Theolo
ische Blicherei
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Systematische Theologie
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Theolo
ische Blicherei
Neudrucke und Berichte aus dem 20.Jahrhundert
Systematische Theologie
Anfänge der dialektischen Theologie
Rudolf Bultmann Friedrich Gogarten Eduard Thurneysen
17 Teil2
Anfänge der dialektischen Theologie
THEOLOGISCHE
BÜCHEREI
Neudrucke und Berichte aus dem 20. Jahrhundert· Band 17 Systematische Theologie
Anfänge der dialektischen Theologie Teil II Rudolf Bultmann
Friedrich Gogarten
Eduard Thurneysen
Herausgegeben von ]ürgen Moltmann
CHR. KAISER VERLAG MüNCHEN 1963
© 1963 ehr. Kaiser Verlag München Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der übersetzung vorbehalten. - Printed in Germany Umschlagentwurf von Rudolf NieB Satz und Druck: Buchdruckerei Sommer & Söhne, Feuchtwangen
INHALT RUDOLFBULTMANN
9
Religion und Kultur Christliche Welt, 34.Jg. 1920, Nr.27, Sp. 417-421; Nr.28, Sp. 435-439; Nr. 29, Sp. 450-453
11
Ethische und mystische Religion im Urchristentum Vortrag, gehalten am 29. September 1920 auf der Wartburg. Christliche Welt, 34. Jg. 1920, Nr. 46, Sp. 725-731; Nr. 47, Sp. 738-743
29
Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testaments Zwischen den Zeiten, 3. Jg. 1925, Heft 4, S. 334-357
47
Die Frage der "dialektischen" Theologie. Eine Auseinandersetzung mit Erik Peterson. Zwischen den Zeiten, 4. Jg. 1926, Heft 1, S. 40-59
72
FRIEDRICH GOGARTEN
93
Zwischen den Zeiten. Christliche Welt, 34. Jg. 1920, Nr. 24, Sp. 374-378
95
Die Krisis unserer Kultur Vortrag, gehalten am 1. Oktober 1920 auf der Wartburg. Christliche Welt, 34. Jg. 1920, Nr. 49, Sp. 770-777; Nr. 50, Sp. 786-791 Die Not der Absolutheit: Die religiöse Entscheidung . Offener Brief an Pfarrer D. Emil Fuchs. Christliche Welt, 35. Jg. 1921, Nr. 8, Sp. 142-145. Abgedruckt nach: Die religiöse Entscheidung, Jena 1921, S. 5-11 E. Fuchs: Vom unbedingten Ernst unsrer Frömmigkeit Christliche Welt, 35. Jg. 1921, Nr. 9, Sp. 153-157 E. Troeltsch: Ein Apfel vom Baume Kierkegaards Christliche Welt, 35. Jg. 1921, Nr. 11, Sp. 186-189 Wider die romantische Theologie. Ein Kapitel vom Glauben. Christliche Welt, 36. Jg. 1922, Nr. 27, Sp. 498-502; Nr. 28, Sp. 514-519
101
122
128 134 140
Gemeinschaft oder Gemeinde
153
In: Von Glauben und Offenbarung, Jena 1923, S. 63-83
Historismus
171
Zwischen den Zeiten, 2. Jg. 1924, Heft 8, S. 7-25
Protestantismus und Wirklichkeit
191
Nachwort zu Martin Luthers "Vom unfreien Willen", München 1924. Abgedruckt nach: Glaube und Wirklichkeit, Jena 1928, S. 13-43
EDUARD THURNEYSEN
219
Sozialismus und Christentum
221
Zwischen den Zeiten, 1. Jg. 1923, Heft 2, S. 58-80
Schrift und Offenbarung
247
Vortrag, gehalten auf Einladung der Theologenschaft der Universität Marburg am 20. Februar 1924. Zwischen den Zeiten, 2. Jg. 1924, Heft 6, S.3-30
Offenbarung in Religionsgeschichte und Bibel.
276
Zum Gedächtnis Bernhard Duhms. Zwischen den Zeiten, 6. Jg. 1928, Heft 6, S. 453-477
AUSKLANG
301
P. Schempp: Randglossen zum Barthianismus
303
Zwischen den Zeiten, 6. Jg. 1928, Heft 4, S. 529-539
Abschied von "Zwischen den Zeiten" . K. Barth / E. Thumeysen / G. Merz
313
Zwischen den Zeiten, 11. Jg. 1933, Heft 6, S. 536-554
F. Gogarten: Einleitung zu "Gericht oder Skepsis"
331
Eine Streitschrift gegen Kar! Barth. Jena 1937, S. 7-13
Literaturverzeichnis
338
INHALT DES ERSTEN TEILES (BAND 17/1)
Vorwort des Herausgebers
KARLBARTH Der Christ in der Gesellschaft (1919) Vergangenheit und Zukunft. Friedrich Naumann und Christoph Blumhardt (1919) Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke (1920) Der Römerbrief: Vorwort zur 1. Auflage (1919) Reaktionen auf den "Römerbrief" 1. Auflage: E. Brunner, "Der Römerbrief" von Kar! Barth (1919) A. ]ülicher, Ein moderner Paulus-Ausleger (1920) F. Gogarten, Vom heiligen Egoismus des Christen. Eine Antwort auf ]ülichers Aufsatz "Ein moderner Paulus-Ausleger" (1920) Der Römerbrief: Vorwort zur 2. Auflage (1921) Reaktionen auf den "Römerbrief" 2. Auflage: R. Bultmann, Kar! Barths "Römerbrief" in zweiter Auflage (1922) A. Schlatter, Kar! Barths "Römerbrief" (1922) Der Römerbrief: Vorwort zur 3. Auflage (1922) Grundfragen der christlichen Sozialethik. Auseinandