir dann in einem zweiten Schritt Belege im Kontext gesucht. Dies geschieht bei der Untersuchung der Wortebene (,Asylant vs. Asylbewerber') oder bestimmter Bildfelder (,Flutmetaphorik im Migrationsdiskurs') etwa per Software mit Hilfe einer vorher definierten Suchwortliste oder erfolgt beim Interesse an Argumentationstopoi durch traditionelles Lesen und Klassifizieren, was per Computer erfaßt ebenfalls in Quantifizierung einmünden kann, aber nicht muß. Spätestens im dritten Schritt sind dann die Belege, flir die sich ggf. statistische Verteilungen erstellen lassen, im Satz-, Text- oder Gesamtdiskurskontext zu interpretieren (...) Bezogen auf den Diskurs über die Atomenergie seit 1900 wird hier beispielsweise deutlich, wie sehr durch die verwendete, noch vom Beginn des Jahrhunderts stammende Begrifflichkeit falsche Vorstellungen über die Nutzung der Kemspaltungsenergie den öffentlichen Diskurs bestimmten, wie der Wertewandelprozeß sich auf der sprachlichen Ebene ankündigt, inwiefern der relative Erfolg der Anti-Nuklear-Bewegung mit einer neuen Qualität ihres Vokabulars zusammenhing und Teil eines allgemeinen Emanzipationsprozesses der Laienöffentlichkeit war oder wie sehr ihre Protagonisten ein neues differenziertes Sprachbewußtsein entwickelt haben." (Jung 2001: 4Iff)
Aus (wissens-)soziologischer Perspektive bleibt das Analysepotenzial der korpusbasierten Diskursforschung begrenzt - unbenommen ihrer Bedeutung für die Bearbeitung sprachund geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen -, weil hier überwiegend von den sozialen Kontexten der Diskursproduktion und -rezeption abstrahiert wird. Die statistischen Korrelationen zwischen Begriffen geben Hinweise auf Sprachprozesse, ohne dass von sozialen Akteuren als deren Träger gesprochen wird. Zur Ergebnisinterpretation muss dann auf literaturgesättigte Thesen zurückgegriffen werden, die nicht aus der eigenen Empirie Vgl. zum Überblick Williams (1999), Guilhaumou (1989, 2003), EibachfLottes (2002), Maingueneau (1976, 1991, 1995), Landwehr (2001: 23 ff), Reichardt (1998), Lüsebrink (1998), Busserreubert (1994), Schöttler (1988, 1989), Maas (1988), ChareaudeaulMainguenau (2002), TuHy (l988a,b), Bödeker (2002). 182 Vgl. BusselHermannsrreubert (1994), Hermanns (1994, 1995), Jung (200 I); weitere Anwendungsbeispiele finden sich in JunglBökelWengeler (1997), NiehrlBöke (2000, 2003), Böke/JungIWengeler (1996), Jung (1994), WengeIer (2003), BusselNiehrlWengeler (2005). 181
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ableitbar sind (z.B. Teubert 2003). Eine solche Einschätzung gilt auch für Teile der französischen historisch-sprachwissenschaftlichen Diskursforschung, ungeachtet ihres stärker ausgearbeiteten diskurstheoretischen Unterbaus. So bilanziert Diaz-Bone mit Blick auf Williams' (1999) Darstellung der französischen Schule der Diskursanalyse: "Grundlegend ist für Williams zunächst die begründete Eingrenzung eines (Text-) Korpus, dann erfolgt die linguistische Analyse der Aussageformen insbesondere hinsichtlich ihrer prozessualen Hervorbringung der sinnhaften Verweisungsstruktur (auf soziale Umstände, Sprechermodalitäten usw.), sowie die Beschreibung des diskursiven Begriffssystems (inklusive der Hervorbringung von Typologien und Klassifikation). Hier zeigt sich für Williams, dass eine mit linguistischen Mitteln ansetzende Diskursanalyse durchaus fruchtbar sein kann auch ftir soziologische Forschungsinteressen, dies unter zwei Bedingungen. (I) Es muss - so wie bei Williams dargelegt und gefordert - eine diskurstheoretische Umarbeitung der linguistischen Mittel erfolgt sein. (2) Es muss in der Analyse tatsächlich auch die ,Brücke' geschlagen werden, die in dem interpretatorischen Schluss von linguistisch erschließbaren Aspekten des Korpus zu deren soziologischem Kontext liegt. Und hier kommen dann aus soziologischer Sicht Zweifel auf. Denn die Resultate der Aussagenlinguistik bleiben ftir die Soziologie eher dürftig: die Ergebnisse bestehen oft nur in der Herausarbeitung von einzelnen Begriffsoppositionen, ftir die dann sozialstrukturelle Bedeutung behauptet wird oder bestehen zum Beispiel aus dem einfachen Schluss von der diskursiven Handhabung bestimmter Pronomina auf die Hervorhebung oder Unterdrückung von Gruppenidentitäten. (...) Soziologische Fragen nach der Homologie von Wissensordnungen und Sozialstruktur bzw. nach dem Zusammenhang von diskursiven Praktiken und institutionellen Praktiken werden so nicht verfolgt, sind aber ein zentraler Bestandteil der sozialwissenschaftlichen Diskursanalyse." (Diaz-Bone 2003: 9; Hervorhebung gelöscht)
Eine ähnliche Ergebnisbilanz hat Jacques Guilhaumou (2003) im selbstkritischen Rückblick fonnuliert. Gewiss muss man keineswegs darauf insistieren, die Linguistik habe soziologische Fragestellungen zu beantworten und in diesem Sinne ist dem Hinweis von Jung (2001) auf die unterschiedlichen Forschungsinteressen beider Disziplinen durchaus zuzustimmen. Allerdings muss sich die Sprachforschung auch an den von ihr selbst fonnulierten (theoretischen) Ansprüchen messen lassen, und hier bleiben die Ergebnisse der korpuslinguistischen Diskursforschung hinter ihrer theoretischen Grundlegung zurück. Insofern lässt sich davon sprechen, dass das "prison-house of language" (Chalaby 1996) von solchen Ansätzen in der Tat nicht verlassen wird. 3.1.3.3
Poststrukturalistische Diskurstheorien
Sowohl die discourse analysis als auch die korpusbasierte Diskursforschung haben sich in sprachwissenschaftlichen Kontexten entwickelt und sind von den dortigen Fragestellungen geprägt. Demgegenüber bezeichne ich als poststrukturalistische Diskurstheorien die Ansätze von Michel Foucault, Ernesto LaclauiChantal Mouffe sowie die Diskursperspektive der Cultural Studies. 183 Auch wenn diese Ansätze, wie erwähnt, in Auseinandersetzung mit der Sprachtheorie von Saussure entstanden, so haben sie doch im Rekurs auf die weiter oben erwähnten konkurrierenden sprachphilosophischen Positionen Perspektiven der Diskursforschung entwickelt, die sich nicht auf Sprachphänomene und sprachwissenschaftliche 183
Die Ansätze werden in Kapitel 3.2 und 3.3 detaillierter diskutiert.
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Fragestellungen, sondern auf die gesellschaftlichen Wissensregime und BedeutungsOrdnungen richten. Die prominenteste unter den erwähnten Theorien ist sicherlich die Diskurstheorie von Michel Foucault (vgl. Kapitel 3.2). Es handelt sich dabei um ein Ensemble konzeptueller Vorschläge zur Bearbeitung von Fragen, die sich auf die gesellschaftliche Genese und Wirkungen von Macht-Wissens-Komplexen richten. Die in den Geschichts- und Politikwissenschaften oder der Soziologie an Foucault anschließende Diskursforschung orientiert sich an recht unterschiedlichen Interpretationen und methodischen Adaptionen des Foucaultschen Werkes; sie ist deswegen in sich selbst sehr heterogen. Die in politikwissenschaftlichen Zusammenhängen entstandene postmarxistische Diskurstheorie von Ernesto Lac/au und Chantal Mouffe schlägt ein elaboriertes Konzept der Funktionsweisen gesellschaftlicher Signifikationsprozesse vor. Im Unterschied zu Foucaults Interesse rur die Entwicklung wissenschaftlicher Disziplinen und institutioneller Felder der Gesellschaft interessieren sich Laclau und Mouffe rur politische Auseinandersetzungen in öffentlichen Arenen. In ihrem generalisierten Diskursbegriff gilt das Soziale insgesamt als das ,Diskursive' (vgl. Kap. 3.3.2). Bei den Cultural Studies handelt es sich um eine heterogene Querschnittsdisziplin, die aus dem Kontakt verschiedener Wissenschaften (Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaften) entstanden ist. Dabei wurden Überlegungen zum Diskursbegriff formuliert, die an die Theorien von Foucault, Mouffe und Laclau anschließen und sie mit Elementen der soziologischen Kulturforschung anreichern (vgl. Kapitel 3.3.3). 3.1.3.4
Die aktuelle Konjunktur der Diskursforschung
Wie lässt sich vor dem heterogenen Hintergrund der skizzierten Diskurstopographie der gegenwärtige Stellenwert der Diskursforschung innerhalb von Geschichts- und Politikwissenschaften sowie der Soziologie einschätzen?J84 Abgesehen von der discourse analysis und den sprachwissenschaftlich akzentuierten Vorgehensweisen scheint die Auseinandersetzung mit dem Diskursbegriff eher zögerlich zu verlaufen. Auch deuten verschiedene Indizien auf ein gewisses ,time lag' der deutschsprachigen Debatten. So spricht bspw. Philipp Sarasin von einer "ausgesprochenen Zurückhaltung" innerhalb der Geschichtswissenschaften gegenüber dem von Richard Rorty ausgerufenen linguistic turn (Sarasin 2001a: 59) und Peter Schöttler (1997) fragte noch vor kurzem die Community: "Wer hat Angst vor dem ,Iinguistic turn'?" Dieser "Zurückhaltung" innerhalb (zumindest) der deutschsprachigen Geschichtsforschung liegen verschiedene Annahmen zugrunde, die nicht nur fiir die Geschichtswissenschaften zu gelten scheinen: "Zum einen ist die Geschichtswissenschaft bis heute de facto mehrheitlich davon überzeugt, dass empirische, objektivierbare ,Fakten' aus dem Bereich des politischen HandeIns sowie staatlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse gleichsam das Gerüst jener Wirklichkeit ausmachen, die Historiker/innen rekonstruieren. Das Gewicht liegt dabei einerseits auf der Betonung der Fakten, der rekonstruierbaren Tatsachen - was auch von vielen ,Kulturalisten' nicht bestritten wird -, und andererseits auf der Vorstellung, es gäbe Bereiche gesellschaftlicher Wirklich-
184 Die Liste der Disziplinen ließe sich bspw. um die Erziehungswissenschaften u.a. erweitern (vgl. dazu die Beiträge in Kelier/Hirseland/SchneiderNiehöver 2001, 2003). Gerade erlebt wohl auch die Stadtforschung bzw. genauer: die Urban Studies einen ,discursive turn' (Jacobs 1999, Urban Studies 1999).
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keit, die relativ sprachunabhängig funktionieren, wie etwa der Markt oder staatliche Institutionen - was jeder ,Kulturalist' natürlich bestreitet." (Sarasin 2003b: 23)
Sarasins pessimistische Einschätzung der Rezeption von Diskurstheorien in den Geschichtswissenschaften trifft jedoch möglicherweise ,nur' die deutschsprachige Geschichtsforschung. Im angelsächsischen Kontext dagegen fordert Lyndal Roper (1999) bereits ein "Jenseits des linguistic turn", der allzu lange in Gestalt diskursorientierter Forschungen die geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen bestimmt habe: "Die Geschichtswissenschaft erlebt im Moment eine Krise. Seit ein, zwei Jahrzehnten wird sie stark vom sogenannten linguistic turn beeinflußt. Statt nach Klassenzugehörigkeit und sozialen Positionen und ihrem Einfluß auf menschliches Verhalten zu fragen, waren wir mit Diskursen beschäftigt, haben wir uns mit Sprache beziehungsweise Zeichen auseinandergesetzt, die die Wahrnehmung der Welt strukturieren (...) Mittlerweile jedoch werden die Grenzen des Iinguistic turn immer deutlicher. Einerseits wissen wir inzwischen, wie man textuelle Strategien ausfindig macht. Andererseits scheint die Diskursanalyse, je länger man sie betreibt, desto weniger Überraschendes zutage zu fördern." (Roper 1999: 452)
Ähnlich wie in der Geschichtswissenschaft gehen auch in den Politikwissenschaften die Einschätzungen über die Reichweite diskursorientierter Ansätze auseinander. So konstatierten FischerlForrester (1993) schon vor längerer Zeit einen "argumentative turn" der Politikwissenschaft. Mottier (2002) spricht in einem Schwerpunktheft über "Discourse Analysis & Political Science" der Zeitschrift European Political Science (Vol. 2, Heft I) davon, die Diskursanalyse habe nun "firmly entered European mainstream political research".185 Andererseits trifft der an Foucault u.a. orientierte Diskursbegriff auf starke Einwände. Dazu zählen der Verweis auf sprachunabhängige Strukturzusammenhänge des gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs und objektive Fakten ebenso wie die Betonung von Akteursinteressen und strategischem Handeln als den entscheidenden Faktoren in politischen Verhandlungen. Ideen oder Diskurse erscheinen dann als ,Anhang', bedeutungslose Kosmetik oder Rhetorik. Im Urteil einiger Beobachter befindet sich deswegen die Rezeption diskursorientierter Perspektiven in den (wiederum) deutschsprachigen Politikwissenschaften noch in ihren Anfängen (Braun 1998; Nullmeier 1993, 2001). Trotz wichtiger Bemühungen um politikwissenschaftliche Sprachforschung l86 dominiere hier die aus der Rational-Choice-Theorie stammende Unterscheidung von sprachlichargumentativem und strategisch-interessebezogenem Handeln innerhalb derer Sprache eine Machtressource und -strategie neben anderen darstellt. Alternativ dazu werden im Anschluss an Habermas Diskurse als öffentliche Diskussions- oder Argumentationsprozesse (Deliberationen) verstanden, die sich an spezifischen normativen Kriterien orientieren. Die Frage nach der Bedeutung von Diskursen wird so in die Frage danach übersetzt, ob und inwiefern Argumente als Ressource in policy-Prozessen zählen. 187 185 Dies scheint allerdings in erster Linie fur die Teildisziplin der Internationalen Beziehungen zu gelten. Hajer (2002) gibt einen kurzen Überblick über allgemeine Entwicklungen in der Politik forschung. Vgl. auch Diez (1999, 200 I), Chadwick (2000), Milliken (1999). 186 Vgl. z.B. Maas (1989), Opp de HiptlLatniak (199\), Berg-SchlosserfRiescher/Waschkuhn (1998). 187 In diesem Sinne lautete der Titel der bereits erwähnten Hamburger Tagung über Umweltpolitik "Does Discourse Matter?" (Juni 2003, Hamburg-Rissen). Viele der dort versammelten Beiträge beschäftigten sich mit den Beziehungen zwischen Diskursanalysen a la Foucault, der Diskursethik a la Habermas und spieltheoretischen Ansätzen.
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Schließlich lässt sich auch fur die deutschsprachige Soziologie von einer zögerlichen und marginalen Rezeption diskurstheoretischer Ansätze sprechen. Wesentlich später und ohne bislang zu einem Forschungsparadigma zu konvergieren, setzen diskurstheoretisch inspirierte Studien hier in den 1990er Jahren an und entwickeln meist an Foucault orientierte Adaptionen des Diskursbegriffs. 188 Die bundesdeutsche Soziologie ist so, trotz der gegenwärtig beobachtbaren Zunahme solcher Bemühungen, vergleichsweise weit von der etablierten Perspektive des social constructionism entfernt, wie sie im englischsprachigen Raum in den letzten Jahrzehnten vor dem Hintergrund des Poststrukturalismus und diskurstheoretischer Überlegungen entstanden ist. Dafur mögen neben dem bereits erwähnten Habermasschen Verdikt auch spezifische Entwicklungen und Kanonisierungen der soziologischen Theorietraditionen im deutschsprachigen Raum - bspw. die auf die Auseinandersetzung um Systemtheorie fokussierte Theoriedebatte oder die empirische Vereinseitigung wissenssoziologischer Fragestellungen im Anschluss an Berger/Luckmann - verantwortlich sein. An diesem Punkt setzt der systematisierende Vorschlag zu einer in der Wissenssoziologie verankerten und deren Methodenentwicklung nutzenden, aber gleichzeitig ihre Forschungsperspektiven erweiternden Wissenssoziologischen Diskursanalyse an. Vor dem Hintergrund des wachsenden soziologischen Interesses an empirischer Diskursforschung wird im Folgenden zunächst in Auseinandersetzung mit den diskurstheoretischen Positionen von Michel Foucault u.a. nach den notwendigen Bestandteilen einer diskurstheoretischen Erweiterung der Wissenssoziologie gefragt.
3.2 Der "Planet Foucault,,189 Die gegenwärtige Konjunktur des Diskursbegriffs verdankt sich dem hauptsächlich in den 1960er und 1970er Jahren entstandenen Werk von Michel Foucault. Als Philosoph, der sich fur Geschichte interessierte, hat Foucault in nachhaltiger Weise neue Fragestellungen und Herangehensweisen an geschichtswissenschaftliche Gegenstandsbereiche formuliert. Dabei beschäftigte er sich mit Phänomenen wie Geisteskrankheit, Strafprozeduren, der Entstehung und Etablierung der Wissenschaftsdisziplinen Psychologie, Recht oder Medizin, der Entwicklung sexualitätsbezogener Ethik- und Moralvorstellungen sowie der Genese moderner Subjektvorstellungen. In seinen Analysen nimmt der Diskursbegriff einen prominenten Stellenwert ein. In Büchern wie "Die Ordnung des Diskurses" (Foucault 1974b) und "Archäologie des Wissens" (Foucault 1988a) sowie in vielen Aufsätzen (z.B. Foucault 1991a, 1991b) finden sich grundlegende Überlegungen zur Theorie und Empirie der Diskurse. 19o Der weitreichende Einfluss, der von Foucaults Arbeiten ausging, verdankt Eine genauere Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung zwischen diesen Paradigmen steht noch aus. 188 Vgl. die Hinweise in Keller (1997b, 2004), KellerlHirseland/SchneiderNiehöver (200 I, 2003a) und bspw. die Studien von Waldschmidt (1996), Keller (1998), Maasen (1998), Bublitz (1998), Schneider (1999), Schwab-Trapp (200 I, 2003). 189 So lautet der Titel eines Artikels von Paul Veyne (1986) über das Foucaultsche Werk. Die nachfolgende Diskussion der Foucaultschen Position(en) nimmt sich nicht der Gegenstandsbereiche seiner materialen Analysen an, sondern konzentriert sich auf die Bausteine der Diskurstheorie. Vgl. zu einer knappen Gesamtdarstellung des Foucaultschen Werkes Keller (2005) und Keller (2008b). 190 Vgl. auch die gesammelten "Reden und Schriften" (Foucault 2001, 2002, 2003, 2005).
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sich jedoch nicht so sehr - und vielleicht nicht einmal in erster Linie - seinen theoretischen und methodologischen Schriften, sondem seinen eindrucksvollen materialen Analysen, in denen er die Geschichte von "Wahnsinn und Gesellschaft" (Foucault 1973), des ärztlichen Blicks in der "Geburt der Klinik" (Foucault 1972), von "Überwachen und Strafen" (Foucault 1977), der Sexualität und der Technologien bzw. Ethiken der Selbstdisziplinierung untersuchte (Foucault 1989 a,b,c). Dadurch lenkt er das Verständnis von Diskursen auf die wissenschaftlichen Disziplinen, auf Geisteswissenschaften, Psychologie, Recht, Medizin, Philosophie und Religion als zentrale Orte oder Institutionen, an denen Diskurse entstehen, verankert sind, reproduziert und transformiert werden. Foucault selbst beschrieb kurz vor seinem Tod sein "allgemeines Projekt" wie folgt: "Es ging und geht um den Versuch einer Analyse der Brennpunkte der Erfahrung wie z.B. der des Wahnsinns, der Kriminalität und der Sexualität sowie um die Aufstellung einer Matrix der Erfahrung. Brennpunkte und Matrix sollen gemäß den Beziehungen der drei Achsen untereinander analysiert werden, die diese Erfahrung konstituieren: die Achse der Formierung des Wissens, die Achse der Normativität des Verhaltens und schließlich die Achse der Konstitution der Seinsweisen des Subjekts. (... ) Es handelt sich also um die Analyse der Formen des Wahrsprechens, die Analyse der Verfahren des Regierungsdenkens, die Analyse der Pragmatik des Subjekts und der Selbsttechniken." (Foucault 1988c: 15t)
Obwohl er, bezogen auf die "Formierung des Wissens" und die "Formen des Wahrsprechens" den Diskursbegriff vielfach und bis hin zu seinen letzten Arbeiten und Vorlesungen benutzte, ihn auch nachträglich in seine frühen Arbeiten (etwa über die "Geburt der Klinik") einbaute, hat er nur wenige Male - insbesondere in der "Archäologie des Wissens", ergänzend in der "Ordnung des Diskurses" oder in seiner Auseinandersetzung mit der Frage "Was ist ein Autor?" - versucht, eine konsistente Theorie und Methodologie der Diskursanalyse zu formulieren. Man kann deswegen gewiss behaupten, dass ihn dieses Problem nicht primär beschäftigt hat. Seine materialen Untersuchungen folgten einem methodischen Prinzip des, weg von der Sekundäranalyse' und ,Zurück zu den Daten, Dokumenten, Archiven'. Er betrachtete das (soweit möglich) direkte Eintauchen in die historischen Gegenstände - den Wahnsinn, den medizinischen Blick, die Überwachungs- und Strafpraktiken, die Sexualität, die Selbstsorge - als notwendige und unumgängliche Form der Erfahrung, aus der er mit Interpretationsvorschlägen und neuen (theoretischen) Konzepten (etwa demjenigen der ,Mikrophysik der Macht', der ,Biomacht' , der ,Gouvemementalität' usw.) wieder zurückkehrte (Foucault 1996a). Die Verwendung des Diskursbegriffs in diesen Studien erfolgt eher beiläufig, zumindest in dem Sinne, dass sie dort keiner weiteren Erläuterung bedarf. Die erwähnten ,expliziten' Selbstverständigungen über ,Diskurs' können ihrerseits als Erkundungen und Erprobungen verstanden werden, die gewiss den Verwendungshorizont des Diskurskonzeptes bei Foucault markieren, ohne jedoch einen hervorgehobenen Status als die Foucaultsche Theorie und Methode zu besitzen. In diesem Sinne werden sie nachfolgend diskutiert und zum Ausgangspunkt der weiterführenden Überlegungen zu einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse. 191
191 In einem Begleittext zur Foucault-Vorlesung über das "Wahrsprechen des Anderen" skizziert Lothar Wolfstetter ein Workshop-Programm, das dem Einfluss der Wissenssoziologie von Karl Mannheim auf Hannah Arendt und der darauf bezogenen Arendt-Rezeption bei Michel Foucault nachgeht (Wolfstetter 1993).
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Zunächst gehe ich kurz auf die Eigenheiten und Probleme der deutschsprachigen Foucault-Rezeption ein (Kapitel 3.2.1). Im Anschluss diskutiere ich Foucaults eigene Darstellung seines Theorie- und Forschungsprogramms (Kapitel 3.2.2). Für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung sind die theoretisch-konzeptionellen Umsetzungen dieser Position in der Diskurs-Archäologie des Wissens (Kapitel 3.2.3) und der Diskurs-Genealogie der Macht/Wissens-Komplexe (Kapitel 3.2.4) von besonderem Interesse. Nach der Rekonstruktion der Foucaultschen Diskursperspektive beschäftige ich mich mit den verschiedenen kritischen Einwänden gegen seine Theorieposition und Vorgehensweise (Kapitel 3.2.5). Abschließend bilanziere ich die Anregungen Foucaults, die im Rahmen einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse aufgegriffen werden können (Kapitel 3.2.6). 3.2.1
Verschwunden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand?J92
Die Soziologie hat die Foucaultschen Arbeiten lange Zeit mit Argwohn betrachtet. Dies gilt nicht nur, aber, wie schon in Kapitel 3.1.3.4 angezeigt, in besonderem Maße für die deutsche Rezeption: "Das sozialwissenschaftliche Defizit von Foucaults Arbeiten - sein unzureichendes Konzept sozialen Handeins und sozialer Bewegungen, seine Unfähigkeit, sozialen Wandel anders als durch diskontinuierliche Verschiebungen eines Macht/Wissens-Schemas durch ein anderes zu erklären - und sein dünnes Konzept des Selbst und der Identitätsbildung hängen letzten Endes zusammen. Diese Probleme standen im Zentrum der Foucault-kritischen Rezeption seines Werkes besonders in Deutschland, während Foucault in den USA nicht so sehr als Sozial historiker, Kulturhistoriker und Sozialtheoretiker gelesen worden ist, sondern eher als Philosoph und LiteraturwissenschaftIer. Daraus ergab sich eine unkritische Rezeption des Foucaultschen Erklärungsrahmens." (Benhabib: 1993b: 120f)
Die von Seyla Benhabib hier als "Defizit" benannte Abweichung der Foucaultschen Arbeiten und Konzepte von den geläufigen Theorie- und Forschungsprogrammen der Soziologie hatte eine weitreichende soziologische Ignoranz gegenüber seinem Werk zur Folge. 193 Anfang der I990er Jahre einsetzende Auseinandersetzungen mit Foucault in der deutschsprachigen feministischen Theoriedebatte und Forschung, die bspw. über die Arbeiten von Teresa de Lauretis und Judith Butler vermittelt wurden, haben die Aufmerksamkeitsgrenzen dieser Diskussionen kaum überschritten. 194 Auch die an den Rändern der Soziologie und Sozialphilosophie - etwa im Zuge der Vernunftkritik durch die Zeitschrift "konkursbuch" - statthabende Auseinandersetzung mit den französischen postmodernen oder post192 Jean Amery (1997 [1973]) gab mit dieser Formulierung seiner Hoffnung und Prognose Ausdruck, was mit dem Werk Foucaults passieren werde bzw. solle. Er spielt damit auf einen berühmten Satz aus der Schlusspassage der "Ordnung der Dinge" (Foucault 1974a: 462: vgl. Kap. 4.2.3) an. Dort heißt es in Bezug auf die modeme Konzeption des Menschen und deren Historizität: ,,(...) dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand." Vgl. dazu weiter unten. 193 Vgl. auch Honneth (1990). 194 Vgl. die Plädoyers von Seifert (1992) oder Seitz (1994). Der Streit zwischen der Position der ,Frankfurter' und derjenigen Foucaults wird, bezogen auf Themen der feministischen Theoriebildung, Kritik und Politk exemplarisch von Seyla Benhabib und Judith Butler in Benhabib/Butler/ComelllFraser (1993) vorgefuhrt. Nancy Fraser (I 993a,b) nimmt in ihren Beiträgen eine vermittelnde Position ein.
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strukturalistischen Provokationen fand kaum innerdisziplinäre Resonanz. Es mag sein, dass hier die von Jürgen Habermas (1985) wortgewaltig ausgesprochene Verurteilung des Foucaultschen Ansatzes, auf die Benhabib im vorangehenden Zitat anspielt, und seine damit einhergehende eigenständige Besetzung des Diskursbegriffs nachhaltige Wirkung zeigte. 195 Auf breiterer soziologischer, politikwissenschaftlicher und sozialphilosophischer Ebene wurde Diskurs mit Diskursethik sowie den Namen Jürgen Habermas und Kar! Otlo Apel assoziiert, oder aber, wie in der Sprachforschung, mit den Vorgehensweisen der discourse analysis, d.h. der Untersuchung von mündlichen Kommunikationsprozessen. Auch Foucault selbst hat mit seiner eigenwilligen Sprachmacht und Fabulierungskunst, die allenfalls geschichtswissenschaftliche und philosophische Bezüge aufwies, sich jedoch so gar nicht um soziologisches Vokabular scherte, sicherlich zu den mitunter polemisierenden Ablehnungen seiner Arbeiten beigetragen, wie sie bereits mehr als ein Jahrzehnt zuvor in der deutschen Rezeptionsöffentlichkeit zirkulierten. Im Merkur Nr. 300 vom April/Mai 1973 schrieb bspw. Jean Amery "Wider den Strukturalismus. Das Beispiel des Michel Foucault" über die deutsche Ausgabe der "Ordnung der Dinge": "Das Buch ist (ich gestatte mir ein vorwegnehmendes Urteil) voll von interessanten Ideen, wenn auch leider von einer gewissen, hinter dem hoffärtigen Gestus von Wissenschaftlichkeit sich verbergenden geistigen Inkonsistenz (... ) Halten wir inne beim Stichwort Geldtheorie. Sie, als deren wichtigsten Vertreter Foucault den Engländer David Ricardo heranholt, entstand also nicht, wie populäre Banausenweisheit das allenfalls annehmen würde, aus der kausal verfolgbaren Entwicklung des Kapitalismus. Sie ist - neben Naturgeschichte und allgemeiner Grammatik - Emanation des epistemologischen Feldes, dieser mysteriösen Unentrinnbarkeit, die noch verbindlicher ist als Spenglers ,Kulturseele', weichsel be wir geisterhaft auftauchen sehen aus dem mutterrechtlichen Dunkel, in dem wir sie schon versunken glaubten" (Amery 1997: 253f [1973]). Gegen Jacques Lacan, Roland Barthes, Claude Levi-Strauss und Michel Foucault heißt es weiter, deren ,,'Begriffsdichtungen' sind Kathedralen von erkältender geistiger Ödnis. In einer Folge terroristischer Gewaltakte werden die Begriffe aus dem sie determinierenden Anschauungsmaterial herausgebrochen - und damit entleert" (ebd.: 260). Und schließlich: "Es ist der Mensch, der die Sprache schafft, die soziale Praxis verwandelt, die Natur erkennend neu gestaltet. Er ist Subjekt und Objekt der Erfahrung, Ursprung und Ziel der Geschichte, er ist Bedeuter einer Realität, die ihn hervorgebracht hat und die er be-deutend, zu jeder Stunde neu hervorbringt. (...) Vielleicht ist die strukturalistische Strömung so reißend nicht mehr. Mag sein, sie ist morgen schon, um ein auf den Menschen gemünztes Wort Foucaults hier gegen Foucault zu richten, ,verschwunden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand'." (Amery 1997: 265 [1973])
Amerys Kritik ist in ihrem Sprachduktus gewiss überzogen, aber doch gleichzeitig in einigen inhaltlichen Punkten berechtigt. Sie steht, wie weiter unten noch zu sehen sein wird, mit ihren Hinweisen auf die aktive Rolle menschlicher Akteure im Einklang mit zahlreichen Einwänden gegen und Weiterentwicklungen der Diskurstheorie. Doch seine abschließende Prophezeiung erweist sich als großer Irrtum, zumindest im Hinblick auf die Karriere des (Post)Strukturalismus in angelsächsischen Debatten. Ob dies einzig einer ,unkritischen Rezeption Foucaults als Philosoph und LiteraturwissenschaftIer' geschuldet ist, wie Benhabib in der weiter oben zitierten Passage behauptet, mag dahingestellt bleiben. Das Diskurskonzept Foucaults hat die Soziologie in Deutschland über jene Umwege erreicht, zu 195 Zu den damaligen ,Generalkritikem' gehörten auch Axel Honneth (1985) und Manfred Frank (1983). Vgl. zur Diskursethik den Exkurs in Kapitel 3.1.3; zur Kritik an Foucault Kapitel 3.2.5.
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denen die anglo-amerikanischen Cultural Studies, die feministischen Theorien und die Postkolonialismus-Debatten, aber auch die dortigen Diskussionen über Spielarten des social constructionism zählen.
3.2.2 Das Programm einer Kritischen Ontologie Obwohl Michel Foucault von seiner disziplinären Herkunft her Philosoph und Psychologe war und sich mit geschichtswissenschaftlichen Themen beschäftigte, stehen die von ihm verfolgten Fragestellungen in der Tradition der französischen Wissenssoziologie von Durkheim und Mauss, die über den Strukturalismus von Levi-Strauss die verschiedenen Spielarten des Poststrukturalismus geprägt hat. Dies gilt, auch wenn die Arbeiten von Foucault in den neueren Ansätzen der Wissenssoziologie (vgl. Kapitel 2.3) kaum rezipiert wurden: 196 "Foucault explores the domain of the sociology of knowledge: ideas in their social context and the explanation for their continuity and change, as seen against the changing significance of history, politics, and economics." "Foucault attempts to construct a history not of ideas, but of events, and these events are critical insofar as they serve to show the disruption of previous modes of discourse. (...) He is interested in the ways discourse is represented in documents in his historical guise and how these, in turn, become important or significant, or statements of entire sets of conflicting times, durations and spacial forces. (... ) The document provides an anchor with which Foucault grounds his work on the c1assification of the world (...) Language does not guide Foucault to a consideration of the distinctions between the sign and the signifier, or between language as a system of rules and speech as competence or performance. Rather Foucault distinguishes rules and practices (... ) The sociology of knowledge in Foucault is represented in the search for the concept that will show how certain practices within a field of regulation or control vary, revealing the effect of power and of invisible forces on the practices. (... ) He does not see correspondence between the natural and the symbolic world, one of the most controversial and marginally useful of Durkheim's ideas, and he introduces the material and political forces that shape and are sedimented in structures ofknowledge." (Manning 1982: 65/76)
Foucault nähert sich seinen Forschungsgegenständen nicht als selbstverständliche und ahistorische Gegebenheiten. Vielmehr nimmt er eine konstruktivistische Perspektive ein und betrachtet sie als historisch kontingente Erscheinungen, die ihre Existenz unterschiedlichen Wissens- und Praxisformationen verdanken. D.h. mit anderen Worten: sie sind einerseits im Medium des Wissens, andererseits als gesellschaftliche Praktiken konstituiert. So gibt es bspw. keine ahistorische Wesensqualität des Wahnsinns, sondern historisch unterschiedliche Formen des Wissens und der Praktiken, die nicht auf ein vorgängiges, ihnen äußerliches und von ihnen unabhängiges Phänomen treffen, sondern dieses Phänomen selbst konstituieren. Wahnsinn existiert in historisch kontingenter Form. 197 1m Unter196 Neben Manning rechnen bspw. auch Corradi (1981) oder Frank (1983, 1988) Foucault zur wissenssoziologischen Tradition. Vgl. zu (verborgenen) wissenssoziologischen Einflüssen von Karl Mannheim im Werk von Foucault auch Wolfstetter (1993). 197 Genau genommen suggeriert noch diese Formulierung die Existenz eines durchgehenden Phänomens. Deswegen müssten jeweils unterschiedliche Begrifflichkeiten für die erwähnten kontingenten Formen gewählt werden und schon ihr Bezug auf die Referenz, Wahnsinn' kann problematisiert werden. Foucault hat in seiner Doktorarbeit über "Wahnsinn und Gesellschaft" seine theoretische Haltung noch nicht in voller Konsequenz entfaltet, denn er spricht hier von einer Art ,ursprünglicher Erfahrung' des Wahns, die zum Schweigen gebracht worden sei. Erst
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schied zu Durkheirn oder Levi-Strauss setzt Foucault seine Wissensanalyse und den ethnologischen Blick nicht auf ,primitive' bzw. fremde Kulturen an, sondern auf den Kontext seines eigenen Arbeitens. So heißt es in einem berühmten Zitat, man könne seine Untersuchungen "als eine Analyse der Zivilisationstatsachen, die unsere Kultur charakterisieren, definieren, und insofern würde es sich um etwas wie eine Ethnologie der Kultur, der wir angehören, handeln. Ich versuche tatsächlich, mich außerhalb der Kultur, der wir angehören, zu stellen, um ihre formalen Bedingungen zu analysieren, um gewissermaßen ihre Kritik zu bewerkstelligen; aber nicht, um ihre Werke herabzusetzen, sondern um zu sehen, wie sie tatsächlich entstanden sind." (Foucault 1974d: 13) Es handele sich zumindest um "eine Ethnologie unserer Rationalität, unseres Diskurses." (ebd.)
Auch verabschiedet sich Foucault vom Durkheimschen Programm einer Verankerung der Wissensstrukturen - bspw. der Klassifikationen - in den Sozialstrukturen historisch situierter Kollektive. 198 Und anders als bei Levi-Strauss werden solche Strukturen nicht kognitivistisch als universale Strukturen des menschlichen Geistes begriffen, sondern, wie weiter oben schon erwähnt, im Anschluss an Georges Dumezil 199 als historisch mehr oder weniger kontingente und diskontinuierliche Ordnungen, die emergente soziale Produkte diskursiver (und nicht-diskursiver) Praktiken darstellen. Sie konstituieren die Möglichkeiten gesellschaftlicher Wirklichkeitswahmehmung, die Matrix der Erfahrungen. Gegenüber der "Strukturalen Anthropologie" von Levi-Strauss (1967) betont Foucault also die Bedeutung der institutionellen Strukturierung sprachlicher Äußerungen, die nicht auf universale Strukturmuster oder binäre Codierungen reduzierbar sind, sondern als serielle und regulierte Reihung historisch situierter Aussagepraktiken begriffen werden sollen, deren RegeVStruktur rekonstruiert werden kann. Sprachverwendung gilt ihm als sozialer Akt der Wirklichkeitskonstitution, der nicht auf das intentionale Handeln von Sprechern reduzierbar ist, sondern durch institutionell stabilisierte Regeln und Ordnungen der Diskurse geformt wird. Im Unterschied zu den Ansätzen der strukturalistischen Semiotik, wie sie von Barthes (1985 [1964]) im "System der Mode" oder von Baudrillard (1991 [1968]) im "System der Dinge" vertreten wurden, geht es Foucault jedoch nicht um die Rekonstruktion abstrakter symbolischer Strukturen oder Codes, sondern um die Regelmäßigkeiten der Praxis des Sprachgebrauchs in diskursiven Ereignissen, um Strukturen als emergente Ebene von Macht/Wissen-Verhältnissen und die historische Ereignishaftigkeit von Phänomenen (Foucault 1991 b). Mit diesem Programm will er eine Alternative zu den Philosophien aufbauen, die die französische Debatte der 1950er und frühen 1960er Jahre dominierten wenig später, im Übergang von der "Geburt der Klinik" zur "Ordnung der Dinge" wird er konsistent auf die unhintergehbare Historizität und Wissensabhängigkeit aller Erfahrungsmöglichkeiten einschließlich derjenigen des Wahnsinns oder des Subjekts verweisen. 198 Für DurkheimlMauss (1987) war der Umweg über die "primitiven Klassifikationen" ein heuristisches Mittel, um diesen Zusammenhang, der auch für moderne Gesellschaften gelte, zu verdeutlichen. 199 Foucault verweist verschiedentlich auf den Einfluss Dumezils, bspw. in frühen Kommentierungen zu "Wahnsinn und Gesellschaft". Ein ausftjhrlicher Bezug findet sich in Foucault (2002d: 337ft). Dumezil gebraucht den Begriff der Struktur im Sinne von ,System', d.h. zur Bezeichnung einer Gesamtheit und der geordneten Beziehungen ihrer Teile, etwa in Bezug auf die "Ideologie der drei Funktionen". Er wendet sich explizit gegen den Gebrauch des Strukturbegriffs bei Levi-Strauss (vgl. Poitevin 2002). Eribon weist darauf hin, dass Dumezil schon Konzepte der ,Archäologie' und der ,Genealogie' benutzt und auch dafür als 1nspirator Foucaults gelten kann (Eribon 1998: 150ft).
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und in der Person von lean-Paul Sartre zusammengefuhrt wurden: Phänomenologie und Marxismus. Gegen die Grundannahmen der Phänomenologie von Sartre und Maurice Merleau-Ponty verabschiedet er den Ausgangspunkt einer transzendentalen Subjektivität; gegen den Marxismus fordert er den Verzicht auf die dort bestehende, vor-urteilende "Hermeneutik des Verdachts" (Paul Ricoeur), die in den sozialen Phänomenen immer nur das Wirken der Produktions- und Klassenverhältnisse unterstelle und erkenne. 20o Foucault baut in seinen Arbeiten ein Spannungsverhältnis zwischen Diskursen und Praktiken auf und schenkt mitunter ersteren, in anderen Fällen letzteren größere Aufmerksamkeit. Mit seinem Programm einer "Archäologie des Wissens" zielt er auf die historische Rekonstruktion der Erzeugungsmuster gesellschaftlicher Wissensformationen, die als Abfolge von ,Regimen des Sagbaren " als Diskursordnungen spezifiziert werden. Das später von ihm eingefiihrte Konzept der Genealogie nimmt demgegenüber diskursive Praktiken, Entwicklungsverläufe und Machtprozesse stärker in den Blick. Mit seinem Konzept der Verknüpfung von Wissen und Macht im Begriff des savoir/pouvoir - Wissen bzw. Können im Sinne einer Fähigkeit/Macht als Können im Sinne einer Möglichkeit - lenkt er den sozialwissenschaftlichen Blick auf Wissen nicht als Ressource von, sondern als Form der Macht: Von diskursiv prozessiertem Wissen gehen Strukturierungseffekte des Realen aus, die spezifische Ordnungen des Wirklichen zulassen, andere im Kontrast dazu eher ausschließen. Foucaults Diskurskonstruktivismus ist ein Konstruktivismus ohne Konstrukteure. Ihn interessieren die RegeJstrukturen von Diskursen und Praktiken als emergente Strukturierungsmuster von sprachlichen Äußerungen und Handlungsweisen, als soziale Erzeugnisse, die nicht auf die Intentionalität erzeugender Subjekte zurückgefiihrt werden können. Sie entstehen als nicht kontrollierte Struktureffekte, die den Spielraum des Sagbaren regulieren. Gesellschaftsentwicklung ist dann eine Abfolge solcher Strukturierungsweisen, die erscheinen und vergehen, ohne dass dafiir wissenschaftliche Letztbegrundungen - etwa im Rahmen eines marxistischen Theoriegebäudes - angegeben werden können. 201 Foucault selbst sah sich als experimentierenden Denker, der die Reflexion und Forschung über eine ,Geschichte und Geschichtsschreibung der Gegenwart' vorantreiben wollte, ohne sich auf bestimmte Bahnen, Konzepte, Annahmen auch innerhalb seiner eigeFoucault betont ausdrücklich, sich mit seiner Kritik an der Phänomenologie nur auf Teile des Husserlschen Ansatzes und insbesondere auf die Positionen von Sartre und Merleau-Ponty zu beziehen (Foucault 1994b: 435; vgl. auch Foucault 1994a: 43 und weiter unten Kapitel 4.2.3). Lebrun (1991) bspw. liest im Anschluss an Foucaults eigenen Sprachgebrauch und einen Kommentar von Georges CanguiJhem zur "Ordnung der Dinge" letztere als Auseinandersetzung mit der Phänomenologie, als Nachweis des immer nur historischen apriori aller Erfahrung. Die Liste der Einflüsse auf Foucault ist lange. Er selbst nennt an verschiedenen Stellen die kritische Auseinandersetzung mit Kant, Hegel, Freud, Husserl, Sartre oder Merleau-Ponty, die positive Bezugnahme auf Kant, Nietzsehe, Bataille, Blanchot, Heidegger, Bachelard, Binswanger, Lacan oder den Anschluss an bzw. die Auseinandersetzung mit seinen Förderem, Freunden und Lehrern Jean Hyppolite, Georges Dumezil, Georges Canguil· helm, Louis Althusser u.a. (vgl. z.B. Foucault I994a,b; Eribon 1991). Vgl. insgesamt DreyfuslRabinow (1987) und Brieler (1998); zu Dumezil Eribon (1998: 117-171), Foucault (200Ib), zu Bachelard und Canguilhem Foucault (I 988d), Gutting (1989), Marti (1999: 38ft), zu Nietzsehe Foucault (I 974c, 200 Ja, 2002c), Ostwald (200 I), Marti (1999: 69ft), zu Marx und Althusser Marti (1999: 110ft), Balibar (1991), zu Freud und Lacan Miller (1991), zu Heidegger Schneider (200 I). 201 Dieser im wissenschaftshistorischen und -theoretischen Kontext zunächst revolutionäre Verzicht auf Kausalitätshypothesen wird sehr schnell zu einem der Hauptangriffspunkte für verschiedenste Gegner Foucaults, ganz abgesehen davon, dass er selbst ihn in seinen materialen Arbeiten nicht immer durchzuhalten vermochte (vgl. Kapitel 3.2.5). 200
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nen Karriere festlegen zu lassen. 202 Man solle ihm nicht vorschreiben, "der gleiche zu bleiben", ihn darauf festlegen, wer er sei und was er gemacht habe, das sei "eine Moral des Personenstandes", auf die um der Freiheit des Denkens und Schreibens willen zu verzichten sei (Foucault 1988a: 30). Entsprechend schlug Foucault vor, seine Bücher als "Werkzeugkisten" zu benutzen und sich nach eigenen Vorlieben darin zu bedienen. 203 Andererseits war er wiederholt bemüht, begriffliche Ordnung und Kontinuität in seine Studien zu bringen - und sei es auch durch die nachträgliche Ersetzung ursprünglich benutzter Konzepte in Neuauflagen seiner Bücher. 204 Foucault hat in den verschiedenen Etappen seines Werkes also unterschiedlich akzentuierte Vorschläge zu einer Theorie und Methodologieoder vor allem: Methodologiekritik - des historischen Forschens gemacht, die um den Begriff des Diskurses angelegt sind. Bemühungen, aus dem Foucaultschen Werk eine konsistente Diskurstheorie zu filtrieren, stehen deswegen vor großen Schwierigkeiten. Vielleicht aber ist ein solches Vorhaben dem Foucaultschen Werk auch unangemessen: "Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. Als Theoretiker bezeichne ich jemanden, der ein allgemeines System errichtet, sei es ein deduktives oder ein analytisches, und es immer in der gleichen Weise auf unterschiedliche Bereiche anwendet. Das ist nicht mein Fall. Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu ändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor." (Foucault I994a: 42; eigene Übersetzung)
Trotz dieser Haltung war und ist die Foucault-Rezeption bemüht, nicht nur die Diskurstheorie, sondern sein gesamtes Werk auf strukturierende Zusammenhänge und Entwicklungsverläufe zu überprüfen. Hilfreich erscheinen Unterscheidungen verschiedener Arbeitsphasen und mehr oder weniger locker miteinander verknüpfter roter Fäden, die eine Balance zwischen Kontinuität und ,Spielraum' zugestehen. So differenziert bspw. Darier (l999a) wie viele andere - die drei Phasen der Archäologie des Wissens, der Genealogie der Macht und schließlich der Gouvernementalität (vgl. Kap. 3.2.4). Foucault selbst schreibt u.a. davon, eine "Geschichte der Wahrheit" anzustreben, eine "Geschichtsschreibung der Gegenwart" zu betreiben, sich durchgängig mit der "Genealogie des modemen Subjekts" zu beschäftigen, oder auch ein Programm zu verfolgen, das er im Vorwort zum ersten Band von "Sexualität und Wahrheit" forrnuliert: 205
Foucault hat diese Formulierungen an verschiedenen Stellen zur Kennzeichnung seiner Arbeiten benutzt. ,History of the Present' nennt sich auch ein 1989 in Großbritannien gegründetes Forschungsnetzwerk, das an Foucaults Werk anknüpft. 20) Vgl. Foucault (1976: 45; 2002a: 651; 2002b: 887f). Auch bemerkte er in einer Diskussionsrunde: "Ich muss betonen, dass ich nicht alles rückhaltlos unterschreibe, was ich in meinen Büchern gesagt habe." (Foucault 2002c: 792) 204 Kammler (1986: 21) weist darauf hin, dass Foucault bspw. in der 1972 erschienenen zweiten Auflage seiner zunächst 1963 veröffentlichten Studie über die "Geburt der Klinik" das in der Vorrede ursprünglich enthaltene strukturalistische Vokabular ("analyse structurale du signifie", "elements semantiques" u.a.) gegen Begriffe wie "Diskursanalyse", "diskursive Tatsache" usw. austauscht. Auch" Wahnsinn und Gesellschaft" wurde von Foucault zunächst als "strukturale Analyse" vorgestellt und erst in der zweiten Auflage mit dem Etikett der "Diskursanalyse" versehen. Vgl. zur Foucaultschen Sprachpolitik insbes. auch Brieler (1998). 205 Vgl. etwa die Einteilungen bei Brieler (1998), Bublitz (2003), DreyfuslRabinow (1987), Deleuze (1992), McNay (1994), Gutting (1989,1994) oder Kammler (1986). Zur Eingruppierung Foucaults als ,tragischer Denker' vgl. Hayden White (1986). 202
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Diskurs: Wissen und Sprachgebrauch "Bei den Begriffen ,Sex' und ,Sexualität' handelt es sich um intensive, überladene, ,heiße' Begriffe, die benachbarte Begriffe leicht in den Schatten stellen. Darum möchte ich unterstreichen, dass die Sexualität hier nur ein Beispiel für ein allgemeines Problem ist, das ich seit über flinfzehn Jahren verfolge und das mich seit über ftinfzehn Jahren verfolgt. Es ist das Problem, das fast alle meine Bücher bestimmt: wie ist in den abendländischen Gesellschaften die Produktion von Diskursen, die (zumindest flir eine bestimmte Zeit) mit einem Wahrheitswert geladen sind, an die unterschiedlichen Machtmechanismen und -institutionen gebunden?" (Foucault 1989a: 8)
Zuletzt sprach er davon, sein gesamtes Arbeiten kreise um den Zusammenhang, um die Matrix der Erfahrung bezüglich dreier ,Achsen': Wissen, Normativität und Subjekt (Foucault 1988c: 15).206 Die Weigerung Foucaults, sich auf bestimmte Positionen oder Aussagen festlegen zu lassen, bedeutet also keineswegs - auch und gerade nicht in seinem Selbstverständnis -, sein Werk sei frei von Kontinuitäten oder Zusammenhängen. Foucault selbst hat in einem gemeinsam mit Franyois Ewald unter dem Pseudonym "Maurice Florence" verfassten Beitrag über "Michel Foucault" in einem Handwörterbuch der Philosophie den Zusammenhang seines Werkes skizziert (Florence 1984; dt. Fassung: Foucault I994c). Ein ergänzendes Resümee seiner Position formuliert er in der Auseinandersetzung mit Kants Beantwortung der Frage "Was ist Aufklärung?" (Foucault 1990).207 ,Maurice Florence' sieht den Ausgangspunkt Foucaults in einer doppelten Ablehnung der Positionen von Jean Paul Sartre: Verabschiedet werden in gleichen Teilen die Annahme des existentialistischen Subjekts und diejenige des marxistischen Determinationsverdachts. Statt dessen gehe es um die Rekonstruktion der historischen "Wahrheitsspiele", um die Mechanismen der Konstitution von Diskursen, die im Namen der Wahrheit sprechen und das Wissen ihrer Zeit formieren. Ein solches Interesse stehe in der durch Kant inspirierten Tradition einer kritischen Geschichte der Denksysteme; sie richte sich nicht auf beliebige Gegenstände, sondern auf die Konstitution des modemen Subjekts, auf dessen Subjektivierung (Unterwerfung) und Objektivierung, durch die es zum Gegenstand der Wissenschaften gemacht werde, auf seine Selbst'führung' und seine Führung durch Andere. Diesem Vorhaben liege ein systematischer Skeptizismus in Bezug auf jegliche Behauptung universeller anthropologischer Konstanten zugrunde. Es gehe darum, sich unvoreingenommen mit den tatsächlichen Praktiken des Denkens und HandeIns zu beschäftigen, aus denen die historischen Wissensregime entstehen und die sie wiederum anleiten. Dabei spielen die Begriffe der Macht und der ,Regierung' eine zentrale Rolle. Foucault spricht schließlich in seiner Schrift über Kant von dem philosophischen Ethos, das sein Werk inspiriere: "Dieses philosophische Ethos kann als Grenzhaltung charakterisiert werden. Es geht nicht um ein Verhalten der Ablehnung. Wir müssen die Alternativen des Außen und Innen umgehen; wir müssen an den Grenzen sein. Kritik besteht gerade in der Analyse der Grenzen und ihrer Reflexion (...) Das hat offensichtlich zur Konsequenz, daß Kritik nicht länger als Suche nach formalen Strukturen mit universaler Geltung geübt wird, sondern eher als historische Untersuchung der Ereignisse, die uns dazu geflihrt haben, uns als Subjekte dessen, was wir tun, denken und sagen zu konstituieren und anzuerkennen. In diesem Sinne ist die Kritik (...) in ihrer Absicht Vgl. zu einer knappen Selbstdarstellung des Gesamtprojektes Foucault (1994c). Thomas Schäfer (1995) hat u.a. im Rekurs auf diese Texte eine konsistente Rekonstruktion der Foucaultschen Grundposition formuliert und der Foucault-Kritik von Habermas u.a. entgegengehalten; vgl. auch schon die Replik von Janicaud (1991), Brieler (1998) und Kapitel 3.2.5. 206 207
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genealogisch und in ihrer Methode archäologisch. Archäologisch - und nicht transzendental insofern als sie nicht versucht, die universalen Strukturen aller Erkenntnis oder jeder möglichen moralischen Handlung zu identifizieren, sondern die Fälle von Diskursen zu behandeln sucht, die das, was wir denken, sagen und tun in verschiedensten historischen Ereignissen bezeichnen. Und diese Kritik wird insofern genealogisch sein, als sie nicht aus der Form unseres Seins das ableitet, was wir unmöglich tun und wissen können; sondern sie wird in der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit auffinden, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken. (...) Die kritische Ontologie unserer selbst darf beileibe nicht als eine Theorie, eine Doktrin betrachtet werden, auch nicht als ständiger, akkumulierender Korpus von Wissen; sie muß als eine Haltung vorgestellt werden, ein Ethos, ein philosophisches Leben, in dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen ist und ein Experiment der Möglichkeit ihrer Überschreitung." (Foucault 1990: 48ff).208
Die nachfolgende Diskussion konzentriert sich auf diskurstheoretischen Aspekte und deren methodologische Reflexion, wie sie insbesondere innerhalb der Programme der "Archäologie des Wissens" und der "Genealogie der Macht" von Foucault vorgeschlagen wurden. 209
3.2.3 Diskursanalyse als Archäologie des Wissens Die archäologische Phase der Foucaultschen Arbeiten ist zunächst von einer vergleichsweise starken strukturalen Orientierung geprägt. Als ihre Hauptwerke gelten die 1966 erschienene Arbeit über die "Ordnung der Dinge" und dann vor allem die "Archäologie des Wissens" aus dem Jahre 1969. Dort bemüht sich Foucault im Rückblick auf seine bisherigen Untersuchungen um eine Systematisierung seiner diskursanalytischen Vorgehensweisen. Gleichzeitig markiert er die Unterschiede zwischen einer strengen strukturalistischen Haltung und seinem Interesse tur historische Praktiken. Eine erste Annäherung an die Perspektive der "Archäologie" erlaubt das Arbeitsprogramm, das in "Die Ordnung der Dinge" formuliert wird: "Was ich wollte, war, eine bestimmte Zahl von Elementen nebeneinander zu zeigen - das Wissen von den Lebewesen, das Wissen von den Gesetzen der Sprache und das Wissen der ökonomischen Fakten - und sie mit dem philosophischen Diskurs ihrer Zeit in Verbindung zu setzen für einen Zeitraum, der sich vom siebzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert erstreckt. (... ) Grenzen sind neu gezogen und Dinge, die gewöhnlich weit auseinanderliegen, sind näher zusammengebracht worden und umgekehrt: anstatt die biologischen Taxinomien mit anderem Wissen vom Lebewesen (der Theorie der Fortpflanzung oder der physiologischen Veränderung der Tiere oder des Pflanzenbaus) in Zusammenhang zu bringen, habe ich sie mit dem verglichen, was zur gleichen Zeit über linguistische Zeichen, allgemeine Ideenbildung, die Gebärdensprache, die Hierarchie der Bedürfnisse und den Warentausch gesagt worden sein mag." (Foucault 1974a: 10)
Foucault fragt danach, welches Grundmuster des Wissens ("episteme") in spezifischen historischen Epochen den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Klassifikationsprozessen 208 209
Vgl. dazu auch Foucault (1987, 1992). Vgl. zum Überbl ick die genaue Darstellung bei Brieler (1998) sowie DreyfusfRabinow (1987)
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zugrunde liegt. Verschiedene Epochen lassen sich durch die Prinzipien beschreiben, nach denen sie quer zu den disziplinären Grenzen von Einzelwissenschaften die weltlichen Dinge ordnen. Foucault schließt von empirisch beobachtbaren Regelmäßigkeiten in wissenschaftlichen Texten auf eine Regel, einen Code des wissenschaftlichen Deutens. Seine Vorgehensweise gilt ihm als "Archäologie": Er gräbt die Wissensordnungen vergangener Zeitalter aus, ohne Stellung zu deren Wahrheits- und Sinngehalten zu nehmen. Abgelehnt werden dagegen geschichtswissenschaftliche Perspektiven, die auf Klasseninteressen oder Willensabsichten einzelner Subjekte - bspw. ,genialer Wissenschaftler' - ausgerichtet sind oder hermeneutisch den verborgenen Intentionen der Autoren vergangener Werke nachspüren. 2lO An die Stelle solcher Zugangsweisen zur Geschichte habe die analytische Deskription zeitlich, aber nicht kausal aufeinander folgender Zustände zu treten. Dieses Programm lässt sich vor dem Hintergrund der seriellen Geschichte begreifen, d.h. einer Geschichtsschreibung, die nicht nach historischen Fortschrittsmustem fragt, sondern große Datenkorpora - z.B. Handelsstatistiken, Lebensmittelpreise - für verschiedene Geschichtsabschnitte untersucht und auf erkennbare Muster oder Zusammenhänge hin analysiert (Chartier 1992). Im Sinne einer quantitativen oder seriellen Geschichte gehe es, so Foucault, um die Untersuchung dessen, was "tatsächlich" gesagt wurde, d.h. um die Beschreibung und Analyse der materialen Existenz von Diskursen in Gestalt seriöser Sprechakte. Ein solches Forschungsprogramm hat, wie Kendall/Wickham (1999) betonen, Affinitäten zur Ethnomethodologie, zu einer Theorie- und Forschungsperspektive also, die sich auf die praktische Herstellung von Ordnung durch die Akteure im Vollzug ihrer Interaktionsprozesse richtet. 2lI Die Archäologie betreibt eine Art ,makrotheoretisch' und ,makroempirisch' gewendete Ethnomethodologie der, wirklichen' Äußerungen, ihrer typisierbaren Aussagegehalte sowie der institutionell eingebetteten Schreib- und Redepraktiken der Diskursproduktion. In der "Archäologie des Wissens" (Foucault 1988a) nimmt Foucault den ,strukturalistischen Duktus' seiner Arbeit über die "Ordnung der Dinge" etwas zurück. Auf der empirischen Grundlage tatsächlicher Aussageereignisse geht es um die Rekonstruktion der institutionellen Regulierung diskursiver Praktiken, nicht um abstrakte Strukturmuster oder Codes. Der Begriff Diskurs wird hier genauer spezifiziert. Er bezeichne, so Foucault, eine Menge von an unterschiedlichen Stellen erscheinenden, verstreuten Aussagen, die nach demselben Muster oder Regelsystem gebildet worden sind. Sie können deswegen ein und demselben Diskurs zugerechnet werden und - wie es in einer berühmten Formel heißt konstituieren als Praktiken die Gegenstände, von denen sie handeln. Diskurse sind in diesem Sinne strukturierte und strukturierende Strukturen: 212 ,,'Diskurs' meint jetzt nicht mehr, wie in Les mots et {es choses (dt.: Die Ordnung der Dinge, Anm. d. Verf.), die Wissensform der klassischen Zeit (,äge classique') und des für sie charakteristischen Repräsentationsmodells, sondern jedes in der Geschichte hervorgetretene Aussagesys-
Die oft zitierte Kritik einer "Hermeneutik des Verdachts" bezieht sich auf die Ablehnung der pauschalen Unterstellung bestimmter detenninierender Faktoren, die hinter den Äußerungen stehen, etwa im Sinne der marxistischen Basis-Überbau-Annahme. Selbstverständlich beruht auch die Beschreibung von Regelmäßigkeiten auf Deutungs- und Verstehensprozessen, die nur als hermeneutische Auslegungsarbeit begreifbar sind. 211 Zum Vergleich der Theorie Foucaults mit den Ansätzen von Garfinkel und Bourdieu siehe Mottier (1999), zum Vergleich mit Goffman und Bourdieu siehe Willems (1997). 212 Pierre Bourdieu spricht vom Habitus als einer strukturierten und strukturierenden Struktur. Bublitz (1999a: 23ff) bezieht den Gedanken auf Foucaults Diskurskonzept. 210
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tem (,systeme d'enonces'), das die Menge der von ihm beherrschten Aussagen durch endlich viele Regeln zusammenhält und vor der Auflösung in ein anderes Aussagesystem schützt." (Frank 1983: 216) Aufgabe des Diskursanalytikers ist die empirische Rekonstruktion dieses Regelsystems; so kann die zunächst nur hypothetische Zugehörigkeit von Aussagen zu einem Diskurs nachgezeichnet werden. Bspw. lassen sich religiöse von rechtlichen, ökonomischen, politischen oder wissenschaftlichen Diskursen anhand der Rekonstruktion der Prinzipien unterscheiden, die den in ihnen tatsächlich formulierten Aussagen zugrunde liegen: "In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (... ) definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, daß man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat. (... ) Man wird Forrnationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Verteilung unterworfen sind (Gegenstände, Äußerungsmodalität, Begriffe, thematische Wahl). Die Formationsregeln sind Existenzbedingungen (... ) in einer gegebenen diskursiven Verteilung." (Foucault 1988a: 58) Foucaults Interesse an solchen Regelsystemen bezieht sich nicht auf die grammatikalischen Muster des Sprachgebrauchs, sondern einerseits auf die semantische Ebene der Bedeutungen bzw. genauer auf die Regeln der Bedeutungserzeugung und andererseits auf die institutionell eingebetteten, stabilisierten Praktiken der Diskursproduktion. Es geht um die Rekonstruktion der institutionell-praktischen, symbolisch-semantischen Verknappungsmechanismen, die zum Auftauchen spezifischer Aussagen an bestimmten Stellen fuhren. Nicht alles, was sich sagen ließe, wird gesagt; und nicht überall kann alles gesagt werden. Das jeweils gerade eine spezifische Art von Aussagen (enonces) und keine andere auftreten, lässt sich durch die erwähnten Regeln, die Foucault Formationsregeln nennt, erklären. Sie strukturieren, welche Aussagen überhaupt in einem bestimmten historischen Moment an einem bestimmten Ort erscheinen können. Solche diskursiven Formationen oder Diskursformationen beziehen sich im Sinne seiner wissenssoziologischen Perspektive nicht auf die gegenstandsangemessene Beschreibung außerdiskursiver Objekte, sondern sie stellen diese her: Archäologie ist "eine Aufgabe, die darin besteht, nicht - nicht mehr - die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen." (Foucault 1988a: 74) Bei der "Archäologie" handelt es sich summa summarum um das "Vorhaben einer reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse als Horizont für die Untersuchung der sich darin bildenden Einheiten. Diese Beschreibung kann man leicht von der Analyse der Sprache unterscheiden. Freilich kann man ein linguistisches System (...) nur feststellen, wenn man ein Korpus von Aussagen oder eine Sammlung von diskursiven Fakten benutzt; es handelt sich dann aber darum, ausgehend von der Menge, die den Wert einer Mustersammlung hat, Regeln zu definieren, die eventuell die Konstruktion anderer Aussagen als jener gestatten (...). Das Feld der diskursiven Ereignisse dagegen ist die stets endliche und zur Zeit begrenzte
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Diskurs: Wissen und Sprachgebrauch Menge von allein den linguistischen Sequenzen, die formuliert worden sind; sie können durchaus zahlreich sein, sie können durch ihre Masse jegliche Aufnahme-, Gedächtnis- oder Lesekapazität übersteigen: sie konstituieren dennoch eine endliche Menge. Die von der Sprachanalyse hinsichtlich eines beliebigen diskursiven Faktums gestellte Frage ist stets: gemäß welchen Regeln ist eine bestimmte Aussage konstruiert worden und folglich gemäß welchen Regeln könnten andere, ähnliche Aussagen konstruiert werden? Die Beschreibung der diskursiven Ereignisse stellt eine völlig andere Frage: wie kommt es, dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle? (...) es handelt sich darum, die Aussage in der Enge und Besonderheit ihres Ereignisses zu erfassen; die Bedingungen ihrer Existenz zu bestimmen, auf das Genaueste ihre Grenzen zu fixieren, ihre Korrelationen mit den anderen Aussagen aufzustellen, die mit ihm verbunden sein können, zu zeigen, welche anderen Formen der Äußerung sie ausschließt." (Foucault 1988a: 41 f)
Nach Foucault beschreibt die Archäologie Diskurse "als spezifizierte Praktiken im Element des Archivs" (Foucault 1988a: 190). Der Begriff "Archiv" bezeichnet hier also nicht das, was gängiger Weise darunter verstanden wird: einen Ort der Aufbewahrung fur Dokumente, die nach spezifischen Kriterien klassifiziert sind. Stattdessen handelt es sich um den Sammelbegriff fur die Gesamtheit der Regelstrukturen, die der Diskursproduktion einer abgrenzbaren historischen Epoche zugrunde liegen. Das Archiv ist "das allgemeine System der Formation und der Transformation der Aussagen" (ebd., 188) bzw. "das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht." (Foucault 1988a: 187) Foucault unterscheidet vier Grundmomente von Diskursen, die im Hinblick auf ihre Formationsregeln analysiert werden können (Foucault 1988a: 48ff): •
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Die Formation der Gegenstände eines Diskurses lässt sich durch eine Rekonstruktion der Regeln erfassen, nach denen die Gegenstände gebildet werden, von denen die Diskurse sprechen: Welche wissenschaftlichen Disziplinen sind daran wie beteiligt? WeIche Klassifikationsmuster kommen zum Einsatz? Die Formation der Außerungsmodalitäten verweist auf Fragen, wie etwa: Wer ist legitimer Sprecher bzw. von welchen institutionellen Orten und Subjektpositionen aus wird über einen Diskursgegenstand gesprochen? Wie hängen unterschiedliche Äußerungsformen - Statistik, Erzählung, Experiment u.a. - zusammen? Die Formation der Begriffe bezieht sich auf die Regeln, die den jeweiligen Aussagen zugrunde liegen: Wie werden bspw. Textelemente miteinander verbunden? Welche rhetorischen Schemata werden eingesetzt? Wie werden Argumente aufgebaut? Wie ist die Aussage in Gefuge anderer Text - bspw. durch die Zitierweise - verortet? Wie werden quantitative in qualitative Aussagen übersetzt? Die Formation der Strategien richtet sich auf die Außenbezüge eines Diskurses: Was sind die Themen und Theorien des Diskurses? Wie beziehen sie sich auf andere Diskurse? Inwieweit geben sie vor, bessere Problemlösungen zu sein als jene? Was ist die Funktion eines Diskurses in nicht-diskursiven Praktiken?
Am Beispiel der Formationsregeln wird deutlich, wie sich Foucault das Vorgehen der archäologischen Diskursanalyse vorstellt: als gründliche Analyse und Rekonstruktion unter-
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schiedlicher Ebenen der Hervorbringung, die einer Aussage zugeschrieben werden können. Auch zeigt sich - bspw. in den Hinweisen auf die institutionellen Orte, von denen aus gesprochen wird, auf Professionen wie den Arzt, der befugt ist, bestimmte Aussagen zu treffen usw. - dass Foucault keineswegs nur eine ,abgehobene' Ebene des Textes vor Augen hat. Vielmehr skizziert er mit der "Archäologie" ein umfassendes sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm, das nicht nur die Analyse von Aussagezusammenhängen, sondern auch institutionelle Settings, also verschiedenste Ebenen der gesellschaftliche Herstellung und Ordnung von Praktiken, Objekten, Menschen, Ideen, kurz, von Realitätszusammenhängen anvisiert: "Wenn im klinischen Diskurs der Arzt der Reihe nach der souveräne und direkte Fragesteller, das Auge, das betrachtet, der Finger, der berührt, das Organ der Entzifferung der Zeichen, der Punkt der Integration bereits vollzogener Beschreibungen, der Labortechniker ist, dann deshalb, weil ein ganzes Bündel von Beziehungen ins Spiel gebracht wird. Es sind Beziehungen zwischen dem Raum des Krankenhauses als dem gleichzeitigen Ort des Beistands, der gereinigten und systematischen Beobachtung und der Therapie, die teilweise erprobt, teilweise experimentell ist, und einer ganzen Gruppe von Wahrnehmungstechniken und Wahrnehmungscodes des menschlichen Körpers (...) Wenn man die klinische Medizin als Erneuerung der Gesichtspunkte, der Inhalte, der Formen und sogar des Stils der Beschreibung, der Benutzung von induktiven oder probabilistischen Überlegungen, der Bestimmungstypen der Kausalität, kurz als Erneuerung der Modalitäten der Äußerung betrachtet, so darf sie nicht als Resultat einer neuen Beobachtungstechnik aufgefasst werden (...) Sondern als das In-Beziehung-Setzen (innerhalb des ärztlichen Diskurses) einer bestimmen Zahl von unterschiedenen Elementen, von denen die einen den Status der Mediziner, andere den institutionellen und technischen Ort, von dem aus sie sprachen, andere ihre Position als wahrnehmende, beobachtende, beschreibende, unterrichtende Subjekte betrafen." (Foucault 1988a: 77f)
Bis heute existieren sehr unterschiedliche Interpretationen der methodischen Botschaft in Foucaults Texten der 1960er Jahre. Mitunter wird die "Archäologie" als reine Methodenkritik, als gescheitertes Unternehmen oder als radikale wissenschaftstheoretisch begründete Neuorientierung empirischen Forschens in den Sozial- und Geisteswissenschaft betrachtet. Entsprechend heterogen sind die Bemühungen, diese Vorgehensweise in empirische Forschung zu transformieren. Bspw. fordern KendalVWickham in direktem Anschluss an die archäologische und genealogische Perspektive Foucaults, eine adäquate Umsetzung müsse ihre Fragestellungen auf Kontingenzen statt auf Ursache-Wirkungs-Ketten richten, da ein historisches Ereignis niemals ein notwendiges, sondern nur ein mögliches Ergebnis einer Serie komplexer Beziehungen zwischen anderen Ereignissen sei. 213 Zu verzichten sei auf politische Argumente bzw. "second order judgements". Damit sind eingeführte Ursachen gemeint, die leicht fraglos übernommen werden, Z.B. das Wirken von Klasseninteressen oder die Unterstellung allgemeiner sozialer Strukturen, die hinter den Erscheinungen liegen und sie bestimmen. Das Vorgehen habe problem- oder themenorientiert, aber unbedingt nichtinterpretativ zu erfolgen. Es gehe um die Beschreibung beobachtbarer Regelmäßigkeiten, nicht um die Suche nach Tiefenstrukturen der Bedeutung. Die Konzentration auf Äußerun2IJ Kendall/Wickham (1999) geben eine ausführliche Einführung in Vorschläge und Vorgehensweisen der Archäologie und der Genealogie im Anschluss an Foucault, wobei sie Bezüge zur Ethnomethodologie, zu den Science Studies und den Cultural Studies betonen.
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gen trete an die Stelle derjenigen auf Autoren (Kendall/Wickham 1999: 5ff). Eine solche Archäologie verfolge sieben Ziele: (1) eine kartographische Beschreibung der Beziehungen zwischen dem Sagbaren und dem Sichtbaren, (2) die Analyse der Beziehungen zwischen Aussagen, (3) die Formulierung von Regeln für den Gebrauch von Aussagen, (4) die Analyse der Positionen zwischen Sprechern in Bezug auf die Aussagen, (5) die Beschreibung der ,Oberflächen der Emergenz' als den Orten, an denen Objekte bezeichnet und verhandelt werden, (6) die Beschreibung von Institutionen mit Autorität, die Grenzen rur die diskursiven Objekte definieren und (7) die Beschreibung der ,Formen der Spezifikation', d.h. der Art und Weise, wie bestimmte Phänomene verstanden und in Bezug zu anderen Phänomene gesetzt werden. In anderer Akzentuierung benennt der einflussreiche französische Diskursforscher Dominique Maingueneau (I 991) folgende Merkmale der archäologischen Diskursanalyse: •
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Die archäologische Diskursanalyse "untersucht erstens den Ort des Aussagens, das heißt den historisch, sozial und kulturell bestimmten Ausgangspunkt (nicht: Ursprung) einer Serie ähnlicher Aussagen. Es ist dies der Ort des legitimierten Sprechens, der Ort einer zumindest gewissen Institutionalisierung und damit der Ort der Macht. Dies ist auch der Platz, den ein Subjekt einnehmen muss, wenn es im Rahmen eines Diskurses etwas sagen will, das als wahr gelten soll (... ) Zweitens dokumentiert Diskursanalyse die Einschreibung, d.h. das Aussagen als Wiederholung ähnlicher Aussagen. Durch diese Gleichförmigkeit generieren miteinander verbundene Aussagen ein Ordnungsschema bzw. diskursive Regelmäßigkeiten, nach deren Muster die Aussagen im Feld dieses Diskurses generiert werden (...) Drittens fragt Diskursanalyse (...) nach den Grenzen und dem Interdiskurs, das heißt nach den Grenzziehungen, den Verboten des Sagbaren, und den Verbindungen und Vermittlungselementen zu anderen Diskursen (...) Viertens schließlich konstituieren diese genannten drei Elemente das Archiv, das heißt die in den Texten einer diskursiven Tradition gespeicherten und im Verhältnis zu allen denkbaren Sätzen über einen Gegenstand faktisch immer ,seltenen' Aussagemöglichkeiten, welche eine bestimmte aktuelle (Wieder-)Aussageweise legitimieren. Ein diskursives Archiv - das natürlich eine Konstruktion der Analyse ist - zu untersuchen, bedeutet, anhand einer Serie von Texten die wesentlichen Aussagen zu sichten und zu ordnen; auf der Basis dieses Archivs kann man dann inhaltliche Aussagen darüber machen, wie Diskurse die soziale Welt des Bezeichneten in ihrer historischen Spezifizität hervorbringen." (Zitiert nach Sarasin 200 I a: 61 f)
3.2.4 Diskursanalyse als Genealogie von Macht/Wissen-Regimen Die erwähnten exemplarischen Schlussfolgerungen darüber, welche Ratschläge zur Methode der Diskursforschung aus Foucaults Schriften abzuleiten seien, verlassen bereits die Perspektive der "Archäologie" und führen, wenn auch nur in Ansätzen, die Dimension historischer Prozesse ein und damit das, was Foucault als "Genealogie" bezeichnet. In seiner am Pariser College de France im Dezember 1970 gehaltenen Antrittsrede über "Die Ordnung des Diskurses", die in der Rezeptionsgeschichte meist als Übergangstext zwischen "archäologischer" und "genealogischer Phase" beurteilt wird, entfaltet Foucault den
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Gedanken, dass Diskurse mit Ermächtigungs- und Ausschlusskriterien verkoppelt sind. Dazu zählen etwa akademische Grade oder auch Rezensionsweisen. Diese Kriterien unterscheiden mögliche legitime Sprecher von nicht-legitimen Sprechern; sie konstituieren damit Subjekt-Positionen. Sowohl die Aussagen wie auch die Menge möglicher Sprecher sind unterschiedlichen Verknappungsprozessen unterworfen: Ritualen der Qualifikation, Kommentierungen, die den Stellenwert von Aussagen im Diskurs bewerten, Wahr-FalschUrteilen, die bewahrenswerte ,Ergebnisse' selektieren u.a. Unter dem Eindruck einer erneuten Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche beschreibt Foucault die menschliche Geschichte als Reihung kontingenter Weltinterpretationen, deren vorübergehende Stabilisierung als Resultat von, Verknappungen' in Machtkämpfen gelesen werden kann. Mit der im erwähnten Text allerdings nur angedeuteten Hinwendung zur Genealogie der Macht/Wissens-Komplexe reagiert Foucault (l974c) auf die in Kapitel 3.1.2.2 erwähnten Kritiken an der Ahistorizität und dem quasi-metaphysischen Strukturobjektivismus des Strukturalismus. Während die "Archäologie" Diskursanalyse als fotografischen Schnappschuss zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt entwarf, betont die genealogische Perspektive die prozessuale Seite von Diskursgefugen, Praktiken sowie die Bedeutung von Macht/Wissen-Komplexen. 214 Diskurse werden nun endgültig nicht mehr in das vergleichsweise strenge und starre strukturale Korsett ,diskursiver Formationen' gesteckt, sondern unter dem Eindruck der Rezeption angelsächsischer Sprachphilosophie - Foucault (2002c: 777) nennt Wittgenstein, Austin, Searle u. a. - sehr entschieden als Sprechakte und Sprachspiele, als strategisch-taktische Auseinandersetzungen und Kämpfe betrachtet. Foucault formuliert dieses Programm so: "Ich möchte nun zeigen, wie es möglich ist, dass soziale Praktiken Wissensbereiche erzeugen, die nicht nur neue Objekte, neue Konzepte, neue Techniken hervorbringen, sondern auch gänzlich neue Formen von Subjekten und Erkenntnissubjekten (...) Die Geschichte der Wissensgebiete in ihrem Verhältnis zu den sozialen Praktiken, aber ohne den Primat eines ein fur alle Mal vorgegebenen Erkenntnissubjekts bildet die erste Achse der Untersuchung, die ich Ihnen vorschlage. Die zweite Achse ist methodologischen Charakters, und man könnte sie als Diskursanalyse bezeichnen. Auch hier gibt es, wie mir scheint, eine noch junge, aber in den europäischen Universitäten bereits akzeptierte Tradition, die den Diskurs als ein Ensemble sprachlicher Tatsachen behandelt, die durch ein Wechselspiel syntaktischer Konstruktionsregeln miteinander verbunden sind. Vor einigen Jahren war es noch originell und wichtig, zu sagen und zu zeigen, dass alles, was man mit Sprache macht - Poesie, Literatur, Philosophie, der Diskurs im Allgemeinen - , bestimmten Gesetzen gehorche und gewisse innere Regelmäßigkeiten aufweise, bei denen es sich um die Gesetze und Regelmäßigkeiten der Sprache handle. Der linguistische Charakter der sprachlichen Tatsachen war zu seiner Zeit eine wichtige Entdeckung. Heute ist es aber an der Zeit, diese Diskursphänomene nicht mehr nur unter sprachlichem Aspekt zu betrachten, sondern - ich lasse mich hier von anglo-amerikanischen Forschungen anregen - als Spiele, als games, als strategische Spiele aus Handlungen und Reaktionen, Fragen und Antworten, Beherrschungsversuchen und Ausweichmanövern, das heißt als Kampf. Der Diskurs ist jenes regelmäßige Ensemble, das auf einer Ebene aus sprachlichen Phänomenen und
Allerdings unternimmt Foucault keinen zweiten, der "Archäologie" vergleichbaren Versuch einer systematisch-methodischen Grundlegung seiner Vorgehensweisen.
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Diskurs: Wissen und Sprachgebrauch auf einer anderen aus Polemik und Strategien besteht. Diese Analyse des Diskurses als strategisches und polemisches Spiel bildet die zweite Achse der Untersuchung." (Foucault 2002c: 670f)
Mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet Foucault nunmehr das Maßnahmenbündel, das Gefüge institutioneller Materialisierungen, das einen Diskurs trägt und in weltliche Konsequenzen umsetzt. 215 Dazu zählen Gesetze, architektonische Manifestationen wie der Gefangnisbau nach Jeremy Benthams Panoptikum, Redepraktiken wie die Beichte u.a. Praktiken, d.h. konventionalisierte bzw. institutionalisierte Verhaltens- und Handlungsmuster erhalten generell einen neuen Stellenwert. Dies gilt nicht nur für diskursive (im Sinne von sprachlichen) und nicht-diskursive Praktiken (wie bspw. symbolisch aufgeladene Gesten) innerhalb eines Dispositivs, sondern auch für die eigensinnigen tradierten Praktiken in institutionellen Settings bzw. gesellschaftlichen Praxisfelder, die für soziale Akteure einen spezifischen routinisierten Sinn besitzen, der oft gerade nicht mit den Erwartungen der Diskurse übereinstimmt. Es handelt sich dabei eher um eine neue (erneuerte) Akzentuierung als um ein völlig anderes Programm: An die Stelle der reinen Konzentration auf Aussagesysteme tritt die Untersuchung der Praktiken, mittels derer Diskurse Subjekte formen, aber auch die Betrachtung von Praktiken als einer relativ eigensinnigen Wirklichkeitsebene mit eigenen Dynamiken; es geht also um das Wechselspiel von Sichtbarem (Materialitäten) und Diskursen. In diesen Zusammenhang gehören die Untersuchungen von Überwachungs- und Strafpraktiken (Foucault 1977), Geständnispraktiken wie der Beichte (Foucault 1989a) oder Praktiken der Selbstdisziplinierung und der "Sorge um sich", die durch Ratgeber vermittelt werden (Foucault 1989b,c; 2004a).216 Von zentraler Bedeutung wird dabei ein spezifisches Verständnis von Macht sowie die Verbindung zwischen Macht und Wissen in "Wahrheitsspielen": "Unter Macht, scheint mir, ist zunächst zu verstehen: die Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt (... ) und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionellen Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern (...) Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt (... ) Die Machtbeziehungen verhalten sich zu anderen Typen von Verhält215 Der Begriff ,Dispositiv' ist im Französischen geläufig; er bezeichnet ein Ensemble von Maßnahmen (bspw. Gesetze, Verordnungen, behördliche Zuständigkeiten, materiale Objekte), das für einen spezifischen, bspw. politischen, ökonomischen oder technischen Zweck bereitgestellt wird. 216 Max Webers "Protestantische Ethik" (Weber 1978) ist mit dem Konzept der methodischen Lebensführung und der Analyse einschlägiger Verhaltensratgeber von einem solchen Ansatz nicht weit entfernt. Dies sieht auch Foucault, wenn er seine Forschungsinteressen in Bezug auf Weber verortet: "Max Weber hat gefragt: Wenn man sich rational verhalten und das eigene Handeln an Prinzipien der Wahrheit ausrichten möchte, auf welchen Teil des Selbst muß man dann verzichten? Worin besteht der asketische Preis der Vernunft? Welcher Art von Askese sollte man sich zuwenden? Ich habe die gegenteilige Frage gestellt: Was muß man über sich selbst wissen, wenn man bereit sein soll, auf irgendetwas zu verzichten?" (1993a: 25). Auf die Frage nach seinem Interesse an der Praxis der Selbstbildung des Subjekts antwortet er: "Man könnte das eine asketische Praxis nennen, wenn man der Askese eine sehr allgemeine Bedeutung gibt, also nicht die einer Moral des Verzichts, sondern die eines Einflusses des Selbst auf sich selbst, womit man versucht, sich herauszuarbeiten, sich zu transformieren und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang zu finden. Ich benutze hier Askese in einem umfassenderen Sinn als z.B. Max Weber; aber das liegt trotzdem noch auf derselben Linie." (Foucault 1993: 10).
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nissen (ökonomischen Prozessen, Erkenntnisrelationen, sexuelle Beziehungen) nicht als etwas Äußeres, sondern sind ihnen immanent." (Foucault 1989a: 113ff)217 , Wahrheit' ist demnach keineswegs eine ,richtige' Abbildung von Realität und niemals eine substanzielle Qualität von Aussagen, sondern ein historisch kontingentes Ergebnis von Wissenspolitiken. Foucault formuliert dies in einigen Passagen, die an das Konzept des "ideologischen Staatsapparates" erinnern, das sein Freund und Lehrer Louis Althusser (1977 [1970]) formuliert hat (vgl. Kapitel 3.3.1), von dessen marxistischer Haltung er sich gleichwohl entschieden absetzt: "Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser Welt wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ,allgemeine Politik' der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht. In Gesellschaften wie der unseren kann die 'politische Ökonomie' der Wahrheit durch fünf historisch bedeutsame Merkmale charakterisiert werden: die Wahrheit ist um die Form des wissenschaftlichen Diskurses und die Institutionen, die ihn produzieren, zentriert; sie ist ständigen ökonomischen und politischen Anforderungen ausgesetzt (Wahrheitsbedürfnis sowohl der ökonomischen Produktion als auch der politischen Macht); sie unterliegt in den verschiedensten Formen enormer Verbreitung und Konsumtion (sie zirkuliert in Erziehungs- und Informationsapparaten, die sich trotz einiger strenger Einschränkungen relativ weit über den sozialen Körper ausdehnen); sie wird unter der zwar nicht ausschließlichen, aber doch überwiegenden Kontrolle einiger weniger großer politischer oder ökonomischer Apparate (Universität, Armee, Presse, Massenmedien) produziert und verteilt; schließlich ist sie Einsatz zahlreicher politischer Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Konfrontationen (, ideologischer Kämpfe')." (Foucault 1978: 51) Die Genealogie der Macht-Wissens-Komplexe wird dadurch zu einer Geschichte der Wahrheit, d.h. der Sprachspiele, die sich durch die Referenz auf, Wahrheit' zu legitimieren versuchen: "Nicht zu einer Geschichte dessen, was es Wahres in den Erkenntnissen geben mag, sondern zu einer Analyse der, Wahrheitsspiele', der Spiele des Wahren und des Falschen, in denen sich das Sein historisch als Erfahrung konstituiert, das heißt als eines, das gedacht werden kann und muß. Anhand welcher Wahrheitsspiele gibt sich der Mensch sein eigenes Sein zu denken, wenn er sich als Irren wahrnimmt, wenn er sich als Kranken betrachtet, wenn er sich als lebendes, sprechendes und arbeitendes Wesen reflektiert, wenn er sich als Kriminellen beurteilt und bestraft?" (Foucault 1989b: 13) Eine solche Genealogie müsse jedoch, so fordert Foucault, die Fallstricke der Suche nach dem einen und letzten "Ursprung", also nach dem ,Urgrund' oder ,Wesen' eines gesellschaftlichen Phänomens vermeiden. Sie ziele etwa nicht auf den "Grund" der Religion, wohl aber auf historisch bestimmbare und abgrenzbare Erscheinungsformen, ihre, wie Foucault (ebd.: 88ft) es nennt, "Entstehung" oder "Herkunft", also das, was sich im empi-
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Vgl. auch Foucault (1976,1978; 1992, 1996, 1999).
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risch-geschichtswissenschaftlichen Zugriff erfassen lasse. Es gehe auch nicht um die Suche nach linearen Entwicklungsverläufen, sondern um die historisch exakte Rekonstruktion der "Eirunaligkeit der Ereignisse" in ihrem sukzessiven Erscheinen, in ihren verschiedenen Szenen (Foucault 1974c: 83). In all seinen materialen Analysen, dann aber vor allem in seinen Untersuchungen über den Zusammenhang von "Sexualität und Wahrheit" (Foucault 1989a,b,c) beschäftigte sich Foucault mit den Auswirkungen von Macht/Wissen-Komplexen auf die Sinnzuschreibungen, die Körper und die Praktiken menschlicher Subjekte. Spivak (1996) erinnert in diesem Zusammenhang an die bereits erwähnten französischen Bedeutungshorizonte von pouvoir/savoir, die nicht nur Macht/Wissen bezeichnen, sondern auch ,Können' im Sinne einer Fähigkeit des materialen Handlungsvermögens (pouvoir faire) und ,Können' im Sinne eines durch (praktisches) Wissen erworbenen Handlungsvermögens (savoir faire), einer Kompetenz. Macht/Wissen bedeutet, dass sich das Handlungsvermögen durch Bedeutungszuweisung konstituiert. Die spezifische Sinnattribution zu einem Phänomen strukturiert, begrenzt und ermöglicht zugleich die Formen des Umgangs damit. "Pouvoir-savoir" bezeichnet die Fähigkeit, handeln zu können, sofern man auch Sinn zuschreiben kann (Spivak 1996: 151): "Ein Beispiel für diese Verknüpfung von Verhaltensweisen, Interpretationen der Akteure und kollektiven Wissensordnungen sind die von Foucault in Die Sorge um sich ausführlich analysierten Praktiken der Gesundheitspflege des Körpers in der spätantiken Gesellschaft. Diese nichtdiskursiven - Praktiken stellen sich auf einer ersten Ebene als beobachtbare körperliche Verhaltensweisen dar, die einen ,pfleglichen' und gesundheitsbewußten Umgang mit dem eigenen Körper betreffen. Diese Verhaltensweisen verstehen sich jedoch keineswegs von selbst; ihre Produktion setzt vielmehr eine bestimmte übersubjektiv existierende Wissensformation voraus, die in allgemeiner Weise festlegt, daß der Körper ein Gegenstand der individuellen ,Sorge' ist, ein prekäres Phänomen, das es kontinuierlich zu beschützen gilt. Dieser allgemeine Körpercode bildet den Hintergrund für ganz unterschiedliche Verhaltensweisen, die jedoch allesamt nicht verständlich und erklärbar wären, wenn sie sich nicht als ein Ergebnis eines allgemein geteilten Deutungsmusters darstellten (...) Entscheidend für das Verständnis von ,Praktiken' in der handlungstheoretischen Wissensanalyse des späten Foucault ist, daß der fragliche Wissenscode nicht auf der Ebene sich selbst reproduzierender Diskurse zu verorten ist, sondern als inkorporiert in den Akteuren erscheint, die die Praktiken hervorbringen und ihre Handlungsumwelt einschließlich sich selbst fortwährend interpretieren." (Reckwitz 2000: 298f) In seinen am College de France gehaltenen Vorlesungen verknüpft Foucault in den Jahren 1977/1978 die Perspektive der Genealogie von Macht/Wissen-Regimen mit dem Konzept der Gouvernementalität (Foucault 2004b,c). Mit dem Begriff der "Regierung" im alten Sinne von ,gouverner' (regieren/fuhren; Z.B. auch bei ,Gouvernante') geht es um die ,Führung' der anderen und auch des eigenen Selbst in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten. An Texten aus dem 16. Jahrhundert spürt Foucault dieser ursprünglichen Bedeutung nach. Verschiedenste Autoren, "die sich mit der Kunst des Regierens befassen, (erinnern) regelmäßig daran, daß man in gleicher Weise davon sprechen kann, ein Haus, Kinder, Seelen, eine Provinz, ein Kloster, einen religiösen Orden und eine Familie zu regieren (... ) Regieren tun (...) viele: der Familienvater, der Superior eines Klosters, der Erzieher und der Lehrer im Verhältnis zum Kind oder Schüler, und daran sieht man, daß der Regent und die Praktik des Regierens zum einen einem Feld mannig-
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faltiger Praktiken angehören. Deshalb gibt es auch viele Regierungen, und die des Fürsten, der seinen Staat regiert, ist nur eine Unterart davon. Alle diese Regierungen sind zum anderen der Gesellschaft selbst oder dem Staat innerlich (... ) So gibt es zugleich Pluralität der Regierungsformen und Immanenz der Regierungspraktiken im Verhältnis zum Staat, bestehen zugleich Mannigfaltigkeit und Immanenz dieser Aktivitäten (... )." (Foucault 2000: 46f)
In den von Foucault untersuchten Schriften über die ,Kunst des Regierens' wird immer wieder die Metapher der Schiffslenkung benutzt, um zu verdeutlichen, worauf sich ,gouverner' bezieht: Es geht um die Übernahme von Verantwortung für Dinge und Menschen, um die Anleitung der ,Geführten', sowie ihre Beobachtung und diejenige von Kontext (Wind, Klippen, Wellen) und Zusammenhang des ReiseverIaufs vom Start bis zum Ziel. Dies gelte gleichermaßen für die ,Führung einer Familie', eines Landes oder letzten Endes ,seiner selbst'. Foucault benennt mit dieser Erkundung der Geschichte des Regierens zugleich den Zusammenhang seines damaligen Arbeitsprogramms: "Das, was ich jetzt tun würde, könnte man eine ,Geschichte der Gouvernementalität' nennen. Mit diesem Wort ,Gouvernementalität' ist dreierlei gemeint. Unter Gouvernementalität verstehe ich die Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und Taktiken, die es gestatten, diese recht spezifische und doch komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat. Zweitens verstehe ich unter ,Gouvernementalität' die Tendenz oder die Kraftlinie, die im gesamten Abendland unablässig und seit sehr langer Zeit zur Vorrangstellung dieses Machttypus, den man als ,Regierung' bezeichnen kann, gegenüber allen anderen - Souveränität, Disziplin - gefUhrt und die Entwicklung einer ganzen Reihe spezifischer Regierungsapparate einerseits und einer ganzen Reihe von Wissensformen andererseits zur Folge gehabt hat. Schließlich glaube ich, daß man unter Gouvernmentalität den Vorgang oder eher das Ergebnis des Vorgangs verstehen sollte, durch den der Gerechtigkeitsstaat des Mittelalters, der im 15. und 16. Jahrhundert zum Verwaltungsstaat geworden ist, sich Schritt fUr Schritt ,gouvernmentalisiert' hat." (Foucault 2000: 64f)
Der Begriff der Gouvernementalität kann als konzeptuelle Umsetzung der entwickelten Vorstellung des Macht/Wissen-Konnexes verstanden werden. Foucault präzisiert damit seine gegenwartsbezogenen inhaltlichen Forschungsinteressen. 218 Es geht immer gleichzeitig um ein diskursives Feld der Repräsentation (und Rationalisierung) von Macht und um die durch unterschiedlichste Weisen der Führung ausgeübte Intervention in das Selbstverständnis der Individuen, der Führenden ebenso wie der Geführten. 219 Damit trifft Foucault eine Unterscheidung zwischen Machtbeziehungen als "strategischen Spielen zwischen Freiheiten" und Herrschafiszuständen oder -relationen, die durch eine feste Asymmetrie der ,Führungsverhältnisse' bestimmt sind und dem alltagssprachlichen - und WeberschenMachtbegriff entsprechen (Hindess 1998: 65ft). ,Herrschaft' ist die konkret beschreibbare Strukturierung des Führungs-Verhältnisses als der - bezogen auf diese Beziehung - FühDer allgemeine Begriff der Gouvernementalität umfasst dann spezifischere Konzepte wie dasjenige der BioMacht, von der insbesondere im ersten Band von "Sexualität und Wahrheit" die Rede ist. Vgl. dazu Foucault (2004b: 134ft) und ebd. die "Situierung der Vorlesungen" durch Michel Sennelart (insbes. S. 482ft). 219 "Insgesamt ging es Foucault in seiner Geschichte der Gouvernementalität um den Nachweis einer KoFormierung von modernem souveränen Staat und modernem autonomen Subjekt." (Lemke 2000: 33) 218
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rung letztlich ,unfreier' Anderer. Foucault differenziert zwischen Herrschaftstechniken und Selbsttechniken des ,Regierens' . Während erstere sich auf die Führung (und Unterwerfung) anderer beziehen, fokussieren letztere die von den Subjekten in Bezug auf das eigene Selbst verfolgten Führungsformen. Die kurz vor seinem Tod erscheinenden Studien über Sexualität und Wahrheit (Foucault 1989b,c) können als Analyse spezifischer Entwicklungsformen der Gouvernementalität - hier bezogen auf das individuelle Selbst - gelesen werden. Neben die Analyse der Unterwerfung des Subjekts durch die gesellschaftlichen Normalisierungsdispositive von Vernunft vs. Wahnsinn, Gesundheit vs. Krankheit oder des wahren vs. falschen Sexus tritt hier die Untersuchung eines positiv konnotierten Selbstbezugs in der "Hermeneutik des Subjekts", von Techniken bzw. "Technologien des Selbst" (FoucaultJMartinJMartin 1993) im Dienste des Subjekts und seiner Selbst-Verwirklichung (Foucault 2004a) auch gegen Fremd-Herrschaft. Freilich geht es auch hier keineswegs um eine ahistorische Subjektkonzeption, sondern um die notwendig historisch kontingenten, in Diskursen und Praktiken manifesten Weisen der Selbsterfahrung und der Subjektkonstitution: "Ich will folgendes sagen: Nehmen wir die Frage der Macht, der politischen Macht, und stellen sie in den allgemeineren Zusammenhang der Frage der Gouvernementalität (... ) verstanden als ein strategisches Feld von Machtverhältnissen in einem allgemeinen und nicht nur politischen Sinn, als ein strategisches Feld beweglicher, veränderbarer, reversibler Machtverhältnisse, dann glaube ich, daß das Nachdenken über den Begriff der Gouvernementalität theoretisch und praktisch nicht um ein Subjekt herumkommt, das sich durch seine Beziehung zu sich selbst definiert. (... ) so scheint mir, daß der Analyse der Gouvernementalität (... ) eine Ethik zugrunde liegen muß, die durch die Beziehung seiner selbst zu sich definiert ist. Und das heißt ganz einfach, daß im Rahmen des Analysetyps, den ich Ihnen seit geraumer Zeit hier darzulegen versuche, Machtverhältnisse / Gouvemementalität / Regierung-seiner-selbst-und-der-anderen / Beziehungseiner-selbst-zu-sich, daß all das eine Kette, ein Raster, bildet und daß die Frage der Politik und die Frage der Ethik um diese Begriffe herum anzusiedeln sind." (Foucault 2004a: 3 I 30
Gouvernementalität wird zum Schlüsselkonzept der Governrnentality Studies, einer Neuorientierung der an Foucault anschließenden Machtanalyse. 220
3.2.5 Foucault vergessen?22! Foucault hat durch seine materialen Untersuchungen und durch seine theoretischkonzeptionellen Vorschläge in unterschiedlichsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen ein enormes Anregungspotenzial entfaltet. Daraus resultierte freilich kein theoVgl. LemkelKrasmannlBröckling (2000: 8), Lemke (1997: 31). Siehe auch die übrigen Beiträge in BröcklinglKrasmannlLemke (2000) sowie Dean (1999), Burchell/GordonlMiller (1991) und Lemke (2000). Die Gouvernementalitätsforschung hat sich insbesondere des neoliberalen Diskurses seit Ende der I 970er Jahre angenommen und verfolgt, wie einerseits gesellschaftliche Institutionen (Wirtschaftsorganisationen, Verwaltung, Bildung u.a.m.) nach Maßgabe dieses Diskurses restrukturiert werden, und wie sich gleichzeitig eine neue Variante der Technologien des Selbst verbreitet, die mit den Begriffen des Selbst-Managements, der Ich-AG u.a. operiert. 221 Jean Baudrillard hat 1977 ein kleines Buch mit dem fordernden Titel "Oublier Foucault" (,Foucault vergessen') veröffentlicht, in dem er Foucault vorwirft, selbst von den Orten der Macht aus zu sprechen, die er doch kritisiere (Baudrillard 1978). 220
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retisch-methodisch konsistent entwickelter Vorschlag zur Durchführung von Diskursanalysen, weder bei Foucault selbst noch bei den vielen Arbeiten, die sich auf ,seine Methode' berufen. Gegen sein Werk wurden zudem unzählige Detail- und Allgemeineinwände vorgebracht, die sich auf Ergebnisse, Datengrundlagen, Vorgehensweisen sowie allgemeine theoretische und epistemologische Grundannahmen richteten. 222 Dazu zählen Hinweise auf begriffliche Inkonsistenzen, stilistische Eigenwilligkeiten, überzogene Vereinseitigungen anderer Positionen, eine unzureichende methodologische Selbstreflexion u.a. In einer groben Sortierung können philosophische Einwände von soziologischen Kritiken unterschieden werden. Erstere zielen auf die Konsistenz der wissenschaftstheoretischen Grundhaltung und auf die damit verbundenen Erkenntnisinteressen, letztere beziehen sich überwiegend auf Fragen der systematischeren Einbindung sozialer Akteure und auf methodischempirische Umsetzungen. 223 Vor allem sozialphilosophische Einwände aus dem Kontext der Kritischen Theorie haben darauf insistiert, Foucault könne seinen eigenen Standort nicht hinreichend ausweisen. So diagnostizierte Jürgen Habermas in einem für die deutschsprachige Foucaultrezeption einflussreichen Text einen performativen Widerspruch bei Foucault, da er die "Werkzeuge der Vernunft" für die "Kritik der Vernunft" einsetze und nicht genügend auf die Grundlagen der eigenen Position reflektiere. Auch weise seine Machttheorie Aporien auf: Der Wille zur Wahrheit werde als universaler für alle möglichen Gesellschaften gesetzt; das widerspreche allerdings den Kontingenzannahmen der Theorie selbst. Foucault betreibe eine paradoxe Verbindung von kritischem Anspruch und positivistischer Einstellung: Einmal werde Macht empirisch analysiert, dann gelte sie als Konstitutionsbedingung für wissenschaftliches Wissen und damit auch für sein eigenes Arbeiten. Die Problematik der Rechtfertigung von Kritik werde zugunsten ,wertfrei-positivistischer' Erklärung ausgeblendet. Er habe kein Verständnis für die Individuierungseffekte der Vergesellschaftung, die doch schon Durkheim als ,institutionalisierten Individualismus' begreife. So vereinfache Foucault den komplexen Prozess der fortschreitenden Problematisierung der inneren Natur des Menschen zu einer linear verlaufenden Geschichte, die Individuen nur als gestanzte Einzelfälle erkenne (Habermas 1985: 313ft).224 Auch Axel Honneth (1985: 121ft) wies auf die Aporien einer ,totalisierenden' Vernunftkritik im Werk Foucaults hin. Foucault könne zudem nicht erklären, wie aus dem sozialen Zustand eines ununterbrochenen Kampfes ein vorübergehend stabilisiertes Machtgefüge entstehe. Bei der "Archäologie des Wissens" handle es sich um den Versuch einer Ethnologie auf dem Gebiet der Ideengeschichte, die nicht überzeugend ausweisen könne, was ihre Perspektive ,von außen' sei. Die Foucaultsche Machttheorie formuliere eine systemtheoretische Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung, die nur noch die geschichtliche 222 Vgl. die Auseinandersetzungen bei Kammler (1986), Dreyfus/Rabinow (1987), Gutting (1989, 1994), Smart (2002), Eribon (1991), Dosse (1996, 1997), Reckwitz (1999), Honneth (1990) oder die Zusammenfassung vieler Einwände bei Schäfer (1995: 103ff) sowie Lemke (1997: 13ft). Auf die geschichtswissenschaftlichen Kritiken an seinen materialen Arbeiten gehe ich hier nicht ein. 223 Vgl. dazu bspw. die von Michel de Certeau (1988: 105ft) problematisierten methodischen Stilisierungen, die Foucault vornehmen muss, um die Konturen der von ihm behaupteten geschichtlichen Entwicklungen der Diskurse, Dispositive und Praktiken deutlich werden zu lassen. Ein weiterer Bereich von Kritiken betrifft die Genauigkeit und ,Passung', den geschichtlichen Status der empirischen Materialien, auf die sich Foucault bezieht, einschließlich seiner daraus abgeleiteten Aussagen. 224 An diese Kritik schi ießen bspw. Seyla Benhabib oder Nancy Fraser (1994) an, auch wenn sich letztere insgesamt um eine positivere Würdigung Foucaults bemüht.
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Steigerung des Machtsystems beschreibe. Manfred Frank schließlich verdeutlichte allgemeine Mängel der Explizierung der Methode innerhalb des Foucaultschen Ansatzes. Die Betonung der Diskontinuität historischer Abfolgen der Episteme impliziere eine überzogene Anerkennung des Faktischen; die dem Verfahren innewohnende kritische ethische Haltung fmde in sich keine Rechtfertigung; Foucault täusche sich darüber selbst, weil er seine Interpretationen der historischen Konfigurationen für objektive Eigenschaften der Sachen selbst halte und nicht erkenne, dass die behauptete Positivität der Diskursformationen nur der ins Objektive produzierte Niederschlag seines Interpretationsprozesses sei (Frank 1983: 148f). Lemke (1997) wiederum wirft pauschalisierend all diesen Kritiken von Habermas, Honneth, Frank u.a. vor, sie beruhten auf verzerrten Lektüren des Foucaultschen Werkes. Demgegenüber hat Thomas Schäfer (1995) eine überzeugende Gegenargumentation vorgelegt, die sich bspw. auf Foucaults Selbstdarstellung (Florence 1984) und seine Diskussion der eigenen Position in dem Essay über Kant stützt (Foucault 1990). Dort wird die Konsistenz und Kohärenz der Kritischen Ontologie der Gegenwart bzw. der Ethnologie der eigenen Kultur im Rahmen einer werkimmanenten Interpretation entfaltet,225 Gleichzeitig verdeutlicht Schäfer die Unvereinbarkeit der erkenntnistheoretischen Positionen von Foucault mit denjenigen anderer philosophischer Programme, insbesondere mit derjenigen der Kritischen Theorie von Habermas u.a. In der Bilanz dieser Auseinandersetzung lässt sich festhalten, dass die von Habermas u.a. behaupteten Selbstwidersprüche und Unzulänglichkeiten der Position Foucaults nur vor dem Hintergrund der jeweils zugrunde gelegten differierenden erkenntnistheoretischen Prämissen als solche erscheinen. Sie messen also ein anderes Programm mit eigenen Maßstäben und leiten daraus ein ,ungenügend' ab, ohne die interne Konsistenz der Position tatsächlich zu untersuchen. Aus soziologischer Perspektive fasst Fox (1998) mehrere Vorbehalte gegen die Möglichkeiten einer soziologischen, Vereinnahmung' von Foucault zusammen. 226 Diese beziehen sich einerseits auf das durch Foucault in den Schriften der 1960er Jahre mitunter nahegelegte ,metaphysische' Verständnis von Diskursen, das diese als abstrakte Einheiten ohne Produzenten, als anonymen Ausdruck von Macht/Wissenskomplexen begreife und sich nur schwerlich mit soziologischen Verständnissen von menschlicher Handlungsfahigkeit (agency) vereinbaren lasse. Foucault habe es nicht geschafft, das sozialwissenschaftliche Grundproblem der Verknüpfung von Struktur und Handlungsfahigkeit (structure/agency) zu lösen. Seine erkenntnistheoretische Position, die sich auf Verfremdung, die Möglichkeit eines ,Blickes von außen' auf die eigene Kultur, auf Diskontinuitäten, Brüche, den Verzicht auf Zusammenhangsinterpretationen ausrichte, sei, bei aller Anregung, die von seinem Werk ausgehe, letztlich für soziologische Fragestellungen unbrauchbar. 227 Erst das Eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Argumentation von Schäfer würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. 226 Vgl. auch die Eingangs in Kapitel 3.2.1 erwähnten Zitate von Seyla Benhabib oder Jean Amery. 227 Dass nicht nur Gegner, sondern auch Anhänger Foucaults zu Übertreibungen neigen, verdeutlicht exemplarisch ein Plädoyer fur die Gouvernementalitäts-Perspektive von Krasmann (2002: 79f), das Klischees bedient und sich gegen jede Form des "soziologischen Realismus" wendet, der dem Gegenstand "allgemeine Prinzipien" aufzwinge, sich um Erklärung und Kausalität bemühe, um Ursachen, zugrunde liegende Prinzipien usw. Dies alles habe Foucault zu Recht hinter sich gelassen. Statt dessen gehe es um die Beantwortung folgender Fragen: "Unter weichen historisch-pol itischen und lokal-spezifischen Bedingungen konnten sich bestimmte Praktiken durchsetzen und sich als gängige Praktiken akzeptabel machen; wie konnten bestimmte Ordnungen gerade nicht zufallig zu 225
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Konzept der Gouvernementalität formuliere einen aktiveren Part des Subjekts und rücke Foucault sogar in die Nähe der Phänomenologie. Damit falle er jedoch vom Problem des Diskurs-Determinismus in die Verabsolutierung der Freiheit des Subjekts: "Govemmentality seems to offer such a degree of autonomy to the individual that it effectively shifts the balance from Foucault's earlier determinism concerning the 'rules' which determine which practices become discursive, to a relatively autonomous subjectivity. In a sociological context, the position might end up looking much like a phenomenological account." (Fox 1998: 426)
Foucault wird auch vorgeworfen, in seiner Konzeption der Disziplinarmacht die ,Eigenmächtigkeit', Widerstandskraft und List der Individuen/Subjekte gegenüber den Zumutungen der Macht/Wissen-Regime zu vernachlässigen. Giddens bspw. stellt deswegen Goffmans Analysen solcher Potenziale bei der Untersuchung totaler Institutionen der Foucaultsehen Perspektive als Korrektiv gegenüber (Giddens 1992). Selbstkritisch verweist Lemke (1997) darauf, die an Foucault anschließenden Govemmentality Studies hätten kein angemessenes Verständnis der Vielfalt sozialer Kämpfe entwickelt. Vielmehr benutzten sie einen homogenisierten Herrschaftsbegriff, der Widerstände nur als Hindernisse und Ursachen für das Scheitern von Programmen ausmache, ohne ihre konstitutive Rolle in den Blick zu nehmen. 228 Chalaby (1996) kritisiert, Foucault bleibe einem Textparadigma verhaftet, das die sozialen Bedingungen der Textstrukturierung nicht in den Blick nehmen könne. Er plädiert deswegen für einen Anschluss der Diskurstheorie an die Theorie von Bourdieu, die geeignet erscheine, Texte als Produkte sozialer Felder zu begreifen und erst dadurch einer soziologischen Analyse zugänglich zu machen. 229 Auch von anderen Autoren wird der Rekurs auf Bourdieu eingefordert, um die sozialen Bedingungen der Kommunikationssituation in den Blick zu nehmen, Sprachgebrauch als Bestandteil sozialer Kämpfe um symbolische Macht u.a. zu analysieren. 23o Zutreffend sind diese aus soziologischer Perspektive autonomen Systemen des Denkens werden?" (ebd.: 80) Wie jedoch solche Fragen ohne ,soziologischen Realismus' und Erklärungshypothesen beantwortet werden sollen, wird nicht weiter ausgeführt. 228 Foucault sieht diese ,andere Seite' durchaus, wie seine Äußerungen und nicht zuletzt auch sein politisches Engagement verdeutlichen (Eribon 1991; Foucault 2002; Dreyfus/Rabinow 1987), obwohl sie in seinen Arbeiten kaum zum Thema wird. 229 Goldstein (1984) betont umgekehrt die Überlegenheit des Foucaultschen Disziplinarkonzepts gegenüber den Begriffen der soziologischen Professionstheorie. 230 Dies ist jedoch dann problematisch, wenn der weiter oben in Kapitel 2.2 erläuterte Herrschafts-Reduktionismus der Bourdieuschen Theorie ebenfalls übernommen wird. Roger Chartier hat schon vor einiger Zeit die Foucaultsehe Diskurstheorie durch Bezüge auf Bourdieu, Durkheim und Mauss soziologisiert: "Dieses Buch (... ) will in erster Linie aufweisen, wie zu verschiedenen Zeiten und Orten eine gesellschaftliche Realität faßbar, denkbar, lesbar geworden ist. Das läßt sich nur in mehreren Schritten machen. Im ersten geht es um die Klassifizierungen, Einteilungen und Abtrennungen, die der Erkenntnis der sozialen Welt als kategoriale Formen der Anschauung und Beurteilung des Realen zugrunde liegen. Sie beruhen auf den festen, der jeweiligen Gruppe eigenen Dispositionen und variieren je nach sozialer Schicht oder intellektuellem Milieu. Diese einverleibten intellektuellen Schemata erzeugen jene Figurationen, kraft derer die Gegenwart Sinn annehmen, der Andere verstehbar und der Raum erkennbar werden kann. (...) Daher heißt es in jedem Fall, die Reden in Beziehung zu setzen zur Stellung dessen, der sie hält. (... ) Meine Arbeit (... ) zielt auf die Art und Weise, wie Eliten - übrigens ganz verschiedener Art: Kirchenleute, Staatsdiener, aufgeklärte Notabeln, Sozialwissenschaftier - ein Stück der Wirklichkeit, in der sie lebten, verstanden und zu verstehen gaben. (...) Die Repräsentationen, von denen hier die Rede ist, stehen immer schon in Konkurrenz- und Wettbewerbssituationen, bei denen es um Macht und Herrschaft geht. Die Kämpfe im Bereich der Repräsentationen sind nicht minder wichtig als die ökonomischen Kämpfe, wenn man die Mechanismen verstehen will, durch die eine Gruppe ihre Sicht der sozialen Welt, ihre Werte und ihre Herrschaft durchsetzt
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formulierten Kritiken in zwei Punkten: Zum einen hat Foucault keine überzeugende Konzeption des Zusammenhangs von einzelnem diskursiven Ereignis und Gesamtstruktur eines Diskurses vorgelegt. Dem von ihm vorgenommenen Schluss von den beobachtbaren und beschreibbaren Regelmäßigkeiten diskursiver Praktiken auf einen zugrunde liegenden Code bzw. die Strukturen einer diskursiven Formation fehlt ein Kriterium rur die Unterscheidung zwischen der Regelmäßigkeit als einem zufälligen Ergebnis kontingenter Bedingungen - wie bei einem Zug, der regelmäßig verspätet eintrifft - oder als einem Resultat der Anleitung durch und Befolgung von Regeln durch Akteure, welche die (relative) Wiederholung und Stabilisierung solcher Praktiken leisten. 231 Die Erwähnung des Problems der Regelbefolgung verweist auf den zweiten Mangel, der die Foucaultsche Theorie an dieser Stelle kennzeichnet: Der skizzierte Zusammenhang lässt sich nämlich erst dann begreifen, wenn die Kategorie der sozialen Akteure eingeführt wird, die sich interpretierend aufsoziale Konventionen und Institutionalisierungen diskursiver Praktiken beziehen. Erst dadurch wird deutlich, dass nicht ein Diskurs sich selbst vollzieht, sondern dass er im praktischen Handeln sozialer Akteure produziert, reproduziert und transformiert wird. Wenn die zuletzt erwähnten Punkte hier als zentrale Defizite der Foucaultschen Diskurstheorie benannt werden, so ist damit keineswegs eine komplette Ablehnung des gesamten Foucaultschen Programms verbunden. Vielmehr geht es jenseits völliger Zurückweisung einerseits und unkritischer Akklamation andererseits um die differenzierte Betrachtung von wichtigen Erträgen und Leerstellen des Foucaultschen Theorieangebotes. Genau dies ist ja die Voraussetzung nützlicher Weiterftihrungen seiner Perspektive. Mit dem Verblassen der philosophischen und soziologischen Theoriegefechte seit Ende der 1980er Jahre hat die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Foucaults einen gemäßigteren Ton angeschlagen. Dies kommt nicht nur in der auf die Kritik folgende Würdigung des Werkes von Foucault durch Habermas selbst zum Ausdruck, sondern auch in einem neuen Stil der Debatten, der es vermeidet, totalisierende Pro- und Contra-Positionen aufzubauen und statt dessen stärker nach der analytischen Leistung und den Amegungspotenzialen einzelner Konzepte fragt. Denn ebenso wenig wie eine totalisierende Kritik zu überzeugen vermochte, gilt dies fur eine überzogene Gegen-Stilisierung des, wahren Foucault', über dessen legitime Interpretation ein Zirkel der Eingeweihten wacht. 232 Angemessener erscheint deswegen eine Rezeptionsweise, die sich von dem Foucaultschen Werk anregen lässt, ohne selbst übertrieben ,diskursdisziplinarisch' gegen ihn - oder seine Gegner - vorzugehen. Gutting fasst eine solche Haltung zusammen:
oder durchzusetzen sucht. Wer sich mit den Klassifizierungs- und Auslegungskontlikten befaßt, entfernt sich nicht, wie eine kurzsichtige Geschichtsschreibung lange Zeit meinte, vom Sozialen, sondern kann, ganz im Gegenteil, Kampfzonen ausmachen, die um so entscheidender sind als sie materiell weniger greifbar sind." (Chartier 1992: 11 f). Auf eine Vermittlung der Ansätze von Bourdieu und Foucault zielen auch Diaz-Bone (2002) oder Holzscheiter (2003). Im Unterschied zu den vorgeschlagenen ,Soziologisierungen' der Foucaultschen Theorie durch den Rekurs auf Bourdieu argumentiert Diaz-Bone (2002) umgekehrt, die Bourdieusche Distinktionstheorie bedürfe einer diskurstheoretischen Ergänzung um zu erklären, woher soziale Akteure ihr Distinktionswissen beziehen. 231 Vgl. dazu Wittgensteins Überlegungen zur Funktionsweise von Regeln in den "Philosophischen Untersuchungen" (Wittgenstein 1990) und die darauf bezogenen Diskussionen, etwa Bouveresse (1993), Bloor (1997). 232 Unbenommen der Rezeption Foucaultscher Konzepte für andere Zwecke bestehen bspw. in Gestalt der Gouvernementalitätsforschung auch Forschungstraditionen, die sich unmittelbar in seine Nachfolge stellen.
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"Without becoming obsessed with finding the general interpretation that will give us the 'final truth' about Foucault's work, we should be prepared to use a variety of such interpretations to e1ucidate, for particular purposes, specific aspects of his writings." (Gutting I994a: 5f) 233
So lässt sich zugestehen, dass Foucault in den verschiedenen Stadien seines Schreibens uneinheitliche Konzepte und Argumentationsweisen benutzte - er wäre vermutlich der letzte, der dies bestreiten würde. Auch sind die von ihm angebotenen Konzepte nicht abschließende ,Lösungen' der aufgeworfenen Fragestellungen, sondern Vorschläge, an denen Weiterruhrungen ansetzen können. Genau dies ist das Anliegen der verschiedenen Ansätze, die ihm nachfolgenden Kapitel 3.3 diskutiert werden. Allerdings müssen Foucaults Anregungen, wenn sie von der Soziologie genutzt werden sollen, auf deren Forschungsinteressen, die sich nicht auf die Geschichte der Gegenwart, sondern ihre aktuelle Analyse richten, übertragen werden. Hilfreich rur ein solches Vorhaben sind die von Foucault gegen die Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie seiner Zeit formulierten methodologischen Innovationen, die Affinitäten zu dem aufweisen, was heute als post-positivistischer Zustand der Sozialwissenschaften beschrieben wird. Ich schließe mich damit einer offenen Lesart der theoretisch-konzeptuellen Verschiebungen im Foucaultschen Werk von der Strukturanalyse der Diskursformationen zur Untersuchung der Genealogie von MachtWissens-Komplexen und Praktiken an, die der Kontinuität seiner erkenntnistheoretischen Prämissen und gegenstandsbezogenen Interessen nicht widerspricht. Sie interpretiert die Veränderungen auf dem "Planeten Foucault" als Übergang von einer eher strukturalistischen zu einer stärker pragmatistisch inspirierten Diskurstheorie, die eine Erweiterung um die Kategorie sozialer Akteure nahe legt, auch wenn sie von ihr selbst nicht explizit vollzogen wurde. 234 Doch heißt es bspw. in der Einleitung Foucaults zu den Dokumenten des ,Falls Riviere', eines Mordereignisses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts:
2J3 Guning begründet dies mit dem Hinweis, Foucault habe in und mit jedem Buch andere Interessen verfolgt: "Foucault's penchant, particulary prior to Discipline and Punish, for the modemist obscure explains much of the demand for interpretations of his work. But the need to interpret Foucault sits ill with his own desire to escape general interpretative categories. More important, as the enterprise of interpretation is usually understood, interpreting Foucault is guaranteed to distort his thought. Interpretation typically means finding a unifying schema through which we can make overall sense ofan author's works. Interpretations ofFoucault, accordingly, single out some comprehensive unity or definitive achievement that is thought to provide the key to his work. They claim to have anained a privileged standpoint that provides the real meaning or significance of his achievement. Interpretation distorts because Foucault's work is at root ad hoc, fragmentary and incomplete. Each of his book is deterrnined by concems and approaches speci fic to it and should not be understood as developing or deploying a theory or a method that is a general instrument of intellectual progress. In Isaiah Berlin's adaptation of Archilochus's metaphor, Foucault is not a hedgehog but a fox (. .. ) Each of Foucault's books strikes a specific tone that is muffled and distorted if we insist on harrnonizing it with his other books. In examining psychiatry, medicine, the social sciences, and other contemporary disciplines, his goal was always to suggest liberating alternatives to what seem to be inevitable conceptions and practices. But his analyses are effective precisely because they are specific to the particular terrain of the discipline he is challenging, not deterrnined by some general theory or methodology." (Guning 1994a: I ft) Eine solche Einschätzung kann sich einerseits auf Foucaults eigene Beschreibungen seiner ,experimentierenden Schreibpraxis' beziehen, die an unterschiedlichen Gegenständen je neues Denken erprobe (z.B. Foucault I994a). Guning neigt jedoch zur übertriebenen Stilisierung der Heterogenität des Foucaultschen Werkes und übersieht den von Foucault selbst immer wieder betonten Werkzusammenhang (z.B. Foucault 1990; Florence 1984; vgl. Schäfer 1995). 234 Ob deswegen gleich von einer Wende Foucaults von der textuelIen zur "handlungstheoretischen Wissenssoziologie" (Reckwitz 2000: 299) gesprochen werden sollte, scheint mir fraglich.
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"Ich glaube, daß wir, die wir ganz unterschiedliche Interessen und Methoden hatten, gerade dadurch an diese Arbeit gefesselt wurden, weil es sich um ein ,Dossier' handelte, das heißt um eine Affäre, einen Fall, ein Ereignis, das Anlaß und Gegenstand sich kreuzender Diskurse war, deren Ursprung, Form, Anordnung und Funktion ganz verschieden waren: der Diskurs des Friedensrichters, der des Staatsanwalts, des Schwurgerichtspräsidenten, des Justizministers; der des Landarztes und der Esquirols; der der Dorfbewohner mit ihrem Bürgermeister und ihrem Pfarrer; schließlich der des Mörders selbst. Sie alle sprechen - zumindest scheinbar - von derselben Sache: jedenfalls beziehen sich alle Diskurse auf das Ereignis vom 3. Juni. Aber durch eine Zusammenstellung werden diese heterogenen Diskurse weder zu einem Werk noch zu einem Text; sie stellen einen sonderbaren Kampf dar, eine Auseinandersetzung, einen Kräftevergleich, ein Gefecht um Worte und mittels Worten; und von einem Gefecht zu reden genügt noch nicht: es werden gleichzeitig mehrere sich überlagernde Schlachten geschlagen. Die Ärzte hatten ihr Gefecht - untereinander, mit der Justiz, mit Riviere (der sie hereinlegte, indem er sagte, er habe den Wahnsinn nur gespielt); die Justiz hatte ihr Gefecht (...) und im Zentrum all dessen Pierre Riviere (...) Ich glaube, daß wir uns deshalb zur Veröffentlichung all dieser Dokumente entschlossen haben, um gleichsam die Struktur dieser verschiedenen Dokumente zu klären, um diese Auseinandersetzungen und Schlachten zu rekonstruieren, das Zusammenspiel dieser aufeinandertreffenden Diskurse aufzuspüren, die als Instrumente eingesetzt waren, als Angriffs- und Verteidigungswaffen in den Beziehungen der Macht und des Wissens. In einem spezifischen Sinne schien uns die lückenlose Veröffentlichung dieser Dossiers ein Beispiel abgeben zu können für die Materialien, die noch in den Archiven liegen und sich für künftige Analysen anbieten. a)
b)
c)
d)
Da das Gesetz ihrer Existenz und ihrer Kohärenz weder das eines Werkes noch das eines Textes ist, muß ihre Untersuchung auf die alten akademischen Methoden der Textanalyse und auf alle Begriffe verzichten, die aus dem monotonen und schulhaften Prestige der Literatur stammen. Dokumente wie die über den Fall Riviere erlauben es, die Bildung und den Fluß eines Wissens (wie das Wissen der Medizin, der Psychiatrie, der Psychopathologie) in ihren Beziehungen mit den Institutionen und den Rollen, die dort gespielt werden müssen (Gericht, Gutachter, Angeklagter, Krimineller/Wahnsinniger usw.) zu analysieren. Sie ermöglichen eine Aufschlüsselung der Macht-, Herrschafts- und Kampfverhältnisse, in deren Rahmen sich die Diskurse abspielen; sie ermöglichen also eine Analyse des Diskurses (und sogar wissenschaftlicher Diskurse), die zugleich Tatsachenanalyse und politische, also strategische, Analyse ist. Schließlich läßt sich an diesem Beispiel die Verwirrung ermessen, die ein Diskurs wie der Rivieres stiftet; es lassen sich all die Taktiken aufzeigen, mit denen man versucht, ihn zuzuschütten, ihn einzuordnen, ihn als Diskurs eines Wahnsinnigen oder eines Kriminellen zu qualifizieren." (Foucault 1975: 9ft)
Ein solcher Gebrauch des Diskursbegriffs und der damit verbundenen Unterscheidung gesellschaftlicher Akteure bzw. Akteursgruppen, der sich auch in anderen, von Foucault (mit) herausgegebenen Dokumentensammlungen sowie in den zitierten, von ihm verfassten Texten bzw. Kommentierungen seiner Arbeiten in Interviews findet, macht im Unterschied zur vergleichsweise ,strengen' Konzipierung des Diskursverständnisses in der "Archäologie des Wissens" die Anschließbarkeit einer wissenssoziologischen Perspektive deutlich sichtbar. 235
235
Ygl. bspw. auch Foucault (2002c, 2002e).
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3.2.6 Zwischenbilanz: Bausteine der Diskurstheoriefür eine Wissenssoziologische Diskursanalyse Bevor ich im nachfolgenden Kapitel auf die an Foucault anschließenden Weiterentwicklungen diskurstheoretischer Ansätze eingehe, möchte ich an dieser Stelle eine kurze Zwischenbilanz formulieren: Welche Bausteine der Foucaultschen Diskurstheorie sind für das verfolgte Vorhaben der Übersetzung in das Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse bedeutsam? Die Beantwortung dieser Frage kann sich auf die in Kapitel 3.2.3 und 3.2.4 vorgenommene Rekonstruktion der Diskursanalyse als Archäologie des Wissens und Genealogie der Macht/Wissen-Regime beziehen. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Annahmen und Konzepte aus dem Foucaultschen Werk: • • • •
• • • • • • • • • • •
Die Bestimmung von Diskursen als gegenstandskonstituierende Praktiken, denen ein gemeinsame Struktur zugrunde liegt; das Wechselverhältnis zwischen Diskursstruktur und einzelnem diskursiven Ereignis; die damit verbundene ,makro-perspektivische' und empirische Ausrichtung der Diskursanalyse; das Konzept der ,Aussage' als dem typisierbaren Kern einer singulären Äußerung bzw. eines diskursiven Ereignisses sowie, damit zusammenhängend, der Idee der ,Einschreibung', also der Wiederholung von Aussagen als der Grundlage der Strukturbildung; das Verständnis von, Wissen' und, Wahrheit' als diskursiven Konstruktionen; das Interesse für Diskurse als strukturierende Praktiken gesellschaftlicher Wissensverhältnisse; das Konzept der diskursiven Formation und der verschiedenen Dimensionen von Formationsregeln (der Gegenstände, der Äußerungsmodalitäten, der Begriffsformation, der Diskursstrategien); der Hinweis auf institutionelle Orte und Verknappungsmechanismen der Aussageproduktion; das Interesse an der diskursiven Gegenstandskonstitution und den dabei vorgenommenen Verknüpfungen und Differenzbildungen, auch Ausschlüssen von Bedeutungselementen; die Frage nach den Beziehungen zwischen unterschiedlichen Diskursen; die Idee der Machtwirkungen von Diskursen bzw. der Macht/Wissen-Kopplung; die Konzepte der Archäologie als ,Freilegung' von Diskursen und der ,Genealogie' als unvoreingenommene historische Rekonstruktion von Diskursentwicklungen; die Idee des Dispositivs als Sammelbegriff für das Gefüge von Diskursproduktion und als Grundlage der Machteffekte von Diskursen (durch, Weltintervention '); die Trennung zwischen Diskursen und diskurs-externen Praktiken bzw. Praxisfeldern und die Untersuchung der Beziehungen zwischen beiden; und die Hinweise auf Akteure, Kämpfe, Strategien und Taktiken in und zwischen Diskursen.
Die Übersetzung dieser Konzepte in das Programm einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse ist weder an den mitunter ,totalisierenden' Anspruch der Foucaultschen Diskurstheorie gebunden, wie er im Forschungsprogramm der "Ordnung der Dinge" oder auch im
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Konzept der "episteme" und des "Archivs" anklingt, noch an die Ausrichtung dieser Theorie auf die Untersuchung der wissenschaftsvermittelten wechselseitigen Konstitution von modernem Subjekt und modernem Staat. 236 Sie muss jedoch die bei Foucault angelegten handlungstheoretischen Elemente stärker betonen, als er selbst dies getan hat. Erst durch den Einbau spezifischer Akteurskategorien lässt sich ein soziologisch plausibles Verständnis des Verhältnisses von Diskursen und diskursiven Ereignissen, von Diskursen als strukturierenden und strukturierten Strukturen gewinnen. Dieses Vorhaben kann sich auf eine Interpretation des Foucaultschen Werkes stützen, welche die pragmatistischen Elemente seiner Theorie betont. 237 So hat Richard Rorty (1982: XVIII) vor einiger Zeit die Vermutung geäußert, Michel Foucault befinde sich auf einem Weg, der unweigerlich in den Pragmatismus fuhre. 238 Nancy Fraser (1997) verortet Foucault angesichts seiner Betonung der Praktiken dann explizit in einer ,Tradition' pragmatistischer Diskurstheorien: "Anders als der strukturalistische Ansatz untersucht die pragmatische Sicht die Sprache als eine soziale Praxis im sozialen Kontext. Gegenstand dieses Modells sind Diskurse, nicht Strukturen. Die Diskurse sind historisch besondere, sozial verortete, sinngebende Praktiken. Sie geben den kommunikativen Rahmen vor, in dem Sprecher über wechselseitige Sprechakte miteinander interagieren. Diskurse selbst wiederum sind in sozialen Institutionen und Handlungskontexten angesiedelt. Die Vorstellung von Diskurs verbindet daher die Untersuchung der Sprache mit der Untersuchung der Gesellschaft. Das pragmatische Modell (...) behandelt (... ) Diskurse als kontingent, da zunächst postuliert wird, daß sie entstehen, sich mit der Zeit verändern und wieder verschwinden. (... ) Zweitens wird die Sinngebung vom pragmatischen Ansatz nicht als Repräsentation, sondern als Handeln verstanden. Der Ansatz beschäftigt sich damit, wie Menschen ,mit Worten etwas tun' (...) Drittens behandelt das pragmatische Modell die Diskurse als Phänomene im Plural. Es geht von der Annahme aus, daß es in der Gesellschaft eine Pluralität verschiedener Diskurse gibt und deshalb auch eine Pluralität kommunikativer Orte, die Standpunkte von Sprechern sind (... ) Des weiteren wird im pragmatischen Ansatz der Annahme widersprochen, daß die Gesamtheit aller verbreiteten Bedeutungen ein einziges, in sich geschlossenes, ,symbolisches System' darstellt, das sich selbst reproduziert. Statt dessen berücksichtigt er Konflikte zwischen den sozialen Schemata der Interpretation und den Handlungsträgern, die diese Schemata anwenden. Schließlich gestattet uns der pragmatische Ansatz, Macht und Ungleichheit in den Mittelpunkt zu stellen, weil die Untersuchung von Diskursen mit der Untersuchung der Gesellschaft verknüpft wird." (Fraser 1997a: 237f)
Mit diesen abschließenden Hinweisen auf pragmatistische Elemente der Foucaultschen Diskurstheorie und der eingangs erwähnten Durkheimschen Tradition seiner Wissensanalyse werden Berührungspunkte zur ihrerseits in der pragmatistischen Tradition stehenden 236 Sie ist auch nicht auf das Gesamt der erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen und methodologischen Grundlagen der Foucaultschen Position verpflichtet, obwohl hier einige Affinitäten zur sozial konstruktivistischen Wissenssoziologie bestehen, bspw. in der Ablehnung einer Repräsentationsperspektive auf Wissen und im eingeforderten, Empirismus'. 2J7 Schon Durkheims Wissenssoziologie besaß Affinitäten zum Pragmatismus (vgl. Kapitel 2.1 sowie Durkheim 1987, insbes. 1987a und Joas 1987). Vgl. zu einer entsprechenden Verortung Foucaults in Traditionen der Sprachpragmatik auch Angermüller (200 I). 238 In seiner Diskussion der Arbeiten von Rorty konstatiert Nagl (1998: 163) diesbezüglich: "Diese Ankündigung scheint sich im rezenten französischen Interesse an den Berührungspunkten und Differenzen zwischen Pragmatismus und Dekonstruktion zu bewahrheiten." Vgl. auch Dosse (1995), der auf die ,Re-Humanisierung der Humanwissenschaften' in Frankreich nach der Zeit des Strukturalismus verweist und sich dabei in erster Linie auf unterschiedliche handlungstheoretisch-pragmatistische Soziologien etwa von Luc Boltanski, Bruno Latour u.a. bezieht.
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Wissenssoziologie von Berger/Luckrnann sichtbar. Bevor ich diese Überlegungen weiter ausführe (vgl. Kapitel 4), geht es nachfolgend zunächst darum, welche Aus- und Umarbeitungen das Foucaultsche Programm in der Entwicklung diskurstheoretischer Ansätze erfahren hat.
3.3 Diskurstheorien nach Foucault In Auseinandersetzung mit dem Foucaultschen Werk haben einige neuere diskurstheoretische Perspektiven je spezifische Modifikationen der Foucaultschen Perspektive vorgenommen, deren Ertrag fur das Programm einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse sehr unterschiedlich ausfällt. Kapitel 3.3.1 beschäftigt sich mit der Adaption der Foucaultschen Theorie in der sprachwissenschaftlichen Tradition kritischer Sprachforschung. Im Einzelnen werden dabei die Kritische Diskursanalyse von Siegfried Jäger u.a. sowie der Ansatz der Critical Discourse Analysis von Norman Fairclough, Ruth Wodak u.a. diskutiert. Der Ausgangspunkt dieser Ansätze ist - wie auch schon in der discourse analysis (vgl. Kapitel 3.1.3.1) - die Analyse konkreter gegenwärtiger Sprachereignisse. Deren Erscheinen wird jedoch nicht primär als Herstellungsleistung der beteiligten sozialen Akteure untersucht, sondern als Aktualisierung situationsübergreifender Diskursstrukturen. Die Kritische Diskursforschung unternimmt gleichzeitig eine Rekombination der Foucaultschen Perspektive mit den Traditionen marxistischer Ideologiekritik im Anschluss an Louis Althusser. Im anschließenden Kapitel 3.3.2 diskutiere ich die in politikwissenschaftlichen Kontexten entstandene und als poststrukturalistisch bzw. postmarxistisch etikettierte Diskurstheorie von Ernesto Ladau und Chantal Mouffe. Während die Kritische Diskursforschung einzelne diskursive Ereignisse untersucht, zielt die Theorie von Laclau und Mouffe auf das Verständnis der Funktionsmechanismen von Diskursen auf der gesellschaftlichen MakroEbene. Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen stehen Prozesse der kollektiven Identitätsbildung und die von Foucault aufgeworfene Frage nach den Mechanismen der diskursiven Konstitution von Subjektpositionen. Die Zirkulation von Deutungsbeständen in gesellschaftlich-öffentlichen Arenen ist auch Gegenstand der Cultural Studies, deren Diskursperspektive in Kapitel 3.3.3 erläutert wird. Im Unterschied zu Laclau und Mouffe wird hier in Auseinandersetzung mit soziologischen Theoriebeständen die Bedeutung sozialer Akteure als Produzenten und Rezipienten der Diskurse stärker betont. In Kapitel 3.3.4 fasse ich die verschiedenen Vorschläge der genannten Ansätze zusammen und diskutiere, inwieweit sie sich eignen, Konzepte der Foucaultschen Diskurstheorie in das Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse zu übersetzen.
3.3.1 Perspektiven der kritischen Diskursforschung Innerhalb der an Foucault anschließenden Weiterentwicklungen der Diskursforschung interessieren sich die Ansätze der Kritischen Diskursanalyse und der Criticial Dicourse Analysis fur die unmittelbare Situation des Sprachgebrauchs, begreifen diese jedoch in einem umfassenderen diskurs- und gesellschaftstheoretischen Kontext. Dabei steht neben den wissenschaftlichen Interessen gleichwertig das Ziel einer emanzipatorischen Autklä-
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rung durch Ideologie- und Praxiskritik sowie anschließende Verbesserungsvorschläge. 239 Für die Wissenssoziologische Diskursanalyse sind insbesondere die Überlegungen zum Verhältnis von Diskursen und diskursiven Ereignissen bedeutsam.
Kritische Diskursanalyse Die sprachwissenschaftlich verankerte Kritische Diskursanalyse unterscheidet sich durch ihre theoretische Fundierung von der Critical Discaurse Analysis (CDA). Siegfried Jäger hat diesen Ansatz seit Mitte der 1980er Jahre mit seinen Mitarbeiterinnen am Duisburger Institut fur Sprach- und Sozialforschung ausgearbeitet. Er bezieht sich in seiner theoretischen Grundlegung auf die Arbeiten von Michel Foucault, deren Rezeption und Weiterfuhrung durch den LiteraturwissenschaftIer Jürgen Link sowie auf die marxistischpsychologische Tätigkeitstheorie von A. N. Leontjew (Jäger 1999; 2001). Jürgen Link hatte zusammen mit Ursula Link-Heer und verschiedenen Mitarbeiterinnen aus dem Kontext der "kultuRRevolution. zeitschrift fur diskurstheorie" in den 80er Jahren in Auseinandersetzung mit der französischen, marxistisch orientierten analyse du discaurs, und dort insbesondere den Arbeiten von Michel Pecheux eine ideologiekritische diskurstheoretische Perspektive entwickelt. 240 Diese zielt auf die Untersuchung interdiskursiver Beziehungen zwischen Diskursen, vor allem auf Funktionsweisen gesellschaftlicher Kollektivsymboliken (Link 2006). Link versteht in Anlehnung an Foucault unter einem Diskurs "ein institutionalisiertes Spezialwissen, einschließlich der entsprechenden ritualisierten Rede/armen, Handlungsweisen und Machteffekte" (Link 1988: 48; Hervorh. z.T. gelöscht; vgl. auch LinklLinkHeer 1990). Texte sind im Sinne der Tätigkeitstheorie von Leontjew Ergebnisse der Denktätigkeit von Individuen. Ihre Produktion beruht auf sozialisatorisch angeeignetem Wissen, den jeweiligen Motiven der sprachlich Handelnden und den verfugbaren Ressourcen der Versprachlichung und sprachlichen Entäußerung. Diskurse werden von Jäger als "Flüsse von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit" (Jäger 1999: 158) bzw. im Anschluss an Link als "institutionalisierte, geregelte Redeweisen, insofern sie an handlungen gekoppelt sind und also machtwirkungen ausüben" (Jürgen Link zit. nach Jäger 1999: 127) definiert. Das einzelne diskursive Ereignis - ein Text, eine Aussage im Interview, eine Rede - wird als Element eines überindividuellen sozio-historischen Diskurses begriffen:
So heißt es etwa in Bezug auf den Ansatz von Fairclough und Wodak: "Die Kritische Diskursanalyse konzeptualisiert Sprache als Form sozialer Praxis und versucht, den Menschen die ihnen meist nicht bewußte gegenseitige Beeinflussung von Sprache und sozialer Struktur bewußt zu machen (... ) Die Kritische Diskursanalyse versteht sich selbst als engagierte Forschung mit emanzipatorischem Anspruch: Sie will in die soziale Praxis und die sozialen Beziehungen eingreifen, wie z.B. durch Lehrerinnenfortbildung, die Ausarbeitung von Richtlinien für den nicht-sexistischen Sprachgebrauch oder Vorschlägen zur Erhöhung der Verständlichkeit von Nachrichten- und Gesetzestexten. Als Forschungsschwerpunkte zur Verwirklichung dieser Ziele haben sich der Sprachgebrauch in Organisationen, die Vorurteilsforschung allgemein sowie Rassismus, Antisemitismus, Sexismus im speziellen herausgebildet." (TitscherfWodak/MeyerNetter 1998: 181) 240 Pecheux seinerseits verfolgte eine Vermittlung der Positionen von Foucault und Althusser (Guilhaumou 2003; Williams 1999; vgl. zu den persönlichen Beziehungen zwischen Foucault und Althusser auch Dosse 1996, 1997 und Eribon 199 I). 239
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"Diese Elemente bezeichne ich als Diskursfragmente. Sie sind Bestandteile bzw. Fragmente von Diskurssträngen (= Abfolgen von Diskursfragmenten mit gleicher Thematik), die sich auf verschiedenen Diskursebenen (= Orte, von denen aus gesprochen wird, also Wissenschaft, Politik, Medien, Alltag etc.) bewegen und in ihrer Gesamtheit den Gesamtdiskurs einer Gesellschaft ausmachen, den man sich als ein großes wucherndes Gewimmel vorstellen kann; zugleich bilden die Diskurse (bzw. dieses gesamte diskursive Gewimmel) die jeweiligen Voraussetzungen für den weiteren Verlauf des gesamtgesellschaftlichen Diskurses." (Jäger 1999: 117)
Hauptgegenstände bisheriger Untersuchungen von Jäger und seinen MitarbeiterInnen waren Analysen "rassistischen" Sprachgebrauchs anhand von Interviews und Medientexten (Jäger 1992). Rekonstruiert werden benutzte Kollektivsymbole, Bedeutungsfelder, der Gebrauch von Pronomina, die Funktion von Sprichwörtern und Redewendungen, narrative Strukturen u.a. (Jäger 1996, 2003). Ziel der Untersuchungen des rechtsextremen Diskurses war, herauszuarbeiten, "in welcher Form, mit welchen Inhalten er auftritt und unter Zuhilfenahme welcher Strategien er ,an der sozialen Basis' geäußert wird. (... ) Diskursanalyse geht es nun u.a. darum, die Diskurse auf ihre Inhalte und Strategien zu befragen, den Einfluß von Spezialdiskursen (oft vermittelt über Medien, Erziehung, mächtige Institutionen und Organisationen) auf den Interdiskurs zu ermitteln, kurzum: sie transparent zu machen. (... ) Diskursanalyse thematisiert sprachliche Texte (aller Art) also von Anfang an in ihrem Bezug zu ihrem sozialgeschichtlichen Hintergrund, aus dem sie gespeist werden und auf den sie sich beziehen bzw. auf den sie wiederum (mehr oder minder stark) einwirken." (Jäger 1992: 12ff)241
In jüngerer Zeit löst sich die Kritische Diskursanalyse von ihrer starken Textorientierung und öffnet sich - zumindest programmatisch - zur Analyse von Dispositiven, also von Dingen, Praktiken, Regulierungsweisen, kurz: nicht-textförrnigen Materialisierungen der Diskurse. Damit verschiebt sich der Anspruch von der Sprachforschung hin zur allgemeinen Sozialforschung (Jäger 2001; Jäger/Jäger 2007). Wie entwirft die Kritische Diskursanalyse das Verhältnis von diskursivem Ereignis und Diskurs? Zunächst wird in der Analysepraxis die Existenz bestimmter gesellschaftlicher, in der Regel als ideologisch begriffener Diskurse vorausgesetzt: Das Vorkommen eines rassistischen, antisemitischen, rechts- oder linksextremen, patriarchalen usw. Diskurses gilt als bekannt. Die semantisch-rhetorischen Mittel, mit denen diese Diskurse arbeiten - bestimmte Schlüsselworte, Argumentationsstrategien, Symboliken, Metaphern u.a. können aus einschlägigen Dokumenten der Protagonisten rekonstruiert werden. Sie tauchen in einzelnen diskursiven Ereignissen des Alltags als ,eingestreute Partikel' und Resultat einer kritikwürdigen ideologischen Überforrnung auf. Kritik richtet sich dann gegen die Massenmedien als Zirkulationsagenturen ideologischer Diskurse. So heißt es zu einer Analyse der BILD-Zeitung: "Insofern gibt diese Von-Tag-zu-Tag-Analyse einen Einblick in die Werkstatt der BILD-Zeitung. Sie macht plastisch sichtbar, wie BILD ihre rechtspopulistische Politik hartnäckig und zielstrebig im Alltag durchsetzt und welcher Instrumente sie sich dabei bedient." (JägerlJäger 2007: 74) Die durchgehend einem Ideologieverdacht folgende Perspektive auf diskursive Ereignisse macht eine gewisse Diskrepanz zwischen theoretischer Fundierung und empirischer 241
Vgl. zur Vorgehensweise im Einzelnen Jäger (1999) und die Zusammenfassung in Keller (2004).
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Umsetzung des Theorieprogramms deutlich. Während die in Massenmedien zirkulierenden Texte als ideologische Produkte betrachtet und analysiert werden, rekurriert die Untersuchung des Auftauehens solcher Diskurspartikel in ,Alltagsdiskursen' auf ein aus der Sprachsoziologie stammendes Modell der Verknüpfung von sozialem Standort mit sprachlich-kognitiven Ausdrucksweisen. Das zugrunde liegende Modell der Rezeption ideologischer Diskurse durch die Akteure des Alltags basiert auf einer einfachen Überformungsannahme und die Produktionsweise von Diskursen - also all das, was Foucault unter den Formationsregeln zusammenfasst - bleibt unbeobachtet. Auch werden die eigenen Maßstäbe der Kritik nicht expliziert, wenn von allgemeinen Bekundungen eines emanzipatorischen Erkenntnisinteresses abgesehen wird. Gewiss verweist Foucault an einigen Stellen auf den Ideologiebegriff bzw. auf ideologische Kämpfe, insbesondere da, wo er von den Machtwirkungen und Wahrheitsspielen spricht (Foucault 1978; vgl. oben Kapitel 3.2.4). Doch die von Jäger u.a. formulierte ideologiekritische Perspektive unterscheidet sich entgegen ihren eigenen Versicherungen - vom Foucaultschen Programm der ,Kritischen Ontologie' durch eine von Vor-Urteilen geprägte Analysepraxis, die genau da Zusammenhangsunterstellungen im Sinne einer ,Hermeneutik des Verdachts' (Paul Ricoeur) unternimmt, wo Foucault deren Verzicht einfordert; insoweit kann ein solches Programm nicht durch den Rekurs auf Foucault begründet werden. Die ideologiekritische Haltung führt in der Analysepraxis unter anderem dazu, dass immer schon gewusst zu werden scheint, wie ,der rassistische Diskurs', der ,sexistische Diskurs', der ,fundamentalistische Diskurs' usw. beschaffen sind, deren Partikel dann in Interviews oder Zeitungstexten nachgewiesen werden (vgl. etwa die Beispielanalysen in JägerlJäger 2007). Auch die Funktion dieser Diskurse als Herrschaftsmechanismen, die tatsächliche Bedürfnisse nach Maßgabe von Herrschaftsinteressen verschleiern, wird als bekannt vorausgesetzt. Unklar bleibt des Weiteren, wie die Übersetzung der abstrakten diskurstheoretischen Konzepte von Foucault - also seine Überlegungen zur Regulierung der Diskurse, zu institutionellen Formen und Praktiken der Wissenserzeugung - zur Analyse von Alltagsgesprächen, Diskussion usw. genutzt werden kann - abgesehen von der Pauschalunterstellung, alles sei vom "Diskursgewimmel" und von "Diskurssträngen" durchzogen. Ungeachtet dieser kritischen Einwände muss aber darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der von Jäger und seinen MitarbeiterInnen konzipierten Kritischen Diskursanalyse um den wichtigsten eigenständigen Ansatz der Diskursforschung im deutschen Sprachraum handelt, der zahlreiche Impulse für die Ausarbeitung diskursorientierter Perspektiven und die praktische Durchführung von Diskursanalysen außerhalb und innerhalb der Sprachwissenschaften gegeben hat.
Critical Discourse Analysis Im Unterschied zur Kritischen Diskursanalyse verknüpft die aus der Kritischen Linguistik stammende Critical Discourse Analysis (CDA) diskurstheoretische Überlegungen von Foucault und die Ideologiekritik von Louis Althusser u.a. nicht mit einer marxistischpsychologischen Tätigkeitstheorie, sondern mit praxisphilosophischen Elementen der soziologischen Theorieentwicklung, insbesondere mit Konzepten von Bourdieus Theorie sozialer Felder und Giddens Theorie der Strukturierung. Die wichtigsten Grundlagen dieses Ansatzes wurden von dem britischen Sprachforscher Norman Fairclough entwickelt; mittlerweile hat im deutschsprachigen Raum insbesondere die Wiener Soziolinguistin Ruth
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Wodak daran angeschlossen. 242 Die CDA formuliert ein dreifaches Verständnis von Diskursen (J0rgensenlPhilipps 2002: 66t). ,Diskurs' bezeichnet zunächst den Sprachgebrauch als soziale Praxis. ,Diskurs' meint dann - etwa als wirtschaftlicher Diskurs oder politischer Diskurs - auch die spezifischen Sprachspiele, den Sprachgebrauch innerhalb eines abgrenzbaren sozialen Feldes. Schließlich beinhaltet ,Diskurs' die Konnotation einer standortgebundenen Sprechweise, die Erfahrungen in spezifischer Weise mit Bedeutung versorgt. Der CDA geht es um die Untersuchung der Wechselbeziehungen zwischen einzelnen kommunikativen bzw. diskursiven Ereignissen und der "Diskursordnung", d.h. der "configuration of all the discourse types which are used within a social institution or a social field. Discourse types consist of discourses and genres" (J0rgensenlPhilipps 2002: 67). Auf die wichtigsten marxistischen Theoriebausteine dieses Ansatzes möchte ich zunächst kurz eingehen. Zu den zentralen Referenzen der von Fairclough verfolgten Diskursperspektive gehören die von Louis Althusser und Antonio Gramsci formulierten marxistischen Beiträge zur Ideologietheorie. Althusser begreift Ideologien als Bedeutungssysteme, welche die einzelnen Individuen in vorgestellte, imaginierte (Ideen-)Relationen zu den tatsächlichen Beziehungen setzen, in denen sie leben (MacdoneIl 1986: 27; Althusser 1977).243 Als relativ autonome, d.h. nicht unmittelbar von der ökonomischen Basis abhängige gesellschaftliche Ebene leisten sie einen eigenen Beitrag zur Reproduktion und Transformation der ökonomischen Verhältnisse. Althusser korrigiert damit eine allzu enge Marxinterpretation von Ideologien als Funktionen von Basis-Überbau-Verhältnissen. Ideologien sind jedoch auch keine freischwebenden Ideengebilde. Er betont im Gegenteil einen dreifachen Zusammenhang von Ideologien und gesellschaftlichen Institutionen: Erstens materialisieren sich Ideologien in institutionellen Praktiken. Zweitens formen sie das Selbstverständnis von Subjekten: Sie konstituieren Personen als soziale Subjekte durch Positionierungsprozesse etwa im Sinne von Klassen- oder Volkszugehörigkeit. Dies geschieht drittens in den verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen wie Familie, Recht, Medien, Erziehungswesen u.a. Althusser fasst diese institutionellen Gebilde unter dem Begriff der "ideologischen Staatsapparate" zusammen. Ideologien sind also Wissensformen, die durch institutionelle Apparate transportiert werden und die Subjekte dadurch formen, dass sie spezifische Subjekt-Positionen konstituieren. Von Ideologie wird gesprochen, weil es um die Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen geht. Ideologien stehen zueinander in Konkur-
242 Zusammen mit Lilie Chouliaraki hat Fairclough seinen Ansatz der CDA in den letzten Jahren um Bezüge auf sozialwissenschaftl iche Gegenwartsdiagnosen zum Projekt einer Sozialforschung erweitert, die sich für die Rolle, Funktionsweise und Problemgehalte von Sprache als und in sozialen Praktiken in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen interessiert; dabei tritt die Intention der Erzeugung und Vermittlung eines "kritischen Diskursbewußtseins" in den Vordergrund (vgl. Chouliaraki/Fairclough 1999; Fairclough 2001). Die CDA verfügt damit unter allen Ansätzen der linguistischen Diskursforschung über die breiteste sozialwissenschaftliche Erweiterung der sprachwissenschaftlichen Ausgangsannahmen und eine entsprechend umfangreiche Forschungsprogrammatik (vgl. TitscherlWodak/MeyerNetter 1998: 180f, im Anschluss an Wodak 1996: 17-20). Zu Wodak vgl. auch Wodak (I 997), Wodak u.a. (I990, 1994), Wodak/CillialReisigl (1998), WodakILudwig (I 999). 243 Althusser zählte zu den akademischen Lehrern von Foucault und beide haben sich in ihren Theorienentwicklungen beeinflusst (Dosse 1996, 1997; Eribon 1991). Foucaults Diskurstheorie lässt sich als deutliche Absetzung von der bei Althusser verfolgten marxistisch-ideologiekritischen Perspektive verstehen.
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renz- und Hierarchiebeziehungen; die jeweils dominierende Ideologie wird als Resultat von Klassenkämpfen begriffen (Fairclough 1998: 30 u. 86ff).2 44 Bereits lange vor Althusser hatte Antonio Gramsci (1991/2000) den Begriff der "Hegemonie" ins Zentrum seiner Überlegungen gerückt. Damit bezeichnete er Herrschaft, Macht und Meinungsfuhrerschaft einer ökonomischen Klasse und ihrer Verbündeten über die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche bzw. die gesamte Gesellschaft. Allerdings geht das Hegemoniekonzept nicht von einer völligen, sondern immer nur von einer mehr oder weniger partiellen und zeitlich begrenzten Vormachtstellung aus, die offene Konfrontationen und weitreichende Ausschließungen vermeidet. Diese ist das Ergebnis von vergänglichen Machtbündnissen und Allianzen, die auch die unterdrückten Klassen einbeziehen. Hegemonie bezeichnet mithin einen letztlich prekären, nur auf Zeit stabilen Zustand in einem Feld beständiger Kämpfe um die hegemoniale Position (Fairclough 1998: 91ff). Weitere Anschlüsse der CDA an Annahmen Bourdieus über die Konflikt- und Reproduktionslogik sozialer Felder sowie an Giddens Vorstellungen von Reflexivität als Kennzeichen moderner Gesellschaften und sein Konzept der "Dualität von Struktur" (vgl. Kapitel 4.2.2) ergänzen die skizzierten Argumente zu einer umfassenden Theorie der Prägung konkreter Sprachereignisse durch gesellschaftliche Strukturen. Fairclough und Wodak definieren Diskurse als Sprachgebrauch im Sprechen und Schreiben und damit als eine historisch situierte Form sozialer Praxis neben anderen: "Describing discourse as social practice implies a dialectical relationship between a particular discursive event and the situation(s), institution(s) and social structure(s) which frame it. A dialectical relationship is a two-way relationship: the discursive event is shaped by situations, institutions and social structures, but it also shapes them." (Fairclough/Wodak 1997: 258)
Sprachgebrauch ist Prozessierung von Bedeutung, und beides ist ein sozialer und zugleich sozial strukturierter Prozess. Diskurse bilden die Welt nicht ab, sondern konstituieren und konstruieren ihren Sinngehalt durch Bedeutungszuweisungen (Fairclough 1998: 64). Das diskursive Ereignis ist in diesem Verständnis die soziale Praxis eines Diskurses. Es ist in drei Kontextdimensionen eingebunden, die selbst als ,nicht-diskursiv' bestimmt werden und sukzessive Erweiterungen der Einflüsse auf ein solches Ereignis - und der durch dieses Ereignis wiederum beeinflussbaren Dimensionen - beinhalten. Zur Analyse eines diskursiven Ereignisses gehören dann die unmittelbare Situation mit ihren Bedingungen, der weitere institutionelle Kontext und schließlich die Sozialstruktur einer Gesellschaft insgesamt. Diskurse sind mehr oder weniger hegemoniale und ideologische Wissensformen mit spezifischen Funktionsbeziehungen im Hinblick auf die Sozialstruktur. Sie sind in institutionellen Strukturen verortet und formen die Artikulationsmöglichkeiten der Individuen in ihrer Sprachpraxis. Diskurse und Sozialstruktur wirken wechselweise als Bedingungen und Effekte. Diskurse konstituieren Welt, und sie werden umgekehrt durch sie konstituiert; sie (re-) produzieren und transformieren Gesellschaft; sie leisten die Konstruktion sozialer Identitäten, die Herstellung sozialer Beziehungen zwischen Personen und die Konstruktion von Wissens- und Glaubenssystemen. 244 Trotz einiger Parallelen bezüglich der Konzeption des Verhältnisses von Institutionen und kollektiven symbolischen Ordnungen unterscheidet der funktionale Bezug auf Herrschaftsverhältnisse und die Betonung der Subjektkonstitution die Althussersche Position von der weiter oben in Kapitel 2.2.1 erläuterten Institutionenlehre der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie.
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Die Differenzierung zwischen Diskursen und ihren nichtdiskursiven, z.B. ökonomischen oder sozialstrukturelIen Kontexten ermöglicht es im Unterschied etwa zur Position der Diskurstheorie von LaclauIMouffe (vgl. Kapitel 3.3.2), die Wechselbeziehungen zwischen diesen Bereichen zu untersuchen. In Modifikation der Theoriebausteine von Althusser werden Diskurse, so Fairclough, in Diskursordnungen konstituiert, d.h. in Sets von Konventionen des Sprachgebrauchs, die mit sozialen Institutionen verknüpft sind. Als ideologisch gelten Diskurse dann und insofern, wie sie aus Sicht der kritischen Maßstäbe der Diskursanalytiker etablierte soziale Macht- und Herrschaftsbeziehungen verstärken. 245 Gegen die Critical Discourse Analysis lassen sich die Einwände formulieren, die weiter oben schon auf die Ideologiekritik und Forschungspraxis der Kritischen Diskursanalyse bezogen wurden. Auch hier bleibt die empirische Umsetzung hinter der eigenen theoretischen Grundlegung zurück und erweckt häufig den Eindruck einer vor-urteilenden Betrachtung der empirischen Daten, die das sucht, was sie schon zu kennen glaubt. Dies äußert sich darin, dass trotz der komplexen Grundannahmen über die Funktion von Sprache, Kommunikation und Bedeutung rur die geselIschaftliche Wirklichkeitskonstruktion die konkreten Analysen immer wieder sehr schnelI in den untersuchten Materialen - etwa in Interviews oder Zeitungstexten - Elemente wiederfinden, die als ,rassistisch', ,ideologisch', ,fundamentalistisch' u.a. enttarnt werden, ohne dass begründet wird, wie dieser Erkenntnis- bzw. Zurechnungsprozess erfolgt. 246 Auch müsste die CDA, wenn sie nicht hinter erreichte zentrale Positionen der Diskurstheorie zurückfallen will, an dieser Stelle genauer klären, inwieweit die erwähnten Kontexte ihrerseits diskursiv konstituiert sind. Letztlich können sie wohl alIenfalIs in Bezug auf den untersuchten Diskurs als ,nichtdiskursiv' oder ,diskurs-extern' bestimmt werden. In der bislang vorgenommenen Trennung kommt so vor allem die forschungspraktische sprachwissenschaftliche Orientierung der CDA an einzelnen Kommunikationssituationen zum Ausdruck, wie sie ähnlich auch in der discourse analysis besteht. Über solche Fragen ist in jüngerer Zeit eine weiter oben in Kap. 3.1.3.1 bereits erwähnte Diskussion zwischen konversationsanalytischen Ansätzen innerhalb der discourse analysis einerseits, Vertretern der Kritischen Diskursforschung andererseits in Gang gekommen. Deren Auslöser war zunächst ein von Emanuel Schegloff an die CDA gerichteter Vorwurf, in ihren Analysen lediglich die Bestätigung ideologischer Vorurteile zu verfolgen, also immer schon zu wissen, was vor sich gehe, ohne sich angemessen auf die empirische Komplexität der untersuchten Materialien einzulassen. Umgekehrt hat Michael Billig der von Schegloff favorisierten Konversationsanalyse naiven Realismus und erkenntnistheoretische Kurzsichtigkeit vorgeworfen: es fehle ein angemessenes Verständnis der Interpretationsprozesse, die im Analyseprozess zum Tragen kommen; darüber hinaus fuhre der Sowohl Wodak wie auch Fairclough favorisieren je nach Forschungsfrage unterschiedliche methodische Umsetzungen; bei beiden bleibt aber der Ausgangspunkt in linguistischen Ansätzen der discourse analysis bedeutsam. Wodak stützt sich in ihren Arbeiten auf einen MethodenpluraJismus mit kognitionspsychologischem, sozialpsychologischem, sozio-, psycho- und textlinguistischem Hintergrund (Wodak 1996, 1997; Wodak u.a. 1990: 32ff; Wodak u.a. 1994; Wodak/CillialReisigl 1998; TitscherlWodaklMeyerNetter 1998: 190ft). In ihrer Untersuchung von "Diskursstörungen" in organisatorischen Kontexten benutzt sie das Modell der Diskursethik von Habermas als normativen Maßstab zur Beurteilung der, Verzerrung' von Konversationsprozessen (vgl. den Exkurs in Kap. 3.1.3). Zu Fairclough vgl. ders. (I998: 225ff; stärker linguistisch orientiert: Fairclough 2003). 246 Wodak weist im Unterschied zu Fairclough mit ihrem Rekurs auf die Diskursethik von Habermas solche Kriterien explizit aus. 245
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Verzicht auf den Einbezug der verschiedenen Kontextebenen, die in das konkrete Sprachgeschehen prägend hineinwirken, zu naiv-kurzschlüssigen Dateninterpretationen (Billig/Schegloff 1999). Margarethe Wetherell (1998) wiederum plädierte in Reaktion auf die Kritik von Schegloff dafür, die discourse analysis stärker mit der poststrukturalistischen Diskurstheorie von LaclaulMouffe zu verknüpfen, um dadurch ihrem Diskursbegriff ein umfassenderes theoretisches Fundament zu verleihen. Sie könne deswegen von dem weiteren gesellschaftstheoretischen Horizont in ihren Fragestellungen und Analyseergebnissen profitieren, während umgekehrt die Diskurstheorie von LaclauIMouffe einen Bedarf an empirischer Erdung habe, also auf tatsächliche Kommunikationsprozesse unterhalb der Ebene spekulierender Annahmen über Subjektpositionen und Identitäten bezogen werden solle. Dennoch liefere der poststrukturalistische Ansatz stärkere Argumente dafür, warum spezifische Äußerungen an einer bestimmten Stelle erschienen. Die von ihr vertretene Variante der Diskursiven Psychologie bemühe sich um entsprechende Weiterführungen. Alles in allem kann der folgenden Bilanzierung des Ansatzes der Critical Discourse Analysis zugestimmt werden: "Among the different approaches to critical discourse analysis, Fairclough has, in our view, constructed the most sophisticated framework for analysis of the relationship between language use and societal practices in general. The main problem with his approach is that the consequences for empirical research ofthe theoretical distinction between the discursive and the nondiscursive remain unclear. (... ) In specific studies, the problem often manifests itself in the presentation of the broader social practices as the background for the discursive practices." (J0rgensenlPhillips 2002: 89)247
Über die erwähnten Probleme der Diskrepanz zwischen theoretischer Herleitung und empirischer Umsetzung in den Varianten der Kritischen Diskursforschung hinaus muss jedoch noch ein allgemeiner Einwand formuliert werden. Trotz der Erweiterung um sozialwissenschaftliche Theoriebezüge fällt die Frage des, Wissens' und der institutionell-diskursiven Strukturierung der Macht/Wissen-Regime, die im Zentrum von Foucaults Vorhaben stand, aus dem Blick sowohl der Kritischen Diskursanalyse wie auch der CDA. Sie verlässt also nicht ihre Herkunft in der sprachwissenschaftlichen Tradition und untersucht letztlich ,nur' die Wirkmechanismen von Ideologien bzw. als ideologisch begriffenen Diskursen in den Medien und auf der Ebene des Alltags. Insoweit handelt es sich um eine starke Reduktion des diskurstheoretischen Programmes hin auf eine spezifische Form der Ideologiekritik. Exkurs: Diskursforschung und Ideologiekritik In Kapitel 2.1 wurde die Entwicklung der Wissenssoziologie als Generalisierungsprozess aus der marxistischen Ideologiekritik heraus zu einem allgemeinen Programm der Analyse sozialer Wissensformationen erläutert. Der kritische Einwand von Karl Mannheim gegen das Marxsche Programm betraf die Probleme einer überzeugenden wissenschaftlichen Legitimation des Kritiker-Standortes. Im weiteren Verlauf der wissenssoziologischen Reflexionen spielte Ideologiekritik keine zentrale Rolle
247
V gl. zu weiteren Kritikpunkten ebd.
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mehr. 248 In den Traditionen der Diskursforschung hat demgegenüber der Rekurs auf Formen der Ideologiekritik einen höheren Stellenwert. Obwohl gerade Michel Foucault das entsprechende marxistische Programm entschieden kritisierte und insoweit in der Auseinandersetzung über Diskursforschung den Part einnahm, den Mannheim in der Wissenssoziologie spielte, hat dies nicht zu einem Verschwinden ideologiekritischer Programmatiken geftihrt. 249 In der marxistischen Tradition bezieht sich der Ideologiebegriff auf die Verbindung von Interessen und Bewusstseinsformen; dabei wird von der Möglichkeit der Unterscheidung von ,eigentlichen' Interessen und der verfalschten Wirklichkeitserfahrung durch Bewusstsein ausgegangen - es gibt die tatsächlichen, ,wahren' Verhältnisse und ihre Verschleierung. Der von Foucault formulierte Diskursbegriff visiert zunächst allgemeiner auf die soziale und praktische Erzeugung von gesellschaftlichen Wissensformationen und die dadurch vollzogene Konstitution von Weltwahrnehmung. Damit beerbt die Foucaultsche Diskurstheorie ähnlich wie schon die wissenssoziologischen Programme von Mannheim oder Durkheim Fragestellungen, die in der Ideologiekritik behandelt wurden. 2so Allerdings besteht in der gegenwärtigen Diskursforschung auch weiterhin ein starker ideologiekritischer Zweig. Einerseits werden also, wie im hier ausgearbeiteten Vorschlag einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse, Diskurse ohne Rekurs auf das Ideologiekonzept untersucht. Das schließt nicht aus, auch ihre ,Machtwirkungen', Prozesse der Über- oder Unterordnung, der Herrschaft oder Hegemonialität von Diskursen in den Blick zu nehmen. Diese Perspektive, die sich in Teilen der sprachgeschichtlichen Diskursforschung, der Analyse öffentlicher Diskurse im Symbolischen Interaktionismus und insbesondere in den Arbeiten Foucaults findet, kann sich auf die schon durch Friedrich Nietzsche u.a. vorbereitete wissenssoziologische Generalisierung des Ideologiekonzepts bei Kar! Mannheim beziehen. Mannheim entwickelte seinen verallgemeinerten Ideologiebegriff zur Bezeichnung der unh intergehbaren Standortgebundenheit der Weltanschauungen bzw. des Denkens. Antonio Gramsci benutzte ähnlich wie Mannheim den Ideologiebegriff als Konzept für umfassende Weltanschauungen, die in Institutionen und Praktiken manifestiert sind und soziale Gruppen mit ihrer Weitsicht versorgen. Michel Foucault schließlich lehnte in seiner Diskurstheorie das Ideologiekonzept ab, weil es unumgänglich die Annahme einer erkennbaren WahrheitlRealität mittransportiere, die dadurch verborgen würde. Gegen eine solche Position argumentieren diejenigen Ansätze innerhalb der Diskursforschung, die sich explizit in der ideologiekritischen Tradition verorten und einem ,emanzipatorischen' Erkenntnisinteresse folgen, das sich auf die Analyse von und Aufklärung über Herrschaftsbeziehungen konzentriert. Dem Vorwurf, im Namen einer eigenen Wahrheit sprechen zu müssen, wenn man das Ideologiekonzept einsetzt, wird durch eine definitorische ,Formalisierung' begegnet: Ideologie bezeichne Wissenssysteme genau dann, wenn sie ftir Herrschaftsausübung funktionalisiert würden. Barrett fasst in seinem Überblick über die Debatte den Kerngehalt des Konzeptes zusammen: "The retrievable core of meaning of the term ideology is precisely this: discursive and significatory mechanisms that may occlude, legitimate, naturalise or universalise in a variety of different ways but can all be said to mysti/)'. In such a usage, the term ideo)ogy is c1early a general term referring to mystification: it refers to a function or mechanism but is not tied to any particular content, nor to any particular agent or interes!. On this definition, ideology is not tied to any one presumend cause, or logic, of misrepresentation; it refers to a process ofmystification, or misrepresentation, whatever its dynamic." (Barren 1991: 167)
Ideologiekritik findet sich weiterhin in marxistischen Ansätzen und in der Tradition der Frankfurter Schule. Vgl. auch Ritsert (2002). 249 Gute Überblicke über den Verlauf der Auseinandersetzungen geben Barret (1991) und Hirseland/Schneider (2001) 250 Vgl. zum Verhältnis von Ideologiebegriff, Wissenssoziologie und Diskurstheorie neben den bereits erwähnten Autoren auch Lenk (1984), Demirovic (1988), Demirovic/Prigge (1988), Van Dijk (1998), Zima (1989), PurvislHunt (1993) und die Beiträge in Zizek (1994). 248
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Im Diskursverständnis der CDA tragen bspw. diskursive Praktiken zur Schaffung und Reproduktion von ungleichen Machtverhältnissen zwischen sozialen Gruppen bei, haben also ideologische Effekte. Ideologie ist hier ,Bedeutung im Dienste der Macht'; es handele sich um Bedeutungskonstruktionen, die zur Produktion, Reproduktion und Transformation von Herrschaftsbeziehungen beitragen und eine, verzerrte' oder ,gestörte' Repräsentation der Welt vorantreiben (Fairclough 1995). Fairclough schließt damit an das Ideologieverständnis bei Thompson (1990) an, der den Begriff darauf bezieht, wie Bedeutungen rur die Herstellung und Aufrechterhaltung von Herrschaftsbeziehungen benutzt werden. Thompson entwickelt in diesem Zusammenhang eine ideologiekritische Sozialtheorie der Massenmedien und plädiert rur die Untersuchung von Prozessen der Strukturierung symbolischer Ordnungen aus einer hermeneutisch-interpretativen Perspektive heraus, die er als Tiefenhermeneutik bezeichnet. 251 Auch Louis Althusser betrachtete Ideologien als Wissensformen, die durch institutionelle Apparate transportiert werden und Subjekte in spezifische Positionen stellen bzw. Subjekte formen und dadurch Herrschaftsverhältnisse reproduzieren. Die Cultural Studies begründen die Verwendung des Ideologiebegriffs mit der Legitimationsieistung von Wissen für Herrschaftsbeziehungen. LaclauIMouffe schließen an Althusser an, verzichten jedoch auf die mit dem marxistischen Ideologiekonzept einhergehende Homogenisierungs-Unterstellung und nennen ,Ideologie' alle Diskurse mit totalisierendem bzw. universalistischem Anspruch, die im Namen einer undifferenzierten Gesamtheit sprechen (Torfing 1999: 113ft). Dazu zählen bspw. alle Formen des Fundamentalismus oder Nationalismus. Ein schwaches Echo des marxistischen Ideologiekonzepts findet sich noch in der Wissenssoziologie von BergerfLuckmann: "Wenn eine Wirklichkeitsbestimmung so weit ist, dass sich ein konkretes Machtinteresse mit ihr verbindet, so kann sie ,Ideologie' genannt werden" (Berger/Luckmann 1980: 132). Der Ideologiebegriff setzt hier voraus, dass es eine Konkurrenz von Weltsichten gibt; Ideologien sind Weltsichten, sofern sie für Machtinteressen adaptiert werden. PurvislHunt (1993: 496ft) schlagen vor, Ideologie als einen Effekt von Diskursen zu begreifen, soweit es um die Produktion/Reproduktion von Herrschaftsbeziehungen gehe. Allerdings weisen ideologiekritische Ansätze der Diskursforschung - bspw. auch die Kritische Diskursanalyse von Siegfried Jäger u.a. - nur in den seltensten Fällen aus, wie sie empirisch begründet von Ideologie sprechen können. In den meisten Analysen wird es als evident behandelt, dass alle Formen (extremen) ,rechten' Denkens - bspw. in seinen nationalistischen, rassistischen oder neoliberalen Varianten - als Ideologien bekannt sind und im empirischen Feld ,agieren'. Vergleichsweise selten sind Ausarbeitungen von eigenen kritischen Maßstäben; am ehesten vermag hier der Rekurs auf die Diskursethik von Habermas bei Ruth Wodak (1996) zu überzeugen.
Exkurs Ende
3.3.2 Die postmarxistische Diskurstheorie von Ernesto LaclauiChantal Mouffe 1m Unterschied zu den Ansätzen der Kritischen Diskursforschung, die sich vor sprachwissenschaftlichem Hintergrund mit der Analyse einzelner Sprachereignisse beschäftigen und die sprechenden Subjekte als unproblematisch gegebene Akteure voraussetzen, nimmt die im politikwissenschaftlichen Kontext entstandene Diskurstheorie von Emesto Lac1au und Chantal Mouffe eine Makro-Perspektive auf Diskurse ein. Im Kem ihrer Überlegungen steht im Anschluss an Foucault, Althusser und Gramsci sowie im besonderen Rekurs auf die Subjekt- und Identitätstheorie von Jacques Lacan (1973) die Frage nach der Einbindung Ein solcher Ansatz müsse, so Thompson, den soziohistorischen Kontext (zeiträumliches Setting, Interaktionsfeld, Institutionen, Sozialstruktur, Technik) und die Diskursanalyse semiotischer, narrativer, argumentativer u.a. Strukturen umfassen. 251
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von Subjekten in Diskurse einerseits, nach der Subjektkonstitution durch Diskurse andererseits. Dabei entwickeln sie die Diskurstheorie zu einer allgemeinen Sozialtheorie der Konstruktion von individuellen und kollektiven Identitäten. 252 Lac1au und Mouffe bezeichnen "als Artikulation jede Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, daß ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird. Die aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Totalität nennen wir Diskurs. Die differentiellen Positionen, insofern sie innerhalb eines Diskurses artikuliert erscheinen, nennen wir Momente. Demgegenüber bezeichnen wir jede Differenz, die nicht diskursiv artikuliert ist, als Element." (LaclaulMouffe 199 I: 155)
Laclau und Mouffe haben damit ein diskurstheoretisches Konzept vorgeschlagen, das sich deutlich von sprachwissenschaftlichen Herangehensweisen abhebt und sich auf die Analyse der Artikulation von wirklichkeitskonstituierenden Diskursen durch soziale Praktiken richtet (Howarth/Stavrakakis 2000). Das ,Diskursive' gilt als der Bedeutungshorizont, innerhalb dessen die Seinsweise der Gegenstände konstituiert wird. Ein solches Verständnis des ,Diskursiven' bezeichnet das Gesamt der symbolischen Ordnungen einer Gesellschaft. Dazu zählen alle Praktiken, da jede, auch die nicht-sprachliche Praktik Bedeutungen generiert und deswegen als Artikulation verstanden werden kann. Diskurse sind Systeme von Praktiken, die die Identitäten von Subjekten und Objekten formen. Solche Systeme sind politisch, denn ihre Formation ist ein Akt der Institutionalisierung, der Antagonismen erzeugt und Grenzen zwischen Dazugehörigen und Ausgeschlossenen zieht. Es handelt sich um kontingente historische Konstruktionen, die Macht involvieren, um eine vorübergehende Fixierung von Bedeutung in einem sich immer im Fluss befindlichen Bedeutungszusammenhang. Lac1aulMouffe setzen Diskurse mit dem Begriff des Sozialen bzw. des Gesellschaftlichen gleich: Das Soziale existiert immer und notwendig als symbolische Sinn-Ordnung. Diese symbolischen Ordnungen umfassen sowohl konkrete materiale Objekte wie Handlungsweisen bzw. Praktiken und Subjektpositionen rur menschliche Akteure. Die Beziehungen zwischen den Elementen dieser Ordnung werden durch Bedeutungszuweisungen hergestellt und stabilisiert; jede soziale Praxis ist immer eine Praxis der Sinnerzeugung, egal ob es um die Herstellung eines Objektes, um eine Körperbewegung oder um Sprechen geht - alles wird zum Zeichenträger, auch da, wo keine explizite Absicht der Zeichenübermittlung oder Kommunikation vorhanden ist. Die erwähnten Sinnordnungen werden durch Diskurse konstituiert. Lac1au und Mouffe begreifen Diskurse als Systeme von Differenzbildungen, d.h. von internen und außenbezogenen Abgrenzungen, die vorübergehend institutionell fixiert wurden. Sie zielen darauf, den Sinn- bzw. Bedeutungsüberschuss, d.h. die unendliche Vielfalt möglicher Interpretationsweisen, die allem Zeichengebrauch inhärent ist, zu reduzieren, zu fixieren und damit gängige, akzeptierte und geteilte Interpretationsweisen hervorzurufen. Solche Prozesse der Sinnfestschreibung erfolgen durch Praktiken der Artikulation. Damit sind ,kreative' Bedeutungsrelationierungen bezeichnet, durch die 252 Vgl. dazu jetzt Nonhoff (2006), sowie schon Torfing (1999) und den einführenden Überblick von J0rgensenlPhillips (2002: 24ft), eine knappe Einführung in die zentralen Begriffe findet sich auch bei Howarth/Stavrakakis (2000) und Moebius (2003: 156ft). Empirische Untersuchungen sind versammelt in HowarthlNorval/Stavrakakis (2000), HowarthlTorfing (2005); vgl. auch die Analyse des hegemonialen Projektes der "Sozialen Marktwirtschaft" bei Nonhoff (2006).
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gesellschaftliche Akteure verschiedene Elemente kombinieren und neuen ,Sinn' erzeugen. Die daraus entstehende Strukturgesamtheit bildet einen Diskurs. Durch Praktiken der Artikulation können soziale Akteure Diskurse festigen, herausfordern und verändern. Diskursive Sinnfixierungen sind Gegenstand sozialer Kämpfe bzw. Auseinandersetzungen. 253 Die Prozesse der Diskursstrukturierung lassen sich anhand von "Knotenpunkten" (nodal points) bestimmen. Dabei handelt es sich um privilegierte Begriffe (Zeichen) in einem Diskurs, die ein spezifisches Bedeutungssystem, eine "chain of signification" zusammenhalten - z.B. ,Kommunismus' innerhalb verschiedener Diskurse der kommunistischen Ideologie. Alle anderen Elemente werden darauf als Momente bezogen, also als ein- oder ausgeschlossen verortet. Diskurse und Identitätszuschreibungen erzeugen deswegen quasiautomatisch soziale Antagonismen. Sie entstehen, so Laclau und Mouffe im Anschluss an Lacan, aus einem Mangel - individuelle Agenten sind nicht in der Lage, die in einer Diskursstruktur angebotenen Subjektpositionen und die damit verknüpften Identitäten vollständig zu ,erreichen'. Aus dem Zwang zur Entscheidung zwischen den Positionierungsangeboten entsteht die (politische) HandlungsHihigkeit von Subjekten. Sie sind weder in einem einfachen Sinne durch die Diskursstruktur determiniert noch konstituieren sie diese Struktur. Stattdessen sind sie gezwungen, Entscheidungen zu treffen, d.h. sich zu identifizieren. Von ,hegemonialen Praktiken' sprechen Laclau und Mouffe im Hinblick auf Artikulationen, die unterschiedliche Identitäten in ein gemeinsames Projekt involvieren und im Ergebnis eine hegemoniale Formation erzeugen. Ihre Diskurstheorie mündet in eine Theorie des Politischen als dem gesellschaftlichen Arrangement von Artikulationspraktiken. Die weiter oben erwähnten diskursimmanenten Differenzbildungen sind nicht durch eine objektive Bedeutungsstruktur vorgegeben, sondern (umstrittenes) Ergebnis der Artikulationspraktiken gesellschaftlicher Akteure und Subjekte. Innerhalb eines Diskurses erfolgen Abgrenzungen nach einer Logik der Differenz: einzelne Bestandteile gewinnen ihre Bedeutung und ihren Sinn in Relation zur Struktur der diskursinternen Differenzierungen. Setzt bspw. ein Diskurs auf die ,Einheit des Volkskörpers' , dann kann er intern durch Unterscheidungen strukturiert sein, welche den/die ,Führer' (den Kopf) von den unterstützenden anderen ,Organen' abheben, Männern und Frauen je spezifische Rollen zuweisen usw. Durch die Logik der Aquivalenz werden solche diskursinternen Differenzierungen wiederum ,vereinheitlicht', wenn sich der Diskurs nach Außen abgrenzt: in einer Kriegssituation kennt man dann ,weder Herrschende noch Beherrschte', keine Arbeiter und Aristokraten, sondern nur noch ,ein Volk, ein Vaterland' und ,die Feinde'. Laclau (1996: 36ff) schlägt den Begriff des" leeren Signifikanten" für ein solches vereinheitlichendes Zeichen vor, das letztlich die Gesamt-Identität des Diskurses bezeichnen will. Ein Beispiel liefert der Wert der ,Freiheit', der als eine abstrakte, mit unterschiedlichen Bedeutungen auffüllbare Chiffre gebraucht werden kann, wenn es darum geht, im Namen der Freiheit bzw. der freien Welt gegen ein Außen (etwa: den kommunistischen Block; die "Achse des Bösen"; "Schurkenstaaten") vorzugehen. 254 Als hegemonial werden Diskurse beschrieben, die dazu tendieren, umfassende Weltbilder zu entwickeln und darin alle sozialen Beziehungen in einer Gesamtstruktur einzuVgl. dazu LaclaulMouffe (1991), Laclau (1981,1990,1993,1994,1996). Mittlerweile ist in diesem Zusammenhang auch vom "geleerten Signifikanten" die Rede (Nonhoff2001). LeviStrauss spricht 1950 in seiner Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Band mit Arbeiten von Marcel Mauss vom "flottierenden Signifikanten" (Levi-Strauss 1974: 39). Das Konzept des ,empty signifiers' lässt sich auf Jakobsons 1940 vorgeschlagenen Begriff des ,zero-sign' rück beziehen (Chandler 2003: 74ft). 253
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ordnen. Dabei handelt es sich jedoch eher um eine Tendenz zur Hegemonialität; aufgrund der u.a. von Antagonismen und Sinnüberschüssen, von Brüchen, Konflikten gekennzeichneten Situation verfügbarer Sinnordnungen bleiben diese immer in Bewegung. Zwar bieten Diskurse mehr oder weniger feste Subjektpositionen an, doch die Subjekte stehen immer im Schnittfeld unterschiedlicher, teilweise konkurrierender Diskurse und Subjektpositionen (z.8. Mann, Weißer, Westeuropäer, Franzose, Pariser, Minister).255 Deswegen gilt ihnen im Anschluss an Althussers Begriff der "Interpellation" (Althusser 1977), mit dem die Adressierung von Subjekten durch das diskursive Angebot von Subjektpositionen bezeichnet wird, das Subjekt als fragmentiert und durch Diskurse ,überdeterminiert' zugleich. Subjekte beziehen sich auf solche Positionierungsangebote in unterschiedlichen Identifikationsprozessen: Subjektivität manifestiert sich, so Laclau im Anschluss an Lacan und sein Konzept des "Begehrens", im Prozess der Entscheidung in Situationen, die - bezogen auf verfügbare Kriterien - unentscheidbar sind (Stäheli 1999: 155; Zizek 1989, 1998): "Die Unabschließbarkeit von Diskursen, d.h. die Unmöglichkeit jemals eine vollständige Identität zu erlangen, produziert immer wieder Situationen, in denen der Mangel des Diskurses in der Form von Unentscheidbarkeiten zu Tage tritt. Während eine traditionelle Subjektkonzeption hier ein mehr oder weniger rational entscheidendes Subjekt einsetzen würde, das mit Entscheidungsproblemen konfrontiert ist, lautet die Laclausche Option ganz anders: Kein Subjekt existiert unabhängig von der Unentscheidbarkeit, die es durch seine Entscheidung aufzulösen hat. Das Subjekt kommt vielmehr im Zuge der Identifikation mit einem bestimmten Inhalt, der die unentscheidbare Situation auflösen soll, zustande (...) Wenn in England mit New Labour oder in Deutschland mit der Neuen Mitte ein Imaginäres angeboten wird, das eine soziale Krisensituation (... ) ,nähen' soll, dann liegt die Kontingenz dieses politischen Angebots in der Unterdrückung alternativer Identifikationsflächen (z.B. ,Old Labour' oder Neo-Liberalismus). Der Moment des Subjektes besteht nicht in der vollzogenen Identifikation mit ,New Labour', sondern in jenem Moment der Unentscheidbarkeit, in dem die Identifikation noch nicht stattgefunden hat. Dieses ,noch' ist nicht einfach in einem zeitlichen Sinn zu verstehen, sondern als Hinweis darauf, daß jede Identifikation scheitert, da das Subjekt nie vollständig in seiner Identifikation aufgeht (...) Die erfolgreiche Realisierung einer Identifikation führt zur Verfestigung von Subjektpositionen und damit zur Auslöschung des Moments des Subjekts (... ) Denn Subjektpositionen werden durch die erfolgreiche, zeitweilige Auflösung von Unentscheidbarkeitssituationen hergestellt." (Stäheli 1999: 155t)
Jmgensen/Philipps (2002: 43) resümieren das Identitätskonzept der Diskurstheorie von LaclaulMouffe in acht Punkten. Demnach ist das ,Subjekt' grundlegend fragmentiert, dezentriert, aufgesplittert und nie in irgend einem Sinne mit ,sich selbst' identisch. Seine Identität(en) erhält es vielmehr in Prozessen der diskursiven Repräsentation in den unterschiedlichen Diskursen, in die es eingebunden ist. Diese Identitäten sind tatsächlich ,nur' Identifikationen mit den Subjektpositionen, die durch diskursive Strukturen angeboten werden. Die diskursive Konstitution von Identität erfolgt über Äquivalenzketten, die Zeichen miteinander verknüpfen und in Opposition zu anderen Zeichenverkettungen setzen. Dadurch wird defmiert, wie ein Subjekt, das die Subjektposition einnimmt, ist bzw. wie es nicht ist. Identität ist dann immer ein Verhältnisbegriff, der seinen positiven Gehalt nur über eine entsprechende Negativ-Differenz erfahrt. Eine solche Identität wandelt sich mit 255 Das Verhältnis des Konzepts der Subjektpositionen, das sich auch bei Althusser und Foucault findet, zum soziologischen Rollenbegriff ist bislang kaum diskutiert (Stäheli 1999: 48f).
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den Diskursen. In einem bestimmten Sinne ist das Subjekt damit überdeterminiert: das breite Angebot der Subjektpositionen gibt ihm die Möglichkeit, sich in konkreten Situationen je anders zu identifizieren. Jede gegebene Identität ist eine Möglichkeit, keine Notwendigkeit. Die an LaclauIMouffe anschließenden Forschungen richten sich insbesondere auf die Untersuchung politischer Diskurse im Hinblick auf Typen der Hegemonie, Formen der Subjektpositionierung, die Konstruktion kollektiver Identitäten u.a. (z.B. Norval 2000; Howarth/Torfmg 2005; Nonhoff2006). Allerdings enthalten sie bisher nur wenige Hinweise zur Methode - wenn sie nicht gleich vollständig ihr empirisches Vorgehen in anderen Ansätzen der Diskursforschung verorten (Howarth/Stavrakakis 2000). Dies ist nicht zuletzt der Abstraktheit des Theoriegebäudes insgesamt geschuldet: 256 Während LaclauIMouffe einerseits hilfreiche konzeptuelle Vorschläge zur Analyse der Strukturierung der semantischen Ebene von Diskursen machen, überzieht andererseits ihre Gleichsetzung des Diskursiven mit dem Sozialen schlechthin das Diskurskonzept, weil analytische Unterscheidungen verschiedener gesellschaftlicher Strukturebenen und Strukturierungsformen einschließlich der Differenzierung zwischen Diskursen und Praktiken damit unterlaufen werden. So fehlen dann auch begriffliche Konzepte, die - über die Textanalyse hinausgehend - die empirische Erforschung von Diskursprozessen ermöglichen. Mit Jessop (1990: 297ft) muss deswegen auf die Diskrepanz zwischen dem universalistischen Anspruch dieser Diskurstheorie und der letztlich doch sehr engen Anwendungsperspektive im Hinblick auf Prozesse der Subjekt- und Identitätskonstitution hingewiesen werden. Der Fokus auf die diskursive Artikulation verschließt auch den Blick fiir nichtintendierte oder nicht-antizipierte Prozesse und die Dynamik institutioneller Ordnungen. Äußere Bedingungen und Settings des HandeIns werden nicht einbezogen, Lernkapazitäten und die Möglichkeit der kollektiven Erfahrungsakkumulation können nicht thematisiert werden. Letztlich verweisen diese Einwände alle auf die Grundidee, auf die hin die Diskurstheorie von LaclauIMouffe entwickelt wurde: Es geht ihnen aus politikwissenschaftlicher Perspektive darum, "das Politische als Antagonismus" (Mouffe 2007: 17) zu begreifen und über den Diskursbegriff die Mobilisierungsprozesse politischer Akteure rur ihre hegemonialen Projekte analytisch zu erschließen. Dabei rechnen sie den emotiven oder affektiven Momenten der Mobilisierung eine besondere und weithin in politikwissenschaftlichen Analysen unberücksichtigte Rolle zu. Diese Dimension des Politischen zeige sich insbesondere in der Konstruktion von Identifikationsangeboten rur kollektive Identitäten, die ein positiv besetztes, Wir' einem negativen, zu besiegenden oder abzusetzenden ,Sie', also einem Gegner gegenüber stellen. Der konzeptuelle Apparat ihrer Diskurstheorie richtet sich dann gerade auf die nichtargumentativen oder ,nicht-rationalen' Momente dieser politischen Kämpfe. So schreibt bspw. Chantal Mouffe in einer Analyse des Erfolges von Jörg Haider in Österreich: "Haiders diskursive Strategie bestand darin, eine Grenze zwischen einem ,Wir' zu ziehen, zu dem alle guten Österreicher gehörten - hart arbeitende Menschen und Verteidiger der nationalen Werte -, und einem ,Sie', das sich aus den an der Macht befindlichen Parteien, den Gewerkschaften, Bürokraten, Ausländern, Linksintellektuellen und Künstlern zusammensetzte, die alle als Hindernisse für eine wirkliche demokratische Diskussion dargestellt wurden." (Mouffe 2007: 89) Bezogen auf ihr eigenes Projekt einer "radikalen Demokratie" heißt es: "Wir glauben, 256 Vgl. zur Kritik an der fehlenden methodischen Operationalisierung sowie an Ungenauigkeiten des Diskursbegriffs in der Theorie von LaclaulMouffe die Zusammenfassung von J0rgensen/Philipps (2002: 54ft).
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die Radikalisierung der Demokratie erfordert die Veränderung der bestehenden Machtstrukturen und die Bildung einer neuen Hegemonie. Zur Errichtung einer neuen Hegemonie gehört die Schaffung einer ,Kette von Äquivalenzen' zwischen den diversen alten und neuen demokratischen Bewegungen, um einen ,kollektiven Willen' zu formen, ein, Wir' der radikalen demokratischen Kräfte. Das kann aber nur durch die Bestimmung eines ,Sie' geleistet werden, eines Gegners, der besiegt werden muß, um die neue Hegemonie zu ermöglichen." (Mouffe 2007: 71)
Die methodische Umsetzung dieses Ansatzes gerät häufig zu einem deduktionistischen, im konkreten Vorgehen unbestimmt bleibenden Interpretationsvorgang, der - bezogen auf die untersuchten Diskurse - in redundanter Weise auf diejenigen Konzepte und funktionalen Momente abzielt, die aus Sicht des kategorialen Bezugsrahmens der Theorie als ,relevante Elemente' von Diskursen und Identifikationsprozessen vorab bestimmt sind: Knotenpunkte, leere Signifikanten, Äquivalenz- und Differenzketten usw. Die Daten dienen zur Illustration der theoretischen Zusammenhänge bzw. zur AuffiHlung der Konzepte mit Beispielen, werden aber nicht als eigenständige Ebene der Theoriebildung einbezogen. Die empirische Anwendung der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe interessiert sich damit gerade nicht für die institutionelle Strukturierung und die gesellschaftlichen Verläufe von Diskursen, auch nicht für deren ,Wissensdimension " sondern allein für den Nachweis des Vorkommens und die konkrete Erfüllung derjenigen, auf Mobilisierungen und Identifikationen zielenden ,Zeichenfunktionen' , denen ihre Aufmerksamkeit gilt. Aufgrund der Vereinseitigung der Perspektive auf die Prozesse der Artikulation und der Identitätsangebote werden vor allem öffentliche (u.a. nationalistische, rassistische) Mobilisierungsdiskurse fokussiert, die sich um die Konstitution von Kollektividentitäten bemühen. Damit gerät auch hier, wie schon in der kritischen Diskursforschung, die Ebene der von Foucault anvisierten Wissensformationen aus dem Blick. Dies kommt auch in dem aus der strukturalistischen Tradition stammenden Zeichenbegriff zum Ausdruck, der dazu ,verführt', Äquivalenz- und Differenzkonstellationen von isolierten Zeichen zu benennen, die unter einem bzw. konkurrierenden "leeren Signifikanten" versammelt sind, ohne dabei die Interpretationsschritte der Analyse und die ,Gebrauchskontexte' bzw. Erzeugungszusammenhänge der Zeichenbedeulungen zu reflektieren, selbst dann, wenn die Analysen, wie etwa bei Martin Nonhoff (2006) bereits deutlich den Kontext der Diskurstheorie von LaclauIMouffe verlassen. Trotz der erwähnten Unzulänglichkeiten der Diskurstheorie von LaclauIMouffe formulieren sie mit ihrem Vorschlag eines poststrukturalistischen Identitätskonzeptes, das Identitäten als flüchtiges Produkt serieller Identifikationsprozesse begreift, eine Grundlage für die auch in der gesamten Soziologie und dort insbesondere in den Handlungstheorien weiterzuführende Diskussion um ein angemessene Verständnis von sozialer Prägung, Subjektivität, Identität und Individuen als "sinnbastelnden" (Ronald Hitzier) sozialen Akteuren. Wenn bei LaclauIMouffe das Subjekt im emphatischen Sinne in der Situation der Unentschiedenheit oder Unentscheidbarkeit besteht und mit jedem Identifikationsprozess, in dem es sich einer allgemeinen Schablone - in den Worten von Alfred Schütz: einer Typisierung - unterwirft, zugleich als Subjekt verschwindet, so bleibt es damit letztlich ebenso unzugänglich wie dies in der sozialphänomenologischen Tradition für die subjektiven Bewusstseinsleistungen behauptet wird. Dies stellt aber für soziologisches Forschen, das sich
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mit sozialen Typisierungen - auch in Gestalt von Identitätsschablonen - beschäftigt, nicht notwendig ein Problem dar. 257
3.3.3 Der Kreislaufder Kultur: Das Diskurskonzept der Cultural Studie/ 58 Die Rezeption der Cultural Studies in der deutschsprachigen Soziologie verlief bislang ähnlich zögerlich wie diejenige der verschiedenen Diskurstheorien, obwohl - wie Hörning/Winter (l999a) hoffen - sich aus ihnen nicht nur fur die Kultursoziologie, sondern auch fur die Soziologie im Allgemeinen und die Wissenssoziologie im Besonderen Impulse und Anregungen gewinnen lassen. Hörning (1999) betont vor allem den Zusammenhang von KulturIPraxis und die sich daraus ergebenden wissenssoziologischen Perspektiven: Kultur wird als Prozess verstanden, der durch und in Alltagspraktiken realisiert wird, die wiederum zugleich praktische Tätigkeit wie Artikulation von Wissens- oder Deutungsbeständen sind: "Eine solche Kulturtheorie müßte sich dann weniger um den offiziellen Status von Wissenssystemen kümmern als um all die impliziten und informellen Aspekte der Hervorbringung, Repräsentation, Übertragung, Einübung, Materialisierung, Speicherung und des praktischen Einsatzes von Wissen und Können, in der sich die soziale Macht des Kulturellen äußert." (Hörning 1999: 88f)
Im Unterschied zur kritischen Diskursforschung und zur Diskurstheorie von LaclauJMouffe bilden die Cultural Studies kein Theorie- und Forschungskonzept, das in spezifische Disziplinkontexte - etwa der Sprach- oder Politikwissenschaften - eingebettet ist. Vielmehr handelt es sich dabei um eine vergleichsweise neue und eigenständige wissenschaftliche Disziplin, die sich mit dem Gegenstand ,Kultur' beschäftigt und in sich sehr unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und Vorgehensweisen ausdifferenziert hat. Die nachfolgende Darstellung kann nicht die gesamte Breite dieses Wissenschaftszweiges berücksichtigen. Sie konzentriert sich stattdessen auf diejenigen Überlegungen, die diskurstheoretische Traditionen der Wissensanalyse aufgreifen. Ähnlich wie Laclau und Mouffe interessieren sich auch die Cultural Studies fur die Prozesse der Produktion, Verbreitung und Rezeption von Deutungsbeständen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene. Sie sind vergleichsweise stärker von soziologischen Theorieentwicklungen beeinflusst und betonen im Unterschied zu Michel Foucault die Rolle gesellschaftlicher Akteure in der Wissenszirkulation sowie die Erzeugung gesellschaftlicher Wirklichkeit im Wechselverhältnis zwischen aneignenden Alltagspraktiken und institutionell-organisatorischen Feldern der Wissens- und Kulturproduktion. 259 Gleichzeitig verfolgen sie eine herrschafts- und kulturindustrie-kritische Per257 Eine detaillierte Diskussion der Kompatibilitäten und Diskrepanzen zwischen unterschiedlichen philosophischen, psychologischen, soziologischen, literaturwissenschaftlichen und literarischen Subjekt- und Identitätskonzepten findet sich bei Zima (2000). Zima bescheinigt der Soziologie, die ja immer schon von der sozialen Konstitution der Akteure ausgeht, eine vergleichsweise geringe Dringlichkeit dieser Fragen. Vgl. dazu Kap. 4.2.3. 258 Vom "Kreislaufder Kultur" als dem Analysegegenstand der Cultural Studies sprechen du Gay u.a. (1997); zur "Zentralität von Kultur" in den Cultural Studies und ihrem Verhältnis zur Kultursoziologie vgl. Winter (I 999b). 259 Stuart Hall (2002) stellt die Cultural Studies in die sozialwissenschaftlichen Traditionen der Bedeutungsanalyse bei Max Weber, Emile Durkheim und Marcel Mauss und betont, sie hätten seit den 1960er Jahren zur Aktuali-
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spektive, die vor allem der Eigenwertigkeit der ,Kultur von unten' Beachtung schenkt. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen Bedeutungskreisläufe, symbolische Kämpfe und Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Definitionsmacht (HömingiWinter 1999a): "Ähnlich wie die Nach-Wittgensteinsche Philosophie, die die vielfältigen Verbindungen von Sprache und sozialer Praxis analysiert, ähnlich wie der Poststrukturalismus oder die interpretative Soziologie rücken die Cultural Studies den Begriff des Kontextes in den Mittelpunkt. Sie verstehen die kulturellen Praktiken und die kulturellen Formen immer kontextuell, das heißt eingebettet in historisch spezifische und sozial strukturierte Zusammenhänge." (Hörning/Winter 1999: 9)
Zwischen Cultural Studies und So?:iologie besteht ein gewisses Spannungs- und Missachtungsverhältnis. 260 Die Cultural Studies haben sich selbst immer wieder mehr oder weniger explizit von der Soziologie distanziert. Zwar wurde innerhalb der Cultural Studies keine umfassende eigenständige Diskurstheorie entwickelt; sie haben jedoch durch ihre Fragestellungen und die Verknüpfung poststrukturalistischer Diskurstheorien mit soziologischen Theorieelementen die heutige Konjunktur der Diskursforschung stark beeinflusst. 261 Mit ihrem Interesse an kulturellen Prozessen, d.h. an Phänomenen der Wissens- und Bedeutungszirkulation besitzen die Cultural Studies Affinitäten zur wissenssoziologischen Tradition, auch wenn sie nur selten dort verortet werden?62 Gleichzeitig schließen die Cultural Studies - und in enger Nachbarschaft dazu die Postkolonialismustheorien263 - grundlegend
sierung der ,Kultur als Bedeutung'-Perspektiven auch in der Soziologie beigetragen, die, obwohl bspw. in Gestalt des Symbolischen Interaktion ismus immer präsent, doch lange Zeit marginalisiert waren. 260 Wood (1998) plädiert bspw. dafür, dass nicht nur, wie oft behauptet, die Soziologie von den Cultural Studies, sondern auch umgekehrt letztere von der Soziologie lernen könnten. McHoullMilier (1998) haben kürzlich den Cultural Studies eine Öffnung und Orientierung hin zur Ethnomethodologie vorgeschlagen. Morley (2003) verweist in Verteidigung der Cultural Studies darauf, diese hätten die kulturalistische Wende der Soziologie mit angestoßen, zeichneten sich durch hohe methodologische Reflexion aus und stünden als interdisziplinäres Projekt per se im Dauerkontakt zu bestimmten soziologischen Perspektiven. Auch andere Autoren sehen zumindest im usamerikanischen Diskussionskontext keine größeren Berührungsängste zwischen qualitativer Sozialforschung, Ethnographie und Cultural Studies (Winter 2001: 52). 261 Umstritten bleibt, inwieweit die Cultural Studies oder auch die ihnen nahe stehenden Postcolonial Studies dem Foucaultschen Diskursbegriff ,gerecht' werden (KendalllWickham 1999). 262 Chaney (1994: 42) betont die Beteiligung der Cultural Studies am cultural turn und schreibt diesbezüglich: "One of the lessons of the sociology of knowledge, of which contemporary studies of culture are part, has been that traditions institutionalise ideologies and privilege (...). Before turning to each ofthose themes 1 think it necessary to directly address what is involved in the claim that contemporary studies of culture fall (however loosely) under the rubric of the sociology of knowledge. More generally, I can describe this as the troubling issue that is conventionally phrased in terms ofthe relationship between cuIture and society." 263 Die Postkolonialismus-Studien untersuchen den Zusammenhang von materialen und symbolisch-kulturellen Folgen der Machtstrukturen des Kolonialismus bspw. in den westlich-europäischen Konzeption der Fremden, Vorstellungen abgrenzbarer kultureller Identitäten und der Herausbildung transnationaler hybrider Lebensweisen. In seiner klassischen Studie über die westliche, europäische Konstruktion von hegemonialen Vorstellungen über ,den Orient' stützt sich Edward W. Said (1978) auf Foucaults diskurstheoretische Konzeptionen, um die Genese und Durchsetzung entsprechender Stereotypen des, Westlichen' und des ,Östlichen' in der Orientforschung und der abendländischen Literatur zu rekonstruieren. Neben Said sind u.a. Homi Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak wichtige Autorinnen der Postkolonialismusdiskussion. Vgl. dazu Mills (1997: 105ff), Howarth (2000: 68ff), AshcroftJGriffithsffiffin (1998), Gandhi (1998), BronfenlMarius (1997), Hartmann (1999), die Beiträge in AngermüllerlNonhoff(1999) und AngermüllerlBunzmannlNonhoff (200 1).
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an die Semiotik, an Strukturalismus und Poststrukturalismus an?64 Innerhalb der Cultural Studies wurden aus der Zusammenführung von "Kulturalismus" - damit wird hier die Theorie und Untersuchung insbesondere der britischen Arbeiterkultur als Praxis bezeichnet und Semiotik bzw. Strukturalismus als Theorien symbolischer Systeme verschiedene Perspektiven auf gesellschaftliche Prozesse als permanente Produktion und Transformation symbolischer und materialer Ordnungen entwickelt (Hall 1999; Grossberg 1999; Hepp 1999). Als ,kulturalistische Auslöser' gelten mehrere marxistisch-kulturwissenschaftliche Untersuchungen der 1950er Jahre, u.a. Richard Hoggarts "Uses of Literacy" aus dem Jahre 1957, Raymond Williams "Culture and Society 1780-1950" aus dem Jahre 1958 und Edward P. Thompsons "Making ofthe English Working Class" aus dem Jahre 1963. Anknüpfend an diese Untersuchungen wurde der ursprüngliche Ansatz der Cultural Studies in den I960er Jahren am Center for Contemporary Cultural Studies in Birmingham ausgearbeitet. Dabei fanden Auseinandersetzungen mit der hermeneutisch-interpretativen und verstehenden Soziologietradition - etwa mit Pragmatismus, Symbolischem Interaktionismus265 und sozialphänomenologischer Wissenssoziologie - , der Kritischen Theorie und mit den strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorieentwicklungen von Levi-Strauss über Althusser bis Foucault u.a. statt. 266 Folgt man ihrem Selbstverständnis, dann haben die Cultural Studies die jeweils spezifischen Probleme dieser Traditionen in einem integrativen Gesamtkonzept gelöst. So unterscheidet Stuart Hall, einer der wichtigsten Begründer des Ansatzes, drei aktuelle Strömungen innerhalb der Cultural Studies und betont die Bedeutung Foucaults für die Wende zur empirischen Wissensanalyse. Unter den verschiedenen, von Hall erwähnten Richtungen ist im vorliegenden Zusammenhang insbesondere die erste Variante von Interesse, weil sie mit ,Kulturalismus/Subjekt' und ,DiskurstheorielDezentriertes Subjekt' die beiden wissenschaftlichen Strömungen benennt, deren Bezüge das Thema der Wissenssoziologischen Diskursanalyse sind: "Die erste Entwicklung geht aus von Levi-Strauss, der frühen Semiologie und dem linguistischen Paradigma sowie der Fokussierung auf Signifikations'praktiken', schreitet durch die übernahme psychoanalytischer Begriffe (via Lacan) voran zu einer radikalen Neuzentrierung des gesamten Bereichs der Cultural Studies um die Begriffe ,Diskurs' und ,Subjekt'. Man könnte diese Denkentwicklung als den Versuch begreifen, jenen leergebliebenen Raum in den Diskursen des frühen Strukturalismus (sowohl in den marxistischen wie in den nichtmarxistischen Varianten) zu füllen, in dem man ,das Subjekt' und die Subjektivität hätte erwarten können, in dem sie aber nicht erschienen sind. Dies ist selbstverständlich genau einer der wesentlichen Punkte, an denen der Kulturalismus seine pointierte Kritik an der strukturalistischen Vorstellung eines ,Prozesses ohne Subjekt' vorgebracht hat. Die Differenz liegt darin, daß der Kulturalismus den Hyperstrukturalismus früherer Modelle durch das Wiedereinsetzen des vereinheitlichten (kollektiven oder individuellen) Bewußtseinssubjekts ins Zentrum der ,Struktur' korrigieren 264 Winter (2001: 74ft) erläutert die Rezeption interpretativer Ansätze, der Kritischen Theorie, des Marxismus sowie des Strukturalismus und Poststrukturalismus in den Cultural Studies der 1960er und frühen 1970er Jahre. Hall (1979) diskutiert ihr Verhältnis zu Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Vgl. allgemein auch Dosse (1996, 1997), Stäheli (2000), Eco (1991), GöttlichlMikosfWinter (200 I), Winter (200 I), Barker (2000), Hepp (1999); die Beiträge in HeppfWinter (1999), HömingfWinter (1999), Hall (1991, 1997a, 1999a); zum Vergleich der Ansätze von Hall und Fiske sowie zu den Einflüssen von LaclaulMouffe und Foucault Winter (1999a; 2001), spezifischer zu John Fiske WinterlMikos (2001) und Fiske (1994). 265 Vgl. zur Bedeutung des Symbolischen Interaktionismus und des interpretativen Paradigmas für die Cultural Studies Denzin (1992), Becker (1990), Winter (2001: 76ft). 266 Vgl. Winter (2001), Denzin (1992), Grossberg (1999).
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würde, wogegen die Diskurstheorie, den Freudschen Konzepten des Unbewußten und den Lacanschen Vorstellungen der Subjektkonstitution in der Sprache (durch den Eintritt in das Symbolische und das Gesetz der ,Kultur') folgend, das dezentrierte Subjekt, das widersprüchliche Subjekt, wiederherstellt als eine Reihe von Positionen in Sprache und Wissen, von welchen die Kultur anscheinend ,abgeleitet' werden kann (... ) Eine zweite Entwicklung ist das Bemühen, zu einer eher klassisch verstandenen ,politischen Ökonomie' der Kultur zurückzukehren. (...) Die dritte Position ist eng mit dem strukturalistischen Unternehmen verbunden, ist aber auf dem Weg der ,Differenz' bei einer radikalen Heterogenität angekommen. Foucaults Werk (... ) hat eine außerordentlich positive Wirkung gehabt: vor allem, weil Foucault (... ) eine willkommene Rückkehr zur konkreten Analyse besonderer ideologischer und diskursiver Formationen sowie zu ihrer sorgfältigen Ausarbeitung möglich gemacht hat (...) Jedoch ist Foucaults Beispiel nur positiv, wenn nicht seine allgemeine erkenntnistheoretische Position ganz übernommen wird." (Hall 1999a: 37ff)267
Innerhalb der Cultural Studies wird Kultur als konflikthaftes Feld von Auseinandersetzungen um Bedeutungen bestimmt. Karl H. Hörning und Rainer Winter charakterisieren dieses Kulturverständnis durch die Merkmale der Offenheit, der Zulassung von Widersprüchen, Widerständen und Innovationen. Die Rede von Kultur zielt also nicht länger auf ein stabiles oder homogenes Bedeutungsgewebe, sondern auf Deutungsmacht-Kämpfe und die kulturelle Prozessierung sozialer Ungleichheiten: "Nicht die integrative Funktion von Kultur, sondern der ,Kampf um Bedeutungen' (Lawrence Grossberg), der nie zu beendende Konflikt über Sinn und Wert von kulturellen Traditionen, Erfahrungen und Praktiken bestimmt ihre Analysen (...) Dabei werden kulturelle Fonnen und Prozesse nicht als etwas Sekundäres, Abgeleitetes betrachtet, sondern sie geraten als dynamische und produktive Kräfte, die für die Gesellschaft selbst konstitutiv sind, ins Blickfeld der Analyse. (... ) Cultural Studies beschäftigen sich daher immer mit bestimmten kulturellen Prozessen, die sich an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit ereignen und zu einem spezifischen Zweck analysiert werden. Es geht ihnen in den Gesellschaften der Gegenwart um die kontextuell unterschiedlichen Prozesse der Bedeutungsproduktion, die durch Enttraditionalisierung, Vermischung, Wandel und Konflikt gekennzeichnet sind. Ausgangspunkt sind die Alltagspraktiken, die Kulturen schaffen und soziale Wirklichkeiten hervorbringen." (HörninglWinter 1999a: 9f)
Der "Kreislauf der Kultur,,268 umfasst die Stationen der Erzeugung von Bedeutungen (Repräsentationen), der Konstruktion von Identitäten, der Produktion und Konsumption von Artefakten und der institutionellen Regulierung dieser Prozesse. Er wird in zwei Richtungen analysiert: erstens im Hinblick auf kulturindustrielle Formen der Bedeutungs- sowie Artefaktproduktion und die Zirkulation dieser ,Produkte' in der Gesellschaft, zweitens als lokale, taktisch-kreative Aneignungsprozesse solcher Deutungen und Artefakte durch Akteure des Alltags, die eine eigenständige Produktionsebene bilden. 269 Ein zentrales Element Vgl. zur Bedeutung Foucaults fur die Cultural Studies auch Hepp (1999: 157ft). Das "Kreislaufmodell der Kultur" wird in verschiedenen Veröffentlichungen der Open University dargestellt, z.B. bei du Gay u.a. (1997); Vgl. zur Bedeutung der Massenmedien Thompson (1997), zur Repräsentation ,anderer' Kulturen Hall (1997). 269 Exemplarisch fur diese Perspektive ist die Untersuchung des Walkman als kulturindustrielIes Produkt, die Paul du Gay u.a. (1997) vorstellen. Die Geschichte dieses kulturellen Artefakts fuhrt zunächst zu transnationalen Firmen wie Disney Corporation, News International oder eben in diesem Falle Sony. Die Produklpaletten, Produktionsstrukturen und Verkaufsstrategien solcher Unternehmen strukturieren weite Teile der Alltagspraxis in moder267
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dieser doppelten Analyseorientierung ist der Begriff der "Artikulation" von LaclauIMouffe (Kapitel 3.3.3), der in den Cultural Studies übernommen wurde: "By the term 'articulation' we are referring to the process of connecting disparate elements together to form a temporary unity. ( ... ) It is a Iinkage which is not necessary, determined, or absolute and essential for all time; rather it is a Iinkage whose conditions of existence or emergence need to be located in the contingencies of circumstances (... ) Thus, rather than privileging one single phenomenon - such as the process of production - in explaining the meaning that an artefact comes to possess, it is argued in this book that it is in a combination of processes - in their articulation - that the beginnings of an explanation can be found. The five major cultural processes which the book identifies are: Representation. Identity. Production. Consumption and Regulation. (... ) Taken together, they complete a sort of circuit - what we term the circuit of culture." (du Gay u.a. 1997: 2f)270
Exemplarisch dafur steht das von Hall vorgeschlagene Modell von Encoding/DecodingProzessen: Im Zusammenspiel von technischen Infrastrukturen, Produktionsverhältnissen und Wissensrahmen (frames) entsteht bspw. das Fernsehprogramm als ,bedeutungsvoller Diskurs' (Encoding); die Rezeption (das Decoding) durch Zuschauer erfolgt ebenfalls zwischen technischen Infrastrukturen, Produktionsverhältnissen und Wissensrahmen auf der Seite der Rezipienten (Hall 1999b).271 Der Rezeptionsprozess ist also seinerseits ein Prozess der Produktion von Sinn. Neben den semiotisch und diskurstheoretisch inspirierten Konzeptionen von Prozessen der gesellschaftlichen Bedeutungs(re)produktion und -zirkulation sind fur die Cultural Studies ein dezentriertes Subjekt-Konzept und die Betonung heterogener Praktiken von Bedeutung. So geht das Konzept der Artikulation nicht im Sinne der sozialpsychologischen Identitätstheorien von einem stabilen Subjekt aus, das als mit sich selbst identisches Wesen die Welt nach eigenen Maßstäben auslegt - eine Vorstellung, die noch im Konzept der "patchwork-Identitäten" anklingt.272 Subjekte haben vielmehr eine serielle Struktur oder Existenzweise - das Subjekt konstituiert sich vor, im und durch den Moment der Wahl zwischen den in Diskursen angebotenen Subjektpositionen, also in der Abfolge seiner Artikulationspraktiken. 273 Innerhalb der Cultural Studies werden unterschiedliche Diskursbegriffe verwendet. Stuart Hall, Edward Said u.a. rekurrieren auf Foucault bzw. LaclauIMouffe. Demgegenüber benutzt bspw. John Fiske den Begriff in eher alltagssprachlicher Form fur Prozesse des Sprachgebrauchs und der Bedeutungszirkulation. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung ist insbesondere die Adaption des Foucaultschen Diskurskonzeptes bei Hall von Interesse. Dieser begreift Kultur als Set von Praktiken der Bedeutungszuweisung und -zirnen Gesellschaften. Die Analyse der Produktion materialer technischer Artefakte, wie sie der Walkman darstellt, darf nicht an den Fabriktoren stehen bleiben. Sie muss neben der Produktentwicklung und -herstellung auch die durch die Unternehmen vorangetriebene Produktion der soziokulturellen Bedeutung solcher Artefakte einbeziehen. Als wegweisendes Beispiel fur die Analyse der Rezeptionsprozesse gilt die Studie von lohn Fiske (1999) über Fans von E1vis Presley. 270 Untersucht werden auch semantische Netze, Signifikationspraktiken u.a. (du Gay u.a. 1997: 13ft). 271 Vgl. zur Darstellung und Kritik des Modells Hepp (1999: 110ft), zur Rolle Foucaults in diesem Zusammenhang Winter (1999a). 272 Vgl. Keuppfl-löfer (1997), Keupp u.a. (1999), Giddens (l99Ia), Krappmann (1988). 273 Vgl. Hall (1999b); auch Bude (1988) und Young (200 I).
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kulation durch Akteure, die in unterschiedliche Sprachspiele eingebettet sind. 274 Die Mitglieder ein- und derselben Kultur müssen über gemeinsame kulturelle Codes - also Schemata der Weltwahrnehmung, Bilder, Ideen usw. - verfUgen, die es ihnen ennöglichen, sich mit der Welt in weitgehend gleicher Weise interpretierend und erfahrend auseinander zu setzen. Die Gewährleistung dieses geteilten Deutungshorizontes sei nicht primär eine Funktion der Sprache, sondern eine Frage von Diskursen: "Discourses are ways of referring to or constructing knowledge about a particular topic of practice: a cluster (or formation) of ideas, images and practices, which provide ways of talking about, forms of knowledge and conduct associated with, a particular topic, social activity or institutional site in society." (Hall 1997a: 4) Solche diskursiven Fonnationen bestimmen die Angemessenheit von Deutungen und Praktiken in Bezug auf besondere Gegenstände oder Interaktionsfelder. Sie definieren auch, welches Wissen in diesem Zusammenhang als nützlich, relevant oder wahr zu betrachten ist, und welche Position Personen bzw. Subjekte einnehmen können. Die diskursorientierte Betonung der wirklichkeitskonstitutiven Rolle von Bedeutungen, Repräsentationen und Kultur zielt auf die "Politiken der Repräsentation" (ebd.). Dabei geht es nicht nur um die Mechanismen und Inhalte der Bedeutungsproduktion, sondern auch um die Beziehungen zwischen Diskurs und Macht, um die diskursive Regulierung von Verhaltensweisen, die Konstruktion von Identitäten und "Subjektivitäten" und letztlich ganz allgemein um die sozio-historisch spezifischen gesellschaftlichen Repräsentationsregime der Wirklichkeit einschließlich der Produktion von legitimen Praktiken. Im Unterschied zu den vorangehend diskutierten Ansätzen der Kritischen Diskursforschung und der Diskurstheorie von LaclauIMouffe greifen die Cultural Studies damit das Foucaultsche Programm einer Analyse von Wissensverhältnissen auf, geben ihm jedoch einen stärker akteurs- und praxistheoretischen Unterbau, der sie in die Nähe der wissenssoziologischen Traditionen fUhrt. Praktiken sind eine inkorporierte, eingeübte Realisierung von Handlungswissen, die als Art und Weise, etwas zu tun, das HandlungsgefUge einer Kultur (re-)produzieren und verändern. In Absetzung zur Theorie Bourdieus wird das Konzept des Habitus als zu detenninistisch abgelehnt; gegenüber der sozialphänomenologischen Wissensanalyse, die mit einem ähnlich umfassenden Wissensbegriff arbeitet, wird die Disparatheit der Praxisfonnen und die Dezentrierung der Subjekte betont, obwohl letztlich die entsprechenden Fragestellungen durchaus Parallelen aufweisen. So sieht Hörning im Praxisverständnis der Cultural Studies die Möglichkeit einer Neubegründung der wissenssoziologischen Perspektive angelegt: "Wenn jedoch der perforrnative, praktische Charakter kulturellen Wissens betont wird, wenn Wissen nicht nur als strukturiertes, explizierbares Normensystem, als Ausführung von Skripts, Schemata und dergleichen gefaßt wird, sondern vor allem als Können in der Alltagspraxis, dann stellen sich die Fragen nach Kontrolle, Übertragung, Speicherung, Beglaubigung und Vernetzung von, Wissen' ganz neu. Dann erweist sich die ,Landschaft' kultureller Wissensbestände als erheblich disparater, ,chaotischer', als es die traditionelle Wissenssoziologie wahrhaben konnte (... ) Eine neue Wissenssoziologie hätte sich dann - viel weniger kognitivistisch verengt 274 Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einem generellen ,discursive turn' der Sozial- und Kulturwissenschaften (vgl. Hall 1997b: 41 ff).
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Diskurs: Wissen und Sprachgebrauch - mit neuen Problemen der Produktion, Institutionalisierung und Vernetzung von Wissenselementen zu beschäftigen, um dabei auch auf neue Reflexivitäten zu stoßen, die sich heftig an der kulturellen Macht reiben, die so unaufHillig und partiell in unsere Alltagspraktiken eingelassen ist (...) Um derartige Formen des kulturellen Wissens geht es meiner Ansicht nach bei einer neuen Kulturwissenschaft. Sie ist dann nicht nur eine Lehre kultureller Lebens- und Praxisformen, sondern sie müsste auch eine völlig neue Soziologie des Wissens sein, die sich nicht nur darum kümmert, wie Wissen als kulturelles Phänomen hervorgebracht wird, sondern vornehmlich darum, wie es sich in all seinen unterschiedlichen Erscheinungs- und Aufzeichnungsweisen als kulturelles Wissen und Können einer sozialen Praxis unterlegt und so kulturelles Leben bewegt." (Hörning 1999: IOlf11 13i75
Die Position der Cultural Studies unterscheidet sich durch die stärkere empirische Beschäftigung mit kulturindustrielIen bzw. ökonomischen Prozessen und Einflüssen auf die Bedeutungszirkulation sowie durch eine generelle ideologie- und herrschaftskritische Grundhaltung sowohl von der Foucaultschen Diskurstheorie wie auch von der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie. Ihr Diskursverständnis verknüpft Elemente der erläuterten Diskurstheorien mit einer kulturalistisch-akteursorientierten Perspektive auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 276 Es deutet damit an, in welche Richtung die Wissenssoziologische Diskurstheorie ausgearbeitet werden kann. Allerdings bleibt die Perspektive der Cultural Studies insofern unbefriedigend, als sie, abgesehen von dem skizzierten allgemeinen Diskursverständnis, kaum eigenständig weiterführende Ausarbeitungen der diskurstheoretischen Argumentation vornimmt und letzten Endes eine empirisch wenig untermauerte, eher unspezifische Rede von Diskursen befördert. 277 Die allgemeine, an den 275 Hörnings Konzept der Cultural Studies als einer neuen Wissenssoziologie der Praktiken ist denn auch eher ein Zukunftsprogramm als eine Beschreibung der gegenwärtigen Situation. John Fiskes Studie über "Elvis: Body of Knowledge. Offizielle und populäre Formen des Wissens um Elvis Presley" verdeutlicht eine weitere Möglichkeit der Wissensanalyse im Rahmen der Cultural Studies (Fiske 1999). 276 Die Beziehungen von poststrukturalistischen Ansätzen zu wissenssoziologischen Fragestellungen werden ähnlich auch in der feministischen Theoriediskussion und der Genderforschung deutlich. Feministische SozialwissenschaftIerinnen haben bspw. rekonstruiert, welche impliziten Geschlechtermodelle den naturwissenschaftlichen Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts unterliegen, d.h. welche Vorstellungen von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen in den wissenschaftlichen Schriften der beginnenden Moderne eingeschrieben sind, und wie sich dadurch öffentliche Wahrnehmungen des weiblichen Körpers verändern (Orland/Scheich 1995, Schiebinger 1995, Honegger 1991; auch Laqueur 1992). In ihrem Essay über den "Frauenleib als öffentlicher Ort" formuliert etwa Barbara Duden (1991) folgendes Forschungsinteresse an der lebensweltlichen Rezeption spezifischer Diskurse: "Ich will die Bedingungen untersuchen, unter denen im Laufe einer Generation neue Techniken und Sprechweisen das Verständnis und das Erleben von Schwangerschaft umgestülpt haben. Denn in wenigen Jahren wurde aus dem Kind ein Fötus, aus der schwangeren Frau ein uterines Versorgungssystem, aus dem Ungeborenen ein Leben und aus dem 'Leben' ein säkular-katholischer, also allumfassender Wert. (... ). Ich gehe der Frage nach, wie seit dem 18. Jahrhundert die wissenschaftliche Tatsache 'Frau' so hergestellt und popularisiert wurde, dass ich sie an mir erlebe. (... ) Was ich verstehen will, ist die leibhaftige Selbstherstellung der Frau in zwei Vorgängen, die einander bedingen: einerseits in der Verinnerlichung von wissenschaftlichen Begriffen, andererseits in der Selbstzuschreibung technogener Bilder." (Duden 1991: 10ff) Wichtige Argumente und Diskurs-Studien zum Verhältnis von biologischem und sozialem Geschlecht sowie zur Frage nach dem Verhältnis von Diskursen und Materialitäten haben bspw. ludith Butler (1991,1995), Teresa de Lauretis (1996), Gayatri Chakravorty Spivak (1983,1990), Hannelore Bublitz (1998) oder Andrea Bührmann (1995) vorgelegt. Vgl. dazu auch die Überblicke in BeckerSchmidtlKnapp (2000), Raab (1998), Knapp/Weiterer (1992), Maihofer (1995), Scheich (1996) und WobbeILindemann (1994) sowie die weiteren Hinweise in Mills (1997) und Hark (2001). 271 Vgl. dazu die Diskussion bei Morley (2003); bezogen auf den 'lockeren' Diskursbegriff vor allem auch Billig (1997); als konträre Einschätzung Hepp (1999; 2002a). Hier setzen Vorschläge an, die Cultural Studies durch eine Orientierung an der Crilical Discourse Analysis 'seriöser' zu betreiben (Barker/Galasinski 200 I).
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Cultural Studies geübte Kritik bezieht sich darüber hinaus auf eine ,überzogene' Textfixierung und auf die Vorwürfe der Orientierung an spektakulären Ereignissen und deren "spekulativer Behandlung", die nicht auf methodisch kontrollierte Empirie setze, sondern mit überzogenen ideologiekritischen Interpretationen und Schlussfolgerungen einhergehe. Diese Einschätzungen lassen sich letztlich im Hinweis auf eine unzureichende methodischempirische Umsetzung der Forschungsperspektive bündeln. Entsprechend wird den Cultural Studies mitunter empfohlen, auf den Fundus der qualitativen, bspw. ethnomethodologisehen Perspektive oder sprachwissenschaftliche Vorgehensweisen der (critical) discourse analysis zurückzugreifen. 278
3.3.4 Eine Bilanz der Nachfolge Die vorangehende Diskussion verschiedener Weiterführungen der Foucaultschen Diskursperspektive in der Kritischen Diskursforschung, der postmarxistischen Diskurstheorie von Laclau und Mouffe sowie im Kontext der Cultural Studies mündet in eine zwiespältige Bilanz. Unter den sprachwissenschaftlichen Ansätzen der Kritischen Diskursforschung hat vor allem die Critical Discourse Analysis durch ihren Rückgriff auf das Althussersche Ideologiekonzept und auf neuere sozialwissenschaftliehe Praxistheorien ein komplexes Verständnis der mehrfachen Einbettung diskursiver Ereignisse entwickelt, das dem Foucaultschen Verweis auf Formationsregeln und Verknappungsmechanismen der Diskurse eine soziologische Wendung gibt und die darauf bezogenen Suchrichtungen konkretisiert bzw. eine solche Präzisierung leisten könnte, sofern die erwähnte Kontextunterscheidung präziser gefasst würde. Daran kann die nachfolgend entworfene Wissenssoziologische Diskursanalyse durchaus anschließen. Allerdings verengt die kritischen Diskursforschung insgesamt die Diskursperspektive auf eine sprachwissenschaftliche Ideologiekritik, die mit ihrem in der Linguistik verankerten methodischen Zugang weder die behauptete Komplexität diskursiver Ereignisse erfasst noch die für Foucault zentrale Bedeutung der Wissensregime zu analysieren vermag. Sie reduziert die Diskursanalyse auf eine kritische Sprachgebrauchsforschung und die Untersuchung isolierter Kommunikationsereignisse. Eine soziologische Diskursperspektive muss demgegenüber auf der Diskursforschung als Wissenssoziologie insistieren. Auch die politikwissenschaftlich fundierte Diskurstheorie von Laclau und Mouffe entwickelt die Foucaultsche Perspektive in spezifischer Hinsicht weiter und vernachlässigt dabei zugleich die Dimension des Wissens. Hilfreich ist dieser Ansatz insoweit, wie er Prozesse und Mechanismen der Konstruktion von Subjektpositionen und Identitätsschablonen in öffentlichen Mobilisierungsprozessen sowie symbolischen Kämpfen analytisch transparent macht und einen diskussionswürdigen Vorschlag der philosophischen Auseinandersetzung über den Stellenwert des ,Subjekts' formuliert. Dies gilt auch für die Überlegungen zur diskursiven Bedeutungsfixierung und zu den sprachlichen sowie nichtsprachlichen Praktiken der Artikulation. Unbefriedigend bleibt jedoch neben dem Verzicht Vgl. zur Kritik bspw. McHoul/Miller (1998), KendalllWickham (2001), Billig (1997) und die Beiträge in Ferguson/Golding (1997); als entschiedene Verteidigung der Cultural Studies Morley (2003). Morley argumentiert, dass die Auseinandersetzungen über methodische Probleme der Cultural Studies auf verkürzten Rezeptionen basieren, die ihrem komplexen Verhältnis zu den Sozialwissenschaften nicht gerecht werden.
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auf Wissens-Analyse die skizzierte Auflösung des Sozialen in das Diskursive, die keinen kategorialen Rahmen zur Relationierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturebenen und -mechanismen zur Verfugung stellt. Dieses Problem wird im Rahmen der Cultural Studies durch eine eklektizistische Zusammenfuhrung unterschiedlichster Theorietraditionen einschließlich der soziologischen Perspektiven des Symbolischen Interaktionismus u.a. gelöst. Daraus entsteht ein umfassendes Konzept des Kreislaufs der Kultur, das in erster Linie auf die Zirkulation von industriell erzeugten Artefakten, auf kulturindustrielle Produkte und auf Phänomene der Populärkultur bezogen wird, die allesamt jedoch in einem herrschaftskritischen Bezugsrahmen analysiert werden, der die Analyseperspektive unnötig vereinseitigt. Insbesondere der Verweis auf öffentliche Arenen, soziale (kollektive) Akteure und deren - auch interpretative - Praktiken wird herangezogen, um die Mechanismen der Kulturzirkulation zu rekonstruieren. Die Diskursperspektive der Cultural Studies zeigt damit die stärkste ,Soziologisierung' der Foucaultschen Diskurstheorie und fuhrt letztere in die Nähe der symbolischinteraktionistischen Analysen öffentlicher Diskurse. Unter den diskutierten Anschlüssen an Foucault werden hier am ehesten die Möglichkeiten einer Übersetzung deutlich, wie sie in der Wissenssoziologischen Diskursanalyse anvisiert wird.
3.4 Perspektiven der Diskursforschung Im vorangehenden Kapitel wurde zunächst die Karriere des Diskursbegriffs bis zur Entfaltung der Foucaultschen Diskurstheorie diskutiert. Daran anschließend habe ich die wichtigsten Bausteine dieser Theorie erläutert und gezeigt, an welchen Überlegungen Foucaults eine Wissenssoziologische Diskursanalyse ansetzen kann. Die Erörterung der neueren Anschlüsse an den Foucaultschen Diskursbegriff hat ergeben, dass dort zwar zunächst hilfreiche Vorschläge fiir das Verständnis diskursiver Ereignisse, die Konstitution von Subjektpositionen und die Bedeutung von sozialen Akteuren im Prozess der Diskursproduktion und -rezeption formuliert werden. Deren (wissenssoziologisches) Potenzial wird jedoch im Rahmen der erwähnten Perspektiven durch Engruhrungen unterschiedlichster Art nicht genutzt. Ungeachtet dieser Einwände bilden diese Ansätze zusammen mit den in Kapitel 3.1 vorgestellten Paradigmen ein breites Spektrum gegenwärtiger Gebrauchsweisen des Diskursbegriffs. Dieses Spektrum reicht von der discourse analysis über die korpuslinguistisch und geschichtswissenschaftlich orientierte Diskursforschung, die Habermassche Diskursethik, die Anwendungen Foucaultscher Diskurstheorie, die Ansätze einer Kritischen Diskursforschung, die politikwissenschaftliche Diskurstheorie von Laclau und Mouffe bis hin zur Diskursperspektive der Cultural Studies. Mit Ausnahme des normativen Ansatzes der Diskursethik von Jürgen Habermas, die einen Regelkatalog rur die Durchfuhrung von argumentativen Auseinandersetzungen (Deliberationen) entwirft, zeichnen sich die vorgestellten Perspektiven durch verschiedene Gemeinsamkeiten aus. Sie
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beschäftigen sich mit dem Sprach- bzw. Zeichengebrauch in gesellschaftlichen Praktiken; betonen, dass die Bedeutung von Phänomenen sozial konstruiert und diese damit in ihrer gesellschaftlichen Realität konstituiert werden; gehen davon aus, dass der Gebrauch symbolischer Ordnungen Regeln des Deutens und Handelns unterliegt, die analysiert werden können, und unterstellen folglich, dass sich einzelne Kommunikationsereignisse als Realisierungen einer Diskursstruktur verstehen lassen.
Die ethnomethodologisch-konversationsanalytischen Ansätze innerhalb der discourse analysis gehen von der situativen Herstellung der Sprech-Ordnung bzw. Diskursstruktur durch soziale Akteure aus. Im Unterschied dazu verorten die diskurstheoretischen Perspektiven entsprechende Ordnungsprozesse auf der gesellschaftlichen Ebene institutioneller Handlungsfelder. In der kritischen Diskursforschung und auch im Rahmen der französischen analyse du discours bemüht man sich um eine Vermittlung dieser Positionen. Hier werden Detailanalysen einzelner diskursiver Ereignisse in eine umfassende diskurstheoretische Konzeption eingebettet, deren Komplexität allerdings im konkreten Analyseprozess bislang nicht eingeholt wird. Die Foucaultsche Diskurstheorie setzt demgegenüber auf einer abstrakteren Ebene an: Umfangreiche Korpora aus einzelnen diskursiven Ereignissen bzw. diskursiven Praktiken bilden für sie den Schlüssel zur Untersuchung diskursiver Formationen. Im Anschluss an Foucault haben Laclau und Mouffe sowie die Cultural Studies Diskursperspektiven entwickelt, die stärker als bei Foucault die Frage nach den Subjekten und Akteuren in ihren Bezügen zu Diskursen stellen. Diesen Diskurstheorien geht es um Diskurse als strukturierte Formen der SignifIkation (Bedeutungszuweisungen innerhalb von BedeutungskonfIgurationen), die produktive oder performative Kraft von Diskursen und die Praktiken ihrer Artikulation (Milliken 1999). Die diskutierten Ansätze bewegen sich in unterschiedlichen disziplinären Feldern. Sie unterscheiden sich deswegen sowohl in ihren Fragestellungen wie auch in den Methoden. Discourse analysis, kritische Diskursforschung und auch große Teile der korpuslinguistischen Diskursperspektiven konzentrieren sich auf sprachwissenschaftliche Fragestellungen und setzen diese in methodischen Vorgehensweisen um, die von der linguistischen Feinanalyse kleiner Spracheinheiten bis zur Frage nach statistischen Korrelationen innerhalb umfangreicher Datensammlungen reichen. Obwohl in diesen Forschungsperspektiven mitunter auch weitergehende sozialwissenschaftliche Interessen verfolgt werden, bleiben sie in der empirischen Umsetzung auf das sprachwissenschaftliche Arsenal der Datenerhebung und -bearbeitung eingeschränkt. Die verschiedenen diskurstheoretischen Ansätze richten sich auf geschichts-, politikoder kulturwissenschaftliche Fragestellungen und greifen auf dort geläufIge Vorgehensweisen - insbesondere die hypothesengenerierende interpretierende Gesamtschau von Dokumenten - zurück, die in ihrer methodischen Anwendung nur selten transparent gemacht werden. Einschränkungen ergeben sich hier aufgrund von Begrenzungen möglicher Zugangsweisen durch das Datenmaterial (wie in den geschichtswissenschaftlich orientierten Analysen) oder die theoretische Haltung, deren Akzente bei Foucault und in den Cultural Studies auf der Untersuchung der SpezifIka einzelner Gegenstandsbereiche liegen, oder aber, wie in der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe, auf Theorieillustration durch Datenmaterial setzen.
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Die geschilderte Bipolarität zwischen Diskurstheorie und discourse analysis bildet den Hintergrund für die erwähnten Vorschläge, einerseits die methodische Undurchsichtigkeit oder Beliebigkeit sowie mangelnde empirische Begründung der Diskurstheorien von Foucault, LaclauIMouffe sowie den Cultural Studies durch eine stärkere Verknüpfimg mit Ansätzen der discourse analysis zu beheben. Dem korrespondiert der umgekehrte Hinweis, den situativen Empirismus der letztgenannten Perspektive durch diskurstheoretische Einbettungen zu vermeiden - zum wechselseitigen Vorteil beider Seiten. Ähnlich ist auch das Vorhaben der Wissenssoziologischen Diskursanalyse begründet. Diese will jedoch nicht nur die Empiriefahigkeit der Diskurstheorien durch eine Heranruhrung an soziologische Methoden der qualitativen Forschung und des interpretativen Paradigmas stärken, sondern auch die Probleme der Relationierung von Diskursen, diskursiven Ereignissen und sozialen Akteuren durch die Einbettung in die handlungstheoretische Perspektive der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie lösen. Es geht also sowohl um eine theoretische wie um eine methodische Übersetzung und Präzisierung der Diskursperspektive. In der wissenssoziologischen Tradition hatte, wie in Kapitel 2 deutlich wurde,279 der Karriereansatz des Symbolischen Interaktionismus mit den Definitionskontlikten in öffentlichen Arenen eine vergleichsweise eingeschränkte und kaum ausgearbeitete Perspektive der Diskursforschung entwickelt. An dieser Lücke zwischen dem gegenwärtigen Stand der Entwicklungen der Diskurstheorie und denjenigen der Wissenssoziologie setzt der Entwurf einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse an. Einige Affinitäten zwischen dem Symbolischen Interaktionismus und der Diskursperspektive der Cultural Studies geben Hinweise auf die Ausrichtung eines solchen Vorhabens. Doch erst im Rekurs auf die diskutierten Bausteine des ursprünglichen diskurstheoretischen Programms von Michel Foucault kann eine angemessene Reformulierung der Diskursperspektive als Wissensanalyse innerhalb der Hermeneutischen Wissenssoziologie geleistet werden. Foucaults Ablehnung ,der' Phänomenologie, die sich auf die Theorien von Husserl, Sartre oder Merleau-Ponty bezog, steht dem nicht entgegen, denn die durch Alfred Schütz begründete sozialphänomenologische Tradition geht gerade von der sozialen Konstituiertheit des Bewusstseins aus, die er einforderte. Umgekehrt betonte Foucault in seinen Analysen die Rolle der (diskursiven) Praktiken und der Institutionen, insbesondere der wissenschaftlichen Disziplinen bei der historischen Genealogie von Wissensregimen. Diese Ebene der Wissenskonstruktion war, wie gesehen, in der wissenssoziologischen Tradition des Sozialkonstruktivismus zwar angelegt, aber nicht ausgearbeitet. Während BergerlLuckmann die soziologische Wissensanalyse in handlungstheoretischer Perspektive entwarfen und sich von dort aus den Konzepten Durkheims näherten, orientierte sich Foucault zunächst an der Durkheimschen Tradition und bewegte sich dann auf eine pragmatistisch ausgerichtete Analyse der Sprachspiele als Praktiken zu. Foucault selbst deutet eine Vermittlung seiner Arbeiten mit akteursund handlungstheoretischen Perspektiven an, wenn er, wie weiter oben ausgeruhrt, in einer Modifikation seiner frühen Diskurskonzeption das komplexe Verhältnis von Wahrheit, Wissen und Macht anvisiert und von einer ,Politischen Ökonomie der Wahrheit', von entsprechenden Strategien und Taktiken spricht. Weder BergerlLuckmann noch Foucault behaupten eine Kontrolle dieser Diskurs- und Wissensprozesse durch die sozialen Akteure,obwohl sie ihre Produktion in sozial regulierten Praktiken und institutionellen Feldern
279
Vgl. die Kapitel 2.2.3, 2.3.3.2 und 2.3.3.3 sowie die Bilanz zur Wissenssoziologie in Kap. 2.5.
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thematisieren. Die Entfaltung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ist Gegenstand des nachfolgenden Kapitels. 280
280 Vgl. auch Keller (I 997b). Die angedeuteten Vermittlungspotenziale werden von verschiedenen Autorinnen erwähnt, etwa von Norbert Schröer als einem Protagonisten der interpretativen Sozialforschung (Schröer 1997a: 284), in den neueren diskursanalytischen Untersuchungen von Hajer (1995), Waldschmidt (1996), Keller (1998) und Schneider (1999) oder in Überblicken über Wissenssoziologien (McCarthy 1996) und Cultural Studies (Alasuutari 1995). Foucault selbst hatte bedauert, die "Ordnung der Dinge" nicht als Prozess, sondern nur als Abfolge von Zuständen beschrieben zu haben (Foucault 1978: 26). Vgl. auch Foucaults Hinweise, er untersuche in erster Linie historische ,Problematisierungsweisen', also warum Phänomene zum ,Problem' wurden (Foucault 1996: 178) und Castellani (1999).
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
Im vorliegenden Kapitel werden die Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse entfaltet. Dazu werde ich in einem ersten Schritt das Programm einer Analyse der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit vorstellen (Kap. 4.1.). Zunächst diskutiere ich hier Desiderate der sozialkonstruktivistischen bzw. Hermeneutischen Wissenssoziologie und Möglichkeiten ihrer Überwindung durch das Diskurskonzept. Die Implikationen und Ziele dieses Vorhabens werden im Anschluss dargestellt. Die wissenssoziologische Verankerung der Diskursperspektive lässt die Wissenssoziologie nicht unberührt, sondern erfordert von ihr einige kategoriale Erweiterungen und Perspektivenverschiebungen. In einem zweiten Schritt der Argumentation erläutere ich deswegen in Kapitel 4.2 die Einbettung der Diskursanalyse in die Wissenssoziologie in Bezug auf das Verhältnis von Zeichen, Typisierungen und Diskursen, die Relationierung von Diskurs und diskursivem Ereignis (Aussageereignis), 281 das implizierte Verständnis sozialer Akteure und Praktiken sowie die Beziehung zwischen öffentlichen Diskursen, Spezialdiskursen und diskursiven Formationen. Nach dieser wissenssoziologischen Anbindung der diskursanalytischen Grundannahmen stelle ich drittens die zentralen Arbeitsbegriffe der Wissenssoziologischen Diskursanalyse vor (Kap. 4.3). Neben dem Diskurskonzept werden verschiedene kategoriale Vorschläge zur Erschließung der inhaltlichen Strukturierung und zur Erfassung der Materialität von Diskursen erörtert. Der vierte Schritt beschäftigt sich mit den Fragestellungen, die durch diesen Begriffsapparat für die Wissenssoziologie erschlossen werden (Kap. 4.4). Dazu zählen u.a. Fragen nach der Erzeugung von Diskursen, die Untersuchung der in ihnen und durch sie stattfindenden Phänomenkonstitution oder die Analyse ihrer Effekte. Fünftens diskutiere ich methodologische Implikationen des vorgeschlagenen Forschungsprogramms im Hinblick auf seine Selbstreflexivität als Diskurs über Diskurse, den damit verbundenen Rekonstruktions- und Erklärungsanspruch sowie den Stellenwert als Ansatz der interpretativen Sozialforschung (Kap. 4.5). Ein knappes Resümee beschließt die Ausführungen (Kap. 4.6).
281
Ich benutze die Begriffe ,diskursives Ereignis' und ,Aussageereignis' synonym.
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
4.1 Die diskursive Konstruktion der Wirklicbkeif 82 4.1.1 Desiderate der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie Was bedeutet es, den Diskursbegriff im Horizont der sozialphänomenologischen oder sozialkonstruktivistischen Tradition der Wissenssoziologie, die sich heute als "Hermeneutische Wissenssoziologie" (HitzlerlReichertziSchröer 1999a) präsentiert, zu verorten?283 In der deutschsprachigen Soziologie zählen bislang zur Hermeneutischen Wissenssoziologie all diejenigen Untersuchungsperspektiven, die im Anschluss an Peter Berger und Thomas Luckmann einen interpretativen bzw. hermeneutischen Zugang zu ihrem Forschungsgegenstand wählen und sich auf "alltägliche Verstehensleistungen handelnder Akteure" konzentrieren (Schröer 1997: 109).284 Dort werden nicht nur Prozesse intersubjektiver Weltkonstruktion sowie typisierbare Deutungs- und Handlungsmuster individueller Akteure analysiert, sondern auch - wie bspw. in der konversationsanalytischen Akzentuierung Strukturierungen des Sprachgebrauchs oder - wie in der Ethnographie - gesellschaftliche Praxisformen und "kleine Lebenswelten" (Honer 1993). Verfolgt man die verschiedenen programmatischen Entwürfe dieses Ansatzes, dann wird zunächst eine enge Auslegung und dann eine Erweiterung der damit verbundenen Forschungsperspektiven deutlich. So heißt es bspw. 1994 in der ,namengebenden' Grundlegung bei Jo Reichertz und Norbert Schröer, die Hermeneutische Wissenssoziologie wolle ,,(re)konstruieren, aufgrund welcher Sinnbezüge Menschen handeln, wie sie handeln. Gefragt wird, wie Subjekte, hineingeboren in eine historisch und sozial vorgedeutete Welt, diese Welt permanent deuten und somit auch verändern. Pointiert: es geht um die (Re)konstruktion der Prozesse, wie handelnde Subjekte sich in einer historisch vorgegebenen sozialen Welt immer wieder 'neu' finden, d.h. auch: zurechtfinden und wie sie dadurch zugleich auch diese Welt stets aufs Neue erschaffen und verändern." (Reichertz/Schröer 1994: 59)
Noch klarer zeigt sich diese Auffassung der wissenssoziologisch-hermeneutischen "strukturanalytischen Handlungstheorie" (Schröer 1997a) in einem etwas später formulierten Überblick über den Ansatz durch Norbert Schröer:
Von der "diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit" spricht Angelika PoferI in ihrer Studie über die "Kosmopolitik des Alltags" (Poferl 2004: 30ft). Sie entwickelt dort das Konzept eines praxeologischen Konstruktivismus, der Bausteine der Wissenssoziologie mit diskurs- und praxistheoretischen Argumenten sowie Giddens Theorie der Strukturierung verbindet und als Strukturmodell auf die empirische Untersuchung der "ökologischen Frage als Handlungsproblem" bezieht. 283 Von sozialkonstruktivistischer Wissenssoziologie spreche ich, wenn der Akzent auf der theoretischen Grundlegung dieses wissenssoziologischen Ansatzes durch BergerlLuckmann liegt. Das Etikett des ,Sozialkonstruktivismus' wird in der Selbstbeschreibung durch Luckmann, Soeffner u.a. eher abgelehnt, weil zum einen die Verwechslung mit dem Konstruktivismus Luhmanns oder dem empirischen Konstruktivismus der Wissenschaftsforschung vermieden werden soll, zum anderen auch deswegen, weil es sich um einen modischen Begriff mit angelsächsischem Hintergrund handelt, der dort häufig auf poststrukturalistische Denktraditionen bezogen wird (vgl. bspw. Soeffner 1992c). Ungeachtet dieser Vorbehalte erachte ich das Etikett als brauchbare Abgrenzung und Allgemeinbestimmung der Perspektive. Von Hermeneutischer Wissenssoziologie ist die Rede, wenn es um die aktuelle Weiterfiihrung des Programms im deutschen Sprachraum geht. 284 Vgl. dazu die Ausfiihrungen in Kapitel 2.2.1 und 2.3.3. 282
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"Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung sind demzufolge zuerst die alltäglichen Verstehensieistungen der handelnden Subjekte." (Schröer 1997: 109)285
Gewiss müssen die anvisierten alltäglichen Verstehensleistungen und Sinnbezüge in der wissenssoziologischen Tradition als Auseinandersetzungen mit kollektiven Wissensvorräten begriffen werden. Aber nicht zuletzt die empirische Anwendung des Ansatzes in verschiedensten Analysen von Typisierungsprozessen auf der Ebene von "Sinnwelten" (HitzIer 1988) des privaten oder beruflichen Alltagshandelns - bspw. Reichertz (1991), bezogen auf polizeiliche Autklärungsarbeit, Honer (1993) fiir Heimwerker - zeigt, dass ein entsprechender Bezug auf kollektive Wissensvorräte zunächst fehlt und die typisierbaren Deutungsleistungen der Handelnden eher isoliert im Vordergrund stehen. Darin kommt auch zum Ausdruck, dass der Ansatz aus den erwähnten (und weiteren) empirischen Forschungen heraus entstanden ist: Die allgemeine Perspektive der Hermeneutischen Wissenssoziologie wird aus diesen Auslegungen des sozialkonstruktivistischen Programms entwickelt und darauf bezogen. Allerdings hat sie ihre Forschungsprogrammatik in den letzten Jahren deutlich erweitert286 und integriert nicht nur die von Thomas Luckmann mit entwickelte Untersuchung kommunikativer Gattungen in ihr Vorhaben, sondern bezieht sich auf die Breite des ursprünglichen wissenssoziologischen Programms von BergerlLuckmann. Dies erfolgt bislang jedoch in erster Linie in programmatischen Absichtserklärungen, denen kaum theoretisch-konzeptionelle Ausarbeitungen und empirische Forschungen entsprechen. 287 Im Rückgriff auf die Grundlegung der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie von BergerlLuckmann (Kapitel 2.2.1) zeigt sich, dass die beschriebene Vereinseitigung auf alltägliche Verstehensleistungen nicht zufällig erfolgte, sondern letztlich bereits dort angelegt war. BergerlLuckmann hatten zwar, wie in Kapitel 2.2.1 gesehen, einen breiten Wissensbegriff vorgeschlagen und die "gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" als permanenten Prozess der interaktiven Objektivierung und Stabilisierung sowie der sozialisatorischen Aneignung von Wissensbeständen konzipiert. Der historisch entstandene Wissensvorrat ist dem einzelnen Individuum vorgegeben. In Gestalt der existierenden Institutionen zwingt er sich der vorsozialisatorischen tabula rasa des individuellen Bewusstseins auf. Die "objektivierte Sinnhaftigkeit institutionalen Handeins" erscheint als Wissen, das über verschiedenste Sozialisationsinstanzen sowie durch Prozesse der Rollenübernahme vermittelt und dadurch subjektiv angeeignet wird (BergerfLuckmann 1980: 74ft). Gleichwohl scheint sich der Alltagsbias der Hermeneutischen Wissenssoziologie wie von selbst aus ihrer Wissenstheorie zu ergeben. Ein kurzer Blick auf den ursprünglichen Argumentationsgang von BergerfLuckmann ist hilfreich, um diese zunächst reduzierte Fortfiihrung der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie nachzuvollziehen und gleichzeitig deutlich zu machen, dass er deren Möglichkeiten nur unzureichend ausschöpft.
285 Vgl. auch die programmatischen Elemente der Arbeiten von HitzIer (1988), Knoblauch (1995) und Eberle (2000). 286 Vgl. Kapitel 2.3.3.1 und 2.3.3.3 sowie HitzlerlReichertz/Schröer (1999a,b). 287 Von dieser Einschätzung müssen einige neuere Arbeiten bspw. von Reichertz (2000) bzw. IvimyilReichertz (2002) über das Fernsehen oder auch die Analysen von Knoblauch (1995) zu öffentlichen Kampagnen ausgenommen werden, die an unterschiedlichen Gegenstandsl>ereichen die Möglichkeiten einer erweiterten hermeneutischen Wissenssoziologie verdeutlichen.
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
In der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" taucht der Begriff des Diskurses nicht auf. Dennoch finden sich an verschiedenen Stellen Hinweise auf systematisierte und institutionalisierte Formen der Wissensproduktion sowie auf die Bedeutung der Sprache für die Wissensvermittlung, die eine diskursanalytische Perspektive anschließbar machen. So wird etwa davon ausgegangen, dass es in modemen Gesellschaften zur Ausdifferenzierung von Sonderwissensbeständen kommt, die von Expertengruppen getragen werden und spezifische Subsinnwelten mit entsprechenden Zugangsregeln, Praktiken und Rückwirkungen auf den Alltag konstituieren. 288 Träger dieser in ihrer Produktion und Reproduktion auf Dauer gestellten Sonderwissensbestände sind die Professionen, die verschiedenen wissenschaftlichen Subdisziplinen und die gesellschaftlich ausdifferenzierten Praxisfelder, etwa Religion, Wirtschaft oder Politik. BergerlLuckmann sprechen von "theoretischen Stützkonzeptionen" wie Mythen, Theologie oder Wissenschaft und von "semantischen Feldern", die spezifisches Wissen bündeln, anhäufen und weitergeben. Unabdingbar dafür ist die Sprache, die letztlich nichts anderes ist als ein Bestand an verfügbaren Typisierungen, eine Institutionalisierung des gesellschaftlichen Wissensvorrats insgesamt: "Die objektivierte soziale Welt wird von der Sprache auf logische Fundamente gestellt. Das Gebäude unserer Legitimationen ruht auf der Sprache, und Sprache ist ihr Hauptargument." (BergerlLuckmann 1980: 69)
Sie erwähnen Formen der Kontrolle über den Zugang zu und den Verbleib in sozialen Subsinnwelten, etwa Therapien für potenzielle Abweichler (ebd.: 90 ft). Die Stufen der Legitimierung reichen von der Benutzung bestimmter "Vokabularien" über "theoretische Postulate", "explizite Legitimationstheorien" bis hin zu ausgearbeiteten "symbolischen Sinnwelten" (ebd.: 49ft): "Legitimation ,erklärt' die institutionale Ordnung dadurch, dass sie ihrem objektivierten Sinn kognitive Gültigkeit zuschreibt." (BergerlLuckmann 1980: 100)
Neben die Frage nach der Wissensstruktur tritt diejenige nach der Arbeitsteilung und Sozialstruktur, nach den Interessekonstellationen, Macht-, Herrschafts- und Beziehungsgefügen zwischen Personen, Gruppen, Akteuren, Organisationen, Praktiken, Artefakten und manifesten institutionellen Strukturen, die solche Ordnungen stabilisieren oder transformieren. BergerlLuckmann haben damit sehr konkrete Vorstellungen über die gesellschaftliche Einbettung und Wirkung von ,Ideen': "Institutionen und symbolische Sinnwelten werden durch lebendige Menschen legitimiert, die ihren konkreten gesellschaftlichen Ort und konkrete gesellschaftliche Interessen haben. Die Geschichte von Legitimationstheorien ist immer ein Teil der ganzen Geschichte der Gesellschaft. ,Ideengeschichte', abgetrennt vom Fleisch und Blut der allgemeinen Geschichte, gibt es nicht. Aber wir betonen nochmals: solche Theorien sind keineswegs nur Reflexe ,unterschwelliger' institutioneller Prozesse. Die Beziehung zwischen den Theorien und ihren gesellschaftlichen Stützformationen ist immer dialektisch. (...) Wirklichkeitsbestimmungen haben die Kraft der Selbstverwirklichung. Theorien können in der Geschichte realisiert werden (...) Der in der Bibliothek des Britischen Museums brütende Karl Marx ist zum exemplarischen Fall dieser Mög288
Vgl. Schüt:zJLuckmann (1979: 363 ff; 1984).
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lichkeit der Geschichte geworden. Sozialer Wandel muß also immer in dialektischer Beziehung zur Ideengeschichte gesehen werden." (ebd.: 137)
Strukturdetenninistische Annahmen, also bspw. marxistische Ansätze, die Ideensysteme nur als Ausdruck von Produktionsverhältnissen betrachten, werden entschieden abgelehnt. Gleichzeitig befiirworten sie ein Konzept der Wechselwirkung zwischen Institutionen und ,Theorien', das auch letzteren zugesteht, Realität zu verändern. Sie betonen die Dialektik zwischen Ideen, Institutionen und sozialem Wandel. Doch im Selbstwiderspruch dazu konzipieren sie an anderer Stelle weite Teile dieses Wissen als, bloße Ideen', seine Analyse als soziologisch weniger bedeutsame Ideengeschichte (ebd.: 16, 21). Den Ideen wird so ein sekundärer Platz gegenüber dem ,,Allerweltswissen" zugewiesen, das wegen seiner Bezogenheit auf die Handlungsprobleme des Alltags fiir die Soziologie wesentlich wichtiger sei: "Allerweltswissen, nicht ,Ideen' gebührt das Hauptinteresse der Wissenssoziologie, denn dieses ,Wissen' eben bildet die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gäbe." (BergerlLuckmann 1980: 16)
In expliziter Absetzung von den Klassikern der Wissenssoziologie fixieren Berger/Luckmann damit die Hauptaufgabe der wissenssoziologischen Forschung in der Untersuchung des Alltags- oder Jedermann-Wissens, nicht in den ,großen' Ideengebäuden und Weltbildern und der darauf bezogenen ,Weltanschauungs-Interpretation' der wissenssoziologischen Klassiker Scheler oder Mannheim, denen es nicht gelungen war, die Analyse der "Ideen" in empirische Soziologie zu überfuhren. In ihrem anti-idealistischen Impetus übersehen sie jedoch, dass theoretische Ideen und Modelle bzw. expertengestützte Wirklichkeitsinterpretationen in das Allerweltswissen der Individuen einsickern und ihre Handlungsweisen mehr oder weniger handlungs- bzw. deutungspragmatisch mitformen - gerade darin liegt ja ein konstitutives Moment moderner posttraditionaler Gesellschaften. Der vorgeschlagenen Hinwendung zum Alltag entgeht die enorme Bedeutung der institutionellen Wissensbestände fiir die Gesamtkonstitution der gesellschaftlichen Wirklichkeilsverhältnisse. Letztlich erweist sich hier der Begriff der Ideen als zu unspezifisch und undifferenziert, um Wissenspolitiken auf der gesellschaftlichen Meso- und Makroebene zu benennen. Die aus der Schützschen Tradition stammende statische Rede von "Wissensbeständen" und "Wissensvorräten" befördert zusätzlich eine Reduktion, weil sie auf Träger, Container usw. dieses Wissens verweist. Dies lässt sich vor dem Hintergrund der dem Ansatz zugrunde liegenden Sozialisationstheorie von Mead vergleichsweise unproblematisch auf individuelle Akteure beziehen, aber nur schwerlich auf das gesellschaftliche Institutionengefiige. 289 So betonen also Berger/Luckmann die Bedeutung der Ideen, um sie paradoxerweise im gleichen Atemzug fiir unbedeutend zu erklären. Diese Abwertung erweist sich als folgenreich und ist vielleicht fiir die merkwürdige Stellung der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" verantwortlich. Einerseits handelt es um eines der erfolgreichsten soziologischen Bücher überhaupt. Andererseits mündet die "gesellschaftliche Konstruktion" in die mikrosoziologischen Analysen der Rekonstruktion von Deutungsleistungen individueller Akteure, die nicht in Bezug zur Ebene der kollektiven Wissensvorräte gesetzt werden. So lassen sich zumindest die Akzentsetzungen der bisherigen Umsetzung der Ein solches Akteurskonzept ist jedoch vergleichsweise statisch und bedarf seinerseits einer genaueren Klärung. Vgl. dazu die Hinweise in Kapitel 4.2.3.
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Henneneutischen Wissenssoziologie beschreiben. Der theoretischen Vereinseitigung korrespondiert dort das empirische Vorgehen. Vergleichsweise selten geraten Fonnen kollektiver Wissensproduktion und -vennittlung, gesellschaftliche Grundlagen der Wissensverteilung oder machtvolle Strukturierungsprozesse symbolischer Ordnungen, kurz: die institutionelle Seite und die Prozesshajtigkeit der Wissensflüsse in den Blick. Daran ändern auch vereinzelte, stärker makrosoziologisch ausgerichtete Anwendungen des Theorieprogramms durch seine Protagonisten nichts. So definieren Berger/Berger/Kellner (1987) in ihrer Studie über das "Unbehagen in der Modernität" weitgehend folgenlos als wichtige Aufgabe der Wissenssoziologie: "den Zusammenhang zwischen den Bewußtseinsstrukturen und einzelnen Institutionen und institutionellen Prozessen herzustellen. Mit anderen Worten, die Wissenssoziologie befaßt sich stets mit dem Bewußtsein im Zusammenhang einer spezifischen gesellschaftlichen Situation. Für diese Aufgabe muß die Phänomenologie durch die konventionelleren Werkzeuge der soziologischen Analyse von Institutionen ersetzt werden. Hier verwenden wir wiederholt den Begriff der Träger; d.h. wir analysieren bestimmte Institutionen und institutionelle Prozesse als die gesellschaftliche Basis bestimmter Bewußtseinsstrukturen. Anders ausgedrückt, jede Art von Bewußtsein ist nur unter besonderen sozialen Bedingungen plausibel. Diese Bedingungen nennen wir eine Plausibilitätsstruktur. (...) Von Ivan Illich haben wir den Begriff des Pakets (,package') übernommen, womit wir eine empirisch gegebene Kombination von institutionellen Prozessen und Bewußtseins-Bündeln meinen." (BergerlBergerlKellner 1987: 19f)
Weiter oben in Kapitel 2.3.3 habe ich bereits verschiedene Weiterruhrungen und Modifikationen der wissenssoziologischen Perspektive von Berger/Luckrnann diskutiert. Das von Garfinkel entworfene Programm der Ethnomethodologie lässt sich als empirische Radikalisierung der Konstruktionsperspektive verstehen. Seine Konzentration auf die Regelmuster der Herstellung von Realität in konkreten Handlungs- bzw. Interaktionssequenzen reduziert jedoch den Analysefokus noch stärker, als dies schon bei Berger/Luckmann der Fall ist. 290 Der Neo-Institutionalismus entwickelt die Institutionenperspektive des Ansatzes weiter und beschäftigt sich vor allem mit politischen Institutionen, deren Legitimation und symbolischen Gehalten, verliert dabei jedoch tendenziell die Wissensdimension wieder aus den Augen. Das von Luckmann u.a. adaptierte Programm der Erforschung und Inventarisierung kommunikativer Gattungen impliziert eine stärkere Hinwendung zu den Prozessstrukturen der Wissenszirkulation, obwohl seine Anwendung auf Klatsch, Tischgespräche etc. bislang dem beschriebenen Reduktionismus der "Gesellschaftlichen Konstruktion" folgt. 291 Demgegenüber kommen die vorgestellten Analysen öffentlicher Diskurse im Rahmen des Symbolischen Interaktion ismus oder der erweiterten Beschäftigung mit "Kommunikationskulturen" (Hubert Knoblauch) einer prozessorientierten Untersuchung der Wissens- und Wirklichkeitskonstruktion durch kollektive Akteure in umfassenderen Konfliktarenen sehr viel näher. Mit dem Hinweis auf kommunikative Gattungen und die Analyse öffentlicher Definitionskonflikte sind die wichtigen Fäden benannt, die in einer diskurstheoretischen Ergän290 Der empirische Konstruktivismus der Wissenschaftsforschung schließt zwar in seinen Begründungen an diese Radikalität an; auf der Ebene der durchgeführten Untersuchungen wird dies jedoch zurück genommen und mit traditionelleren soziologischen Vorgehensweisen verknüpft (vgl. Kapitel 2.2.3). 291 Vgl. dazu Knoblauch (2000), GünthnerlKnoblauch (1997), Bergmann (1987) oder Keppler (1994). Für die Wissenssoziologische Diskursanalyse bietet deswegen die Analyse institutioneller Kommunikation eine wichtige Ergänzung (vgl. etwa DrewlHeritage 1992, Heritage 1997).
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zung und Erweiterung der Henneneutischen Wissenssoziologie aufgegriffen werden können. 292 Summa summarum geht es der Wissenssoziologischen Diskursanalyse darum, die diskutierten Defizite durch eine Akzentverschiebung von der Konzentration auf die Wissensbestände und Deutungsleistungen individueller Akteure des Alltags hin zur Analyse von diskursiven Prozessen der Erzeugung, Zirkulation und Manifestation kollektiver Wissensvorräte auszugleichen. Sie betont in diesem Sinne, auch wenn dies nicht immer explizit benannt wird, die Kompatibilität der pragmatistischen Tradition des Symbolischen Interaktionismus mit der sozialkonstruktivistischen Henneneutischen Wissenssoziologie und knüpft explizit in ihrer theoretischen Grundlegung wie in den Vorschlägen zum methodischen Vorgehen an beide an, um sie mit einigen Überlegungen Foucaults zur Diskursperspektive zu verbinden. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse stellt ein theoretisches Vokabular und eine empirische Perspektive zur Verfugung, um solche Wissenspolitiken (nicht nur) der posttraditionalen Gesellschaften als Diskurse zu untersuchen. Sie schlägt damit der Henneneutischen Wissenssoziologie eine Fortführung vor, die notwendig wird, wenn sie ihrem erneuerten theoretischen und empirischen Anspruch als umfassendes wissenssoziologisches Paradigma gerecht werden will.
4.1.2 Der Einbau der Diskursperspektive Der Einbau der Diskursperspektive in die Henneneutische Wissenssoziologie stützt sich zunächst auf die bereits von Berger/Luckmann fonnulierten Bezüge zur Ebene der kollektiven Wissensvorräte. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse übersetzt den daran anschließenden Gedanken der ,,kommunikativen" Konstruktion der Wirklichkeit in denjenigen der diskursiven Konstruktion und bestimmt dadurch ihren Untersuchungsgegenstand. Als Diskurse werden unterscheidbare handlungspraktische und institutionelle Strukturierungen gesellschaftlicher Wissenspolitiken zum Gegenstand der erweiterten Henneneutischen Wissenssoziologie. Die Diskurstheorie von Foucault und deren Weiterfuhrungen liefern Vorschläge und Anregungen fur die Ausarbeitung eines entsprechenden Begriffsgerüstes (vgl. Kapitel 3.2. und 3.3). Dazu zählt nicht nur die Untersuchung des Sprachgebrauchs. Eine Beschäftigung mit Diskursen bedeutet auch die Analyse der Praktiken und Dispositive, die gesellschaftliche Handlungsfelder strukturieren (vgl. Kapitel 4.3): "Indeed, for Foucault the familiar objects of the social world (whether they be death, disease, madness, sexuality, sin or even mankind itself) are not 'things' set apart from and independent of discourse but are realized only in and through the discursive elements which surround the objects in question. Things, then, are made visible and palpable through the existence of discursive practices, and so disease or death are not referents about which there are discourses but objects constructed by discourse. As the discourse changes, so too do the objects of attention. A discourse moreover, is not merely a narrow set of linguistic practices which reports on the world, but is composed of a whole assemblage of activities, events, objects, settings and epistemological precepts. The discourse of pathology, for example, is constructed not merely out of statements about diseases, cells and tissues, but out of the whole network of activities and events in
Dazu zählt auch die in Kapitel 2.2.3 vorgestellte Forderung von Golinski (1998) nach einer erweiterten Diskursperspektive des interpretativen Ansatzes innerhalb der science studies.
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse which pathologists become involved, together with the laboratory and other settings within which they work and in wh ich they analyze the objects of their attention." (Prior 1989: 3)
Weiter oben in Kapitel 3.2.6 hatte ich diejenigen theoretischen und begrifflichen Vorschläge Foucaults zusammengefasst, die in der Ausarbeitung einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse berücksichtigt werden müssen. Ich möchte dies noch einmal kurz rekapitulieren: Der Begriff ,Diskurs' bezeichnet strukturierte und zusammenhängende (Sprach-) Praktiken, die Gegenstände und gesellschaftliche Wissensverhältnisse konstituieren. Einzelne diskursive Ereignisse aktualisieren diesen Zusammenhang. Die Diskursperspektive richtet sich auf die Ebene der gesellschaftlichen Wissensformationen und -politiken, deren Konturen, Genese, Entwicklung, Regulierungen und Folgen ("Machtwirkungen"). Sie versteht sich als empirisches Forschungsprogramm: Diskurse werden auf der Grundlage entsprechender Datenmaterialen untersucht. Die einzelnen Äußerungen werden nicht als singuläre Phänomene analysiert, sondern im Hinblick auf ihre typische Gestalt als ,Aussage'. Gewiss werden die Äußerungen in einem materialen Sinne durch einzelne Sprecher produziert. Letztere agieren jedoch nicht als einzigartige Subjekte, sondern sind - in der Sprache der Soziologie - Rollenträger, welche die sozio-historisch geformten und institutionell stabilisierten Regeln der Diskursproduktion in einem doppelten Sinne ,aktualisieren': Sie setzen sie ein, realisieren sie also in ihrem Tun und bringen sie gleichzeitig auf den ,neuesten Stand'. Die Diskursanalyse interessiert sich für die Formationsmechanismen von Diskursen, die Beziehung zwischen Diskursen und Praktiken sowie die strategisch-taktische Diskurs-Performanz sozialer Akteure. Eine Übersetzung der Vorschläge von Foucault u.a. in die wissenssoziologische Tradition von Berger/Luckmann ist keineswegs gezwungen, sein großformatiges wissenschaftstheoretisches Programm zu übernehmen. Sie muss sich jedoch um eine Soziologisierung der Foucaultschen Programmatik bemühen bzw. prüfen, ob und inwieweit eine stärkere handlungs- oder akteurstheoretische Wendung der Diskurstheorie möglich ist. Dafür spielen die weiter oben behandelten Weiterentwicklungen der Foucaultschen Position eine wichtige Rolle. Abschließend möchte ich an dieser Stelle noch einmal die bisher deutlich gewordenen Berührungspunkte zwischen der wissenssoziologischen und der diskurstheoretischen Tradition bilanzieren: •
Die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie enthält eine Grundlagentheorie zur Erklärung der Entstehung und Institutionalisierung gesellschaftlicher Wissensvorräte. Die institutionelle Strukturierung des Wissens und der Wirklichkeit wird von den Individuen sozialisatorisch angeeignet und als Rollenangebot mehr oder weniger eigensinnig übernommen. Diesen Vorstellungen korrespondieren in der diskurstheoretischen Perspektive die emergente Strukturierung der Wissensregime bei Foucault oder die theoretische Figur der "ideologischen Staatsapparate" bei Althusser sowie die darin eingebundenen Subjektpositionen. Allerdings nehmen diese Ansätze gegenüber der allgemeinen Gedankenfigur der Wissenssoziologie eine Reduktion auf ,Unterwerfungsfunktionen' vor und übersehen die fundamentale Dialektik von Zwang und Ermöglichung des Handelns durch Institutionen. 293
Althussers Position formuliert einen doppelten Reduktionismus, weil sie die erwähnte ,Unterwerfung' im Unterschied zu Foucault noch einmal marxistisch interpretiert, also auf Klassenherrschaft bezieht.
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Der Symbolische Interaktionismus bezieht die wissenssoziologische Perspektive auf die Karriere sozialer Probleme in öffentlichen Arenen und begreift die entsprechenden Auseinandersetzungen als konflikthafte Diskurse zwischen sozialen Akteuren. Foucaults spätere Überlegungen zu einer stärker auf das Diskurshandeln in Sprachspielen bezogenen Diskurstheorie zielen ebenfalls auf die Beschäftigung mit Akteuren, Strategien und Taktiken der Diskursproduktion, auch wenn er dies nicht konsequent in empirische Forschung umsetzt. Sein Interesse an der Untersuchung von phänomenbezogenen, historisch kontingenten ,Problematisierungsweisen' hat Affinitäten zur Etikettierungsforschung und Labelingtheorie, wie sie im symbolischen Interaktionismus entwickelt wurden. Es wird dann im Rahmen der Cultural Studies stärker akteursbezogen ausgearbeitet. Letztere zeigen viele Parallelen zum Symbolischen Interaktionismus, rücken aber ähnlich wie die kritische Diskursforschung und die postrnarxistische Diskurstheorie von LaclauJMouffe Herrschaftsbeziehungen in den Vordergrund. Das in der Wissenssoziologie adaptierte Konzept der kommunikativen Gattungen impliziert die Idee der sozialen Strukturierung von Kommunikationsprozessen bzw. einzelnen Kommunikationsereignissen in einem ähnlichen Sinn, wie dies die Critical Discourse Analysis formuliert. Kommunikative Gattungen verweisen in ihrer Realisierung auf entsprechende Kommunikationspraktiken, wie sie auch den diskurstheoretischen Überlegungen zu Diskursen als (regulierten) Praktiken (der Diskursproduktion) zugrunde liegen. Während die Wissenssoziologie dieses Konzept bisher in erster Linie auf Kommunikationsprozesse des Alltags und Herstellungsleistungen der sozialen Akteure bezog, steht in der Diskursperspektive die institutionelle Einbindung und Regulierung im Vordergrund. Kommunikative Gattungen interessieren die Diskursanalyse insoweit, wie sie als geregelte Kommunikationspraktiken in Diskursen zum Einsatz kommen. Sie beschäftigt sich jedoch nicht mit einzelnen Gattungen, sondern mit kommunikativen Mustern als Bestandteilen der Entfaltung von Diskursen.
4.1.3 Das Theorie- und Forschungsprogramm Unter dem Begriff der Wissenssoziologischen Diskursanalyse schlage ich einen Ansatz der Diskursforschung vor, der sich von den in Kapitel 3 diskutierten Perspektiven in theoretisch-programmatischer und in methodischer Hinsicht unterscheidet. 294 Auf der Ebene der theoretischen Grundlegung geht es um eine Vermittlung von Annahmen der eher strukturtheoretisch angelegten Wissenssoziologie respektive Diskurstheorie von Michel Foucault in die Tradition der handlungstheoretischen Wissenssoziologie im Anschluss an Berger/Luckmann und das interpretative Paradigma der Soziologie. 295 In methodischer HinSiehe dazu Keller (2001; 2003b; 2004). Genau genommen müsste ich von wissenssoziologisch-hermeneutischer Diskurstheorie und Diskursanalyse sprechen. Die obige Bezeichnung steht dafür als Kürzel. Einen in Teilen ähnlichen, jedoch sprachwissenschaftlich fundierten Ansatz hat Dietrich Busse (1987) skizziert. Vgl. auch die in Kapitel 2.3.3 diskutierten, allerdings kaum systematisch ausgearbeiteten Diskursperspektiven innerhalb des interpretativen Paradigmas. 295 Ettliche Forschungsprojekte haben das Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse bereits aufgegriffen (vgl. z.B. Niehaus/Schröer 2004; Christmann 2004; Dyk 2006; Bechmann 2007; Truschkat 2007; dazu und zur allgemeinen Diskussion des Programms auch die Beiträge in KellerlHirseland/SchneiderNiehöver 2005; weitere Hinweise über laufende Arbeiten sind zu finden im Diskussionsforum zur Wissenssoziologischen Diskurs294
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sicht kann dadurch die empirische Diskursforschung mit der dortigen Methodenentwicklung verknüpft werden, insbesondere mit der neueren qualitativen Sozialforschung, wie sie unter dem Dach einer "Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik" (HitzlerlHoner 1997) versammelt ist. 4.1.3.1
Erweiterungen der Hermeneutischen Wissenssoziologie
Die bisherige Entfaltung der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie unterliegt spezifischen theoretisch-begrifflichen und empirischen Engfiihrungen, die in der Konzentration auf individuelle Akteure als Träger von Wissensbeständen in ihren alltagspraktischen, privaten oder professionellen Handlungskontexten deutlich werden (vgl. Kapitel 4.1.2). Die damit verbundenen wissenssoziologischen Fragestellungen reduzieren sich auf die Analyse von basalen Typisierungsprozessen fur Handlungsprobleme des Alltagshandelns und der Professionen, Allerwelts-Wissensvorräte oder die Ethnographie kleiner Lebenswelten,z96 Durchgehend stehen dabei die Individuen als Wissensträger und be-deutende Akteure im Mittelpunkt des Interesses. Eine solche Präferenz wird durch die Autoren der "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" nahe gelegt. Sie ist jedoch, wie neben der vorangegangenen Diskussion auch die Analysen der Karrieren sozialer Probleme im Symbolischen Interaktionismus (Kapitel 2.3.3.2) deutlich machten, nicht zwangsläufig damit verbunden, sondern hat ihre Grundlage in kontingenten Entwicklungen der theoretischen Grundposition. Aus den genannten Gründen hat die Hermeneutische Wissenssoziologie bislang kein Begriffsgerüst zur Analyse gesellschaftlicher Wissenspolitiken als Diskurse entwickelt. Dessen Ausarbeitung ist Gegenstand der vorliegenden Studie. Damit wird eine programmatische Erweiterung der theoretischen Grundlegung der Hermeneutischen Wissenssoziologie anvisiert, die ihr neue Gegenstandsbereiche und Fragestellungen eröffnet. Die Behebung des erläuterten Defizits erfolgt im Rückgriff auf Konzepte der Foucaultschen Diskurstheorie, die ich als poststrukturalistische Wissenssoziologie interpretiere. Foucaults Vorschläge können in die Hermeneutische Wissenssoziologie übersetzt werden. Dadurch wird eine Systematisierung der im interpretativen Paradigma bislang nur rudimentär und zufallig eingeführten Diskursperspektive möglich. Die diskursanalytische Erweiterung der sozialkonstruktivistischen Wissensanalyse stützt sich auf deren Weiterfiihrungen im Symbolischen Interaktionismus. Umgekehrt kommen die in Kapitel 3.3 diskutierten Adaptionen der Foucaultschen Diskurstheorie etwa im Rahmen der Cultural Studies durch ihren bei Foucault zwar angelegten, aber hier verstärkten Rekurs auf soziale Akteure dem analyse, das gerade eingerichtet wird; entsprechende Kontakthinweise sind beim Autor erhältlich). Im englischsprachigen Raum verknüpfen Prior (1989) oder Silverman (1987) die Diskurstheorie Foucaults mit Fragestellungen des interpretativen Paradigmas. So untersucht Prior (1989) die Beziehungen zwischen öffentlichen bzw. medizinischen Diskursen, ,privaten', d.h. alltagsweltlichen Diskursen und sozialen Praktiken, die Feststellung von und Umgang mit Todeseintritt betreffen. Silverman (1987) rekonstruierte Diskurse und Konstitutionsprozesse des Sozialen in klinischen Settings. Clarke (2005) erweitert die späten theoretischen und methodologischen Arbeiten von Anselm Strauss um Perspektiven der Aktor-Netzwerk-Theorie im Anschluss an Bruno Latour und um diskurstheoretische Überlegungen im Anschluss an Michel Foucault. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einer "situational analysis", die darauf ziele, die verschiedenen Kontextdimensionen sozialer Phänomene, zu denen eben auch Diskurse gehören, in der qualitativen Analyse zu berücksichtigen. Diese Vorhaben weist einige Parallelen zur Wissenssoziologischen Diskursanalyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse auf. 296 Auf einige Ausnahmen - die neueren Arbeiten von Reichertz oder Knoblauch - wurde bereits hingewiesen.
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anvisierten Vorhaben entgegen. Der Diskursbegriff einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse ist dann so zu fassen, dass unterschiedliche Ebenen diskursiver Arenen oder Felder unterschieden werden können. Dabei geht es insbesondere darum, die Foucaultsche Perspektive auf institutionelle Spezialdiskurse mit dem Interesse des Symbolischen Interaktionismus rur öffentliche Diskurse zu verbinden. 297 Für die wissenssoziologische Diskursforschung sind schließlich die struktur- und praxistheoretischen Überlegungen von Anthony Giddens (1979, 1984, 1987, insbes. 1992) bedeutsam, die ich weiter unten in Kapitel 4.2.2 aufgreife. 298 Giddens ist, ähnlich wie Bourdieu (vgl. Kapitel 2.2.2), um eine Vermittlung von struktur- und handlungstheoretischen Ansätzen der Soziologie bemüht. Im Unterschied zu Bourdieu vermeidet er jedoch eine Engfiihrung dieser Zusammenhangsannahmen auf die Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen. Giddens verbindet in seiner Theorie der Strukturierung poststrukturalistische Positionen mit Überlegungen des interpretativen Paradigmas und entwickelt daraus eine allgemeine Sozialtheorie, ohne jedoch eine explizite Wissenssoziologie vorzulegen oder zu verfolgen. 299 Er begreift Handeln - und damit auch kommunikatives Handeln - in Analogie zu Wittgensteins Theorie der Sprachspiele als kreative und rekursive Reproduktion oder Veränderung von Strukturmustern; diese existieren im konkreten Handlungsvollzug, der sie aktualisiert, in ihrer Gültigkeit bestätigt und fortschreibt, der sie aber unter bestimmten Bedingungen auch in Frage zu stellen, zu unterlaufen oder zu transformieren vermag. Dies bezeichnet Giddens (1992: 71) als "Dualität von Struktur". Das tatsächliche Geschehen ist keine direkte Folge der zugrundeliegenden Strukturen bzw. "Regeln und Ressourcen", sondern Ergebnis des aktiv-interpretierenden Umgangs sozialer Akteure mit diesen Orientierungsmustern. Deswegen unterscheidet sich der konkrete Sprachgebrauch mit seinen Möglichkeiten der Welt(um)deutung von den starren Code-Systemen des Strukturalismus: "Hervorzuheben ist, dass der Strukturierungsansatz Signifikation als Strukturdimension und symbolische Ordnungen sowie damit verbundene Diskursformen als selbstverständlichen Bestandteil institutioneller Ordnungen begreift. Sie (... ) gehen elementar in soziale Strukturierungsprozesse, in Produktions- und Reproduktionsweisen von Gesellschaft(en) ein. Sinnstiftung, Symbolsysteme, Diskurse erscheinen damit gerade nicht als Phänomene, die als ,Kultur' der ,Struktur' (oder der ,Gesellschaft' schlechthin) entgegengesetzt, von ,weicherer' und somit geringerer Bedeutung als ,harte' institutionelle Fakten und Gehäuse seien (...) Bezogen auf den inneren Aufbau von Signifikationsstrukturen zeigen sich Strukturdualitäten, also Vermittlungen von Struktur und Praxis, in zweifacher Weise: Sinnkonstitution geht so zum einen auf Prozesse der Kommunikation und Bedeutungsverleihung von Akteuren, zum anderen auf die strukturelle Ordnung von Zeichensystemen und Codes zurück, die Raster bzw. ,Bedeutungsgitter' markieren. Entschieden abzulehnen sei jedoch ein ,Rückzug in den Code' - ein Vorwurf, der sich insbesondere an die Semiotik und strukturalistische Zeichentheorie richtet. Plädiert wird demge297 Vgl. zu anders akzentuierten Verknüpfungen des Symbolischen Interaktionismus mit Foucaultschen Konzepten Castellani (1999) und jetzt Clarke (2005). 298 Es gibt bislang nur wenige Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis der Position von Giddens zur sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie (vgl. Ivänyi 1999 und Pofer1 2004: 33ft). 299 In der diskurstheoretischen Entwicklung hat dies Norman Fairclough am deutlichsten ausgearbeitet (vgl. Kap. 3.3.1). Sieht man von der ideologiekritischen Vereinseitigung der Crilical Discourse Analysis ab, dann ist ihr Vorschlag zur Konzeptualisierung des Verhältnisses von einzelnem diskursivem Ereignis und Diskurs durchaus überzeugend. Allerdings geraten in ihrer praktischen Umsetzung zum einen die "Formationsregeln" aus dem Blick, von denen Foucault sprach; zum anderen, verliert' sie seine Bezugnahme auf die Produktion und Zirkulation von Wissensbeständen.
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse genüber flir eine analytische Vorrangstellung der Semantik, die als Herstellung und Vermittlung von Bedeutung bzw. Sinn im Handeln operiert." (Poferl2004: 46f)
Aufgabe der Wissenssoziologie ist nicht nur die Deskription der empirischen Vielfalt von subjektiven, typisierbaren Wissensvorräten, sondern auch die Analyse der kollektiven und institutionellen Prozesse, in denen spezifisches Wissen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wird. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse begreift Institutionen im Sinne des interpretativen Paradigmas der Soziologie als umstrittene, vorübergehend kristallisierte symbolische Strukturen der Ordnung von Welt (Gusfield 1981), die Handeln zugleich ermöglichen und beschränken. Sie historisiert die soziologische Analyse von Wissen und Praktiken und vermittelt zwischen handlungs- und struktur- bzw. institutionentheoretischen Ansätzen. Damit bezieht sie die wissenssoziologische Perspektive auf das von dieser bisher vernachlässigte Feld historisch orientierter Gesellschaftsanalysen. Als Wissenssoziologische Diskursanalyse ist Diskursforschung ein Bestandteil - unter anderen - der Hermeneutischen Wissenssoziologie. 4.1.3.2 Das Primat der sozialkonstruktivistischen Wissensanalyse Die Perspektive der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit greift die Wende der wissenssoziologischen Tradition zum "kommunikativen Paradigma" (Thomas Luckmann; vgl. Kapitel 2.3.3.1) auf, fokussiert sie jedoch in spezifischer Weise auf Kommunikationszusammenhänge, die als Diskurse begriffen werden. Es geht ihr damit nicht, wie dem Programm der Gattungsanalyse, um die Rekonstruktion und Bilanzierung des kommunikativen Haushaltes einer Gesellschaft. Stattdessen interessiert sie sich rur kommunikative Gattungen nur insoweit, wie sie als Bestandteile von Diskursen erscheinen. Die Rede von der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit bezieht sich auf solche Strukturierungsprozesse. Sie fragt nicht nur nach Praktiken des Sprachgebrauchs, sondern nach den diskursiven Formationen, in denen sie erscheinen. Ein solcher Vorschlag basiert auf der Annahme, dass es möglich und sinnvoll ist, einen genuin soziologischen Ansatz der Diskursanalyse im interpretativen Paradigma und hier insbesondere in der Hermeneutischen Wissenssoziologie zu verankern. Die Verankerung des Diskurskonzepts in der Wissenssoziologie hat Vorzüge in zweierlei Hinsicht: Der Hermeneutischen Wissenssoziologie selbst eröffnet sie neue Gegenstandsbereiche und Fragestellungen. Der bisherigen Diskursforschung bietet sie eine angemessenere soziologische Entfaltung des Akteurskonzepts und eine Anknüpfung an Kompetenzen des qualitativen Methodenzugangs innerhalb des interpretativen Paradigmas. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse versteht sich als Vorschlag zur Entfaltung grundlegender Potenziale der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie unabhängig davon, ob dies mit der ursprünglichen Intention von Peter Berger und Thomas Luckmann in Einklang stehen mag oder nicht. Umgekehrt verabschiedet sie sich auch von dem Ziel werkgetreuer Nachfolgen des Foucaultschen Ansatzes. Foucaults Diskurstheorie sensibilisiert rur die Bedeutung von Macht und institutionellen (Vor-)Strukturierungen von Sprecherpositionen und legitimen Inhalten, d.h. ftir Diskurse als strukturierte und strukturierende Strukturen. Im Symbolischen Interaktionismus und der wissenssoziologischen Tradition von Berger/Luckmann rückt die Handlungsgrundlage, dialektische Gestalt und Prozesshaf-
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tigkeit der "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" in den Mittelpunkt. Das Primat des wissenssoziologischen Ansatzes ergibt sich aus vier Überlegungen: •
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BergerlLuckmann und die daran anschließende Tradition der Hermeneutischen Wissenssoziologie entwerfen eine Wissensperspektive, die Bewusstseinsleistungen im Konstitutionsprozess der Wirklichkeit systematisch berücksichtigt, ohne den emergenten Charakter kollektiver Wissensordnungen zu ignorieren. Sie verfugt, bezogen auf die existierenden Ansätze der Diskurstheorie, über ein umfassenderes theoretisches Gerüst, das Prozesse der gesellschaftlichen Objektivierung von symbolischen Ordnungen ebenso erfasst wie die Rückwirkung dieser Ordnung auf soziale Akteure, deren Interpretationsleistungen, Praktiken und Sinnkonstitutionen. Die handlungs- und prozessorientierte Perspektive von BergerlLuckmann erlaubt gegenüber Foucault die Betonung der Rolle gesellschaftlicher Akteure in den Machtspielen des Wissens, ohne dabei in einen naiven Subjektivismus zu verfallen. Sie vermeidet gleichermaßen die in Diskurstheorien implizierte Ontologisierung bzw. Verdinglichung der Diskurse durch die Einfuhrung eines Akteurskonzepts, mit dem soziale Akteure sowohl als diskursiv konstituierte wie als regelinterpretierend Handelnde, als aktive Produzenten und Rezipienten von Diskursen verstanden werden. Erst dadurch erreicht die Analyse von Diskursen die Tiefenschärfe, die notwendig ist, um das komplexe Wechselspiel zwischen Wirklichkeitskonstruktion, Wirklichkeitsobjektivierung sowie den Interessen und Strategien sozialer Akteure als kontingenten sozialen Ordnungsprozess zu verstehen. Diskursanalyse ist trotz Foucaults gegen den Marxismus gerichteten und einige Verwirrung stiftenden Bonmots, ein "glücklicher Positivist" (Foucault 1988a: 182) zu sein, unumgänglich Interpretationsarbeit. 30o Als empirisch orientierte soziologische Unternehmung bedarf sie einer methodischen Reflexion und Kontrolle ihrer Interpretations-, d.h. Verstehens- und Erklärungsprozesse. Dazu stellt die fortgeschrittene Methodologie der qualitativ-interpretativen Sozialforschung angemessene Vorgehensweisen und Werkzeuge bereit. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse gesellschaftlicher Wissenspolitiken und Wissensverhältnisse greift deswegen auf die vorhandene, breit fundierte interpretative Methodologie und den entsprechenden Methodenkanon der qualitativen Sozialforschung zurück. Allerdings sind im Hinblick auf das methodische Vorgehen einige gegenstandsspezifische Modifikationen vorzunehmen. 301 Diese ergeben sich aus Besonderheiten des sozialwissenschaftlich konstruierten und konturierten Gegenstandes ,Diskurs'. Der Methodenreichtum der Soziologie erlaubt einen weitergehenden empirischen Zugang zu Diskursen, als dies den sprachwissenschaftlich und diskurstheoretisch verankerten Analysen möglich ist. Diese Erweiterung besteht in erster Linie in der Möglichkeit zur Lösung vom Text als isoliertem Dokument. Angefangen bei der Sekundäranalyse über Interviews, (teilnehmende) Beobachtung bis hin zur Ethnogra-
300 "Wenn man an die Stelle der Suche nach den Totalitäten die Analyse der Seltenheit, an die Stelle des Themas der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußerlichkeit, an die Stelle der Suche nach dem Ursprung die Analyse der Häufungen stellt, ist man ein Positivist, nun gut, ich bin ein glücklicher Positivist, ich bin sofort damit einverstanden." (Foucault 1988a: 182) 301 Vgl. dazu Keller (2004).
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
192
phie der Diskurse (Keller 2003b /02 kann sie diskursive Praktiken und Diskursverläufe über unterschiedlichste methodische Zugänge, auf verschiedenen Ebenen ihrer kontextuellen Einbettung, mitunter gar in actu rekonstruieren und eine Vielzahl von Datenformaten zueinander in Beziehung setzen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse versteht sich damit als ein zur Selbstkorrektur fahiger Prozess der Theoriebildung auf empirischer Grundlage im Sinne der "grounded theory" (Strauss 1998), und nicht, wie verschiedene diskurstheoretische Programme, als deduktive Anwendung oder Nachweis des selbstbezüglichen Funktionierens einer abstrakten Diskursordnung.
4.1.3.3
Zielsetzungen
Die Wissenssoziologische Diskursanalyse ist eine Spielart der Hermeneutischen Wissenssoziologie neben anderen. Entgegen einem häufigen allgemeinen Missverständnis gegenüber Diskurstheorien bzw. Diskursanalysen handelt es sich bei ihr nicht um eine Methode, sondern um ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm zur spezifisch fokussierten Untersuchung der "Objektivität der Ordnungen und ihrer kommunikativen Konstruktion" (Sprondei 1994) in Diskursen. Das anvisierte Programm der Diskursforschung findet bereits mit der theoretischen Grundlegung von Berger/Luckmann seine allgemeinere Einbettung in neueren Synthesebemühungen zwischen Kultur- und Praxistheorien, wie sie das weiter oben in Kapitel 2.3.1 erwähnte Schlagwort des "practice turn" andeutet (Reckwitz 2003). Diskurse, verstanden als analytisch abgrenzbare Ensembles von Praktiken und Verläufen der Bedeutungszuschreibung, denen ein gemeinsames Strukturierungsprinzip zugrunde liegt, sind raum-zeitlich sowie sozial strukturierte Prozesse. Dieses Diskursverständnis impliziert ein dynamisches Konzept von symbolischen Ordnungen, von "culture in action" (Swidler 1986) oder Kultur als konflikthaftem "Diskursfeld" (Schiffauer 1995). Die Ziele der Wissenssoziologischen Diskursanalyse können wie folgt beschrieben werden: Sie rekonstruiert Prozesse der sozialen Konstruktion, Zirkulation und Vermittlung von Deutungs- und Handlungsweisen auf der Ebene von institutionellen Feldern, Organisationen, sozialen Kollektiven und Akteuren. Im Anschluss daran untersucht sie die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse. Eine solche Perspektive unterstellt die Normalität der symbolischen Kämpfe, des Wettstreits der Diskurse. Dabei handelt es sich nicht um ein bloßes Wetteifern der Ideen, im Gegenteil: Betont werden sollen die wirklichkeitskonstituierenden Effekte symbolischer Ordnungen und die Beschaffenheit von Diskursen als einer konkreten und materialen, also wirklichen gesellschaftlichen Praxis. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse fragt nach sozialen Konventionalisierungen und Strukturierungen symbolischer Ordnungen und nach symbolischen Strukturierungen sozialer Ordnungen. Sie analysiert institutionell stabilisierte Regeln der Deutungspraxis und interessiert sich rur die Definitionsrolle beteiligter Akteure. Sie zielt nicht zuletzt auf die Objektivierungen und Konsequenzen von Diskursen in Gestalt von Artefakten, sozialen Praktiken, Kommunikationsprozessen und Subjektpositionen. Den Zusammenhang zwischen einzelnem Aussageereignis und Gesamtdiskurs formuliert sie als Dualität von Struktur, d.h. als Aktualisierung, Reproduktion oder Transformation einer Diskursstruktur, die nur in dieser Aktualisierung existiert. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse beschäftigt sich mit Prozessen und 302
Vgl. den Exkurs in Kapitel 4.3.4.3.
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
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Praktiken der Produktion und Zirkulation von Wissen auf der Ebene der institutionellen Felder der Gegenwartsgesellschaften. Thr Forschungsgegenstand ist - mit anderen Worten - die Produktion und Transformation gesellschaftlicher Wissensverhältnisse durch Wissenspolitiken, d.h. diskursiv strukturierte Bestrebungen sozialer Akteure, die Legitimität und Anerkennung ihrer Weltdeutungen als Faktizität durchzusetzen. Sie begreift damit sozialen Wandel nicht nur als sozialstrukturellen Prozess, sondern als Verschiebung von Wissensregirnen. Die soziohistorisch orientierte Analyse der Schließung kontingenter DiskursEntwicklungen im Prozess institutioneller Wirklichkeitsbestimmung dient der Aufklärung über bestehende und verworfene Alternativen sowie über Interessen, Strategien und Handlungsressourcen der beteiligten sozialen Akteure. Dazu entwickelt die Wissenssoziologische Diskursanalyse allgemeine theoretische Kategorien sowie erklärende Hypothesen über Formen und Mechanismen von Diskursverläufen. Über einzelne Diskurse hinaus untersucht sie die Herausbildung typisierbarer Diskursformationen und ihren historischen Wandel. Sie vermittelt damit zwischen mikro- und makrotheoretischen soziologischen Analysen gesellschaftlicher Wissensprozesse und versteht sich als klassisches wissenssoziologisches Programm gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und Selbstaufklärung. Das schließt nicht aus, gegebenenfalls zur normativen Einschätzung diskursiver Verläufe auf verfiigbare philosophische Begründungspotenziale wie etwa die Habermassche Diskursethik zurückzugreifen. Mit diesen Ausfiihrungen ist eine große Bandbreite möglicher Forschungsfragen umrissen. Dieses Spektrum muss in empirischen Untersuchungen spezifiziert, d.h. gegenstandsbezogen akzentuiert und methodisch umgesetzt werden. 4.2 Die wissenssoziologiscbe Grundlegung der Diskursperspektive Nachdem ich vorangehend erläutert habe, inwiefern ein Einbau diskurstheoretischer Überlegungen spezifische Einseitigkeiten der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie überwindet und welche Zielsetzungen damit verknüpft sind, möchte ich nun zeigen, inwieweit wichtige Konzepte der Foucaultschen Diskurstheorie innerhalb der Wissenssoziologie reformuliert werden können und welche Erweiterungen dazu gegebenenfalls notwendig sind. Im Einzelnen geht es um die Klärung der folgenden Fragen: 1.
2.
3.
Erstens diskutiere ich die zeichen- und sprachtheoretischen Grundlagen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie. Geprüft wird, inwiefern die Wissenssoziologie den Zeichengebrauch als soziale Praxis innerhalb eines Diskursuniversums (universe ofdiscourse) begreift (Kap. 4.2.1). Zweitens geht es um die Konzeption des Zusammenhangs zwischen einzelnen diskursiven Ereignissen (Aussageereignissen) und übergreifenden Diskursstrukturen. Die Wissenssoziologie selbst hat hier bislang unzureichende Vorschläge vorgelegt, die der Ergänzung bedürfen (Kap. 4.2.2). Im dritten Schritt frage ich nach den Akteurskonzepten der wissenssoziologischen und der diskurstheoretischen Tradition und diskutiere, welche Elemente der Diskurstheorien mit dem handlungstheoretischen Ansatz der Wissenssoziologie vereinbar sind (Kap. 4.2.3).
194 4. 5.
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Viertens geht es um die Beziehung zwischen Diskursen und Praktiken. Sie ist in der bisherigen Diskurstheorie nur unzureichend bestimmt und gibt deswegen immer wieder Anlass zu Missverständnissen (Kap. 4.2.4). Fünftens wird das Verhältnis von öffentlichen Diskursen zu den Spezialdiskursen und diskursiven Formationen erläutert, von denen Foucault mit Blick auf wissenschaftliche Disziplinen oder institutionelle Felder spricht (Kap. 4.2.5).
Die folgenden Abbildungen I und 2 illustrieren in schematischen Überblicken das Verhältnis zwischen Diskursen, diskursiven Ereignissen, Akteuren und Praktiken, wie es anschließend entfaltet wird: Abbildung 1:
A K T
U
A L I S I E
R U
N G
Dialektik zwischen Diskurs und diskursiven Ereignissen
DISKURS R
E A L I S I E
R U
R,g'J"'P""'tiO' AKTEURE
Pr ktiken
N G
0
I A L E K T I K
DISKURSIVE EREIGNISSE ~ Erläuterung: Akteure beziehen sich auf Diskurse, um Praktiken zu vollziehen, die Aussageereignissen zugrunde liegen. Dadurch werden Diskurse realisiert. Dieser Prozess aktualisiert gleichzeitig die Diskursstruktur im Sinne einer wechselseitigen Beeinflussung.
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
Abbildung 2:
195
Diskurse und diskursive Ereignisse im Zeitverlauf
Diskurs (Formationsregeln; institutionell stabilisiert) i
.~
~
Reproctukti;n/ ransformatlOn
s o
~~ Akteure ...
Z
I A L R A
diskursive Ereignisse
U M
diskursive Ereignisse...
DElb
DElx Zeitachse
Erläuterung: Diskursive Ereignisse erscheinen sozialräumlich gleichzeitig an verschiedenen Orten bzw. sukzessive am selben Ort oder anderswo. Akteure orientieren ihre Praktiken an den bestehenden Diskursen (Regeln und Ressourcen), auf die sie sich interpretierend beziehen. Die Diskursstrukturen werden dadurch aktualisiert, also reproduziert bzw. (in unterschiedlichen Graden) transformiert und zur Grundlage anschließender Aussageereignisse.
4.2.1 Zeichen, Typisierungen, Diskursuniversum Die von BergerlLuckmann vorgenommene Beschreibung von Wissensbeständen als sozial typisierten Deutungs- und Handlungsroutinen, die nach Maßgabe der pragmatischen Relevanzgesichtspunkte, Aneignungs- und Auslegungsformen sozialer Akteure zum Einsatz kommen, scheint zunächst nur schwerlich mit dem diskurstheoretischen Blick auf Sprachgebrauch vereinbar zu sein. In der diskurstheoretischen Tradition gelten Zeichen als Bestandteile konventionalisierter Systeme der Differenzbildung, die durch den Zeichengebrauch entstehen und sich zu Diskursen verdichten. Während Foucault mit seinem Programm insbesondere die Formationsregeln der Diskursproduktion anvisierte, haben sich bspw. LaclauJMouffe stärker mit den bedeutungsstrukturierenden Momenten der Diskurse auseinander gesetzt (vgl. Kapitel 3.3.2). Im Kern geht es dabei um Überlegungen, die aus der ,strukturalen' Tradition und deren sprachpragmatischer Wendung in der Diskurstheorie stammen: Die Bausteine eines Diskurses - die Begriffe, Theorien, Deutungsmuster, KlassifIkationen usw., die er transportiert - erhalten ihren Sinngehalt aus dem Relationsgefüge, das durch ihren Gebrauch erzeugt und reproduziert wird, und in das sie unweigerlich eingebunden sind. Dazu gehört zum einen die Binnenstruktur der Deutungselemente innerhalb eines Diskurses, zum anderen die Außenbeziehungen, d.h. das, was jeweils als nicht thematisiertes die ausgeschlossenen Bezugsdifferenzen bildet. So wie Niklas Luhmann (1984:
196
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
100t) darauf verweist, dass jede Begriffsanwendung eine Unterscheidung vornimmt und dadurch "bezeichnet", eine Differenz markiert, so beschreiben LaclaulMouffe Diskurse als Systeme von Differenzen, die in ihren Ein- und Ausschlüssen spezifische Bedeutungsqualitäten erzeugen. Bspw. erhält die Chiffre der ,Freiheit' eine sehr unterschiedliche praktische Ausdeutung, je nachdem, in welchen Diskurskontext sie eingebaut wird. In keinem Fall hat sie Bedeutung aus sich heraus. Die verschiedenen Kritiken des Strukturalismus hatten, ähnlich wie Wittgenstein, insistiert, dass der Gebrauch der Zeichen und Symbole in konventionalisierten Sprachspielen ihre Bedeutung bestimmt. Wie stellt sich dieses Verhältnis von Zeichengebrauch und diskursiv stabilisierten Signifikationsstrukturen in den Begriffen der Hermeneutischen Wissenssoziologie dar? Ich behaupte, dass hier kein großer Gegensatz zur Diskurstheorie existiert. Dies kann in Auseinandersetzung mit den Traditionen der pragmatistischen Semiotik, in denen das Zeichenkonzept von Alfred Schütz und BergerlLuckmann steht, gezeigt werden. Einen wichtigen Hinweis darauf liefert die Verwendung des aus der pragmatistischen Zeichenlehre stammenden, u.a. von Mead benutzten Begriffs "universe of discourse" (vgl. Kap. 3.1.1) - des Diskursuniversums, in dem allein Zeichen ihre Bedeutung haben - durch Schütz. 303 In seiner frühen Erläuterung sprachsoziologischer Fragestellungen betonte auch Thomas Luckmann Konvergenzen zwischen strukturalistischer und pragmatistischer Sprachtheorie. Dort verweist er auf den engen Zusammenhang von Sprach- und Wissenssoziologie und spricht von dem BergerlLuckmannschen Programm als einer "sprachsoziologisch interessierten und relevanten Version der Wissenssoziologie" (Luckmann 1979: 12t). Im Unterschied zur strukturalistischen Semiotik von Saussure (Kap. 3.1.2) entwickeln Charles S. Peirce, George Herbert Mead oder Charles Morris eine Zeichentheorie, welche die Zeichenanwendung als auf einen Zeichenkontext bezogene Interpretation begreift und dabei auch von Diskursen spricht. 304 Charles Morris schlägt 1938 im Anschluss an Peirce, Mead u.a. eine dreidimensionale Semiotik vor, die aus Syntaktik, Semantik und Pragmatik besteht. Die Pragmatik beschäftigt sich demnach mit den Beziehungen zwischen Zeichen und ihren Interpreten bzw. Interpretationen, die Semantik untersucht die Beziehungen zwischen den Zeichen und den Objekten, auf die sie bezogen sind, und die Syntaktik fokussiert die Beziehungen der formalen Relationen der Zeichen untereinander: "Pragmatik ist der Teil der Semiotik, der sich mit dem Ursprung, den Verwendungen und den Wirkungen der Zeichen im jeweiligen Verhalten beschäftigt; Semantik befaßt sich mit der Signifikation der Zeichen in allen Signifikationsmodi; Syntaktik beschäftigt sich mit ZeichenDarauf verweist Hanke (2002: 157). Vgl. zum Pragmatismus bei Schütz auch Srubar (1988). Als kleine Randbemerkung zum imaginären Aufeinandertreffen von Schütz und Foucault erlaube ich mir den Hinweis, dass die "Gesammelten Aufsätze" von Schütz zunächst in englischer Sprache in einer Kollektion des Husserl-Archivs erschienen sind, zu deren Redaktionsgruppe neben Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricreur u.a. auch Jean Hyppolite gehörte, dessen Schüler Foucault war und dem er die Schlussworte seiner Eröffnungsrede am College de France widmete (Foucault 1974b: 49ft). 304 Es geht mir hier nicht um eine Diskussion der Entwicklung dieser Variante der Semiotik bis hin zur zeitgenössischen Sprachtheorie, sondern um grundlegende Elemente bezüglich des wissenssoziologischen Typenkonzeptes. Ernst Cassirers "Philosophie der symbolischen Formen" lässt sich ebenfalls in diese semiotische Tradition einordnen (Paetzold 1993: 46; Cassirer 1972; 1994). Die Frage nach den sprachlich konstituierten Weltbildern steht in der durch Humboldt begründeten neueren Tradition der Sprachphilosophie (Paetzold 1993: 69). Dem liegt auch Cassirers Sprach- und Menschenverständnis zu Grunde: die Wirklichkeit ist dem Menschen nur in Gestalt des gesellschaftlich-historischen Symbolnetzes gegenwärtig; der Mensch, das "animal symbolicum", lebt in einen symbolischen Universum. 303
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
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kombinationen, ohne ihre spezifischen Signifikationen oder ihre Relation zu dem jeweiligen Verhalten zu berücksichtigen. Wenn Pragmatik, Semantik und Syntaktik so verstanden werden, können sie innerhalb einer verhaltensorientierten Semiotik interpretiert werden, wobei die Syntaktik die möglichen Zeichenkombinationen, die Semantik die Signifikation von Zeichen und damit das interpretante Verhalten, ohne das es keine Signifikation gibt, und die Pragmatik die Entstehung, die Verwendungen und Wirkungen von Zeichen im Gesamtverhalten der Zeicheninterpreten untersucht." (Morris 1981: 326; vgl. auch Morris 1972; 1977) Im soziohistorischen Prozess des Sprachgebrauchs bilden sich entlang der institutionellen Einbettungen und Praxisfelder bzw. Funktionsoptimierungen verschiedener "Sprachzwecke" "Sprachspezialisierungen" aus, die von Morris als "Diskurstypen" bezeichnet werden (Morris 1981: 215ft). Mit dem Begriff "Diskurs" belegt er entsprechende soziale Konventionalisierungen und Institutionalisierungen des Sprachgebrauchs: "lm Laufe der Zeit haben sich verschiedene Spezialisierungen dieser Alltagssprache herausgebildet, damit bestimmte Zwecke adäquater erftillt werden können. Diese Sprachspezialisierungen werden Diskurstypen genannt. Bücher werden z.B. als wissenschaftlich, mathematisch, poetisch, religiös usw. klassifiziert, und im Rahmen dieser umfassenderen Klassifikationen gibt es fast unbegrenzte Unterabteilungen und Überschneidungen." (Morris 1981: 215) Aus der Kombination von SignifIkationsmodi und Formen des Zeichengebrauchs entwickelt Morris eine Diskurstypologie, die bspw. den wissenschaftlichen Diskurs vom fIktiven, rechtlichen, poetischen, moralischen, religiösen, politischen usw. Diskurs unterscheidet. Innerhalb der pragmatistischen Sprachphilosophie fmdet jedoch schon vorher der Diskursbegriff Verwendung. Dabei geht es um die Vorstellung vom "Diskursuniversum", die Ähnlichkeiten mit Wittgensteins Konzeption der "Sprachspiele" aufweist (Schalk 1997/98: 92ff; Wittgenstein 1990). Der Begriff der Sprachspiele bezeichnet bei Wittgenstein abgrenzbare Aussageweisen, die durch spezifIsche Regeln und Eigenschaften ihres Gebrauchs unterscheidbar sind. (vgl. Kap. 4.2.2). Peirce und Mead beziehen sich mit dem Konzept des universe of discourse in ihren Theorien darauf, dass sich die Bedeutung sprachlicher Äußerungen erst vor dem Hintergrund eines Bedeutungskontextes in Gestalt des sozialen Diskursuniversums ergibt, das die implizierten Prozesse der Kodierung und Dekodierung reguliert. JOS Dieses Diskursuniversum ist - so Mead - ein gemeinsames (geteiltes) soziales Bedeutungssystem, das durch eine Gruppe von Individuen erzeugt wird, die an einem sozialen Prozess der Erfahrung und des Verhaltens teilhaben: "This universe of discourse is constituted by a group of individuals (...) A universe of discourse is simp1y a system of common or social meanings." (George Herbert Mead: Mind, Self and Society. Chicago 1963: 89f; zitiert nach Schalk 1997/98: 97) In der deutschen Übersetzung der entsprechenden Passagen des Meadschen Werkes ist statt von einem Diskursuniversum von einem logischen Universum die Rede: J06 305 Schalk verortet die Herkunft des Begriffs in der Logik von Boole (George Boole: An Investigation ofthe Laws ofThought, 1854); zur Beziehung zwischen Peirce und Boole vgl. Peirce (1993). 306 Die Wahl des Übersetzers ist vermutlich der erwähnten Herkunft des Begriffs geschuldet und verweist auf die immanente (logische) Stimmigkeit eines solchen Bedeutungshorizontes. Herbert Marcuse spricht in seiner Studie
198
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse "Die signifikanten Gesten oder Symbole setzen rur ihre Signifikanz immer den gesellschaftlichen Erfahrungs- und VerhaItensprozeß voraus, innerhalb dessen sie sich entwickeln. Der Logiker würde sagen, daß ein logisches Universum immer als der Kontext verstanden wird, in dem signifikante Gesten oder Symbole tatsächlich Signifikanz haben. Dieses logische Universum wird aus einer Gruppe von Individuen gebildet, die an einem gemeinsamen gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozess teilnehmen, in dem diese Gesten oder Symbole für alle Mitglieder dieser Gruppe den gleichen oder einen allen gemeinsamen Sinn haben (... ) Ein logisches Universum ist einfach ein System gemeinsamer oder gesellschaftlicher Bedeutungen." (Mead 1973: 129t) 307
Die Existenz des Diskursuniversums ist also Bedingung tUr die Generalisierbarkeit von Symbolen bzw. umgekehrt: Das Diskursuniversum wird in der sozialen Praxis der Gruppe konstituiert und bildet ihren gemeinsamen Deutungshorizont. Es besteht aus den von allen geteilten Zeichen und Symbolen (Schalk 1997/98: 97) und erzeugt die Wirklichkeit der Welt tUr das jeweilige Kollektiv (einschließlich dessen eigener Existenz): Erst und nur die (sprachliche) Symbolverwendung ermöglicht das Auftreten und die Differenzierung von Situationen und Objekten, "da sie Teil jenes Mechanismus ist, durch den diese Situationen oder Objekte geschaffen werden" (Mead 1973: 117). Die pragmatistischen Zeichen- und Symboltheorien sprechen von Diskurstypus bezüglich abgrenzbarer Konventionalisierungen des Sprachgebrauchs, von Diskursuniversum im Hinblick auf die Stabilisierung von Sinnordnungen als Voraussetzung und Folge des Zeichengebrauchs in sozialen Kollektiven. Ein solcher Diskursbegriff ist mit diskurstheoretischen Positionen wie derjenigen des späteren Foucault vereinbar, die sich von einem Saussureschen Sprachverständnis ausgehend hin zu Wittgensteins Sprachspielkonzept oder der Sprachtheorie von Bakhtin und Volosinow (s. Kapitel 2.3.3.1; Kapitel 3.1.2) bewegen und die soziale Regulierung des Sprachgebrauchs als Praxis fokussieren. 308 Schalk konstatiert deswegen in ihrer Bilanz der Entwicklung des Diskursbegriffs zusammenfassend: "Für die modernen Bedeutungsvarianten des Diskursbegriffs, der nun weniger strukturelle Charakteristika der mündlichen Rede bezeichnet, sondern vielfach die Bedingungen von Sprache und Bedeutung in den Blick nimmt (Morris, Lyotard, FoucauIt), ist 3. die im Umfeld des amerikanischen Pragmatismus entstehende Kategorie des ,universe of discourse' von entscheidendem Einfluß. Sprachlich oder allgemein zeichenhaft repräsentierte Bedeutung (,meaning') existiert jeweils nur im weiteren Kontext bestehender ,Sprachspiele" die entweder die Extension eines sprachlichen Ausdrucks sanktionieren (Boole, Peirce, Mead) oder gar die Möglichkeiten sprachlicher Artikulation eines Gegenstandes reglementieren (Foucault, Lacan)." (Schalk 1997/98: 103)
über den "eindimensionalen Menschen" von der "Absperrung des Universums der Rede" (Marcuse 1987: 103 ff [1964]) und erläutert nach einem einleitenden Zitat von Roland Barthes spezifische sprachliche Entfremdungs-, Verdinglichungs- und Herrschaftsprozesse. Im englischen Originaltext ist - vielleicht in Anspielung auf die pragmatistische Tradition und Öffentlichkeitstheorie - von "The Closing of the Universe of Discourse" die Rede [Marcuse, H. (1964): One Dimensional Man. Boston, S. 84ft]. 307 Für Mead ergibt sich die Möglichkeit der Verständigung über die Grenzen von Sprachgemeinschaften hinweg durch den "logischen Diskurs" als Grundlage des "universalen" oder "allgemeinen" Diskurses - Ideen, die der später von Haberrnas und Apel entworfenen Diskursethik nahe stehen (vgJ. ebd.). 308 VgJ. Schalk (1997/98: IOlf), Potter (200Ia), Collins (1999), Maybin (2001).
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Die Zeichen- und damit auch Wissenstheorie von Alfred Schütz bzw. Peter Berger und Thomas Luckrnann bewegt sich innerhalb dieser Grundlegungen der pragmatistischen Tradition. 309 Schütz selbst benutzt an verschiedenen Stellen in seinen Schriften den Begriff des "universe of discourse" im Sinne eines sozial erzeugten und dem einzelnen Handelnden vorgängigen Deutungszusammenhangs. 310 Zwar führt er dieses Konzept nicht systematisch ein, aber in gewisser Hinsicht lässt sich seine Zeichen-, Kommunikations- und Wissenstheorie als Ausarbeitung einer Theorie des" universe 0/ discourse " verstehen. Bspw. schreibt Schütz in seinen Ausführungen über die "Welt der wissenschaftlichen Theorie": "All this, however, does not mean that the decision of the scientist in stating the problem is an arbitrary one or that he has the same ,freedom of discretion' in choosing and solving his problems which the phantasying self has in filling out its anticipations. This is by no means the case. Of course, the theoretical thinker may choose at his discretion, only determined by an inclination rooted in his intimate personality, the scientific field in which he wants to take interest and possibly also the level (in general) upon which he wants to carry on his investigation. But as soon as he has made up his mind in this respect, the scientist enters a preconstituted world of scientific contemplation handed down to hirn by the historical tradition of his science. Hencelorth. he will participate in a universe 01 discourse embracing the results obtained by others. methods worked out by others. This theoretical universe of the special science is itself a finite province of meaning, having its peculiar cognitive style with peculiar implications and horizons to be explicated. The regulative principle of constitution of such a province of meaning, called a special branch of science, can be formulated as folIows: Any problem emerging within the scientific field has to partake of the universal style of this field and has to be compatible with the preconstituted problems and their solution by either accepting or refuting them. Thus the latitude for the discretion of the scientist in stating the problem is in fact a very small one." (Schütz 1973b: 250; Herv. d. Verf.i ll
In Bezug auf die Möglichkeit wissenschaftlicher Theoriebildung führt er aus: "Theorizing (00') is, first, possible only within a universe of discourse that is pregiven to the scientist as the outcome of other people's theorizing acts." (Schütz 1973b: 256)312
309 Schütz diskutiert dort die Zeichen- und Symboltheorien von Alfred North Whitehead, Charles W. Morris, Ernst Cassirer, Susanne K. Langer, insbes. auch von Edmund Husserl und Henri Bergson u.a. Leitend für seine Diskussion und die von ihm vorgeschlagene Zeichentheorie ist die Orientierung am "pragmatischen Motiv" der "natürlichen Einstellung im Alltag" und insgesamt die Rezeption der pragmatistischen Theorien von William James, John Dewey oder George Herbert Mead (vgl. Schütz 1971d,t). Neben den erwähnten Autoren ist auch seine Auseinandersetzung mit Positionen von Gottfried Wilhelm Leibniz, Max Scheler und Jean Paul Sartre für die Ausarbeitung seiner eigenen phänomenologischen Position bedeutsam (Schütz 1971: 113ft). 310 Vgl. etwa Schütz (l973a: 110; 1973b: 250,256; 1973c: 323). In der deutschen Übersetzung werden verschiedene Begriffe zur Übertragung von ,universe of discourse' (,gemeinsame Sprache', Welt des Dialogs u.a.) benutzt. In keinem Fall taucht das Konzept selbst auf. 311 Die deutsche Übersetzung der Passage lautet: ,,(...) Sobald der Wissenschaftler sich aber entschieden hat, betritt er die bereits vorkonstituierte Welt wissenschaftlichen Denkens, die ihm von der historischen Tradition seiner Wissenschaft überliefert worden ist. Von nun an wird er an einer Welt des Dialogs teilnehmen. Diese umfaßt die Ergebnisse, die von anderen erarbeitet, Probleme, die von anderen gestellt wurden, Lösungen, die andere vorgeschlagen und Methoden, die andere entwickelt haben. (...)." (Schütz 1971d: 288; Herv. d. Verf.) 312 Auch hier wählt die deutsche Übersetzung einen anderen Begriff. So lautet die entsprechende Passage: ,,(...) Theoriebildung (ist) erstens nur innerhalb einer Welt wissenschaftlichen Dialogs möglich, die dem Wissenschaftler als Ergebnis fremder theoretischer Handlungen vorgegeben ist." (Schütz 1971d: 294)
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Schließlich heißt es im Kontext seiner Überlegungen über die Notwendigkeit der weitreichenden Übereinstimmung von Relevanzsystemen als Grundlage fur "erfolgreiche Kommunikation" (Schütz 1971f: 373): "The greater the differences between their system of relevances, the fewer the chances for the success of the communication. Complete disparity of the system of relevances makes the establishment ofa universe discourse entirely impossible." (Schütz 1973c: 323)313 Schütz verdeutlicht damit, dass typisierende und typisierte Zeichen immer in einem umfassenden Bedeutungshorizont eingebunden sind, der aus dem Zeichengebrauch innerhalb eines Kollektivs entstanden ist und diesen prägt: "Mit dem Zeichen, dem bezeichneten Objekt und dem Bewußtsein des Deutenden von diesem Verhältnis entwickelt Schütz einen triadischen Zeichenbegriff, der den Zeichenprozeß umfassend zu erfassen versucht und sowohl handlungs- wie auch subjektbezogen ist. Dieser eröffnet die Einsicht in die zuvor auch von Saussure als Arbitrarität des sprachlichen Zeichens benannte ,Beliebigkeit des Bedeutungsträgers', wonach die Beziehung zwischen dem Zeichenträger und seiner Bedeutung willkürlich, das heißt arbiträr beziehungsweise konventionell ist. (... ) Da Zeichen und Bezeichnetes qua Arbitrarität nicht miteinander verbunden sind, wird die fur das Zeichen konstitutive Repräsentationsbeziehung als Konstruktionsleistung von seinem Interpreten hergestellt, der in einem fundierenden Akt des Auffassens (...) dieses nicht als es selbst, sondern nach anderen Deutungsschemata etwa als Repräsentant ftir Bewußtseinserlebnisse eines Sprechers interpretiert. Von den drei Größen der Zeichenrelation ist folglich eines das Subjekt oder der Interpret des Zeichens, der ,stillschweigend als bereits in Kommunikation mit seinen Mitmenschen stehend angenommen wird, so daß die Zeichen- oder Symbolrelation von Anfang an eine öffentliche ist', und aufgrund dessen wird neben einem denkenden Ich (ego cogitans), ,welches die Zeichen setzt', stets auch ein solches mitgedacht, ,welches die Zeichen deutet', bleibt also der kommunikative Charakter von Zeichensetzung und -deutung durchgängig erhalten." (Hanke 2002: 62f) 314 Schütz schließt mit seiner Sprach- und Zeichentheorie, abgesehen von seiner Ablehnung der behavioristischen Elemente, zustimmend an die Positionen von Morris u.a. an, insbesondere an deren Betonung der Interpretationsprozesse im Zeichengebrauch. Die Verschränkung von Zeichen-, Kommunikations- und Wissenstheorie bei Schütz lässt sich wie folgt zusammenfassen: Soziale Kollektive sind Kommunikationsgemeinschaften, die ihre symbolischen Ordnungen in Zeichensystemen typisieren und objektivieren - sie erzeugen ein gemeinsames Diskursuniversum. Diese Typisierungen werden als kollektiver WissensAls Beispiel für ein "Höchstmaß an Übereinstimmung" gelten ihm "hochformalisierte und standardisierte Fachsprachen". In der deutschen Übersetzung lautet die oben zitierte Passage so: "Je größer der Unterschied zwischen ihren Relevanzsystemen, je geringer die Möglichkeiten fur eine erfolgreiche Kommunikation. Bei gänzlich verschiedenen Relevanzsystemen kann es nicht mehr gelingen, eine ,gemeinsame Sprache' zu finden" (Schütz 1971 f: 373). 314 Schütz erwähnt auch die Saussuresche Sprachtheorie und verweist auf das Konzept der Arbitrarität des Zeichens. Insgesamt bezieht er sich jedoch stärker auf den schon bei Aristoteles formulierten Gedanken der sozialen Konventionalisierung von Zeichen: "Wir folgen der Feststellung des Aristoteles, daß ,ein Name ein durch Konvention signifikanter Laut ist (... )' (,De Interpretatione,' l6a 19) (...) Nach Aristoteles ist demnach die Sprache, und künstliche Zeichen im allgemeinen, eine Sache der Konvention. Der Begriff der Konvention aber setzt das Vorhandensein der Gesellschaft voraus wie auch schon die Möglichkeit einer gewissen Verständigung, vermittels welcher ,Konventionen' festgelegt werden können." (Schütz 1971f: 336). 313
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vorrat gespeichert und in Sozialisationsprozessen subjektiv angeeignet. Sie funktionieren dann, bezogen auf das individuelle Erleben, gleichzeitig als Schemata der aktiven Erfahrung oder Wahrnehmung (Apperzeption) und als solche der über das Zeichen hinausweisenden Deutung, der Appräsentation, also der Interpretation des Wahrgenommenen und des intervenierenden DeutenslHandelns (vgl. Kap. 2.3.3.1). Der Appräsentationsprozess, d.h. der Schluss von einem Zeichen auf eine nicht-präsente Referenz beinhaltet vier Dimensionen: die Apperzeption (Wahrnehmung) eines Zeichenphänomens; die eigentliche Appräsentation als Verweisrelation (etwa die Zurechnung eines Kreidestriches als Schriftzeichen), ein Referenzschema (der Bereich der Gegenstände, auf die verwiesen wird) und eine allgemeine Rahmen- oder Deutungsordnung (welcher Code - bspw. die deutsche Sprache - liegt dem zugrunde).315 Schütz verweist entschieden darauf, dass die entsprechenden Appräsentationsleistungen sich nicht nur auf ein isoliertes Zeichen bzw. Objekt beziehen, sondern auf ein Netz von Verweisungen, in das es eingebunden ist: 316 "Es gibt aber weder in der unmittelbaren noch in der analogischen Erfahrung so etwas wie ein isoliertes Objekt, das ich beziehungslos erfahren haben könnte. leder Gegenstand ist Gegenstand innerhalb eines Felds, zum Beispiel eines Wahrnehmungsfelds; jede Erfahrung ist von einem Horizont umgeben; beide gehören zu einem bestimmten Bereich (einer ,Ordnung'), der seinen eigenen Stil hat. (...) Ein mathematisches Objekt, zum Beispiel ein gleichseitiges Dreieck, verweist auf alle Axiome und Theoreme, welche dieses mathematische Objekt definieren, wie auch auf alle Theoreme usw., die im Begriff der Dreieckigkeit und der Gleichseitigkeit gründen, so auf ein regelmäßiges Viereck und schließlich auf eine geometrische Figur im allgemeinen." (Schütz 1971 f: 344)
Schütz spricht auch von den verschiedenen Symbolsystemen etwa der Kunst, Religion, Politik und Philosophie, die nur in loser Verbindung zueinander stehen und ein besonderes Merkmal der Gegenwart darstellen (ebd.: 384). Damit sind letztlich die Diskurstypen bezeichnet, die auch Charles Morris (s.o.) unterschieden hatte. Mehr oder weniger umfangreiche symbolische Ordnungen funktionieren als Apperzeptions- und Appräsentationssysteme, die ausgehend vom konkret-praktischen Zeichengebrauch die Möglichkeit sinnhafter Bezüge zu einer zeichenextemen Wirklichkeit konstituieren. Sie bilden "einen Sinnzusammenhang, der unter Umständen als institutionalisiertes, von allen Mitgliedern einer sozialen Gruppierung geteiltes Verweisungsschema diesen zu Gebote steht." (Srubar 1988:233)
Das kollektiv erzeugte Diskursuniversum bildet also die Grundlage und Voraussetzung des Funktionierens von Apperzeptions- und Appräsentationsprozessen. Typisierungsvorräte im Sinne der Hermeneutischen Wissenssoziologie sind nichts anderes als Differenz-Systeme von Zeichen, die durch den Zeichengebrauch sozialer Kollektive entstehen und sich durch ihren wechselseitigen Bezug bzw. ihre Abgrenzung zugleich unterscheiden und konstituieren. Historisch sind sie dem einzelnen Individuum und Bewusstsein immer schon als mehr oder weniger stark fixierter ,Bestand' vorgängig. Das wichtigste Beispiel rur ein solches Vgl. die Zusammenfassung der Zeichentheorie von Schütz bei Hanke (2002: 57ft). Dies wird auch deutlich in seiner Diskussion der Studien von Marcel Granet über chinesische Klassifikationssysteme (vgl. Schütz 1971f: 385ft). 315
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Zeichen- und Wissenssystem ist sowohl rur Schütz wie rur Berger/Luckmann die Sprache (vgl. Kap. 2.2.1 und 2.3.3.1): "Die sprachliche Benennung von Dingen und Ereignissen beinhaltet die Bildung typischer Konstruktionen und Generalisierungen, eine sich an Relevanzen orientierende sprachliche Ordnung, die als ,Schatzkammer vorgefertigter verfügbarer Typen' auch Teil der Lebenswelt ist und die Ableitung sozial vermittelten Wissens ermöglicht. Sprachliche Bezeichnung ,mit einem bestimmten Wort' dient der Einordnung in den Gesamtzusammenhang der Erfahrung und somit dem Verstehen." (Hanke 2002: 67f)
Die im Sprachgebrauch erfolgende semantische und taxonomische Festlegung von Typisierungsmustem ermöglicht subjektive Orientierungen und Handlungen in der Welt qua Institutionalisierung eines Zeichensystems, das als Institution im Sinne des Institutionenbegriffs von Gehlen Deutungsprozesse sowohl ermöglicht wie auch einschränkt: "Diese Leistung der Sprache beruht auf der Festlegung der Darstellungsfunktion der Zeichen, ihrer semantisch-taxonomischen Erstarrung im System." (Schüt:zJLuckmann 1984: 208)
Das quasi-ideale Bedeutungs-System Sprache ist Voraussetzung einer Entsubjektivierung der individuellen Deutungspraxis, d.h. der geschichtlich-gesellschaftlichen Bestimmung der subjektiven Orientierung des Einzelnen in der Lebenswelt. Sie ist ein soziohistorisches Produkt von Institutionalisierungsprozessen und so der geschichtlich situierten Sozialwelt vorausgesetzt. Die Zugangschancen zur Sprache sind sozial ungleich verteilt; die unterschiedliche und ungleiche soziale Verteilung des Wissens hängt damit unmittelbar zusammen. Sprachverwendung ist eine durch soziale und sozialstrukturelle Konventionalisierungen geregelte gesellschaftliche Praxis: "Sprachen entstehen in ihrer Besonderheit, in ihrer inneren phonologisch-syntaktischen und lexikalischen Gliederung wie in ihrer äußeren Schichtung in Register und Lekte, grundSätzlich unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen. Sie werden dann auch unter verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen verwendet; die Art und Weise des Gebrauchs über die Generationen hinweg wirkt sich wiederum auf Stabilität und Wandel der Sprachstruktur und Sprachschichtung aus. Demnach bestimmt Gesellschaftsstruktur Sprache auf zweifache Weise. Eine besondere geschichtliche Sozialstruktur hat eine besondere Kette typischer kommunikativer Vorgänge gesteuert: diese brachten - über Stabilisierung und Wandel schon vorhandener Elemente - eine bestimmte Sprachstruktur und Schichtung hervor. Zum anderen regelt aber eine gegebene Sozialstruktur mehr oder minder verbindlich und in mehr oder minder funktionsbezogener Weise die typischen Verwendungen der vorhandenen kommunikativen Mittel in typischen Situationen, begonnen mit den frühen Phasen des Spracherwerbs (...) bis zur institutionellen Festlegung semantischer, syntaktischer und rhetorischer Elemente der Kommunikation. (... ) Darüber hinaus wird der aktuelle Gebrauch kommunikativer Mittel in konkreten Situationen gesellschaftlich geregelt. Die Regelungen können aus streng bis lose gehandhabten negativen und positiven Selektionsregeln bestehen. Dazu gehören Verbote wie Worttabus, Verpönungen bestimmter Stilvarianten in gewissen Situationen oder gegenüber bestimmten Personentypen, Gebote für den Gebrauch bestimmter Sprachformen oder ganzer Sprachschichten wie in der verbindlichen (symmetrischen oder asymmetrischen) Benutzung statusbedingter Anredeformeln, Stilvarianten usw. (...) Der Gebrauch kommunikativer Mittel ist also sowohl von der geschichtlich verfügbaren Struktur der kommunikativen Mittel wie von der konkreten gesellschaftlichen
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Regelung kommunikativer Vorgänge bestimmt (...) Der aktuelle Gebrauch kommunikativer Mittel setzt sich ebenfalls aus Regelbefolgung, Routine und aus dem - wenn auch noch so eingegrenzten - Handeln in der Wir-Beziehung zusammen. Daraus ergibt sich Strukturerhaltung und Strukturwandel." (Schütz/Luckmann 1984: 209f)
Damit sich die erwähnten Zeichen/Typisierungen zur sprachlichen Gestalt eines komplexen, sozial geteilten "universe of discourse" (SchützJLuckmann 1984: 327) bzw. eines kollektiven Wissensvorrates stabilisieren können, ist historisch-genetisch eine gewisse Kongruenz der Handlungsrelevanzen notwendig - das ist nicht zuletzt ein Grundthema der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit". Der Gebrauch der Typisierungen ist dann zwar sozial reguliert, aber nicht vollständig determiniert. Es besteht also prinzipiell eine gewisse Freiheit des Deutens und Handelns in konkreten Situationen sowie ein Überangebot an Verständigungsformen und Mustern für Sinnzuschreibungen. Gesellschaften unterscheiden sich nach dem bereitgestellten Spektrum solcher Wahlmöglichkeiten. Allerdings gerät in der an Schütz anschließenden Wissenstheorie der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" die Analyse der Wissensvorräte, Typisierungen und Zeichensysteme allzu monolithisch und fcillt hinter ihre pragmatistischen Grundlagen zurück. Dies zeigt Norbert Schröer (1999; 2002) in seiner Rekonstruktion der von Luckmann vorgelegten, unmittelbar die Schützschen Ausfuhrungen aufgreifenden Sprachsoziologie und Konstitutionsanalyse sprachlicher Zeichensysteme. Luckmann fundiere damit letztlich, so Schröer, strukturalistische Sprach- und Kommunikationstheorien und böte eine insgesamt problematische Überwindung der Frontstellung zwischen strukturalistischen Sprachtheorien und pragmatischen Kommunikationstheorien an, die in eine systemische Erstarrung von Sprache münde. Was ist damit gemeint? Wie erläutert, begreifen Schütz, Berger und Luckmann Sprache als soziale Institution, ihre Entstehung als Institutionalisierungsprozess. Ein Sprachsystem ist ein gesellschaftlich erzeugtes quasi-ideales System von Typisierungen, das in seiner Genese aus face-to-face Interaktionen entsteht, zunehmend davon abgelöst wird und unterschiedliche Anonymisierungsgrade erreicht. Die Verwendung dieses historisch entstandenen Sprachsystems wird über Gebrauchsregeln bzw. Sprachpraktiken (kommunikative Gattungen) ermöglicht: "Luckmann geht davon aus, dass sich im fortwährenden intersubjektiven Spiegelungsprozess in historischen Gesellschaften kulturspezifisch ideale Zeichensysteme abheben, flir deren konkrete Verwendung eben diese Gesellschaften dann spezifische Verwendungsregeln, sozusagen Binnenpragmatiken, zur Verfligung stellen. Diese Verwendungsregeln sind sowohl sozialstruktureIl (soziale Verteilung der Sprache) als auch situationspragmatisch (typisches Sprechen in typischen Situationen) geprägt." (Schröer 2002: 112)
Diese Sprachkonzeption ist mit dem von Saussure entwickelten Sprachmodell kompatibel, da sie zwischen dem abstrakten Zeichensystem und der Regulierung seiner Anwendung durch kommunikative Gattungen unterscheidet. Eine solche Idealisierung der systemischidealen Stabilität von Sprache als Signifikationszusammenhang widerspricht jedoch den Grundpositionen der wissenssoziologischen Theorie selbst, die ja die (relative) Kreativität der Deutungsleistungen individueller Akteure sowie die Permanenz der gesellschaftlichen Konstruktion betont. Sie widerspricht auch dem Konzept der Diskursuniversen, das zwar soziale Konventionalisierungen der Deutungszusammenhänge anvisiert, jedoch von einem
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pennanenten ,Fließgleichgewicht' zwischen deren Reproduktion und Transfonnation ausgeht. Schröer (1999; 2002) sieht die Ursachen des Defizits der Luckmannschen Sprachsoziologie in dessen unzulänglicher Lösung des "Perspektivitätsproblems", d.h. der Frage, wie die Perspektivität der Weltwahrnehmung des individuellen Bewusstseins in der Verständigung überwunden wird. Als Erklärung dafür werde von Luckmann lediglich auf die Genera/these der Reziprozität der Perspektiven bei Schütz verwiesen. 317 Demgegenüber müsse auf der Vorstellung einer prinzipiellen Heterogenität gesellschaftlicher Zeichen- und Symbolordnungen insistiert und dann eine ,mittlere' Gebrauchsebene der sozialen Konventionalisierung von Verwendungsweisen angenommen werden: "Bezieht man die unausrottbare und in komplexen Gesellschaften an Bedeutung gewinnende Perspektivität der Erfahrungsbildung in die Konstitutionsanalyse sprachlicher Zeichensysteme entsprechend ein, dann ist der Verzicht auf eine sprachliche Zentralperspektive, auf ein ideales Zeichensystem, nicht vermeidbar. In den Vordergrund kommunikationssoziologischer Betrachtung rücken an ihrer Statt (a) die Pragmatiken mittlerer Reichweite, die sozialstruktureIl oder situations- und handlungstyppragmatisch gerahmt relativ stabile Ähnlichkeitsbereiche und in diesem Zusammenhang relativ stabile Zeichensysteme mittlerer Reichweite ohne Rückbindung an eine sprachliche Zentralperspektive aus sich heraustreiben und (b) das Zusammenspiel dieser Bereiche, das zu immer neuen Ausdifferenzierungen, Modifikationen und Passungen fUhrt." (Schröer 2002: 116f)
Ich schlage vor, die von Schröer als Lösung des Problems der relativen Übereinstimmung der Deutungsperspektiven erwähnten Pragmatiken mittlerer Reichweite als Diskurse zu begreifen und zu analysieren. Im Sinne der pragmatistischen Konzeption des Diskursuniversums wird der Aufbau gemeinsamer und geteilter Signifikationsstrukturen als (sozialer) Prozess begriffen, der zwischen Reproduktionen und Transfonnationen solcher Sinnordnungen oszilliert. Seine gesellschaftlichen Konventionalisierungen beziehen sich nicht nur auf die fonnalen Ablaufstrukturen des Sprachgebrauchs, wie das Konzept der kommunikativen Gattungen nahe legt, sondern auch auf die Inhalte der entsprechenden "Sprachspiele" oder "Diskurstypen", also die Bedeutungsgehalte von Zeichen bzw. Typisierungen und Wissen, die Ausführung der weiter oben erwähnten Appräsentationsbeziehungen innerhalb eines Diskursuniversums. Aus der Perspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse lässt sich so das Problem des Verhältnisses von sozial stabilisierten Signifikationsstrukturen (Differenzstrukturen auf der Bedeutungsebene der Diskurse) und der reproduzierenden oder transfonnierenden Bedeutungszuweisung im aktiven Zeichengebrauch interpretierender Akteure angemessen begreifen. Im Sinne der Dualität von Struktur werden in diskursiven Praktiken Bedeutungshorizonte als Apperzeptions- und Appräsentationsschemata generiert und vorübergehend konventionalisiert. Sie liegen als instruierende Regeln den diskursiven Praktiken wiederum zugrunde und werden im praktischen Gebrauch aktualisiert,
Diese These besagt, dass die Intersubjektivität der Lebenswelt auf zwei Idealisierungen des Bewusstseins beruht: zum einen der Unterstellung, der oder die Andere würde an meiner Stelle die Dinge so sehen wie ich und vice versa; zum zweiten die Annahme der ausreichenden Übereinstimmung der jeweiligen Relevanzsysteme, also die Ausklammerung von Zutlilligkeiten des individuellen Lebenslaufes und der darin gemachten Erfahrungen (vgl. Schütz 1971a: 12ff; 1971f: 364ff; SchützfLuckmann 1979: 87ft). 317
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also zugleich reproduziert und gegebenenfalls erneuert bzw. verändert. 318 Ihre Anwendung setzt immer Interpretationsleistungen der beteiligten Akteure voraus.
4.2.2 Diskursive Ereignisse Die Diskussion der zeichentheoretischen Grundlagen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie hat ergeben, dass der Zeichengebrauch im Deuten und Handeln innerhalb eines Kollektivs Zeichensysteme institutionalisiert bzw. konventionalisiert. So entsteht ein strukturierter Zusammenhang von differenzbildenden Typisierungen, der wiederum konkrete SignifIkationsprozesse oder Sprachereignisse anleitet. Wie lässt sich dieser Zusammenhang genauer bestimmen? Der Begriff Diskurs bezeichnet einen Strukturierungszusammenhang, der verstreuten diskursiven Ereignissen zugrunde liegt. Kommunikative Äußerungen wie Zeitungsmeldungen, Flugblätter, Vorträge u.a. bspw. zum Hirntod (Schneider 1999), zur Humangenetik (Waldschmidt 1996), zum Klimawandel (Viehöver 1997) können an zeit-räumlich und sozial sehr weit auseinander liegenden Orten erscheinen, von unterschiedlichsten sozialen Akteuren fur diverse Publika hergestellt sein und dennoch einen typisierbaren Kerngehalt, eine typische ,,Aussage" im Sinne Foucaults enthalten, also Teil ein und desselben Diskurses sein. Darauf zielt ja gerade das Diskurskonzept - einen Begriff fur die Typik disparater empirischer und als Ereignisse singulärer Äußerungen zur Verfugung zu stellen. Für einen solchen Strukturierungszusammenhang hat die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie bislang und abgesehen von wenigen Hinweisen auf Routinehandlungen und Normbefolgung kein überzeugendes Deutungsangebot gemacht. Ich bezeichne im Anschluss an Foucault mit dem Begriff des diskursiven Ereignisses bzw. des Aussageereignisses die typisierbare materiale Gestalt von Äußerungen, in der ein Diskurs in Erscheinung tritt. 319 Aussageereignisse sind in diesem Sinne diejenige Teilmenge aller sprachlichen bzw. Kommunikations-Ereignisse, denen Diskurse als Strukturierungsprinzipien zugrunde liegen. Das Verhältnis von Diskurs und diskursivem Ereignis entspricht dem Verhältnis von Struktur bzw. Strukturierung und einzelner Handlung (Praktik). Aus der Handlung entsteht die Struktur, aus der Struktur im Prozess der Strukturierung die Handlung. Ohne Aussageereignisse gibt es keine Diskurse; ohne Diskurse können Aussageereignisse nicht verstanden, typisiert und interpretiert werden. Dieses Verhältnis von Diskurs und diskursivem Ereignis bildet die Dualität von Struktur. Das Foucaultsche Diskursverständnis lässt sich in eine solche Perspektive integrieren: Foucaults Analyse zielt ja gerade durch die empirische Ebene der manifesten Äußerungen, Dokumente und Aussagen Dabei sind in der Regel kleinere Sinnverschiebungen gemeint, die nur soweit reichen, wie sie noch unter dem Bedeutungshorizont eines typisierenden Schemas gefasst werden können, da ansonsten keine Anschlussmöglichkeiten bestehen. Eine größere Differenz wird eher als etwas ,komplett Neues' wahrgenommen. 319 Foucault selbst sprach von "Aussage" in Bezug auf den typisierbaren Gehalt von singulären, verstreuten Äußerungen (vgl. Kap. 3.2.3). Foucault verwendet den Begriff des diskursiven Ereignisses zur Bezeichnung des normalen und typischen Aussageereignisses innerhalb eines Diskurses bzw. unterscheidet zwischen normalen oder banalen diskursiven Mikroereignissen und seltenen diskursiven Makroereignissen (vgl. dazu die Diskussion bei Link 1999). Schwab-Trapp (2001, 2003) dagegen spricht im Hinblick auf besondere Ereignisse in einem Diskursverlauf, die bspw. inhaltliche Wendepunkte markieren, von einem "diskursiven Ereignis". Inwieweit und worin eine solche prägende Sonderrolle einzelner Ereignisse besteht, muss in der empirischen Rekonstruktion gezeigt werden. Vgl. dazu auch Kap. 5. 318
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hindurch auf die Regeln der Diskurserzeugung. Diskurse werden von ihm als Strukturzusammenhänge begriffen, die konkreten Praktiken (Handlungen) der Aussageproduktion zugrunde liegen. Diese Praktiken und Aussagekomplexe können im Hinblick auf Formationsregeln, d.h. auf institutionelle Orte des Sprechens, formale und inhaltliche Regelmäßigkeiten, auf Reglementierungen dessen, wer was wo mit welchen Konsequenzen sagen kann, untersucht werden. Der Zusammenhang zwischen einzelnem diskursiven Ereignis und Gesamtdiskurs kann als aktualisierende Reproduktion oder Transformation einer Diskursstruktur verstanden werden, die nur in dieser Aktualisierung realisiert wird. Peter Wagner (1990) spricht im Anschluss an Giddens von "Diskursstrukturierung", wenn sich aus verstreuten Aussageereignissen nach und nach die empirische, typisierbare Gestalt eines solchen diskursiven Strukturzusammenhangs entwickelt,320 Eine solche Struktur ist strukturiert - also Ergebnis vergangener Prozesse der Strukturbildung - und strukturierend im Hinblick auf die Spielräume zukünftiger diskursiver Ereignisse. 321 Das tatsächliche Geschehen ist keine direkte Folge der Strukturmuster und Regeln, sondern Ergebnis des aktiv-interpretierenden Umgangs sozialer Akteure mit diesen Orientierungsmustern. Die analytische Unterscheidung von Struktur und Handeln bezieht sich auf zwei Seiten der "Wirklichkeit strukturierter Handlungssysteme" (Giddens 1988: 290). Giddens (1992) defmiert Strukturen als Regeln und Ressourcen, die konkreten Handlungsereignissen (Praktiken) sowohl zugrunde liegen als auch in diesen immer wieder erzeugt werden: 322 "Eine der Hauptaussagen der Theorie der Strukturierung ist, dass die Regeln und Ressourcen, die in die Produktion und Reproduktion sozialen HandeIns einbezogen sind, gleichzeitig die Mittel der Systemreproduktion darstellen (der Strukturdualität)." (Giddens 1992: 71)
Ein Beispiel rur diese Gedankenfigur der Rekursivität ist der Satz: "Dieser Satz enthält Subjekt, Prädikat, Objekt". Er greift nicht nur auf die erwähnten Sprachregeln zurück, um sie inhaltlich zu benennen, sondern er reproduziert gleichzeitig das entsprechende Bauprinzip rur Sätze, ihre grammatikalische Struktur. Giddens unterscheidet weiter normative Regeln von Regeln der Bedeutungserzeugung bzw. "Signifikationscodes". Ressourcen, die ihrerseits nur im deutenden Zugriff als solche verrugbar sind, werden aufgeteilt in "autoritative Ressourcen", die aus der Koordination von Handlungen entstehen, und "allokative Ressourcen", die aus der Kontrolle über unterschiedlichste Materialitäten resultieren. Dieser Differenzierung entsprechen - so Giddens - drei "Strukturierungsmodalitäten" als konkrete Ausprägung der Dualität von Struktur in Interaktionen, die in unterschiedliche Typen von Institutionen eingebettet sind. Die Regeln der Bedeutungskonstitution verweisen auf die im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung besonders bedeutsame Strukturierung durch Sinnstiftung, auf Kommunikations- und Signifikationsprozesse bzw. die Ebene der Sinnkonstitution, die in symbolischen Ordnungen und "Diskursformen" (Giddens 1992: 84) ihren institutionellen Niederschlag fmden. Einen zweiten Bereich bilden die 320 Maarten Hajer (1995,2003) bezeichnet als Diskursstrukturierung den Prozess des Hineinwirkens eines Diskurses in ein gesellschaftliches Praxisfeld. 321 Vgl. Giddens (1992: 67 ff, 85 f., 352 fl); Wittgenstein (1990) oder auch Bourdieu (1993). 322 In der neueren soziologischen Theorie hat Giddens damit die adäquateste Formulierung für die wechselseitige Bedingtheit, Ermöglichung und Erzeugung von Handeln und Strukturen formuliert. Vgl. dazu auch die Zusammenfassung der Position von Giddens zur "Verflechtung von Struktur und Handeln" bei Pofer! (2004: 37ft).
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Fonnen der mehr oder weniger stark fonnalrechtlich institutionalisierten Legitimation und damit einhergehender Sanktionsweisen, die sich auf die erwähnten nonnativen Regeln, also Rechte, Verpflichtungen, Verhaltenserwartungen u.a. richten. Als dritte Strukturierungsmodalität nennt Giddens schließlich die Fonnen der Herrschaft. Diese beziehen sich auf die erwähnten (politischen bzw. ökonomischen) Autorisierungen und Al1okationen von Ressourcen und damit auf Phänomene der Macht. Auch die Strukturierungsmodalitäten bezeichnen analytische Unterscheidungen von faktisch miteinander verwobenen Phänomenen. Bedeutsam ist schließlich die habituelI-routinehaft vol1zogene Aktualisierung von Strukturen im Handeln (praktisches Bewusstsein) bzw. in gesel1schaftlichen Praktiken und die Möglichkeit ihrer reflexiven Einholung in der kognitiven Zuwendung, die Giddens als "diskursives Bewusstsein" bezeichnet. 323 Strukturen basieren auf den "bewußt vollzogenen Handlungen situierter Akteure, die sich in den verschiedenen Handlungskontexten jeweils auf Regeln und Ressourcen beziehen (00') Struktur ist den Individuen nicht ,äußerlich'; in der Form von Erinnerungsspuren und als in sozialen Praktiken verwirklicht, ist sie in gewissem Sinne ihren Aktivitäten eher ,inwendig' als ein - im Sinne Durkheims - außerhalb dieser Aktivitäten existierendes Phänomen." (Giddens 1992: 77ff)
Giddens entwickelt dieses Konzept in Anlehnung an den Regelbegriff von Ludwig Wittgenstein. Letzterer bestimmt Regeln als soziale Institutionen und Institutionen wiederum als kol1ektive Prozesse mit selbstreferentiel1em, perfonnativem Charakter (Bloor 1997; Lane 1974). Die ,Führung' durch Regeln muss nicht über bewusst-reflexive Zuwendung vennittelt sein: "Ganz allgemein widerspricht Wittgenstein der Vorstellung, daß die Regeln (00') ihre Wirkung in der Art eines Kausalzwangs entfalten. Er sagt z.B., dass wir die Beweisführung nicht als einen Prozeß, der uns zwingt, sondern eher als einen Prozeß betrachten sollten, der uns führt." (Bouveresse 1993: 50).
Dieses Regelverständnis lässt sich durch den Institutionenbegriff von Arnold Gehlen erhellen: Institutionen bieten Routinelösungen für Handlungsprobleme, die nicht als kausaler Zwang wirken, aber deren Befolgung Vorteile der ,Kraftersparnis' bringt. Solche Regeln instruieren die Ausführung sozialer Praktiken (Giddens 1992; Joas 1996; Renn 2003). Es handelt sich nicht um Vorschriften oder vol1ständig detenninierende Erzeugungsmechanismen, sondern um ,Spielanleitungen', die praktisch-pragmatisch interpretiert werden. In diesem Zusammenhang von Regeln zu sprechen, verweist also keineswegs auf einen strengen Detenninismus, aber doch auf die notwendige Grundlage der Abstimmung und Aufeinanderbezogenheit von ,Spielzügen': Die Regeln sichern die Gemeinsamkeit, den Zusammenhang von Interaktions- und Kommunikationsprozessen. Bei ihrer Aktualisierung handelt es sich um eine (gewiss: mehr oder weniger) kreative Interpretationsleistung gesel1schaftlicher Akteure, die sie für ihre praktischen Zwecke, Strategien, Taktiken, Kontexte hin nutzen, auslegen und miterzeugen, um ihre Spielzüge durchzuführen. Diskurs ist der Begriff für ein unterscheidbares Sprachspiel, das mit seiner spezifischen Struktur typisierbaren Aussageereignissen zugrunde liegt. Das Konzept der Formationsregeln wird in der "Diskursiv" wird hier von Giddens im Sinne einer bewussten Reflexion von Gründen, Mitteln, Zielen usw. benutzt, nicht im Verständnis der Diskurstheorien.
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Wissenssoziologischen Diskursanalyse im Sinne von Giddens Verständnis der Regeln und Ressourcen reinterpretiert und eingesetzt. Bezogen auf dessen Strukturkonzept lässt sich dann festhalten, dass Diskurse • • •
normative Regeln für die (formale) Art und Weise der Aussageproduktion bereit stellen (z.B. legitime kommunikative Gattungen), Signiflkationsregeln für die diskursive Konstitution der Bedeutung von Phänomenen anbieten,324 Handlungsressourcen (Akteurspotenziale) und materiale Ressourcen (Dispositive) für die Erzeugung und Verbreitung von Bedeutungen mobilisieren.
Dadurch und in dieser Hinsicht leiten sie die Praktiken sozialer Akteure an, die konkrete Aussageereignisse ,material' erzeugen. Diskurskonstitutive Regeln der Selektion von Sprechern und Inhalten sind immer auch Regeln der Exklusion. Nicht jede(r) erfüllt die Kriterien und verfügt über die Ressourcen oder Kapitalien, die für die Teilnahme an einem spezifischen Diskurs vorausgesetzt sind. Und auch die spezifische Definition der Wirklichkeit, die ein Diskurs vorgibt, schließt andere Varianten aus. Insoweit verweist der Diskursbegriff unmittelbar auf den Begriff der Macht. Diskursstrukturen sind zugleich Machtstrukturen; diskursive Auseinandersetzungen sind machthaltige Konflikte um Deutungsmacht. Die Einheit der Struktur, d.h. des Diskurses ist ein notwendiges Hilfskonstrukt der sozialwissenschaftlichen Beobachtung, eine unumgängliche Hypothese zur Erklärung der Typisierbarkeit und des (weitgehenden) Wiederholungscharakters singulärer Ereignisse. 325 In der Abfolge solcher Ereignisse werden durch die Kontingenz der historisch-situativen Bedingungen und des Handeins hindurch Diskursstrukturen von sozialen Akteuren reproduziert oder transformiert. 326 Diese Vorstellung weist Parallelen zur Ethnomethodologie Vgl. zu den beiden ersten Punkten die Erläuterungen im vorangehenden Abschnitt 4.2.2. Diskurse sind der sozialwissenschaftlichen Analyse nicht direkt als reale Entitäten zugänglich. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Beobachter-Unterstellung, eine nach groben Kriterien (z.B. Leitbegriffe, spezifische Bezüge auf Praxis felder) vorgenommene Zusammenhangsvermutung im Hinblick auf beobachtbare, dokumentierte, aber zugleich disparate, verstreute weltliche (Aussage-) Ereignisse. Die Attribution solcher Ereignisse zu einem abgrenzbaren Diskurs kann zunächst nur vermutet werden - sonst ließe sich kein entsprechendes DatensampIe zusammentragen. Dann sind es jedoch Fragen der empirischen Analyse, inwieweit sich die (heuristischen) Vorannahmen als zutreffend erweisen, und welche formalen sowie inhaltlichen Merkmale einen spezifischen Diskurs kennzeichnen. 326 Dieser Zusammenhang wird ebenfalls deutlich in der Diskussion des Verhältnisses von Struktur und Ereignis bei Marshall Sahlins, der gegen das Primat der Strukturen bei Saussure und Levi-Strauss einwendet: "Es fällt auf, daß der allzu einfache Dualismus zwischen ,Ereignis' und ,Struktur' begriffliche Probleme verursacht. Was gemeinhin ,Ereignis' genannt wird, ist selbst etwas Vielschichtiges: Es ist sowohl ein Phänomen von eigener Kraft und Gestalt und mit eigenen Ursachen und Bedeutungen, die diese seine Eigenschaften im kulturellen Kontext annehmen, wobei ,Bedeutung' hier in ihrer doppelten Bedeutung von Sinn und Wichtigkeit zu verstehen ist. In Wahrheit handelt es sich um ein Argument mit drei Begriffen - Geschehen, Struktur und Ereignis -, in welchem das Ereignis als Beziehung zwischen den anderen beiden begriffen werden muss." (Sahlins 1992a: 91t). "In früheren Studien habe ich den Ereignisprozeß, d.h. die Art und Weise, wie kulturelle Kategorien in konkreten Kontexten durch das interessegeleitete Handeln der historischen Akteure und die Pragmatik ihrer Interaktion aktualisiert werden, als eine ,Konjunktion von Strukturen' beschrieben. (...) Das Ereignis entfaltet sich als eine Konjunktion verschiedener struktureller Ebenen, die durch Phänomene unterschiedlicher Ordnungen gekennzeichnet sind (...) Daß das Ereignis eine einzigartige Realisierung einer allgemeinen Struktur sei, ist daher nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte der Wahrheit ist, daß dieses einzigartige Ereignis eine neue allgemeine Ordnung realisiert." (SahIins 1992a: 116) Vgl. dazu auch KapitelS. 324
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GarfInkeIs auf: hier wie dort geht es um die Herstellung gesellschaftlicher Ordnung als Ergebnis einer permanenten Produktion in einzelnen Sprach- und Handlungsereignissen, die aber nicht als spontane und chaotische verstanden werden, sondern als diskursiv strukturierte Praktiken. 327 Diskurs-Struktur, diskursives Ereignis, Praktiken und Akteure bilden damit letztlich die vier Bausteine des Theoriegebäudes ,Diskurs '. 4.2.3 Soziale Akteure und Diskurse Vorangehend habe ich die Kategorie der Akteure als Vermittlungsinstanz zwischen Diskursen und Aussageereignissen eingeführt. Soziale Akteure greifen in ihrer diskursiven Praxis die in Gestalt von Diskursen verfügbaren Regeln und Ressourcen der Deutungsproduktion auf oder reagieren als Adressaten darauf. Der diskurstheoretische Ansatz der Wissenssoziologischen Diskursanalyse behauptet damit, dass die Bestimmung von Diskursen als Praktiken eines Akteurskonzeptes bedarf. 328 Erst dann wird verständlich, wie es zur mehr oder weniger kreativen Ausführung von solchen Praktiken kommt: "Die Strukturen agieren im Medium menschlicher Unternehmungen" (Sahlins 1992: 118). Praxistheorien können keineswegs auf die Vorstellung von Handlungsträgerschaft, also von Akteuren verzichten. Im Ansatz der Hermeneutischen Wissenssoziologie werden Akteure zweifach bestimmt: "Einmal (...) als selbstreflexives Subjekt, das in der alltäglichen Aneignung soziale Wissensbestände ausdeutet und sie prüft, sie differenziert oder zusammenfasst. Zum anderen versteht er ihn als Adressaten von Wissensbeständen und darin eingelassenen Wertungen." (HitzlerlReichertzJSchröer 1999b: 13)
In den Diskussionen um Diskurstheorie und Poststrukturalismus hat kaum ein Begriff mehr Streit und Missverständnisse ausgelöst als die Kategorie der Akteure oder des "Subjekts".329 Im Kern handelt es sich dabei um Verwirrungen in zweierlei Hinsicht: einmal um Inkompatibilitäten zwischen philosophischen und soziologischen Subjekt- bzw. Akteurskonzeptionen, zum anderen um Probleme, die das Verhältnis zwischen Sprecherpositionen und Subjekt- bzw. Adressatenpositionen betreffen. Ich möchte zunächst kurz auf diese Auseinandersetzungen eingehen und daran anschließend das Akteurskonzept der Wissenssoziologischen Diskursanalyse erläutern. Den Anlass des erwähnten philosophischen Streites bot Foucaults radikales Insistieren auf der diskursiven Konstitution des modemen Subjekts, auf dessen historisch-sozialer Genese und Kontingenz. Diese Position kommt in dem von ihm vorgeschlagenen Begriffsapparat und in einigen pointierten Thesen zum Ausdruck: "Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen lohn Law (1994) hat in einer an solche Überlegungen anschi ießenden Zusammenfiihrung von Symbolischem Interaktion ismus, Poststrukturalismus und der Aktor-Netzwerk-Theorie die moderne Gesellschaft als beständige Ordnungsleistung begriffen. Vgl. auch KendallIWickham (2001). J28 Vgl. auch Kapitel 4.2.4. 329 Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3.2. 327
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand." (Foucault 1974a: 462)
Foucault begreift im Rekurs auf die etymologischen Herkünfte und Konnotationen des Subjektbegriffs - ,sujet' kann auch "Untertan" bedeuten, ,assujetter' heißt ,unterwerfen' das modeme Selbst einerseits als unter die Subjektpositionen unterworfen, die durch Diskurse (und Praktiken) zur Verrugung gestellt werden. Ganz im Sinne der Durkheimschen Soziologie spielt das einzelne Subjekt oder individuelle Bewusstsein keine bedeutende, sinnstiftende Rolle; Bedeutungskonstitution erfolgt allein auf der Diskursebene, die bei Foucault an die Stelle des "Kollektivbewusstseins" tritt. Das Subjekt unterwirft sich schließlich selbst durch die praktische Ausruhrung von "Technologien des Selbst" (Foucault/Martin/Martin 1993), die ihrerseits im Medium der Diskurse entstanden sind. Dieses Selbstverhältnis wird von Foucault jedoch positiv konnotiert: es ist als historisch konstituierte "Sorge um sich" Grundlage des Handeins auch gegen äußere Wissens- und Herrschafts-Zumutungen. 33o Es ist also bei Foucault niemals der souverän und rur sich intelligibel Handelnde als ahistorisches Subjekt, wie ihn die modeme Bewusstseinsphilosophie voraussetzte. Wenn sich in der Geschichte unterschiedlichste Subjekt- oder Akteurskonzeptionen rekonstruieren lassen, so kann keineswegs von einer linearen oder evolutionären Entwicklungsgeschichte des ,zu sich kommenden Subjektes' ausgegangen werden, das in der Gegenwart erreicht wird. Foucaults Forschungsprogramm ist, wie er selbst an verschiedenen Stellen betonte, eine Untersuchung der soziohistorischen Genese, der Genealogie des modemen abendländischen Subjektverständnisses im Medium von Diskursen und Praktiken. Er versteht dieses Projekt als Beitrag zur gesellschaftlichen Selbst-,Aufklärung', die mit der Suche nach Potenzialen der Kontingenz, der ,Freiheit' und ,Befreiung' von tradierten Subjektivierungsweisen verbunden ist (Foucault 1990).331 Foucaults Programmatik einer ,empirischen' Analyse der Historizität der Subjektgenese versteht sich als Alternative zum philosophischen Subjektverständnis. Sie zielt gegen verschiedene Spielarten der Bewusstseinsphilosophie, sofern sie die Leistungen des Bewusstseins auf ein mit sich identisches, sich selbst transparentes Subjekt beziehen, das in seinem Grundvermögen der Selbstreflexivität und des Vernunftgebrauchs außerhalb der Geschichte steht: "Wenn es aber einen Weg gibt, den ich ablehne, dann ist es der (man könnte ihn, ganz allgemein gesagt, den phänomenologischen Weg nennen), der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität stellt - kurz, der zu einem transzendentalen Bewusstsein führt. Mir scheint, daß die historische Analyse des wissenschaftlichen Diskurses letzten Endes Gegenstand nicht einer Theorie des wissenden Subjekts, sondern vielmehr einer Theorie diskursiver Praxis ist." (Foucault 1974a: 15) Zu solchen abgelehnten Positionen zählen, folgt man Foucaults Aufzählungen, die Existenzialphänomenologie und der marxistische Existenzialismus von Sartre, die Phänomenolo330 3J1
Vgl. dazu Foucault (1987; 1989a,b,c; 2004a). Vgl. dazu die Zusammenfassung bei Schäfer (1995) und Florence (1984).
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gien von Husserl und Merleau-Ponty, der Rationalismus von Descartes, der Kantsche Idealismus oder die systemisch-idealistische Philosophie von Hegel etc. Er wendet sich im Rückgriff auf die Saussurresche Sprachtheorie oder die Freudsche Konzeption des Unbewussten auch gegen die im Rekurs auf die Marxschen Frühschriften entwickelten marxistischen Vorstellungen der Aufhebbarkeit von Entfremdung, die eben ein Wissen um die Authentizität der Subjekte unterstellen. Friedrich Nietzsche, Pierre Klossowski, Maurice Blanchot und Georges Bataille sind - unter anderen - Foucaults ,Gewährsleute' rur die radikale Ablehnung des Subjekts als fundierender Kategorie: 332 "Nietzsche, Blanchot et Bataille sont les auteurs qui m'ont permis de me liberer de ceux qui ont domine ma formation universitaire au debut des annees 1950: Hegel et la phenomenologie. Faire de la philosophie, alors, comme du reste aujourd'hui, cela signifiait principalement faire de I'histoire de la philosophie; et celle-ci procedait, delimitee d'un cöte par la theorie des systemes de Hegel et de j'autre par la philosophie du sujet, sous la forme de la phenomenologie et de l'existentialisme. (...) c'etait Sartre qui etait en vogue avec sa philosophie de sujet. Point de rencontre entre la tradition phenomenologique universitaire et la phenomenologie, Merleau-Ponty developpait le discours existentiel dans un domaine particulier comme celui de I'intelligibilite du monde, du reel. Cest dans ce panorama intellectuel qu'ont mOri mes choix: d'une part, ne pas etre un historien de la philosophie comme mes professeurs et, d'autre part, chercher quelque chose de totalement different de l'existentialisme: cela a ete la lecture de Bataille et de Blanchot et, a travers eux, de Nietzsche. Qu'est-ce qu'ils ont represente pour moi? D'abord une invitation a remettre en question la categorie du sujet, sa suprematie, sa fonction fondatrice." (Foucault 1994a:48)
Und wenig später erläutert er im selben Interview: ,,11 y a un point commun entre tous ceux qui, ces quinze demieres annees, ont ete appeles 'structuralistes' et qui pourtant ne I'etaient pas, a I'exception de Levi-Strauss, bien entendu: Althusser, Lacan et moL Quel etait, en realite, ce point de convergence? Une certaine urgence de reposer autrement la question du sujet, de s'affranchir du postulat fondamental que la philosophie fran'raise n'avait jamais abandonne, depuis Descartes, renforce par la phenomenologie. Partant de la psychanalyse, Lacan amis en lumiere le fait que la theorie de l'inconscient n'est pas compatible avec une theorie du sujet (au sens cartesien, mais aussi phenomenologique du terme) (... ) La linguistique, les analyses qu'on pouvait faire du langage, Levi-Strauss donnaient un point d'appui rationnel acette mise en question (...) Althusser a remis en question la philosophie du sujet, parce que le marxisme fran'rais etait impregne d'un peu de phenomenologie et d'un peu d'humanisme, et que la theorie de I'alienation faisait du sujet humain la base theorique capable de traduire en termes philosophiques les analyses politico-economiques de Marx. (... ) On sait que sa reponse a ete tout a fait negative. C'est tout cela qu'on a appele 'structuralisme'. Or le structuralisme ou la methode structurale au sens strict n'ont servi tout au plus que de point d'appui ou de confirmation de quelque chose de beaucoup plus radical: la remise en question de la theorie du sujet." (Foucault 1994a: 52)
Vgl. insgesamt Foucault (J994a,b) zur Entstehungsgeschichte seiner Position gegen die damalige Phänomenologie und den Marxismus in Frankreich, die ihre exemplarische Verkörperung bei Sartre fanden; siehe auch Foucault (200Ia). Habermas (1985: 344ft) verweist allerdings auf entsprechende Selbstkritiken innerhalb der idealistischen Philosophietradition, bspw. bei Schiller, Fichte oder Schelling. 332
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Die Kritik am philosophischen Bewusstseinsbegriff und Subjektverständnis mündet bei Foucault in das empirische Forschungsprogramm der Archäologie und Genealogie von Wissens- bzw. Diskursformationen sowie Praktiken der Subjektbildung als ,FremdUnterwerfung' einerseits, als ,Sorge um sich' und Selbstpraktik andererseits, die der historisch relativen Freiheit zum Handeln zugrunde liegt. Wenn die Welt und ihre Phänomene vollständig im Medium des Wissens bzw. der Praktiken und also historischer Diskursformationen konstituiert sind, kann es eine außergeschichtliche Referenz des Subjektes nicht geben. Der Mensch, das Subjekt ist immer das, was in historischen Wissensformationen als solches gedacht sowie praktisch erzeugt wird. Seine Identität ist keine absolute konstitutive Eigenleistung, sondern stammt aus den Diskursen und Praktiken, die sich ,in ihm kreuzen' .333 Das "Ende des Menschen" bedeutet das Ende einer soziohistorisch spezifischen Repräsentation des Menschen und - so Foucault - zugleich das Ende der Möglichkeit, diese Vorstellung vom, Wesen des Menschen' zur ontologisch abgesicherten Grundlage einer sich darauf berufenden emanzipatorischen Philosophie zu erheben. Dies fuhrt Foucault nun keineswegs zur Affirmation oder Gleichgültigkeit gegenüber den modemen Subjekten. Aus seiner These der Unmöglichkeit einer positiven, außerhalb der Geschichte stehenden Definition des Menschseins folgt zwar die Verabschiedung darauf aufbauender Versuche, nicht aber diejenige des Bemühens um ,Aufklärung'. An die Stelle der philosophischen Begründung von positiven Möglichkeiten tritt vielmehr eine Nachzeichnung der ,Weisen der Unterwerfung', deren Rekonstruktion den gesellschaftlichen Akteuren oder Bewegungen selbst die Möglichkeiten und Kontingenzen verdeutlicht - und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen in deren Hände legt. Einem spezifischen historischen Subjekt-Verständnis ,unterworfen' zu sein, bedeutet keineswegs Machtlosigkeit. Foucaults Unterstützung der Gefangnisbewegungen bspw. zeigt sehr deutlich, dass er durchaus an sozialen Akteuren und Möglichkeiten der Veränderung von gesellschaftlichen Formationen einschließlich der Subjektpositionen festhielt. 334 Die Irritationen und Konflikte, die aus und um diese(r) Foucaultschen Position entstanden, stammen u.a. daher, dass Foucault sie mitunter zur Grundlage begriffstechnischer Umstellungen macht, die auch im benutzten Vokabular verdeutlichen, dass auf einen Begriff des Menschen, des Subjekts, aber auch der Akteure verzichtet werden sollte. 335 Dies wird exemplarisch deutlich in dem Hinweis auf die Funktion des "Autors" als Zurechnungsmechanismus in Diskursen (Foucault 1988b und Foucault 1974b), die an Luhmanns Konzept der "Person" als Adresse von Kommunikationen erinnert (Luhmann 1984: I25ff; 429ft). Andererseits sind solche Positionen so neu nicht. Schon George Boole bezeichnete in seinen 1854 erschienenen "Investigation of the Laws of Thought" das "universe of discourse" als das ultimative "Subjekt" des Diskurses:
33J Vgl. die daran anschließende und sich zusätzlich auf Lacan beziehende Subjektkonzeption von LaclaulMouffe (Kapitel 33.2). 334 Seine eigene Weigerung, sich nicht auf ein konsistentes oder kohärentes Argumentieren durch die Werkgeschichte hindurch festlegen zu lassen, übernimmt diese Position fur die Schreibtätigkeit des "Planeten Foucault" selbst (vgl. dazu Schäfer 1995 und Kapitel 3.2). J35 In Kapitel 3.2 habe ich erläutert, dass Foucault von einer eher strukturalen Diskursperspektive zu einem Programm der Diskursanalyse wechselt, in dem Diskurse als Sprachspiele begriffen und Strategien, Taktiken, Praktiken, also letztlich Handlungen berücksichtigt werden (vgl. Kapitel 3.2.4 und 3.2.6). Auf handlungstheoretische Elemente der Foucaultschen Machtanalyse verweist Honneth (1985: I68ff).
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"Dem Wort ,Mensch' komme beispielsweise die Aufgabe zu, das Denken zu veranlassen, aus einen gegebenen Diskursuniversum die dadurch bezeichneten Individuen auszuwählen" (Schalk 1999: 94).
Auch die frühe Wissenssoziologie von Marx über Durkheim, Mannheim oder - in Bezug auf wissenschaftliches Wissen - Fleck hatte seit langem, wie in Kapitel 2 erläutert, eine individualisierende Bestimmung von Prozessen gesellschaftlicher Wissensproduktion verworfen und betont, sowohl das Denken wie auch das Wissen und die Sprache seien ihrem Wesen nach Gruppenprozesse, Zurechnungen auf Personen also nichts anderes als soziale Konventionen. In Foucaults Diskurstheorie treten an die Stelle der Bezugnahme auf erfinderische Subjekte in der traditionellen Wissenschaftsgeschichte oder ,große Akteure' der politischen Geschichtsschreibung Analysen der institutionell-diskursiven Formationsregeln und -prozesse von Sprecherpositionen einerseits, diejenigen der Rekonstruktion von MachtWissens-Praktiken etwa in Gestalt von Technologien (der Erzeugung) des Selbst andererseits. Foucaults Untersuchung der diskursiven und praktischen Konstitution der Subjekte, die er, wie in Kapitel 3.2 erläutert, um Hinweise auf deren Strategien in Sprachspielen ergänzt, fmdet ein marxistisches Äquivalent in dem von Louis Althusser vorgeschlagenen Konzept der ,Anrufung' ("Interpellation") von Subjekten durch die institutionellen und ideologischen "Staatsapparate" (Althusser 1977). Dort geht es darum, dass institutionelle Mechanismen Subjektpositionen erzeugen und an die Individuen adressieren - ein Gedanke, der, wie in Kapitel 3.3 erläutert, in der Kritischen Diskursforschung und vor allem in der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe aufgenommen wurde. Die Foucaultsche Alternative zur Bewusstseinsphilosophie hat heftige Reaktionen insbesondere innerhalb der kritischen Philosophietradition der Frankfurter Schule ausgelöst (vgl. Kapitel 3.2.1 und 3.2.5). Bspw. insistierte Seyla Benhabib wie ganz ähnlich Jürgen Habermas, Axel Honneth, Manfred Frank u.a. auf der Unhintergehbarkeit bestimmter subjekttheoretischer Grundannahmen - "Selbstreflexivität, die Fähigkeit, nach Prinzipien zu handeln, rationale Verantwortlichkeit für die eigenen Handlungen sowie die Fähigkeit, einen Lebensplan in der Zukunft zu entwerfen, kurz gesagt: eine Art von Autonomie und Rationalität" (Benhabib 1993a: 13) - für die Möglichkeiten einer kritischen (und in ihrem Argumentationszusammenhang: feministischen) Gesellschaftsphilosophie und -theorie: 336 "Die starke Version der These vom ,Tod des Menschen' wird wohl am besten von Jane Flax' eigenem Satz zusammengefaßt: ,Der Mensch ist für immer im Gewebe der fiktiven Bedeutung gefangen, in der Kette der Bezeichnung, in der das Subjekt nur eine weitere Position in der Sprache darstellt.' Das Subjekt löst sich also in die Kette der Bezeichnung auf, als deren Initiator es einst gedacht wurde. Mit dieser Auflösung des Subjekts in eine bloße, weitere Position in der Sprache' verschwinden selbstverständlich auch Konzepte wie Intentionalität, Verantwortlichkeit, Selbstreflexivität und Autonomie. Das Subjekt, das nur noch eine, weitere Position in der Sprache' ist, vermag nicht mehr, jene Distanz zwischen sich selbst und der Bezeichnungs-
Eine exemplarische Konfrontation der Positionen findet sich in der Auseinandersetzung zwischen Benhabib, Butler, Fraser und Comell über die Möglichkeiten des Feminismus aus Sicht der Kritischen Theorie und des Foucaultschen Poststrukturalismus (BenhabiblButler/ComelllFraser 1993).
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse kette, in die es eingebettet ist, zu meistern und zu schaffen, die es ihm ermöglichte, auf die Bezeichnungen zu reflektieren und sie kreativ zu verändern." (Benhabib 1993a: 13)337
Gegen die diskursive Überdetennination der Akteure im Foucaultschen Theoriegebäude hatte auch, wenngleich wesentlich moderater als die Vertreter der Frankfurter Schule, Michel de Certeau (1980) mit dem Hinweis auf die Kreativität des Handelns als ,Taktiken' argumentiert. 338 Es ist hier nicht der Ort, die verschiedenen Positionen innerhalb dieses philosophischen Streites wiederzugeben, der letztlich unauflösbar zwischen konkurrierenden philosophischen Paradigmen geführt wurde. 339 Mittlerweile hat die Heftigkeit der Auseinandersetzungen jedoch abgenommen, ohne dass die eine oder andere Position für sich einen eindeutigen ,Sieg' reklamieren könnte. So sieht bspw. Peter V. Zima (2000: 40ft) wichtige Einsichten auf beiden Seiten: Jedes Plädoyer für eine befreite Subjektivität müsse zunächst die historisch-sprachliche Detenniniertheit analysieren, um sinnvolle Vorschläge zu entwickeln. Umgekehrt hätten die Vertreter der Kritischen Theorie zu Recht vor einer Neigung zur Verabsolutierung der Strukturen bei Foucault oder Althusser gewarnt, welche bestehende Wahlmöglichkeiten des Einzelnen unterschätze. 34o Im Ergebnis habe sich eine Position entwickelt, die wichtige Argumente beider Seiten aufgreife: "Insofern kann Subjektivität (...) als sich wandelnde Identität und als Einheit in der Vielfalt aufgefaßt werden. Es kommt darauf an, von einer Auffassung der Subjektivität als statischer Identität oder als ,Zustand der völligen Beharrung' (Frank) abzurücken, um sich ein Subjekt vorstellen zu können, dessen Individualität als sozialisierte Natur, dessen Subjektivität als Kultur nur als Prozesse oder dynamische Einheiten denkbar sind." (Zima 2000: 42)341
Die Auseinandersetzung um den Subjektbegriff ist, wie Zima (2000: 43) bemerkt, in der Soziologie wesentlich weniger bedeutsam als in den philosophischen Kontroversen. Überträgt man die erwähnte Debatte in soziologisches Terrain, dann entspricht sie (allenfalls) der dort von Anbeginn vorhandenen, in der Gegenüberstellung von Durkheim und Weber exemplarisch zum Ausdruck kommenden Spannung zwischen holistischen oder strukturbzw. systemorientierten Paradigmen und individualistischen oder handlungstheoretischen Ansätzen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Foucaultsche Position durchBenhabib bezieht sich hier auf Jane Flax: Psychoanalysis. Feminism and Postmodernism in the Contemporary West. Berkeley 1990. 338 Seine Argumente bilden heute einen der wichtigsten Anknüpfungspunkte für die Wiedereinführung von Akteurskonzepten in die Diskurstheorie im Rahmen der Cultural Studies. Dosse (1995, 1996, 1997) diskutiert in seinem Überblick über die Geschichte des Strukturalismus die Bandbreite der Subjektkritik ebenso wie die, Wiederkehr' der Akteure/Subjekte ab den 1970er Jahren. Vgl. auch das entschiedene Plädoyer von Manfred Frank (1986) für die "Unhintergehbarkeit von Individualität" und die in Kapitel 3.1.2.2 erläuterte allgemeine Kritik am Strukturalismus. 339 Vgl. dazu die Diskussion kritischer Einwände in Schäfer (1995: 103ft) und weiter oben Kapitel 3.2.5 sowie bspw. Meyer-Drawe (1990) und Zima (2000). Habermas begreift seine Theorie des kommunikativen HandeIns als einen alternativen "Ausweg aus der Subjektphilosophie" (Habermas 1985: 344ft). 340 Die oben erläuterte Diskurstheorie von LaclaulMouffe trägt dem mit ihrem Konzept der Artikulation Rechnung (vgl. Kapitel 3.3.2). 341 Zima nennt dieses Subjektverständnis im Anschluss an Bakhtins Konzepte des Sprachgebrauchs als Dialog, ArtikuJationspraxis und Diskurs "dialogische Subjektivität" (vgl. Zima 2000: 365ff; insbes. 374ft). Schon Mead hatte ein vergleichbares dynamisches Verständnis von Identität entwickelt. 337
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aus kompatibel mit der soziologischen Grundannahme der sozialen Prägung oder Formung des Handeins und der Individuen ist, ja letztlich als eine historische Soziologie des modernen Individuums und seines Selbstverständnisses gelesen werden kann. Dafür gibt es in der Soziologie von Max Webers "Protestantischer Ethik" (Weber I978) über Marcel Mauss (1978) ethnologisch-soziologische Analyse der Kategorie der "Person" aus dem Jahre 1938, die Foucault gewiss bekannt war, bis hin zu den bereits durch Foucault inspirierten Studien von Charles Taylor über die "Quellen des Selbst" (Taylor 1994) oder von Volker Knapp und Alois Hahn zu Bekenntnissen, Beichten und Geständnissen (HahnIKnapp 1986; Hahn 2000) u.a. zahlreiche Entsprechungen. 342 Schon die frühe Soziologie bei Durkheim oder Weber hatte nicht nur das Individuum als soziohistorisch konstituiertes gedacht, sondern, wie anhand der Geschichte der Wissenssoziologie deutlich wurde, sowohl das Handlungsvermögen, das Wissen und die Kategorien der Weltdeutung insgesamt in ihrer sozialen und historischen Bedingtheit untersucht. An die Stelle der prinzipiellen Paradigmendifferenz zwischen Bewusstseinsphilosophie und Diskurstheorie treten in der Soziologie graduell unterschiedliche Akzentuierungen, die ihren gemeinsamen Konsens in der sozialen Prägung des einzelnen Bewusstseins haben. Schließlich macht die Soziologie in ihren verschiedenen Varianten und Analysen des "Homo Sociologicus" (Ralf Dahrendorf) gerade die soziale und historische Konstitution der individuellen Identität in Sozialisationsprozessen bzw. Habitusformungen und des Handeins in Rollenbeziehungen zum Gegenstand empirischer Forschungen. Sie beschäftigt sich nicht im emphatischen Sinne mit ,dem' Subjekt, sondern mit unterschiedlichen, historisch konstituierten und situierten sozialen Akteuren. Axel Honneth hatte deswegen bemerkt, eine entsprechende soziologische Wendung der Foucaultschen Theorie läge nahe: "Foucault erkennt die theoretischen Fehler, die eine Geschichtsphilosophie begeht, wenn sie die Vorstellung einer ,Stifterfunktion des Subjekts' auf soziale Prozesse überträgt; um den metaphysischen Fallstricken dieser geschichtsphilosophischen Konzeption zu entgehen, muß er die Grundbegriffe seiner neuen Konzeption von Beiklängen der traditionellen Reflexionsphilosophie freihalten. Anstatt nun jedoch die Singularität des historischen Subjekts, dem die Leistungen der Konstitution zugemutet werden, in Frage zu stellen und durch das überzeugendere Modell einer Pluralität von historischen Akteuren zu ersetzen, schlägt Foucault den entgegengesetzten Weg einer Elimination des Subjektbegriffs überhaupt ein. Er zieht nicht den monologischen Charakter der Reflexionsphilosophie in Zweifel, sondern eskamotiert das ihr zugrundeliegende Denkmodell überhaupt." (Honneth 1985: 136)
Neben der grundsätzlichen Frage nach den Subjektvorstellungen bedarf noch eine weitere Erscheinungsform von Subjekten in Foucaults Arbeiten einer genaueren Betrachtung. Foucault vermengt in seiner als Alternative zur Bewusstseinsphilosophie vorgestellten Diskurstheorie letztlich sehr verschiedene Aussagen über den Stellenwert sozialer Akteure, die für die Zwecke wissenssoziologischer Diskursforschung auseinander gehalten werden müssen. Zum einen geht es ihm um die Sprecherpositionen und -rollen innerhalb von Diskursen, d.h. um die institutionellen Regulierungen der Zugänge von Akteuren zum legitimen Vollzug diskursiver Praktiken, zu den gesellschaftlichen Orten, von denen aus ,ernsthaft' gesprochen werden darf. Zweitens fokussiert Foucault die in Diskursen formulierten Subjektpositionen, Positionierungsprozesse und Identitätsschablonen für seine Adressaten. Drittens 342
Vgl. Foucaults Bezug auf Weber in Foucault (1993: 10).
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schließlich verweist er in engem Bezug zum vorangehenden Punkt auf die daraus entstehende praktische Formung der Subjekte in den diskursiv-praktischen Technologien des Selbst. Dahinter steht sein gegen Teile der Phänomenologie gerichtetes Programm der historischen Situiertheit und Kontingenz der wechselseitigen Konstitution von Subjekten und Objekten, der Abhängigkeit der Erfahrungsformen von den Modi des Wissens und Wahrsprechens, der Normativität und der Subjektkonstitution. Der Wandel in Foucaults Subjektverständnis, der mit seinem Spätwerk assoziiert wird, bezieht sich darauf, dass dort neben die Subjektivierung als Fremd-Unterwerfung des Subjekts nunmehr auch der Modus einer Selbstbildung, einer "Sorge um sich" tritt, durch die das Subjekt nicht Fremdherrschaft unterworfen ist, sondern sich selbst leitet. Auch die Formen der Selbst-Regierung sind jedoch immer durch historische Wissens- und Praxisformationen konstituiert: "Zunächst denke ich allerdings, daß es kein souveränes und konstitutives Subjekt gibt, keine universelle Form des Subjekts, die man überall wiederfinden könnte. Einer solchen Konzeption vom Subjekt stehe ich sehr skeptisch, ja feindlich gegenüber. Ich denke hingegen, daß das Subjekt sich über Praktiken der Unterwerfung konstituiert bzw. - auf autonomere Art und Weise über Praktiken der Befreiung und der Freiheit." (Foucault 1984a: 137f) "In den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg und noch mehr danach war die Philosophie in Kontinentaleuropa und in Frankreich von der Philosophie des Subjekts beherrscht. Ich meine damit, daß die Philosophie es als ihre Hauptaufgabe betrachtete, die Abstammung aller Erkenntnis und aller Bedeutung von dem sinnstiftenden Subjekt aufzuzeigen. Die Wichtigkeit dieser Frage verdankte sich der Einwirkung Husserls (...) Im nachhinein weiß mans bekanntlich immer besseralso lassen Sie mich sagen, daß es zwei mögliche Auswege aus der Subjektphilosophie gab. Der erste war die Theorie der objektiven Erkenntnis als Analyse der Bedeutungssysteme, als Semiologie. Das war der Weg des logischen Positivismus. Der zweite Weg war der einer Schule der Linguistik, Psychoanalyse und Anthropologie, die unter ,Strukturalismus' lief. Diese beiden Richtungen habe ich nicht eingeschlagen (...) Ich habe eine andere Richtung ausprobiert. Um aus der Subjektphilosophie herauszukommen, habe ich eine Genealogie des modemen Subjekts als einer historischen und kulturellen Realität versucht, d.h. als etwas, was sich eventuell ändern kann (was natürlich politisch wichtig sein kann). In diesem allgemeinen Projekt kann man zwei Verfahren anwenden. Beschäftigt man sich mit modemen theoretischen Konstruktionen, so hat man es mit dem Subjekt im allgemeinen zu tun. So habe ich die Theorien vom Subjekt als sprechendem, lebendem, arbeitendem Wesen im 17. und 18. Jahrhundert zu analysieren versucht. Man kann sich aber auch mit dem mehr praktischen Verständnis befassen, das man in den Institutionen vorfindet, in denen bestimmte Subjekte Objekte von Erkenntnis und Beherrschung wurden: Asyle, Gefängnisse usw. Ich wollte die Verstehensformen studieren, die das Subjekt über sich selber schafft. Aber nachdem ich mich diesem Problemtyp zugewandt hatte, mußte ich meine Meinung in mehreren Punkten ändern. Lassen Sie mich eine Art Selbstkritik einfügen. (...) Ich aber wurde mir mehr und mehr bewußt, daß es in allen Gesellschaften noch einen anderen Typ von Technik gibt: Techniken, die es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mir ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensftihrung zu vollziehen, und zwar so, daß sie sich selber transformieren (...) Nennen wir diese Techniken Technologien des Selbst. Will man die Genealogie des Subjekts in der abendländischen Zivilisation analysieren, so hat man nicht nur Techniken der Beherrschung, sondern auch Techniken des Selbst in Betracht zu ziehen." (Foucault in Foucault/Sennett 1984: 35f)
In der Sprache der Soziologie handelt es sich bei den Sprecherpositionen um Positionen in institutionellen bzw. organisatorischen Settings und daran geknüpfte Rollenkomplexe.
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Soziale Akteure sind dann Rollenspieler, die solche Positionen einnehmen. Hier spielt in der Soziologie die Subjektivität, Autonomie und Souveränität der auf die Positionen gesetzten Subjekte eine untergeordnete Rolle bzw. wird (nur) insoweit zum Thema, wie sie dafur ausschlaggebend sein kann, welches Maß an Rollendistanz, -interpretation und -performanz tatsächlich im Rollenspiel zum Tragen kommt. Rollen werden seit den Einwänden des interpretativen Paradigmas gegen die strukturfunktionalistischen Ansätze in den 1960er Jahren nicht mehr als determinierende Mechanismen beschrieben, sondern als Regeln oder Spielanleitungen, die in der Interpretation, Kreativität und dramaturgischen Kompetenz bzw. Performanz der Rollenspieler mit ,Leben' erfullt werden. 343 Das soziologische Vokabular von Institutionen, Rollen, Regeln, Ressourcen, Interessen und Strategien individueller oder kollektiver, immer aber sozialer Akteure kann fur eine entsprechende Analyse der Strukturierungen von Sprecherpositionen in Diskursen genutzt werden. Die in Diskursen als Subjektpositionen vorgenommenen Positionierungen sozialer Akteure - bspw. als Problemverursacher, Objekt von notwendigen Interventionen oder potenzielle Nachfrager nach spezifischen Leistungen - erzeugen zunächst nichts anderes als typisierte Interpretationsschemata und Identitätsangebote, die als Bestandteile des historisch kontingenten gesellschaftlichen Wissensvorrates den sozialen Akteuren angetragen und bspw. in verschiedensten Sozialisationsprozessen angeeignet werden (können). Schon Mead hatte solche Prozesse als sprachlich-symbolisch vermittelte Verlagerung von Gesellschaft - in Gestalt des generalisierten Anderen - in das je individuelle Bewusstsein gedacht. Schließlich zeigt der Verweis auf Webers Analyse der "protestantischen Ethik", dass die Soziologie von je her die Soziogenese des modernen Individuums einschließlich der Praktiken der Lebensfuhrung und des Selbstbezugs - also das, was Foucault als" Technologien des Selbst" (Foucault/MartinJMartin 1993) zusammenfasst - zu ihrem empirischen Forschungsgegenstand erklärt hatte. Die Hinweise auf die soziologische Normalität der Vorstellungen einer Pluralität von sozial geprägten Akteuren entdramatisiert die Debatten über das "Ende des Menschen". Es ist deswegen auch nicht zufällig, dass die von Dosse (1995; 1997: 427ft) fur das Frankreich der 1970er Jahre beschriebene "Rückkehr der Akteure" und die erneuerte "Humanisierung der Humanwissenschaften" von unterschiedlichen soziologischen Schulen - etwa dem methodologischen Individualismus von Raymond Boudon, der auf Max Weber und Georg Simmel rekurriert, der Akteurssoziologie von Alain Touraine mit ihrer Betonung der Gestaltungsmacht sozialer Bewegungen, der Ethnomethodologie, dem interpretativen Paradigma u.a. - beeinflusst wird. Eine besondere Bedeutung fur diese von Dosse gleichermaßen als interpretative und pragmatistische Wende beschriebene Entwicklung der französischen Sozialwissenschaften insgesamt besitzen die angelsächsischen analytischen Sprachphilosophien, insbesondere das Spätwerk Wittgensteins, die durch Übersetzungen der Arbeiten von Karl Otto Apel und Jürgen Habermas beförderte Wiederentdeckung des Pragmatismus sowie der pragmatistischen Semiotik von Peirce oder Morris und schließlich die Hermeneutik von Paul Ricoeur, die in Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Tradition eine Akzentverschiebung weg von der Orientierung am Nachvollzug subjektiv ge343 Ich kann an dieser Stelle das Rollenkonzept nicht weiter diskutieren. Vgl. zum Rollenbegriff in der Hermeneutischen Wissenssoziologie Pfadenhauer (1999). Stäheli (2000) argumentiert im Rückgriff auf Foucault u.a., die poststrukturalistischen Ansätze würden bestimmte Engführungen des Rollenkonzeptes überwinden. Dies mag für das alte strukturfunktionalistische Rollenverständnis gelten, scheint mir aber fur die interpretativen Rollenmodelle nicht überzeugend belegt.
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meinten Sinnes oder der Bestimmung ,wahrer Sinngehalte' hin zur Bedeutung der Interpretations- und Rezeptionsprozesse vornimmt und gleichzeitig auf der Konstitution menschlicher Welterfahrung im Medium der Erzählung und des Sinns insistiert (vgl. Dosse 1995): "Devant la crise des grands paradigmes unitaires (fonctionnalisme, marxisme, structuralisme), ainsi que parallelement, des reponses holistes et deterministes aux questions sociales, que ce soit par l'intermediare du tout-Etat ou de la main invisible du marche, les nouvelles approches theoriques misent sur un ressourcement pragmatique de la theorie de l'action, une dynamisation des 'ateliers de la raison pratique' et, plus generalement, pourrait-on-dire, une 'humanisation des sciences humaines'. 11 ne s'agit pas pour autant d'un retour pur et simple au sujet ou 11 une forme d'humanisme precritique, mais d'un reequilibrage, d'un changement d'echelle qui permet de s'interroger au niveau de l'individu sur ce qui fonde l'''etre-ensemble'', le lien social. (... ) Cette attention aux mediations (...) s'inscrit donc bien dans un veritable toumant pragmatique (...) Ce toumant pragmatique accorde une position centrale 11 I'action dotee de sens, rehabilite l'intentionnalite et les justifications des acteurs dans une determination reciproque du faire et du dire (... ) Le toumant pragmatique s'inscrit aussi dans un espace median entre expJication et comprehension dans la recherche d'une troisieme voie (...) Cette inflexion pragmatique et interpretative renoue bien entendu avec les preoccupations d'auteurs classiques mais parfois reveres 11 distance, comme Max Weber, ou carrement negJiges, comme Simmel (... ) Pour saisir les formes de I'action, les nouveaux travaux reprennent 11 leur compte Ja tradition phenomenologique et hermeneutique qui leur perrnet de definir un paradigme interpretatif thematisant le faire dans le dire. I1s utilisent aussi les travaux de la philosophie analytique pour mieux saisir le vouloir des acteurs dans l'effectuation meme de l'action. Le fait social est pertyu comme fait semantique, porteur de sens. (...) La notion de dialogique, introduite par Michael Bakhtine, informe egalement ces nouvelles recherches du fait de I'accent mis sur le caractere polyphonique du discours, sur son heterogeneite enonciative (...) Action: tel est sans doute le maHre mot de Ja cristalIisation en cours (...) Le basculement en cours est aussi l'occasion d'une grand rencontre intelIectuelle et generationelle avec un philosophe qui a traverse dans I' ombre la periode precendente, justement parce qu'il incamait Ja philosophie de l'agir et du sens, Paul Ricceur. On le retrouvera tout au long du deploiement des multiples facettes du nouveau paradigme comme la ressource essentielle des orientations actuelles." (Dosse 1995: 12ff)
Foucault selbst hatte mit seiner Hinwendung zur genealogischen Untersuchung von MachtWissen-Regimen, von Gouvernementalität und Herrschaft (vgl. Kapitel 3.2.4) durchaus sozialen Akteuren und ihren Strategien oder Taktiken in seinen materialen Analysen Rechnung getragen, ohne jedoch ein eigenes handlungstheoretisches Konzept rur solche Handlungsträgerschaften zu entwickeln. 344 Der von ihm in diesem Zusammenhang vorgenommene Rekurs auf Praktiken, d.h. auf sozial konventionalisierte Handlungsmuster, löst dieses Problem nicht, denn der Vollzug von Praktiken bedarf einer performativinterpretatorischen Leistung sozialer Akteure. 345 Genau dies ist der Punkt, auf dem die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Rahmen der Hermeneutischen Wissenssoziologie insistiert: Während Foucault die Konstituiertheit der Subjekte und Praktiken durch die emergenten Diskursformationen und Wissensregime betont, verweist die Hermeneutische Wissenssoziologie auf die Unverzichtbarkeit der Annahme von nach Maßgabe des kontingenten soziohistorischen Kontextes, d.h. der existierenden Wissensvorräte, Motivvokabularien und Handlungsweisen, also alles in allem: relativ individuierten (sozialen) Akteuren, die sich in 344 345
Vgl. dazu auch die am Ende von Kapitel 3.2.5 zitierte Passage aus Foucaults Einleitung zum "Fall Riviere". Vgl. dazu die Erläuterungen zur Dualität von Struktur im vorangehenden Abschnitt 4.2.2.
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der aktiven Auseinandersetzung mit solchen Strukturvorgaben befinden (Knoblauch/Raab/ Schnettler 2002). Gewiss versteht sich die Hermeneutische Wissenssoziologie als handlungstheoretischer Ansatz, für den die Intentionalität des Einzelbewusstseins unabdingbare Voraussetzung für die zugleich individuellen und sozialen Konstitutionsprozesse von Sinn, für das Erleben, Erfahren und Deuten sozialer Wirklichkeit ist. Diese individuellen Konstitutionsleistungen sind jedoch nur möglich vor dem Hintergrund und im Rahmen eines historisch gegebenen, sozial konstruierten Wissensvorrates und der von ihm zur Verfügung gestellten Wahrnehmungs- bzw. Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsschemata. Diese Position beruht auf der vor- oder protosoziologischen, mundan- bzw. sozialphänomenologischen Weiterführung der Husserlschen Phänomenologie durch Schütz, der sie mit der verstehenden Soziologie Webers, den Sprach- und Symboltheorien des Pragmatismus bei Dewey, James oder Mead kombiniert. 346 Sie darf nicht mit der von Foucault kritisierten Phänomenologie von Husserl, Merleau-Ponty oder der marxistisch-existentialistischen Position Sartres verwechselt werden. Exemplarisch für eine solche Fehleinschätzung der sozialkonstruktivistischen Position, die diese auf ,überholte Bewusstseinsphilosophie' reduziert, ist deren Darstellung bei Reckwitz (2000, 2003) oder folgende Argumentation, die aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik formuliert ist: "Im Paradigma der Bewußtseinsphilosophie wurde Sinn an die Ich-Leistungen der Subjekte gebunden und auf der Ebene subjektiver Intentionalität verortet. Diese Anbindung erweist sich jedoch als eine aporetische: Das Subjekt, seinerseits ein sinnhaft Konstituiertes, wurde immer schon als Konstitutivum von Sinn vorausgesetzt. Zur Auflösung bringen läßt sich diese Aporetik erst dann, wenn Sinn von seiner Anbindung an das monologische Subjekt der Bewußtseinsphilosophie befreit und nicht mehr primär von der Ebene subjektiver Intentionalität her bestimmt wird. Sinn ist nicht mehr - wie in der bewußtseinsphilosophischen Tradition von Kant bis Husserl und in den von diesen Lagern beeinflußten subjektivistischen Handlungstheorien im Lager der Sozialwissenschaften - am monologischen Subjekt festzumachen." (Wagner 1993: 318)
Wagner verweist auf die Theorien von Mead oder Bourdieu als Beispiele für nichtsubjektivistische Begründungen der Sinngenese in Interaktionsprozessen und sieht insbesondere in Meads Symbol-Theorie der historischen Entstehung von Sinn aus der Interaktion Vorteile gegenüber der Schützschen Konzeption. Er übersieht dabei jedoch, dass Schütz durchaus die Meadsche Symbol- und Sozialisationstheorie rezipiert hatte und sowohl Kommunikationsprozesse wie auch die Sprache und die kollektiven Wissensvorräte als unabdingbare Voraussetzung der Möglichkeiten historisch konstituierter und situierter Intentionalität betrachtete. Schütz beschäftigt sich jedoch mit einem anderen Thema: Es geht ihm im Unterschied zu Mead nicht um das Problem der historisch-genetischen Entstehung von Symbolgebrauch als Differenzkriterium von Mensch und Tier und auch nicht um die Konstituierung der menschlichen Bewusstseinstätigkeiten in der Sozialisation, sondern darum, wie Prozesse der Sinnzuweisung und des Fremdverstehens auf der Grundlage eines existie-
346
Vgl. zur Entwicklung der phänomenologischen Position von Schütz insbes. Srubar (1988).
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renden gesellschaftlichen Wissens-, also Typisierungsvorrates gedacht und untersucht werden können. 347 Bereits bei Schütz wird die gesellschaftliche Formung und Vorraussetzung der Sinnkonstitution durch das Bewusstsein betont - es ist der überwiegend sprachlich gespeicherte gesellschaftliche Wissensvorrat an Typisierungen von Deutungs- und Handlungsweisen, der die Sinnzuschreibungen, Verstehens- und Kommunikationsprozesse sowie die wechselseitigen Handlungs-Abstimmungen zwischen Akteuren möglich macht. Das Bewusstsein der einzelnen Subjekte ist immer sozial geformtes Bewusstsein in einer soziohistorisch konkreten Welt, das auf kollektive Motivvokabularien, Wissensvorräte usw. zurückgreift. Es bleibt zwar in einem radikalen Sinne von Außen unzugänglich, interagiert und kommuniziert jedoch im Medium der Wissensvorräte und damit der Sprache. Diese bilden die Grundlage und Bedingung hinreichender Verständigung. Schütz setzt das Vorhandensein von Mustern der Sinnattribution als sozialisatorisch vermittelt voraus und fragt dann nach den sozialen Konventionalisierungen sowie den Funktionsweisen der Apperzeptions- und Appräsentationsprozesse, mit denen sich das Bewusstsein wahrnehmend und deutend auf sein Erleben bezieht. Berger/Luckmann wenden dieses Programm in die empirische Wissenssoziologie. Die sozialphänomenologischen Arbeiten aus dem Schützschen Werk einschließlich der von Thomas Luckmann auf der Grundlage des Schützschen Nachlasses ausgearbeiteten "Strukturen der Lebenswelt" (SchützJLuckmann 1979, 1984) werden aus der Perspektive der sozialkonstruktivistisch-hermeneutischen Wissenssoziologie als "proto-soziologisch", also der Soziologie vorgelagert bezeichnet. Sie gehören nicht zu ihrem Forschungsprogramm, ihrem Gegenstands- und Anwendungsbereich, sondern klären im besten Falle die Grundlagen der individuellen und sozialen Prozessierung von Sinn bzw. Bedeutungen. 348 Aus der Perspektive der Hermeneutischen Wissenssoziologie formuliert Jo Reichertz deswegen pointiert Vorbehalte und Einwände gegen das Projekt der (Sozial-)Phänomenologie und seinen unüberwindbaren Einschränkungen: "Die Methode der phänomenologischen Reduktion (auch Epoche genannt) möchte zu den ,Sachen' selbst dadurch, daß man bei der Welterkenntnis die eigenen Vorstellungen von Welt von allen sozialen Einkleidungen befreit und zugleich alle Vorstellungen von Welt ihrer historischen Deutung entledigt. Ziel ist es, den ,sozialen Schleier' wegzuziehen, in der Hoffnung, auf diese Weise der Dinge selbst ansichtig zu werden. Dieses Verfahren ist insbesondere von den Vordenkern der Wissenssoziologie sehr stark favorisiert worden. Eine Auseinandersetzung mit diesem Verfahren hat in den letzten Jahren zu der (nicht von allen Phänomenologen geteilten) Erkenntnis geführt, daß man so nicht bei den Sachen selbst, sondern vor allem und einzig in der ,Sprache landet', daß man also die Perspektivität keineswegs verliert." (Reichertz 1999: 335) 347 Wagner (1993) oder Schneider (2002: 180) rekonstruieren den Versuch von Mead, die evolutionäre Entstehung von Sinn und damit die menschliche Fähigkeit zum Symbolgebrauch aus dem Prozess der Interaktion abzuleiten. Vgl. zu den Positionen von Schütz und Mead jeweils Schneider (2002), zu den Bezügen auch Hanke (2002) sowie die Ausführungen von Schütz (l97Id,f) in seinen Gesammelten Werken und die Kapitel 2.2.1, 2.3.3 und 4.2.1. Wagners Kritik an Schütz ist typisch für eine verkürzte und oberflächliche Rezeption seines Werkes, wie sie auch bei Habermas zum Ausdruck kommt, der Schütz vorwirft: "die Gesellschaft erscheint als ein objektives Netz von Beziehungen, das (...) als normative Ordnung den transzendental vorverständigten Subjekten über den Kopf gestülpt (wird)" (Habermas 1985: 369). Vgl. auch die entsprechende Diskussion der Position von Schütz bzw. SchützlLuckmann in der "Theorie des kommunikativen Handeins" (Habermas 1981 b: 192ft). 348 Vgl. dazu Luckmann (1979a, 1983, 1999), Hitzier (1988), Honer (1999), Eberle (2000) sowie die Diskussion und Anwendung der sozial phänomenologischen Vorgehensweise bei Kurt (2002).
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Die Hermeneutische Wissenssoziologie und mit ihr die Wissenssoziologische Diskursanalyse gehen davon aus, "daß sich Wirklichkeit in Bewusstseinstätigkeiten konstituiert und daß historische Welten gesellschaftlich konstruiert werden" (Luckrnann 1999: 19).349 Die Unverzichtbarkeit der Annahme konstituierender Bewusstseinsleistungen impliziert jedoch nicht, diese Leistungen als diejenigen eines transzendentalen Bewusstseins im Sinne der eingangs erwähnten Bewusstseinsphilosophien zu begreifen. Die gedankliche Konstitution und Sinnstiftung ist nur möglich auf der Basis eines gesellschaftlichen Typisierungsvorrates, der den einzelnen Subjekten historisch vorgängig existiert und in permanenten Kommunikationsvorgängen vermittelt wird. Individuen sind damit den soziohistorischen Transformationen, Komplexitäten und situativen Bedingungen der Wissensformationen insoweit unterworfen, als diese den Sinnhorizont ihrer Lebenswelt bilden. 350 Gleichzeitig agieren sie als mehr oder weniger eigen-willige Interpreten dieser Wissensvorräte. Erst dadurch sind sie in der Lage, Strukturen in dem in Kapitel 4.2.2 erläuterten Sinne zu realisieren und zu aktualisieren. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse zielt dann nicht auf die (sozial-) phänomenologische Rekonstruktion typisierbarer Bewusstseinsleistungen, sondern auf die Analyse und Erklärung der diskursiven Konstruktion gesellschaftlicher Wissensbestände einschließlich derjenigen Elemente, die sich auf Sprecherpositionen, Selbsttechnologien und Subjektpositionen im Sinne diskursiv adressierter Subjekte richten. Sie verwechselt jedoch nicht vorschnell die diskursiv vorgestellten Subjektpositionen mit den tatsächlichen Deutungs- und Handlungs-Praktiken der Akteure des Alltags. Soziale Akteure sind Adressaten von Wissensbeständen und darin eingelassenen Wertungen, aber auch nach Maßgabe der soziohistorischen und situativen Bedingungen selbstreflexive Subjekte, die in ihrer alltäglichen Be-Deutungsleistung soziale Wissensbestände als Regelbestände mehr oder weniger eigen-sinnig interpretieren (HitzlerlReichertzlSchröer 1999b: 11 ff; Schröer 1997a). Die Wissenssoziologische Diskursanalyse interessiert sich im Einklang mit den Akteurskonzepten der Cultural Studies und des Symbolischen Interaktionismus nicht für die Individualität singulärer Subjekte, die sich in Sprecherpositionen oder Subjektpositionen einbinden (müssen) und die darauf bezogenen Rollenerwartungen bzw. Rollenspiele handhaben. Als soziologische Analyseperspektive fokussiert sie soziale Akteure, Prozesse, Grundlagen und Folgen der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit. Sie kann durch die Beibehaltung der Unterscheidung zwischen sozialen Akteuren und Sprecher- bzw. Subjektpositionen auch die Spielräume der Einbindung in und Auseinandersetzung mit Diskursen und Praktiken zum Thema machen - im Gegensatz zur Foucaultschen oder anderen diskurstheoretischen Positionen, bei denen diese Momente in eins fallen. Als Rollenspieler in oder Adressaten der Diskurse verfolgen soziale Akteure dann institutionelle (diskursive) Interessen ebenso wie persönliche ,Projekte' und ,Bedürfnisse'. Sie greifen dabei auf legitime und illegitime Strategien, Taktiken und Ressourcen des Handelns zurück. Doch das, was als Interesse, Motiv, Bedürfnis oder Zweck verfolgt wird, ist im selben Maße Ergebnis von kollektiven Wissensvorräten und diskursiven Konfigurationen, wie die Wahrnehmung und Einschätzung der Wege und Mittel, die dabei zum Einsatz kommen. Vgl. auch Soeffner/Hitzler (1994); zur Unterscheidung der objektiven, subjektiven und situativen Bedeutung von Zeichen im Anschluss an Schütz auch HitzierlKeIler (1989: 95). 350 Ein Indiz dafür ist die Kompatibilität von Analysen der Genese moderner Subjekt- und Identitätskonzepte in der hermeneutisch-wissenssoziologischen Tradition mit den entsprechenden Untersuchungen Foucaults. Vgl. bspw. Soeffner (I 992a). 349
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Welchen Stellenwert nimmt hier schließlich das Konzept des ,souveränen Subjekts' ein? Ich habe am Beginn der Erläuterungen des vorliegenden Abschnitts bereits darauf hingewiesen, dass die Soziologie generell von der sozialen Formung als unhintergehbarer Grundlage der individuellen Handlungs- und Reflexionsfahigkeiten ausgeht. Eine vollkommene Souveränität im Sinne eines außerhalb der historischen Bedingungen stehenden Subjekts ist fiir sie deswegen undenkbar. Allerdings unterscheiden sich die soziologischen Paradigmen nach den Freiheitsgraden, die sie dem individuellen Handeln und den Subjekten zuschreiben. Die Bourdieusche Praxistheorie bspw. behauptet hier einen weitreichenden Strukturdeterminismus, der die Individuen zumindest solange zu Marionetten ihres Habitus und damit der Struktur sozialer Felder macht, wie sie nicht soziologisch darüber aufgeklärt sind und sich reflexiv dazu verhalten können. Die Hermeneutische Wissenssoziologie vertritt ähnlich wie Giddens Strukturierungstheorie einen, weicheren' Standpunkt. Sie betont ebenso wie Foucault, Bourdieu u.a., dass die soziohistorischen Wissensregime in Gestalt mehr oder weniger komplexer und konsistenter Motivvokabularien, Deutungs- und Handlungsmustern etc. den jeweils unhintergehbaren Horizont der Wirklichkeitswahrnehmung einschließlich der Wahrnehmung des eigenen Selbst bilden. Reflexionen, Handlungsentwürfe und Selbstverständigungen finden unabänderlich in diesem geschichtlichen Deutungshorizont bzw. Diskursuniversum statt. Im Unterschied zu Foucault oder Bourdieu hält sie aber daran fest, dass soziale Akteure fahig sind, sich im Rahmen der ihnen soziohistorisch verfiigbaren Mittel nach Maßgabe eigener ,Sinnsetzung' und auch kreativ auf die situativen Erfahrungen und institutionellen Erwartungen zu beziehen, in die sie eintauchen. Durch ihre reflexiven und praktischen Interpretationen der strukturellen Bedingungen können sie auch deren Transformation herbeifiihren. 351 Das alles ist keineswegs - auch nicht in der Hermeneutischen Wissenssoziologie! - mit der Kontrolle der Handlungsfolgen durch die Akteure und ihre Intentionen zu verwechseln. Selbstverständlich finden habituell oder bewusst vollzogene Handlungen unter strukturellen Voraussetzungen statt bzw. greifen darauf zurück, die nicht von ihnen selbst erzeugt wurden oder kontrolliert sind, und ebenso selbstverständlich hat Handeln beabsichtigte und unbeabsichtigte, gesehene und ungesehene Konsequenzen, die als Struktureffekte zu Vorbedingungen von Anschlusshandlungen werden. 352 Der objektivierte kollektive Wissensvorrat ist ja gerade ein nicht vom einzelnen Bewusstsein intendierter Bestand symbolischer Ordnungen. Er bezeichnet ein soziales ,Produkt', das aus unzähligen historischen Deutungs- und Handlungsereignissen entstanden ist und auch nicht auf einen kollektiven Entwurf zurückgefiihrt werden kann. Resümierend ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse eine dreifache Relationierung von Diskursen und Akteuren vornimmt: Eine solche Fähigkeit oder Kompetenz der Akteure bildet den Fluchtpunkt von FoucauIts "Hermeneutik des Subjekts". Vgl. dazu die Diskussion weiter oben. Peter Wagner (1990) hat in einer dazu affinen Studie die WechseIprozesse der Konstituierung der unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Soziologie, Politikwissenschaften, Ökonomie, Recht) in Auseinandersetzung mit der Etablierung der Nationalstaaten in Deutschland, Frankreich und Italien untersucht. Er betont die Rolle von Diskurskoalitionen, also strategischen Zusammenschlüssen von Akteuren aus unterschiedlichen institutionellen Arenen, in den Konflikten zwischen konkurrierenden Diskursen. 352 Hier besteht in der Hermeneutischen Wissenssoziologie durchaus weiterer Klärungsbedarf. Entsprechende Auseinandersetzungen - bspw. mit der Theorie von Bourdieu - sind bislang jedoch randständig bzw. nicht sehr weit gediehen (z.B. Meuser 1999). Vgl. auch die Hinweise von HitzIer (1999: 297) auf die handlungsdeterminierende Wirkung sozialer Strukturzusammenhänge. 351
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Sprecherpositionen bezeichnen Orte des legitimen Sprechens innerhalb von Diskursen, die von sozialen Akteuren unter bestimmten Bedingungen (bspw. nach Erwerb spezifischer Qualifikationen) als Rollenspieler eingenommen und interpretiert werden können. Subjektpositionen/ldentitätsangebote bezeichnen Positionierungsprozesse und ,Muster der Subjektivierung', die in Diskursen erzeugt werden und sich auf Adressaten(bereiche) beziehen (bspw. die Rolle des Ratsuchenden der humangenetischen Expertise). Selbsttechnologien werden als modellhaft ausgearbeitete, handlungspraktisch verfügbare Anweisungen zur Subjektivierung begriffen. Soziale Akteure sind Individuen oder Kollektive, die sich auf die erwähnten Sprecheroder Subjektpositionen beziehen und diese nach Maßgabe ihrer mehr oder weniger eigen-willigen Rolleninterpretationen und -kompetenzen einnehmen und ausführen, also realisieren.
Abschließend möchte ich zumindest darauf hinweisen, dass die Hermeneutische Wissenssoziologie, deren Grundannahmen über Subjektwerdung und Identitätsbildung primär auf der Meadschen Sozialisationstheorie beruhen, vor dem Hintergrund der diskurstheoretisch poststrukturalistischen Argumente und der zeitdiagnostischen Verweise auf Prozesse der Enttraditionalisierung bzw. Individualisierung einer weiteren Klärung des Verhältnisses von Akteuren, Handlungsträgerschaften, Subjektivität und Identität bedarf. Als These lässt sich an dieser Stelle im Anschluss an die diskurstheoretischen Überlegungen formulieren, dass diskursiv erzeugte, massenmedial zirkulierende Subjektpositionen und Identitätsangebote, die mehr oder weniger hegemoniale Stellungen einnehmen, an die Stelle der Tradition treten und zu wechselnden Identifikationen und Artikulationen im Sinne von LaclauIMouffe einladen. Damit wäre ein Identitäts- und Subjektivierungsmodus angesprochen, der den Rahmen sozialpsychologischer und soziologischer Sozialisations- und Identitätstheorien einschließlich der Rede von Patchwork-Identitäten (Keupp u.a. 1999; Keupp/Höfer 1997) verlässt, ohne jedoch als Beleg für "Sinnbasteln" (Hitzier 1988: 147) einerseits oder ständig sich verändernde "proteische" Erscheinungen (ebd.: 168) andererseits gelten zu können. Eher ginge es vielleicht, wie ansatzweise in den Cultural Studies, um ein Verständnis von seriellen oder "transitorischen" Identitäten und den "Prozesscharakter des Selbst" (RennIStraub 2002). 4.2.4 Diskurse und Praktiken Bisher habe ich gezeigt, dass die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie von einem Zeichenkonzept ausgeht, welches Zeichen als Typisierungen innerhalb eines Wissensvorrates begreift, der kollektiv erzeugt wird und ein universe of discourse ausbildet. Das Verhältnis von Diskursen und einzelnen diskursiven Ereignissen wurde als "Dualität von Struktur" (Anthony Giddens) entfaltet. Der praktische Vollzug des Ereignisses erforderte schließlich den Einbezug einer Kategorie sozialer Akteure. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen kann die Klärung der beiden verbleibenden Punkte vergleichsweise knapp erfolgen. Es geht dabei zunächst um das wissenssoziologische Verständnis von Praktiken und dann (in Kapitel 4.2.5) um das Verhältnis von diskursiven Formationen bzw. Spezial-
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diskursen im Sinne Foucaults zu den öffentlichen Diskursen, die von den Diskursperspektiven des Symbolischen Interaktionismus untersucht werden. Foucault bezieht sich in mehrerlei Hinsicht auf Praktiken. Praktiken sind einerseits Handlungsvollzüge in der Diskursproduktion, andererseits geregelte Handlungsweisen außerhalb der Diskurse. So defmiert er Diskurse als Praktiken, welche die Gegenstände erzeugen, von denen sie handeln. Bereits eingangs der vorliegenden Arbeit habe ich darauf hingewiesen, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse an dieses Diskurskonzept anschließt. Foucault rekurriert zugleich - etwa in Bezug auf seine Analyse der historischen Entwicklung von "Überwachen und Strafen" (Foucault 1977) - auf einen allgemeinen Begriff der Praktiken als den geregelten und tradierten Handlungsweisen in gesellschaftlichen Praxisfeldem. Diskursive Praktiken bilden insoweit die Sonderform von Praktiken, welche der Produktion und Zirkulation von Diskursen zugrunde liegen. Weiter oben in Kapitel 2.3.1 wurde argumentiert, dass die neueren Entwicklungen der Wissenssoziologie Affmitäten zu dem aufweisen, was in jüngerer Zeit als "practice turn" innerhalb des "cultural turn" der Soziologie beschrieben wird. 353 Als Praktiken gelten dort beobachtbare und typisierbare Handlungsweisen, die sozial konventionalisierten und tradierten Muster, etwas zu tun. Das betrifft nicht nur "Kochen", "Wohnen", "Gehen in der Stadt", sondern auch die Praktiken des (wissenschaftlichen) Schreibens, des Theoretisierens u.a., also die gesamte Bandbreite der "Kunst des HandeIns" (Certeau 1988).354 An die Stelle des verstehenden Nachvollzugs eines subjektiv gemeinten Sinnes im Anschluss an Weber setzen die Praxistheorien die aus der sozialwissenschaftlichen Beobachtungsposition vorgenommene Beschreibung der typisierbaren Regelmäßigkeiten von Handlungsvollzügen. 355 Sie sehen darin einen großen Vorteil gegenüber sinnorientierten, ,mentalistischen' oder ,textidealistischen' Vorgehensweisen,356 da auf die Rekonstruktion der subjektiven Handlungsmotivation verzichtet werden könne; von sozialwissenschaftlichem Interesse sei demgegenüber die Analyse der sozialen Konventionalisierung der Handlungsabläufe. Eine solche Position übersieht jedoch das in den vorangegangenen Abschnitten vorgestellte Bindeglied zwischen Struktur und Handlung, d.h. die menschliche Trägerschaft der Praktiken, die Interpretationskompetenz und Handlungsfähigkeit sozialer Akteure, die der Vollzug von Praktiken unweigerlich erfordert. Ich möchte deswegen sowohl in Bezug auf Foucault wie auch gegenüber den verschiedenen Ansätzen des practice turn behaupten, dass die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie sehr wohl ein entsprechendes Konzept beinhaltet, auch wenn es nicht unter dem Begriff der Praktiken ausgearbeitet ist. Zudem ermöglicht sie Es handelt sich dabei um eine Mischung aus ethnomethodologischen Ansätzen, der Bourdieuschen Theorie der Praxis, der Giddensschen Strukturierungstheorie, Handlungstheorien im Anschluss an den Pragmatismus oder die (Nach-)Wittgensteinsche Sprachspiel-Philosophie. Vgl. SchatzkilKnorr-Cetina/Savigny (2001), Reckwitz (2000, 2002, 2003), Höming (1999), Swidler (200 I). 1m Kontext dieser Entwicklungen formuliert Laurent Thevenot in seiner Ausarbeitung einer pragmatistischen Handlungstheorie die stärksten Bezüge zu den verschiedenen wissenssoziologischen Traditionen (vgl. Thevenot 1998 und Thevenot 2001). 354 Vgl. zu den erwähnten Beispielen die klassische und für den practice turn einflussreiche Studie von Certeau (1980; dt. 1988) sowie deren Ergänzung durch GiardlMayol (1980). 3S5 ,Praxistheorie' meint hier also nicht die marxistische Tradition. 356 Mit Blick auf Alfred Schütz' Arbeit über den "Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt", die Anfang der 1930er Jahre erschien, verortet Reckwitz die sozialphänomenologische Tradition in der 'Sackgasse' des Mentalismus. Er ignoriert die daran anschließende Wissenssoziologie völlig bzw. verweist nur in einer Fußnote darauf, diese enthalte Parallelen zum Praxisparadigma (Reckwitz 2003; vgl. auch ähnlich die verkürzte Darstellung der Position von Schütz in Reckwitz 2000). 353
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durch ihr Insistieren auf der Eigen-Sinnigkeit der sozialen Akteure als Träger und Interpreten der Praxisvollzüge einen gegenüber den erwähnten Ansätzen umfassenderen theoretischen und empirischen Zugang zu sozialen und damit auch zu diskursiven Praktiken. Eine erste Annäherung an das versteckte Praxiskonzept der Hermeneutischen Wissenssoziologie liefern die frühen ethnomethodologischen Krisenexperimente von Garfmkel u.a. Dort wurde die soziale Konventionalisierung von Praktiken in Gestalt von ,scripts', also typischen und typisierbaren Routinen des Handlungsvollzugs in alltäglichen Situationen - der Begrüßung, des Familienessens, des Restaurantbesuchs etc. - untersucht. Garfinkel und seine StudentenInnen inszenierten bewusste und mehr oder weniger weit reichende ,Ausfälle' aus den erwarteten Routineabläufen und testeten deren Folgen (Garfinkel 1967). Ein ähnliches Skript-Modell liegt auch den Untersuchungen über "kulturelle Modelle" ("cultural models") oder "cognitive maps" in der kognitiven Anthropologie zugrunde. 357 Beide Ansätze verweisen mit der Skripthaftigkeit der Abläufe von Praktiken auf gesellschaftlich standardisierte Handlungsrepertoires bzw. Formen des typisierten Routinewissens über Handlungsvollzüge hin, über das soziale Akteure mehr oder weniger kompetent verfügen (müssen), um die entsprechenden Handlungen sozial angemessen zu vollziehen. Dies ist genau die Art und Weise, wie Praktiken in der Wissenssoziologie zum Thema werden: SchützfLuckmann (1979: 133ff; 172ft) unterscheiden für die Ebene des lebensweltlichen Wissensvorrates der Subjekte zwischen "Grundelementen des Wissensvorrates" (das "Wissen um die Begrenztheit der Situation" und die "Struktur der subjektiven Erfahrungen"), den "Routinen im Wissensvorrat" und den "spezifischen Teilinhalten", d.h. dem kognitiv repräsentierten Wissensbestand. Wie die zuletzt erwähnten Teilinhalte ist auch das Routinewissen biographisch erworben: "Wissenserwerb ist die Sedimentierung aktueller Erfahrungen nach Relevanz und Typik in Sinnstrukturen, die ihrerseits in die Bestimmung aktueller Situationen und Auslegung aktueller Erfahrungen eingehen." (Schütz/Luckmann 1979: 154). "Das mehr oder minder wandelbare Gewohnheitswissen (... ) ist selbstverständlich das Resultat von Erfahrungssedimentierung. Es unterscheidet sich von den expliziten Teilelementen des Wissensvorrates dadurch, daß es, ähnlich wie die Grundelernente, immer vorhanden ist. Die Elemente des Gewohnheitswissens werden nicht mehr als Wissenselemente, als selbständige Erfahrungsthemen erfaßt, sondern sind im Horizont des Erfahrungsablaufs mitgegeben." (ebd.: 173) SchützfLuckmann differenzieren das Routinewissen in "Fertigkeiten", "Gebrauchswissen" und "Rezeptwissen": "Gehen muß gelernt werden. Schwimmen muß gelernt werden, mit Eßbesteck zu essen muß gelernt werden, sogar einem Tennismatch zuzuschauen, muß in gewissem Sinn (ganz abgesehen vom Erlernen des objektiven Sinns der Spielregeln) erlernt werden. (... ) Wir wollen solche, auf die Grundelemente des gewohnheitsmäßigen Funktionierens des Körpers aufgestufte gewohnheitsmäßige Funktionseinheiten der Körperbewegung (im breitesten Sinn) Fertigkeiten nennen. Auf Fertigkeiten beruhend, aber nicht mehr zum gewohnheitsmäßigen Funktionieren des Körpers eigentlich gehörend, ist ein Bereich des Gewohnheitswissens, den wir Gebrauchswissen nennen wollen. Es gibt im täglichen Leben, noch genauer, in der Wirkzone der Alltagswelt, bestimmte Handlungsziele und dazu gehörige ,Mittel zum Zweck', die nicht mehr die geringste
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Vgl. Holland/Quinn (1987), StrausslQuinn (1997), D'Andrade (1995).
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Problematik aufweisen. (...) Wir brauchen die Tätigkeiten, die dieses Gebrauchswissen bilden, nicht mehr zu beachten. Wir tun es ,automatisch' und die Tätigkeit ist ,standardisiert'. Führen wir zunächst Beispiele des Gebrauchtwissens, das den Fertigkeiten noch nah verwandt ist, an: Rauchen, Holzhacken, Rasieren, Schreiben etc. Offensichtlich ist die Grenze zu den Fertigkeiten fließend. Weiters: Klavierspielen, Reiten (...) Ofen heizen, Eier braten usw. Wir können schließlich eine Form von Gewohnheitswissen unterscheiden, die zwar wieder ohne scharfe Grenze und mit vielen Überschneidungen, doch nicht mit dem Gebrauchswissen identisch ist: Rezeptwissen (... ): Spuren lesen ftir einen Jäger, sich auf Wetterveränderungen einstellen ftir einen Seemann oder Bergsteiger (...) Je weiter wir uns von den Überschneidungen mit dem Gebrauchswissen entfernen, um so mehr nähern wir uns mit dem Rezeptwissen dem Wissensvorrat im engeren Sinn, nämlich dem System spezifischer Teilinhalte." (SchützfLuckmann 1979: 139ft)
SchützlLuckmann beziehen sich mit dieser Analyse verschiedener Bausteine des Routinewissens auf das eingeübte körperliche Know How, das Handlungsvollzüge begleitet bzw. ihnen zugrunde liegt. Mit dem Begriff des "Rezeptwissens" erfolgt jedoch schon eine weitgehende Annäherung an explizite Wissensbestände bzw. das "Handlungsrepertoire " - die möglichen Arten von Handlungen und die Weisen ihres Vollzugs -, das in historisch situierten Gesellschaften den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern als kollektiver Wissensbestand zur Verfügung steht: ,,(Der) praktische Kern jedes gesellschaftlichen Wissensvorrats (umfaßt) ein Handlungsrepertoire. (...) Dieses Repertoire kann ftir alle Gesellschaftsmitglieder fast das gleiche sein (...), oder es kann in unterschiedlichen sozialen Klassen und Institutionenbereichen sehr verschiedene Handlungsmuster beinhalten. Wenn das letztere zutrifft, kann man nicht mehr von einem Handlungsrepertoire mit gewissen Varianten sprechen, sondern nur noch von "Bündeln von Handlungsrepertoires", die wohl aber noch um ein gemeinsames allgemeines Grundrepertoire geflochten sind. Das allen gemeinsame Handlungsrepertoire wird, wie der Ausdruck schon besagt, an alle werdenden und lernenden Mitglieder einer Gesellschaft vermittelt, meist und zum großen Teil schon in den frühesten Sozialbeziehungen (Primärsozialisation), während die Sonderrepertoires, die an gesellschaftlich vordefinierte Typen und Rollen (insbesondere Berufsrollen) gebunden sind, dementsprechend selektiv und meist erst später (Sekundärsozialisation) vermittelt werden. Jedenfalls gibt es keine Gesellschaft, in der die Vermittlung des gesellschaftlichen Wissens - insbesondere in seinem Kern, dem gemeinsamen Handlungsrepertoire - nicht einigermaßen systematisch geregelt wäre. Was immer der Begriff eines ,vergesellschafteten Menschen' bedeuten mag, auf jeden Fall und vor allem bezieht er sich auf die Art und Weise, wie der Mensch handelt: sein Handlungsrepertoire muß im wesentlichen dem gesellschaftlichen Handlungsrepertoire entnommen sein." (Luckmann 1992: 98)
Der in der Entwicklung der Diskurstheorien favorisierte Begriff der Praktiken bezeichnet nichts anderes als Handlungsmuster, die durch den kollektiven Wissensvorrat als Handlungsrepertoire zur Verfügung gestellt werden, ein sozial konventionalisiertes, mehr oder weniger explizit gewusstes Rezept- oder Skript-Wissen über die ,angemessene' Art und Weise von Handlungsvollzügen. Dieses Wissen kann einerseits in gesellschaftlichen Praxisbereichen, also in Bezug auf spezifische Handlungsprobleme oder -anlässe durch experimentierendes und erprobendes Handeln entstehen, sich dort tradieren und (weiter-) entwickeln. Unter modemen Bedingungen gesellschaftlicher Enttraditionalisierung sowie der auf Expertensystemen basierenden Dauerbeobachtung und Reform gesellschaftlicher Praxis
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wird es in wesentlichen Elementen auch durch die Ausarbeitung theoretischer Modelle des Handelns angeleitet (Giddens 1991). Wenn Foucault in seiner Diskurstheorie auf die Verknappung von Sprecherpositionen bspw. durch BildungszertifIkate zu sprechen kommt, dann bedeutet dies nichts anderes als ein Hinweis auf knapp gehaltene Möglichkeiten der Sozialisation in spezifIsche Praktiken der legitimen Diskursproduktion. Der Erwerb entsprechenden Skriptwissens, ,tacit knowledge' etc. wird als Kompetenz durch entsprechende Zeugnisse zertifIziert. D.h. mit anderen Worten tur die Wissenssoziologische Diskursanalyse, dass sie mit der expliziten Einfuhrung des Konzepts der Praktiken in die Wissenssoziologie das beschreibt, was dort bislang als typisierte Handlungsmuster und subjektiv angeeignete Wissenselemente kollektiver Wissensvorräte untersucht wurde. Sie interessiert sich mit dieser Wendung nicht fur die individuelle Kompetenz oder Performanz dieses Skriptwissens, sondern fur seine soziale Konventionalisierung und seine Bedeutung in Diskursverläufen. Eine solche Perspektivenverschiebung ist weniger ungewöhnlich als dies zunächst erscheinen mag. Sie wurde bereits in der wissenssoziologischen Tradition mit deren kommunikativer Wende, d.h. mit der Hinwendung zur Analyse kommunikativer Gattungen vol1zogen (vgl. Kap. 2.3.3.1). Mit der Idee der kommunikativen Gattungen hatte die Wissenssoziologie, wie oben erläutert, ein Konzept der Sprachtheorie von Bakhtin und Volosinow übernommen, das auch in der Entwicklung der Diskurstheorien eine wichtige Rolle spielte und dort die pragmatische Wende, also die Analyse des praktischen Sprachgebrauchs, der diskursiven Praktiken und Sprachspiele orientierte. 358 1m Unterschied zu den diskurstheoretischen Perspektiven richtet sich jedoch die konversationsanalytisch geHirbte Untersuchung kommunikativer Gattungen auf Muster des Sprachgebrauchs in kommunikationellen Settings der ,Alltagsebene' , die niedrige Grade der Organisiertheit besitzen. Die Analyse kommunikativer Gattungen zielt dort auf die Rekonstruktion typisierbarer Ablaufmuster von sprachlichen Interaktionen. Der von Jörg Bergmann (1987) untersuchten Gattung "Klatsch" entspricht so die Praktik des ,Klatschens'. Kommunikative Gattungen sind nichts anderes als nach unterschiedlichen Zwecksetzungen oder Problemstellungen typisierte Praktiken sprachlicher Verständigung: "Was immer wir kommunikativ tun, wir verwenden dabei in der Regel bestimmte Formen, die wir nicht selbst erfunden haben, sondern die uns als Teil unseres Wissensvorrates zur Verfügung stehen. Sind diese Formen fest vorgeprägt und weisen einen bestimmten Komplexitätsgrad auf, so reden wir von Gattungen. (...) Kommunikative Gattungen bezeichnen diejenigen kommunikativen Prozesse, die von typischen Akteuren in besonderen Interaktionssituationen als Lösungen eines wiederkehrenden Problems hervorgebracht werden. (...) Sie unterscheiden sich von ,spontanen' kommunikativen Vorgängen dadurch, daß die Interagierenden sich in einer voraussagbaren Typik an vorgefertigten Mustern ausrichten." (Günthner/Knoblauch 1997: 281ft)
Kommunikative Gattungen bezeichnen damit eine besondere Form des typisierten Skriptwissens, das sich auf die Strukturierung von Kommunikationsprozessen bezieht. In der bisherigen Ausfuhrung verzichtet die wissenssoziologische Analyse kommunikativer Gattungen - mit Ausnahme von Knoblauch (1995) - auf die Verknüpfung von Gattungsper358 Vgl. Günthner/Knoblauch (1997) zur Wissenssoziologie, Potter (2001a), Maybin (2001) und Collins (1999) zur Diskurstheorie. Siehe auch Bakhtin (1986; 1998).
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spektive und inhaItsbezogener Wissensanalyse. Genau dies ist jedoch ein zentraler Bestandteil der Analyse diskursiver Praktiken innerhalb der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Als diskursive Praktiken bezeichne ich typische realisierte Kommunikationsmuster, sofern sie in einen Diskurszusammenhang eingebunden sind. Sie sind nicht nur, wie in der Gattungsforschung, in Bezug auf ihre formale Ablaufstruktur rur die Diskursforschung von Interesse, sondern ebenso sehr im Hinblick auf die von Foucault unterschiedenen Formationsregeln, ihren Einsatz durch soziale Akteure und ihre Funktion in der Diskursproduktion. Diskursive Praktiken sind beobachtbare und beschreibbare typische Handlungsweisen der Kommunikation, deren Ausführung als konkrete Handlung - ähnlich wie im Verhältnis zwischen typisierbarer Aussage und konkret-singulärer Äußerung - der interpretativen Kompetenz sozialer Akteure bedarf und von letzteren aktiv gestaltet wird. Dabei können durchaus eigen-willige und ideosynkratische Ausruhrungsweisen solcher Praktiken entstehen, doch die Wissenssoziologische Diskursanalyse interessiert sich primär rur die typischen Vollzüge der Handlungsmuster. Diskursive Praktiken sind nur eine mögliche Form von Praktiken (vgl. Kapitel 4.3.4.2). Die Wissenssoziologische Diskursanalyse unterscheidet davon diskursgenerierte Modellpraktiken, d.h. Muster rur Handlungen, die in Diskursen rur deren Adressaten konstituiert werden. Schließlich werden Praktiken als diskursunabhängig in unterschiedlichen gesellschaftlichen Praxisfeldern entstandene, tradierte und vollzogene Handlungsmuster rur sie im Zusammenhang ihrer Fragestellung bedeutsam.
4.2.5 Diskursive Formationen: Spezialdiskurse und öffentliche Diskurse Ein letzter Punkt, der im Rahmen der wissenssoziologischen Einbettung der Diskursperspektive erläutert werden soll, betrifft das Verhältnis von diskursiven Formationen, Spezialdiskursen und öffentlichen Diskursen. Foucault hatte mit Blick auf die abgrenzbaren institutionellen Bereiche und Praxisfelder einer Gesellschaft - wie Recht, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik - vorgeschlagen, die Formationsregeln der dort auffindbaren Diskurse zu untersuchen (vgl. Kapitel 3.2.3). Die spezifizierbaren Formationsregeln bewahren die Diskurse vor ihrer wechselseitigen Verschmelzung oder Auflösung. Alle Diskurse, die nach den selben Formationsregeln gebildet werden, bilden zusammen eine von anderen abgrenzbare diskursive Formation. Dabei interessierte ihn weniger, welche inhaltlichen Konkurrenzen und Gegensätzlichkeiten innerhalb der Diskurse existieren, sondern gerade die gemeinsamen Diskursregeln hinter kontroversen Positionen. Die soziale und zeiträumliche Eingrenzung bzw. Ausdehnung solcher Diskurse fasste FoucauIt in Abhängigkeit von seinen Fragestellungen. Wie seine Analysen in der "Ordnung der Dinge" (FoucauIt I974a) verdeutlichen, kann die Ebene, auf der entsprechende Formationsbildungen untersucht werden, durchaus unterschiedlich angesetzt werden. Im diachronen Vergleich historischer Epochen treten bspw. Gemeinsamkeiten zwischen synchronen diskursiven Formationen auf, die diese von denjenigen der anderen Epochen unterscheidbar machen. Foucault spricht hier von den verschiedenen "Epistemen" (s.o.). Innerhalb einer historischen Diskurskonfiguration werden jedoch die Unterschiede zwischen den gleichzeitig vorhandenen diskursiven Formationen deutlich - sonst wären sie eben nicht als Diskurse des Rechts, der Medizin, der Ökonomie etc. erkennbar. Je genauer sich der beobachtende Blick auf eine einzelne diskursive Formation richtet, desto stärker werden wiederum die darin gegenein-
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ander abgegrenzten und rekonstruierbaren ,Subformationen' deutlich: Innerhalb des Rechts bspw. können Diskurse des Haftungsrechts von solchen des Strafrechts, des Staatsrechts etc. durch ihre voneinander (in einigen Punkten) abweichenden Formationsregeln spezifiziert werden. Diese Beispiele machen deutlich, dass die Untersuchung diskursiver Formationen als Typisierungsprozess angelegt ist, der in Abhängigkeit von den jeweiligen Fragestellungen der Analyse mit unterschiedlicher Tiefenschärfe betrieben werden kann. Unabhängig davon, auf welcher Ebene der Feinanalyse diskursive Formationen rekonstruiert werden, bleibt festzuhalten, dass Foucault sich kaum fiir konkrete inhaltliche Auseinandersetzungen bspw. zwischen einzelnen Teildiskursen des Rechts interessierte - zumindest hat er nur selten, wie etwa im weiter oben zitierten Fall des "Pierre Riviere" explizit sein Interesse an der phänomenbezogenen Gegenüberstellung und Konfrontation unterschiedlicher Diskurse geäußert (Foucault 1975). Sein generalisierender Blick zielte auf die allen gemeinsamen Formationsregeln und deren ,Machtwirkungen' , unabhängig von den singulären inhaltlichen Ausfuhrungen. Bezogen auf die Analyse von "Technologien des Selbst" in den verschiedenen Bänden von "Sexualität und Wahrheit" (Foucault 1989a,b,c) bedeutet dies bspw. die Untersuchung der allgemeinen Subjektkonstitution in den Praktiken der Beichte, den Ratgebern zur Lebensfuhrung usw., abstrahierend von den zwischen verschiedenen ,Schulen' variierenden und konkurrierenden konkreten Ausfuhrungen. Auf den ersten Blick bestehen damit enorme Unterschiede zwischen dem Foucaultschen Interesse an diskursiven Formationen einerseits, und der in Kapitel 2.3.3.2 erläuterten Diskursforschung des Symbolischen Interaktionismus. Letzterer greift, wie erläutert, das sozialkonstruktivistische Programm auf und bezieht es auf die Untersuchung der bzw. des "öffentlichen Diskurse(s)". Public Discourse bezeichnet hier politisch-argumentative Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Problemfelder, an denen sich, vermittelt über die Massenmedien und diverse andere öffentliche Arenen die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit beteiligt.359 Spezifischer werden damit in der erwähnten Forschungstradition die Karrieren ,sozialer Probleme' - wie bspw. Drogenmissbrauch - auf der öffentlichen Agenda, die beteiligten Akteure und die jeweiligen Effekte der Definitionskonflikte untersucht. Es handelt sich hier nicht notwendig um tatsächliche Diskussionsprozesse und argumentative Auseinandersetzungen, auch wenn solche ,kommunikativen Veranstaltungen' in Diskursverläufen statthaben können. Schon gar nicht geht es um die Idee ihrer Geregeltheit als eines deliberativen Prozesses: Anders als im Rahmen der Habermasschen Diskursethik wird keineswegs unterstellt, dass in solchen Konflikten nur (bessere) Argumente eine Rolle spielen (sollten) oder dass sich ,vernünftige' Lösungen konstituieren - der konkrete Ablauf und seine Implikationen ist vielmehr Gegenstand der empirischen Fragestellung. Dabei wird der Diskursbegriff eher unspezifisch und mitunter konfliktparteiübergreifend fur die Definitionskämpfe um einen umstrittenen Problemgegenstand (z.B. Hilgartner/Bosk 1988), in anderen Fällen fiir Komplexe abgrenzbarer Akteure und Positionen innerhalb solcher Auseinandersetzungen (z.B. Gamson/Modigliani 1987) eingesetzt. Die entsprechende Diskursforschung des Symbolischen Interaktionismus hat sich dann im Unterschied zu Foucault mit historisch ,kleinformatigeren' Karrieremechanismen solcher Diskurse, mit den Schöttler (1997) und Link (1999) verweisen gegen den Haberrnasschen Diskursbegriff darauf, dass von Diskursen ,über' ein Thema oder einen Problernzusammenhang im Foucaultschen Sinne streng genommen nicht gesprochen werden kann, weil es dort um allgemeine Formationsregeln gehe. In meinem Vorschlag geht es darum, inwiefern zwar nicht die Position von Haberrnas, aber doch diejenige des Symbolischen Interaktionismus mit der Foucaultschen Vorstellung verknüpft werden kann.
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beteiligten Akteuren, ihren Strategien und Ressourcen sowie mit den festgeschriebenen Inhalten und deren institutionel1en Konsequenzen beschäftigt.360 Das vorgeschlagene Konzept der Wissenssoziologischen Diskursanalyse zielt darauf, diese sehr unterschiedlich konzipierten Herangehensweisen an Diskurse aufeinander zu beziehen, d.h. die Foucaultschen Vorschläge zur Analyse von durch Formationsregeln voneinander unterscheidbaren Spezialdiskursen mit derjenigen der Untersuchung öffentlicher Diskurse im Symbolischen Interaktionismus zu vermitteln. Gegenüber den Analysen des Symbolischen Interaktionismus hat dies den Vorteil einer stärkeren Systematisierung und Durchdringung der untersuchten Prozesse; gegenüber der Foucaultschen Diskurstheorie werden die Inhalte der Auseinandersetzungen stärker akzentuiert - die bei ihm freilich nie ganz so bedeutungslos waren, wie es seine formalen Konzepte in der "Archäologie des Wissens" suggerierten. Gegenstände der Wissenssoziologischen Diskursanalyse sind dann sowohl öffentliche Diskurse wie auch institutionel1e - also in gewissem Sinne teilöffentliche - Spezialdiskurse im Foucaultschen Verständnis. Sie werden im Hinblick auf ihre Träger, auf übereinstimmende oder unterschiedliche Formationsregeln und inhaltliche Positionierungen sowie deren Effekte untersucht. Die konkrete Akzentuierung im Rahmen dieser Möglichkeiten wird erst nach Maßgabe der jeweiligen Forschungsfragen entschieden. Das nachfolgende Schaubild veranschaulicht diesen Zusammenhang:
360
Vgl. den Exkurs in Kapitel 3.1.5.
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Abbildung 3:
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Diskursformationen: Spezialdiskurse, öffentliche Diskurse
Diskursformationen: Spezialdiskur e (SD) -----
Öffentliche Dis urse (ÖD)
Diskursformationen: SD 1-- SD2--....--DSn
ÖD 1--ÖD2--...ÖDn
K1;m'/~ ~I Diskursformationen: SD1a, SD 1b, SD 1,c....
ÖD1a, ÖD1b, ÖD1c....
konkurrierende Diskurspositionen: S
ÖD1ax, ÖD1ay, ÖD1az...
Erläuterung: Die Analyse kann sich auf den verschiedenen Ebenen auf Formationsregeln und innerhalb derselben Formationen auf konkurrierende Diskurspositionen beziehen. Je spezifischer auf untergeordnete Ebenen diskursiver Formationen fokussiert wird, desto deutlicher treten - auch in institutionellen Settings - unterschiedliche inhaltliche Positionen (z.B. wissenschaftliche Paradigmen) in den Vordergrund. Die Darstellung enthält zur Illustration einige Beispiele für Diskursformationen bzw. Diskurse auf den verschiedenen Ebenen. Sie kann nach unten verlängert werden. Die konkrete Zahl der konkurrierenden Diskurse ist eine empirische Frage. Spezialdiskurse unterscheiden sich sowohl durch Gegenstandskonstitution wie durch Formationsregeln. Für öffentliche Diskurse ist ebenfalls eine Grobunterscheidung nach Gegenstandskonstitutionen möglich. Inwiefern dem zusätzlich abgrenzbare Formationsregeln entsprechen, wäre empirisch und im (auch internationalen) Vergleich unterschiedlicher Öffentlichkeiten und Arenen zu zeigen.
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Diese Konzeption der Wissenssoziologischen Diskursanalyse folgt der weiter oben in Kapitel 3.2.6 erwähnten pragmatistischen Interpretation der Foucaultschen Diskurstheorie, die sich auf seine Hinweise zu den Auseinandersetzungen, Strategien und Machtkämpfen im Rahmen der Diskurse als Sprachspiele bezieht. Daran anschließende Weiterfiihrungen, die Diskurse als konflikthafte Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Akteursgruppen begreifen, hatten bereits die Diskurstheorie von LaclauIMouffe und die Diskursperspektive der Cultural Studies vorgenommen (vgl. Kap. 3.3.2 u. 3.3.3). Bspw. wendet die Diskurstheorie von LaclauIMouffe den Diskursbegriff auf öffentliche Diskurse an, die sich gerade nicht auf ein eindeutig institutionell strukturiertes oder geregeltes Feld abbilden lassen. Die Cultural Studies beziehen sich ähnlich wie der Symbolische Interaktionismus auf öffentliche Definitionsprozesse und rekurrieren dazu auf eine akteursbezogen modifizierte Foucaultsche Diskursperspektive. Beide Positionen schließen an Michel Pecheux an, der die Bezüge zwischen verschiedenen Diskursen als "Interdiskurs" bezeichnete (ChareaudeauJMaingueneau 2002: 324ff). Jürgen Link spricht im Hinblick auf öffentliche Diskurse davon, dass "auch der zivilgesellschaftliche Interdiskurs Diskurs im Sinne Foucaults ist, d.h. auch in seinem Falle ritualisierte Redeformen, Handlungsweisen und Machteffekte gekoppelt sind." (Link 1988: 48)
Sowohl bei der Analyse von Spezialdiskursen wie bei der Analyse öffentlicher Diskurse wird von rekonstruierbaren Regeln und Ressourcen, also Diskurs-Strukturen ausgegangen, die einzelnen diskursiven Ereignissen zugrunde liegen. Auch öffentliche Diskurse bestehen - und dies macht sie anschließbar an die Foucaultsche Perspektive - aus unabhängigen Aussageereignissen, die an verschiedensten Orten und zu unterschiedlichen Zeiten erscheinen, typisierbare Regelmäßigkeiten aufweisen und - wenn auch nicht als unmittelbare Interaktionen unter Bedingungen der Kopräsenz - als Aushandlungsprozesse im Sinne der "Definition der Situation" (William 1. Thomas) begriffen werden können. In solchen Diskursen geht es um die Festlegung der kollektiven symbolischen (Problem-)Ordnung durch die weitestgehende Wiederholung und Stabilisierung gleicher Aussagen in singulären Äußerungen. Beide Diskursformen, also institutionelle Spezialdiskurse und allgemeinäffentliche Diskurse werden von der Wissenssoziologischen Diskursanalyse als diskursive Formationen betrachtet und im Hinblick auf ihre Formationsregeln und Verläufe, das in ihnen festgeschriebene Wissen und dessen Effekte untersucht. Die Nachzeichnung der Ausbildung konkurrierender Subdiskurse innerhalb solcher diskursiven Formationen ist eine Angelegenheit der empirischen Diskursforschung. Ob sich die Analyse auf die gemeinsamen Strukturen konkurrierender Subdiskurse innerhalb einer diskursiven Formation, auf ihre strukturellen Unterschiede oder den Vergleich unterschiedlichster Formationsweisen, auf Verläufe der Diskurse sowie deren Verhältnis zu extradiskursiven Praxisfeldem bezieht, wird nach dem jeweiligen Erkenntnisinteresse zu entscheiden sein - keine dieser Perspektiven ist per se aus dem Forschungsprogramm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ausgeschlossen. Mit diesen Überlegungen ist die Einbettung der Diskursperspektive in die Hermeneutische Wissenssoziologie abgeschlossen. Nachfolgend diskutiere ich die wichtigsten Arbeitsbegriffe dieses Ansatzes.
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4.3 Grundbegriffe 4.3.1
Überblick
Vor dem Hintergrund der vorangehenden Entfaltung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse im Hinblick auf ihr Zeichen- bzw. Typenkonzept, ihr Verständnis des Zusammenhangs von Diskursen und diskursiven Ereignissen, ihre allgemeine Konzeption der Akteure und Praktiken sowie ihre Vorstellung der Relation von diskursiven Formationen, öffentlichen Diskursen und Spezialdiskursen möchte ich nun die wichtigsten Grundbegriffe dieses Ansatzes im Überblick erläutern. Spezifischer geht es mir dabei um Defmitionen der diskurstheoretischen bzw. diskursanalytischen Konzepte, die in die Hermeneutische Wissenssoziologie eingefiihrt werden müssen, um das wissenssoziologisch-diskursanalytische Forschungsprogramm umzusetzen. Dessen Fokus richtet sich auf die Wissenspolitiken in institutionellen Feldern der Gesellschaft: etwa im Recht, in der Politik, in der massenmedialen Öffentlichkeit, den Wissenschaften oder den Professionen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse rekonstruiert Prozesse der sozialen Konstruktion von Sinn-, d.h. Deutungsund Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren nicht als singuläre (Aussage-)Ereignisse, sondern als strukturierte Zusammenhänge, d.h. eben: als Diskurse. Sie analysiert die gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen dieser Prozesse. Das schließt unterschiedliche Dimensionen der Rekonstruktion ein: diejenige der Bedeutungsproduktion ebenso wie diejenige von Handlungspraktiken, Artefakten, institutionellen/strukturellen und materiellen Kontexten sowie gesellschaftlichen Folgen. Im Wesentlichen geht es dabei um die Annahme institutionell gestützter Formationsregeln fur die Beteiligung an Diskursen und die formulierbaren Inhalte, um eingesetzte Ressourcen und vorgenommene Phänomenkonstitutionen. Diskursen kommt Historizität und soziale Emergenz zu: sie sind einzelnen situierten sozialen Akteuren vor- und nachläufig, nicht Ergebnis eines singulären begründenden Aktes, sondern ihrer Verfiigungsgewalt in mehr oder weniger großen Teilen entzogen, auch wenn sie ohne die praktische Artikulation in Handlungen unbedeutend wären. 361 Die diskursive Konstruktion der Wirklichkeit operiert immer in einem konfliktuellen symbolischen Ordnungs- und Wissensgefiige, einem historischen Feld von Diskurskonfigurationen bzw. WissensverhäItnissen. Neben den Regeln diskursiver Formationen spielen Ressourcenverteilungen eine zentrale Rolle fiir die Teilnahme am kommunikativen Austausch und fiir die formulierbaren Inhalte. Dies alles lässt sich in drei Sätzen formulieren: Wer darf legitimerweise wo sprechen? Was darf/kann dort wie gesagt werden? Welche Konsequenzen sind damit verbunden? Diskurse existieren nur insoweit, wie sie durch soziale Akteure realisiert werden. In modemen Gesellschaften sind solche Akteure in vielfacher Weise in diskursiv strukturierte symbolische Kämpfe über Realitätsdefmitionen eingebunden; dies gilt nicht nur fiir öffentliche Diskussionsprozesse, sondern, wie bspw. die Wissenschaftsforschung (Latour 1987) gezeigt hat, auch für die binnenwissenschaftliche Erzeugung und wissenschaftsexterne ,Durchsetzung' von Wissen. Dabei geht es um Bestimmungen dessen, was faktisch der Fall ist, und um politische, moralische, ästhetische Maßstäbe der Bewertung. Damit sind insgeDas Verhältnis von ,Kontrolle der Akteure durch den Diskurs' und ,Kontrolle von Akteuren über den Diskurs' ist dann eine in konkreten Fällen je spezifisch zu beantwortende empirische Frage.
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samt Formen der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen angesprochen: Die beteiligten Akteure nutzen in der Verfolgung ihrer Interessen symbolisch-kulturelle Mittel, um ihren Erzählungen Gehör zu verschaffen: verbreitete Metaphern, geläufige Deutungsmuster u.a. Diskurse nehmen in verschiedener Weise materiale Gestalt an: Soziale Akteure, die als Sprecher in Diskursen in Erscheinung treten, die jeweiligen Sprecherpositionen besetzen und mitunter ex- oder implizite Diskurskoalitionen bilden, verfUgen über unterschiedliche und ungleich verteilte Ressourcen der Artikulation und Resonanzerzeugung. Diskurse werden in spezifischen Praktiken aktualisiert und in Form von Dispositiven objektiviert bzw. institutionalisiert. Der Begriff der Praktiken verweist darauf, dass es sich um gesellschaftlich regulierte Verhaltensmuster handelt, die aus Akteursperspektive als Handlungen vollzogen werden. Diskurse stellen nicht nur die Bedeutungsstrukturen unserer Wirklichkeit her und damit in gewissem Sinne diese selbst, sondern sie haben auch andere reale Folgen, Effekte bzw. ,Machtwirkungen' im Sinne Foucaults. Die anschließende tabellarische Zusammenstellung gibt einen Überblick über den konzeptuellen Rahmen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Die wichtigsten der erwähnten Konzepte werden nachfolgend vorgestellt. Im Einzelnen geht es zunächst um den Begriff des Diskurses selbst (4.3.2). Daran anknüpfend erläutere ich einige Konzepte zur Analyse der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen (4.3.3). Abschließend formuliere ich Vorschläge zur Erfassung der konkreten Materialität der Diskurse in Gestalt von Akteuren, Diskurskoalitionen, Praktiken und Dispositiven (4.3.4).
Überblick: Grundbegriffe der Wissenssoziologischen Diskursanalyse: Adressat/Publikum: Der- bzw. diejenigen, an die sich ein Diskurs richtet oder von denen er rezipiert wird. Akteur(e}: Individuelle oder kollektive Produzenten der Aussagen; diejenigen, die unter Rückgriff auf spezifische Regeln und Ressourcen durch ihre Interpretationen und Praktiken einen Diskurs (re-) produzieren und transformieren. Aussage: Der typisierbare und typische Gehalt einer konkreten Äußerung bzw. einzelner darin enthaltener Sprachsequenzen, der sich in zahlreichen verstreuten Äußerungen rekonstruieren lässt. Außerung: Die konkret dokumentierte, flir sich genommen je einmalige sprachliche Materialisierung eines Diskurses. Diskurs: Eine nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare Aussagepraxis bzw. Gesamtheit von Aussageereignissen, die im Hinblick auf institutionell stabilisierte gemeinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und Ressourcen der Bedeutungserzeugung untersucht werden. Diskurs/eid, diskursives Feld: Arena, in der verschiedene Diskurse um die Konstitution bzw. Definition eines Phänomens wetteifern. Diskurs/ormation (oder diskursive Formation): Bezeichnung flir einen abgrenzbaren Zusammenhang von Diskurs(en), Akteuren, Praktiken und Dispositiven (z.B. die modeme Reproduktionsmedizin). Diskurs/ragment: Aussageereignis, in dem Diskurse mehr oder weniger umfassend aktualisiert werden (z.B. ein Text); Haupt-Datengrundlage der Analyse. Diskursive Praktiken: Kommunikative Muster der Aussagenproduktion, die sich bspw. textförmig materialisieren (z.B. Presseerklärungen, wissenschaftliche Artikel, Vorträge). Diskursives Ereignis/Aussageereignis: Die sprachliche Realisierung eines Diskurses als Aussage; gegenüber dem Begriff der Äußerung liegt hier der Akzent auf der Typik und Diskurszugehörigkeit.
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Diskurskoalition: Eine Gruppe von Akteuren, deren Aussagen dem seIben Diskurs zugerechnet werden können (z.B. durch Benutzung der gleichen ,story line'); der Zusammenschluss kann, muss aber nicht bewusst bzw. strategisch erfolgen. Diskursregime: Beziehung zwischen Diskursen und Praxisfeldern und/oder zwischen Diskursen. Diskursstrategien: Argumentative, rhetorische, praktische Strategien zur Durchsetzung eines Diskurses (z.B. ,black boxing', d.h. die Etablierung unhinterfragbarer Grundannahmen; Protestveranstaltungen, um massenmediale Aufmerksamkeit zu erzielen; Besetzung von institutionellen Schlüsselpositionen). Dispositiv: Die materielle und ideelle Infrastruktur, d.h. die Maßnahmenbündel, Regelwerke, Artefakte, durch die ein Diskurs (re-)produziert wird und Effekte erzeugt (z.B. Gesetze, Verhaltensanweisungen, Gebäude, Messgeräte). Interpretationsrepertoire: 362 Das typisierte Ensemble von Deutungsbausteinen, aus denen ein Diskurs besteht und das in einzelnen Äußerungen mehr oder weniger umfassend aktualisiert wird. Öffentlicher Diskurs: Diskurs mit allgemeiner Publikumsorientierung in der massenmedial vermittelten Öffentlichkeit Praktiken: Muster flir Handeln bzw. Handlungsvollzüge, die sprachlicher oder nicht-sprachlicher Art sein können (z.B. Überwachen, Strafen, Hände waschen), die in bestimmten Fällen einem Diskurs zurechenbar sind (z.B. symbolische Gesten, Kleidungsstile in religiösen Diskursen), sich davon aber auch mehr oder weniger unabhängig und eigendynamisch in Praxisfeldern entwickeln können. Praxisfelder: Analytisch als diskursunabhängig oder -extern bestimmte, unterschiedlich spezialisierte Bereiche der sozialen Praxis. Spezialdiskurs: Diskurs innerhalb von gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten, z.B. wissenschaftlichen Kontexten. Sprecherposition: Mit Rollensets verknüpfte, institutionell-diskursive strukturierte Orte flir legitime Aussagenproduktion innerhalb eines Diskurses (z.B. akademische Grade). Story line: ,Roter Faden' eines Diskurses, durch den die verschiedenen Bestandteile des Interpretationsrepertoires verknüpft werden. Subjektposition: Im Diskurs konstituierte Subjektvorstellungen und Identitätsschablonen fur seine möglichen Adressaten (z.B. angebotene Kollektiv-Identität; Modelle des ,umweltbewussten Bürgers'); auch Positionierungsvorgaben flir Akteure, auf die ein Diskurs Bezug nimmt bzw. über die er spricht (bspw. als ,Problemverursacher', ,Helden'). Wissen: Das, was im Sinne der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie als Wissen behauptet wird; Bestandteile des kollektiven Wissensvorrates (z.B. Symbolische Ordnungen, die in Diskursen als adäquate Bestimmung von, Wirklichkeit' behauptet werden; Modelle flir Deuten und Handeln u.a.).
4.3.2 Diskurs Als Diskurs bezeichne ich einen Komplex von Aussageereignissen und darin eingelassenen Praktiken, die über einen rekonstruierbaren Strukturzusammenhang miteinander verbunden sind und spezifische Wissensordnungen der Realität prozessieren. Dieser Strukturzusammenhang umfasst die den Ereignissen gemeinsamen Regeln und Ressourcen der Diskursformation. Er bezieht sich auf die Konstitution der Inhalte und auf die Äußerungsmodalitäten. Im Anschluss an Michel Foucault nenne ich Außerung das konkrete, für sich genommen je einmalige Aussageereignis. Demgegenüber meint Aussage bereits eine Ebene des
362
Vgl. zum Begriff des interpretationsrepertoires Potter/Wetherell (1995).
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Typischen und Typisierbaren: die gleiche Aussage kann in ganz unterschiedlichen Äußerungen und situativ-singulären Gestalten getroffen werden. Einzelne sprachliche Äußerungen enthalten "Diskursfragmente" (Siegfried Jäger). Das diskursanalytische Untersuchungsinteresse richtet sich weder auf die situative Einmaligkeit noch auf die Summe der einzelnen Äußerungen, sondern auf ihren strukturellen Zusammenhang als diskursive Ereignisse (Aussageereignisse). Nicht jedes Sprachereignis - bspw. eine Begrüßung - ist automatisch Bestandteil eines Diskurses, nur weil es als soziale Praxis konventionalisiert ist. Im hier verfolgten Verständnis handelt es sich bei Diskursen um strukturell verknüpfte Aussagenkomplexe, in denen Behauptungen über Phänomenbereiche auf Dauer gestellt und mit mehr oder weniger starken Geltungsansprüchen versehen sind. Diskurse sind - in einer anderen Wendung der eingangs fonnulierten Definition - spezifizierbare und konventionalisierte Ensembles von Kategorien und Praktiken, die das diskursive Handeln sozialer Akteure instruieren, durch diese Akteure handlungspraktisch in Gestalt von diskursiven Ereignissen produziert bzw. transfonniert werden und die soziale Realität von Phänomenen konstituieren.J 63 Diskussionen sind kommunikative Veranstaltungen, in denen verschiedene Diskurse aufeinander treffen (können). Beispiele für Diskurse im bezeichneten Sinne wären der Diskurs über Hirntod (Schneider 1999), der Diskurs der Humangenetik (Waldschmidt 1996), der allgemeine Umweltdiskurs (Dryzek 1997) bzw. spezifischer die Ozon-Diskurse (Litfm 1994), die Diskurse über Sauren Regen (Hajer 1995), Hausmüll (Keller 1998), der neoliberale Managementdiskurs (Boltanski/Chiapello 1999) etc. 364 Diskurse existieren als relativ dauerhafte und regelhafte, d.h. zeitliche und soziale Strukturierung von (kollektiven) Prozessen der Bedeutungszuschreibung. Sie sind Ausdruck und Konstitutionsbedingung des Sozialen zugleich, werden durch das Handeln von sozialen Akteuren real, stellen spezifisches Wissen auf Dauer und tragen zur Verflüssigung und Auflösung institutionalisierter Deutungen und scheinbarer Unverfügbarkeiten bei. Diskurse kristallisieren und konstituieren Themen in besonderer Fonn als gesellschaftliche Deutungs- und Handlungsprobleme. Diskursive Fonnationen sind abgrenzbare Diskursgruppierungen, die weitgehend denselben Fonnationsregeln folgen. Als Diskursfelder bezeichne ich soziale Arenen, in denen Diskurse wechselweise in Konkurrenz stehen. Der Begriff der Diskursverhältnisse oder Diskursregime bezeichnet die Beziehungsgefüge zwischen Diskursen und/oder Diskursen und Praxisfeldem. Mit dieser Definition werden Diskurse als tatsächliche, manifeste, beobachtbare und beschreibbare soziale Praxis bestimmt, die ihren Niederschlag in unterschiedlichsten natürlichen Dokumenten, im mündlichen und schriftlichen Sprachgebrauch findet. Die Realisierung von Diskursen erfolgt im praktischen Handeln sozialer Akteure - dies ist eine erste Fonn ihrer Materialität. 365 Sie liegen diesem Handeln orientierend zugrunde und werden dadurch als Struktur- und Signifikationszusammenhang ,wirklich'. Ein Flugblatt, ein Zeitungsartikel oder eine Rede im Rahmen einer Demonstration aktualisieren bspw. einen umweltpolitischen Diskurs in unterschiedlicher konkreter Gestalt und mit verschiedener empirischer Reichweite, aber mit dem gleichen Aussagewert. Die vorliegende Arbeit selbst trägt zur Reproduktion eines soziologischen Diskurses bei. Diskurse unterliegen den Be363 Je nach Forschungsinteresse können Diskurse bspw. nach ihrer Phänomenkonstitution oder nach institutionellen Feldern voneinander abgegrenzt werden. 364 Vgl. dazu weitere Beispiele in Kapitel 5.1. 365 Eine zweite Form diskutiere ich weiter unten als Dispositiv (vgl. Kapitel 4.3.4).
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dingungen institutioneller Trägheit: einzelne diskursive Ereignisse aktualisieren und reproduzieren eine Diskursstruktur nie völlig identisch, sondern immer in Form mehr oder weniger weitreichender Abweichungen. 366 ,Aktualisierung' kann also in zweifachem Sinne verstanden werden: als Überruhrung einer Diskursstruktur in ein tatsächliches Ereignis und als damit einhergehende Modifikation bzw. Einpassung in die aktuellen Bedingungen eines situativen Kontextes. Qualitativ gewichtige Transformationen von Diskursen können in den seltensten Fällen auf ein einzelnes solches Ereignis bezogen werden. Sie entstehen vielmehr aus der Summe von Abweichungen in einer Art Wechsel vom quantitativen zum qualitativen Effekt. In welchem Sinne wird nun davon gesprochen, dass Diskurse eine diskursexterne Realität konstituieren? Zunächst und sehr allgemein ist damit das gemeint, was Berger/Luckmann bereits mit dem Verweis auf die "Konversationsmaschine Sprache" bezeichnet hatten (vgl. Kapitel 2.2.1; 2.3.3.1) und was letztlich auch in der Wittgensteinschen Verknüpfung von Sprachspielen und Lebensformen zum Ausdruck komme 67 Der in einem Diskursuniversum wiederholte und in der Wiederholung stabilisierte Gebrauch von Zeichen bzw. Typen im Sinne von Schütz setzt über die weiter oben beschrieben Apperzeptions- und Appräsentationsfunktionen eine umfangreiche Wissensordnung der Wirklichkeit, die als ,ausgezeichnete' Realität betrachtet wird. 368 Die Welt gewinnt ihren je spezifischen Wirklichkeitscharakter rur uns durch die Aussagen, die Menschen - in Auseinandersetzung mit ihr - über sie treffen, wiederholen und auf Dauer stellen. Solche Aussagen stiften nicht nur die symbolischen Ordnungen und Bedeutungsstrukturen unserer Wirklichkeit, sondern sie haben auch reale Konsequenzen: Gesetze, Statistiken, Klassifikationen, Techniken, Artefakte oder Praktiken bspw. können als Diskurseffekte analysiert werden. Die soziale Realität des Hirntodes entsteht aus dem typisierbaren Gehalt der Summe aller Äußerungen über den Hirntod, einschließlich derjenigen, die sich auf die Entwicklung und den Einsatz von Messinstrumenten, die Erfassung von körperlichen Stoffwechselprozessen und die Interpretation von Messwerten beziehen. Der Begriff der Konstitution ist also hier in einem starken Sinne gemeint und bezeichnet Effekte der diskursiven Konstruktion von Wissen in mehrfacher Hinsicht: •
Soziale Akteure geben Diskursen in Gestalt von Dispositiven und Praktiken eine in unterschiedlichen Graden stabilisierte konkret-materiale Erscheinung.
366 Es handelt sich notwendig um eine stetige Balance zwischen Wiederholung und Differenz. Dabei überwiegen die Anteile der Wiederholung, da sonst kein Wiedererkennungswert besteht. 367 "Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen." (Wittgenstein 1990: 106) 368 Bei SchützlLuckmann heißt es: Die alltägliche Lebenswelt "ist der Wirklichkeitsbereich, an der der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse einschließlich des HandeIns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. Sie setzen ihm zu überwindende Widerstände wie auch unüberwindliche Schranken entgegen. Ferner kann sich der Mensch nur innerhalb dieses Bereichs mit seinen Mitmenschen verständigen, und nur in ihm kann er mit ihnen zusammenwirken. Nur in der alltäglichen Lebenswelt kann sich eine gemeinsame kommunikative Umwelt konstituieren. Die Lebenswelt des Alltags ist folglich die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen." (SchützlLuckmann 1979: 25) Die Rede von der "ausgezeichneten Wirklichkeit" ("paramount reality") geht zurück auf William James, mit dessen Konzepten sich Schütz auseinandersetzt (vgl. Schütz 1971 d (19451 und Schütz 1971f[1955]).
238 •
• •
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Diskursiv erzeugtes und institutionalisiertes Wissen liefert im Sinne der Typenlehre von Schütz die signifikatorischen Grundlagen zur Wahrnehmung (Erfahrung) und Deutung von Phänomenen sowie der darauf bezogenen ,angemessenen' Handlungsformen. Diskurse bilden darüber hinaus Begründungen (Legitimationen) fur die gesellschaftliche Anerkennung solchen Wissens aus. Sie stellen dazu kognitive, moralische und ästhetische Bewertungsmaßstäbe zur Verfugung. Diskurse erzeugen ,know how' im Sinne der mehr oder weniger weit reichenden instrumentellen Befähigung zum Handeln hinsichtlich der jeweiligen Phänomenbereiche. Sie sind damit wiederum an der Herstellung von (bereichsspezifisch agierenden) sozialen Akteuren beteiligt.
Ohne zu bestreiten, dass die sozialen Konventionen über das, was als Evidenz oder hinreichende Plausibilität fur Phänomenqualitäten gilt, sehr unterschiedlich sein können, behaupte ich im Einklang mit der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie oder auch dem Sozialkonstruktivismus von Hacking (1999), dass die Unhintergehbarkeit der Wissensoder Signifikationsstrukturen keinen prinzipiellen Unterschied zwischen natürlichen und sozialen Phänomenen kennt. 369 So ist Alfred Schütz darin zuzustimmen, dass "nicht die ontologische Struktur, sondern der Sinn unserer Erfahrungen die Wirklichkeit konstituiert" (Schütz 1971 f: 393).370 Damit ist weder die Existenz physikalischer Prozesse noch deren Wirken gegen menschliche Definitionsbemühungen bezweifelt. 371 Dies bedeutet auch nicht, dass soziale Definitionsprozesse über unbegrenzte Freiheitsgrade verfugen: "Wenn eine Situation als wirklich definiert wird, so hat das gewiß Auswirkungen, doch diese beeinflussen die Vorgänge vielleicht nur sehr am Rande; manchmal fallt nur der Schatten einer Störung einen Augenblick lang auf die Szene, wenn man nachsichtig an diejenigen denkt, die die Situation falsch definieren wollten (...) (Ob man nun ein Theater oder eine Flugzeugfabrik auf die Beine stellen will, man muß ftlr Parkplätze und Garderoben sorgen, und das sollten wirkliche Parkplätze und Garderoben sein, für die man auch eine wirkliche Diebstahlversicherung abschließen sollte.)." (Goffman 1980: 9; vgl. auch Kapitel 4.3.2.2)
Die diskursiven Bemühungen um die Ordnung und Stabilisierung gesellschaftlicher Signifikationsprozesse finden nicht in einer tabula rasa, also in einem leeren oder weißen Raum der Bedeutungsgenese statt, sondern sind eingebunden in die soziohistorisch geformten und institutionell stabilisierten Wissensverhältnisse sozialer Kollektive. Deswegen sind die Chancen und Ressourcen der Festschreibung von Wirklichkeiten zwischen Diskursen sehr unterschiedlich verteilt - historisch bietet die Ablösung religiöser durch wissenschaftliche Diskurse der Naturbeschreibung das dafur eindrucksvollste Beispiel. Nicht jeder diskursive Anspruch auf Wirklichkeitsgeltung hat also gleiche Anerkennungspotenziale. Es ist eine empirische Frage, ob Diskurse gesellschaftliche ,Machteffekte' hervorrufen, vielleicht sogar zur fraglos geltenden Wirklichkeit werden; es ist ebenfalls eine Sache der Empirie, aufgrund welcher Mechanismen und Ressourcen dies geschieht.
369 370 371
Eine Gegenposition dazu vertritt nach wie vor Searle (1999). Schütz (z.B. 1971a: 10 [19531 oder 1971f: 402) schließt explizit an das Thomas-Theorem an. Vgl. auch schon die entsprechenden Argumente von Blumer (1981).
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
239
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse nicht nur einzelne oder isolierte Diskurse in den Blick nimmt, sondern gesellschaftliche Diskursfelder bzw. Diskursfigurationen, in denen sich mehrere Diskurse begegnen. Michel Foucault hatte Diskurse nach den institutionellen Feldern und Gegenstandsbereichen typisiert, in denen sie zirkulieren und so wissenschaftliche von religiösen, juristischen, wirtschaftlichen oder politischen Diskursen differenziert. Charles W. Morris unterschied ganz ähnlich zwischen verschiedenen Diskurstypen und benannte damit spezifische Stilmerkmale und Inhalte von Diskursfeldern als Abgrenzungskriterium (vgI. Kap. 4.2.1). Auch die Wissenssoziologische Diskursanalyse eignet sich zur empirisch begründeten Typenbildung in Bezug auf Diskursfigurationen. Dabei bestehen über die eben erwähnten Abgrenzungen hinaus unterschiedliche Gruppierungsmöglichkeiteh für einen entsprechenden Diskursvergleich jenseits der evidenten thematischen Heterogenität: •
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•
Eine erste, weiter oben in Kapitel 4.2.5 bereits eingeführte Unterscheidung von Diskurskonfigurationen bezieht sich auf die Zugangsbedingungen und Adressatenkreise und wurde dort als Gegensatz von Spezialdiskursen vs. öffentlichen Diskursen vorgestellt. Eine zweite Gruppierungsmöglichkeit könnte entlang der Grade der Übereinstimmung von Diskursen in einem Diskursfeld entwickelt werden, also etwa antagonistische Spaltungen, in Teilen oder vollständig übereinstimmende Problemdefinitionen zum Kriterium nehmen. Hajers Untersuchung der Diskurse über Sauren Regen (Hajer 1995) belegt bspw. für die Situation in Großbritannien eine starke antagonistische Spannung von Diskursen (ähnlich wie in der bundesdeutschen Hausmülldiskussion, vgl. Keller 1998), während die Situation in den Niederlanden durch eine weitgehende Übereinstimmung in der Problemdefinition gekennzeichnet ist, die mit Divergenzen in Bezug auf Maßnahmenkataloge einhergeht. Eine dritte Möglichkeit der Relationierung diskursiver Felder besteht in der Frage nach den Verhältnissen von Heterogenität, Marginalisierung und Hegemonie, also bezogen darauf, ob wenige oder viele Diskurse in einem Feld konkurrieren und ob dabei hegemoniale Positionen einzelner Diskurse bestehen bzw. welche Präsenz einem Diskurs in einem solchen Feld zugeschrieben werden kann. So zeigt etwa Viehövers (1997, 2003a,b) Untersuchung der Klimadiskurse in Deutschland die Konkurrenz von sechs unterschiedlichen Klimanarrationen, wobei im Zeitverlauf ein Diskurs eine hegemoniale Position einnimmt. Schließlich können Diskurse durch ihre Akzentsetzungen bspw. danach unterschieden werden, ob sie in erster Linie Fragen der ,Faktizität' von Tatsachen oder ethischmoralische Wertfragen behandeln, ästhetische Kriterien thematisieren, Maßnahmen entwickeln oder dramatisierend Probleme auf die öffentliche Agenda setzen. Es ist möglich, dass Diskurse im Verlauf ihrer zeitlichen Entfaltung verschiedene der genannten Schwerpunktsetzungen vornehmen bzw. in unterschiedlicher Weise Kombinationen oder typisierbare Verknüpfungen mit Diskursen aus anderen Diskursfeldern herstellen. Die in Kapitel 5 behandelten Umwelt- und Risikodiskurse liefern dazu exemplarische Beispiele.
240
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
4.3.3 Inhaltliche Strukturierung Zur Analyse der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen schlage ich die Unterscheidung von Deutungsmustem, Klassifikationen, Phänomenstrukturen und narrativen Strukturen vor. Dabei handelt es sich um allgemeine Konzepte, die aus der wissenssoziologischen Tradition stammen bzw. darin eingepasst werden können. Diese in Diskursen spezifisch ausgewählten und verknüpften Strukturierungselemente bilden zusammen das diskurstypische Interpretationsrepertoire (Keller 1998: 36). Es enthält die Bausteine, die innerhalb eines Diskurses "fiir die Interpretation von Handlungen, der eigenen Person und gesellschaftlicher Strukturen im Sprechen verwendet werden" (Potter/Wetherell 1995: 188 t). 372 4.3.3.1
Deutungsmuster
Als allgemeiner Begriff bezeichnet Deutungsmuster die "Organisation der Wahrnehmung von sozialer und natürlicher Umwelt in der Lebenswelt des Alltags" (LüderslMeuser 1997: 58). Der Begriff des ,Musters' verweist auf den Aspekt des Typischen - es handelt sich um allgemeine Deutungsfiguren, die in konkreten Deutungsakten zum Einsatz kommen und dabei in unterschiedlicher sprachlich-materialer Gestalt manifest werden. Darüber hinaus meint die Rede von einem ,Muster' auch, dass hier mehrere, durchaus verschiedene Wissens- bzw. Deutungselemente und bewertende Bestandteile verknüpft werden. Bedeutungen liegen in den Diskursen nicht als lose Zeichenpartikel, sondem in Gestalt von Deutungsmustem vor. Deutungsmuster werden in der wissenssoziologischen Tradition als kollektive Produkte begriffen, die im gesellschaftlichen Wissensvorrat vorhanden sind und sich in konkreten sprachlichen Äußerungen manifestieren. 373 Die Konstitution und Aufbereitung des Themas oder Referenzphänomens eines Diskurses erfolgt durch die diskursspezifische Erzeugung neuer oder die Verknüpfung bereits bestehender allgemeiner Deutungsmuster, die im kollektiven Wissensvorrat einer Gesellschaft verfiigbar sind. Es handelt sich dabei um typisierende und typisierte Interpretationsschemata, die in ereignisbezogenen Deutungsprozessen aktualisiert werden. Deutungsmuster organisieren individuelle bzw. kollektive Erfahrungen und sie implizieren meist Vorstellungen (Modelle) angemessenen Handeins. Sie stiften dadurch Sinn. Eine Deutung ist die Verknüpfung eines allgemeinen Deutungsmusters mit einem konkreten Ereignis-Anlass. Dies kann mehr oder weniger bewusst und strategisch erfolgen. Der Begriff des Deutungsmusters visiert also eine gesellschaftlich konventionalisierte Deutungsfigur, einen ,Typus', der die Wahrnehmung und Deutung von Phänomenen anleitet. Dieser Typus verknüpft unterschiedliche Deutungselemente zu einer kohärenten (nicht notwendig: konsistenten) Deutungsfigur, die in unterschiedlicher manifester Gestalt auftreten kann. Die Parallelen zwischen dem Deutungsmusterkonzept und dem Schützschen Verständnis der Funktionsweise von Typisierungen im Rahmen der alltäglichen Auslegungsrelevanzen sozialer Akteure sind offensichtlich. Deutungsmuster sind eine Art Typisierung auf höherer Aggregatebene: 374 Zum Interpretationsrepertoire können auch typische Metaphern etc. gerechnet werden; weitere Begrifflichkeiten sind vorgestellt in Keller (2004). 373 Alfred Schütz spricht in seiner frühen Arbeit über den "Sinnhaften Aufbau der sozialen Welt" in vergleichbarer Weise von "Deutungsschema" bzw. Deutungsschemata (Schütz 1974 (1932)). 374 Auch Goffmans Begriff des "Rahmens" besitzt Affinitäten zum Deutungsmusterkonzept. 372
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"Für das Individuum sind Deutungsmuster zugleich Wahmehmungs- und Interpretationsform der sozialen Welt, Schemata der Erfahrungsaufordnung und Horizont möglicher Erfahrungen sowie Mittel zur Bewältigung von Handlungsproblemen." (Meuser/Sackmann 1992a: 16)375
Die neuere bundesdeutsche Diskussion über Deutungsmuster setzte mit einem Text von Ulrich Oevermann aus dem Jahre 1973 ein. Oevermann begreift Deutungsmuster als verinnerlichte kognitive Gebilde, die für soziale Kollektive gelten und die Angemessenheitsurteile von Individuen als eine Art "tacit knowledge" bzw. ,,mentale Disposition" leiten. Deutungsmuster entwickeln sich - so Oevermann - aus der handlungspraktischen Bewältigung wiederkehrender Handlungsprobleme der Alltagspraxis, etwa Fragen der Kindererziehung, des Umgangs zwischen Lebenspartnern u.a.: 376 "Deutungsmustern wird die Funktion zugerechnet, für die alltägliche Bewältigung dieser Problemstellungen verbindliche Routinen zur Verfligung zu stellen und damit das Leben angesichts dieser Problemstellungen praktikabel und erträglich zu machen." (Oevermann 2001c: 539)
Die von Oevermann vorgenommene Verknüpfung mit ,objektiv' bestehenden Deutungsund Handlungsproblemen der Alltagspraxis als Voraussetzung und Grundlage der Entstehung von Deutungsmustern schränkt ihr Verständnis jedoch (bewusst) stark ein. Deutungsmuster werden dann anderen Wissensproduktionen - etwa wissenschaftlichem Wissen - gegenübergestellt, um danach zu fragen, wie solche Wissensformen die Deutungsmuster (als "naturwüchsige Alltagstheorien") modifizieren bzw. von diesen gefiltert und adaptiert werden. Diese Vereinseitigung des Deutungsmusterbegriffs ist jedoch in zweierlei Hinsicht problematisch: Zwar geht sie davon aus, dass die angesprochenen Deutungs- und Handlungsprobleme der Alltagspraxis insoweit kollektiven Charakter haben, als sie alle Mitglieder eines sozialen Kollektivs betreffen und die individuelle Bearbeitung auf die tradierten Deutungsmuster zurückgreift, d.h. diese nicht selbst erfinden, wohl aber zur Anwendung bringen muss. Doch wie schon die Beispiele deutlich machen, liegt dem ein reduziertes Verständnis von Alltagspraxis zugrunde, das berufliches Handeln sowie Handlungs- und Deutungsprobleme der kollektiven Entscheidungsebene sozialer Gruppen vernachlässigt. Darüber hinaus ist fraglich, ob angesichts der von Giddens beschriebenen Vgl. auch Meuser/Sackmann (1992), LüderslMeuser (1997: 64 fl). Freilich legt schon die Fonnulierung dieser Handlungsprobleme die Frage nahe, ob sie sich so fur die alltagspraktisch Handelnden oder für die Sozialforscher stellen: "Der Grundgedanke war ein einfacher: Auf der einen Seite haben wir ein kollektiv vereinheitlichendes, gemeinsames Handlungsproblem in seiner objektiven Gegebenheit vor uns, im Falle unseres Projekts das Problem der Sozialisation: Wie gelingt es mir, meine Kinder zu verantwortungsvollen, selbständigen Subjekten zu erziehen? Dieses Problem zieht in seiner Krisenhaftigkeit eine Deutungsbedürftigkeit nach sich. Es ist so gravierend, dass es nicht jedes Mal von neuem gewissennaßen von Null aus gelöst werden kann und muß, sondern jede einzelne Sozialisationspraxis sich auf voreingerichtete Traditionen oder eben: Deutungsmuster - wie von selbst stützen können muss. Auf der anderen Seite stehen also den objektiven Handlungsproblemen, worin sie im einzelnen auch immer bestehen mögen, kollektiv verbürgte, in konkreten Milieus oder Lebenswelten verankerte Muster ihrer routinisierten Deutung gegenüber, die einen veralltäglichten Umgang mit diesen Problemen ennöglichen." (Oevennann 2001b: 37) Zu den "objektiv krisenträchtigen" Problemstellungen der Alltagspraxis zählen nach Oevennann die Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit, der Umgang mit der Endl ichkeit des Lebens, mit der Geschlechterdifferenz, der Lösung von Beziehungskonflikten, dem Umgang mit Krieg und Frieden usw. Oevennann sieht hier Ähnlichkeiten zu den Konzepten der Auslegungsrelevanz bei Alfred Schütz (vgl. SchützfLuckmann 1979: 224fl). Andererseits betont er die Übereinstimmung des Deutungsmusterkonzepts mit dem Habitusbegriffbei Bourdieu (Oevennann 2001b: 45; vgl. Kap. 2.2.2). 375
376
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Reflexivitätsschleife moderner Gesellschaften, also der Dauerbeobachtung und Refonnierung von Handeln durch Expertensysteme, von stabilen kollektiven Deutungstraditionen im Sinne Oevennanns überhaupt noch ausgegangen werden kann. Hier setzen in jüngerer Zeit Plaß/Schetsche (2001) mit ihrer Kritik an der Oevennannschen Fassung des Deutungsmusterbegriffs an, um ihn im Einklang mit anderen gebräuchlichen Verwendungsweisen (LüdersJMeuser 1997) auf die Ebene der kollektiven Wissensproduktion und -zirkulation in massenmedialen Öffentlichkeiten und kulturindustrielien Netzwerken auszuweiten (vgl. Kap. 2.3.3.2). Oevennann deutet dieses Problem mit seinen Hinweisen auf die "Szientifizierung des Alltagswissens" (Oevennann 2001b: 72) oder die "Versozialwissenschaftlichung von Identitätsfonnationen" (Oevennann 1988) allenfalls an, ohne daraus die notwendigen Konsequenzen - eine Verankerung des Deutungsmusterbegriffs auf der Ebene der kollektiven Wissensvorräte und ein Verständnis von Diskursen als Prozessen der Generierung und Vermittlung solcher Deutungsmuster - zu ziehen. 377 LüdersJMeuser (1997) unterscheiden zwischen einer "strukturtheoretischen" und einer "wissenssoziologischen" Perspektive auf Deutungsmuster. Zur ersteren zählen sie als ,harte' Variante die erwähnte Oevennannsche Fassung von Deutungsmustern als "latenten Sinnstrukturen", wie er sie in seinem Ansatz der Objektiven Henneneutik entwickelt (Reichertz 1997b). Als ,weiche' Variante innerhalb der strukturtheoretischen Konzeption bezeichnen sie den Deutungsmusteransatz im Rahmen des Symbolischen Interaktionismus und der Henneneutischen Wissenssoziologie: 378 "Deutungsmuster in diesem Sinne werden als historisch, in Interaktionen ausgebildete Interpretationsmuster der Weltdeutung und Problemlösung begriffen. Im Gegensatz zur (,harten', Anm. d. Verf.) strukturalen Position wird dabei die generierende und gestaltende Rolle handlungsfähiger Subjekte betont (00') Bezogen auf das Konzept des Deutungsmusters bedeutet dies, daß diese den einzelnen Subjekten gegenüber zwar gesellschaftlich insofern vorgängig sind, als das einzelne Subjekt in ein bereits vorhandenes, historisch ausgebildetes, sprachlich repräsentiertes System von Regelstrukturen, Wissensbeständen und gesellschaftlicher Praxis hineingeboren und sozialisiert wird; doch diese sozialen Strukturen existieren weder unabhängig von den Handlungen der Subjekte noch fUhren sie ein Eigenleben (00')'" (LüderslMeuser 1997: 62f)
Unter dem Etikett einer "wissenssoziologischen Perspektive" verhandeln LüdersJMeuser (1997: 64) die Verortung von Deutungsmustern auf der Ebene des gesellschaftlichen Wissensvorrates bzw. kollektiver kultureller Konstrukte. Sie illustrieren dies am Beispiel einer von Yvonne Schütze durchgeführten kulturgeschichtlichen Untersuchung über das Deutungsmuster "Mutterliebe", dessen Entstehung und Entwicklung von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein. Schütze (1992) "entlarvt den ,Mutterinstinkt' als kulturelles Konstrukt, das sich im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse mit Beginn der bürgerlichen Gesellschaft herausbildet. (00') In der Deutung der Mutterliebe als natürlicher Eigenschaft der Frau ist mehreres vereint: normative Aufforderung, soziale Platzierung, Legitimierung der Geschlechterordnung und Identitätsentwurf. Mit seinen Hinweisen auf die Transformation von Normalvorstellungen über Erwerbsbiographien, Geschlechtermodelle, Phänomene des Rechtsextremismus läge ein solcher Schritt durchaus nahe. 378 Dieser Gebrauch des Deutungsmusterbegriffs entwickelte sich im Kontext der Biographieforschung der 1980er und 1990er Jahre und schließt u,a. an Kar! Mannheims "dokumentarische Methode der Interpretation" an, Vgl. Bohnsack (1997), Lüders (1991), Meuser/Sackmann (1992), Plaß/Schetsche (2001), 377
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In dem Maße, in dem Mütter ihre Situation im Rahmen dieses Deutungsmusters wahrnehmen und entsprechend dessen normativem Gehalt handeln, erzeugen sie genau die Wirklichkeit, welche die Gültigkeit des Musters bestätigt." (LüderslMeuser 1997: 65f)
Die von Lüders/Meuser vorgenommene Klassifikation der Fassungen des Deutungsmusterbegriffs ist jedoch nicht überzeugend. Unter Beibehaltung der Differenzierung zwischen einer "strukturtheoretischen" Variante einerseits, einem "wissenssoziologischen" Gebrauch andererseits, schlage ich vor, ersterer nur die Objektive Hermeneutik zuzurechnen und demgegenüber die Perspektive des Symbolischen Interaktionismus und der Hermeneutischen Wissenssoziologie zum wissenssoziologischen Deutungsmusterparadigma zu zählen. Damit würde der in Kapitel 2.3.3.2 erläuterten Erweiterung des Symbolischen Interaktionismus Rechnung getragen, die ja gerade kollektive Deutungskontlikte in ihren Untersuchungsradius einbezieht und sich keineswegs nur auf die Interaktionsordnung des Alltags, sondern auch auf kollektive, diskursiv konstituierte Handlungsprobleme richtet. Das zitierte "Deutungsmuster Mutterliebe" liefert in diesem Sinne ein hilfreiches Beispiel rur die erweiterte wissenssoziologische Perspektive, an der sich die Wissenssoziologische Diskursanalyse orientiert. Dabei wird deutlich, wie Deutungsmusteranalyse als Bestandteil von Diskursanalysen betrieben werden kann: Diskursanalyse bezieht sich nicht nur auf die Rekonstruktion der Abfolge solcher Deutungsmuster und ihre historischen Erscheinungsformen, sondern sie betrachtet ihre Genese und ihre Veränderungen als Ergebnis der diskursiven Deutungsarbeit sozialer Akteure. Sie überträgt das Deutungsmusterkonzept auf den Diskurskontext und richtet sich damit auf die Prozesse ihrer Formung, Verhandlung und Transformation durch soziale Akteure, die in ihrer Diskurspraxis in institutionellorganisatorische Felder und symbolische Kämpfe eingebunden sind. Der Begriff des Deutungsmusters bezeichnet dann grundlegende bedeutungsgenerierende Schemata, die durch Diskurse verbreitet werden und nahe legen, worum es sich bei einem Phänomen handelt. Diskurse verknüpfen verschiedene Deutungsmuster zu spezifischen Deutungsarrangements. Sie rekurrieren dabei auf den gesellschaftlich verrugbaren Wissensvorrat solcher Muster; sie vermögen jedoch auch - und gerade das zeichnet Diskurse aus - neue Deutungsmuster zu generieren und auf der gesellschaftlichen Agenda zu platzieren. Ein exemplarisches Beispiel darur ist das Deutungsmuster des "unhintergehbaren Risikos" von komplexen Technologien (Keller 2003a), das in und durch die verschiedenen Umweltdiskurse der letzten Jahrzehnte Eingang in die gesellschaftlichen Wissensvorräte gefunden hat. Insbesondere die amerikanische Bewegungsforschung hat darauf hingewiesen, dass soziale Akteure im Rahmen von Diskursen Deutungsmuster unter strategischen Gesichtspunkten auswählen, um ihr Mobilisierungspotenzial zu vergrößern (SnowlBenford 1988).379 4.3.3.2
Klassifikationen
Eine zweite, das Konzept der Deutungsmusteranalyse ergänzende inhaltliche Erschließung von Diskursen besteht in der Untersuchung der Klassifikationen (und dadurch: der Qualifi379 Hinweise zur Rekonstruktion von Deutungsmustem finden sich bei LüderslMeuser (1997) und - in Bezug auf die Diskursanalyse - bei Keller (2003a, 2004).
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kationen) von Phänomenen, die in ihnen und durch sie vorgenommen werden. Klassifikationen sind aus der Perspektive der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie eine mehr oder weniger ausgearbeitete, formalisierte und institutionell stabilisierte Form sozialer Typisierungsprozesse, wie sie von Berger/Luckmann im Anschluss an Schütz beschrieben werden. Im Rückbezug auf diese Analysen der Entstehung und Funktionen basaler Typisierungsprozesse wird die performative Wirkung von Klassifikationen deutlich: Sie ordnen nicht - im Sinne einer Repräsentationsperspektive - vorgefundene Wirklichkeit in adäquate Kategorien ein, sondern sie schaffen die Erfahrung dieser Wirklichkeit und ihre Deutung. Der normale Vollzug unserer Alltagsroutinen besteht in einem ununterbrochenen Prozess des Klassifizierens im Rückgriff auf die subjektiv angeeigneten kollektiven Wissensvorräte. Es gibt "eine Form der Vertrautheit, in der Gegenstände, Personen, Eigenschaften, Ereignisse zwar nicht als ,gleich', aber als ,ähnlich' bestimmten früher erfahrenen Gegenständen, Personen, Eigenschaften oder Ereignissen erfaßt werden, wobei die in der aktuellen Situation vorherrschenden Relevanzstrukturen keine über diese ,Ähnlichkeit' hinausgehenden Bestimmungen verlangen. Diese Form von Vertrautheit beruht also auf der im Wissensvorrat angelegten Typik." (SchützlLuckmann 1979: 277).
Die Sprache selbst ist letztlich nichts anderes als ein sozial objektiviertes Bedeutungs"System typisierender Erfahrungsschemata" (ebd.), ein sozial-historisch vorgegebenes Typisierungsraster, das den Einzelnen "von selbständiger Typenbildung entlastet" (Schütz/ Luckmann 1979: 277ff; vgl. auch ebd., 174ff).38O In der bundesdeutschen Soziologie der letzten Jahrzehnte hat vor allem Niklas Luhmann (1984) darauf hingewiesen, dass jeder Sprach- bzw. Begriffsgebrauch klassifiziert, also Unterscheidungen trifft zwischen dem spezifisch Benannten, seiner mit- und gleichzeitig nicht-benannten ,Rückseite' und einem unspezifischen Verweisungshorizont des Nicht-Gemeinten' .381 Jeder klassifizierende Akt ist ein Vorgang der Entscheidung. Jean-Franl(ois Lyotard (1987) machte deutlich, dass jede sprachliche Äußerung als ,Akt der Macht' verstanden werden kann, weil sie eine spezifische Wirklichkeit, einen bestimmten Begriff setzt und damit andere Möglichkeiten ausschließt. Berger/Luckmann (1980) zeigten in der "Gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit", in welcher Weise Institutionen kollektives Wissen ,verkörpern' und die Realität der Gesellschaftsmitglieder durch KlassifLkationsprozesse strukturieren.
Zwischen den neueren Überlegungen von Eco (2000) zur Anwendung kognitiver Schemata im Prozess der Weltauslegung und den Arbeiten von Schütz bestehen interessante, bislang meines Wissens nicht diskutierte Parallelen. 381 Luhmann bezieht dies auf die basalen Codestrukturen gesellschaftlicher Funktionssysteme (wahr/falsch; zahlen/nicht-zahlen etc.) und orientiert sich an George Spencer Brown (Luhmann 1984: 100f; Luhmann 2004b: 75ft). Spencer Brown wies, wie Alfred Schütz u.a. darauf hin, dass Wahrnehmung immer auf Unterscheidung beruht. "Unterscheiden" ist ein Prozess kategorialer Zuweisung (Bezeichnung), bei dem Grenzen zwischen Phänomenen gezogen werden, eine Seite hervorgehoben und durch einen Begriff bezeichnet wird. Einen Versuch der Nutzung dieses Konzeptes fur konkrete Textanalysen macht die "Differenztheoretische Textanalyse" (TitscherlWodaklMeyerNetter 1998: 234ft). Problematisch ist an deren Vorgehensweisejedoch die implizierte Suche nach ,passenden Gegensätzen' (Differenzen im Sinne der Systemtheorie). Aus der Perspektive einer pragmatistischen Sprachtheorie - bspw. derjenigen Wittgensteins - muss betont werden, dass die ,nicht-mitgenannte Differenzfolie' keineswegs abstrakt bestimmt werden kann, sondern immer nur aus dem konkreten Sprachspiel, bspw. in der Rekonstruktion widerstreitender Diskurse, erfasst werden kann. 380
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Die soziale und damit auch sozialwissenschaftliche Bedeutung von Klassifikationen hat insbesondere Mary Douglas (I 991) in einer Analyse der Zusammenhänge von Institutionalisierungs- und Klassifikationsprozessen betont. Douglas beschäftigt sich dort im Anschluss an die wissenssoziologischen Programme von Emile Durkheim und Ludwig Fleck (vgl. Kapitel 2.1.3 und 2.2.3) mit dem von Durkheim aufgeworfenen Problem der Herkunft von Klassifikationssystemen. Institutionen werden als kollektive Güter betrachtet, zu deren Erzeugung und Bestandswahrung soziale Akteure beitragen. Das in ihnen und durch sie verkörperte Wissen bzw. Handlungsmuster bedarf der Legitimation, um Zustimmungen der Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft zu finden. Dafür werden zunächst basale Klassifikationen herangezogen, insbesondere Analogien zur Natur, in denen gesellschaftliche Hierarchien zum Ausdruck kommen: "Institutionen erzeugen Gleichheit. Gesellschaftlich begründete Analogien fassen disparate Dinge zu Klassen zusammen und verleihen ihnen einen moralischen wie auch politischen Gehalt. So beginnt die Folge, die Levi-Strauss uns in seiner neueren Arbeit aus dem Jahre 1983 vorgestellt hat, mit der Natur im Unterschied zur Kultur und setzt sich dann auf mehreren Ebenen fort. Elemente, die auf derselben Seite der Taxonomie stehen, werden dabei unvermeidlich in einen Zusammenhang gebracht, zum Beispiel ,männlich' mit ,Kultur', ,weiblich' mit ,Tier'." (Douglas 199 I: 107ft). 382
Institutionen implizieren komplexe Klassifikationssysteme, welche die Individuen mit Einteilungen der WeIt versorgen. Das besondere Merkmal moderner Gesellschaften besteht - so Douglas im Anschluss an Durkheim - darin, dass individuell präferierte und kollektive Klassifikationen auseinander fallen bzw. beständige Kämpfe um Klassifikationen bestehen. 383 In der Diskursforschung hatte Michel Foucault mit dem Hinweis auf die Bedeutung von Klassifikationen schon lange zuvor eines seiner wichtigsten Werke eröffnet: In der "Ordnung der Dinge" erwähnt er einleitend, ein Zitat von Jorge Louis Borges habe ihn zunächst zum Lachen gebracht und dann zu seinem Unternehmen angeregt. Dieses Zitat lautet folgendermaßen: "In einer ,gewissen chinesischen Enzyklopädie' heißt es, daß ,die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, t) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, I) und so
Vgl. auch den von Pierre Bourdieu anlässlich einer Festschrift fur Levi-Strauss verfassten Beitrag über "Das Haus und die verkehrte Welt" in Bourdieu (1976), der sich mit den verschachtelten Aufteilungen der Welt der algerischen Berberstämme in weibliche und männliche Bereiche beschäftigt. 383 Douglas bezieht sich hier auf die Wissenssoziologien von Durkheim und Fleck, ohne BergerfLuckmann zu erwähnen, obwohl zahlreiche Parallelen zwischen diesen Zugängen bestehen. Im Unterschied zu letzteren betont sie die Funktionalität und den Charakter von Institutionen als ,kollektives Gut', weniger den Aspekt ihrer Konstruktion. Deutlich wird allerdings dabei, was die Wissenstheorie von BergerfLuckmann dem Werk von Durkheim verdankt. In ihrer Studie über "Ritual, Tabu und Körpersymbolik" hatte wiederum Douglas (1981) daraufverwiesen, dass sie Begegnungen mit Thomas Luckmann grundlegende Revisionen und Einsichten ihrer Kulturtheorie schulde. Die Kompatibilität von Klassifikationsanalysen der Durkheim-Tradition mit Alfred Schütz' Zeichen- und Typenkonzept wird auch deutlich in der Schützschen Diskussion von chinesischer Symbolordnungen auf der Grundlage der Studien von Marcel Granet (Schütz 1971f: 3861). 382
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen." (Jorge Louis Borges, zit. nach Foucault 1974a: 17)
Die von ihm herausgearbeiteten "episteme" sind unterscheidbare Grundschemata der Wissensorganisation, die für spezifische historische Abschnitte einem je besonderen Modell folgen (vgl. Kapitel 3.2.3). Schon seine zuvor erschienenen Untersuchungen über die "Geburt der Klinik" (Foucault 1972 [1963]) sowie "Wahnsinn und Gesellschaft" (FoucauIt 1973 [1961]) beschäftigen sich mit den diskursiven und praktischen Klassifikationen, die Gesundes von Krankem, Nicht-Medizinisches von Medizinischem, den Wahnsinn von der Vernunft unterscheiden. Diese Hinweise verdeutlichen, dass Klassifikationen kontingente Modelle der Wirklichkeitskonstitution durch ,Gruppenbildungen' sind, eine spezifische "Formkategorie sozialen Wissens" (Plaß/Schetsche 2001) neben anderen. 384 Sie beziehen sich nicht nur auf die Einteilung von Tatsachen, sondern ebenso auf moralische und ästhetische Bewertungen von Phänomenen als gut oder böse, schön/hässlich/erhaben etc. Zu den basalen Klassifikationen (nahezu) aller Gesellschaften gehört bspw. die Unterscheidung von Natur und Gesellschaft, die mit unterschiedlichen Attributionen von Verantwortung verknüpft ist. Erving Goffinann bezeichnet die Differenz von Natur/Gesellschaft als einen "primären Rahmen". Primäre Rahmen sind solche, deren Anwendung "von den Betreffenden so gesehen wird, daß sie nicht auf eine vorhergehende oder ,ursprüngliche' Deutung zurückgreift (...) Im täglichen Leben unserer Gesellschaft empfindet, ja macht man einen einigermaßen klaren Unterschied zwischen zwei großen Klassen primärer Rahmen: natürlichen und sozialen. Natürliche Rahmen identifizieren Ereignisse, die als nicht gerichtet, nicht orientiert, nicht belebt, nicht geleitet, ,rein physikalisch' gesehen werden; man führt sie vollständig, von Anfang bis Ende, auf ,natürliche' Ursachen zurück. Man sieht keinen Willen, keine Absicht als Ursache am Werke, keinen Handelnden, der ständig auf das Ergebnis Einfluß nimmt. Bezüglich dieser Ereignisse ist kein Erfolg oder Mißerfolg vorstellbar; es kommen keine negativen oder positiven Sanktionen ins Spiel. Es herrscht vollständiger Determinismus, vollständige Determination (...) In gewissem Maße geht man davon aus, daß (... ) gewisse Voraussetzungen wie etwa die Vorstellung von der Erhaltung der Energie oder von einer einzigen, nicht umkehrbaren Zeit auf alle zutreffen. Elegante Formen dieser natürlichen Rahmen finden sich natürlich in den physikalischen und biologischen Wissenschaften. (... ) Soziale Rahmen dagegen liefern einen Verständnishintergrund für Ereignisse, an denen Wille, Ziel und steuerndes Eingreifen einer Intelligenz, eines Lebewesens, in erster Linie des Menschen, beteiligt sind (... ) Es liegen hier also Handlungen vor, keine bloßen Ereignisse (...) Man verwendet den gleichen Ausdruck ,Kausalität' für die blinde Naturwirkung und die von einem Menschen beabsichtigte Wirkung; erstere wird als unbegrenzte Kette verursachter und verursachender Wirkungen gesehen, letztere so, daß sie irgendwie mit einer bewußten Entscheidung beginnt. In unserer Gesellschaft geht man davon aus, daß intelligente Wesen in die Naturvorgänge eingreifen und deren Determiniertheit ausnützen können, falls sie nur die natürlichen Zusammenhänge berücksichtigen. Des weiteren geht man davon aus, daß, vielleicht mit Ausnahme der reinen Phantasie oder des reinen Denkens, alles, was jemand tun möchte, ständig natürlichen Einschränkungen unterworfen ist, und daß wirksames Handeln die Ausnützung statt Nichtbeachtung dieser Verhältnisse verlangt. Selbst wenn zwei Menschen im Kopf miteinander Dame spielen, müssen sie doch noch Mitteilungen über die Züge austauschen, was einen physikalisch wirksamen, willensgeVgl. auch die Hinweise auf die wissenssoziologischen Traditionen der Untersuchung von Klassifikationen im Anschluss an Durkheim und Mauss (Kapitel 2.1.3) sowie auf die Ausfiihrungen zu Bourdieu (2.2.2).
384
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steuerten Gebrauch der Stimme beim Sprechen oder der Hand beim Schreiben erfordert. Die Vorstellung ist also die, daß zwar Naturereignisse ohne intelligenten Eingriff erfolgen, intelligente Handlungen aber nicht erfolgreich sein können, wenn man sich nicht auf die Naturordnung einläßt. Damit läßt sich jedes Stück einer sozial orientierten Handlung teilweise innerhalb eines natürlichen Schemas analysieren. (...) Wenn ein Untersuchungsbeamter nach der Todesursache fragt, möchte er eine Antwort nach dem natürlichen Schema der Physiologie haben; fragt er nach der Todesart, so möchte er eine auf dramatische Weise soziale Antwort haben, die etwas beschreibt, was durchaus zu einem Vorsatz gehören kann." (Goffman 1980: 31 f1)385
In einer der ersten Studien der empirisch-konstruktivistischen Wissenschaftsforschung hatte David Bloor nachgezeichnet, inwiefern sowohl die Konstruktion wie auch die Anwendung von Klassifikationen auch und sogar im Bereich des naturwissenschaftlichen (und mathematischen) Wissens - Bloor bezieht sich hier auf die angewandte Chemie und die experimentellen Vorgehensweisen in den Labors von Justus Liebig in Gießen und Thomas Thomson in Glasgow in den I620er Jahren - als kontingente soziale Prozesse und im Kontext unterschiedlicher politischer Strategien begriffen werden können: "Ein steter Strom von Entscheidungen ist hinsichtlich der Klassifikationsgrenzen erforderlich: Entscheidungen darüber, welche Gesetze beibehalten werden sollen, wenn die Erfahrung widersprüchliche Ergebnisse liefert oder wenn wir durch gegensätzliche Interpretationen auf die Probe gestellt werden (...) Strategische Entscheidungen müssen die vielen taktischen Entscheidungen überwachen." (B1oor 1981: 321)386
Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang nicht nur die Kontingenz und Strukturierungsleistung von Klassifikationen, sondern auch ihre performative Wirkung, die nicht nur dann zu Tage tritt, wenn etwa administrative ethnische Kategorisierungen zur Grundlage von Selbstbeschreibung und Identitätspolitik ethnischer Gruppen werden bzw. solche Gruppen erst durch den Klassifikationsprozess herstellen, wie dies unter anderem in der GenderForschung und verschiedenen Untersuchungen zur ,Identitätspolitik' beschrieben wurde, sondern auch darin zum Ausdruck kommen, dass Klassifikationen die Art und Weise unserer Erfahrung von Phänomenen konstituieren. 387 Vgl. zu weiteren Beispielen für die Funktionsweise der Natur/Gesellschafts-Differenz Luckmann (1999) oderin völl ig anderem Kontext - Latour (1995b). Im Rahmen des aktuell laufenden DFG-Sonderforschungsbereichs 536 "Reflexive Modemisierung" untersucht das Projekt A-2 unter dem Titel "Vergesellschaftung von Natur Naturalisierung von Gesellschaft" die handlungspraktischen Implikationen und die Transformationen dieser Differenz in verschiedenen institutionellen Feldern der modemen Gesellschaft (LaulKeller 2001). 386 Vgl. Bloor (1976) und die Analysen von Barry Schwartz (1981) über "Vertical Classifications". Umberto Eco (2000; vgl. Kapitel 5) hat in seinen Essays über "Kant und das Schnabeltier" diskutiert, wie die Entwicklung der modemen naturwissenschaftlichen Klassifikationen verschiedene Kuriositäten zu verarbeiten hatte. Die neuere Wissenschafts- und Technikforschung weist auf die zunehmende Hybridität soziotechnisch-natürlicher Phänomene hin, die einerseits klassifikatorische Uneindeutigkeit erzeugen und andererseits gerade im Sinne Ecos neue Klassifikationswettbewerbe auslösen. Gerade deswegen sind die Prozesse und Versuche der Herstellung klassifikatorischer Ordnung durch Diskurse von großer Bedeutung (vgl. Kapitel 5). 387 Gesellschaftliche Klassifikationsprozesse und ihre Folgen werden zunehmend Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Einen wichtigen Beitrag zur Analyse der Klassifikationen sozialer Ungleichheit liefert Berger (1987). Sehr deutlich zeigt Elisabeth Beck-Gemsheim (2002) am Beispiel der deutschen Ausländerstatistik und in Bezug auf Debatten über Gastarbeiterintegration, die Bildungssituation von Jugendlichen und deutschausländische Ehen, wie etablierte kategoriale Entscheidungen - hier: zwischen Deutschen/Nicht-Deutschen spezifische Wirklichkeitsordnungen erzeugen, die in starkem Kontrast zu anderen Beschreibungsformen stehen und deswegen zu Fehlwahrnehmungen der Bedeutung und Lebenssituation von DeutschenINichtdeutschen führen. 385
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Wie jeder Sprachgebrauch klassifiziert also auch die Sprachverwendung in Diskursen die Welt, teilt sie in bestimmte Kategorien auf, die ihrer Erfahrung, Deutung und Behandlung zugrunde liegen. Zwischen Diskursen fmden Wettstreite um solche Klassifikationen statt, bspw. darüber, wie (potenzielle) technische Katastrophen zu interpretieren sind und welche Konsequenzen damit verbunden werden sollten (vgl. Kapitel 5).388 Diskurse klassifizieren jedoch nicht nur in diesem Sinne implizit durch ihren besonderen Zeichengebrauch, sondern sie entwerfen auch explizite Klassifikationsschemata für die Wirklichkeitsbereiche, von denen sie handeln. Deren Wirkung hängt letztlich davon ab, ob sie in Gestalt entsprechender Dispositive institutionalisiert werden und dadurch Handlungspraxis anleiten. 389 Gegenstand der Wissenssoziologischen Diskursanalyse sind beide Klassifikationsweisen. 4.3.3.3
Phänomenstruktur
Neben Deutungsmustern und Klassifikationen ermöglicht das Konzept der Phänomenstruktur einen dritten und komplementären Zugang zur Ebene der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen. Bereits in der konstituierenden Phase der Wissenssoziologie hatte Karl Mannheim den Begriff der ,,Aspektstruktur" eingeführt (vgl. Kapitel 2.1.2), um die Art und Weise der Konstruktion von Sachverhalten zu benennen, also das, was in Bezug auf ein Phänomen erfasst wird. Bestandteile einer solchen Aspektstruktur sind - so Mannheim die benutzten Begriffe einschließlich ihrer Bedeutungsdifferenz zu anderen möglichen Begriffen, der Zusammenhang dieser Begriffe, Kausalschemata, die "vorausgesetzte Ontologie" u.a. (Mannheim 1969: 234). Das Konzept der Phänomenstruktur greift solche Überlegungen auf und bezieht sie darauf, dass Diskurse in der Konstitution ihres referentiellen Bezuges (also ihres ,Themas') unterschiedliche Elemente oder Dimensionen ihres Gegenstandes benennen und zu einer spezifischen Gestalt, einer Phänomenkonstellation verbinden. Das Konzept der Phänomenstruktur bezeichnet keineswegs Wesensqualitäten eines Diskurs-Gegenstandes, sondern die entsprechenden diskursiven Zuschreibungen. Bspw. erfordert die Konstruktion eines Themas als Problem auf der öffentlichen Agenda die Behandlung verschiedener Dimensionen durch die Protagonisten und im Rückgriff auf argumentative, dramatisierende und evaluativ-bewertende Aussagen: die Bestimmung der Art des Problems oder des Themas einer Aussageeinheit, die Benennung von Merkmalen, kausalen Zusammenhängen (Ursache-Wirkung) und ihre Verknüpfung mit Zuständigkeiten Vgl. als weitere Beispiele die Analysen von Krankheitsstatistiken u.a. bei BowkerlLeigh Star (2000) oder von Kriminaldelikten bei Manning (1988). Desrosieres (1993) untersuchte die Entwicklung der französischen, englischen und deutschen Sozialstatistiken, Berufsklassifikationen u.a. Zimmermann (2003) analysierte die Genese der deutschen Arbeitslosenstatistik. Prior (1997) zeigt am Beispiel einer irischen Klassifikation über Ursachen für Geistesverwirrung - u.a. Enttäuschung, Liebe und Eifersucht, religiöse Erregung, Stolz, Kindsgeburt, Hitzeschlag -, dass Borges ,absurde' chinesische Klassifikation nicht so weit hergeholt ist, wie es zunächst den Anschein hat. Vgl. auch Barlösius (200 I) u.a.m. 388 Der ,Kampf der Klassifikationen' war ein zentrales Thema Bourdieus (vgl. Kapitel 2.2.2). 389 Ein Beispiel dafür ist die Klassifikation und Erfassung des Müllaufkommens nach Orten des ,Müllanfalls' Haushalte, Gewerbe, Industrie, Bau - , die einen anderen Eindruck von ,abfallarmen Produkten' erzeugt als eine Müllerfassung entlang der Produktlebenswege: Ein im Endergebnis ,abfallarmes' Produkt kann so in der Gesamtbilanz als überaus abfallträchtig erscheinen, und umgekehrt. Entsprechend würden andere Konsequenzen für die Konsumpraxis gefordert.
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(Verantwortung), Problemdimensionen, Wertimplikationen, moralischen und ästhetischen Wertungen, Folgen, Handlungsmöglichkeiten u.a. Vor allem die Untersuchungen der öffentlichen Karriere sozialer Probleme im Kontext des Symbolischen Interaktionismus haben entsprechende Dimensionen benannt und sehen in ihrer ,gelingenden' Konstruktion ein wesentliches Merkmal erfolgreicher Mobilisation von Zustimmung (Gerhards 1992; Schetsehe 1996). Ich schlage allerdings vor, statt von Problemdimensionen von Phänomenstrukturen zu sprechen, um eine begriffliche Fokussierung auf umstrittene gesellschaftlichpolitische Issues (,Probleme') zu vermeiden. Diskurse konstituieren auch da ihre Gegenstände im Hinblick auf unterschiedliche Dimensionen, wo sie sich nicht im Wettbewerb bzw. Konflikt mit gegnerischen Diskursen befmden. Aus der bisherigen Diskursforschung lassen sich einige wichtige Elemente solcher Phänomenstrukturen gewinnen. Von zentraler Bedeutung sind bspw. die Subjektpositionen, die ein Diskurs konstituiert, und die in verschiedener Hinsicht differenziert werden können. So nehmen Diskurse Positionierungen von sozialen Akteuren als Helden, Retter, Problemfälle, vernünftig und verantwortungsvoll Handelnde, Bösewichte etc. vor. Dies erfolgt jedoch nicht nur im Hinblick auf die ,Agenten' der von ihnen angebotenen Erzählung, sondern auch in Bezug auf die verschiedenen Adressaten eines Diskurses, bspw. im humangenetischen Expertendiskurs die Herstellung eines beratungsbedürftigen Subjektes (Waldschmidt 1996; 2003). Dazu zählen auch diskursgenerierte Modellpraktiken, welche fiir die durch einen Diskurs definierten Handlungsprobleme Handlungsanweisungen zur Verfügung stellen (vgl. Kapitel 4.3.4.2). Die tatsächlichen Bausteine der Phänomenstruktur eines Diskurses sind nicht vor der Materialanalyse bekannt, sondern sie müssen aus den Daten - und dort aussageübergreifend - erschlossen werden. Einzelne Diskursfragmente enthalten dazu in der Regel nur partielle Elemente. Die folgende Tabelle illustriert den Gedanken der Phänomenstruktur am Beispiel meiner Analyse öffentlicher Auseinandersetzungen über das Hausmüllproblem, bezogen auf den französischen hegemonialen Abfalldiskurs (Keller 1998: 232):390
Vgl. auch Hajers Darstellung von Bausteinen der britischen und niederländischen Diskurse über Sauren Regen in Hajer (1995,2003).
390
250 Abbildung 4:
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse Beispiel für die Erfassung einer Phänomenstruktur
Dimensionen Ursachen
Verantwortung (Zuständigkeit)
Inhaltliche Ausführune: Bsp.: administrativer Abfalldiskurs Abfall als, Sauberkeitsproblem '; Diskrepanz zwischen Mengenaufkommen und Entsorgungs- bzw. Verwertungsinfrastruktur: • Wohlstandswachstum, ökonomischer und technischer Fortschritt, Konsumbedürfnisse der Verbraucher -> Anstieg des Abfallaufkommens • Abfall als Problem defizitärer Müllentsorgung auf Deponien • Abfall als Problem mangelnder staatsbürgerlicher Verantwortung und Disziplin • Abfall als Problem nationaler Zahlungsbilanz/Rohstoffnutzung • Abfall als Problem internationaler Wettbewerbsbedingungen
•
• •
Politik/staatliche Administration (muss in Abstimmung mit der Wirtschaft Rahrnenprogramme der Abfallpolitik erarbeiten und durchsetzen) Gebietskörperschaften, Wirtschaft (eigenverantwortliche Umsetzung der politischen Vorgaben) Bürger/Gesellschaft (Aufgabe irrationaler Ängste, egoistischer Ablehnungen; Übernahme von Verantwortung für die Abfälle und Akzeptanz der Technologien)
Handlungsbedarf/ Problem lösung
Niedriges Problem level; technische Beherrschung der Abfallsituation ist möglich durch Verwertung und Beseitigung. Maßnahmen: • großtechnischer Ausbau und Optimierung der Entsorgungs- und der Verwertungsinfrastruktur • Akzeptanzschaffung für Entsorgungsinfrastruktur durch Kommunikation und Partizipation • umfassende Mobilisierung staatsbürgerlicher Verantwortung (Kommunen, Wirtschaft, Verbraucher)
Selbstpositionierung
Vertreter der wissenschaftlich-technischen, ökonomischen und pragmatischen Vernunft, des zivilisatorischen (soziokulturellen/-technischen) Fortschritts; Staat als Wahrnehmer des Kollektivinteresses
Fremdpositionierung
• •
Zivilgesellschaftliche Akteure (Gebietskörperschaften, Wirtschaft, ~ürger) zeigen mangelndes Verantwortungsbewusstsein, irrationale Angste und Verdrängung Irrationalismus und Fundamentalismus der deutschen Abfallpolitik, Tarnmantel für Wirtschaftsprotektionismus
Dingkultur/ Wohlstandsmodell
Kein Gegenstand der Abfalldiskussion; folgt unverfugbaren Modernisierungsdynamiken und Marktrationalitäten; materielles Wohlstandsmodell; Freiheit der Bedürfnisse (Produktion und Konsum)
Wertbezug
• • •
•
Staat sichert Kollektivinteresse (Wohlstand, Fortschritt, Modernität) (Faktische und moralische) Sauberkeit des öffentlichen Raumes Natur als (national knappe) Ressource, deren Nutzung optimiert werden kann Identität von derzeitiger Gesellschaftsform und ,gutem Leben'
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251
Die analytische Beschreibung der Phänomenstruktur kann sich an verschiedenen Konzepten der grounded theory (Strauss 1998) orientieren und richtet sich auf zwei Aspekte: 391 I.
2.
Die dimensionale Erschließung bezieht sich auf die allgemeine Zusammensetzung der Phänomengestalt: Die Dimensionen, aus denen ein Phänomen diskursiv konstituiert wird, können sich in einem diskursiven Feld zwischen verschiedenen, miteinander konkurrierenden Diskursen mehr oder weniger stark gleichen bzw. unterscheiden. Sie werden in abstrahierender Form erschlossen, etwa in dem Sinne, dass festgehalten wird, ob kausale Zusammenhänge, Eigen- und Fremdetikettierungen (Identitätsmarker), Verantwortungszuschreibungen, Lösungsbedarf usw. überhaupt als relevante Größen durch den Diskurs selbst eingefuhrt werden. Im Sprachgebrauch der grounded theory geht es hier um die Entwicklung von Kodes, d.h. um die Generierung abstrakter Kategorien zur Benennung einzelner Aussage- und Diskursbausteine durch die verschiedenen Stufen des offenen, axialen und selektiven Kodierens. 392 Wie differenziert dies erfolgt, also ob bspw. Haupt- und Nebenursachen oder -folgen usw. unterschieden werden, hängt von den konkreten Fragestellungen ab. Die inhaltliche Ausführung der im ersten Schritt rekonstruierten Dimensionen kann nach dem situativ-kontextuellen Anlass eines diskursiven Ereignisses variieren und sich auch zwischen Diskursen erheblich unterscheiden. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse zielt hier auf eine typisierende Rekonstruktion der Gehalte, auf die Regeln oder Prinzipien dessen, was als Inhalt in Frage kommt, nicht auf die summarische Zusammenstellung all dessen, was in ,Originalzitaten' - die durchaus fiir Darstellungsund Illustrationszwecke benutzt werden können - gesagt wurde. Durch die Analyse der verschiedenen Aussagen hindurch lassen sich so Kodierfamilien bilden, d.h. Zuordnungen unterschiedlicher Merkmalsausprägungen zu den entsprechenden KodeKategorien wie Ursachen, Konsequenzen, Korrelationen, Randbedingungen, Prozesse, Typen, Identitäten u.a. (Glaser 1978).393
4.3.3.4 Narrative Strukturen Ein letztes Moment der inhaltlichen Gestalt von Diskursen ist an dieser Stelle zu benennen: Als Erzählstrukturen, story lines, plots, scripts bzw. narrative Strukturen können diejenigen strukturierenden Momente von Aussagen und Diskursen bezeichnet werden, durch die verschiedene Deutungsmuster, KlassifIkationen und Dimensionen der Phänomenstruktur (z.B. Akteure, Problemdefmitionen) zueinander in spezifIscher Weise in Beziehung gesetzt werden. Narrative Strukturen sind nicht einfach nur Techniken der Verknüpfung sprachlicher Elemente, sondern als "mise en intrigue" (Paul Ricreur), als konfIgurativer Akt der Verknüpfung disparater Zeichen und Aussagen in Gestalt von Erzählungen ein Grundmodus der menschlichen Ordnung von Welterfahrung. 394 Als Aussagen haben sie performativen Charakter: sie konstituieren (bestreitbare) Weltzustände als Erzählungen, in denen es Eine genauere Diskussion der Vorgehensweise und weitere Literaturbezüge sind in Keller (2004) enthalten. Vgl. dazu Strauss (1998: 56ffund 92ft) mit detaillierten Erläuterungen, Hilfsfragen, Beispielanalysen usw. 393 Vgl. Keller (2003b); Strauss (1998: 54ff; 90ff); Flick (2002: 257ft); TitscherlWodaklMeyerNetter (1998: 95ft); diskursanalytische Anwendungen auch bei Diaz-Bone (2002: 198ft), Viehöver (2003a). 394 Vgl. vor allem Ricreur (1988: 57; 1998), Viehöver (2001). 391
392
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handelnde Akteure, Ereignisse, Herausforderungen, Erfolge und Niederlagen, ,Gute' und ,Böse' etc. gibt. Die Erschließung der narrativen Strukturen von Diskursen kann sich auf unterschiedliche Ebenen richten und Haupt- von Nebenerzählungen, allgemeine oder generalisierende Narrationen von illustrierenden Beleg- oder Beweisgeschichten unterscheiden. Die dem kulturellen Wissensvorrat entstammenden oder auch im Diskurs selbst erzeugten Bausteine werden im jeweiligen Diskurs zu einer besonderen ,Erzählung' zusammengeführt, auf einen referentiellen Anlass bezogen und über einen roten Faden, eine story line zu Diskursen integriert. 395 Narrative Strukturen umfassen abgrenzbare Episoden (von der Einleitung bis zur Schlussfolgerung), Prozesse, das Personal bzw. die Aktanten und ihre spezifischen Positionierungen, die Raum- und Zeitstrukturen sowie die Dramaturgie (den plot) der Handlung (Viehöver 2001, 2003a,b). In synchroner Hinsicht verknüpfen sie die unterschiedlichen Deutungselemente eines Diskurses zu einem zusammenhängenden, erzählbaren Gebilde. 396 In diachroner Perspektive werden dadurch die Aktualisierungen und Veränderungen der Diskurse im Zeitverlauf verbunden. Sie liefern das Handlungsschema für die Erzählung, mit der sich der Diskurs erst an ein Publikum wenden kann (Poferl 1997) und mit der er seine eigene Kohärenz im Zeitverlauf konstruiert. Durch den Rückgriff auf eine story line können Akteure diskursive Kategorien sehr heterogener Herkunft in einem mehr oder weniger kohärenten Zusammenhang aktualisieren. Dadurch entsteht der für öffentliche Diskurse typische Hybridcharakter. Von Bedeutung ist dabei insbesondere die Herstellung von Kausalzusammenhängen durch "causal stories" (Stone 1989) und die Betonung von Handlungsdringlichkeiten im Rahmen von Dramen und Moralgeschichten. Kollektive Akteure aus unterschiedlichen Kontexten (z.B. aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft) koalieren bei der Auseinandersetzung um öffentliche Problemdefinitionen durch die Benutzung einer gemeinsamen Grunderzählung, in der spezifische Vorstellungen von kausaler und politischer Verantwortung, Problemdringlichkeit, Problemlösung, Opfern und Schuldigen formuliert werden. Probleme lassen sich (ent)dramatisieren, versachlichen, moralisieren, politisieren oder ästhetisieren. Akteure werden aufgewertet, ignoriert oder denunziert. Angesprochen sind damit Deutungs- oder Argumentationseffekte, die etwa innerhalb politischer Diskurse in der Regel intendiert, wenn auch nicht unbedingt vollständig kontrolliert sind. Ein illustratives Beispiel für die Analyse der narrativen Strukturen von Diskursen bietet die Untersuchung der Klimadebatte von Viehöver (2003a).397
4.3.4 Die Materialität der Diskurse Nach der Erläuterung wichtiger Konzepte zur Erschließung der inhaltlichen Strukturierung von Diskursen möchte ich nun kurz auf ihre manifeste Erscheinung oder Materialität eingehen. Selbstverständlich lassen sich schon die Inhalte nur als tatsächliche Dokumente des Sprachgebrauchs erschließen. Darüber hinaus sind es aber die sozialen Akteure (4.3.4.1) und ihr Vollzug von Praktiken (4.3.4.2), welche den diskursiven Ereignissen zugrunde liegen, deren Gesamtgestalt die Form eines Diskurses zugeschrieben werden kann (vgl. 395 396 397
Vgl. Gamson (1988b), Hajer (1995), Keller (1998). Also zu einen ,account' im Sinne des Ethnomethodologie. Vgl. dazu Kapitel 5.
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Kapitel 4.2). Schließlich werde ich kurz auf den Begriff des Dispositivs (4.3.4.3) eingehen, der die konkrete Institutionalisierung von Diskursen bezeichnet. 4.3.4.1
Akteure, Diskurskoalitionen
Weiter oben in Kapitel 4.2.3 hatte ich zwischen den Sprecherpositionen im Rahmen der (Re-)Produktion eines Diskurses und seinen inhaltlich im Hinblick auf Positionierungen von Handlungsträgern, Rezipienten, Adressaten oder Betroffenen konstituierten Subjektpositionen unterschieden. Die Analyse von Subjektpositionen erfolgt zum einen im Kontext der Untersuchung der inhaltlichen Strukturierung und gegebenenfalls im Anschluss daran im Hinblick auf die Rezeptions- und Aneignungsprozesse dieser Positionen durch soziale Akteure, also die ,Machtwirkungen' von Diskursen. An dieser Stelle geht es mir nun um die Seite der Diskursproduktion, also um Sprecherpositionen und die individuellen oder kollektiven sozialen Akteure, die diese Positionen einnehmen. Diskurse sprechen nicht rur sich selbst, sondern werden erst durch Akteure und deren Sprachakte ,lebendig'. Soziale Akteure schaffen die entsprechenden materiellen, kognitiven und normativen Infrastrukturen eines Diskurses und orientieren sich in ihren (diskursiven) Praktiken an den Regeln der jeweiligen Diskursfelder, bspw. an den Publikationszwängen der Medienberichterstattung oder des wissenschaftlichen Diskurses. Sie agieren im Diskurs und aus dem Diskurs heraus. Sie tun dies in institutionell strukturierten Zusammenhängen wie Universitäten oder Parlamenten, aber auch am häuslichen Schreibtisch oder in den Massenmedien. Sie treten auf als Sprecher und Repräsentanten mehr oder weniger großer sozialer Gruppen (Experten, Parteien, Protestgruppen, Professionen, Organisationen). Sprecherpositionen innerhalb von Diskursen bilden ein in vielerlei Hinsicht gegliedertes und mehr oder weniger hierarchisches Netz von institutionell konfigurierten Rollensets und damit einher gehenden ,Chancen auf Gehör', rur die je nach Stellenwert in der Diskurshierarchie unterschiedliche Qualifikationsanforderungen als Voraussetzung bestehen. Spezialdiskurse konstituieren hier die strengsten Verknappungsprozeduren (bspw. in der Wissenschaft durch Ausbildungsgänge), während öffentliche Diskurse eher heterogene Qualifikationen kennen, die in symbolisches Kapital im Sinne Bourdieus konvertierbar sind. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse interessiert sich rur Akteure, die Sprecherpositionen einnehmen, nicht als individuelle Subjekte, sondern als soziale Rollenträger der Diskurse. Die Einnahme der entsprechenden Positionen kann sich mehr oder weniger zufällig aus den individuell verfolgten beruflichen Karrierewegen (etwa innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin) ergeben, auf bewusstem Engagement beruhen (etwa bei sozialen Bewegungen) oder durch Positionierungsprozesse im Rahmen diskursiver Auseinandersetzungen erzwungen sein (also bspw. durch herausfordernde Diskurse verursacht). Als Rollenträger vertreten die Diskursakteure die Interessen ihrer Organisationen in und durch die Einschaltung in Diskursverläufe bzw. in dem Maße, wie eine solche Organisation von einem spezifischen Diskurs abhängt, die ,Interessen dieses Diskurses'. Als Subjekte vermögen sie nebenbei alle möglichen anderen individuellen Interessen zu verfolgen, doch dies ist nicht Gegenstand der Diskursanalyse. Die Einnahme von Sprecherpositionen kann sich auf einzelne diskursive Ereignisse beziehen oder eine mehr oder weniger durchgehende Identifikation mit einem Diskurs erlauben. Soziale Akteure vermögen gleichzeitig bzw.
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sukzessive Sprecherpositionen in sehr verschiedenen Diskursen bzw. Diskursfeldern einzunehmen, etwa dann, wenn Sprecher politischer Debatten sich parallel in mehrere Diskurse einklinken. Sie kann in Abhängigkeit von Zuständigkeitsprofilen auch weitgehend innerhalb eines einzigen Diskurses angelegt sein. Im Unterschied zu den politikwissenschaftlichen spieltheoretischen Adaptionen der Theorie rationaler Wahl betont die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Einklang mit den anderen Ansätzen der Diskurstheorie, dass die sozialwissenschaftliche Analyse nicht vorschnell die Eindeutigkeit von (Klassen-) Interessen, Machtpositionen etc. unterstellen und als Erklärungsprinzip für Diskursprozesse einsetzen sollte (vgl. Kapitel 3.1.5.4). Sie muss basale Motivierungen für die Erzeugung diskursiver Ereignisse annehmen und gesteht zu, dass Interessen sozialer Akteure in Diskursen bzw. Texten nicht explizit ausgeführt sein müssen, es also ,geheime' Argumente hinter den verbalisierten Positionen geben kann. Problematisiert wird jedoch der unmittelbare Kurzschluss von Akteursinteressen auf Diskurspositionen, die so lediglich als Rhetorik erscheinen. Die Verfolgung von Interessen wird als eine Motivation, aber nicht als das primäre unabhängige Erklärungsprinzip für die stattfindende Art und Weise der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit betrachtet. Die Diskursperspektive betont damit, dass die gleichen Interessen mit sehr unterschiedlichen inhaltlichen Positionen verknüpft werden können, dass Diskurskonfrontationen auch neue Zulässigkeiten, Legitimationen, moralische Positionen u.a. erzeugen, die sowohl die Wahrnehmung von Interessen wie auch ihre Versprachlichung und Verfolgung transformieren. Sie betont schließlich, dass gegenüber solchen Interesselagen die diskursiven Weisen ihrer Bearbeitung nicht vernachlässigt werden dürfen. Bspw. konstituieren Diskurse über die moralische Legitimität von unternehmerischem Handeln im Zusammenhang mit der Verlagerung von Produktionsstätten, der Ausbeutung von Billigarbeitskräften etc. mitunter einen Rechtfertigungsdruck, der Unternehmen dazu führt, nicht die Verfolgung von Profitinteressen aufzugeben, aber die Realisierung dieser Interessen auf anderem Wege anzugehen. 398 Die Diskursperspektive verweist also, wie schon Charles W. Mills mit seinem Konzept der Motivvokabularien (s.o. Kapitel 2.1.2), sowohl auf die diskursive Konstruktion dessen, was als Interesse gilt, als auch auf die diskursiv konstituierte Beziehung zwischen Interessen und den Mitteln ihrer Verfolgung. Das Bestehen von Interessen selbst entscheidet noch keineswegs über die Art und Weise ihrer Umsetzung. Sie können deswegen der Analyse nicht als ursächlich erklärend vorausgesetzt werden. 399 Diskurs-Akteure benutzen verschiedene Ressourcen und Strategien der Diskursproduktion. Sie erzeugen Faktenwissen, argumentieren, dramatisieren, moralisieren, mobilisieren gängige Alltagsmythen, Klischees, Symbole, Bilder für ihre Zwecke. Sie entwickeln eine Geschichte, in der die Rollen von Gut und Böse verteilt sind und die Handlungsprobleme benannt werden. Sie konstituieren dadurch ihre eigene (kollektive) Identität. In diskursiven Auseinandersetzungen bilden soziale Akteure durch ihre Einnahme von Positionen im Diskurs, durch den Rekurs auf eine gemeinsame story line implizite oder explizite Diskursgemeinschaften (Wuthnow 1989) bzw. Diskurs-Koalitionen (Hajer 1995, Keller 1998). Innerhalb von großen gesellschaftlichen Akteursaggregaten - Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Protestbewegungen u.a. - sind unterschiedliche, auch gegensätzliche Diskurspositionen möglich. Es wird also keine Identität von Diskurs und kollektiver Akteurs398 399
Das bezeichnet eine Möglichkeit, wie sich eine Diskursperspektive mit Interessen auseinandersetzt. Vgl. dazu am Beispiel der "Ozon-Diskurse" Litfin (1994).
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gruppe vorab unterstellt. Innerhalb von Akteursgruppen können unterschiedliche Diskurse adaptiert, vertreten und verlassen werden. Abgesehen von wenigen initialen Momenten der frühen Formierung und diskursiven Strukturbildung sind Diskurse und ihre institutioneller Unterbau den sozialen Akteuren strukturell vorgeordnet. Nicht einzelne Akteure, sondern Diskurse als strukturierte Aussagekonfigurationen regulieren die Bedingungen der Zulassung von Akteuren zu Sprecherpositionen. Soziale Akteure agieren also nicht als freie Gestalter der Diskurse. Sie sind ihnen andererseits auch nicht bedingungslos unterworfen oder ausgeliefert. Als aktiv wahrnehmende und regelinterpretierend Handelnde setzen sie ihre Handlungskompetenzen in diskursiven Ereignissen und im Vollzug diskursiver Praktiken ein. Nicht zuletzt daraus entsteht die Diskursdynamik. Das wissenspolitische Makrogeruge der Produktion, Aufrechterhaltung und Transformation von gesellschaftlichen Wissensvorräten lässt sich so als vielfach verschachtelte Struktur von Diskursen und Akteuren begreifen, die zueinander in unterschiedlichen Beziehungen stehen. 4.3.4.2
Praktiken
Der Begriff der Praktiken bezeichnet sozial konventionalisierte Arten und Weisen des Handeins, also typisierte Routinemodelle rur Handlungsvollzüge, die von unterschiedlichsten Akteuren mit mehr oder weniger kreativ-taktischen Anteilen aufgegriffen, ,gelernt', habitualisiert und ausgeruhrt werden. 40o Praktiken fmden sich in allen gesellschaftlichen Handlungsfeldern und auf allen Ebenen des individuellen und kollektiven Handeins. Ich unterscheide im Folgenden entlang der möglichen Beziehungen zwischen Diskursen und Praktiken drei Typen solcher Muster fiir Handlungsvollzüge: (1) diskursive und nichtdiskursive Praktiken der Diskurs(re)produktion, (2) diskursgenerierte Model/praktiken und (3) diskursexterne Praktiken. (1) Diskursive und nicht-diskursive Praktiken der Diskurs(re)produktion Zunächst kann von Praktiken der Diskurs(re)produktion gesprochen werden, um die Regulierungen des Sprachgebrauchs und der Bedeutungszuweisung zu bezeichnen, die diskursiven Ereignissen zugrunde liegen. Es handelt sich um Muster legitimer Äußerungsformen und Handlungsweisen im Diskurs, die seine Realität konstituieren: etwa (Regeln rur) die Verfassung wissenschaftlicher Texte, legitime Vortragsstile, den Einsatz visueller Zeichenformate, Kleidungsstile, Anredeweisen u.a., auch die Schrift- oder Sprach-Genres bzw. kommunikative Gattungen auf institutionell-organisatorischer Ebene. Solche Praktiken sind gesellschaftlich mehr oder weniger allgemein verrugbar. Sie können rur einzelne Diskurse oder ganze Diskursfelder spezifischen Charakter haben (etwa wissenschaftliche Diskurse, Protestdiskurse, öffentliche Diskurse). So kann sowohl vom Diskurs der modemen Physik und seinen Attributen (Vorlesungen, Laborexperimente usw.) als auch etwa vom Diskurs des radikalen Umweltschutzes und den daran gekoppelten Praktiken (Formulierung von Utopien, Demonstrationen u.a.) gesprochen werden. Die Praktiken der Diskurs(re)produk400
Vgl. weiter oben die Kapitel 2.3.1 und 4.2.4.
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tion können noch einmal unterschieden werden in diskursive Praktiken und nichtdiskursive Praktiken. Zu ersteren gehören die Praktiken des Sprach- bzw. Zeichengebrauchs. Dazu zählen die Fonnen und Modelle angemessenen Reden und Schreibens in verschiedenen institutionellen Feldern, auch entsprechende Regulierungen des Einsatzes von Zeichen oder Bildern, die eine Geschichte erzählen. Es handelt sich bspw. um Regeln für die Erzeugung wissenschaftlicher Texte, für Interventionen in öffentliche Auseinandersetzungen etc., also die verschiedensten Strukturierungen der expliziten Signiftkationsakte, aus denen Diskurse bestehen und die von sozialen Akteuren angeeignet bzw. vollzogen werden müssen, sofern sie als Sprecher in einem Diskurs fungieren (können) und Gehör fmden (wollen). In Expertenkontexten muss gezielt und systematisch unter Nutzung von Fachvokabular und argumentativen Regeln gesprochen oder geschrieben werden. Es gilt, speziftsche Regeln der Deutungsproduktion - etwa disziplinäre Standards - zu beachten. Öffentliche Diskurse sind demgegenüber stärker an ,allgemeinverständliche' Deutungsund Begründungsweisen, an emotionale Appelle und dergleichen mehr gebunden. Kommunikationsprozesse können in unmittelbarer Anwesenheit von Anderen stattftnden oder medienvennittelt größere Publika einbeziehen. 40' Zweitens existiert eine Fonn der Praktiken, die, obwohl sie direkt auf die Produktion bzw. Reproduktion von Diskursen bezogen ist, selbst nicht-diskursiven Charakter im vorangehenden Sinne hat. Diese nicht-diskursiven Praktiken der Diskurs(re)produktion umfassen symbolisch aufgeladene Handlungsweisen innerhalb eines Diskurses, die seine Geltung durch ihren Vollzug stützen, aktualisieren und reproduzieren. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist die Geste des ,sich Bekreuzigens' eines Priesters während des Gottesdienstes. Dazu zählt auch das Tragen speziftscher, eine symbolische Differenz markierender Kleidung z.B. durch Ärzte, die symbolische Dramaturgie von Inszenierungen der Autorität und Zuwendung, nicht-sprachliche Kompetenzdarstellungen USW. 402
(2) Diskursgenerierte Modellpraktiken Eine zweite, davon unterschiedene Fonn der Praktiken wird in Diskursen im Rahmen der inhaltlichen Strukturierung ihrer Gegenstandsbereiche als Modelle für die vom Diskurs adressierten diskursexternen Praxisfelder konstituiert. Ich bezeichne solche Praktiken als diskursgenerierte Modellpraktiken. Diese Muster des Handelns können sich sowohl auf Kommunikationsprozesse wie auf nicht-sprachliche oder nicht-zeichenbezogene Handlungsvollzüge richten. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die Beichte als speziftsche religiöse Praxis des kommunikativen Kontaktes zwischen Priestern als Vertretern eines Diskurses und den adressierten Gläubigen. Für den zweiten Fall kann exemplarisch auf die Formen der Müllsortierung verwiesen werden, die in den deutschen Abfalldiskursen der 1980er Jahre konzipiert und dann durch die Vennittlung gesetzlicher Verordnungen impUnterschieden werden muss dabei zwischen Arenen der systematischen Diskursproduklion einerseits, und solchen der Diskursaktualisierung andererseits. Sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte etwa sind Orte der Produktion von Diskursen; das dort konstruierte Wissen mag dann über verschiedene Vermittlungsebenen auch Allerwelts- oder ,Jedermann-Konversationen' erreichen und dort aktual isiert werden. Dies geschieht jedoch nicht systematisch und hat nur geringen Einfluss auf die systematische Diskursproduktion. Dennoch tragen letztlich auch solche Aktualisierungsformen ihrerseits zur Reproduktion von Diskursen bei. 402 Vgl. dazu auch Pfadenhauer (2003). 401
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lementiert wurden. Dabei wird zugleich deutlich, dass die diskursiv generierten Modelle ihren praktischen Vollzug zwar anleiten, aber nicht völlig determinieren. Es bestehen also Freiheitsgrade der tatsächlichen Realisierung solcher Modellpraktiken.
(3) Diskursexterne Praktiken Eine letzte Ebene von Praktiken bilden schließlich die in gesellschaftlichen Praxisbereichen (Handlungsfeldern) alltäglich tradierten und routinisierten Arten und Weisen, etwas zu tun, die zwischen Verharrung und beständiger Veränderung zunächst eine von Diskursen unabhängige Ebene der Handlungsvollzüge bilden und ebenfalls sowohl sprachliche wie nichtsprachliche Handlungsweisen umfassen. Diese Praktiken bezeichne ich als diskursexterne Praktiken. Dazu zählen bspw. die eher heterogenen Praktiken des Gehens, Kochens, Wohnens, Lesens (GiardJMayol 1980; Certeau 1980), des Klatschens (Bergmann 1987) oder der Führung von Tischgesprächen (Keppler 1994), aber auch solche Praktiken wie die von Foucault untersuchten Formen des Überwachens und Strafens (Foucault 1977), die in spezifischen Praxisfeldern konzentriert und tradiert werden, sofern sie sich gleichsam durch Erfahrungsbildung in entsprechenden Handlungskontexten und Berufstraditionen entwickelt haben und nicht Resultat diskursbasierter Modellkonstruktionen sind. 403 Allerdings ist gerade die Unterscheidung zwischen den beiden letztgenannten Formen von Praktiken nicht leicht zu treffen, da Prozesse der Enttraditionalisierung und der Dauerbeobachtung durch Expertensysteme sich heute auf alle gesellschaftlichen Praxisbereiche beziehen. Ein illustratives Beispiel bieten modeme polizeiliche Verhörpraktiken, die zunächst als Ergebnis einer erfahrungsbasierten Tradition des Verhörens verstanden werden könnten. Doch eine historische Analyse zeigt, dass genau das, was heute quasiselbstverständlich praktiziert wird, im 19. Jahrhundert diskursiv als Modell zur Verbesserung der Verhörpraxis eingefuhrt wurde (Niehaus/Schröer 2004). Dennoch ist es hilfreich, zunächst eine diskursunabhängige Ebene der Praktiken anzunehmen und die Beziehungen zwischen Diskursen und dieser Ebene zum Gegenstand der Analyse zu machen. Nur so kann die Eigen-Willigkeit der "Taktiken" (Michel de Certeau) des Alltags im Umgang mit den diskursiven Zumutungen in der Analyse berücksichtigt und ein vorschneller Kurzschluss von Positionen im Diskurs auf Handlungsvollzüge in der Praxis vermieden werden, auch wenn Mischungsverhältnisse oder konjunkturelle Dominanzen des ein oder anderen Typus zu vermuten sind. Erst so fmdet die taktische Kreativität der Akteure des Alltags im Umgang mit Diskursen ihren angemessenen Platz. 404 Tabellarisch lassen sich die verschiedenen Kategorien der Praktiken beispielhaft illustrieren:
Die Etiketteliteratur belegt, dass aueh Rezeptwissen und Handlungsrepertoires der Alltagspraxis wie etwa die Führung von Tisehgespräehen, das Halten eines Glases ete. zum Gegenstand von diskursiver Bearbeitung und Fixierung von Modellpraktiken werden kann (vgl. Handsehuh-HeißlLau 2003). 404 Vgl. dazu weiter unten den Exkurs zur "Ethnographie der Diskurse". 403
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Abbildung 5:
Typen von Praktiken 40s
Praktiken
der Diskurs(re)produktion
sprachlich bzw. zeichenförmig
z.B. Schreiben, Predigen, Vortragen, Bildergeschichten
nichtzeichenf6rmig
z.B. symbolische Gesten (Segnung); das Tragen spezifischer Kleidung; demonstrieren
4.3.4.3
diskursgenerierte Modelle z.B. Ärztliche Diagnose, Beratungsgespräche
diskursextern tradiert
kommunikative Gattungen des Alltags (Klatschen; Begrüßen etc.) z.B. Müllsortieren z.B. Gehen, Kochen, im Haushalt; spezi- eingeübte alltagsprakfische Hygieneprak- tische oder professiotiken nelle Routinen (z.B. tradierte Arbeitsweisen)
Dispositive
Diskurse antworten auf (mehr oder weniger) selbst konstituierte Deutungs- und Handlungsprobleme. Im Rahmen ihres eigenen Prozessierens oder angeregt durch diskursexterne Anlässe erzeugen sie ,Definitionen der Situation' und verknüpfen damit Handlungskonzepte. Die sozialen Akteure, die einen Diskurs tragen, schaffen eine entsprechende Infrastruktur der Diskursproduktion und Problembearbeitung, die mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet werden kann. Dispositive sind die tatsächlichen Mittel der Machtwirkungen eines Diskurses. Dispositive vermitteln als ,Instanzen' der Diskurse zwischen Diskursen und Praxisfeldern (Praktiken). Ein Dispositiv ist der institutionelle Unterbau, das Gesamt der materiellen, handlungspraktischen, personellen, kognitiven und normativen Infrastruktur der Produktion eines Diskurses und der Umsetzung seiner angebotenen ,Problemlösung' in einem spezifischen Praxisfeld. Dazu zählen bspw. die rechtliche Fixierung von Zuständigkeiten, formalisierte Vorgehensweisen, spezifische (etwa sakrale) Objekte, Technologien, Sanktionsinstanzen, Ausbildungsgänge u.a. Diese Maßnahmenkomplexe sind einerseits Grundlagen und Bestandteile der (Re-) Produktion eines Diskurses, andererseits die Mittel und Wege, durch die ein Diskurs in der Welt interveniert. Beispielsweise ist das Duale System der Mülltrennung Teil des Dispositivs eines spezifischen Abfalldiskurses (Keller 1998). Bezogen auf die Umsetzung der im Diskurs generierten Model/praktiken gehören dazu die Werbebroschüren, die statistische und prozessbezogene Logistik der Beschreibung und Erfassung des Mülls, die Sammelbehälter, Anweisungen zur Mülltrennung oder Verträge mit den Kommunen. Dazu zählen sowohl die entsprechenden juristischen Verordnungen, die MitarbeiterInnen des DSD, die zahllosen Grünen Punkte, letztlich auch die Praktiken der Mülltrennung und -säuberung, denen sich die Menschen unterwerfen. Mit Bezug auf die Ebene der Diskurs(re)produktion wären die diskursiven Interventionen der verschiedenen Vorstands-, Sprecher- und Pressegremien
Ich spreche hier von nicht-zeichenförrnigen Praktiken, sofern keine Verwendung ausgebildeter Zeichensysteme vorliegt. Damit ist nicht bestritten, dass solche Praktiken Signifikationen vornehmen oder anbieten, also Bedeutungen transportieren.
405
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sowie der ForschungsstelIen zu nennen, die mit ihren StelIungnahmen, Broschüren usw. eine bestimmte Konstruktion des AbfalIproblems verbreiten und legitimieren. Wissenssoziologische Diskursanalyse ist also nicht nur Kontextanalyse, Kommunikations-, Text- oder Bildforschung; sie ist gleichzeitig Fallstudie, Beobachtung, sogar ethnographische Verdichtung, die den Zusammenhang von Aussageereignissen, Praktiken, Akteuren, organisatorischen Arrangements und Objekten als mehr oder weniger weit historisch und sozial-räumlich ausgreifende Prozesse in den Blick nimmt - zumindest könnte sie dies sein. Die Bestandteile eines Dispositivs sind, wie das Beispiel zeigt, sehr heterogen und gehören unterschiedlichen institutionelIen Kontexten an. Dispositive sind Mittel und Versuche der Diskurse, Wirkungen außerhalb ihrer selbst zu erzeugen, die Welt und Wirklichkeit nach ihrem Bilde zu gestalten. Ein von Foucault untersuchtes Beispiel ist das klinische Setting eines Krankenhauses (Foucault 1972). Die Kleidung des Personals, die medizinischen Instrumente, die Praktiken ihrer Handhabung u.a. haben ihren Ursprung im Zusammentreffen zwischen spezifischen Diskursen, dem dort kanonisierten Wissen, der entworfenen Modellpraxis und den bestehenden gesellschaftlichen Praxisfeldern der Krankenbehandlung. Dispositive werden von sozialen Akteuren in dem Maße geschaffen, wie sie einen Diskurs institutionalisieren. Es handelt sich dabei um Ordnungen der Praxis bzw. entsprechende Ordnungsprozesse und -bemühungen, deren tatsächliche Reichweite vermutlich selten dem diskursiv projektierten ModelI entspricht und die alIe mehr oder weniger transitorischer Natur sind (vgl. Kendall/Wickham 2001; Law 1994). Wenn solche Dispositive aus einer diskursorientierten Perspektive als Ordnungen der Praxis untersucht werden - wie dies Michel Foucault selbst am Beispiel von "Überwachen und Strafen", der Beichtpraktiken u.a. getan hat (Foucault 1977, 1989a) - dann wird damit nicht eine ,eins zu eins' sich volIziehende Determination eines Praxisfeldes durch einen Diskurs behauptet. Das wäre sicherlich in mehrerlei Hinsicht naiv, weil dabei die taktische Kreativität sozialer Akteure sowie die Konkurrenz, Heterogenität und Inkonsistenz des Zugriffs unzähliger DiskurselDispositive auf Praxis unterschätzt würde. Allerdings geht es darum, das Verhältnis einer konkret beobachteten, mehr oder weniger geordneten Praxis zu den alIgemeinen ModelIen dieser Praxis zu bestimmen, die ihre Herkunft in einem oder mehreren darauf bezogenen Diskursen haben (können). Die situative Realisierung der Ordnung von Praktiken innerhalb eines Praxisfeldes kann dann als kreative, selektive und taktische Aneignung bzw. Ablehnung von solchen diskursiv prozessierten Mustern verstanden werden. Exemplarisch für eine entsprechende Vorgehensweise steht die von Angelika Poferl (2004) vorgelegte Studie über die "ökologische Frage als Handlungsproblem" auf der Ebene des privaten AlItags. Sie fragt zunächst nach den diskursiven Konstruktionen von ,umweltgerechtem Handeln' und den damit entworfenen Handlungserwartungen bzw. Subjektpositionen, um dann die typisierbare Heterogenität der Auseinandersetzung mit den diskursiven Zumutungen durch soziale Akteure in ihrer alItäglichen Handlungspraxis zu rekonstruieren. Dabei wird deutlich, dass die betreffenden Diskurse die Ordnungen der Praxis keineswegs determinieren, dass sie aber dennoch genau die Handlungsprobleme mitkonstituieren, zu denen sich die betroffenen Akteure positionieren müssen. Die in Gestalt von Dispositiven entworfene Relationierung von Diskursen und außerdiskursiven Praxisfeldern kann also nicht als einseitiger Formierungsprozess gefasst werden; ihre konkrete Gestalt ist eine empirische Frage. Ich gehe davon aus, dass im Gegensatz zur ursprünglichen sozialkonstruktivistischen Ausgangsposition in den GegenwartsgeselIschaften große Teile des AlIgemein-
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
bzw. Alltagswissens in zunehmendem Maße in Diskursen erzeugt und über entsprechende Dispositive - im hier verstandenen Sinne - vermittelt werden. Erst im Anschluss an die Untersuchung der diskursiven Konstruktion und Vermittlung von Wissensbeständen lassen sich dann Fragen nach dem Zusammenhang von subjektiver Rezeption bzw. Aneignung und gesellschaftlichen Wissensvorräten angemessen stellen. 406 Die Bearbeitung entsprechender Fragestellungen kann in Gestalt einer Ethnographie der Diskurse erfolgen, deren Grundzüge ich im nachfolgenden Exkurs kurz erläutere. Exkurs: Möglichkeiten einer Ethnographie der Diskurse Foucault hatte sich in seinen Analysen der Genealogie von Macht-Wissenskomplexen nicht nur mit wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt. In "Überwachen und Strafen" (Foucault 1977) bspw. werden Analysen der Diskurse - und das meint bei Foucault dann neben den theoretischen Feldern (etwa des Strafrechts) auch die Gefängnisordnungen und andere anonyme Gebrauchstexte gesellschaftlicher Praxis - neben Interpretationen der tradierten Praktiken des Überwachens und Strafens gestellt, die ihm durch ihre Beschreibung in Dokumenten zugänglich sind. Diese Praktiken werden als eigenständige Ebene gesellschaftlicher Prozesse betrachtet. Berühmt ist in dieser Hinsicht sicherlich die Eröffnungssequenz, die in vielen Details die Hinrichtung eines Vatermörders durch Vierteilung am 2. März 1757 beschreibt. In anderer Akzentsetzung betonen auch Laclau und Mouffe in ihrer Diskurstheorie die Praktiken der Artikulation in Diskursen. Die Hinweise auf unterschiedliche Arten von Praktiken, die erwähnten Dispositive und die eigen-willigen Rezeptionsweisen sozialer Akteureein Grundgedanke der Hermeneutischen Wissenssoziologie oder der Rezeptionsästhetik, der auch in den Rezeptionstheorien der Cultural Studies u.a. entfaltet wird - fUhren mich zu dem Bereich, den ich als Ansatzpunkt einer Ethnographie der Diskurse bezeichnen möchte, und der vielleicht nicht nur der Diskursforschung, sondern auch der Ethnographie Perspektiven eröffnet. Unter Ethnographie verstehe ich mit Knoblauch (2001 b: 131) einen Ansatz, der sich "durch die Einnahme einer Binnenperspektive, die Untersuchung eines naturalistischen Feldes sozialer Praxis und durch den Einsatz der teilnehmenden Beobachtung auszeichnet, die in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen mit anderen Methoden zum Einsatz kommen." Es lässt sich natürlich leicht behaupten, dass "in einer globalen Ökonomie von Zeichen und Räumen (...) die Ethnographie die Verbindung zwischen Ereignissen, Praktiken und Diskursen berücksichtigen (muss)." (Winter 2001a: 55 im Anschluss an Clifford 1992). Aber was kann das bedeuten? Eine stärkere Zuwendung zur Analyse von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken sowie zur materialen Gestalt von Dispositiven kann, so lautet mein Vorschlag, durch die Ausarbeitung eines Ansatzes der Diskursethnographie geleistet werden, der über die gängige Ethnographie der Kommunikation hinausgeht. 407 Für die Zwecke der Diskursforschung lassen sich Strategien einer "fokussierten Ethnographie" adaptieren: Die Fokussierung reflektiere, so Knoblauch, "eine gesellschaftliche Entwicklung, deren Einheiten in diesem Falle nicht - wie im Paradigma der Ethnologie - Lebensgemeinschaften sind, sondern Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge." Sie stellt Fragen nach der "situativen, milieuhaften oder institutionellen Typik" von Handlungstypen, Formen der Problembearbeitung oder Interaktionsmustern." (Knoblauch 2001b: 137) Die Ethnographie gewinnt in dem Maße fUr die Diskursforschung an Bedeutung, wie letztere sich fUr die Praxis der Diskursproduktion, der Dispositive und der Diskursrezeption zu interessieren beginnt. Es ist deswegen vielleicht nicht ganz zufällig, dass Knoblauch in seinem zitierten Beitrag über eine fokussierte Ethnographie Ein wichtiges Beispiel für die Analyse solcher Prozesse bilden die Untersuchungen lokaler Wissenserzeugung in der Arzt-Patient-Interaktion von Aaron Cicourel (1985, 1986). 407 Vgl. Saville-Troike (2003), Cameron (2001: 53ft), Keller (2003b), Knoblauch (200Ib: 131), Lüders (2000), Hirschauer/Amann (1997). 406
Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
261
gerade solche Untersuchungen (wie die Laborforschungen der in Kapitel 2.2.3 erläuterten Social Studies of Science) erwähnt, die Affinitäten zu einer erweiterten empirischen Diskursforschung im Sinne der Wissenssoziologischen Diskursanalyse aufweisen. Ich unterscheide vier Ansatzpunkte einer ethnographisch fokussierten Zugangsweise zu Diskursen: (l) Die Detailanalyse der diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken der Diskursproduktion, (2) die Detailanalyse der Einrichtung und Nutzung von Dispositiven, (3) die Detailanalyse der RezeptionJAneignung/Auseinandersetzung mit Diskursen in gesellschaftlichen Praxisfeldern und (4) das Verhältnis von Diskursen und Alltagswissen. Ein potenzieller Ort der Zusammenarbeit zwischen Ethnographie und Diskursforschung ist bspw. die Untersuchung von Praxisorten der Diskursproduktion und -reproduktion, etwa wissenschaftlichen oder politischen Settings. Diskurse werden in konkreten Kommunikationssituationen erzeugt, die ethnographisch erschlossen werden können. Dazu wäre der analytische und interpretative Fokus einer solchen Ethnographie eben auf die Produktion eines Diskurses auszurichten. Weitere Ansatzpunkte lassen sich an dieser Stelle als Ethnographie des Verhältnisses von Situationen, Alltagswissen, Praxisfeldern und Diskursen zusammenfassen. Der Kulturanthropologe James Clifford (1992) und einige andere Autoren aus dem Kontext der Cultural Studies weisen seit einiger Zeit gegen die Idyllen ,unberührter' Ursprünglichkeit und die ethnologisch-ethnographische Unterstellung der Abgeschlossenheit lokaler Kulturen auf die Bedeutung u.a. von Diskursen für das Verständnis ethnographischer Gegenstandsbereiche hin. Ihr Argument fordert einen radikal anderen Blick auf das Lokale als Ort der Überkreuzung, Vermischung, des Patchworks aus Strömen von Menschen, Erfahrungen, Dingen und historischen sowie zeitgenössischen Diskursen. Überträgt man diese Haltung auf Anwendungen fokussierter Ethnographie in modemen Gesellschaften, dann bedeutet sie eine zusätzliche Aufmerksamkeit für das, was von außen in die untersuchten Zusammenhänge (Felder) hineinwirkt. So schlägt bspw. Miller (1994, 1997) einen Brückenschlag zwischen Ethnographie, Konversationsanalyse und der Diskursanalyse im Anschluss an Foucault vor. Der geforderten Ethnographie institutioneller Diskurse gehe es darum, wie die konkrete Praxis der Wirklichkeitskonstruktion auf transsituatives Wissen zurückgreift bzw. eine solche Wirklichkeit mit aufbaut, welcher Ressourcen sich Individuen dabei bedienen u.a. Gesa Lindemann (2002, 2003) kontrastiert in ihrer kürzlich vorgelegten, ethnographisch informierten Untersuchung des medizinischen Settings der Hirntoddiagnostik, bei der es um Grenzziehungen zwischen Sozialem und Nicht-Sozialen geht, den medizinischen und medizin-ethischen Diskurs mit der Praxis der Diagnostik auf der Intensivstation. 1m angelsächsischen Kontext werden schon seit längerer Zeit ethnographische Fragestellungen mit an Foucault angelehnten diskurstheoretischen Perspektiven verknüpft. Miller hat Langzeitstudien in organisatorischen Settings der Familientherapie durchgeführt und kann zeigen, wie innerhalb von zwölf Jahren Diskurse und Praktiken der Familientherapie sich begrifflich und konzeptionell verändern (vgl. Miller 1997; auch Leuenberger 2002). Prior (1989) untersuchte die soziale Organisation des Todes in Belfast anhand von öffentlich-institutionellen und lebensweltlichen Diskursen und Praktiken. Conley/O'Barr (1990) führten eine exemplarische Diskursethnographie über Abläufe der lokalen Rechtsprechung durch. 40B Mit der vorgeschlagenen Konzeption einer Diskursethnographie geht es summa summarum um die detaillierte Analyse von Prozessen der Diskursproduktion einerseits, um das Verhältnis zwischen Diskursen, Praxisfeldern und Alltagswissen andererseits. In diesem Sinne könnte die Ethnographie eine wichtige korrigierende Position gegenüber der Diskursforschung dahin gehend einnehmen, dass sie letztere vor ,idealistischen' Fehlschlüssen, also vor dem unmittelbaren Kurzschluss von Diskurs und Praxis bewahrt. Erst der Kontakt mit dem Feld und die Arbeit im Feld kann zeigen, dass selbst in totalen Institutionen, in Organisationen, institutionellen Feldern und im ,privaten Alltag' gegenüber Diskursen vielfältige Möglichkeiten und Techniken der Positionierung, der Rezeption, der Modifikation, des subversiven Unterlaufens, der inneren Distanzwahrung u.a. existieren können, die freilich 408 Weitere Möglichkeiten der Diskursethnographie werden deutlich in den Untersuchungen von Silverrnann (1987), Manning (1988) und Cicourel (1986).
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
gerade ihre konkreten Möglichkeiten und Spezifika erst in Auseinandersetzung mit ersteren ausbilden. Exkurs Ende
4.4 Fragestellungen Das skizzierte konzeptuelle Gerüst erlaubt der Wissenssoziologischen Diskursanalyse die Bearbeitung einer Vielzahl möglicher Fragestellungen in der empirischen Forschung. Diese richten sich auf die Rekonstruktion und Erklärung von Diskursentwicklungen einschließlich der gesellschaftlichen Diskurseffekte. Diskurse lassen sich z.B. daraufhin untersuchen, wie sie entstanden sind, welche Aushandlungsprozesse in der Konstruktion des Diskurses stattfinden, welche Veränderungen sie im Laufe der Zeit erfahren, wer ihre Protagonisten und Adressaten sind u.a. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse bezeichnet damit ein genuin sozialwissenschaftliches und wissenssoziologisches Forschungsprogramm. Sie kann sehr unterschiedliche Aspekte fokussieren, die von mikroskopischen Einzelfallanalysen der Diskursproduktion bis zu historisch weit ausholenden Zusammenhangsanalysen reichen, und muss entsprechend eine forschungspragmatische Auswahl treffen. Der anschließende Überblick stellt die wichtigsten Fragemöglichkeiten zusammen.
Überblick: Fragestellungen wissenssoziologischer Diskursforschung: • • • • • • • • • • • • • • • •
Wie ist ein spezifischer Diskurs entstanden, wann taucht er auf oder verschwindet wieder? Wie, wo, mit welchen Praktiken und Ressourcen wird ein Diskurs (re-)produziert? Welche sprachlichen und symbolischen Mittel und Strategien werden eingesetzt? Welche manifesten und/oder latenten typisierbaren Inhalte kognitiver, moralisch-normativer und ästhetischer Art werden vermittelt? Welches Wissen (Deutungen und Problem lösungen) wird also erzeugt und verbreitet? Welche Phänomenbereiche werden dadurch wie konstituiert? Welche Formationen der Gegenstände, der Äußerungsmodalitäten, der Begriffe, der Strategien enthält ein Diskurs? Was sind seine Formationsregeln, Strukturierungsprozesse und -modalitäten? Wie ist er intern strukturiert und reguliert? Welche Aushandlungsprozesse finden in der Konstruktion eines Diskurses statt? Was sind die entscheidenden Ereignisse im Verlauf eines Diskurses und wie verändert er sich mit der Zeit? Wie schlägt sich ein Diskurs in Dispositiven nieder? Auf welcher Infrastruktur baut er auf? Welche Akteure (Protagonisten) besetzen mit welchen Ressourcen, Interessen, Strategien die Sprecherpositionen? Wer ist Träger, Adressat, Publikum des Diskurses? Welche Aneignungsweisen lassen sich nachzeichnen? Welche Bezüge enthält der Diskurs zu anderen, historisch vorangehenden oder parallelen, konkurrierenden Diskursen? Wie lässt sich ein Diskurs auf raum-zeitlich mehr oder weniger weit ausgreifende soziale Kontexte beziehen? Welche gesellschaftlichen Folgen und Machwirkungen (Effekte) gehen von einem Diskurs aus, und wie verhalten sich diese zu gesellschaftlichen Praxisfeldem und ,Alltagsrepräsentationen'?
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Was sind also die rekonstruierten Merkmale eines Diskurses bzw. eines diskursiven Feldes, die Formationsregeln, Diskursstrategien usw.? In welchem Verhältnis stehen Diskurse zu anderen zeitgenössischen oder historischen Diskursen? Können typische diskursive Formationen unterschieden werden? Was sind die Kriterien? Was ist die gesellschaftliche Bedeutung dieser Unterschiede? Welche historisch synchronen und diachronen Gruppierungen und Differenzierungen von bzw. zwischen Diskursen sind möglich? Wie verhalten sich soziohistorischer Kontext, diskursive Felder, Diskurse, Praktiken und Dispositive zueinander? Welche Erklärungen für die rekonstruierten Strukturierungsprozesse von und durch Diskurse(n) können formuliert werden? Wie sind ihr Entstehen, ihre Verläufe und Wirkungen zustande gekommen? In welchem Verhältnis stehen die Ergebnisse zu anderen Perspektiven und Aussagen über denselben oder ähnliche Untersuchungsgegenstände? Werden jene dadurch widerlegt, ergänzt, bestätigt? Welche gesellschaftlichen Phänomene werden dadurch erklärt? Welche Größen spielen dabei eine Rolle? Welche Beziehungen bestehen zwischen diesen Erklärungen und anderen sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen?
Nachfolgend werden die wichtigsten Untersuchungsfragen kurz und in gebündelter Form erläutert. Es geht um Fragen der Diskursproduktion, der Rolle von Akteuren, der Konstitution von Phänomenen, um die Effekte von Diskursen, ihr Verhältnis zu unterschiedlichen Praxisfeldern und Alltagsrepräsentationen sowie den Vergleich von Diskurstypen. Dabei ist vorausgesetzt, dass vorab ein oder mehrere Diskurse bzw. ein diskursives Feld, ein Kontlikt-, Ereignis- oder Gegenstandsbereich bestimmt wurde(n), dem (denen) das Forschungsinteresse gilt.
4.4.1
Wie werden Diskurse erzeugt?
Diskursanalysen interessieren sich dafur, an welchen institutionellen Orten und damit korrespondierenden Regeln, durch welche (kollektiven) Akteure oder Ereignisse Diskurse verbreitet werden. Dabei geht es nicht um die Suche nach einer ,ersten Quelle', aber doch um die rur die jeweilige Fragestellung erforderliche Konturierung der raum-zeitlichen Situierung, Verbreitung und Verläufe eines Diskurses. Die Frage nach der Erzeugung von Diskursen richtet sich auf die diskursiv-institutionelle Regulierung und Besetzung von Sprecherpositionen durch soziale Akteure. Bspw. befahigt der Abschluss spezifischer formaler Qualifikationsstufen erst zur Teilnahme an wissenschaftlichen Diskursen; in öffentlichen Diskursen kann ein erzielter Prominentenstatus oder Verbandssprecherposten ähnliche Funktionen errullen. Solche Sprecherpositionen werden dann von unterschiedlichen sozialen Akteuren (Rollenträgem) eingenommen. Auch wenn ein Diskurs in verstreuten Aussageereignissen in Erscheinung tritt - etwa ein umweltpolitischer Diskurs im Rahmen lokaler Abendveranstaltungen an verschiedenen Orten der Bundesrepublik - so lassen sich doch diskursinterne Strukturierungen und Hierarchiebildungen feststellen, z.B. im Sinne der Prominenz oder des öffentlichen Ansehens bestimmter und bestimmbarer Akteure
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Grundlagen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse
(Schwab-Trapp 2001, 2003). Machtressourcen wie Geld, Wissen, symbolisches, ökonomisches, soziales oder kulturelles Kapital spielen eine wichtige Rolle, um die Verbreitung von Diskursen, das Zusammenspiel der daran beteiligten Akteure und ihre Außenwirkungen zu verstehen. Solche Ressourcen haben nicht notwendig (nur) diskursinternen Ursprung; sie konstituieren sich im Zusammenspiel von Diskursen, Sprechern und Publikum. Symbolisches Kapital bspw. kann sicherlich in strategischer Absicht aufgebaut werden; ob dies funktioniert, hängt jedoch auch von den Adressaten, dem Publikum, den allgemeinen "Kapitalverteilungen" (Pierre Bourdieu) in einem Diskursfeld ab. Die Frage, wie viele unterschiedliche Diskurse in einem Diskursfeld um die Phänomenkonstitution ringen, muss empirisch und theoretisch geklärt werden: Je tiefer die Analyse in einen spezifischen Diskurs eindringt, desto größer ist wahrscheinlich die Zahl unterscheidbarer Subdiskurse. Ausschlaggebend ist hier die vor dem Hintergrund der Fragestellung theoretisch zu bestimmende Abstraktionsebene rur die jeweilige ,Einheit' eines Diskurses. Dies kann das institutionell-organisatorische Setting sein: Von Diskursen lässt sich, wie bei Foucault, vergleichsweise leicht anhand wissenschaftlicher Disziplinen oder spezifischer religiöser Bekenntnisse sprechen. Dort sind Sprecherpositionen klar bestimmt (etwa durch Ausbildung, Qualifikationskriterien, Glaubensbekenntnisse). Öffentliche Diskurse haben demgegenüber eine diffusere Sprecherstruktur und andere Regeln der Formulierung legitimer Inhalte, die den Funktionslogiken der Massenmedien folgen: Es mögen Journalisten, Politiker, Bewegungsaktivisten, Wissenschaftler, Unternehmer, Popstars u.a. sein, die durch ihr symbolisches Kapital oder ihre institutionelle Position legitimiert bzw. anerkannt sind, Beiträge dazu liefern. Deswegen gewinnt hier die thematische Referenz eines Diskurses stärkere Bedeutung. Letztlich geht es aber bei der Bestimmung jedes Diskurses um eine Analyse von situierten Aussagepraktiken mit thematischen Referenzen. Öffentliche Protestdiskurse bspw. im Bereich der Umweltpolitik lassen sich in ihrer themenspezifischen Karriere zurückverfolgen bis zur ersten massenmedialen Berichterstattung. Auch die Entwicklung wissenschaftlicher, medizinischer oder therapeutischer Diskurse ist rekonstruierbar. Die Fragen nach dem wer, wie, wann und wo sind rur ein Verständnis der Formationsregeln, ihrer Veränderungen und Effekte, ihrer Struktur usw. von Bedeutung. So zeigt die Analyse öffentlicher Diskurse über das Hausmüllproblem in der Bundesrepublik Deutschland, dass dieses schon vor dem Entstehen der Umweltbewegung ein kontrovers diskutiertes Thema in den Massenmedien war, an dem sich unterschiedliche Akteure - Bundesministerien, Wirtschaftsverbände, Behörden, Kommunen usw. - beteiligten (Keller 1998). Diskurse verbreiten sich - werden verbreitet!409 - in mehr oder weniger regulierten und anonymisierten Kommunikationsprozessen, unter Zuhilfenahme unterschiedlichster Ressourcen: über Diskussionsveranstaltungen, Massenmedien (Filme, Reportagen, Nachrichten, Feuilletons, Talkshows, Internet u.a.), Ratgeberliteratur, Gesetzestexte und sonstige Regelwerke, über Fachbücher und Belletristik oder professionell-therapeutisches Handeln, über politische Aushandlungsprozesse, Demonstrationen sozialer Bewegungen und wissenschaftliche Auseinandersetzungen. Bei der Untersuchung öffentlicher Diskurse stehen meist die Berichterstattung in den Massenmedien, parlamentarische Veranstaltungen sowie Wenn davon gesprochen wird, eine Diskurs ,tue' dies oder das, so ist dies immer ein Kürzel fur den Zusammenhang von Struktur, Akteuren und Praxis im Sinne der zugrunde liegenden Dualität von Struktur, oder, anders formuliert, für die Wechselbeziehung zwischen der objektivierten Wirklichkeit und den Artikulationspraktiken der Akteure.
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die darauf bezogenen Aktivitäten engagierter Akteure im Vordergrund. Max Weber (1978) analysierte in seiner "Protestantischen Ethik", die als Diskursanalyse gelesen werden kann, religiöse Ratgeberliteratur für Rezepte methodischer Lebensführung. Wissenschaftliche Spezialdiskurse zirkulieren in entsprechenden Fachmagazinen, -publikationen und tagungen. Die wissenssoziologische Diskursforschung kann über die interview- und textbasierte Analyse von Aussageereignissen und deren Kontexten hinaus in einer vertiefenden Diskursethnographie einzelne Diskursereignisse einer detaillierten Rekonstruktion unterziehen.
4.4.2 Wie werden Phänomene konstituiert? Diskurse produzieren und prozessieren Deutungszusammenhänge, die Wirklichkeit in spezifischer Weise konstituieren. Dies hat Folgen für die Diskursforschung, insbesondere fur die Datenerhebung: Wenn Gegenstände durch Diskurse erst in ihrer spezifischen, erkennbaren Gestalt geschaffen werden, kann nicht einfach vom Gegenstand ausgehend ein Diskurs erschlossen werden. Ein ähnliches Problem besteht bei der Rede von "Themen" als Identifikationsmarker und Kriterium fur die Einheit eines Diskurses (Knoblauch 200la), da Themen diskursspezifisch sehr unterschiedlich behandelt werden können. Die Identifikation der Daten fur eine Diskursanalyse ist deswegen ein eher offener Suchprozess in verschiedene Richtungen, der sich immer nur vorläufig an Themen, Referenzphänomenen, Schlüsselbegriffen usw. orientieren kann. Denn ein wesentliches Ziel der Diskursforschung ist ja gerade die Beantwortung der Frage, welche(s) Wissen, Gegenstände, Zusammenhänge, Eigenschaften, Subjektpositionen usw. durch Diskurse als ,wirklich' behauptet werden, mit welchen Mitteln - etwa Deutungsschemata, Klassifikationen, Phänomenstrukturen, story lines, moralische und ästhetische Wertungen - dies geschieht, und welche unterschiedlichen Formationsregeln und -ressourcen diesen Prozessen zugrunde liegen. Die sprachpraktische Wirklichkeitskonstruktion in Diskursen funktioniert über Differenzbildungen und Bedeutungs- bzw. Sinnverkettungen. Mit anderen Worten: sie enthält immer auch im- oder explizite Ausschließungen anderer Deutungsmöglichkeiten, Abwertungen konkurrierender Positionen, Positionierungen von Handlungsträgern, Bezüge zu weiteren unterstützenden Konzepten usw. Diskursproduzenten sind bemüht, Lesarten eines Diskurses anzuleiten und liefern dazu appellierende, kommentierende oder bilanzierende Texte. Diskurse verbreiten Positionierungsvorschläge für soziale Handlungsträger und bieten Subjektpositionen fur potenzielle Adressaten bzw. Publika an. So zeigt Waldschmidt (1996), wie der humangenetische Beratungsdiskurs der Experten seine Klientel als Subjekte mit spezifischen Qualitäten und Bedürfnissen defmiert, auf die seine Angebote passgenau zugeschnitten sind. In der Diskurstheorie und -forschung haben insbesondere Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie daran anschließende Arbeiten den Blick auf solche Identitätsmarkierungen in Gestalt von Differenzbildungen - z.B. nach dem Muster eines positivierten, die Adressaten einbeziehenden ,Wir' gegenüber negativierten ,Anderen' - in politischen Diskursen gerichtet (vgl. Kapitel 3.3.2). Die Frage nach den Deutungsstrukturen, die in einem Diskurs aufgebaut und im zeitlichen Verlauf stabilisiert oder modifiziert werden, fuhrt auch zur Analyse der eingesetzten sprachlich-rhetorischen Mittel im Hinblick auf Strategien und Mechanismen der Resonanzerzeugung in einem soziokulturellen Kontext: Wie werden Emotionen geweckt? Welche
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Vergleiche werden gezogen, um zu überzeugen? Arbeitet ein Diskurs mit Fachsprache, verfremdenden Mitteln der Abstraktion, mit Polemisierungen? Und inwieweit handelt es sich dabei um Besonderheiten eines spezifischen Diskurses? So bedürfen Fachdiskurse in der Regel der Übersetzung in andere Sprachspiele und narrative Formen, wenn sie öffentliche Aufmerksamkeit finden und gesellschaftliche Wirkung entfalten sollen. Bspw. hat in der öffentlichen Auseinandersetzung über Klirnaveränderungen der Gebrauch der Treibhaus-Metapher die breite Rezeption eines spezifischen Klimadiskurses beschleunigt (Viehöver 2003a).
4.4.3
Was sind die Machtwirkungen der Diskurse?
Diskurse existieren als tatsächlicher Sprachgebrauch in historisch-institutionell situierten Aussageereignissen und in der materialen Gestalt von Dispositiven. Die "machtwirkungen" (Jürgen Link) eines Diskurses erscheinen in seiner ,innerweltlichen Objektivierung' bspw. in Gestalt materialer Objekte (Gebäude, Technologien etc.), Praktiken (z.B. des Strafvollzugs, der Müllbehandlung) und Texte (Gesetzesbeschlüsse, formalisierte Handlungsanleitungen u.a.). Dispositive beziehen sich einerseits reflexiv auf die Diskursproduktion selbst oder greifen andererseits unter spezifizierbaren Bedingungen in die Praxisfelder ein, die ein Diskurs zu seinem Gegenstand erklärt. Gerade Foucault hat immer wieder auf die Trennung und das Zusammenspiel von Diskursen und Praktiken aufmerksam gemacht, angefangen bei entsprechenden Gesetzestexten über die Einrichtung von institutionellen Bearbeitungsroutinen bis hin zur architektonischen Gesamtheit eines Gebäudes, z.B. eines Gefangniskomplexes. Gleichzeitig betont er die Möglichkeit und das Vorkommen relativ unabhängiger und je eigendynamischer Entwicklungen von Diskurs und Praxis. 4lO Zunächst sind daher die Ebenen der Entwicklung von Praktiken und Diskursen getrennt zu behandeln. Es ist zum einen eine Frage der theoretischen und empirischen Anstrengung (und Fantasie), ob und wie rekonstruiert werden kann, dass Diskurse dann entsprechende Zusammenhänge herstellen bzw. organisieren. Zum anderen muss Diskursanalyse auch mit der Möglichkeit rechnen, dass Diskurse keine bzw. nur minimale Machtwirkungen über ihre eigene (Re)Produktion hinaus entfalten. Was jeweils die diskursinternen oder externen bzw. gesellschaftlichen Ursachen für unterschiedliche Wirkungsweisen sind, ob eine Typik solcher Prozesse beobachtet werden kann - dies alles sind Fragen, die erst im Vergleich unterschiedlicher diskursiver Formationen und Praxisfelder diskutiert werden können (vgl. 4.4.5).
4.4.4 Diskurse und Alltagswissen Eine weitere mögliche Akzentuierung der Fragestellungen einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse richtet sich auf die Prozesse der Rezeption und Auseinandersetzung mit den diskursiven Deutungsangeboten in praktischen Handlungskontexten, alltäglich-IebensVgl. Foucault (1973; 1974a,b) mit Blick auf Diskurse, Foucault (1977; 1989a,b,c) mit stärkerer Betonung von Praktiken. Inga Truschkat (2007) hat im Rückgriff auf die Wissenssoziologische Diskursanalyse eine Analyse des "Kompetenzdiskurses" und seiner Bedeutung für Bewerbungsgespräche vorgelegt. 410
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weltlichen Kommunikationsprozessen und auf der Ebene des Alltags- oder JedermannWissens. 411 So fmden sich in innerfamiliären Aushandlungen einer gerechten Teilung der Hausarbeit Argumente feministischer Gleichheitsdiskurse. Auseinandersetzungen über die ,richtige' Erziehung der Kinder enthalten Versatzstücke aus naturwissenschaftlichen und pädagogischen Diskursen, die über unterschiedliche Verbreitungskanäle in den Massenmedien zirkulieren. Stammtischgespräche karikieren neoliberale ökonomische Diskurse usw. Diskursorientierte Perspektiven können den Blick mithin darauf richten, wie Alltagswissen, Alltagsrepräsentationen oder "subjektive Sinnwelten" einschließlich der entsprechenden Praktiken durch Prozesse diskursiver Wissenserzeugung und Vermittlung mitgeformt werden. Diese Mit-Formung betrifft nicht nur die ,kognitive Ebene', sondern reicht bis in mehr oder weniger bewusste Routinen, Körperpraxen und intime Körpererfahrungen hinein, wie bspw. Jackson/Scott (2007) im Hinblick auf den weiblichen (und männlichen) Orgasmus argumentieren. Die Subjekte des Alltags sind in ihrer Lebenspraxis keine Marionetten diskursiv geformter Denk- und Handlungsanleitungen. Sie agieren vielmehr als mehr oder weniger kreativ-interpretierende "Sinnbastler" (Ronald HitzIer) im gesellschaftlichen Kontext unterschiedlichster diskursiver Felder und Auseinandersetzungen. 412 Allerdings setzt die Verfolgung solcher Fragestellungen, will sie nicht vorschnell Stereotypen (re-) produzieren, die Kenntnis und Analyse entsprechender Diskurse und eine genaue Untersuchung der jeweiligen Alltagsphänomene voraus. 413
4.4.5
Typen diskursiver Formationen
Als letzte Möglichkeit diskursbezogener Fragestellungen möchte ich abschließend auf den systematischen Vergleich diskursiver Formationen hinweisen (vgl. Kapitel 4.2.5). Ein solcher Vergleich kann sich auf historisch diachrone Abfolgen von Diskursregimen beziehen oder gleichzeitig bestehende Diskursformationen in einem binnenstaatlichen, trans- oder internationalen Bezugsrahmen untersuchen. Er setzt zunächst voraus, dass sich über einzelne Diskurse und Diskursfelder hinaus Typen von Diskursen konstruieren lassen. Kriterien einer solchen Typenbildung liefern die unterschiedlichen Formationsregeln von Diskursen, die der Unterscheidung von wissenschaftlichen, religiösen, ökonomischen, politischen Diskursen etc. zugrunde liegen. Mögliche Gruppierungen lassen sich auch entlang der Zusammensetzung von Diskurskoalitionen oder der institutionellen Settings vornehmen. Auf der Grundlage solcher Typenbildungen können dann Hierarchie-, Wechsel- und Ignoranzverhältnisse zwischen diskursiven Formationen sowie Transformationen der gesellschaftlichen Wissensverhältnisse beschrieben und erklärt werden. Beobachtbar werden 411 Solche Fragen wurden - allerdings nur selten mit Rekurs auf den Diskursbegriff - im Rahmen der in Kapitel 2.4. diskutierten Studien zur Verwendungsforschung bearbeitet. Vgl. dazu auch den Exkurs zur Ethnographie der Diskurse weiter oben. Erste Studien aus dem Kontext der Hermeneutischen Wissenssoziologie, die solche Fragestellungen verfolgen, sind Poferl (2004), Niehaus/Schröer (2004) und Christmann (2004). 412 Vgl. am Beispiel des Verhältnisses von Umweltdiskussion und ökologischer Alltagspraxis Poferl (2004); der erwähnte eigen-willige Umgang mit Diskursen ist ein wichtiges Thema der Cultural Studies (s.o. Kapitel 3.3.3). Jackson/Scott (2007) betonen die Dringlichkeit der Ergänzung poststrukturalistischer Foucaultscher Perspektiven um Ansätze des Symbolischen Interaktionismus, um Körpererfahrungen angemessen zu analysieren. 413 Die empirische Umsetzung der kritischen Diskursforschung setzt hier zwar an, erweist sich jedoch in dieser Hinsicht als defizitär (vgl. Kapitel 3.3.1).
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auch gesellschaftliche Aufeinanderfolgen diskursiver Regime, bspw. unterschiedliche hegemoniale Situationen öffentlicher Diskursfonnationen, Konjunkturen von stärker dramatisierenden, moralisierenden oder ,faktenbezogenen' Diskursverhältnissen, die Mischungen von explizit konflikthaften bzw. eher hannonistisch-hegemonialen Diskurslagen u.a. Der internationale Vergleich solcher Diskurskonfigurationen leistet einen wichtigen Beitrag zur Erklärung unterschiedlicher Entwicklungen der Wissensverhältnisse moderner Gesellschaften. Die Analyse der Erosion nationalstaatlich gebundener Diskursregime (die man als ,Wissensnationen' bezeichnen könnte; vgl. Kap. 5) durch die Entstehung transnationaler Diskurse kann zeigen, ob, inwiefern und rur welche Wissensbereiche sich ein entsprechender kosmopolitischer Bereich der Phänomenkonstitution entwickelt, der seinerseits die nationalen Wissensverhältnisse in ihrer Autonomie und ihrem Bestand in Frage stellt. 4.5 Methodologie Abschließend zu den Ausruhrungen des vorliegenden Kapitels möchte ich noch kurz auf die zentralen methodologischen Implikationen und Prämissen des Ansatzes eingehen. Der vorgestellte Fragenkatalog deutet schon darauf hin, dass die Diskursforschung multimethodisch ansetzt und unterschiedliche Daten und Zugänge - unter bestimmten Fragestellungen auch quantifizierende Vorgehensweisen - in Beziehung setzt. Die Auswahl der konkreten Erhebungs- und Analyseverfahren muss in Abstimmung mit den spezifischen diskurstheoretischen Grundannahmen und den Forschungsinteressen erfolgen. Die Knappheit von Ressourcenausstattungen, d.h. Personal-, Zeit- und Geldmangel, aber in vielen Fällen auch die (Un-)Möglichkeiten des Datenzugangs zwingen zu Einschränkungen und Schwerpunktbildungen im Forschungsprozess. Nur in seltenen Ausnahmefällen - wenn überhauptkann das gesamte Spektrum der genannten und möglicher weiterer Fragen im Rahmen eines einzigen Forschungsvorhabens bearbeitet werden. Deswegen lässt sich kein Standardmodell fiir alle Fälle der Wissenssoziologischen Diskursanalyse vorstellen. Guilhaumou (2003) betont zu Recht, dass gerade die Nicht-Standardisierung und Offenheit diskursanalytischer Vorgehensweisen Spielräume der Kreativität und Chancen rur überraschende neue Erkenntnisse erst möglich macht. Im Zentrum des Vorgehens stehen überwiegend textfonnige Daten, d.h. ,natürliche' Aussageereignisse bzw. deren Protokolle. Als interpretative Analytik (Dreyfus/Rabinow 1987) kombiniert die Wissenssoziologische Diskursanalyse eine analytisch genaue Zerlegung von Aussageereignissen mit Schritten ihrer henneneutisch reflektierten und kontrollierten Interpretation. Da Diskursanalysen notwendig henneneutische Ansätze sind, rur die die Welt das "Ensemble der durch Texte eröffueten Bezüge" (Ricoeur 1978: 90) darstellt und sie sich unabkömmlich im "Paradigma der Textinterpretation" (Ricoeur 1977, 1978) bewegen, implizieren sie selbst da Textauslegungen, wo sie sich in erster Linie auf fonnale Strukturen oder materiale Praktiken konzentrieren. Die Verankerung der Diskursanalyse im Kontext der Henneneutischen Wissenssoziologie bedeutet, dass ForscherInnen über ihren Forschungsprozess reflektieren und Auswertungsstrategien wählen, die methodisch kontrollierbar Vorurteile ausschließen sowie die argumentativ begründete Erzeugung und Selektion von Textinterpretationen erlauben. Insoweit vollzieht die Wissenssoziologische Henneneutik wie die neuere sozialwissenschaftliche Henneneutik überhaupt unabdingbar einen Prozess der Text-Dekonstruktion, also seiner analytischen Zerlegung und Rekon-
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struktion, auch wenn dies nicht in dem philosophisch-emphatischen Sinn gemeint ist, mit dem Jacques Derrida diesen Begriff eingefuhrt hat (Derrida 1990a; Culler 1999). Dies schließt nicht aus, auch quantifizierte Daten einzusetzen, mit denen Aussagen über Typisches kontrolliert, Verbreitungsgrade von Diskursen zugänglich gemacht, Ressourcen eines Diskurses analysiert werden können. Die nachfolgenden methodologischen Erläuterungen beziehen sich im Einzelnen auf • • • • •
die Selbstreflexivität und den Konstruktivismus der Diskursforschung als Diskurs über Diskurse (4.5.1), den Anspruch der verstehenden Rekonstruktion und der Erklärung diskursiver Verläufe und Effekte sowie die damit einhergehenden Begründungsanforderungen (4.5.2), ihren unhintergehbaren Charakter als Interpretationsarbeit (4.5.3), den Einsatz und die spezifische Adaption qualitativer Methoden (4.5.4) und ihre über die Erfassung von Texten hinausgehenden Datengrundlagen (4.5.5).
4.5. I Ein Diskurs über Diskurse: Selbstreflexivität und Konstruktivismus
Die Wissenssoziologische Diskursanalyse zeichnet sich wie alle diskursorientierten Ansätze durch ein Verhältnis der Selbstreflexivität aus. So wie die Wissenssoziologie nicht nur die Standortgebundenheit und soziale bzw. kommunikative Konstruktion von Wissen untersucht, sondern selbst ein Prozess der standortbezogenen sozialen und kommunikativen Konstruktion von Wissen ist, so fuhrt auch die Diskursforschung in ihren unterschiedlichen Anwendungen selbst einen bzw. zahlreiche Diskurse über Diskurse, die sich nach den Regeln der jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen ausrichten. 414 Hier wie da lässt sich dem Problem der Selbstbezüglichkeit nicht durch ,unkonventionelle' Schreibstrategien entgehen, wie das Teile der in Kapitel 2.2.3 vorgestellten Wissenschaftsforschung versucht harten. 415 Startdessen ist zum einen auf die insbesondere von Pierre Bourdieu wiederholt eingeforderte Selbstreflexion der Forschenden im Hinblick auf die Standorte, Zwänge und Vorurteile ihres eigenen Diskurses zu verweisen (z.B. Bourdieu/Wacquant 1996). Darüber hinaus handelt es sich bei der Diskursforschung um Beobachtungsperspektiven auf andere Diskurse, deren Resultate sich über methodisch kontrollierte Zugangsweisen begründen müssen, sofern sie sich der Auseinandersetzung über ihr ,Zutreffen', ihre Berechtigung und ihren Erkenntniswert im Prozess der weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen stellen wollen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse schließt so an eine u.a. von Jo Reichertz formulierte Position an: "Eine reflexiv gewordene Wissenssoziologie ist ein gutes Gegengift gegen gedankenlosen Empirismus, theorieloses Forschen und Meßinstrumentengläubigkeit. Sie ist jedoch keinesfalls ein Vorwand oder gar eine theoretische Begründung für methodische und methodologische Beliebigkeit. (...) Denn es ist keineswegs gesagt, daß mit der Unhintergehbarkeit der Perspektivität von Erkenntnis der Weg für wohlforrnulierte Beliebigkeit eröffnet ist. Diesseits dieser fruchtlosen Alternative von ,Alles-oder-Nichts' erstreckt sich eine weite Region von Aussagen, die weDaraufverweist insbesondere Bublitz (I 999a, 2001). Ein Echo finden diese Strategien in den Debatten über die Möglichkeiten einer postempiristischen Ethnographie (Berg 1999).
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Die Wissenssoziologische Diskursanalyse orientiert sich, wie die Henneneutische Wissenssoziologie insgesamt, an folgenden, im Anschluss an Reichertz (1999: 332ft) zusammengefassten Leitideen: • • • • • • •
Die von ihr getroffenen Aussagen über einen Untersuchungsgegenstand müssen begründet werden (können). Sie stellen sich einer bewertenden Einschätzung im Hinblick auf ihre Angemessenheit und ihr Zutreffen (deren letzter unerreichbarer Fluchtpunkt die Differenz von wahr und falsch bleibt). Verfolgt wird eine Haltung des methodischen Zweifels und der Ernsthaftigkeit in der Bearbeitung der Forschungsfragen. Sie unterstellt, dass soziale Akteure keine Marionetten sind, sondern aktiv Handelnde, die sich an Deutungen orientieren. Sie zielt auf die Rekonstruktion von typisierbarem und typisiertem Sinn. Sie rekurriert dabei, soweit möglich und erforderlich, auf natürliche Daten. Sie speist damit eine neue Deutung in die Wissensverhältnisse einer Gesellschaft ein.
Die zusätzlichen Hinweise auf die Unhintergehbarkeit abduktiver Schlüsse durch Reichertz (2002) implizieren, dass auch in der qualitativen (Diskurs-)Forschung die vollständige Transparenz und Kontrolle der Vorgehensweisen eine uneinholbare Messlatte bleibt. Sowohl Aussagen über einzelne Daten als auch generalisierende Hypothesenbildungen und Schlussfolgerungen müssen ausargumentiert und begründet werden. Grundlegend lassen sich dabei Grenzziehungsprobleme von Fragen der Geltungsbegründung unterscheiden. Als Grenzziehungsprobleme bezeichne ich verschiedene Entscheidungssituationen, die bei der Datengewinnung empirischer Untersuchungen auftreten. Dazu zählen insbesondere das Problem der Bestimmung von Untersuchungszeiträumen und -gegenständen, die Fragen der Eingrenzung und des Zusammenhangs des auszuwertenden Materials und das Problem der Zuordnung von Dokumenten/Praktiken bzw. einzelnen Inhalten zu Diskursen. Die verschiedenen Schritte der Dateninterpretation müssen im Hinblick auf die Geltungsansprüche einer Untersuchung begründet werden. Im Einzelnen handelt es sich dabei bspw. um die Entscheidung zwischen verschiedenen Vorgehensweisen bei der Feinanalyse, um die Relationierung heterogener Datengrundlagen bzw. die Triangulation unterschiedlicher methodischer Zugänge, den Schluss von Einzeldokumenten auf Diskurse, das Problem der Sättigung des Analyseprozesses - wann ist alles Wichtige erfasst? - und schließlich um den Prozess der theoretischen Abstraktion und Interpretation, also der Fonnulierung von Aussagen über den gesamten Diskurs und die Bedeutung der Ergebnisse. 417 Wie die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, sind die Fragen der Selbstreflexivität und des Konstruktivismus der Wissenssoziologischen Diskursanalyse eng miteinander 416 417
Vgl. Geertz (1983: 42t); innerhalb der Henneneutischen Wissenssoziologie auch Hitzier (1999: 302ft). Vgl. Reichertz/Schröer (1994); Keller (2003a); Flick (2002: 317ft).
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verknüpft. Zeitgleich mit dem expliziten Bekenntnis der Wissenssoziologie zum Konstruktivismus in den 1960er Jahren haben die Diskurstheorien ebenfalls eine entsprechende konstruktivistische Position eingenommen (Burr 1997).418 Konstruktivismus bedeutet keine Flucht aus der Wirklichkeit und ihrer mitunter schmerzlichen Materialität, auch wenn manche diskurstheoretische Studien solche Assoziationen wecken bzw. zeigen, dass eine gewisse Gefahr der ,Entwirklichung' oder des ,Diskursidealismus' besteht. 419 Diskurse sind zunächst ja tatsächlich und materialiter stattfindende Sprachhandlungen und Kommunikationsprozesse, die (bestreitbare) Aussagen und Wissensbestände prozessieren. Die konkrete Existenz der Diskurse und Dispositive wird also vorausgesetzt - keineswegs bestritten. Die involvierten Akteure greifen auf unterschiedliche Ressourcen (rhetorische Mittel, Kapitalien, institutionelle Mechanismen u.a.) zurück und sind in praktisch-symbolische Kämpfe um die Legitimität bzw. die Geltungsansprüche ihrer Beiträge bemüht. Hajer (1997) hat eine solche Diskursperspektive als "institutionellen Konstruktivismus" bezeichnet. Konstruktivismus bedeutet als Grundhaltung eines diskurstheoretischen und -analytischen Programms, die Analyse auf die gesellschaftliche Herstellung der ,Ordnung der Dinge' im Medium der diskursiven Wissenspolitiken zu richten, also die Kontingenz der symbolischen Ordnung zum Ausgangspunkt der Fragen nach denjenigen Prozessen zu machen, die sie in vorübergehend fixierte Kristallisationen und Strukturzusammenhänge transformiert. Dabei wird weder die Widerständigkeit von Wirklichkeit noch die unabhängig von Sinnzuweisungen bestehende Existenz von physikalischen Phänomenen und Prozessen geleugnet, wohl aber die Zulässigkeit eines naiven Objektivismus bestritten, der die Herstellung von Fakten ausblendet und bei seiner Berufung auf deren Geltung übersieht, welche Bedeutungs-Unterstellungen er immer schon voraussetzt. ,Realistisch' ist eine Wissenssoziologische Diskursanalyse also insoweit, wie sie einem ,schwachen Realismus' im Sinne der pragmatistischen Tradition anhängt. Diese verzichtet auf die Annahme, dass Sprache dem Wesen der Dinge entspricht, unterstellt aber sehr wohl, dass Benennungen, Bedeutungszuschreibungen, Aussagen über die Faktizität von ,Tatsachen' unterschiedlichsten Evidenz- und Konsistenzprüfungen unterliegen und sich praktisch-pragmatisch bewähren können und müssen. Diese Position vertritt im Grundsatz bereits der Symbolische Interaktionismus im Anschluss an die pragmatistische Erkenntnistheorie (Blumer 1981). Es kann also nicht alles über alles in beliebiger Weise und handlungspraktisch erfolgreich gesagt und getan werden. Entsprechend sind Gewichtungen oder Bewertungen von Diskursen durchaus möglich (Hacking 1999; Schetsche 2000). Doch die Kriterien der Beurteilung von Evidenzen, Bewährungen, Inkonsistenzen sind ihrerseits Teil von Diskursen - in diesem Sinne gibt es kein Entkommen aus dem Netz der Bedeutungen. 42o Bezogen auf die frühe Wissenssoziologie könnte man schon bei Fleck von einem expliziten Konstruktivismus sprechen. Aber auch Marx, Durkheim oder Mannheim vertreten implizit konstruktivistische Argumente (vgl. Kapitel 2). 419 Vgl. dazu schon das in KapiteI2.1.1 erwähnte Zitat, mit dem MarxJEngels einen solchen Vorwurf gegen den Idealismus ihrer Zeit richten; zur Beständigkeit dieser Einwände vgl. Hacking (1999) und Edwards/Ashmore/ Potter (1995). 420 Vgl. auch Darier (1999). In der soziologischen Diskussion über den Wirklichkeitsstatus sozialer Probleme besteht ein ähnlicher Sachverhalt, seit solche Probleme als soziale Konstruktionen und Karrieren untersucht werden und diskutiert wird, ob die Soziologie dann konsequenter Weise darauf verzichten müsse, Aussagen zur tatsächlichen Existenz von Problemlagen zu formulieren (Schetsche 2000). Vergleichbare Fragen beschäftigen viele Auseinandersetzungen um die Erkenntnismöglichkeiten des sozialwissenschaftlichen Konstruktivismus. Ich 418
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4.5.2 Verstehen und Erklären Das Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse zielt in Analogie zu einer Formulierung, mit der Hans-Georg Soeffuer (1999) das Anliegen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie beschreibt, auf die Rekonstruktion der diskursiven Konstruktion der Wirklichkeit. Ein solches Vorhaben impliziert ein Moment des Verstehens und ein Moment des Erklärens, die beide jedoch als miteinander, verwickelte' Elemente der wissenschaftlichen Rekonstruktion gelten können. Rekonstruiert und verstanden werden sollen zunächst die Erscheinungsweisen und Verläufe der jeweils untersuchten Diskurse. Dieser Schritt der Diskursanalyse richtet sich auf die Regeln, Akteure und Inhalte der Diskursproduktion. Er erfasst die Mechanismen der Diskursformation in Gestalt eingesetzter kommunikativer Gattungen, institutioneller Strukturierungen von Sprecherpositionen, die Ausfüllung dieser Rollen durch tatsächliche ,Sprecher', die Konstruktion des Wissens und der Welt, die sie dabei vornehmen, die Kontexte und Diskursfelder, in die Diskurse einbezogen sind, die Veränderungen der Diskurse, die Diskursverläufe und -effekte, die daraus bzw. zwischen konfligierenden Diskursen entstehenden Dispositive der Weltintervention u.a. Eine solche Rekonstruktion impliziert einerseits eine typisierende Deskription, andererseits einen Prozess der Dekonstruktion. Von typisierender Deskription lässt sich sprechen, weil' es nicht um die Beschreibung der Einmaligkeit diskursiver Ereignisse geht, sondern um das Herausarbeiten typischer ,Diskursgestalten" allgemeiner Regeln, Aussagen, Subjektpositionen, Entwicklungen und Maßnahmen. Um einen Prozess der Dekonstruktion im oben erläuterten Sinne handelt es sich deswegen, weil Aussageereignisse in einem Vorgang interpretativer Erschließung zerlegt, auf allgemeinere Kategorien bezogen, auf Muster befragt, auf Konsistenzen, Implikationen u.a. geprüft, also einem kontrollierten Schritt der konstruktiven methodischen De- und Restrukturierung ausgesetzt werden. Erklärungen oder besser: Erklärungshypothesen formuliert die Wissenssoziologische Diskursanalyse in zweierlei Richtung: Zum einen beabsichtigt sie, bezogen auf Diskurse, die Formulierung von Annahmen über Gründe und Zusammenhänge für die rekonstruierten Diskursentwicklungen. Zum anderen geht es um Erklärungen der gesellschaftlichen Folgen oder Effekte von Diskursen. Für beide Erklärungsebenen können verschiedene diskursimmanente oder diskursexterne Faktoren bedeutsam sein. Dazu zählen etwa Konsistenzen der Deutungsproduktion in Diskursen und Erfolge der Stabilisierung sowie Anerkennung der Diskursproduktion, institutionelle Konventionen und Dynamiken gesellschaftlicher Praxisfelder, sozialstrukturelle Entwicklungen und gesellschaftliche Kontexte, divergierende bzw. konfligierende Interessen sozialer Akteure mit unterschiedlichen Diskursressourcen sowie gesellschaftliche Macht- bzw. genauer: Herrschaftsbeziehungen u.a. Die Konzentration auf Diskurse impliziert also keinen Verzicht auf die Analyse von Interessen, Strategien, Macht- bzw. Herrschaftsverhältnissen oder sozialstrukturellen Faktoren. Sehr wohl muss sie, um die Produktion und die Wirkung der Worte zu analysieren, institutionelle Rahmenbedingungen, Sprecherressourcen und -positionen etc. berücksichtigen. Ohne die Einseitigkeiten der kritischen Diskursforschung zu übernehmen, kann die wissenssoziolofolge dem von Hacking (1999) im Anschluss an Andrew Pickering formulierten Plädoyer für Robustheitsprüfungen. Es gibt ,Evidenzgeneratoren und -irritationen' für soziale Konstruktionen. Das hat Alfred Schütz in seinen Analysen der pragmatisch motivierten Auslegungsroutinen des Alltagshandelns sehr schön beschrieben (Schütz) Luckmann 1979).
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gische Analyse von Diskursen gerade danach fragen, wie Interessen mit Deutungen - und letztere wiederum mit Praktiken - verkoppelt werden und inwiefern sich die Rede von Interessen selbst als Deutung und Diskurs erweist. Gerade hierin liegt ein besonderer Anreiz des soziologischen Zugangs. Erst eine soziologische Perspektive kann so auch die Sprachzentriertheit der bisherigen Diskursforschung überwinden, gerade weil sie im Unterschied zu sprachwissenschaftlich fundierten Ansätzen in der Lage ist, das von Foucault angesprochene Geruge diskursiver Fonnationen nicht nur textimmanent, sondern über verschiedene Datenfonnate und methodische Triangulationen erschließen zu können. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse steht also zwischen den Extremen eines marxistischen Ideologieverdachts, der bereits vor der Analyse die Interessensgebundenheit und Funktionalisierung der Wissenszirkulation kennt, einerseits, eines ethnomethodologischen Verzichtpostulats andererseits, das nur gelten lässt, was in einer Interaktion, in einem konkreten Kommunikationsereignis getan und zum Thema wird. Sie entbindet damit nicht von der Verpflichtung zur sorgfältigen Rekonstruktion und Vorsicht gegenüber vorschnellen Pauschalerklärungen rur diskursive Prozesse. Zugleich wird darauf bestanden, dass Diskursforschung über entsprechende Generalisierungen und die Berücksichtigung ,diskursexterner' Faktoren Beziehungen zur allgemeinen Soziologie herstellen muss, wenn sie venneiden will, klassifikatorisch-beschreibend Diskursverlauf an Diskursverlauf zu reihen. Nur dadurch kann eine Wissenssoziologische Diskursanalyse als Programm der sozialwissenschaftlichen Theorieentwicklung, Erkenntnisproduktion und Gesellschaftsanalyse erfolgreich auf Dauer gestellt werden. 421 4.5.3 Diskursforschung ist Interpretationsarbeit
Diskursanalyse ist immer und notwendig ein henneneutischer Prozess der Textauslegung. Die Auseinandersetzung um die Methoden der Diskursforschung war zunächst durch strukturalistische Attacken gegen ,die' Henneneutik und einen damit explizit verknüpften Überlegenheitsanspruch standardisierter Analyseverfahren meist linguistischer bzw. lexikometrischer Herkunft gegenüber den ,unkontrollierten' henneneutisch-interpretativen Vorgehensweisen geprägt. Sie reproduzierte insoweit einen wissenschaftlichen Machtkampf im Frankreich der 1960er Jahre (vgl. Kapitel 3.1.2). Vor allem die französische analyse du disco urs trat mit dem Anspruch an, über automatisierte quantifizierende Auswertungsverfahren den subjektiven Faktor des Forschers auszuschalten und damit eine genuin wissenschaftliche und objektive Textanalyse erst zu begründen (Williams 1999; Guilhaumou 2003). Doch nicht zufällig gilt dieses Programm in seiner Radikalität als gescheitert, und ebenso wenig ist es ein Zufall, dass Dreyfus/Rabinow (1987) den Foucaultschen Ansatz als "interpretative Analytik" bezeichnet haben, also als einen Ansatz, der Interpretation und analytisches Vorgehen zusammenbringt. Diskursanalysen implizieren selbst da Bedeutungsauslegungen, wo sie sich auf fonnale Strukturen, Dinge oder Praktiken konzentrieren. Auch die erwähnte analyse du disco urs versteht sich nunmehr vielfach als "interpretative Disziplin" (Guilhaumou 2003). Wie die sozial konstruktivistische Wissenssoziologie im Allgemeinen beinhaltet auch die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Besonderen weitreichende sozial- bzw. gesellschaftstheoretische Bezüge. Vgl. zur Diskurstheorie als Gesellschaftstheorie auch Bublitz (1999a, 2001).
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Von Hermeneutik oder Interpretation zu sprechen, bedeutet im Zusammenhang der Diskursanalyse nicht die Suche nach den subjektiven, möglicherweise verborgenen Absichten eines Textautors oder nach seinem Klassenstandpunkt. Es geht auch nicht darum, einem Aussageereignis eine ,wahre', ,absolute' bzw. ,objektive' Bedeutung zuzurechnen. Die neuere sozialwissenschaftliche Hermeneutik beschäftigt sich im Anschluss an die Arbeiten von Hans-Georg Soeffner (1989) mit den Möglichkeiten und Strategien der methodischen Kontrolle von Interpretationsprozessen. Sie wird in genau dieser Hinsicht für die Diskursforschung relevant (Keller 2005a). Sicherlich gibt es - wie schon Ricoeur (1977, 1978) feststellt - keine festen Regeln und kein Rezeptwissen mit Erfolgsgarantie für die Entwicklung überzeugender Deutungshypothesen. Vielmehr spielen abduktive Schlüsse, also Ideen, Einfalle, Geistesblitze, die aus der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Datenmaterial entstehen, eine wichtige Rolle (Reichertz 2002). Konkurrierende Interpretationen und alternative Vorgehensweisen sind immer möglich und - in gewissen Grenzen, mit guten Gründen - legitimierbar. Gerade darin liegt, wie Ricoeur betont, auch die Chance der Generierung ,besserer' Interpretationen. Dennoch - wenn Soziologie empirische Wissenschaft, nicht aber Roman oder Reportage sein will, ist der Anspruch an die prinzipielle Offenlegung und Nachvollziehbarkeit der Interpretationsschritte aufrecht zu erhalten. Dies wiederum erfordert eine methodische Systematik des Vorgehens und gilt unabhängig davon, ob subjektive oder kollektive Wissensvorräte bzw. die diese anzeigenden oder dokumentierenden Formen der Entäußerung untersucht werden. Hier schließt die Wissenssoziologische Diskursanalyse an die qualitative Sozialforschung im Rahmen der Sozialwissenschaftlichen Hermeneutik an: "Die Methodik der qualitativen Sozialforschung zielt also mit ihren besonderen Verfahren der Datenerhebung wie der Datenauswertung darauf, die wissenschaftliche Rekonstruktion (von) Wirklichkeitskonstruktionen zu systematisieren und zu kontrollieren. Die qualitativen Methoden sind dabei weniger als Rezepturen denn als Sensibilisierungen für typische Probleme - wie Adäquanz, Stimmigkeit, Zuverlässigkeit, Gültigkeit und Überprüfbarkeit - des Forschungsprozesses zu begreifen." (HitzlerlHoner 2002: 758)422
4.5.4 Die Adaption qualitativer Methoden Die Diskursforschung stützt sich überwiegend auf natürliche Daten, also mündliche, schriftliche, audiovisuelle Aussageereignisse, beobachtbare Praktiken, seltener auch materiale Objekte aus dem Untersuchungsfeld. Zusätzlich werden durch Interviews oder Fokusgruppen, auch durch fokussierte Ethnographie u.a. neue Daten erzeugt. Welchen Umfang das empirische Material haben sollte, um gültige Aussagen über den oder die spezifisch interessierenden Diskurs(e) zu treffen, ergibt sich aus den verfolgten Fragestellungen bzw. muss im Hinblick darauf begründet werden. Generell lässt sich das zusammengestellte Material unter zwei Gesichtspunkten betrachten. Zum einen dient es der Information über das Feld. Zum anderen liegt es als Dokument der Rekonstruktion der Diskurse, ihrer materialen sowie sprachlichen Mittel und ihrer inhaltlichen Bedeutungen zugrunde. Dabei muss der Stellenwert der analysierten Dokumente im Hinblick auf den oder die Diskurs(e) begründet werden. Das zusammengetragene Material fungiert als diskursinterner oder disDas Zitat wurde von mir geringfilgig modifiziert: im Original ist von "alltäglichen Wirklichkeitskonstruktionen" die Rede. Vgl. dazu die Ausführungen im Anschluss an Reichertz (1999) in Kapitel 4.5.1.
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kursexterner Kontext zu den detailliert untersuchten Einzeldaten. Wie die Arbeit am einzelnen Text vollzogen wird, ob beispielsweise sequenzanalytische Vorgehensweisen, die Methode der dokumentarischen Interpretation oder Verfahren kontrollierter Kategorienbildung zum Einsatz kommen, und wie sie mit Beschreibungen formaler Strukturen sowie externen Kontextdaten verknüpft werden, kann nicht ex cathedra festgelegt werden. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse begreift Texte, Praktiken oder Artefakte nicht als Produkte subjektiver oder objektiver Fallstrukturen, sondern als Manifestationen gesellschaftlicher Wissensordnungen und -politiken. Sie bilden die wichtigste Grundlage einer wissenssoziologischen Rekonstruktion der diskursiven Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte. Der Gegenstand Diskurs erfordert jedoch eine spezifische Adaption der vorliegenden Methoden qualitativer Sozialforschung und Textauswertung in zweierlei Hinsicht (vgl. Keller 2004, 2007):423 •
•
Ein wichtiger Unterschied zwischen Diskursanalysen und anderen Ansätzen der interpretativen oder qualitativen Sozialforschung liegt in der Annahme textübergreifender Verweisungszusammenhänge in Gestalt von diskursiven Strukturen der Aussageproduktion. Einzelne Aussageereignisse stehen nicht für einzelne ,Typen' (wie bspw. in der Biographieforschung); sie bilden nicht notwendig nur einen Diskurs - und diesen auch noch vollständig - ab. Entsprechend müssen verschiedene Feinanalysen solcher Daten zueinander in Beziehung gesetzt und Diskurse daraus sukzessive rekonstruiert werden. Diese Aggregation von Einzelergebnissen zu Aussagen über ,den' Diskurs markiert den zentralen Unterschied zu den meisten qualitativen Ansätzen, die pro Text (in der Regel Interviews) von einer in sich konsistenten und geschlossenen Sinn- oder Fallstruktur ausgehen, d.h. einen Text als vollständiges Dokument genau eines Falles betrachten. Typisch für die diskursanalytische Perspektive auf ,natürliche' Texte ist gerade die Annahme des heterogenen und partiellen Vorkommens diskursspezifischer Elemente. Wissenssoziologische Diskursanalysen stehen vor dem Problem großer Textsammlungen. Die qualitativen Verfahren der Datenanalyse kommen meist bei kleinen Textmengen zum Einsatz und eignen sich nur bedingt für die umfangreichen Textkorpora der Diskursforschung. Sie müssen deswegen an diskursanalytische Forschungsinteressen angepasst werden. Analysen sind sowohl qualitativ rekonstruierend als auch (zuweilen) quantifizierend-messend angelegt. Quantifizierende Zugänge rekonstruieren zunächst an einzelnen Texten Kategorien, die zur Grundlage inhaltsanalytischer Codierbögen für größere Textrnengen werden. Qualitative Ansätze benützen verschiedene Strategien der Korpusreduktion wie z.B. die Auswahl von Schlüsselstellen, Schlüsseltexten oder die theoriegeleitete Reduktion des Materials im Anschluss an die grounded theory, um einen bearbeitbaren Datenumfang zu erhalten.
Vgl. HitzlerlHoner (1997), SoeffnerlHitzler (1994), Soeffner (1979, 1989), (Hitzier 2000), HitzlerlReichertzl Schröer (l999a), Bohnsack (1999), Flick (2002), FlicklKardorfflSteinke (2000), GarzlKraimer (1991), Schröer (1994), Aufenanger/Lenssen (1986).
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4.5.5 Mehr als Textanalyse Bislang untersucht die Diskursforschung - unabhängig davon, welches diskursanalytische Paradigma betrachtet wird - nahezu ausschließlich Texte: Bücher, Gesetze, Gerichtsurteile, Flugblätter, Informationsbroschüren, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Interviews, Gesprächsaufzeichnungen u.a. Die Konzentration auf schriftlich fixierte Daten folgt verständlicherweise und begründet aus ihren zentralen Fragestellungen. Daneben greifen Diskursanalysen zu Informations- und Interpretationszwecken auf unterschiedliche Formen des Kontextwissens und zugängliche Materialien über das Forschungsfeld - wissenschaftliche Sekundärliteratur; verrugbares Allgemeinwissen etc. - zurück, um ihre Fragestellungen zu bearbeiten. Die Fokussierung auf Texte, die rur die qualitative Sozialforschung insgesamt gilt, ist jedoch in mehrfacher Hinsicht ergänzungs- oder erweiterungsbedürftig. Angesichts der enormen Bedeutung von audiovisuellen Medienformaten und -inhalten (Fernsehen, Film, Fotografie, Comics, Werbung) werden sich wissenssoziologische Diskursanalysen zukünftig stärker mit der Analyse und Interpretation solcher Daten befassen müssen. Dabei können Anschlüsse an die Cultural Studies hilfreich sein. Eine vergleichbare Erweiterung diskursanalytischer Perspektiven erfordert der Einbezug von nichttextformigen, aber gleichwohl bedeutungstragenden Bestandteilen von Dispositiven sowie der Praxisfelder, auf die Diskurse treffen. Für die Soziologie ergibt sich eher als in den Geschichtswissenschaften die Möglichkeit, die Produktion und Rezeption von Diskursen in actu zu erfassen und zu analysieren. Sie kann sich dazu verschiedener Beobachtungs- und Protokollmethoden, Formen der Gesprächsaufzeichnung sowie darauf bezogener Analysestrategien bedienen. Dadurch wird die Vermeidung text- oder gesprächsidealistischer Fehlschlüsse von ,dem' Diskurs auf ,die' Praxis erleichtert. Im Sinne der Triangulation (Flick 2002: 330ft) geht es darum, unterschiedliche methodische Perspektivierungen eines Untersuchungsgegenstandes in Beziehung zu setzen. Methodisch lässt sich hier an die sozialwissenschaftliche Tradition umfassender Fallstudien anschließen. 424 4.6 Bilanz Im vorliegenden Kapitel wurde die Grundlegung einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse in runf Schritten vorgenommen. Zunächst hatte ich erläutert, inwiefern die bisherige Hermeneutische Wissenssoziologie ein Defizit der sozialkonstruktivistischen Wissenstheorie von BergerlLuckmann - die Konzentration auf ,Jedermann-Wissen' - aufgreift und sowohl in ihrer theoretischen Programmatik wie auch in ihren empirischen Forschungen verlängert. Diese einseitige Akzentuierung des wissenssoziologischen Programms folgt nicht zwingend aus der ursprünglichen Theorie. Die dort formulierten Überlegungen zur gesellschaftlichen Objektivierung, Institutionalisierung und Legitimation von kollektiven Wissensvorräten stellen im Gegenteil ein breites Fundament rur die soziologische Analyse kollektiver Wissensverhältnisse zur Verrugung. Aus Foucaults Diskurstheorie wurden dann die zentralen Elemente einer diskurstheoretischen und diskursanalytischen Perspektive gewonnen, an denen die Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ansetzt. Vgl. die Vorschläge zur methodischen Umsetzung in Keller (2004), zur Filmanalyse die Hinweise bei Christmann (2004: 71ft).
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Diese verstehe ich als Ergänzung und Weiterführung der Henneneutischen Wissenssoziologie. Von einer Ergänzung kann gesprochen werden, weil dadurch der Bereich institutioneller bzw. diskursiv strukturierter gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und -politiken als Bestandteil der wissenssoziologischen Fragestellungen bestimmt und eröffuet wird. Um eine Weiterführung handelt es sich insofern, als die Henneneutische Wissenssoziologie dadurch gezwungen ist, in Auseinandersetzung mit anderen wissensanalytischen Programmatiken ihre eigenen Begrifflichkeiten und Perspektiven zu reflektieren und gegebenenfalls zu modifizieren. Insgesamt geht es darum, die wissensanalytische Orientierung der Diskursperspektive aufrecht zu erhalten und nicht durch die Analyse von Sprachgebrauch zu ersetzen (Keller 2006). In der vorliegenden Arbeit habe ich dies im Hinblick auf das Verhältnis von Zeichen, Typen und Diskursuniversum, die Beziehung zwischen Diskurs und diskursiven Ereignissen, das Verständnis von sozialen Akteuren, Sprecher- und Subjektpositionen, den Begriff der Praktiken sowie die Relationierung von diskursiven Fonnationen, Spezialdiskursen und öffentlichen Diskursen ausgeführt. Daran anschließend wurden die wichtigsten Arbeitsbegriffe der Wissenssoziologischen Diskursanalyse vorgestellt: ihr Verständnis von Diskurs, Akteuren, Praktiken, Dispositiven, Phänomenkonstitutionen etc. Damit sind - ohne Anspruch auf Endgültigkeit und Vollständigkeit - zentrale konzeptionelle Vorschläge fonnuliert. Da ich die Wissenssoziologische Diskursanalyse als offenes und empirisches Forschungsprogramm begreife, ist sie in dem Maße zu Weiterentwicklungen und Fortschreibungen des entfalteten Vokabulars gezwungen, wie dies sich aus den Annahmen einer datenbasierten Theorie- und Konzeptbildung im Rahmen der Bearbeitung konkreter Forschungsfragen als notwendig erweist. Das gilt in gleicher Weise für die exemplarisch hergeleiteten Forschungsfragen und die Diskussion methodologischer Implikationen. Auch hier handelt es sich um orientierende Vorschläge, die im Zuge der empirischen Umsetzung des anvisierten Programms komplettiert und modifiziert werden können und müssen. Mit diesen Überlegungen schließe ich die Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse im Rahmen der vorliegenden Studie ab. Im nachfolgenden Kapitel 5 diskutiere ich am Beispiel gesellschaftlicher Risikodiskurse, wie eine solche Perspektive auf den sozialen Wandel moderner Gesellschaften als Veränderung von gesellschaftlichen Wissensverhältnissen im Medium von Wissenspolitiken bzw. Diskursen und schließlich als soziokulturellen Transfonnationsprozess gerichtet werden kann.
5 Diskurse und Sozialer Wandel
Im vorangehenden Kapitel 4 habe ich die Grundlagen sowie das Forschungsprogramm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse entwickelt. Bereits in der Einleitung und in verschiedenen Teilkapiteln der vorliegenden Arbeit wurde darauf verwiesen, dass die Wissenssoziologie im Allgemeinen und die Wissenssoziologische Diskursanalyse im Besonderen ein bislang nicht genutztes, aber hilfreiches Instrumentarium zur Verfiigung stellen, um die soziologischen Gegenwartsdiagnosen der Wissensgesellschaft, der Kommunikationsgesellschaft u.a. empirisch zu untersuchen. Diese These möchte ich im Folgenden exemplarisch erläutern. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse analysiert gesellschaftliche Definitions- bzw. Wissensverhältnisse und die sich darin entfaltenden Wissenspolitiken sozialer Akteure als Diskurse, d.h. als historisch spezifische und spezifizierbare Prozesse und Praktiken im Medium sprachvermittelter Auseinandersetzungen. Sie nähert sich damit den Formen des sozialen Wandels, die in gegenwärtigen Zeitdiagnosen behauptet werden, auf der Ebene einer soziokulturellen Transformation der gesellschaftlichen Wissensregime. 42S Sozialer Wandel ist fiir Individuen und Organisationen nicht nur ein "Handlungsproblem" (HitzIer 2000; Poferl 2004), sondern ebenso sehr und vielleicht sogar primär ein Deutungsprob/ern. Ich schlage deswegen vor, sozialen Wandel als soziokulturellen Transformationsprozess zu begreifen, der durch Diskurse vermittelt wird. Dies betrifft nicht nur die mit dem Konzept der Wissensgesellschaft meist angesprochenen Transformationen des Verhältnisses von Sozialstruktur, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, sondern auch bspw. Identitätspolitiken und lebensstilbezogene Kämpfe um Anerkennung, also diejenigen Prozesse, die Giddens (199 Ia: 209ft) unter dem Begriff der "Iife politics" zusammenfasst. Dazu gehört auch die Ablösung nationalstaatlich organisierter Diskurs- und Wissensordnungen - das, was man als Wissensnation 426 bezeichnen könnte - durch entsprechende transnationale Formationen und Öffentlichkeiten, der Wandel von ökonomischen Leitbildern (Boltanski/Chiapello 1999), die Veränderungen der Relationierung von Natur und Kultur in den gegenwärtigen Biopolitiken427 oder die Herausforderung an etablierte WisDie in Kapitel 3.2 angesprochene Gouvernementalitäts-Forschung verfolgt im Anschluss an Foucault ähnliche Interessen, konzentriert sich jedoch auf die Formen und Veränderungen der Subjektkonstitution, die mit biopolitischen Wissensfeldern, ökonomischen und staatlichen Transformationen einhergehen und als Herrschaftseffekt begriffen werden. 426 Diese spezifische Wissenskonfiguration ließe sich im Rekurs auf Jürgen Links Konzept des "Normalismus" (Link I997) als normalisierende und normalisierte nationalstaatliche Konfiguration der Binnenbeobachtung begreifen. "Normalismus" bezeichnet eine normative Überhöhung erfasster statistischer Durchschnittswerte, also den Fehl-Schluss von der ,Normal'verteilung auf das, was als "normal" zu gelten habe und zur Grundlage des institutionellen Gefüges wird. Verschiedene Beiträge in Laborierrrrom (2003) rekonstruieren die Formierung nationalstaatlicher Wissensverhältnisse, vgl. etwa die Analyse von Zimmermann (2003) über die Entstehung und Implikationen der deutschen Arbeitslosenstatistik. Der Begriff der Wissensnation ist demjenigen der ,Sozialnation' nachempfunden. Ich danke Angelika Poferl für den Hinweis auf das letztere Konzept. 427 Der gegenwärtige Gebrauch des Begriffs der 'Biopolitik' schließt meist an Foucaults Konzept der Bio-Macht an (Foucault 1989a; Dreyfus/Rabinow 1987; FeherlHeller 1995). Aktuelle Diskussionen beziehen sich auf unter425
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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sensregime, die von den sozialen Bewegungen ausgegangen sind und noch ausgehen (Melucci 1996; Nash 2000). 1m vorliegenden Kapitel greife ich aus den möglichen Gegenstandsbereichen einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse die umwelt- und technikpolitischen Konfliktfelder heraus. Dabei handelt es sich um ein bevorzugtes Thema der neueren soziologischen und politikwissenschaftlichen Diskursforschung seit Anfang der 1990er Jahre. Kapitel 5.1 stellt zunächst im Rekurs auf zentrale Studien die wichtigsten Ergebnisse der Umweltdiskursforschung zu allgemeinen Charakteristika und Veränderungen von Diskursverhältnissen vor. Daran anschließend und im Rückgriff auf einige der in Kapitel 4 formulierten Kategorien entwickle ich in Kapitel 5.2 eine theoriegeleitete Interpretation der öffentlichen Dynamik der Risikodiskussion als Zusammenspiel von katastrophischen Ereignissen, etablierten Wissensverhältnissen und herausfordernden Diskursen. Es handelt sich hierbei nicht - das möchte ich ausdrücklich betonen - um die Vorstellung einer exemplarischen empirischen Diskursanalyse. Ein solches Unternehmen würde den Umfang der vorliegenden Studie übersteigen. Vielmehr argumentiere ich vor dem Hintergrund empirischer Untersuchungen, um zu zeigen, wie aus einer entsprechenden Diskursforschung verallgemeinerbare Hypothesen über Prozesse des sozialen Wandels jenseits der Ergebnisse von Einzelstudien gewonnen werden können. 428 Die Dynamik der Risikodebatten setzt unter Bedingungen ihrer massenmedialen Vermittlung und jenseits der einzelnen Diskursverläufe spezifische Logiken des Wandels von Wissensregimen und damit der soziokulturellen Transformation frei. Dabei wird der Zusammenhang von Diskursen und sozialem Wandel deutlich: Spezifische Ereignisse generieren Gelegenheitsstrukturen, in denen gesellschaftliche Wissensverhältnisse durch diskursiv formierte Wissenspolitiken sozialer Akteure herausgefordert werden. Ob und wie daraus Transformationen der Wissensregime, der symbolischen und institutionellen Ordnungen entstehen, hängt wesentlich von Zulassungschancen zu den Arenen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und von dem Beharrungsvermögen der bestehenden Institutionengefuge ab. 1m abschließenden Kapitel 5.3 resümiere ich die Ausfuhrungen unter dem Begriff einer Politik der Diskurse, deren Untersuchung Gegenstand einer allgemeinen Wissenssoziologischen Diskursanalyse des sozialen Wandels wäre.
5.1 Eine neue Grammatik der Verantwortlichkeit Seit den 1960er Jahren ist es den verschiedenen Umweltbewegungen gelungen, im Rahmen zahlreicher Risikodiskurse (Lau 1989), also gesellschaftlicher Definitionskonflikte über Art, Ausmaß, Betroffenheiten, Verantwortlichkeiten in Umwelt- und Technikkontroversen, wie sie insbesondere in den westlichen Industriestaaten gefuhrt wurden, einem spezifischen
schiedlichste Bereiche der Genforschung, der Reproduktionsmedizin und der Biodiversität. Vgl. dazu bspw. Geyer (2001), Heins/Flitner (1998), Fox Keller (1998), Gottweis (1998), Waldschmidt (1996), Schneider (1999). 428 Diese Studien arbeiten meist mit Diskursbegriffen im Anschluss an Foucault, die Social Studies of Science und das interpretative Paradigma bzw. allgemeiner den angelsächsischen Kontext des Sozialkonstruktivismus. Sie besitzen zahlreiche Affinitäten zum hier entwickelten Programm der Wissenssoziologischen Diskursanalyse und haben seine Ausarbeitung teilweise beeinflusst.
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"Motivvokabular" (Charles W. Mills) - der Sorge um Natur 429 - breite öffentliche Resonanz zu verschaffen. Diese Auseinandersetzungen haben zunächst mit dem, was man ,Natur-Gesellschafts-Interaktionen' nennen könnte, einen neuen Phänomenbereich konstituiert, der bis dahin weitgehend außerhalb der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit lag. Gewiss bauen alle Gesellschaften auf den materialen Austauschbeziehungen und Stoffflüssen zwischen Natur und Gesellschaft auf. Die umwelt- und risikopolitischen Auseinandersetzungen haben jedoch die wechselseitigen Gefährdungsbeziehungen bzw. insbesondere die menschliche Selbstgefährdung durch die gesellschaftliche Überformung von Natur in ihren Mittelpunkt gestellt. In diesem Zusammenhang entstanden neue Wissensgebiete, soziale Akteursgruppen und institutionelle Dispositive. Zugleich wurde damit eine neue Grammatik der individuellen und kollektiven Verantwortlichkeit konstituiert, die verschiedene Parameter - das Vorsorgeprinzip, die Sorge um zukünftige Generationen, einen globalisierten Verantwortungsbezug, das Nachhaltigkeitsprinzip u.a. - umfasst und etliche institutionelle Neuerungen und Wissensfelder mit sich brachte. 430 In den Begriffen der Diskursanalyse handelt es sich hier bspw. um neue Subjektpositionen fur Individuen und soziale Kollektive. Beide werden als fur Umweltprobleme mehr oder weniger verantwortliche Akteure mit spezifischen Handlungspotenzialen konstituiert, wobei deutliche Tendenzen zur Individualisierung von Kollektivverantwortungen beobachtbar sind (Poferl 2004).431 Als zentrales Konzept fur die entsprechenden Debatten und institutionellen Mechanismen fungiert der Risikobegriff, der seit den Studien über "Risk and Culture" (Douglas/Wildavsky 1982), "Risikogesellschaft" (Beck 1986) und die "Soziologie des Risikos" (Luhmann 1991) breite soziologische und gesellschaftliche Anwendung findet. In historischen Untersuchungen haben Ewald (I993) oder Bonß (I995) gezeigt, wie ,Risiko' als abgrenzbares Wissensmodell entstanden ist und zur Grundlage von Versicherungstechnologien wurde, die fur den praktischen Umgang mit ,Risiken' ein Handlungsmodell zur Verfugung stellten. 432 Angesprochen sind damit spezifische Wissensverhältnisse der modemen Gesellschaften. Mitchell Dean, einer der Protagonisten der Gouvemementalitätsforschung, sieht in der Untersuchung der Risiko-Regime eine zentrale Aufgabe gegenwärtiger Wissensanalysen. Aus der Perspektive der Govemmentality Studies bestehe die kritische Aufgabe der Sozialwissenschaften darin, "(to) investigate the different modes of calculation of risk and the moral and political technologies within wh ich such calculations are to be found. Most importantly, it will investigate what I would call the 'regime of govemment' in which risk is imbricated and the political programmes and social imaginaries that deploy risk and its techniques and draw their inspiration from it. Diese Sorge um Natur ist kein (oder zumindest nicht nur) Selbstzweck, sondern geht einher mit der Sorge um körperliche Gesundheit bzw. Unversehrtheit der körperlichen Natur des Menschen. Insoweit könnte man im Aufgreifen einer Formulierung Foucaults (1989c) von der Sorge um Natur als ,Sorge um sich' sprechen. 430 Vgl. dazu bspw. Latour (l995a), Lamontrrhevenot (2000) sowie die detaillierte sprachwissenschaftliche Analyse des Umweltdiskurses als "cultural discourse" bei HarrelBrockmeierlMühlhäusler (1999). 4J1 Ein exemplarisches Beispiel dafiir ist die Individualisierung der Abfall-Verantwortung (Keller 1998: 248ft). 432 Vgl. zur sozialwissenschaftlichen Risikodebatte einführend Lupton (1999), zur umfangreichen historischsystematischen Aufarbeitung der Genese moderner Risikokonzepte auch Bernstein (1997). Die soziologische Risikoforschung hat in den vergangenen Jahrzehnten eine beeindruckende Bandbreite empirischer Untersuchungen vorgelegt (vgl. die Überblicke in Japp 2000; Grundmann 1999a, BanselBechmann 1998; Bechmann 1997; Johnson/Covello 1987; Kron/Krücken 1993; Krimsky/Golding 1992; als Fallstudie bspw. ChateauraynaudfTorny 1999). 429
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Diskurse und Sozialer Wandel What is important about risk is not risk itself, but the forms of knowledge that make it thinkable from statistics, sociology, and epidemiology to management and accounting, the techniques that discover it from the calculus of probabilities to the interview, the social technologies that seek to govem it from risk screening, case management and social insurance to situational crime prevention, and the political rationalities and programmes that deploy it, from those that dreamt of a welfare state to those that imagine an advanced liberal society of prudential individuals and communities." (Dean 1998: 25)433
So kann die Risikogesellschaft als eine Form der Wissensgesellschaft, ihre Analyse als eine Aufgabe der Wissenssoziologie begriffen werden. Auch Ulrich Beck hatte mit seiner in Kapitel I erwähnten Forderung nach einer Analyse der "Definitionsmachtverhältnisse" der Risikogesellschaft die Wissensverhältnisse zum zentralen Gegenstand soziologischer Analyse erhoben (Beck 1988: 24; 21lff).434 Tatsächlich liefert die umwelt- und technikbezogene Diskursforschung der letzten Jahrzehnte die empirische Wissenssoziologie der Definitionsverhältnisse, die Dean oder Beck einfordern. Karen Litfin (1994) begründet die Prominenz der Diskursansätze innerhalb dieses Forschungsfeldes mit der gewachsenen Bedeutung des Wissens in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über Risiken und Gefahren. 435 Politikwissenschaftliche Forschungen beschäftigen sich in diesem Zusammenhang in erster Linie mit Fragen nach dem Verhältnis von Ideen, Wertvorstellungen, Deutungsmustern u.a. zu strategischem Handeln und Machtpositionen in Umweltkonflikten. Soziologische Studien konzentrieren sich stärker auf die Prozesse der Wirklichkeitskonstruktion in solchen Auseinandersetzungen. 436 Herbert Gottweis fasst die Implikationen eines diskursanalytischen Zuganges zu diesen Themenbereichen exemplarisch zusammen: "For social scientists the most important analytic message of poststructuralism may be the need to pay careful attention to the complicated ways in which language and discourse are used to constitute social, economic, scientific, or political phenomena, to endow them with meaning, and to influence their operation. Accordingly, 1 interpret the genetic engineering controversy as Dean fonnuliert dies als kritischen Einwand gegen das Konzept der Risikogesellschaft, das zu wenig auf die Wissensregime achte. Wie oben im Text gezeigt wird, ist dieser Vorwurfjedoch unbegründet. 434 "Was damit im einzelnen gemeint ist, läßt sich durch vier Fragen umreißen: (I) Wer - welche gesellschaftliche Instanz und Autorität - legt fest, wie hannlos oder gefahrenvoll Produkte und Nebenfolgen sind? Liegt die Verantwortung bei denjenigen, die Risiken erzeugen und die von diesen profitieren, oder bei denjenigen, die von ihnen aktuell oder potentiell betroffen sind, oder bei öffentlichen Akteuren? (2) Welche Art von Wissen oder Nichtwissen über Ursachen, Dimensionen, Akteure etc. wird dabei herangezogen bzw. als solches anerkannt? Bei wem liegen die Beweislasten? (3) Was gilt als ,hinreichender Beweis'? Und dies in einer Welt, in der notwendigerweise alles Gefahren- und Risikowissen sich immer in den Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitstheorie bewegt. (4) Im Falle, daß Gefahren und Zerstörungen erkannt und anerkannt werden, wer entscheidet über Haftungsfragen, über Kompensationen, Kosten für die davon Betroffenen und über angemessene Fonnen zukünftiger Kontrolle und Regulation?" (Beck 1999: 328) 435 Litfin (1994) fuhrt dies exemplarisch in ihrer Untersuchung der Rolle von "knowledge brokern" in den "OzonDiskursen" aus. Bislang liegen erst ansatzweise systematisierende Bilanzen dieser Forschungen (z.B. Hajer 2003a) vor. Darier (1999) versammelt verschiedene Beiträge aus dem Kontext der Gouvernementalitätsforschung. Dabei ist auffallig, dass auf der Ebene empirischer Untersuchungen die theoretischen Abgrenzungskämpfe keine große Rolle spielen. Darier (1999a) etwa verknüpft Überlegungen von Michel Foucault, Ulrich Beck und Klaus Eder (1988). Vgl. auch die Studien von MyersonfRydin (1996), Dryzek (1997), Ham\/BrockmeierlMühlhäusler (1999), für Hinweise auf weitere Diskursstudien zu Umweltdebatten Keller (1998). 436 Vgl. dazu die Beiträge auf der Hamburger Konferenz ,Does Discourse matter?' im Juni 2003. Die dortigen Vorträge und ihre Bibliographien enthalten zahlreiche weitere Verweise auf Studien zu den nachfolgend angeführten Gegenstandsbereichen (vgl. www.agchange.de). 433
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a process that was inseparable from the mapping - the social construction - of the political, economic and scientific worlds. I emphasize the importance of interpretations, framings and definitions in the construction of reality, subjectivity, and identity in the realms of science and politics. That is, I argue that there is a need to examine how discourses and narratives - stories that create meaning and orientation - constitute the policy field of genetic engineering. What are the parameters of state regulation? What counts as a rationale for state support? Who is constructed as a legitimate actor in an policy field? How is the boundary between state and civil society defined and regulated? Which strategies demarcate science from nonscience, and how does scientific knowledge contribute to the shaping of social identity?" (Gottweis 1998: 3)
Die von Gottweis angesprochenen Punkte werden in den diskursanalytischen Studien von Litfin (1994), Hajer (1995), Keller (1998), Viehöver (1997) oder Gottweis (1998) deutlich, die sich auf unterschiedliche Themenfelder der Risikokontroversen beziehen. Die Ergebnisse dieser Studien lassen sich wie folgt kurz bilanzieren: Litfin (1994) analysierte in einer detaillierten Fallstudie die Verhandlungen, die zum Montrealer Protokoll über Maßnahmen zum Schutz der Ozonschicht führten. Der Beschluss von Montreal gilt als erstes globales Abkommen zur Bekämpfung von Umweltproblemen. Entgegen verschiedenen offiziellen Lesarten der VerhandJungsprozesse und des Abschlussprotokolls zeigt Litfin, dass die festgelegten Bestimmungen schädigender Substanzen und die ausgehandelten Vorgehensweisen keineswegs aus einer unter Gesichtspunkten wissenschaftlichen Faktenwissens zwangsläufigen Problemanalyse resultierten. Vielmehr können die Aushandlungen als beständige Abstimmungsprozesse zwischen ,Interessen' und ,Wissen' beschrieben werden, in denen keine dieser beiden Größen unverändert bleibt, und in der ,Wissensagenten' bzw. "knowledge broker" eine zentrale Rolle spielen: "Jt became increasingly evident that ,knowledge' was not simply a body of concrete and objective facts but that accepted knowledge was deeply implicated in questions of framing and interpretation and that these were related to perceived interests. Although the range of uncertainty was narrow, atmospheric science did not provide a body of objective and value-free facts from wh ich international cooperation emerged. Rather knowledge was framed in light of specific interests and preexisting discourses so that questions of value were rendered as questions of fact, with exogenous factors shaping the political salience of various modes of interpreting that knowledge." (Litfin 1994: 6) Litfin konstatiert für den Ablauf der Verhandlungsprozesse insbesondere eine Dominanzverschiebung zwischen verschiedenen Diskursen, an deren Ende der vorher weniger bedeutsame ,VorsorgeDiskurs' eine Vorrangstellung erhält. 437 Hajer (1995; 1997) untersuchte die politischen Auseinandersetzungen über das Problem des Sauren Regens in Großbritannien und den Niederlanden. Für Großbritannien stellt er die Konkurrenz zwischen einem traditional-pragmatischen und einem ,öko-modernistischen' Diskurs fest, in deren Auseinandersetzung nach und nach zwar das Bestehen eines Problems ,Saurer Regen' öffentlichpolitisch anerkannt wird. Die politischen Regulationsmuster greifen jedoch auf eine traditionelle endof-pipe Lösungsstrategie (Rauchgasentschwefelung, Katalysatoren, Aufbereitungsanlagen für Gülle) zurück. Strategien antizipierender Vorsorge wurden zwar im Diskurs gefordert, aber nicht beschlossen. Demgegenüber kann für die niederländische Beschäftigung mit dem Problem des Sauren Regens kaum von einer Kontroverse gesprochen werden. Tatsächlich wird hier sofort und unisono die Existenz eines entsprechenden Handlungsbedarfs anerkannt; kontrovers sind dann jedoch die Mittel der Schadensbekämpfung. Hier stehen sich zwei Varianten apokalyptischer Warnungen gegenüber - ein zu schnelles Handeln gefährde das Wachstum, ein zu zögerliches Handeln gefährde die Umwelt. Im Endergebnis werden auch hier regulatorische Maßnahmen mit end-of-pipe-Charakter beschlossen: "Der Saure-Regen-Diskurs offenbart also ein Paradoxon. Während der Saure Regen letztendlich als 437
Vgl. dazu auch die Studie von Grundmann (1999b).
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eine allgemein akzeptierte programmatische Angelegenheit behandelt wurde und eine neue ,kognitive Wirklichkeit' erzeugte, die eine veränderte politische Vorgehensweise nahelegte, erbrachten die gewählten Lösungen keine materielle Umsetzung dieser neuen Sichtweise. Der Saure Regen wurde vielmehr mit äußerst pragmatischen Lösungen bekämpft. Hier stellt sich nun die Frage, ob ökologische Modernisierung am Ende überhaupt jemals mehr war als ein bloßes Set von story lines, eine rein diskursive ,Verzierung', während es doch die normalen institutionellen Routinen sind, die letztendlich die Art der Regulierung bestimmten. Obwohl sich eine solche Lesart zunächst aufdrängt, zeigt eine institutionell-konstruktivistische Betrachtung, daß dies den tatsächlichen empirischen Befunden nicht gerecht wird." (Hajer 1997: 113) Hajer interpretiert diese Diskrepanz zwischen diskursiver Problemkonstitution und beschlossenen Maßnahmen als Resultat der ,Mikro-Mächte' des Beharrungsvermögens der industriegesellschaftlichen Institutionen, die bemüht sind, neue Probleme und Anforderungen in ihre bekannten Routinen zu integrieren. In meiner eigenen Untersuchung öffentlicher Diskussionsprozesse über die Bewältigung des Müllproblems in Deutschland und Frankreich (Keller 1998) konnte ich zeigen, dass in Deutschland zwei Diskurse um die angemessene Problemdefinition konkurrierten. Diese Diskurse wurden als strukturkonservativer Diskurs einerseits, als kulturkritischer Diskurs andererseits bezeichnet. Beide Diskurse benutzten zu Mobilisierungszwecken katastrophische Szenarien, sei es der Wachstumsgefahrdung, sei es der Umweltzerstörung. Die Mobilisierungserfolge des kulturkritischen Diskurses zwangen seinen Gegenpart nach und nach zur Integration von Elementen der kulturkritischen Problemdefinition in die eigene Diskursposition. In Frankreich stellte sich die öffentliche Debatte über das Müllproblem von Beginn an als Präsenz eines hegemonialen, durch den Staat formulierten Diskurses dar, der ritualistisch die Problemkontrolle verkündete und gleichzeitig für Missstände zivilgesellschaftliche Akteure verantwortlich machte. In beiden Ländern wurden schließlich vergleichbare ,endof-pipe' ansetzende Maßnahmenbündel beschlossen, wobei die deutschen Regulierungen deutlich ,strenger' ausfielen. Ähnlich wie die Niederlande in der Studie von Hajer spielte hier Deutschland auf der europäischen Ebene die Rolle des ,Antreibers'. Vermittelt über die EU wurde im Falle des Sauren Regens Großbritannien, im Falle des Müllproblems Frankreich zu eigenen Maßnahmen gezwungen. 438 Viehöver (1997) untersuchte öffentliche Diskurse über Klimawandel und konnte nachweisen, dass sechs Diskurspositionen mit unterschiedlichen narrativen Potenzialen um die angemessene Probleminterpretation konkurrierten. Den Erfolg der Treibhaus-Position in der bundesdeutschen Öffentlichkeit sieht Viehöver im Wesentlichen in der überlegenen Resonanzfiihigkeit der narrativen Elemente dieser Erzählung selbst begründet. Demgegenüber war bspw. in Großbritannien zwischenzeitlich auch die ,Sonnenfleckentheorie' vergleichsweise verbreitet. 439 Herbert Gottweis (1998) hat sich in vergleichender Perspektive mit Diskursen und Regulationspolitiken in Bezug auf die Gentechnologie beschäftigt. Die Diskurskonstellationen in Großbritannien, Deutschland und Frankreich haben sehr unterschiedliche Regulierungsweisen der Gentechnologie erzeugt. In Großbritannien und Deutschland hätten - so Gottweis - aufgrund der spezifischen diskursiven Konstellation die sozialen Bewegungen einen vergleichsweise stärkeren Einfluss auf die Dringlichkeit einer Regulierung ausgeübt. Dies sei in Frankreich keineswegs der Fall gewesen. Gleichzeitig habe die starke Polarisierung zwischen Gegnern und Befürwortern in Deutschland ein hohes Misstrauensverhältnis zwischen den Protagonisten erzeugt. Demgegenüber sei die Basis für Verhandlungen in Großbritannien sehr viel besser gewesen. Hinter diesen kulturellen Differenzen stünden unterschiedliche Meta-Narrationen über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft. In allen drei Ländern seien jedoch neue Regulationssysteme entstanden, die sich um den ,Master-Signifier' des Vorsorgeprinzips organisierten und die Praxis der Gentechnologie stabilisierten. Gleichwohl sind die öffentlichen Debatten nicht abgeschlossen (ebd.: 320f):"A number ofstructural similarities in the riskregulation policy responses in Germany, France, and Britain have been considered. The evolving 438 439
Vgl. auch die weiteren Analysen zu Mülldebatten von Viehöver (2000) und die Hinweise in Keller (1998). Vgl. auch Viehöver (2003a), Ulbert (1996) und Weingart/Engels/Pansegrau (2002).
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policy narratives intermediated between the changed contexts of regulatory policymaking and the transformed discursive constellation by establishing a new system of regulation that, at its core, transIated a precautionary approach to genetic engineering as an integral element of biotechnology industrial policy and, at the same time, marginalized more radical positions (... ) from the field of social positivity. This demonstrates that policymaking attempts to establish hegemonic reality definitions not by eliminating opposition but by re-absorbing discourses of polarity into a system of 'Iegitimate differences' and by defining the locations where differences can be articulated. The demands of the critics were not rejected; they were partially absorbed and thus transformed from statements of antagonism into 'Iegitimate differences.' The Gesetz zur Regelung der Gentechnik and the British Environmental Protection Act document this strategy of splitting the resistance by separating an 'acceptable' critique from forms of resistance that could be removed from the field of social positivity and (potentially) vilified as expressions of irrationalism." (Gottweis 1998: 319f).440
Eine Querschnittsbetrachtung dieser und weiterer diskursorientierter Studien der Umweltund Risikoforschung verdeutlicht im Hinblick auf die darin sichtbar werdenden Veränderungen von Diskursverhältnissen mehrere Entwicklungen, die ich nachfolgend kurz erläutere. 441 Im Einzelnen handelt es sich dabei um • • • • •
Veränderungen der Rolle und Wahrnehmung des wissenschaftlichen Wissens in öffentlichen Diskursen (1), die Entstehung neuer Sprecherpositionen (2), die Multiplikation von Diskursarenen (3), die Unterschiedlichkeit länderspezifischer Diskursverhältnisse und Prozesse der Transnationalisierung von Diskursen (4), komplexe Beziehungen zwischen Diskursen und institutionellem Wandel (5).
(1) Die Uneindeutigkeit des wissenschaftlichen Wissens
Zunächst wird deutlich, dass in Umwelt- bzw. Risikokontroversen sowohl die Wissensbasis wie auch die Interpretation von Akteursinteressen und Interventionsstrategien verhandelbare Konstrukte sind. Wissenschaftliches Wissen fungiert dabei keineswegs als primäre Ressource der Schließung von Auseinandersetzungen, sondern als ein Konflikt- und Interpretationsfeld unter anderen. Gleichwohl sind die entsprechenden Auseinandersetzungen ohne wissenschaftliches Wissen überhaupt nicht zu ruhren. So kommt dieser Wissensform also eine ambivalente Rolle zu: Einerseits ist sie grundlegend und unabdingbar rur die von unterschiedlichen Diskurspositionen beanspruchte angemessene Beschreibung der, faktischen Realität' von Problemzuständen. Andererseits ,belegt' die Veröffentlichung wissenschaftlicher Kontroversen, dass unterschiedlichste Interessen in die Konstruktion und Interpretation wissenschaftlicher Fakten unauflösbar eingebunden sind. Exemplarisch verdeutlicht dies Litfins (1994) Analyse der "Ozon-Diskurse", in der die Autorin im Rückgriff auf ihre 440 Vgl. ergänzend die Diskursstudien im Feld der Gentechnologie von Waldschmidt (1996), Braun (2000), Lösch (200 I), Lernke (2002). 441 In historischer Hinsicht mögen die hier rur das Phänomen einer Etablierung der ,ökologischen Frage' getroffenen Feststellungen immer wieder beobachtbar sein (bspw. im Rahmen der frühen Auseinandersetzungen über die ,soziale Frage'), denn sie markieren zunächst einen Unterschied zu den je bis dahin bestehenden Merkmalen der Diskursregime.
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Forschungsergebnisse gegen Ansätze argumentiert, die von homogenen Staatsinteressen und eindeutigen Handlungsempfehlungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Problemdefinitionen ausgehen, wie etwa das Konzept der "epistemic communities" von Haas (1992).442 Diese Arbeit zeigt auch, dass wissenschaftliches Wissen in solchen Auseinandersetzungen nicht hinreicht, um diskursive Kontroversen zu beenden, zumindest nicht in dem Maße, wie noch in den Jahrzehnten zuvor auf Expertenwissen rekurriert wurde, um ,Sachprobleme' zu lösen. Viehövers (1997) Verweis auf sechs konkurrierende "KlimaErzählungen", die nicht nach klimawissenschaftlichen Kriterien verglichen und auf ein konsensuelles Modell reduziert werden können, deutet ebenfalls die Bedeutung von ,Ungewissheit' und ,Nicht-Wissen' in den entsprechenden Entscheidungsprozessen an, die mittlerweile Gegenstand soziologischer Analysen geworden sind (vgl. Pellizzoni 2003; Wehling 2001). Tatsächlich verweisen die Studien der Umweltdiskursforschung durchweg eher auf die politische Schließung von Entscheidungsprozessen trotz bestehender Uneindeutigkeit der wissenschaftlichen Interpretationen. Durch Umweltkontroversen wurde so nicht nur im Hinblick auf die ,Faktenbeschreibung', sondern auch bezogen auf Handlungsempfehlungen die Uneindeutigkeit des exakten Wissens auf die öffentliche Agenda gesetzt. Dies bedeutet keinen Verzicht auf wissenschaftliche Argumente (im Gegenteil!), aber eine Relativierung ihres Stellenwertes im politischen und diskursiven Prozess. Öffentliche Risiko-Diskurse sind hybride Gebilde, in denen wissenschaftliches Wissen und Sachargumentation mit Dramatisierungen von Problemdringlichkeiten und Moralisierungen des Handlungsbedarfs verknüpft werden.
(2) Neue Sprecherpositionen Ein weiteres Moment, das in der UmweIt- und Risikodiskursforschung deutlich wird, betrifft die Ausbildung neuer Sprecherpositionen. Bspw. zeigt meine eigene Untersuchung über die Genese und den Verlauf der öffentlichen Auseinandersetzungen über das Hausmüllproblem seit Mitte der 1960er Jahre, wie zunächst die Kritik der staatlichen Müllpolitik von Experten im Rahmen der etablierten institutionellen Kompetenzzuweisungen, d.h. im Feld zwischen Politik, Administration, Wirtschaft und Wissenschaft formuliert wird. Sehr schnell bilden sich jedoch mit der Abfallbewegung in Gestalt zahlreicher Initiativen und Vereine soziale Gruppen und Akteure aus, die sich entsprechende Sachkompetenzen aneignen und im Rahmen der öffentlichen Kontroversen neue Sprecherpositionen etablieren. Sie artikulieren ihre Positionen nicht im Namen spezifischer institutioneller Interessen, sondern treten als Repräsentanten einer engagierten Zivilgesellschaft in den öffentlichen Streit ein. Empirische Indikatoren dieses Prozesses liefern u.a. die Gründung der Partei Die Grünen, die Ausbildung von ökologischen Forschungsinstituten und Initiativen bis hin zu den heute etablierten Nichtregierungsorganisationen Greenpeace etc., die Gründung von eigenen Zeitschriften über Müllbehandlung, auch Demonstrationen, Medienberichterstattungen, Dokumente und Einladungen zu Diskussionsrunden. Diese Entstehung und Durchsetzung neuer Sprecherpositionen kann als Erosion etablierter moderner Diskursformationen begriffen werden, in denen Sprecherpositionen vergleichsweise eindeutig den jeweiligen Experten der Spezialöffentlichkeiten von Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft 442
Vgl. auch die Analysen zur Ozonloch-Debatte von Grundmann (I 999b).
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vorbehalten waren. Das eroberte und zugeschriebene symbolische Kapital der neuen Akteure, die ihnen attestierte Legitimität der Beteiligung an Problemdiskursen, ergeben sich nicht allein aus der Ressource universaler Moral oder Interessen, mit denen sie ihre Anliegen begründen. Sie folgen vielmehr auch aus ihrer Kapazität zur eigenständigen Ressourcenmobilisierung, die in der Generierung von wissenschaftlichem Problemwissen zum Ausdruck kommt. Solche Wissensressourcen bilden eine unabdingbare Grundlage der notwendig wissensbasierten Konfrontation und Herausforderung etablierter Deutungsweisen in Umwelt- und Technikkonflikten.
(3) Die Multiplikation der Diskursarenen Eng mit diesen Prozessen verbunden ist die Multiplikation von Diskursarenen. Dies ist nicht einfach eine technikinduzierte Folge der Explosion massenmedialer Verbreitungsformen bis hin zum zeitgenössischen Internet-Chat. Vielmehr bestand eine der politischen Reaktionen auf die skizzierte Entfaltung diskursiver Kontroversen in Umwelt- und Technikfeldern in der gezielten Einrichtung neuer Foren der Auseinandersetzung, angefangen bei Enquetekommissionen über Runde Tische, Konsensgespräche bis hin zu den unterschiedlichsten Mediationsverfahren oder Anhörungsprozeduren in konkreten Standortentscheidungen für technische Dispositive. 443 Dazu zählen auch die Gründung eigener Zirkulationsmedien für entsprechende thematische Auseinandersetzungen innerhalb der herausfordernden Risikodiskurse. Die neuen, netzwerkartig verbundenen Diskursarenen tragen in vielen Fällen keineswegs per se zur Schließung diskursiver Kontroversen bei, sondern regen zunächst die empirische Verstreuung von Artikulationen an, d.h. sie bieten Foren für die Aktualisierung konkurrierender Diskurse. 444
(4) Länderspezifische Diskursverhältnisse und Transnationalisierung der Diskurse Die verschiedenen international vergleichend angelegten Diskursanalysen - bspw. Hajers Untersuchung der Kontroverse um den Sauren Regen, Gottweis' Gentechnik-Studie oder meine eigene Untersuchung der Mülldebatten - zeigen, dass themen- und länderspezifisch unterschiedliche Diskurse bzw. Diskurskoalitionen um das legitime Wissen über und die Definition von Sachverhalten konkurrieren. Diese durch die nationalen institutionellen Traditionen und Akteurskonfigurationen geprägten Diskursverhältnisse erzeugen je spezifische Dynamiken von öffentlichen Auseinandersetzungen, Schließungen der Kontroversen und institutionellen Bearbeitungen der Gegenstandsbereiche. Unter Bedingungen des öffentlichen Diskurspluralismus, wie er für die bundesdeutsche Mülldebatte oder die niederländische Diskussion über Sauren Regen gilt, sind sukzessive Annäherungen der konkurrierenden Diskurspositionen feststellbar. Vgl. etwa Eder/BarthelDreyer (1996), Callon/Lascoumes/Barthe (2001). Dabei wurde oft auf das Habermassche Modell der Diskursethik rekurriert, das ein deliberatives Ablaufmodell fur Diskussionen zur Verfügung stellt (vgl. Keller/Poferl 2000; Kap. 3.1.3). 444 In der politikwissenschaftlichen Diskussion weist das Konzept der ,govemance' in eine ähnliche Richtung. Damit werden Prozesse der gesellschaftlichen Selbstregulierung durch Netzwerke unterschiedlichster Akteure bezeichnet, die an die Stelle herkömmlicher Steuerung durch Regierungssysteme treten (vgl. Schultze 2002). 443
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Die herangezogenen Untersuchungen belegen weiter einen Prozess der sozial-räumlichen Entgrenzung von Diskursen. Diskurse nehmen dabei nicht nur transnationalen Charakter an, sondern stellen selbst Weltereignisse und Transnationalität her. 445 Das dafur eindrucksvollste Beispiel der Umwelt- und Risikodiskussionen liefert sicherlich die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl einschließlich der grenzüberschreitenden RadioaktivitätsWolke, die, wie Poferl (1997) zeigt, eine sehr unterschiedliche diskursive Bearbeitung erfährt und dadurch entsprechend verschiedene ,Ereignisreichweiten' ausbildet (vgl. Kap. 5.2).446 Die Aufhebung etablierter sozialräumlicher Grenzziehungen kann sich auch, wie am Beispiel der von Litfin untersuchten Ozon-Diskurse oder dem von Viehöver u. a. analysierten Diskurs über Klima-Wandel deutlich wird, unmittelbar aus der Konstitution des betreffenden Gegenstandsbereiches, hier also: globalen Anliegen, ergeben. In anderen Fällen - bspw. in den Studien von Hajer oder Keller - ist es die ,kleinformatigere' Ebene transnationaler Stoffflüsse und Regulierungspolitiken, welche die diskursiven Grenzerosionen erzeugt, ohne gleich den gesamten Diskursen transnationalen Charakter zu geben. Die Diskurse über Klimawandel, Ozonloch, Sauren Regen oder Müllbeseitigung konstituieren durch die Art und Weise ihrer Problembestimmung zugleich die transnationale Reichweite des jeweiligen Problemzusammenhangs, d.h. gegebenenfalls auch die Notwendigkeit der Einsetzung transnationaler Regime. (5) Diskurse und institutioneller Wandel In den risikogesellschaftlichen Handlungsfeldern ist das Verhältnis zwischen (herausfordernden) Diskursen und etablierten institutionellen Praktiken weder als komplette Transformation existierender Dispositive noch als unverändertes Weiterbestehen angemessen bestimmt. Diskursanalysen bieten hier nicht nur Rekonstruktionen, sondern auch Erklärungen dafur, warum und wie sich die Verschränkung zwischen Diskursen und Praktiken konkret und je unterschiedlich gestaltet. Als erklärende Faktoren werden etwa überlegene Leitmetaphern und story lines (Viehövers 1997, 2003a), unterschiedliche Strukturen der Öffentlichkeit (Keller 1998) oder das Beharrungsvermögen der bestehenden institutionellen Apparate (Hajer 1995) herausgearbeitet bzw. akzentuiert. Zwischen der Positionierung neuer Gegenstände auf der öffentlichen Agenda und in institutionellen Settings und der Neukonfiguration institutioneller Arrangements bestehen also komplexe Beziehungen. 447 So sind, auch das zeigen die Studien, eine Vielzahl entsprechender Dispositive entstanden, angefangen bei der Neuorientierung wissenschaftlicher Forschungsprogramme über die Schaffung von Ministerien, Kommissionen und internationalen Regimen bis hin zu den bekannten Öko-Zertifikaten u.a., die in bestehende institutionelle Praktiken eingelagert bzw. mit ihnen verknüpft werden. Diskursanalysen vermeiden hier einen naiven ObjektiHepp (2002b: 871) spricht allgemein von "kommunikativer Deterritorialisierung". Vgl. zu entsprechenden Potenzialen transnationaler bzw. globalisierter Kommunikationsprozesse Meyrowitz (1990a,b), Münch (1995) sowie die Beiträge in HepplLöffeiholz (2002). 446 Poferl zeigt, dass sie in einem deutschen Diskurssegment - dafür steht in ihrer Analyse die Frankfurter Allgemeine Zeitung - als Problem der technischen und politischen Rückständigkeit des damaligen ,Ostblocks' interpretiert wird, während eine andere, in der Süddeutschen Zeitung vertretene Diskursposition sie als generelle Weltangelegenheit der Menschheit deutet. 447 Dies ließe sich auch fur weitere Diskursstudien, etwa zum Himtod (Schneider 1999), zeigen. 445
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vismus bezüglich ihres Gegenstandsbereichs ebenso wie den direkten Kurzschluss von Deutungen auf Handlungen (Praktiken). Gerade die analytische Trennung von Zeichengebrauch und Handlungsweisen ist notwendig, um deren praktische Relationierung zu rekonstruieren. Die Untersuchungen der diskursiven Auseinandersetzungen um die Transformation gesellschaftlicher Definitionsverhältnisse im Bereich der Umwelt-, Wissenschafts- und Technikpolitiken belegen zwar eine vergleichsweise große Trägheit bestehender institutioneller Arrangements und beugen dadurch einer naiven Überschätzung (etwa angesichts schneller Verbreitungen eines entsprechenden ,Vokabulars') der Machtwirkungen neuer Diskurse VOr. 448 Sie zeigen jedoch auch und vor allem, wie solche Dispositive herausgefordert, ihrer Fraglosigkeit enthoben und unter Rechtfertigungsdruck gesetzt werden, sich also insgesamt einem Prozess der Delegitimation ausgesetzt sehen, aus dem sie verändert hervorgehen. Vor dem Hintergrund dieser Bilanzierung wichtiger Veränderungen der Diskursregime im Feld umweltpolitischer Auseinandersetzungen wende ich mich im folgenden Abschnitt der breiteren sozialen Dynamik zu, die aus dem Zusammenspiel von Umwelt- und Technikkatastrophen mit Risikodiskursen entsteht und - unter spezifischen Bedingungen - in eine allgemeine gesellschaftliche Transformation von Wissensverhältnis-' sen münden kann. 5.2 Risikoereignisse, Risikodiskurse und symbolische Ordnung Vorangehend habe ich im Rekurs auf exemplarische Studien der Umweltdiskursforschung Ergebnisse und Möglichkeiten der Diskursperspektive bei der Untersuchung gesellschaftlicher Wissensregime und Wissenspolitiken verdeutlicht. 449 Dabei stand die Konzentration auf die themenspezifischen Verläufe oder Karrieren von Diskursen und Konfliktfeldem in politischen Entscheidungsprozessen im Vordergrund. Daran anschließend lässt sich jedoch mit Blick auf die öffentlichen Arenen gesellschaftlicher Definitionskonflikte allgemeiner danach fragen, welche Mechanismen, Bedingungen oder Ereignisse überhaupt die gesellschaftliche Dynamik von diskursiven Auseinandersetzungen in Gang setzen, und welche Die Trägheit wird, wie die Analysen zeigen, auch dadurch unterstützt, dass die institutionellen Gefüge sich im Schnittpunkt bzw. Zugriff verschiedener Diskurse - nicht nur der Umweltdebatten! - befinden. So argumentieren die Vertreter der Governmentality Studies zu Recht, dass Risikodiskurse nur ein Diskursfeld moderner Gesellschaften darstellen, das in Konkurrenz zu anderen Diskursfeldern steht. Will man die Transformationspotenziale dieses Feldes angemessen einschätzen, so darf insbesondere die in den 1970er Jahren ansetzende Ökonomisierung (Neoliberalisierung) des Gesellschaftlichen nicht vernachlässigt werden. Vgl. dazu das Schwerpunktheft von Discourse & Society (2002), dort insbesondere den Beitrag von ChiapellolFairclough (2002), auch GeelHulll Lankshear (1996) und BoltanskilChiapello (1999). Dean (1998) bspw. verweist auf die neoliberale Multiverantwortlichkeit der Subjekte in Bezug auf ihre Lebensführung, d.h. auf die in Prozesse der Individualisierung einfließenden Vervielfaltigungen der Lebensbereiche, die der permanenten Evaluation nach Effizienzkriterien unterworfen werden. Aus der Perspektive der Diskurstheorie hat vor allem Norman Fairclough (1996; 1999) auf die Globalisierung entsprechender diskursiver Praktiken hingewiesen. In Anlehnung an Habermas (1981) ließe sich in diesem Zusammenhang von einer diskursiven "Kolonialisierung der Lebenswelt" sprechen. Das Hineinwirken expertenbasierter Diskurse in Alltagspraktiken betrifft freilich nicht nur die neoliberale Gedankenfigur der IchAG. Vielmehr erzeugen die soziokulturell und arbeitsmarkt-induzierten Prozesse der Individualisierung und Enttraditionalisierung permanent Situationen der Multioptionalität, auf die unterschiedlichste Beratungsdiskurse reagieren. 449 Die Wissenssoziologische Diskursanalyse systematisiert und erweitert die dort im Einzelnen sehr unterschiedlich entfalteten Diskursperspektiven in einem allgemeineren Bezugsrahmen. 448
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Effekte davon ausgehen. Die Relation von Diskursen und Ereignissen oder allgemeiner: von Struktur und Ereignis ist ein altes Thema der strukturalistischen und poststrukturalistischen Debatten. Es geht dabei um das Verhältnis von Strukturreproduktion und Strukturtransformation in den Aktualisierungen, die ein Diskurs erfährt, meist um den Zusammenhang von einzelner sprachlicher Äußerung und zugrunde liegenden Sprachstrukturen (vgl. Kapitel 3.1.2 und 4.2.2). Darüber hinaus lässt sich jedoch aus soziologischer Perspektive auch nach dem Verhältnis von symbolischer Ordnung und gesellschaftlichen Ereignissen fragen: Unter welchen Bedingungen passen sich letztere in bestehende Ordnungen ein? Wann zeigen sie ,transformierende' Qualitäten, generieren also neue Deutungsangebote? Symbolische Ordnungen werden in der Perspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse als historisch kontingente Fixierungen von Sinnstrukturen begriffen, die durch Diskurse, Praktiken und Dispositive hergestellt werden. Nur selten bzw. in vergleichsweise kleinen Kollektiven - wenn überhaupt - kann von einer einzigen widerspruchsfreien symbolischen Ordnung gesprochen werden. Für modeme Gesellschaften ist von unterschiedlichen, auch konkurrierenden Ordnungsprozessen auszugehen, die in Abhängigkeit von ihrem lnstitutionalisierungsgrad eine mehr oder weniger starke hegemoniale Position einnehmen. Schon Berger/Luckmann (Kapitel 2.2.1), Gusfield (Kapitel 2.3.3.2) oder Laclau/Mouffe (vgl. Kapitel 3.3.2) hatten darauf hingewiesen, dass diese Strukturierungen ein ,Fließgleichgewicht' bilden, d.h. immer mehr oder weniger in Veränderung begriffen sind. Michel Foucaults Konzept der Genealogie forderte die Rückverfolgung der Herkunft solcher Sinn-Setzungen durch Raum und Zeit. Damit rückt die Ausbildung und Verbreitung neuer Diskurse in Auseinandersetzung mit den bestehenden symbolischen Ordnungen und deren Transformationen in den Mittelpunkt der Diskursanalyse. Diese Fragen sind Gegenstand der folgenden Ausruhrungen. In der pragmatistischen sozialkonstruktivistischen Tradition der Wissenssoziologie von Schütz, Berger und Luckmann werden die alltäglichen Deutungsvorgänge als Routineanwendungen von Typisierungen begriffen, die aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat stammen und individuell angeeignet wurden (vgl. Kap. 2.2.1, 2.3.3.1, 4.2.1, 4.3.3.2). Zunächst folgen solche Aufrnerksamkeitsroutinen dem ,Sparsamkeitsprinzip' und den momentanen Relevanzstrukturen des Deutens und Handelns in einer fraglos gegebenen Wirklichkeit, d.h. der bevorzugten ,Erkenntnis des Bekannten'. Erst da, wo sie auf Probleme stoßen, irritiert werden, weil Phänomene als kategorial oder klassifikatorisch uneindeutig erscheinen und hinreichende Motivationen zur Aufhebung dieser Uneindeutigkeit bestehen, beginnt die Suche nach oder Konstruktion von neuen, passungsfähigeren Typisierungen. SchützlLuckmann (1979: 30ft) illustrieren die Normalitätsunterstellungen der alltäglichen Routineauslegungen und das Verhältnis zwischen dem "fraglos Gegebenen und dem Problematischen" am Beispiel eines Waldspazierganges und Pilzfundes. Ob hinreichende Typisierungen zur Bestimmung eines Erfahrungsgehaltes als ,Pilz' verrugbar sind, hängt einerseits von den situativen Motivationen ab (will ich ihn essen?), andererseits aber auch von den Passungen der Phänomengestalt zu den kategorialen Bestandteilen einer Typisierung (gibt es zwei Meter hohe Pilze?). Vergleichbare Routinen und Irritationserfahrungen fmden sich auch in gesellschaftlichen "Subsinnwelten", etwa in der Wissenschaft: Umberto Eco hat vor einigen Jahren am Beispiel der Entdeckung des Schnabeltieres darüber berichtet, welche Kreativitätspotenziale freigesetzt werden, wenn die gängigen klassifikatorischen Praktiken der Zoologie auf ,lebendigen Widerspruch' treffen:
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"Es war so groß wie ein Maulwurf, hatte kleine Augen, die Vorderbeine wiesen vier Krallen auf, die mit einer Membran verbunden waren, die größer war als jene, die die Krallen der Hinterbeine verband. Das Tier hatte einen Schwanz, einen Entenschnabel und schwamm mit den Beinen, die es auch zum Graben seiner Höhle benutzte. Es war zweifellos ein Amphibium (...) Schnabeltiere werden später als Fisch-, Vogel- und Vierftißernatur beschrieben (...) Bewick schreibt, man sollte nicht versuchen, es nach den üblichen Klassifikationskriterien einzuordnen, sondern sich damit zu begnügen, diese merkwürdigen Tiere so zu beschreiben, wie sie uns erscheinen." (Eco 2000: 277ft)
Wiederum auf einer abstrakteren Ebene fragte Marshall SahIins danach, wie ganze Gesellschaften ungewöhnliche Ereignisse und kollektive Erfahrungen in ihre bestehenden symbolischen Ordnungen einpassen bzw. unter welchen Bedingungen sich daraus Transformationen dieser Ordnungen selbst entwickeln. Sahlins zufolge entstehen Neuerungen symbolischer Ordnungen aus der Diskrepanz zwischen Ereignissen und gesellschaftlich verrugbaren Interpretationsschemata. Soziale Akteure reagieren darauf mit Kreativitäe So "Da die zufälligen Handlungsbedingungen (...) nicht unbedingt der Bedeutung entsprechen müssen, die eine bestimmte Gruppe ihnen zuschreibt, nehmen die Menschen eine kreative Überprüfung ihrer überkommenen Schemata vor, und insofern wird die Kultur historisch durch das Handeln verändert. Man kann sogar von einer ,strukturellen Transformation' sprechen, die durch die Veränderung gewisser Bedeutungen die Beziehungen der kulturellen Kategorien zueinander verändert, mithin eine, Systemveränderung, bewirkt." (Sahlins 1992b: 7)
Die Überlegungen von Sahlins folgen dem Gedanken der pragmatistischen Tradition, dass Routineauslegungen durch ,abweichende' Phänomengestalten irritiert und ,problematisch' werden. Seine Übertragung dieser Annahme auf die Ebene symbolischer Ordnungen und gesellschaftlicher Kollektiverfahrungen hilft, die Mechanismen der gesellschaftlichen Resonanz von Risikodiskursen zu verstehen. Im Anschluss an die Überlegungen von Schütz!Luckmann, Eco und Sahlins lässt sich die These formulieren, dass Irritationserfahrungen aufder Ebene kollektiver Wissensvorräte bzw. symbolischer Ordnungen zum Katalysator von Diskursen werden, die, neue' Interpretationen generieren und damit in Konkurrenz und Herausforderung zu den etablierten Diskursformationen treten. Die Ursachen und das Erscheinungsbild solcher Irritationen und Probleme sind vielfältig. Sie mögen in der Begegnung mit Anderem, Fremdem, Unvertrautem liegen, in den Bemühungen um Vertiefungen wissenschaftlichen und technischen Wissens, der Gestaltung bzw. Optimierung gesellschaftlicher Handlungsfelder, in der erfolgreichen Artikulationspraxis sozialer Diskurs-Akteure oder in Ereignissen, die sich eindeutigen Routineauslegungen entziehen als eine Art ,soziale Schnabeltiere'. Herausfordernde bzw. neue Diskurse entstehen und verbreiten sich in solchen Konstellationen des Deutens und Handeins. Die ereignisinduzierte Generierung von Diskursen möchte ich nachfolgend exemplarisch am Beispiel der Um-
SahIins diskutiert dies in Bezug auf symbolische Ordnungen der Hawaiinsulaner, die 1779 die Ankunft des ,Captain Cook' zu verarbeiten hatten. Vgl. auch Sahlins (1986, 1992a). Hans Joas (1996) hat im Anschluss an den Pragmatismus und Giddens Theorie der Strukturierung eine soziologische Theorie der "Kreativität des HandeIns" eingefordert.
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welt- und Technikdebatten, d.h. also der Entfaltung von Risikodiskursen verdeutlichen. Der Argumentationsgang lässt sich in folgenden Thesen zusammenfassen: 451 • •
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Das Erscheinen von Risikodiskursen in gesellschaftlichen Arenen wird durch besondere Ereigniskonstellationen - (potenzielle) Risiko-Ereignisse452 - ausgelöst, die Anlässe rur gesellschaftliche Irritationserfahrungen erzeugen. Solche Ereignisse werden dann zum Auslöser von Interpretationskonjlikten (Risikodiskursen), wenn soziale Akteure motiviert sind, bestehende Deutungen und Verantwortungskonstruktionen hinsichtlich der Ereignisabläufe zum Gegenstand ihrer Artikulationspraxis zu machen. In dieser Konkurrenz der Interpretationen spielt wissenschaftliches Wissen die entscheidende Rolle in der ,Faktenbeschreibung' . Die gesellschaftliche Verbreitung von Risikodiskursen und die dadurch vermittelte kollektive Risikoerfahrung ist jedoch eingebettet in ein komplexes Gefüge von Resonanzbedingungen der Massenmedien, in denen wissenschaftliches Wissen nur eine Größe neben anderen darstellt. Für Risiko-Ereignisse können zwei typische Ereignisformen unterschieden werden, deren Entfaltung je spezifische Diskursdynamiken in Gang setzt, welche die bestehenden symbolischen Ordnungen herausfordern. Unter den Bedingungen ihrer massenmedialen Beobachtung erzeugen diese Ereignisse serielle Erfahrungen eines distanzierten Mitleidens und nehmen die Gestalt sozialer (kollektiver) Dramen an, in denen die symbolischen Ordnungen selbst zum Konfliktgegenstand werden. Solche Konflikte entfalten sich in den öffentlichen Arenen als Diskurse, die in einen Wettstreit der Klassifikation treten und konkurrierende Narrationen über die Referenzereignisse prozessieren. Die Wirkungen dieser Diskurse hängen von den Resonanzstrukturen gesellschaftlicher Öffentlichkeiten und der institutionellen Trägheit und Stabilisierung der bestehenden Wissensregime ab. Ereignisse erzeugen mithin Gelegenheitsstrukturen für diskursive Rekonfigurationen symbolischer Ordnungen und soziokulturelle Transformationsprozesse, ohne dass von einem Automatismus solcher Effekte auszugehen ist.
Nachfolgend wird zunächst gezeigt, inwiefern katastrophischen Ereignissen eine Irritationswirkung im hier relevanten Sinn zugeschrieben werden kann. Ausschlaggebend darur ist, so werde ich argumentieren, ihr in Anerkennungskonflikten durchgesetzter Hybridcharakter zwischen Natur und Gesellschaft (Kapitel 5.2.1). Daran anschließend unterscheide ich zwei Entfaltungsformen solcher Ereignisse - die Zeitlupen-Katastrophe und die Zeitraffer-Katastrophe - mit je spezifischen Implikationen rur die etablierten Wissensordnungen (Kapitel 5.2.2). Die kollektive Ereigniswahmehmung ist in beiden Fällen eine Erfahrung 451 Es handelt sich hier, wie einleitend betont, nicht um eine exemplarische empirische Umsetzung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse, sondern um eine darauf aufbauende theoriegeleitete Interpretation von Prozessen des sozialen Wandels. 452 Im Folgenden spreche ich synonym von Risiko-Ereignissen, Risiko-Katastrophen, risiko-katastrophischen Ereignissen oder katastrophischen Ereignissen. Ich beziehe mich damit immer auf die neueren umwelt- und technikbezogenen Kontroversen, in denen die Zurechnung von Katastrophen, Schädigungen usw. nicht eindeutig auf Natur oder göttliche Fügung erfolgt, sondern strittig ist.
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aus der Distanz. Kapitel 5.2.3 diskutiert, wie sich in diesen Prozessen eine Form der massenmedial vermittelten kollektiven Katastrophenerfahrung und des distanzierten Mitleidens herausbildet, durch welche Katastrophen zum Mittelpunkt eines sozialen Dramas werden, an dem Gesellschaften ihre symbolische Ordnung prüfen. Diese Prüfung entfaltet sich in der Auseinandersetzung konkurrierender Diskurse, die ereignis-generalisierende Deutungsmuster bzw. Narrationen anbieten (Kapitel 5.2.4). Prinzipiell können drei Konstellationen dieser diskursiven Kämpfe um symbolische Ordnungen und institutionelle Gefüge unterschieden werden. Inwiefern in diesem Zusammenhang diskursiv erzeugte soziokulturelle Transformationen wahrscheinlich sind, werde ich in Kapitel 5.2.5 erläutern. 453
5.2.1 Einfliegender See "Das ist das Tal des Unglücks: Schlamm, Schweigen, Einsamkeit und auf der Stelle begreifen, daß all dies endgültig ist; da ist nichts mehr zu tun oder zu sagen. Fünf Dörfer, Tausende von Menschen, gestern noch da, heute sind sie Erde, und niemand hat Schuld; niemand konnte das vorhersehen. Im Atomzeitalter könnte man sagen, eine saubere Katastrophe, die Menschen hatten nicht ihre Finger im Spiel: Die Natur hat alles gemacht, und die ist weder gut noch böse, sondern gleichgültig. Und solche Katastrophen sind nötig, um das zu begreifen! (...) Niemand von uns kleinen Mücken wäre noch am Leben, würde die Natur sich tatsächlich entschließen, uns den Krieg zu erklären (... )."
Mit diesen Worten kommentiert der Journalist Giorgio Bocca in der Tageszeitung II Giorno am Freitag, dem 11. Oktober 1963, die Katastrophe am italienischen Stausee von Vajont, in der fast 2000 Menschen getötet werden (zitiert nach PaoliniNacis 2000: 7).454 Was ist passiert? Eine enorme Steinmasse (260 Mio. m3) löst sich von einem Berg am Seeufer und stürzt in kürzester Zeit in den See. Dort erzeugt sie eine Flutwelle von 160 Metern Höhe und einem Wasservolumen von 50 Mio. m3 • Die Hälfte dieses Wassers flutet über den Staudamm und zerstört innerhalb von vier Minuten die fünf Dörfer Longarone, Pirago, Rivalta, Villanova und Fae. Bocca liefert in seinem Kommentar eine klassische Interpretation: Es handelt sich - wieder einmal - um ein Beispiel für die ewige Geschichte von der Arroganz des Menschen gegenüber der Natur - einer Natur, die einmal mehr diesem Menschen die Grenzen seiner prometheischen Phantasien vor Augen führt. So reiht sich die Katastrophe von Vajont in die Serie der Katastrophen ein, die die tragische Geschichte der Menschheit begleiten. Nach dem Tod Gottes ist es nun also die Natur selbst, die in einem solchen Ereignis ursächlich ,handelt', sich gegen den Menschen wendet, ihn in seine Schranken weist, selbst da, wo er sein Bestes gab: "Ein Stein ist in ein Glas gefallen, das Wasser ist auf die Tischdecke gelaufen. Das ist alles. Nur daß der Stein so groß wie ein Berg war, das Glas ein paar hundert Meter hoch und unten auf der Tischdecke Tausende von Menschen standen, die sich nicht wehren konnten. Und das Glas ist nicht einmal zerbrochen; man kann den, der es gebaut hat, nicht beschimpfen, denn das Glas war gut gemacht, nach allen Regeln der Kunst, ein Zeugnis der Ausdauer und des Mutes der Vgl. dazu auch Keller (2000a; 2003c). Vgl. zur Vajont-Katastrophe, den erwähnten Daten, Stellungnahmen und Ereignissen das faszinierende Buch über den "Fliegenden See" von PaoJiniNacis (2000).
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Diskurse und Sozialer Wandel Menschen. Der Vajont-Damm war und ist ein Meisterwerk. Auch in ästhetischer Hinsicht." (Dino Buzzati, Corriere de la Sera, Freitag, Il. Oktober 1983; zit. nach PaoliniNacis 2000: 9)
Sieben Jahre nach der Katastrophe, im Oktober 1970, werden der Direktor der staatlichen Aufsichtsbehörde für Staudämme (Servicio Dighe), Sensidone, und der Direktor der Abteilung rur Wasserkraftwerke der SADE455 , Biadone, vor Gericht als umfassend verantwortlich rur Bergrutsch, Überschwemmung und Totschlag befunden und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Der Kassationshof in Rom erklärt Biadene und Sensidone wenige Monate später, im März 1971, aus mehreren Gründen rur "schuldig an einer einheitlichen Katastrophe: Überschwemmung mit erschwerenden Umständen aufgrund der Vorhersagbarkeit des Geschehens, einschließlich Bergrutsch und Tötung." (PaolinilVacis 2000: 199)
Tatsächlich bringt die sorgfältige Rekonstruktion des Ereignisses eine umfassende Vorgeschichte der Ankündigung der Katastrophe an den Tag; vor allem die italienische Journalistin Tina Merlin, aber auch einige Experten hatten entsprechende Berurchtungen und Warnungen formuliert. Durch diese Reinterpretation wird die Vajont-Katastrophe in einer völlig anderen menschlichen Geschichte und narrativen Struktur situiert: sie wird zum exemplarischen Fall der "Risikogesellschaft" (Ulrich Beck). Im Nachhinein erscheinen vorangehende Warnungen, Befürchtungen, der gesamte Ungewissheitshorizont einer drohenden und zugleich menschlich (mit-)verursachten Katastrophe berechtigt und bestätigt. Damit erhalten der Stausee sowie seine natürliche und soziale Umgebung den Status "riskanter, ausufernder Verwicklungen", um Begriffe aufzugreifen, die der französische Wissenschaftssoziologe Bruno Latour kürzlich vorgeschlagen hat. Im Anschluss an die Diskussionen über "Risikogesellschaft" unterscheidet Latour "risikolose Objekte (auch: Objekte ohne Risiko) oder moderne Objekte, im Gegensatz zu riskanten (oder ausufernden) Verwicklungen (,objets sans risque ou modernes par opposition 11 attachements risques ou echeveles'): Dieser Ausdruck soll daran erinnern, dass die ökologischen Krisen nicht einen bestimmten Typ von Wesen betreffen (zum Beispiel die Natur, die Ökosysteme), sondern eine bestimmte Weise, alle Wesen herzustellen: mit den riskanten Verwicklungen bleiben die unerwarteten Konsequenzen, die Herstellungsweise und der Hersteller verknüpft, während sie von den Objekten im eigentlichen Sinn losgelöst erscheinen." (Latour 2001: 298)
Latour, der sich in zahlreichen Untersuchungen mit der Erzeugung wissenschaftlicher Fakten und technischer Artefakte beschäftigte, hat vor dem Hintergrund seiner Studien Anfang der 90er Jahre die These formuliert, die modemen Gesellschaften seien "niemals modem gewesen" (Latour 1995b). Gemeint ist damit eine Auseinanderfallen von gesellschaftlicher Repräsentation bzw. symbolischer Ordnung und tatsächlicher wissenschaftlich-technischer Praxis. Demnach unterscheiden sich modeme Gesellschaften von anderen Gesellschaftsformen durch die institutionalisierte sowie naturwissenschaftlich stabilisierte Trennung und Societa Adriatica di Elettricita; bis 1962 ein Privatuntemehmen; seit 1963 als staatliches Unternehmen Teil der italienischen Elektrizitätsgesellschaft ENEL (PaoliniNacis 2000).
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Grenzziehung zwischen Natur und Gesel1schaft; während der Bereich der Natur zum Gegenstand ,objektiver', naturwissenschaftlich erkennbarer Zusammenhänge avanciert, gilt der Bereich der Gesel1schaft als Ort der politischen Gestaltung. Unterschiedlichste "Reinigungsprozesse" tragen zur Aufrechterhaltung dieser Grenzziehung bei. Al1erdings entspreche diese symbolische Ordnung moderner Gesel1schaften keineswegs ihrer wissenschaftlich-technischen Praxis; vielmehr handle es sich um eine Selbsttäuschung, die die tatsächliche Ko-Produktion von Natur und Gesel1schaft in wissenschaftlich-technischen Handlungszusammenhängen verkenne. Aus diesem Missverhältnis resultiere nun wiederum die Dynamik moderner ökologischer Gefährdungen und technischer Risikophänomene; erforderlich seien neue, der skizzierten Praxis adäquatere Regulierungsinstitutionen. 456 Bezogen auf das skizzierte Beispiel der Katastrophe von Vajont lässt sich von einer narrativen Verschiebung sprechen: zunächst erscheinen Natur (etwa die Berge), Objekte (wie der Damm) und Gesel1schaft (Dörfer, Organisationen) säuberlich getrennt und ihr Arrangement wissenschaftlich-technisch kontrol1ierbar. Der Damm ist ein "risikoloses, modemes Objekt" und die Katastrophe entsteht aus dem eigenmächtigen, nicht vorhersehbaren Agieren von Natur. Doch in den nachträglichen Gerichtsprozessen wird eine neue Geschichte von Vajont entfaltet, die, gestützt auf unterschiedlichste, den Dammbau begleitende Belege, den Komplex von Bergen, Tälern, Wasser, Damm, Dörfern und Organisationen in anderer Weise zu einer "riskanten Verwicklung" verknüpft und im Sinne Latours die ,tatsächliche Gestalt' des Geschehens enthül1t: Was, aus der Feme besehen, nur ein einfaches Naturereignis zu sein schien, erweist sich mit zunehmender Annäherung als Ergebnis von Mischungsprozessen unterschiedlichster Bestandteile, die üblicherweise nach dem Anteil der darin implizierten menschlichen Handlungs- und Entscheidungsprozesse differenziert und voneinander geschieden werden: als ,natürlich' (d.h. mit der Natur als Verursacher), als ,technologisch' (d.h. als technisches Versagen) oder als ,gesel1schaftlich' (d.h. als menschliches Versagen).457 Diese Komponenten entfalten aber gerade in ihrem komplexen Zusammenwirken eine besondere Dynamik. Bereits einige Jahre vor Latour hat der Organisationssoziologe CharIes Perrow (1986, 1988) auf der Grundlage vergleichender Fal1studien über technische Katastrophen dafur plädiert, die Unmöglichkeit eindeutiger und unumstritten zurechnender Unterscheidungen anzuerkennen: jedes sozio-technische System sei ein hybrides System, das gerade wegen seiner Hybridität ein Unfal1- oder Katastrophenpotenzial in sich berge; dieses Potenzial steige mit verschiedenen Systemeigenschaften, insbesondere mit der interaktiven Komplexität und der engen Kopplung der Bestandteile. Perrows Analyse lässt sich über den Bereich sozio-technischer Organisationsformen hinaus durch die Hereinnahme von ,Natur' in die erwähnten hybriden Komplexe erweitern und dadurch mit den Argumenten Latours verknüpfen: sofern man nicht Natur nach ihrem Ende, zumindest nach dem Verlust ihrer ,Natürlichkeit', insgesamt als ebenfal1s sozio-technisches System begreifen will, lässt sich Latours Argument kann hier nur sehr knapp wiedergegeben werden; vgl. dazu Latour (l995b) und Latour (2001); zur Bedeutung und Transformation der Natur/Gesellschafts-Differenz in modemen Gesellschaften siehe LaufKeIler (2001). In seinem Buch über "Das Parlament der Dinge" (im Original: "Politiques de la nature" ,Naturpolitiken') modifiziert Latour seine Reflexionen über die Moderne unter dem Eindruck der Diskussion zur "Risikogesellschaft" und skizziert ein Tableau (un)möglicher institutioneller Konsequenzen (Latour 2001); zu den Übereinstimmungen und Divergenzen zwischen Latour und Beck vgl. auch Latour (2003) 457 Gesellschaften sind, wenn sie Verantwortung zuschreiben wollen, dazu gezwungen, solche, Verwicklungen' (symbolisch) zu ,entwickeln' (LaufKeIler 2001). 456
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von hybriden Komplexen sprechen, die gesellschaftliche, technische und natürliche Bestandteile miteinander verwickeln. Helga Nowotny hat in Bezug auf die gegenwärtige Dynamik naturwissenschaftlicher Erkenntnisse davon gesprochen, dass Tatsachen ihre Eindeutigkeit, d.h. ihre eindeutige Klassifizierbarkeit verlieren (Nowotny 1999). Ähnlich wird in der Wissenschafts- und Technikforschung auch von Donna Haraway die Zunahme hybrider Phänomene festgestellt, die sich eindeutigen Zurechnungen auf Natur, Gesellschaft oder Technik entziehen (Haraway 1995). Wir erleben gewissermaßen eine ,Invasion der Schnabeltiere', die die geläufigen modemen Klassifizierungspraktiken unterlaufen (Eco 2000). AIlerdings beruht schon die Anerkennung einer solchen Hybridität auf wissensbasierten geseIlschaftlichen Definitionskonflikten, d.h. der diskursiven Artikulationspraxis sozialer Akteure und dem von ihnen genutzten bzw. generierten (wissenschaftlichen) Wissen. ,Erfolgreiche' Definitionen hybrider Situationen erleichtern entsprechende Positionierungen in nachfolgenden Ereignissen. Der Hybridcharakter von Risiko-Katastrophen steht dann am Ausgangspunkt der diskursiven Dynamik ihrer weiteren sozialen Verarbeitung, weil er als Einfallstor rur die Irritation des Fraglosen, der etablierten Routineauslegungen wirkt und diese ,problematisch' werden lässt. Er selbst ist, wie das Beispiel der Gerichtsprozesse im Anschluss an die Katastrophe von Vajont zeigt, keine selbstverständliche Phänomenqualität, sondern seinerseits bereits in interessebezogenen diskursiven Auseinandersetzungen konstituiert. Wenn hier dennoch vom Hybridcharakter solcher Katastrophen gesprochen wird, so ist damit zunächst nur bezeichnet, dass sie als Ereignisse genügend Evidenzen bereitstellen, um zum Aufhänger rur symbolische Kämpfe zu werden. Auf weIchen Faktor - Natur, Technik/Gesellschaft - dann die Zurechnung erfolgt oder inwiefern die Hybridität selbst zum Fokus wird und ob dies konsensuell geschieht, ist das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen Diskursen, deren Deutungsangeboten und themenbezogenen ,Schließungserfolgen'. Die Hochwasserkatastrophen des Jahres 2002 in verschiedenen Regionen der Bundesrepublik und zahlreichen weiteren Ländern liefern ein weiteres Beispiel rur solche Hybridphänomene: Flussbegradigungen, Oberflächenversiegelungen, starke Regenfalle und sogar der menschlich induzierte ,Klimawandel' addieren sich zu einer Situation, die ein enormes Dramatisierungspotenzial in sich birgt. Stündliche Pegelstandsmeldungen, Sondersendungen ,live' vor Ort, Bilder von Menschen, die in ihren Häusern verharren, Menschen, die alles aufgeben müssen, Wasserfluten, die Häuser und Dörfer zerstören, der Einsatz der Rettungskräfte, die Suche nach Schuldigen, das Erscheinen wichtiger Parteipolitiker, dies alles beschreibt nur einen Bruchteil der Bausteine, aus der sich die öffentliche Wahrnehmung des Ereignisses zusammensetzt. 458 Die massenmedial zirkulierenden Narrationen von Verlust, Schmerz, Wut, Verzweiflung, Hilfe und Schuld machen ein breites Publikum zu unmittelbaren und gleichzeitig distanziert betroffenen sowie distanziert mitleidenden Teilnehmern der Ereignisse. Die Hybridkatastrophe wird dadurch zum Auslöser eines sozialen Dramas, in dem nicht nur die konkreten Geschehnisse Thema sind, sondern eine allgemeine gesellschaftliche Selbstverständigung über existenzielle Fragen des kollektiven Daseins und die Angemessenheit der symbolischen Ordnungen erfolgt.459 Ich möchte deswegen Zur Flutkatastrophe sind verschiedene Bild-Dokumentationen und Bücher erschienen; vgl. stellvertretend Kachelmann (2002). 459 Die Tschernobyl-Katastrophe kann in dieser Hinsicht als exemplarisch gelten (vgl. Poferl 1997). Ein solches Kollektiv entspricht nicht notwendig einem Land oder einem spezifischen Territorium, eher einem symbolischen 458
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vorschlagen, die Verbreitung von Risikodiskursen in modemen Gesellschaften durch ihre massenmediale Einbindung in solche Dramen zu verstehen. Risiken realisieren sich in einer Serie angekündigter oder eingetretener katastrophischer Ereignisse, die zum Kristallisationspunkt entsprechender diskursiver Auseinandersetzungen werden. In einigen Gesellschaften - genauer: nach spezifischen Kriterien abgrenzbaren Räumen massenmedialer Allgemeinöffentlichkeit - resultiert daraus eine Infragestellung der traditionellen industriegesellschaftlichen Strategien der Zukunfts- und Fortschrittskontrolle. Dort entsteht eine kollektive Erfahrung der "Risikogesellschaft". Die Vajont-Katastrophe zeigt in diesem Sinne Wirkungen noch lange nach dem Ende der Geschehnisse - jenseits der konkreten Ereignisse, Schicksale, Schäden - in Gestalt der massenmedial verbreiteten "Chronik einer angekündigten Katastrophe", die ein enormes Publikum anzieht und als Mobilisierungsressource gegen vergleichbare Vorhaben genutzt werden kann: "Die Geschichte einer Naturkatastrophe, die keine war, schlug in Italien 50 000 Leser und 3,5 Millionen Fernsehzuschauer in ihren Bann. Eine wahre Katastrophe, größer und schlimmer als der Untergang der Titanic. ,Buch des Monats' im Stern!" (PaoliniNacis 2000; Umschlagtext)
Risikokatastrophen und entsprechende Warnungen verketten sich zu einer Folge von tatsächlichen oder potenziellen Schadens-Ereignissen, die im Rahmen ihrer diskursiven Verarbeitung den paradoxen Eindruck eines einzigen, aber andauernden Ereignisses ,Risikogesellschaft' erzeugen. Risikodiskurse fokussieren die Klassifikationsprobleme, die durch hybride Mensch-Artefakt-Natur-Kopplungen und deren (potenzielle) Schadenswirkungen entstehen und entwerfen von da aus Neuinterpretationen der symbolischen Ordnungen von Normalität. 46o
5.2.2 Risikoereignisse Ein Ereignis wird zum Ereignis nur vor dem Hintergrund der Banalität und Routine des Alltags. Diese Normalität existiert nicht aus sich heraus; sie ist vielmehr Ergebnis einer permanenten Produktion. Im Falle der Risiko-Katastrophen kann man die symbolischen, institutionellen und technischen Infrastrukturen der modemen Gesellschaften als Grundlagen dieser Herstellung ihrer spezifischen Normalität begreifen. 461 Dazu zählen die Strategien der naturwissenschaftlichen Grenzreinhaltung zwischen Natur und Gesellschaft, von denen Latour (l995b) spricht, auch die hohe Wertschätzung für Problemlösung durch wissenschaftlich-technischen Fortschritt, das dabei gewonnene Wissen und ein entsprechendes Risikomanagement als quasi-natürliche, routinisierte Technologien der Welt-Beherrschung. So könnte man zumindest sehr knapp einige Leitideen der Modeme charakterisieren, die in den konkreten institutionellen Strukturen der Gegenwartsgesellschaften ihren Niederschlag Raum. Die jeweilige Reichweite ist eine empirische Frage und kann bspw. einen gemeinsamen Sprachraum bzw. das Mediennetz abbilden, das sich daraufhin orientiert. 460 Vgl. jetzt auch als weitere Beispiele Böschen (2003) über die Bedeutung von Seveso, Pettenkofer (2003) über die Rolle der Katastrophen in der deutschen Umweltbewegung und Viehöver (2003b) über die "Klimakatastrophe". 461 Vgl. allgemein zu einer solchen Perspektive Link CI 997), Law (1994), Wagner (1995), KendalllWickham (2001).
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gefunden haben. Die von ihnen ausgehende Nonnalisierungsleistung ist zugleich öffentliches Versprechen und materialer Prozess. Aber durch genau diesen Prozess selbst wird als nicht-intendierte Konsequenz die Möglichkeit fiir das plötzliche Auftauchen, die schockierend-erschütternden Ausmaße katastrophischer Risiko-Ereignisse und deren massenmediale Skandalisierung erst geschaffen. Peter Wagner oder John Law sprechen allgemein im Hinblick auf solche Normalitätsherstellungen von der "organisierten Modeme" als einem Prozess permanenter diskursiv-praktischer Herstellung von Ordnung bzw. Ordnungsbemühungen. 462 John Law (1994) hatte an ethnomethodologische Konzepte angeschlossen und in der Zusammenführung von Symbolischem Interaktionismus, AktorNetzwerk-Theorie und Foucaultscher Diskurstheorie einen konzeptuellen Rahmen entworfen, um die Prozesse des "Organisierens von Modernität" für die Soziologie zu erschließen. Gavin Kendall und Gary Wickham (Kendall/Wickham 2001) haben mit Blick auf Defizite der Cultural Studies diese Zusammenftlhrung weiter ausgearbeitet und auch ausgeführt, wie eine Perspektive auf die gesellschaftlichen Ordnungskonflikte die an Foucault anschließenden Governmentality Studies weiterzuführen vermag. Während Law, Kendall und Wickham ein Forschungsprogramm für die Sozialwissenschaften skizzieren, hat Peter Wagner (1995) etwa zeitgleich mit der Veröffentlichung von Laws Plädoyer in seiner "Soziologie der Moderne" exemplarisch die gesellschaftsanalytischen Möglichkeiten eines solchen Zugangs ausgelotet. Wagner stützt sich dabei auf eine akteurstheoretisch unterbaute Foucaultsche Diskurstheorie, auf die pragmatistische Soziologie der Konventionen von Luc Boltanski und Laurent Thevenot und insbesondere auf die Giddensche Theorie der Strukturierung mit ihrer Betonung der Regeln und Ressourcen, der Institutionen als sozialen Konstruktionen und Konventionalisierungen sozialer Praktiken. In seiner Analyse der historischen Abfolge relativ stabilisierter Regime von Diskursen, Repräsentationen, Praktiken der Allokation und der Herrschaftsausübung in den Ländern der westlichen Moderne konstatiert er drei unterschiedliche Konfigurationen der Konventionalisierung von Institutionen, also Praktiken und Repräsentationsweisen: die restringierte liberale Moderne des 19. Jahrhunderts, die anschließende Phase der organisierten Modeme bis in die 1960er Jahre und schließlich die Dekonventionalisierung des Regimes der organisierten Moderne durch Prozesse der Pluralisierung von Praktiken und Repräsentationen, deren Regime-Fluchtpunkt noch nicht benennbar sei. 463
Eine genauere Betrachtung der Verlaufstrukturen unterschiedlicher Risiko-Katastrophen führt, bezogen auf Fonnen der Konstitution, des Ablaufs und der Bearbeitung solcher Phänomene, zu zwei Typen katastrophisch-riskanter Ereignisse, die als Zeitlupen-Ereignis und als Zeitraffer-Ereignis bezeichnet werden können. Das Zeitlupen-Ereignis 464 ist durch die öffentliche Konstruktion der Ereignisqualität im Rahmen eines ausgedehnten Konflikts über die Anerkennung einer möglicherweise bestehenden Gefahr charakterisiert; dabei werden insbesondere die Wissensbestände der Experten zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Exemplarische Beispiele für einen solchen Typus katastrophischer Ereignisse sind
Die These der Pennanenz der Konstruktion von Ordnung liegt auch der Wissenssoziologie von BergerlLuckmann oder Soeffner zugrunde (vgl. BergerlLuckmann 1980; Soeffner 1992). 463 Individualisierung, Globalisierung, aber auch die neoliberale Subjektkonzeption des Selbst-Unternehmers gehören zu den Mechanismen dieser Pluralisierung, die im positiven Falle, so Wagner, in ein Regime der erweiterten liberalen Modeme münden könne. Poferl (1999) spricht gegenwartsdiagnostisch von der experimentellen Situation einer "Gesellschaft im Selbstversuch". 464 Ich greife damit einen Begriff auf, den Philippe Roqueplo (1986, 1989) in seinen Analysen über Sauren Regen und das Waldsterben benutzt hat. 462
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das Ozonloch, der Treibhauseffekt, die Asbestdiskussion oder die BSE-Krise. 465 Im Unterschied dazu konfrontiert das Zeitraffer-Ereignis eine Gesellschaft (ein Publikum) auf einen Schlag mit seinem Auftauchen und Ablauf. Soziale Kollektive sind dann unmittelbar von enormen Schäden betroffen; der dramatische Verlauf einer solchen Katastrophe bringt das Vertrauen in die institutionellen und technischen Sicherheitsdispositive sowie in die Stabilität des Alltags zum Kippen. Erst im Nachhinein richtet sich hier der Blick auf einen bestehenden Anerkennungskonflikt vor der eingetretenen Katastrophe: "Katastrophen werden immer von irgendwem vorhergesagt" (Perrow 1986: 400). Exemplarische Beispiele fur diesen Ereignistyp sind neben dem "fliegenden See" die erwähnten Überschwemmungen, die Katastrophen von Bhophal, Sandoz, Tschernobyl sowie die anderen "normalen Unfälle", von denen Perrow (1988) spricht. Letztlich ist es dabei unerheblich, inwieweit die immer schon durch Deutungen vermittelten Phänomengestalten selbst, oder ,nur' ihre diskursiv-kommunikative Aufbereitung sich unterscheiden. Jeder der beiden Typen impliziert je spezifische Potenziale der Mobilisierung und Fokussierung öffentlicher Aufinerksamkeil. Vor dem Hintergrund alltäglicher Normalität entfalten sich beide Ereignistypen mit unterschiedlichen diskursiven Konsequenzen. Das Zeitlupen-Ereignis tritt zunächst als Interpretationskonjlikt zwischen Experten und Gegen-Experten in öffentliche Erscheinung; einige Experten übernehmen die Rolle des ,Alarmschlagens' (Bernstein/Jasper 1996). Sie wenden sich an ein allgemeinöffentliches Publikum und bilden - bspw. zusammen mit einer sozialen Bewegung - die Kollektivperson eines "moralischen Unternehmers" (Becker 1981; Giesen 1983), d.h. eines Diskursakteurs oder einer Diskurskoalition aus. Dieser kündigt die Katastrophe an und kämpft rur die institutionelle Anerkennung einer Gefährdung fur menschliche Gesundheit, Natur oder ,die Umwelt'. Eingefordert und betont werden menschliche Verursachungsketten, politische Verantwortungsübernahmen sowie die Möglichkeiten, einzugreifen und das Eintreten der Katastrophe zu verhindern, zumindest die Folgen zu mildem. Für die massenmedialen Aufinerksarnkeitsstrukturen (s.u.) sind solche Auseinandersetzungen zunächst nur bedingt von Interesse; sie gewinnen an Resonanz, wo sich Expertenkonflikte polarisieren, soziale Akteure mobilisieren und mögliche Schäden und Betroffenheiten potenzieren. Sie werden in dem Maße rur Berichterstattung relevant, wie sich argumentative Siege der jeweiligen Herausforderer, d.h. also tatsächliche Schäden, realisierte Bedrohungen abzeichnen. Solche Anerkennungskonflikte können zunächst lange Zeiträume umfassen und sich dann sehr schnell zur konkreten Gestalt einer eintretenden (wahrgenommenen) Katastrophe verdichten. Roqueplo hat dies am Beispiel des Waldsterbens analysiert: Während eines Zeitraumes von etwa 3-4 Jahren lernt die deutsche Öffentlichkeit durch die massenmediale Bilderzirkulation, die entsprechenden Zeichen zu erkennen und den ,sterbenden Wald' tatsächlich zu sehen, zu erleben. 1984 demonstrieren in München mehr als 200 000 Menschen gegen die Ursachen des Waldsterbens; den Worten eines französischen Experten zufolge war ganz Deutschland im "Schockzustand" (Ouest France, 12.11.84). Mit der Einruhrung des bleifreien Benzins und des Katalysators leitet die Bearbeitung dieser angekündigten Risiko-Katastrophe die Phase der Renormalisierung ein. 465 Vgl. etwa zur Diskussion über Dioxin, FCKW u.a. Böschen (2000). Organisationen verwenden einige Mühe darauf, die Zirkulation solcher Warnungen zu unterbinden (vgl. Bernstein/Jasper 1996; Deiseroth 2001; FortunlBernstein 1998)
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Das Zeitlupen-Ereignis fokussiert also durch den öffentlich geführten Defmitionskonflikt die Frage nach der Gültigkeit des Expertenwissens sowie nach seinem Status in einer Gesellschaft und verdichtet sich gewissermaßen spät - aber unter aller Augen - zur Katastrophe. Das Zeitraffer-Ereignis erscheint demgegenüber in Gestalt einer plötzlichen, schicksalhaften Quasi-Naturkatastrophe. Seine Verlaufsdynamik setzt die Alltagsnormalität und -routine, und damit auch das Vertrauen in Techniken und technologische Kontrolldispositive auf einen Schlag außer Kraft. Präziser: auch ein solches Phänomen wird zum Gegenstand von Defmitionskonflikten; da in diesem Falle jedoch die Schäden mehr oder weniger deutlich sichtbar sind, fokussiert der Konflikt auf die Sicherheitsrnaßnahmen, auf menschliches Handeln, Zufälle, die angewandten Technologien sowie die Konsequenzen, die daraus gezogen werden müssen (Perrow 1988). Das Zeitraffer-Ereignis kristallisiert nicht nur diesen Konflikt, sondern liefert Evidenzen, denen schwerlich widersprochen werden kann. Der hierfür exemplarische und globale Fall war die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, aber auch kleinere Katastrophen gehören zu diesem Typus. 466 Bspw. gab es am 22. Februar 1993 einen Unfall im Chemiewerk von Hoechst nahe bei Frankfurt. Während ein Unternehmenssprecher öffentlich erklärte, die entwichene Substanz sei "nur minder giftig", zeigten Fernsehbilder Säuberungsmannschaften in Schutzanzügen, die die Straßen von der Substanz reinigten; die Polizei forderte Eltern dazu auf, ihre Kinder nicht im Freien spielen zu lassen usw. (Kesselring 1997; KepplingerlHartung 1995). Ein solches Ereignis erschüttert unweigerlich die Alltagsroutine, deren inhärente materielle und symbolische Stabilität. Die Phase der Renormalisierung kann dann Jahre dauern. Durch die Kommunikation solcher Katastrophen nehmen Gesellschaften zur Kenntnis, dass gegebene Sicherheitsversprechen nicht garantieren, dass es nicht vielleicht morgen schon eine Katastrophe geben kann, die alles verändert. Dieser Katastrophentypus stellt also die etablierte Logik der Fortschrittskontrolle durch wissenschaftlich-technisches Wissen und Technikeinsatz in Frage, das privilegierte Mittel der Zukunftskontrolle. Die Erfahrungen und diskursiven Auswirkungen einer einzigen Katastrophe genügen, um die ausgedehnten Zeiten ereignisloser Routine auszuradieren. In einem solchen Fall verstärkt die Katastrophenbearbeitung die ausgelösten Prozesse, denn sie veröffentlicht die ereignisbezogenen Konflikte über Verantwortlichkeiten, Interessen und Moral sowie die logischen, technischen und logistischen Grenzen der Kontrolle. Für massenmediale Risikokommunikation ist das Zeitraffer-Ereignis der Stoff, aus dem Medienträume gemacht sind: Bilder, Schicksale, Kämpfe, Schuld und Sühne können augenblicklich medial verbreitet werden und konstituieren im ,besten Falle' noch während des Ereignisablaufs - die allgemeine gesellschaftlichöffentliche Risikoerfahrung als Mitleiden trotz Distanz.
5.2.3 Distanziertes Mitleiden und kollektives Drama Die unmittelbare Erfahrung einer technischen oder ökologischen Katastrophe ist in unseren Gesellschaften überaus seIten. Mit Ausnahme derjenigen, die in einem lokalen Kontext direkt betroffen sind - wie etwa im Beispiel der erwähnten Stausee-Katastrophe von Vajont In Frankreich dauerte es mehrere Jahre, bis die staatlichen Institutionen öffentlich Folgen dieser Katastrophe für das eigene Land zugegeben haben. Das zeigt, dass die Klassifikation als Zeitraffer- oder Zeitlupenereignis bezüglich desselben Ereignisses unterschiedlich eingesetzt werden kann.
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- ist die kollektive Risikoerfahrung eine Erfahrung aus der Distanz. Schon vor einigen Jahren hat Meyrowitz (1985) in seiner Analyse der kulturellen Auswirkungen des Fernsehens darauf hingewiesen, dass dadurch die Bedeutung lokaler Kopräsenz für die Kenntnis von Ereignissen abnimmt und der "Ortssinn" verschwindet: "Am 24. November 1963 erschoß lack Ruby den mutmaßlichen Mörder von Präsident lohn F. Kennedy, Lee Harvey Oswald. Die tödlichen Schüsse wurden live in Millionen amerikanischer Haushalte übertragen. Die Zuschauer, die das Geschehen vor dem Bildschirm verfolgten, würden wahrscheinlich heute noch jederzeit behaupten, sie wären Augenzeugen des Mordes gewesen - sie wüßten ,aus erster Hand', wie es passiert ist. Ob man nun das Fernsehen mit ,Erfahrungen aus erster Hand' auf eine Stufe stellt oder nicht - eines ist offensichtlich: Das Fernsehen und die elektronischen Medien allgemein haben die Bedeutung der physischen Präsenz für das Erleben sozialer Ereignisse ganz gewaltig verändert. (...) Direkte und vermittelte Kommunikation waren früher zwei völlig verschiedene Dinge. Das ist nicht länger der Fall." (Meyrowitz 1990a: 9)
Auch kollektive Risiko- und Katastrophenerfahrungen werden durch die massenmediale Aufbereitung unterschiedlicher Interpretationen des katastrophischen Ereignisses vermittelt. 467 Solche Deutungen werden von den verschiedenen sozialen Akteuren - Experten, sozialen Bewegungen, Politikern, Unternehmen, Massenmedien (die selbst keine homogene Gruppe bilden) - vorgenommen und in Diskursen verbreitet. Erst dadurch nimmt ein breites Publikum an den Ereignissen teil. Für einen Prozess der Katastrophenerfahrung aus der Distanz ist das Attentat vom 11. September 2001 in New York das Beispiel par excellence. Mit einem Schlag existiert - während eines ganzen langen Tages - nur ein einziges Ereignis in den Medien und im globalen Maßstab. 468 Die Massenmedien bzw. massenmedial hergestellten Öffentlichkeiten sind der primäre Ort moderner gesellschaftlicher Risikokommunikation, auch wenn sie in der soziologischen Risikodebatte und der psychologischen Forschung über Risikoeinschätzungen eine untergeordnete Rolle spielen. 469 Zwar hat die psychologische Forschung einige Faktoren ermittelt, die für die subjektive Risikoeinschätzung wichtig sind, Z.B. das vermutete Ausmaß oder die ,Schrecklichkeit' eines Schadens sowie seine Bekanntheitsgrade, ohne jedoch danach zu fragen, woher die BeurteiVgl. dazu auch Luhmanns Diskussion der "Realität der Massenmedien" und ihrer Funktion in modemen Gesellschaften (Luhmann 2004a). Hier ließe sich, bezogen auf die Funktionsweise der Medien in und fur die gesellschaftliche Ereigniswahrnehmung, eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Medientheorien von Baudrillard, McLuhan, Kittler u.a. anschließen (vgl. dazu einfuhrend Kloock/Spahr 2000 und Leschke 2003). Dies würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. 468 Vgl. dazu jetzt die Analysen von Junge (2003) und Chouliaraki (2004). 469 Ich benutze hier den Begriff der Risikokommunikation wie Teile der Medien- und Kommunikationsforschung (Ruhrmann 2003) als allgemeine Chiffre fur die massenmedial vermittelte Thematisierung hypothetischer oder tatsächlicher Katastrophenereignisse. In einem spezifischeren Sinne bezieht sich ,Risikokommunikation' auf die Kommunikationsstrategien politischer, wissenschaftlicher und ökonomischer Akteure bei Schadensereignissen. Dabei geht es meist um Fragen der Optimierung solcher Strategien (vgl. auch dazu Ruhrmann 2003). Vor kurzem haben Tulloch/Lupton (2001) bezüglich der biographischen Bedeutung von Aids-Risiken Ulrich Beck vorgeworfen, die Medien nicht angemessen in seiner Theorie der Risikogesellschaft zu berücksichtigen. Allerdings weist Beck in seinen Schriften immer wieder auf die Bedeutung der Massenmedien hin. Luhmann (2004b) hat zwar Prozesse "ökologischer Kommunikation", d.h. Kommunikation über Umweltthemen in verschiedenen gesellschaftlichen Funktionssystemen zum Thema gemacht, sich dabei aber nicht mit den Massenmedien beschäftigt. In seiner späteren Veröffentlichung über das System der Massenmedien bilanziert er Teile der Medienforschung und entwickelt einige Konzepte, die an die hier verfolgte Perspektive anschlussfähig sind (Luhmann 2004a). 467
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lungsgrundlagen der entsprechenden Einschätzungen stammen. 470 Demgegenüber bezieht der Ansatz der social amplification of risk (Pidgeon/Kasperson/Slovic 2003) ähnlich wie die hier zugrunde gelegte Wissenssoziologische Diskursanalyse einen erweiterten sozialen Kontext und insbesondere auch die Massenmedien in die Analyse der gesellschaftlichen Risikoerfahrungen ein: "Dieser Ansatz betont das dynamische Zusammenwirken verschiedener sozialer Prozesse. Die zentrale Annahme ist dabei, dass einzelne (faktische oder auch hypothetische) Risikoereignisse (z.B. ein Störfall oder die Exposition von Menschen mit einer Noxe) gesellschaftlich erst dann wirksam werden, wenn sie in der Gesellschaft kommuniziert werden. Risikoereignisse werden dabei zu Signalen, die eine Reihe von Transformationsprozessen durchlaufen. Das heißt, sie werden von Individuen, Gruppen oder Institutionen wahrgenommen und interpretiert (...) Eine Schlüsselrolle kommt auch der Darstellung des Risikoereignisses in den Medien und der dabei stattfindenden Kontextsetzung und Emotionalisierung zu. Individuelle oder institutionelle Reaktionen - z.B. Proteste oder Risikoregulationsmaßnahmen - sind die Folge. Die Auswirkungen sind dann oft nicht nur auf die von einem Risikoereignis direkt Betroffenen beschränkt, sondern können sich auch auf andere Teile der Gesellschaft, auf Unternehmen oder ganze Wirtschaftszweige ausdehnen. Diese Reaktionen sind selbst wieder Signale, die die Wahrnehmung und Interpretation des Risikothemas in der Gesellschaft beeinflussen." (SchützJWiedemann 2003: 552f).471
Sicherlich wurden in Gestalt von Mythen, Epen u.a. immer schon Katastrophenerfahrungen aus zweiter Hand in Form erzählbarer Geschichten - mit Helden, Opfern, Bösewichten, Schicksalsschlägen und einer sich daraus ergebenen Moral - gesellschaftlich kommuniziert. Unter den Bedingungen moderner Massenmedien verschiebt sich jedoch eine solche ex post Teilnahme hin zur merkwürdig distanziert-involvierten Beteiligung in Echtzeit: Bilder, Tränen, Schreie, Wut, Trauer, Ohnmacht, Anklagen, Ängste werden ,live' übermittelt und lassen jeden zum unmittelbaren Zeugen werden, der sofort in den aktuellen Nachvollzug, die Betroffenheit durch und aktive Aneignung bzw. Kommentierung des Ereignisses eintreten kann. 472 Nicht zufällig korrespondiert der diagnostizierte Anbruch der Risikogesellschaft der Einführung und Verbreitung des Fernsehens, das unter den Bedingungen seiner Pluralisierung und Privatisierung eine ungeheure Geschwindigkeit und Dramaturgie des bildvermittelten ,dabei Seins' entwickelt hat. Die modeme öffentliche Wahrnehmung von Katastrophen als riskante Ereignisse, d.h. als hybride Komplexe von Natur, Technik und Sozialem erfolgt im Medium massenmedialer Aufbereitungen und in Gestalt entsprechender, bild- und tonunterlegter Katastrophennarrationen. Erst die kommunikativen Folgewirkungen von Katastrophen stiften deren gesamtgesellschaftliche Ereignisqualität als flüchtig-serielle und zugleich dramatische Phänomene. Kehren wir zum Beispiel der Katastrophe von Vajont zurück. Die von PaolinilVacis (2000) vorgestellte Rekonstruktion der Vorgeschichte des "fliegenden Sees" verdeutlicht zunächst den lokalen Charakter des Staudammprojektes. Im Zusammenspiel der interessierten Organisationen und Experten - und auch aus der Sicht der berichtenden Medien - wird ein fortschrittliches Bauvorhaben mit nationaler Bedeutung vorangetrieben und in be-
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Vgl. dazu Slovic (1987,1992), JungermanniSlovic (1997), RennlRohrmann (2000). Vgl. zum Überblick über weitere Ansätze zur Analyse gesellschaftlicher Risikowahrnehmung ebd. Dies gilt, mit einigen Modifikationen, auch fur angekündigte bzw. potenzielle Katastrophen.
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stimmten Momenten symbolisch-rituell öffentlich zelebriert. Warnende, kritische Stimmen sind vorhanden, aber marginalisiert. Der dann stattfindende Bergrutsch mit seinen katastrophalen Folgen rückt die Region in das Blickfeld der gesamten italienischen und darüber hinaus in weite Teile der europäischen Öffentlichkeit. Die Bilder der Verwüstung, des Leidens machen ein breites Publikum zu ,unmittelbaren' Teilnehmern. Die gesellschaftliche Suche nach Verantwortlichkeit und Verantwortung beginnt, und die Stimmen der Kritik erreichen eine enorme Legitimation ex post. Die massenmediale Risikokommunikation appelliert im Unterschied zu den primären, auf wissenschaftlich-technisches Wissen rekurrierenden Anerkennungskämpfen um den Hybridcharakter von Katastrophen in erster Linie an Sinne und Gefühle, allgemeiner: an ästhetische Wahrnehmungsqualitäten. Sie erzeugt einen breiten Teilnehmerkreis, der trotz seiner räumlichen Distanz zu den Ereignissen diese ,miterlebt' . Eine solche Verallgemeinerung der Teilnahme bedient sich unterschiedlicher Strategien der Diskursivierung eines Ereignisses. Dazu zählen Live-Bilder, Betroffeneninterviews, Töne, aber auch die Einbettung in erzählbare Geschichten von Leid und Hoffnung, Glück und Unglück, Helden und Schurken. Beides zusammen, also die narrative Aufbereitung der Phänomene und die diskursivierte massenmediale Verallgemeinerung der Erfahrung sind Voraussetzungen dafiir, dass entsprechende Ereignisse in den dadurch erreichten Öffentlichkeiten den Status kollektiver Dramen einzunehmen vermögen, an denen solche Kollektive grundlegende Fragen ihrer symbolischen und institutionellen bzw. materialen Ordnung prüfen: Die Massenmedien "berichten nicht isoliert über einzelne Risiken und die dazu bekannten wissenschaftlichen Fakten, sondern stellen die Risiken in einen sozialen Handlungszusammenhang. Solche Darstellungen erfolgen oft in einer emotionalisierenden Weise: es geht um Skandalgeschichten, Enthüllungsstories oder Katastrophenerzählungen. Dargestellt werden z.B. die Personen und ihre Rollen im ,Risikodrama' (Täter, Opfer) und die Motive, aus denen heraus ein Risiko entsteht. Solche Emotionalisierungen der Risikodarstellung können die intuitive Risikobeurteilung beeinflussen. Experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass etwa die Darstellung eines ,objektiv' gleichen Schadensfalls oder Risikos zu unterschiedlichen Beurteilungen der Schwere des Schadens bzw. Risikos fUhren kann, je nachdem ob diese Darstellung so erfolgt, dass sie Empörung hervorruft oder aber Nachsicht bewirkt bzw. neutral ist. Darstellungen, die Empörung induzieren, fUhren zu höheren Risikourteilen als Darstellungen, die neutral sind oder Nachsicht mit dem Risikoverursacher nahe legen." (SchützlWiedemann 2003: 552).
Sicherlich gibt es gewaltige Unterschiede zwischen den verschiedenen Katastrophen, welche die menschliche Geschichte durchziehen, sowohl bezüglich ihrer konkreten Auswirkungen wie auch im Hinblick auf ihre Ursachen und Gesamtfolgen. Aber trotz ihrer sehr unterschiedlichen konkreten Auswirkungen erzeugen all diese tatsächlichen oder potenziellen Katastrophen durch ihre massenmediale Repräsentation hindurch ein Mitempfinden aus der Feme, eine Art Schicksalsgemeinschaft, die sich bis hin zur Weltebene ausdehnen kann. Luc Boltanski (1993) analysierte die Mechanismen des "Leidens aus der Distanz" im Hinblick auf den Zusammenhang von massenmedial vermittelten Bildern des Elends bspw. Fotografien hungernder, sterbender Kinder - mit der Bereitschaft zur Unterstützung von humanitärem Engagement, also etwa von NGOs wie ,Ärzte ohne Grenzen' oder Hilfswerken wie Misereor. Anhand einer Untersuchung philosophischer und künstlerischintellektueller Positionen zur Erfahrung des Leidens anderer bei Adam Smith, Hannah
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Arendt, dem Marquis de Sade u.a. rekonstruiert er drei Topiken der Betrachtung: die Anklage und Suche nach Schuldigen, das Mitempfinden und schließlich die ästhetische Distanzierung im Sinne einer Abwertungsgeste gegenüber den Opfern. In den beiden ersten Fällen, also der Anklage und dem Mitempfmden erhält das wahrnehmende Individuum durch die vermittelten Bilder die Ressourcen, um mit anderen in seiner Umgebung in Kommunikationsprozesse über das Leid einzutreten, von seinen Empfmdungen zu berichten, sich das ,Herz zu erleichtern', seiner Empörung ,Luft zu machen' usw. Die daran anschließbaren Reaktionen sind - so Boltanski - zum einen die Wortergreifung, der öffentliche Protest, zum anderen die unterstützende Hilfeleistung. Auch die massenmediale Katastrophenberichterstattung bezieht ein großes Publikum in das konkrete Leiden der Katastrophenerfahrung ein. Sie appelliert an Emotionen, an das Empfmden, das Mitgefühl mit den Betroffenen, die Empörung über die ursächlichen Mechanismen und die Ängste, man könne selbst - beim nächsten Mal - unmittelbar betroffen sein. 473 Im Vordergrund stehen ästhetische Erfahrungen, das gemeinsame Wahrnehmen, Erleben und Erleiden, das über entsprechende mediale Inszenierungen vermittelt wird. Erst die dadurch entstehende Gestalt ,entfernter' bzw. distanzierter Betroffenheit erklärt die weitere öffentliche Dynamik der Katastrophenerfahrungen. Ihr wesentliches Merkmal ist, dass sie unter Bedingungen der Handlungsentlastetheit erfolgt; der Status des aus der Distanz teilnehmenden Zuschauers enthält eine besondere Kombination von ästhetischmoralischer Involviertheit und der Möglichkeit, diese in generalisierte Empörung zu transformieren, da man selbst gerade nicht unter Handlungsdruck angesichts faktischer Betroffenheit leidet. Erst unter dem Blick des distanziert teilnehmenden Zuschauers, nicht demjenigen des lokal eingebundenen Geschädigten, entsteht das Puzzle der Serialität, in dem sich die verschiedenen Katastrophen, unabhängig davon, an welchem Ort der Welt sie stattfinden, zur risikogesellschaftlichen Gestalt verdichten. Gerade die entlastetete Betroffenheit erlaubt die Unterstützung eines allgemeinen risikokritischen Diskurses, der allerdings unter Bedingungen des massenmedialen Katastrophen-'zappings (hoppings)' mit seiner ständigen Verdrängung - angesichts anderer skandalisierbarer Ereignisse - rechnen muss. Die mobilisierende gesellschaftliche Dynamik katastrophischer Risikoereignisse entsteht weder einzig aus den von ihnen verursachten reellen Schäden noch aus den davon berührten konkreten Interessen auf Seite betroffener Organisationen (z.B. Unternehmen, Krankenkassen, Versicherungen) oder Individuen, obgleich deren Tatsächlichkeit und Bedeutung nicht bestritten wird. Sie beruht vielmehr auf ihrem Doppelcharakter: Einerseits erscheinen solche Katastrophen bei ihrem Auftauchen wie Naturkatastrophen, die durch massenmediale Verbreitung ein ganzes Kollektiv unterschiedslos treffen; deswegen erzeugen sie das Kollektivgefühl der Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft, selbst für ein Publikum, das sich in weiter Entfernung zum lokalen Kontext befindet und von dem Ereignis nur durch massenmediale Vermittlung erfährt. Gleichzeitig können solche Ereignisse als nichtintendierte Folgen menschlicher Entscheidungen und sozio-technischer Praktiken interpretiert werden. Dadurch werden sie zum Skandal, dadurch lässt sich Empörung erzeugen und fokussieren - Wer hat das Ereignis herbeigeführt? Wer haftet für die Schäden? Wer hat falsche Sicherheitsversprechen abgegeben? Wer verantwortet ,unsere' Sicherheit? 473 Im Rekurs auf Boltanski rekonstruiert Chouliaraki (2004), wie unterschiedliche massenmediale Präsentationen des 11. September unterschiedliche Reaktionsweisen nahelegen.
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Damit zeigt das katastrophische Risikoereignis Merkmale, die von der Anthropologie bzw. der Ethnologie kollektiven Dramen474 zugeschrieben werden: Es unterbricht in sehr tiefgehender, existentieller Weise die Stabilität und Kontinuität einer materiellen und symbolischen Ordnung. Um seinen Sinn zu verstehen, ist es notwendig, darüber eine oder mehrere Geschichten zu entwickeln und das Ereignis in entsprechende Rituale der gemeinsamen Situationsbewältigung einzubinden. 475 Individuen und Kollektive eignen sich solche Ereignisse durch Diskurse und darin formulierte Narrationen an, die das, was passiert ist, in ein kohärentes Ganzes, eine erzählbare Geschichte einfügen (Palmlund 1992, Viehöver 2003a,b), die sich in den verschiedenen Stufen des Ereignisablaufs durch szenischritualhafte Inszenierungen materialisiert. In solchen Narrationen gibt es natürlich Helden, Betrüger, Opfer, Verantwortliche, Retter, Tragik, Trauer, Glück und Unglück, Handlungen und Gefühle, das ganze Spektrum des wirklichen Lebens, und, nicht zu vergessen, eine Lektion, die daraus gelernt werden kann. Die Bilder der Katastrophe, die Rituale ihrer Inszenierung und Bewältigung und die Opposition, der Konflikt zwischen den verschiedenen implizierten Interessen und Moralen erzeugen eine Dynamik der Dramatisierung, die sich auf unterschiedlichste Gestaltungslemente - z.B. wissenschaftliche Haltungen (die Fakten sprechen für sich) oder rhetorische Elemente (der jeweils andere lügt, banalisiert, übertreibt) - stützt. Die Vorliebe der Medien rur konfrontatorische und stereotype Argumente verstärkt diesen Prozess. Durch die massenrnediale Verallgemeinerung des Teilnehmerkreises avancieren Risiko-Katastrophen zu Kristallisationspunkten sozialer Dramen und kollektiver Reflexionen über die bestehenden symbolischen, institutionellen und materialen Ordnungen der Welt. Der französische Soziologe Michel Maffesoli hat solche Prozesse der Entstehung von Gemeinschaftsgefiihl durch Gemeinschaftserfahrung in sozialen Gruppen mit dem Begriff der "aisthesis" beschrieben, d.h. mit einer ästhetischen Erfahrung, die vor allem auf die Gemeinsamkeit der emotionalen Empfindung hinweist. Eine solche Erfahrung appelliert an die sinnliche Wahrnehmung, an Geruhle und die Identifikation mit - in diesem Fall - den Leidenden, nicht an Kognitionen oder Rationalität (Maffesoli 1988; 1990).476 Diese Idee lässt sich von der Ebene konkreter sozialer Gruppen auch auf durch massenrnediale Vermittlung hergestellte Risiko-Gemeinschaften übertragen. Die erwähnte Dynamik erzeugt im Horizont des Alltags immer wieder eine Stimmung der Instabilität, der Unsicherheit, der Ungewissheit, die das Vertrauen in die Institutionen und Organisationen untergräbt, von denen die Stabilität der modemen Gesellschaften abhängt. In solchen Momenten wird die Risikogesellschaft zur Gejahrengemeinschaft. 477 Die Serialität der Katastrophen erzeugt eine Serialität der Vergemeinschaftungserfahrungen, eine Reihung von Kollektividentitäten, deren räumlich-zeitliche Ausdehnung flüchtig ist, aber die herkömmlichen sozialen
Vgl. dazu Turner (1989), Palmlund (1992), Poferl (1997). Dazu zählen bspw. die Politikerbesuche und -ansprachen am Katastrophenort sowie die entsprechenden massenmedial vermittelten Bilder. 476 Maffesoli schließt dabei an Webers Konzept der Vergemeinschaftung sowie seine Analyse der (religiösen) Gemeinde an. Vgl. zum Vorschlag einer fur solche Prozesse der ,aisthesis' sensiblen Soziologie und das daran anknüpfende Konzept der zunehmenden "Tribalisierung" der Welt auch Renaud (1984), Miranda (1986) und kürzlich Halas (2002). 477 Beck (2002: 76ft) spricht im Anschluss an die Öffentlichkeitstheorie von lohn Dewey von der Gemeinschaftsstiftung durch öffentliche Folgenreflexion anlässlich von Risikophänomenen. 474 475
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Beziehungen und Grenzziehungen von Familien, Klassen und Nationen überschreitet. 478 In Gestalt kollektiver Dramen fungieren katastrophische Ereignisse als Katalysatoren der Restabilisierung oder Transformation etablierter Wirklichkeitsordnungen.
5.2.4 Die Konkurrenz der Interpretationen 5.2.4.1
Massenmedien und Risikodiskurse
Die massenmediale Vermittlung von risiko-katastrophischen Ereignissen wird zur Grundlage einer kollektiven Katastrophenerfahrung aus der Distanz, in deren Konsequenz die entsprechenden Kollektive die Tragfahigkeit ihrer symbolischen Ordnung prüfen. Eine genauere Betrachtung dieser Vermittlungsprozesse fuhrt zur Unterscheidung von Bedingungen massenmedialer Risikokommunikation, die eine Berichterstattung begünstigen, einerseits, und den Strukturmerkmalen von Risikodiskursen, die Interpretationsangebote fur die Katastrophen anbieten, andererseits. Was sind die wichtigsten Bedingungen der massenmedialen Risikoberichterstattung?479 Da sich ,Wirklichkeit' in ihrer Ereignisfulle, Reichhaltigkeit und Komplexität einer umfassenden medialen Thematisierung entzieht, sind die Medien zu ständigen Selektionsentscheidungen im Hinblick auf aufzunehmende Inhalte gezwungen. Sie strukturieren damit, worauf sich die allgemeine Aufinerksamkeit gesellschaftlicher Öffentlichkeiten richtet (Luhmann 2004a). Unter den Faktoren der Medienberichterstattung, die in der Medien- und Kommunikationsforschung unterschieden werden, sind im vorliegenden Zusammenhang insbesondere Nachrichtenwerte, das professionelle agenda building und die Erzeugung kultureller Resonanz durch spezifische Deutungsmuster von Bedeutung. 48o Alle diese Faktoren verweisen auf diskursive Strukturierungsleistungen bzw. Formations- und Produktionsprozesse von Diskursen, wie sie in Kapitel 4.3 und 4.4 beschrieben wurden. Risiken- bzw. Katastrophenereignisse fugen sich vorzüglich in massenmediale Aufmerksamkeitsstrukturen, die sich auf die Sensation, das Spektakel, den Skandal, das Dramatische, die Anomalie, also das, was nicht erwartet wird, richten: "Journalistische Risikoberichterstattung lässt sich ebenfalls durch kognitive Strategien (Heuristiken) charakterisieren, deren Funktion es ist, intuitive Wahrnehmung und vereinfachende Bewertungen von Ereignissen zu ermöglichen und diese Bewertungen unter Zeitdruck als Risiken Das tragische Beispiel der Erzeugung einer solchen transnationalen Schicksalsgemeinschaft durch einen anderen Katastrophentypus lieferte der terroristische Anschlag auf das World Trade Center im September 2001. 479 Die medien- und kommunikationswissenschaftliche Risikokommunikationsforschung beschäftigt sich mit den Kommunikationsstrategien sozialer Akteure und den Kommunikationsprozessen in öffentlichen Arenen. Sie fragt nach Auswahlkriterien der Berichterstattung, nach Darstellungsforrnen, nach Prozessen des Agenda Setting, der medialen Konstruktion von Wirklichkeit, der Rolle von dramatisierenden und moralisierenden Elementen u.a. Vgl. dazu den Gesamtüberblick bei Ruhrrnann (2003) sowie Eichhorn (1996), GlogerlKlinkelRenn (2002), Goerke (1999), Keller (1995, 1997a), Allan/Carter/Adam (2000), Anderson (1997), BonfadellilMeier (1993), Custenl Anderson (1997), Brand/EderlPoferl (1997), Meier (2002), MeierlSchanne (1996), Haan (1995) und KrügerlRußMahl (1991). 480 Vgl. allgemein zum entsprechenden Stand der Medien- und Kommunikationsforschung die Beiträge in BentelelBrosius/Jarren (2003); zu den hier angesprochenen Faktoren zusätzlich Bonfadelli (2002), Burkart (1998), Rössler (1997), Kaase/Schulz (1989), Merten/SchmidtlWeischenberg (1994), Neidhardt (1994), Schulz (1976), Staab (1990). 478
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darzustellen. Gemäß diesem kognitionstheoretischen Ansatz zeigt sich, dass Journalisten eher über eingetretene Schadensereignisse als über Prozesse der Risikogenese berichten (...) Medien berichten eher aktuell über die vergleichsweise seltenen und außergewöhnlichen Risiken als über die wahrscheinlicheren ,Alltags'-Risiken, die keinen Nachrichtenwert aufweisen. Wenn Journalisten über außergewöhnliche Risiken berichten, betonten sie die Schwere und die Wahrscheinlichkeit möglicher Schäden. In der Regel wird versucht, Risiken kausal nach dem Verursacherprinzip zu bewerten und darzustellen. (...) Über riskante Entwicklungen wird erst dann berichtet, wenn konkrete Personen betroffen sind und die Schäden auffallen. Journalisten berichten eher über Risiken in der geografischen Nähe bzw. in der verwandten westlichen Kultur als über Risiken in entfernten Regionen und in fremden Kulturen. Risiken werden personalisiert dargestellt: Gesucht und gefunden werden verantwortliche ,Täter' und betroffene ,Opfer' (... )" (Ruhrmann 2003: 544; vgl. auch Ruhrmann 2001)481
Der auf solche Selektionskriterien bezogene Begriff der Nachrichtenwerte bezeichnet ein komplexes, aus verschiedenen Bestandteilen oder Dimensionen aggregiertes Konzept fur Strukturierungsmerkrnale massenmedial zirkulierender öffentlicher Diskurse. Nachrichtenwerte sind keine ,objektiven' Wesensqualitäten von Ereignissen, sondern journalistische Zuschreibungen, die den Auswahlroutinen und -evidenzen der medialen Diskursvermittlung folgen. Dazu zählen bspw. die ,Negativität' eines Ereignisses, sein ,Sensationsgrad' , die Aktualität, die Berühmtheit oder Zahl betroffener Personen, die Verfugbarkeit von ,brauchbaren' Bild- und Tonmaterialien u.a. Je nach Ausprägung sprechen dann einige dieser Faktoren fur eine Berichterstattung, andere eher dagegen (Keller 1997a). Zur Berichterstattung drängt jedoch nicht das ungefilterte Katastrophenereignis ,an sich'. Es bedarf vielmehr - auch in der Nachbereitung plötzlicher, in großem Ausmaß schädigender Katastrophen - einer umfassenden Arbeit daran, die entsprechende Aufinerksamkeit zu erzeugen und dann über einen gewissen Zeitraum zu gewährleisten. Diese Feststellung fuhrt zu einer nächsten Bedingung massenmedialer Risikokommunikation: die Vorbereitung von Informationen, Deutungen, Geschichten über ein Geschehen durch soziale Akteure, die außerhalb der Medien als Diskursakteure agieren (Politiker, soziale Bewegungen, Experten, Organisationen). Dies kann durch die Inszenierung von Ereignissen (Demonstrationen, Konferenzen, Interviews usw.) erfolgen, die dazu bestimmt sind, die Aufinerksamkeit eines Publikums zu erreichen, um spezifische Positionen zu vermitteln. Dazu gehört auch die Vorformulierung von Diskursmaterialien wie Texten bzw. Berichten, die den jeweiligen Textgattungen und Präsentationsformaten der Medien angepasst sind. All das lässt sich unter dem Begriff des professionellen agenda setting bzw. agenda building oder der public relations zusammenfassen (Baerns 1985).482 Tatsächliche oder angekündigte Katastrophen werden von einem beständigen Strom aus inszenierten diskursiven und nicht-diskursiven Begleit-Ereignissen flankiert und kommentiert. Dabei spielen nicht nur die neuen sozialen Bewegungen bzw. die daraus hervorgegangenen Organisationen eine wichtige Rolle: Bei der BSE-Krise waren entsprechende Aktionen der Bauern zu beobachten; jede Öltankerhavarie erzeugt Kommentierungswettläufe zwischen VerDaran setzen Kritiken an, die der Medienberichterstattung eine, Verzerrung der Realität' attestieren und, Technikfeindlichkeit' vorwerfen. Vgl. Ruhrmann (2003: 543t). Dem kontrastieren Vorwürfe, die Komplexität und das Ausmaß von Umweltproblemen nicht angemessen wiederzugeben (vgl. Keller 1995). 482 Vgl. Bentele (2003), Rössler (1997), Keller (1995), BrandlEderlPoferl (1997), Baringhorst (1998), Grewenig (1993). Exemplarisch wird dies deutlich an der Medienarbeit von Greenpeace (vgl. Rossmann 1993; KrügerIMüller-Hennig 2000). 481
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tretern unterschiedlicher Industrien und Organisationen. Die Infrastrukturen des agenda building sind ein unmittelbarer Ausdruck der gesellschaftlichen Definitionsverhältnisse oder Diskursordnungen. Im Schatten angekündigter oder eingetretener RisikoKatastrophen verändern sie sich durch Ressourcenverschiebungen, Professionalisierungsprozesse u.a., nicht zuletzt auch im Wechselspiel mit der gesellschaftlich-kulturellen Resonanz der Katastrophen. Ein letztes Faktorenbündel der Medienberichterstattung, das hier neben den massenmedialen Selektionskriterien und der als agenda building betriebenen Diskurspolitik sozialer Akteure genannt werden muss, sind die verschiedenen Deutungs-Mechanismen zur Erzeugung kulturellen Resonanzen. Mit dem Begriff der "kulturellen Resonanz" bezieht sich William Gamson (l988b) auf die in öffentlichen Diskursen verbreiteten Deutungsschemata, die ein Ereignis interpretieren. Während das Ereignis selbst das Potenzial, den Anlass stiftet, muss sich seine öffentliche Erzählung auf einen Kollektivvorrat an Mythen, allgemein bekannten Geschichten und verrugbaren Deutungsmustern beziehen, um ein Publikum anzuziehen, verstehbar zu sein, zu mobilisieren und Emotionen zu wecken. Die Aufmerksamkeit kann dadurch erregt werden, dass auf emotional stark besetzte Deutungsmuster, historische Vergleiche u.a. rekurriert wird, also auf solche Mittel des kulturellen Werkzeugkastens, denen in der kulturellen Tradition eines Kollektivs besonderes Gewicht zukommt. Die jeweils zirkulierenden Interpretationen sind die Quelle der sozialen und kollektiven Bedeutung eines Ereignisses, und nicht, zumindest nicht so sehr, die tatsächliche Wirklichkeit der Schäden. Ein gelungenes Beispiel rur Resonanzerzeugung war der von Greenpeace inszenierte Kampf um die Bohrplattforrn ,Brent Spar', der nach dem bekannten biblischen kulturellen Plot eines ,David gegen Goliath'-Konflikts inszeniert war und sich mit seiner Dramaturgie erfolgreich öffentliche Aufmerksamkeit sicherte. Greenpeace setzte in diesem dramatischen und symbolischen Kampf das Spektrum verrugbarer Medientechnologien ein und mobilisierte in einer Art Umweltkrimi die Emotionen und Aufmerksamkeiten einer breiten deutschen Öffentlichkeit über mehrere Tage hinweg. Eine solche massenmediale Ereignisrepräsentation lädt das Publikum zu einem Identifikationsprozess ein, der mit demjenigen bei großen Sportereignissen vergleichbar ist. Man kann davon ausgehen, dass mit der Globalisierung der Diskurse, die nicht länger auf nationale oder regionale Medienträger bezogen sind, sondern eher transnationale oder globale Publika anvisieren und erzeugen, entsprechend der Vorrat an Bausteinen kultureller Resonanz globalisiert wird. 483 Die angesprochenen Strukturen und Funktionsweisen der Medien variieren erheblich zwischen und auch innerhalb von Ländern. Die beschriebenen Selektionsprozesse, die sich sowohl auf die Auswahl der zu berichtenden Ereignisse als auch auf die Art und Weise der Berichterstattung selbst richten, ruhren zu länderspezifisch sehr unterschiedlichen Ergebnissen 484 - das ist eine Ursache nationaler Unterschiede der öffentlichen Risikoerfahrung. Wenn bspw. die Nichtregierungsorganisation Greenpeace in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ihre Positionen in den Medien lancieren kann, so ist das ein Zeichen rur ihr enormes symbolisches Kapital in diesem Aufmerksamkeitsraum; wenn im Unterschied dazu die Vgl. anlässlich des Holocaust bspw. die Beiträge im European Journal for Social Theory 1/2001, Levy/Sznaider (2001); allgemein dazu Robins (1998). 484 Mit ,länderspezifisch' ist hier der nach wie vor überwiegend nationalstaatlieh orientierte Aufrnerksamkeitsund Mitteilungsraum der Medien gemeint. 483
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französischen Medien Greenpeace einfach ignorieren, kann man von einem sozialen Akteur ohne Glaubwürdigkeit sprechen. Dadurch nehmen katastrophische Risikoereignisse sehr unterschiedliche konkrete Erfahrungsgestalten an. 485 Obwohl die Massenmedien eine Präferenz rur Skandale und Katastrophen (aller Art) aufweisen, verrugen sie doch gleichzeitig über eine ausgeprägte Neugier rur das Neue, die positiven Folgen und Zukunftsverheißungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts; auch die entsprechende Berichterstattung hat deswegen ihren öffentlichen Platz. So wie unsere Gesellschaften derzeit mit den neuen elektronischen Medien einen gewaltigen technischen Boom sehr positiv erleben, so lässt sich auch keineswegs behaupten, die Massenmedien seien per se ,technikfeindlich'. Eine Analyse der Anteile der Katastrophenberichterstattung an der gesamten Technikberichterstattung in verschiedenen deutschsprachigen Zeitschriften weist durchgehend im gesamten 20. Jahrhundert fiir Schadenmeldungen nur einen Umfang von etwa 10% aller Berichte aus (Dröge/Wilkens 1991). Beschäftigt man sich jedoch mit dem, was das gesellschaftliche Mitleiden erregt, dann sind es doch gerade die katastrophischen Anteile, die Resonanz [mden - das Publikum wird durch die großen Momente des Spektakels bewegt, sowohl als positives Glücksereignis wie als Katastrophe (Busse 2000). Demgegenüber tritt die positive Technikberichterstattung in ihrer öffentlichen Bedeutung weit zurück. 5.2.4.2
Kontroll- vs. Gefahrendiskurse
Die massenmediale Kommunikation über drohende oder eingetretene Katastrophen prozessiert sehr unterschiedliche Geschichten über solche Ereignisse. Insbesondere da, wo Katastrophen als Hybridphänomene im oben skizzierten Sinne gedeutet werden können, treffen konjUgierende Risikodiskurse aufeinander: Die Massenmedien sind dann Austragungsort symbolischer Kämpfe zwischen konkurrierenden Diskursen. Die diskursive Aufbereitung der Katastrophen nimmt die Gestalt einer Narration an - sie werden zum Kemelement einer oder mehrer Geschichten, die darüber erzählt werden (können). Erst die Einbettung in die Form der Erzählung macht das Geschehen kommunizierbar und damit rur die Rezeption durch ein nicht unmittelbar anwesendes Publikum erfahr- und verstehbar. Der Verweis auf die diskursive Einbettung solcher Geschichten, die einen spezifischen Sinn der Ereignisse anbieten, bedeutet, dass sie keinen singulären Charakter haben, sondern diskursive Regelmäßigkeiten aufweisen, die sich auf ihre Formen (hier vor allem: Medienformate) und Inhalte (typisierbare Deutungsmuster, story lines etc., vgl. Kapitel 4.3.3) erstrecken. Typischerweise handelt es sich dabei um Diskurse, die Querverbindungen zwischen verschiedenen (wissenschaftlichen, politischen, ökonomischen u.a.) Spezialdiskursen herstellen und einen öffentlichen (Inter-) Diskurs ausbilden. Die ereignisbezogenen Aussagen werden an verschiedensten massenmedialen und gesellschaftlichen Orten und Arenen aktualisiert. Die Produzenten und Akteure der Diskurse formieren sich zu konkurrierenden Diskurskoalitionen, die sowohl die inhaltlichen Problembeschreibungen der jeweiligen Gegner wie auch deren prinzipielle Legitimität als Sprecher in Frage stellen und fiir sich selbst die angemes-
485
Vgl. etwa Roqueplo (1986), Hajer (1995), Keller (1998), Gill (2003).
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sene Position reklamieren. 486 Die entsprechenden Diskurspositionen müssen dabei nicht notwendig neu erfunden werden. Hybrid-katastrophische Ereignisse liefern Gelegenheiten rur das ,Kramen in kulturellen Werkzeugkisten'. Diskursakteure aktualisieren in ihren Strategien der Resonanzerzeugung verrugbare kulturelle Repertoires bspw. der Technikkritik oder des Naturbezugs, ohne dass dies als einfache Fortsetzung oder Neuauflage vergangener Diskurse (oder Traditionen) verstanden werden sollte. 487 Unbenommen der konkreten Realität katastrophischer Ereignisse wird damit doch die Bedeutung "sozialer Definitionsverhältnisse" (Beck 1999: 149) oder der "Ordnungen des Diskurses" (Foucault 1974b) deutlich, die solche Interpretationen ermöglichen und strukturieren. Die nationalstaatlich begrenzten oder transnational geöffneten, durch Sprache und massenmediale Infrastrukturen strukturierten Reichweiten solcher Risikodiskurse erzeugen den gesellschaftlichen Erfahrungsraum einer Katastrophe. Der Vorschlag von Lars Clausen (1994), Katastrophen per se als Beispiel rur "krassen sozialen Wandel" zu betrachten, greift deswegen zu kurz. Die gesellschaftliche Resonanz der Diskurse über ein katastrophisches Ereignisses entscheidet über die von ihm ausgehenden Wandlungsimpulse. Die in Kapitel 5.1 angesprochenen unterschiedlichen Dynamiken der Umweltdiskurse in verschiedenen modemen Gesellschaften sind die Folge der je spezifischen institutionell-diskursiven Strukturierungen der angesprochenen Interpretationskonflikte. Prinzipiell können sich zwei Typen von Risikodiskursen aus einem Risikoereignis entfalten. 488 Erwart- und beobachtbar ist zunächst ein Diskurs, der um Beherrschungs-, Kontroll- und Normalisierungsversprechen bemüht ist, also auf die Externalisierung von Schuldfragen setzt - auf Natur, Gott, den Zufall oder bedauerliches menschliches Versagen im Einzelfall. Er kann als ,beruhigender Kontrolldiskurs' bezeichnet werden. Zur ,Entschuldung' und Entverantwortlichung von beteiligten Entscheidungsinstanzen und Organisationen ist diese Diskursposition bemüht, das katastrophische Ereignis zu naturalisieren oder als schicksalhaft und außergewöhnlich bzw. spezifisches technisches/organisatorisches Versagen zu normalisieren - im Falle des Vajont-Unglücks bspw. durch die zitierte Zuschreibung auf ,die Natur', in anderen Fällen durch den Hinweis auf unglückliche Umstände, menschliche oder technische Fehler, die sich in dieser Form nicht wiederholen werden. 489 Von Normalisierung zu sprechen, meint hier nicht die Bestreitung des Ereignisses, sondern entweder die Betonung seines fatalen, tragischen und unabsehbaren Ausnahmecharakters, der gerade deswegen nicht als Bezugspunkt der Infragestellung der materiellen und symbolischen Strukturen eines Kollektivs herangezogen werden kann, oder aber seine auf technische oder organisatorische Komponenten eindeutig zurechenbare Verursachung. Wenn Konsequenzen gezogen werden müssen, dann bestehen diese in der Verbesserung technischer Schutz- und Kontroll-Dispositive gegen das Unvorhersehbare. Damit Vgl. als exemplarische Fallstudien Viehöver (1997), Keller (1998), Hajer (1995), Litfin (1994), auch die Beiträge in Darier (1999). 487 Vgl. im Unterschied dazu die Positionen von Eder (1988) oder Gill (2003). 488 Die konkrete Anzahl ist eine empirische Frage. Vgl. zur Unterscheidung von konkurrierenden Sub-Diskursen auch Kapitel 4.2.5. 489 Perrow (1986) zeigt sehr deutlich, wie sich bei "normalen Unfallen" beteiligte Organisationen wechselweise Schuld zuschreiben, um der eigenen Haftung zu entgehen bzw. das Versagen der anderen zur Ereignisursache zu erklären. Dieser Interessenskonflikt innerhalb des Kontrolldiskurses liefert dem herausfordernden Diskurs wichtige Anknüpfungspunkte rur seine Gegennarration. Auf die wachsende Bedeutung moralischer Diskurse verweist Münch (1995). 486
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soll die von der Katastrophe angeschlagene institutionelle und symbolische Infrastruktur restabilisiert, das Ereignis in die Fraglosigkeit der bestehenden Routinen rückübersetzt werden. Die Notwendigkeit einer solchen Interpretation der Phänomene ergibt sich nicht zuletzt aus den Legitimitäts-, Selbstschutz- und Bestandserhaltungserfordernissen der in den Ereignissen involvierten Entscheidungsinstanzen bzw. institutionellen Felder und Akteure. Ihre Sprache ist die Sprache der Versachlichung. Der herausfordernde Gegendiskurs bemüht sich stattdessen um die Skandalisierung der Katastrophe durch Verweise auf ihre Absehbarkeit, menschliche Hergestelltheit und Vermeidbarkeit. Im Rückgriff auf die weiter oben angesprochenen Konzepte Bruno Latours geht es hier also darum, Artefakte, Natur und Soziales nicht als getrennte Entitäten, sondern als notwendig riskante und damit gefahrenträchtige Verwicklungen zu konturieren. 490 Dieser ,Gefahrendiskurs' stellt die modeme Idee der sicheren Kontrollgesellschaft in Frage und setzt an ihre Stelle die kollektive Not und Bedrohtheit einer Gefahrengemeinschaft. Er will andere Konsequenzen der Ereignisse, befurwortet eine strukturelle Veränderung des Arrangements von Natur, Artefakten und Sozialem - die Katastrophe wird hier zum Anlass einer (eingeforderten) soziokulturellen Strukturtransformation der symbolischen Ordnung. Zu Mobilisierungszwecken arbeitet dieser Diskurstyp mit Mitteln ästhetischer Inszenierung, mit den ausgelösten Erschütterungen, Skandalisierungen, Dramatisierungen und Moralisierungen, setzt sowohl auf Argumente und Wissen wie auch auf gefilhlsbetonte Bilder und Metaphern. Dadurch wird ein Ereignis zum Symbol oder Mahnmal fur eine falsche Fortschrittskonzeption, zur Warnung und Aufforderung, den gewählten Weg zu überdenken, zu verlassen, solange es noch geht. Die Risikokommunikation in modemen Massenmedien bietet diesem Diskurs vergleichsweise günstigere Verbreitungsbedingungen als dem weiter oben skizzierten Kontrolldiskurs. Die serielle Folge eingetretener Katastrophen akkumuliert sich zu einer Summe von Belegen filr seine Berechtigung. Darauf kann sich das Referenzsystem der massenmedialen Öffentlichkeit als modemes Kollektivgedächtnis immer wieder beziehen und damit permanent die bestehende symbolische Ordnung unter Spannung halten. Bezogen auf die Präsenz der unterschiedenen Risikodiskurstypen - der beruhigende Kontrolldiskurs einerseits, der herausfordernde Gefahrendiskurs andererseits491 - in den Arenen massenmedial vermittelter Öffentlichkeiten ergeben sich drei Kombinationsmäglichkeiten, die ich kurz erläutern möchte: So sind zunächst relative bis absolute Dominanzen eines Diskurstypus vorstellbar, die von mehr oder weniger starken Marginalisierungen des anderen Typus - bis hin zu seiner Verdrängung ins Außerhalb gesellschaftlicher Allgemeinöffentlichkeit - begleitet werden. Dominiert in einer ersten Variante einer solchen Hegemonialität der Typus des Kontrolldiskurses, dann entsteht in den Kollektiven, die über ein spezifisches Netz massenmedialer Vermittlung erreicht werden, keine generalisierte 490 Wenn man von der Existenz mindestens zweier Diskurse ausgeht, bedeutet dies noch nicht, dass beide in der öffentlichen Diskussion vertreten sind (vgl. Keller 1998). 491 Selbstverständlich bedienen sich beide Diskurstypen ästhetisierender und ,sachlicher' rhetorischer bzw. dramaturgischer Mittel. Das ergibt sich einerseits aus massenmedialen Vermittlungsanforderungen und Mobilisierungsbedingungen, andererseits aber auch aus der hohen Legitimität des Sacharguments - das im übrigen ebenfalls seine eigenen ästhetischen Qualitäten entfaltet - in öffentlichen Definitionskonflikten, der unter modernen Bedingungen kein Herausfordererdiskurs zu entkommen vermag. Dennoch bedient sich die Herausforderung aufgrund ihrer spezifischen Ressourcenkonstellation stärkerer ästhetisch-mobilisierender Elemente, um massenmediale Resonanz zu erreichen.
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risikogesellschaftliche Erfahrung. Eine dauerhaft stabilisierte Dominanz des Gefahrendiskurses als zweite Möglichkeit eines hegemonialen Verhältnisses erscheint dagegen aus verschiedenen Gründen als unwahrscheinlich: Zunächst wäre damit eine gesellschaftliche Selbsterfahrung als ständig bedrohte, verunsicherte Gefahrengemeinschaft verbunden, die zu einer schnellen Infragestellung und Ablösung der zentralen institutionellen Arrangements fuhren könnte. Erzeugen die entsprechenden Bemühungen nicht eine gewisse ,Beruhigung' und Transformation des Gefahren- zum Kontrolldiskurs, so ist eine allgemeine Haltung des Fatalismus, der ebenso undurchschau- wie unkontrollierbaren Schicksalsabhängigkeit erwartbar. Andererseits schwächt gerade die wiederholte Konfrontation mit katastrophalen Ereignissen deren Ereignisqualität: in diesem Sinne "normale Unfälle" haben kaum noch mobilisierende Wirkungen oder Nachrichtenwertigkeit. Wahrscheinlicher ist deswegen drittens neben der möglichen Hegemonialität des Kontrolldiskurses das Vorkommen von synchron und diachron unterschiedlich ausgeprägten Mischungsverhältnissen, zeit- und ereignisbezogenem Oszillieren zwischen beiden Diskursformen, die dann wechselweise aufeinander reagieren und in einen Wettlauf der Interpretation eintreten. Empirische Belege fiir das tatsächliche Vorkommen und konkrete Verhältnis der hier theoretisch abgeleiteten Typen des Risikodiskurses - den mit einem kognitiven Bias versehenen Kontrolldiskurses und den konkurrierenden, ästhetisierend-dramatisierenden Gefahrendiskurs - liefern die teilweise bereits in Kapitel 5.1 erwähnten Diskursanalysen einzelner Themen der Umwelt- und Risikodiskussion. 492 Diese Untersuchungen zeigen an unterschiedlichen Themenfeldern nicht nur die Existenz oder das Fehlen konkurrierender Diskurse innerhalb nationaler Kontexte, sondern auch die länderspezifischen Differenzen der zirkulierenden Interpretationen katastrophischer Ereignisse. Über diese DeskriptionlRekonstruktion hinaus erklären sie die beobachteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der öffentlichen Bedeutung und gesellschaftlichen Erfahrung der technisch-ökologischen Risiken aus den Mechanismen der Diskursproduktion und -konkurrenz als Ergebnis eines performativen Prozesses, einer permanenten Produktion und Reproduktion von symbolischen Ordnungen. Eine besondere Rolle kommt dabei den historisch gewachsenen Strukturierungen gesellschaftlicher Öffentlichkeiten zu. In den letzten Jahrzehnten wurde mehrfach ein neuerlicher "Strukturwandel der Öffentlichkeit" im Zusammenhang mit der zivilgesellschaftlichen Einmischung in öffentliche Problemdebatten konstatiert (Eder 1996; Habermas 1990; 1994).493 Damit ist ein Wandel in der Ordnung öffentlicher Diskurse anvisiert, der sich seit den 60er Jahren in den national organisierten Öffentlichkeiten moderner Gesellschaften mit 492 Dazu zählen unter anderem Hajers (1995) Analyse der Diskussion über Sauren Regen in Großbritannien und den Niederlanden, Roqueplos (1989) Untersuchungen über den Sauren Regen in Europa, meine eigene Studie über die Hausmülldebatten in Frankreich und Deutschland (Keller 1998), die Analysen zur Klimadebatte von Viehöver (1997) sowie Weingart/EngelslPansegrau (2002), Poferls (1997) Rekonstruktion der, Tschernobyl Media Story' u.a. Vgl. dazu auch Eder (1988), BrandlEderlPoferl (1997), AllaniCarter/Adam (2000), Anderson (1997), ThevenotILafayelMoody (2000), Lascoumes (1994) sowie zur Gentechnologie-Debatte BonfadellilDahinden (2002) und Gill (2003). 493 Überblicke über verschiedene Öffentlichkeitstheorien geben Imhof (2003) und Pellizzoni (2003). Jürgen Habermas erwähnt einen neuen Elan der öffentlichen Sphäre, der seiner eigenen negativen Prognose von Anfang der 60er Jahre widerspricht (Habermas 1990, 1994); Ronald Inglehart stellt eine steigende Nachfrage nach politischer Partizipation fest (Inglehart 1998). Klaus Eder (1996) verweist auf die Rolle der Umweltbewegungen in diesem Prozess. Vgl. zur aktuellen Debatte über Transformationen von Öffentlichkeit auch Eder/Kantner (2000), BenteleIHaller (1997), Ferree/GamsoniGerhardslRucht (2002), Gerhards (200 I), Neidhardt (1994).
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unterschiedlichen Graden und Geschwindigkeiten vollzieht. Als allgemeine Merkmale dieses Wandels gelten die Pluralisierung der sich an öffentlichen Diskussionen und Diskursen beteiligenden Akteure, die Erosion der Autorität wissenschaftlichen Wissens bzw. wissenschaftlicher Expertise in den öffentlichen Prozessen der Entscheidungsfindung, die mit der Anerkennung vielfaltiger wissenschaftlicher Unentscheidbarkeit einhergeht, und die Fragmentierung der öffentlichen Arenen in zahlreiche, mehr oder weniger miteinander vernetzte Teilöffentlichkeiten. Wissenschaftliches Wissen hat dadurch seinen autoritativen Status bei der Schließung diskursiver Kontroversen eingebüßt (Pellizzoni 2003). Die katastrophischen Risikoereignisse spielen in diesem Prozess der Transformation von Öffentlichkeiten eine wichtige, den Wandel befördernde Rolle, weil sie im Sinne der skizzierten Prozesse neuen Diskursen, Akteuren und Argumenten eine Plattform der Artikulation verschaffen. Das Verhältnis zwischen katastrophischen Ereignissen und ihrer massenmedialen Kommunikation in Gestalt konkurrierender Diskurse ist durchaus ambivalent. Das Ansteigen des Potenzials oder der Zahl tatsächlicher Risiko-Katastrophen kann gerade unter den Bedingungen ihrer massenmedialen Verbreitung zur Normalisierung oder Banalisierung der Risikoerfahrung beitragen, d.h. dass sie - je mehr es davon gibt, sie zum Thema werden, je öfter medial erzeugte Teilnehmerperspektiven entstehen, je weniger Steigerungseffekte erzielbar sind - ihren Status der (mobilisierenden) Ereignisse verlieren und zur kollektiven Routine werden, von der sich die Medien - und ihr Publikum - gelangweilt abwenden. Sie fungieren dann auch für die massenmediale Risikokommunikation nicht länger als ,interessante Themen'. Je seltener man von Risiko-Katastrophen spricht, desto stärker bleibt ihre situative Wirkung als massenmediale Gefahren- und Gemeinschaftserfahrung. Je häufiger sie zum Medienthema werden, desto routinisierter wird ihre Walunehmung; sie verlieren letztlich ihren mobilisierenden Status und ihre Themenfahigkeit. Die risikogesellschaftliche Gefahrendiskurs erscheint dann (vorübergehend) als Ideologie ohne empirische Basis. Ungeachtet dieser Ambivalenz zeigen die vorliegenden Studien, dass risikoinduzierte Gefahrendiskurse in mancherlei Hinsicht Veränderungen der institutionellen Arrangements der Wissensproduktion bzw. der Wissensverhältnisse moderner Gesellschaften ausgelöst haben. Dazu zählen bspw. die Etablierung neuer Leitbilder und institutioneller Dispositive des gesellschaftlichen Zukunftsmanagements in Gestalt der Konzepte von ,nachhaltiger Entwicklung', risikobezogenen Vorsorge-Strategien und entsprechenden Suchheuristiken der Wissensgenerierung, die in Kapitel 5.1 als neue Grammatik der Verantwortlichkeit bezeichnet wurden. Dazu zählen auch die Einrichtung von Foren der kommunikativen Bearbeitung von risikobezogenen Entscheidungen und der Einbezug neuer legitimer Akteure in diese Diskussionen sowie nicht zuletzt die verschiedenen Veränderungen großund kleintechnischer Prozesse oder alltäglicher Praktiken des Konsums u.a. Gewiss fallen solche Veränderungen (bislang) weniger radikal aus, als dies entsprechende Diskurspositionen fordern. Darin zeigt sich das fortdauernde Gewicht der Kontrolldiskurse, das Beharrungsvermögen der durch sie geformten Dispositive und Praktiken sowie ihre Kompetenzen im Umgang mit der Herausforderung. 494 Allerdings wird erst die künftige Betrachtung in einem längerfristigen Zeithorizont eine abschließende Einschätzung über die Reichweite der anvisierten Transformationsprozesse geben können. 494
Vgl. dazu Hajer(1995, 1997).
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5.3 Bilanz und Ausblick: Die Politik der Diskurse In den vorangehenden Abschnitten habe ich zunächst in Kapitel 5.1 die wichtigsten Ergebnisse der Umweltdiskursforschung zusammengefasst. Im anschließenden Kapitel 5.2 wurde dann diskutiert, inwiefern Risikoereignisse unter Bedingungen der modemen massenmedialen Öffentlichkeiten Chancenstrukturen für die Verbreitung von Diskursen erzeugen, die solche Ereignisse der kollektiven Erfahrung zugänglich machen und sie im Hinblick auf die vorhandenen symbolischen Ordnungen justieren. Resümierend lassen sich die verschiedenen Prozesse und Mechanismen diskursiver Wissenspolitiken in ihrem Verhältnis zu Formen des sozialen Wandels, die hier exemplarisch am Beispiel der Risikodiskurse erläutert wurden, mit dem Begriff einer Politik der Diskurse bezeichnen. Ich greife damit Überlegungen auf, die im angelsächsischen Raum bspw. in der Unterscheidung zwischen den ,politics ofculture' und der ,culture ofpolitics' deutlich werden (Nash 2000). Während die ,Kulturen der Politik' einen spezifischen Stil politischer Auseinandersetzungen und Prozesse sowie eine darauf gerichtete Analyseperspektive bezeichnen, betont das Konzept der ,Politiken der Kultur' die politischen Implikationen kultureller Prozesse, bspw. die Strukturierung von gesellschaftlichen Entscheidungsoptionen durch die Art und Weise der Bedeutungszuweisung zu einem Phänomen. Analog bezieht sich das Konzept einer Politik der Diskurse auf die ,politischen' Implikationen diskursiver Prozesse. Dies meint nicht (nur) das im engeren Sinne politische Feld der Gesellschaft, obwohl auch und gerade dort die Umweltdebatten durchaus prägend intervenierten. Vielmehr geht es darüber hinaus um die Veränderungen institutioneller Praktiken und Dispositive in verschiedenen gesellschaftlichen Handlungsfeldern, um die Prozesse der Ein- und Ausschließung von Akteuren in die diskursiven Formationen, um die Thematisierung der inhärent politischen Qualität von Sinnzuschreibungen in diskursiven Prozessen. Wo liegen in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten des in der vorliegenden Arbeit entwickelten Ansatzes der Wissenssoziologischen Diskursanalyse? In erster Linie handelt es sich dabei um ein prozessorientiertes empirisches Forschungsprogramm, das in der Lage ist, sozialen Wandel in modemen Gesellschaften als Veränderung bzw. Transformation, als soziale Konventionalisierung und Dekonventionalisierung von Diskursen und Praktiken in den Blick zu nehmen. In diesem Sinne kann die entwickelte Diskursperspektive die Durchfuhrung empirischer Wissensanalysen des sozialen Wandels anleiten. Sie lässt sich freilich auch unabhängig von einer solchen gesellschaftstheoretisch inspirierten Fragestellung fur die in Kapitel 4.4 skizzierten ,kleinformatigeren' Anliegen nutzen. Diskursiv konfigurierte Wissenspolitiken erweisen sich über den angesprochenen Bereich der Risikodiskurse hinaus zugleich als wichtige Antriebskräfte des sozialen Wandels einerseits, als darauf bezogene Interpretationen dessen, ,was vor sich geht' andererseits. Auf ihrer Bedeutung zu insistieren, heißt weder, einem kurzschlüssigen Idealismus zu verfallen, den schon Marx und Engels verwarfen, noch umgekehrt einem absoluten Primat der Praxis zu folgen wie in einigen Adaptionen der marxistischen Ideologiekritik, die Ideen nur als Anhängsel und Effekt betrachten. Vielmehr bedeutet es, Diskurse als Realität und Form der Praxis zu begreifen, die wechselseitige Ko-Produktion von Ideen und Praktiken im Auge zu behalten und die sozialkonstruktivistische Tradition der Wissenssoziologie in diesem Sinne zu interpretieren. In den Worten Foucaults geht es also um Diskurse als Praktiken, die Gegenstände konstituieren. Sie tun dies jedoch nicht in einem leeren, gleichsam ,unbesprochenen' Raum, sondern in einem komplexen Gefuge von diskursiven Ordnungs-
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prozessen, die mit unterschiedlichen Ressourcen und in unterschiedlichen Stadien der institutionelIen Kristallisation alIesamt um die (vorübergehende) Fixierung von symbolischen Sinn- und Praxisstrukturen ringen. Strukturen sind in den Worten von Joseph Gusfield (1981) ,als Ordnungsmuster eingefrorene Prozesse', die jederzeit aufgetaut, d.h. zum Gegenstand von geselIschaftlichen Auseinandersetzungen werden können.
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Gegenstand der vorliegenden Untersuchung war das Forschungsprogramm einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Dieser Ansatz wurde als Ergänzung und Weiterfuhrung der Hermeneutischen Wissenssoziologie vorgestellt, die ihrerseits in der Tradition der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie steht. Die Entfaltung einer diskursorientierten Perspektive der Wissenssoziologie erfolgte in drei Schritten: Zunächst habe ich im 2. Kapitel anhand der historischen Entwicklung wissenssoziologischer Fragestellungen diskutiert, inwiefern verschiedene Etappen, Konjunkturen und Schwerpunktsetzungen der Wissenssoziologie unterschieden werden können. In diesen sukzessiven Phasen werden ihre ursprünglichen Fragen nach der sozialen Bedingtheit des Wissens in Analysen seiner sozialen Konstruktion und später dann in diejenigen nach seiner kommunikativen Konstruktion überfuhrt. Die jeweiligen Veränderungen bezeichnen eher Akzentverschiebungen als komplette Neuorientierungen. Mit der Verlagerung geht eine Konkretisierung der theoretischen Positionen und eine Umsetzung wissenssoziologischer Perspektiven in empirisch bearbeitbare Forschungsfragen einher, die sich als Verschiebung von der Ideenanalyse zur Beschäftigung mit Wissen und Sprache in konkreten Handlungsvollzügen beschreiben lässt. So wird etwa die von Durkheim und Mauss aufgeworfene Frage nach der gesellschaftlichen Entstehung und der sozialen Bedeutung von KlassifIkationssystemen sowohl in der Bourdieuschen Soziologie der Praxis wie auch in der empirisch-konstruktivistischen Wissenschaftsforschung aufgegriffen. Während Bourdieu sich fur die Funktion von KlassifIkationen in gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen interessiert, beschäftigen sich die Social Studies of Science mit den sozialen Grundlagen ihrer Genese und Durchsetzung im Sinne eines praktischen Herstellungsprozesses. In davon unterschiedener Weise bezieht sich die sozialkonstruktivistische Wissenssoziologie auf die von Marx, Durkheim oder Mannheim aufgeworfenen Problemstellungen. Sie analysiert die Konstruktionen und Zirkulationen von Wissen in der gesellschaftlichen AlltagsweIt, also in verschiedensten Bereichen des privaten oder professionellen HandeIns, nicht nur, wie die Wissenschaftsforschung, in entsprechenden wissenschaftlichen Settings. Mit der Analyse kommunikativer Gattungen rückt sie die Bedeutung der Kommunikationsmuster fur die Wissenszirkulation in den Vordergrund. Die - von Hubert Knoblauch in seinem Konzept der "Kommunikationskulturen" mit der Hermeneutischen Wissenssoziologie verknüpfte - Perspektive des Symbolischen Interaktionismus fuhrt erstmals den Begriff des Diskurses in die wissenssoziologische Tradition ein. Diskurse werden hier im Kontext des Pragmatismus und der daran anschließenden soziologischen Tradition als öffentliche Aushandlungsprozesse und DefInitionskonflikte zwischen konkurrierenden sozialen Akteuren betrachtet. Etwa zeitgleich entsteht auch in den Social Studies of Science eine Perspektive der Diskursanalyse, die sich an das interpretative Paradigma und die soziologischen sowie sprachwissenschaftlichen Varianten der Konversationsanalyse anlehnt und auf die Analyse des Sprachgebrauchs in Kommunikationsprozessen innerhalb des Wissenschaftsbetriebes
R. Keller, Wissenssoziologische Diskursanalyse, DOI 10.1007/978-3-531-17837-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zielt. Allerdings entwickelt sich aus diesen Ansätzen keine systematisierte wissenssoziologische Perspektive der Diskursforschung. Die erläuterten Schritte von der Beschäftigung mit der sozialen Bedingtheit über die Betonung der Konstruktion des Wissens und schließlich der Hinwendung zu Kommunikationsprozessen als dem ,Medium' der Wissenskonstruktion münden jedoch keineswegs in ein theoretisch umfassendes Paradigma der Wissenssoziologie. Im Gegenteil kann heute eher von einer unverbundenen Heterogenität von Ansätzen ausgegangen werden, die sich wechselseitig kaum zur Kenntnis nehmen und nicht bemüht sind, eine integrierende Programmatik zu entwickeln. Insoweit sind die verschiedenen Sammelbewegungen der 1980er Jahre, die in Kapitel 2.3.1 erwähnt wurden, weitgehend folgenlos geblieben. Während die Social Studies of Science und der Symbolische Interaktionismus für unterschiedliche aktuelle angelsächsische Varianten der Wissenssoziologie stehen und Bourdieus Theorie der Praxis sowie die wissenssoziologischen Elemente des (Post-)Strukturalismus ihre Entwicklung in Frankreich prägten, verkörpert im deutschen Sprachraum die Hermeneutische Wissenssoziologie wissenssoziologische Perspektiven. Luhmanns systemtheoretische Entwürfe der Wissensanalyse haben demgegenüber keine größere Bedeutung gewonnen. Insgesamt zeigt ein Resümee der Geschichte der Wissenssoziologie deren Ambivalenzen: Zum einen hat sie die Perspektiven der allgemeinen Soziologie in kaum zu überschätzender Weise geprägt und den Wissensbezug des sozialen Handelns in allen theoretischen Paradigmen als unhintergehbare Größe fest verankert. Auf der anderen Seite wird sie als Spezialsoziologie betrieben, die Probleme hat, ihren Gegenstandsbereich hinreichend von anderen Spezialsoziologien abzugrenzen, zumindest dann, wenn sie sich nicht darauf beschränkt, formale Strukturierungen des Wissens - etwa die Typen seiner sozialen Verteilung, die Möglichkeiten der Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft u.a. - zu analysieren, sondern sich mit spezifischen Gegenstandsfeldern beschäftigt. Die Hermeneutische Wissenssoziologie umfasst heute unterschiedliche Ansätze, deren Gemeinsamkeit in der Konzentration auf Kommunikationsprozesse und Rekonstruktionen von Wissen in der privaten und beruflichen Alltagspraxis besteht. ,Institutionelle Wissensprozesse' entgehen bislang ihrer Aufmerksamkeit. Auch bleibt ihre allgemeine Rede von der kommunikativen Konstruktion des Wissens zu unspezifisch, als dass sich daraus eine zusammenführende Orientierung der verschiedenen Vorgehensweisen ergeben könnte. An diesen Defiziten setzt das Konzept einer Wissenssoziologischen Diskursanalyse in zweifacher Hinsicht an: Erstens schlägt es der Hermeneutischen Wissenssoziologie eine Erweiterung ihrer Fragestellungen im Hinblick auf die Analyse der Produktion und Zirkulation kollektiver Wissensbestände vor. Die Hermeneutische Wissenssoziologie wird es sich, will sie dem Vorwurf eines naiven Alltagsrealismus entgehen, nicht länger, leisten' können, die Ebenen der institutionell-organisatorischen Wissensprozesse unter den Bedingungen einer posttraditionaJen Gesellschaft zu vernachlässigen. Zweitens wird dafür plädiert, die Perspektive der ,kommunikativen Konstruktion' für diese Zwecke in der theoretischen Perspektive einer diskursiven Konstruktion des Wissens zu bündeln. Mit der Wissenssoziologischen Diskursanalyse steht der Hermeneutischen Wissenssoziologie ein Theorie- und Forschungsprogramm zur integrierten Analyse der genannten Prozesse zur Verfügung. Erst damit kann sie ein Programm angemessen verfolgen, das bspw. von Hans-Georg Soeffner so formuliert wurde:
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"Vor allem geht es darum, die Formung unserer Alltagswirklichkeit und unseres Alltagshandelns durch Institutionen, Produkte, Weltsichten, kollektive ,Mentalitätsfiguren', Handlungsmuster und Wissensformen zu zeigen. Sie alle werden im menschlichen Handeln modelliert, gewinnen dort ihre Gestalt und Wirklichkeit und wirken ihrerseits auf menschliches Handeln zurück. Kurz: Es geht auch um die Rückwirkung der gesellschaftlichen Konstruktionen auf ihre Konstrukteure. Die Analyse versteht sich damit als Rekonstruktion der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit." (Soeffner I 992c: 477)
Im 3. Kapitel habe ich die weitgehend ohne Bezüge zur Wissenssoziologie verlaufene Karriere diskursorientierter Ansätze der Wissensanalyse vorgestellt. Die zentrale Position innerhalb der Diskurstradition nimmt das Werk Michel Foucaults ein. Daran knüpfen verschiedene erläuterte Weiterführungen der Diskursforschung an. Gegenwärtig kann hier ähnlich wie in der Wissenssoziologie von einem Nebeneinander unterschiedlicher Theorieund Forschungsprogrammatiken gesprochen werden, zu deren wichtigsten die kritische Diskursforschung, die Diskurstheorie von Lac1auIMouffe und der Diskursansatz innerhalb der Cultural Studies gehören. Aus Foucaults Arbeiten wurden Hinweise darauf gewonnen, welche Ansatzpunkte für eine Einbettung der Diskursperspektive in die Wissenssoziologie bestehen, welche Grundfragen dabei beantwortet werden müssen und welche Diskursdimensionen ein adäquater begrifflicher Apparat erfassen muss. Ein solcher Anschluss an Foucault impliziert weder die Übernahme seiner erkenntnistheoretischen Positionen noch eine komplette Anlehnung an seine Konzepte; er unterstellt auch nicht die Kompatibilität oder Konvergenz seiner diskurstheoretischen Wissensanalyse mit derjenigen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie. Allerdings zeigte sich, dass Foucault entgegen mancher Lesarten seines Werkes durchaus der Bedeutung von Akteuren, Praktiken und Handeln zunehmend Rechnung getragen und sein Diskursverständnis entsprechend modifiziert hatte, auch wenn dies nicht in einer theoretisch-methodologischen Positionsbestimmung festgehalten wurde, die derjenigen innerhalb der "Archäologie des Wissens" vergleichbar wäre. Die verschiedenen, Foucaultsche Anregungen mehr oder weniger stark aufgreifenden Variationen der Diskursperspektive in kritischer Diskursforschung, den Cultural Studies oder der Diskurstheorie von Lac1auIMouffe verbinden die Diskursperspektive mit anderen disziplinären Interessen, bspw. den Sprach- und Politikwissenschaften, der marxistischen Ideologiekritik u.a. Die Weiterentwicklungen der Diskurstheorie beziehen sich in der kritischen Diskursforschung auf die Hinwendung zur detaillierten Analyse einzelner Sprachereignisse bzw. diskursiver Ereignisse. Lac1auIMouffe greifen mit ihrem Konzept der "Artikulation" die Überlegungen zu den Funktionsweisen von Sprecher- und Subjektpositionen im Foucaultschen Werk auf und verknüpfen sie mit einem spezifischen Akteursverständnis. Die Cultural Studies schließlich akzentuieren vergleichsweise stärker die Rolle sozialer Akteure und symbolischer Kämpfe im "Kreislauf der Kultur". In der Gesamtbilanz wird so gegenüber der ursprünglichen Foucaultschen Konzeption eine stärkere Einbindung von Akteuren, eine explizite Aufnahme der Beschäftigung mit Diskursinhalten und eine Hinwendung zur Detailanalyse einzelner diskursiver Ereignisse deutlich. Allerdings treten dabei sowohl der Wissensbegriff wie auch die Verortung der Diskursperspektive im Hinblick auf die Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken zunehmend in den Hintergrund. Das 4. Kapitel beschäftigte sich mit den verschiedenen Schritten einer Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Dabei wurde zunächst gezeigt, inwieweit eine
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solche Diskursperspektive der Analyse von gesellschaftlichen Wissensverhältnissen und Wissenspolitiken als Diskurse auf die Behebung vorhandener Einseitigkeiten der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie zielt. Dann habe ich vor dem Hintergrund der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie verschiedene Grundelemente eines solchen Ansatzes - seine Konzepte des Zeichengebrauchs, des Verhältnisses von Diskursen und diskursiven Ereignissen, der Akteure und Praktiken sowie schließlich das Verständnis von diskursiven Formationen, Spezialdiskursen und öffentlichen Diskursen - erläutert. In einigen Fällen konnte die Wissenssoziologische Diskursanalyse hier direkt an bestehende überlegungen anknüpfen; teilweise erwies sich ein Rekurs auf andere Ansätze als notwendig. Im Einzelnen wurde gezeigt, dass die Konzepte des Zeichengebrauchs innerhalb der sozialphänomenologischen bzw. sozialkonstruktivistischen Tradition der Wissenssoziologie in der pragmatistischen Semiotik verankert sind, die einerseits mit dem Begriff des Diskursuniversums eine Vorstellung dafür entwickelt hat, wie soziale Akteure in ihren Interpretations und Interaktionsprozessen gemeinsame Deutungshorizonte ihrer WeItwahrnehmung erzeugen, und die andererseits bereits auf Diskursspezialisierungen hinwies, also die Ausdifferenzierung unterscheidbarer Konventionalisierungen des Sprachgebrauchs und der inhaltlichen Fokussierung. Das Verhältnis zwischen Diskurs und diskursivem Ereignis konnte im Anschluss an Giddens Konzept der Dualität von Struktur bestimmt werden. Diskurse sind dann Strukturzusammenhänge von Regeln und Ressourcen der Produktion und Distribution von Aussagen, welche die praktischen Handlungsvollzüge sozialer Akteure anleiten. Diskursive Ereignisse entstehen also nur aus dem konkreten Handeln bzw. in den Praktiken sozialer Akteure. Solche Akteure können als Rollenspieler in institutionellen Settings verstanden werden, die in der Verfolgung von Handlungszielen Diskurse (re-) produzieren und auch verändern. Als Sprecherpositionen wurden in diesem Zusammenhang die institutionellen Orte des legitimen Sprechens in Diskursen bezeichnet; davon habe ich Subjektpositionen als Positionierungen von Akteuren durch Diskurse bzw. als diskursiv angebotene Identitätsschablonen unterschieden. Auf solche Angebote von Subjektpositionen reagieren die adressierten Rezipienten nach ihren mehr oder weniger eigenwilligen Auslegungsweisen. Auch der Begriff der Praktiken wurde in mehrfacher Hinsicht differenziert. Obwohl die Hermeneutische Wissenssoziologie selten explizit von Praktiken spricht, verfügt sie doch mit ihren Konzepten des Routinewissens, des kollektiven Handlungsrepertoires, der kommunikativen Gattungen u.a. über vergleichbare Vorstellungen von konventionalisierten Handlungsvollzügen, an denen sich soziale Akteure orientieren. Unterschieden wurden Praktiken der Diskurs(re)produktion von im Diskurs entwickelten Modellpraktiken und von außerdiskursiven Praktiken in gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Ein letzter Punkt der Klärung betraf die Beziehungen zwischen dem Konzept der diskursiven Formationen und der Unterscheidung von Spezialdiskursen bzw. öffentlichen Diskursen. Hier wurde argumentiert, dass sowohl Spezialdiskurse wie auch öffentliche Diskurse im Hinblick auf ihre Formationsregeln und Effekte untersucht werden können. Inwieweit sich das Analyseinteresse dabei auf die Konkurrenz inhaltlicher Diskurspositionen oder auf die gemeinsamen Formationsregeln innerhalb diskursiver Felder richtet, muss nach den konkreten Forschungsinteressen bestimmt werden und kann nicht, wie einige, sich auf Foucault berufende Positionen behaupten, daraus abgeleitet werden, dass nur eine spezifische Defmition von Diskursen zugelassen wird, die viele mögliche Gegenstands- und Anwendungsbereiche der Diskursperspektive ausschließt. Das Verhältnis von Formationsregeln und konkurrierenden Gegenstandskonstitutionen in Spezialdiskursen bzw. öffentlichen
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Diskursen wurde deswegen als Ebenenverhältnis und analytische Unterscheidung im Forschungsprozess eingeruhrt. Nach dieser zunächst programmatischen und dann theoretischen Grundlegung habe ich, bezogen auf die inhaltliche Strukturierung und die Materialität von Diskursen, verschiedene Grundbegriffe der Wissenssoziologischen Diskursanalyse vorgestellt und die damit verbundenen Fragestellungen erläutert. Zum vorgeschlagenen Vokabular gehören, bezogen auf die inhaltliche Strukturierungsebene, die Begriffe des Deutungsmusters, der Klassifikationen, der Phänomenstruktur und der narrativen Struktur. Die Erfassung der Materialität von Diskursen wurde durch die Konzepte der Akteure, Praktiken und Dispositive anvisiert. Damit ist die Bearbeitung verschiedenster Forschungsfragen im Hinblick auf Diskurse möglich: die Rekonstruktion und Erklärung ihrer Verläufe, die Analyse ihrer gesellschaftlichen Folgen, der Vergleich von Diskurstypen oder Diskursformationen, die Untersuchung der Beziehungen zwischen Diskursen und gesellschaftlichen Praxisfeldern sowie dem Alltags- und Praxiswissen sozialer Akteure u.a. Die Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse wurde mit einer Erörterung ihrer wichtigsten methodologischen Implikationen - ihrem konstruktivistischen und selbstreflexiven Status als Diskurs über Diskurse, ihrer Programmatik der Rekonstruktion und Erklärung von Diskursprozessen, ihrem unhintergehbar interpretativen Charakter, den notwendigen Adaptionen qualitativer Methoden der Sozialforschung und ihrer umfassenden Datenbasis - abgeschlossen. Kapitel 5 bezog die skizzierte Forschungsprogrammatik auf ein konkretes Feld gesellschaftlicher Wissenspolitiken - die Umwelt- und Risikodiskurse der letzten Jahrzehnte, um exemplarisch zu verdeutlichen, wie eine wissenssoziologisch-diskursanalytische Perspektive über die Untersuchung einzelner Diskurse hinaus auf Phänomene des sozialen Wandels und der soziokulturellen Transformation gerichtet werden kann. Aus einer systematisierenden Zusammenschau der Vielzahl einzelner themenbezogener Diskursforschungen im erwähnten Gegenstandsbereich wurden mehrere folgenreiche Veränderungen der Erscheinungsformen von Diskursen rekonstruiert. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, wie gesellschaftliche Diskursdynamiken aus dem Zusammenspiel von diskursexternen Ereignissen (hier: potenzielle Gefährdungen, eingetretene Katastrophen) und den Wissenspolitiken sozialer Akteure unter Bedingungen der massenmedialen Vergesellschaftung erklärt werden können und welche Konsequenzen sich daraus rur soziokulturelle Transformationsprozesse ergeben. Mit dem Ansatz der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ist keineswegs die Behauptung einer kompletten Kompatibilität oder Konvergenz der jeweiligen theoretischen Perspektiven und der damit verknüpften Forschungsprogramme verbunden. Dies gilt nicht nur rur die Positionen von Berger/Luckmann und Foucault, sondern auch allgemein rur die Gegenüberstellung von wissenssoziologischen und diskurstheoretischen bzw. diskursanalytischen Ansätzen. Inwieweit innerhalb dieser Forschungstraditionen vergleichbare Unterschiede im Grundsätzlichen bestehen - etwa zwischen dem Sozialkonstruktivismus und dem Systemkonstruktivismus, der Critical Discourse Analysis und der Diskurstheorie von LacIauIMouffe - wäre gesondert und fallspezifisch zu diskutieren. Die von mir eingenommene Perspektive in Bezug auf die damit angesprochenen Theorieverhältnisse habe ich mit dem Begriff der Übersetzung bezeichnet. Nachdem zunächst gezeigt werden konnte, inwiefern sich die wissenssoziologische Tradition zunehmend auf die Beschäftigung mit dem Sprachgebrauch und den Kommunikationsprozessen als Grundlagen der Wissenszirkulation hin bewegte, und umgekehrt die diskurstheoretische Perspektive nach und nach ihre
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abstrakt-verdinglichte Diskurskonzeption aufgibt und stärkere Bezüge zu Handlungen (Praktiken) und sozialen Akteuren einbaut, hat die Diskussion der diskurstheoretischen Entwicklungen verschiedene Grundelemente der Diskursperspektive hervorgehoben, die in den theoretischen Rahmen der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie vermittelt wurden. Dies implizierte sowohl eine Modifikation der von Foucault entwickelten Konzepte wie auch eine Ergänzung des geläufigen wissenssoziologischen Vokabulars. Dadurch wurde die Entfaltung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse als Bestandteil der Hermeneutischen Wissenssoziologie möglich. Einer solchen Vorgehensweise liegt eine theoriekonstruktive Haltung zugrunde, die davon ausgeht, dass eine Weiterentwicklung soziologischer Perspektiven und Fragestellungen nur dann gelingen kann, wenn sie eine angemessene Balance zwischen der Bewahrung gewonnener Erkenntnisse und der Erkundung neuer Denkmöglichkeiten findet. Dies lässt sich durchaus als Absage an eine auf Dauer gestellte werkgetreue Rekonstruktion von Klassikerpositionen verstehen, die zu implizieren scheint, dass dort mit unhintergehbarer Autorität das Endgültige formuliert wurde. Mit Ronald Hitzier, der sich auf sein eigenes Programm der erfahrungsorientierten Analyse von "Sinnwelten" bezieht, lässt sich gleichzeitig - und hier: im Hinblick auf die vorgestellte Diskursperspektive! - festhalten: "Eine Reduktion soziologischer Erkenntnisinteressen insgesamt auf ein solches Programm würde denn wohl das Weltdeutungs- und Wirklichkeitskonstruktions-Potential des Faches tatsächlich auch eklatant beschneiden - und das ,ohne Not'. Dementsprechend ist dies kein Plädoyer für eine Total-Revision soziologischer Fragestellungen." (HitzIer 1999: 297)
Das Primat der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie rur eine Wissenssoziologische Diskursanalyse folgt aus ihrer umfassenden theoretischen Ausgangsposition in Bezug auf gesellschaftliche Wissensverhältnisse. Sie begründet unabhängig von Spezifizierungen fiir einzelne Wissensbereiche oder Wissensfelder - wie bspw. im empirischen Konstruktivismus der Science Studies - und ohne theoretisches Vor-Urteil über die Art der jeweiligen Wissensbeziehungen - wie bspw. in der Bourdieuschen Theorie der Praxis - eine dialektische Konzeption der Wissensprozesse als Zusammenhang von Objektivierung, Institutionalisierung und subjektiv-sozialisatorischer Aneignung des Wissens durch soziale Akteure und in deren praktischem Handeln (einschließlich des kommunikativen Handeins), das wiederum als aktive Interpretationsleistung verstanden wird. Damit wird die Ontologisierung oder Metaphysik der Diskurse vermieden, die in diskurstheoretischen Ansätzen anklingt. In der Fortruhrung dieser Annahmen hat sich die Hermeneutische Wissenssoziologie insbesondere mit der methodischen Kontrolle der soziologischen Forschungsprozesse befasst und wichtige Potenziale der qualitativen Sozialforschung begründet. Der Anschluss an diese Reflexionen auf methodische Zugänge bildet einen weiteren wesentlichen Vorteil, der sich fiir die Diskursperspektive aus der Einbettung in die Wissenssoziologie ergibt. Dadurch kann der Eindruck methodischer Intransparenz oder gar Beliebigkeit, der die bisherige Diskursforschung begleitet, vermieden und durch das Angebot einer prinzipiellen intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Vorgehensweisen ersetzt werden. Ein gegenläufiger Zugang, also eine Aufnahme der wissenssoziologischen Fragestellungen in die diskurstheoretischen Perspektiven erweist sich dagegen trotz deren zunehmender Anerkennung von Akteursleistungen als problematischer. Das wichtigste Argument gegen eine solche Strategie besteht in der theoretischen Ausgangsposition der Diskurstheo-
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rien, die sich nur auf einen spezifischen (institutionellen) Bereich des Wissens richtet und trotz aller Bezüge auf soziale Akteure auf dem Fundament einer quasi-ontologisierten Annahme der Selbst-Entwicklung gesellschaftlicher Wissensregime in Diskursen basiert, die keine Vorstellung der Vermittlung zwischen ,objektiven' und ,subjektiven' Wissensvorräten zulässt. Demnach kann also Diskursforschung nur als eine unter mehreren Umsetzungen oder Anwendungen der Hermeneutischen Wissenssoziologie betrieben werden - nicht umgekehrt. Auch die Wissenssoziologische Diskursanalyse bleibt unweigerlich ein konstruktivistischer Diskurs über Diskurse, d.h. eine Beobachtung, Beschreibung, Rekonstruktion und Erklärung von Diskursverläufen im Hinblick auf deren interne sowie externe Einflussgrößen und Effekte nach Maßgabe seiner eigenen Formationsregeln. Sie speist die Ergebnisse dieser Fremdbeobachtung von Diskurspraxis wiederum als klassisches soziologisches Aufklärungsangebot in wissenschaftliche und vielleicht auch öffentliche Diskurse ein; allein dadurch schon verändert sie unabdingbar ihren Gegenstandsbereich. Ihre Rekonstruktion und Erklärung von Diskursen legitimiert sich durch den Ausweis sozialwissenschaftlicher Verfahren, also durch die methodische Kontrolle der Schritte, mit deren Hilfe die Aussagen über Diskurse gewonnen werden. Sie betreibt dies im Sinne der grounded theory, d.h. als Theorieperspektive, die zur Selbstkorrektur und Weiterentwicklung ihrer Grundkonzepte und -annahmen nach Maßgabe der Auseinandersetzung mit empirischen Gegenstandsbereichen in der Lage ist. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse erlaubt auch eine empirische Untersuchung der Prozesse, die unter den zeitdiagnostischen Stichworten der Wissensgesellschaft u.a. diskutiert werden. Sie schlägt vor, Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken als Diskurse zu begreifen, die darin vorgenommenen Gegenstandskonstitutionen oder auch die Strukturen diskursiver Regime und deren Veränderung zum Gegenstand wissenssoziologischer Analysen zu machen. Damit wird die Wissensproduktion nicht (nur) als reine Bestandsgröße und ökonomische Ressource in den Blick genommen, sondern hinsichtlich der mit ihr einhergehenden Transformationen gesellschaftlicher Erfahrungsund Deutungsweisen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden zum Gegenstand weiterer wissenschaftlicher Diskurse, die ihre Inhalte aufuehmen, ihre Vorgehensweisen kritisieren, ihre formalen Annahmen weiterfuhren oder widerlegen mögen. Sie reihen sich ein in die Verkettung von Aussagen, die das gesellschaftliche Gewebe und den ,Dschungel' von Prozessen symbolischer Ordnung konstituieren. Wenn davon gesprochen wurde, dass die Wissenssoziologische Diskursanalyse mit ihrem Diskurskonzept sowohl auf ein Verstehen wie auf ein Erklären von gesellschaftlichen Wissensverhältnissen und Wissenspolitiken zielt, so sind damit nicht die subjektiven Perspektiven der Diskursproduzenten anvisiert, sondern die durch Rekonstruktionsprozesse zu leistende Formulierung eigenständiger und übergreifender Verstehens- und Erklärungsperspektiven. Es geht in Rück- und Anbindung an die analysierten empirischen Materialien um die Entwicklung von Thesen, die aus einer Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand resultieren und dessen Selbstbeschreibungen nicht als ,letztes Wort' akzeptieren, also auf der Möglichkeit und Notwendigkeit ihrer sozialwissenschaftlichen Irritation bestehen. Die Wissenssoziologische Diskursanalyse versteht sich insoweit als klassisches soziologisches Programm gesellschaftlicher Selbstaufklärung. Ob die Bearbeitung solcher Fragestellungen mit Formen der ,Diskurskritik', also der Entwicklung begründeter kritischer Maßstäbe zur normativen Bewertung von Diskursprozessen etwa im Hinblick auf die Streuung der Zugänge zu Sprecherpositionen,
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die Verteilung von Ressourcen der Diskursproduktion, die Bedeutung von Argumentationsprozessen u.a. verbunden werden, hängt von den jeweiligen Erkenntnisinteressen ab, die mit ihrer Umsetzung verbunden sind. Vor dem Hintergrund des dargelegten Forschungsprogramms lassen sich verschiedene Anschlussfragen benennen, deren Beantwortung den Rahmen der vorliegenden Untersuchung übersteigt. Neben der weiteren Klärung von Konzepten und Vorgehensweisen der Wissenssoziologischen Diskursanalyse gehören zu den wichtigsten Diskussionskomplexen, die sich aus dem Vorschlag einer Einbindung der Diskursforschung in die Wissenssoziologie ergeben bzw. in der weiteren Auseinandersetzung mit dieser Position geklärt werden müssen, die Fragen des Vergleichs und der Typisierung von Diskursformationen, die Erörterung des Verhältnisses der Diskursperspektive zu den verschiedenen Medientheorien sowie die Beziehung zu Theorien (des Wandels) gesellschaftlicher Öffentlichkeiten. Ich möchte abschließend zumindest kurz andeuten, in welchen Richtungen entsprechende Klärungen angegangen werden könnten: •
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Ein erster Fragekomplex betrifft die Beziehungen zwischen diskursiven Formationen und Diskursregimen. In der vorliegenden Studie habe ich mich primär mit dem Vokabular und den Fragestellungen der Diskursforschung in Bezug auf einzelne Diskursverläufe beschäftigt. Im Zuge der Umsetzung einer solchen Perspektive lassen sich vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse und im Rückgriff auf vorliegende Diskursstudien aus anderen Kontexten Überlegungen und Hypothesen dazu gewinnen, ob allgemeine Charakteristiken der Entwicklung von Diskursen, Wissensverhältnissen und Diskurspolitiken festgestellt werden können. Dabei geht es nicht so sehr um die großformatigen Fragen nach ,historischem Fortschritt' und Entfaltungspotenzialen kommunikativer Rationalität, aber um die Analyse von typisierbaren Abfolgen, Konjunkturen oder ,Sperrklinkeneffekten' , um die Frage nach Diskursgruppierungen und ihrer gesellschaftlichen Resonanz. Bspw. könnte in diesem Zusammenhang untersucht werden, ob gegenwärtig eine ,Säkularisierung' (natur-)wissenschaftlicher Diskurspositionen beobachtbar ist, die analog zur historischen Ablösung der religiösen Deutungshoheit durch die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion letztere in ihrer Geltungskraft - nicht notwendig in ihrem Geltungsanspruch - relativiert und anderen Diskursformen unterordnet. Im Ländervergleich könnten entsprechend Fragen nach nationalen und internationalen Konjunkturen diskursiver Formationen untersucht werden, nicht zuletzt auch deren Stellenwert vor dem Hintergrund entstehender transnationaler oder globalisierter Diskursverhältnisse. Ein zweiter Komplex von Anschlussfragen betrifft das Verhältnis zwischen der skizzierten Diskursperspektive und den neueren Medientheorien bzw. den medien- und kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen über die Formen und Folgen der modemen massenmedialen Vergesellschaftung. Die Soziologie insgesamt hat sich hier bislang nur ansatzweise mit der Bedeutung der Wirklichkeitsvermittlung über Massenmedien in posttraditionalen Gesellschaften beschäftigt. Aus der Perspektive der diskurstheoretisch orientierten Wissenssoziologie ginge es hier ähnlich wie in den Cultural Studies um die Fragen der Beziehungen zwischen Diskursproduktionen und arenen, medienexternen und medieninternen Akteuren sowie den Rezeptionsweisen der dort zirkulierenden Deutungen. Die Medientheorien haben verschiedene Interpretationsangebote und Thesen entwickelt - bspw. Baudrillards Annahmen über die Ab-
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lösung einer Ordnung der Produktion durch eine Ordnung der Simulation oder Kittlers Reflexion auf die Bedeutung der Medienform für das gesellschaftliche Wissen - , deren Implikationen für die Wissenssoziologische Diskursanalyse diskutiert werden müssen. Vergleichbare Auseinandersetzungen wären in Bezug auf alternative soziologische Erklärungsparadigmen wie System- und Strukturtheorien, in Bezug auf die in den Analysen der Wissensgesellschaft beschriebenen Strukturtransformationen des wissenschaftlichen ,Betriebes' oder im Hinblick auf Theorien und Wandlungsprozesse von Öffentlichkeit zu führen. Die Formen und Prozesse gesellschaftlicher Öffentlichkeit werden von Diskursverläufen, Transformationen des Mediensystems, sozialen Ereignissen und gesellschaftlichen Strukturveränderungen beeinflusst. Bspw. haben die Umwelt- und Risikodebatten der letzten Jahrzehnte im Zusammenspiel mit der Wissenschaftsforschung die öffentliche Wahrnehmung und Rolle von wissenschaftlichem Wissen und entsprechenden Expertisen vom Status der autoritativen Geltung in denjenigen konfligierender Interessenlager und Positionen transfomiert. Diese Veränderung geht einher mit einer Bereicherung der Arenen öffentlicher Auseinandersetzungen durch neue Akteure und mit ihrer Aufsplitterung in eine Vielzahl themen- und bereichsspezifischer Teilarenen, die dennoch keine Spezialöffentlichkeiten im herkömmlichen Sinne, also bspw. entlang der Trennlinien funktionaler Differenzierung bilden, sondern an den verschiedensten Orten Akteure und Diskurse aus unterschiedlichen Praxisfeldern in öffentliche Auseinandersetzungen führen.
Mit diesen Hinweisen auf Anschlussfragen und Diskussionspunkte, die sich aus der Grundlegung der Wissenssoziologischen Diskursanalyse ergeben, beschließe ich die Ausführungen. Alles in allem sollte in der vorgestellten Perspektive der Wissenssoziologischen Diskursanalyse deutlich geworden sein, dass die Möglichkeiten der Wissenssoziologie bei weitem nicht ausgeschöpft sind. Vielmehr gilt nach wie vor, was BergerlLuckmann vor fast vier Jahrzehnten so formulierten: "Vor der Wissenssoziologie liegt ein weites, offenes Feld empirischer Probleme" (BergerlLuckmann 1980: 199).
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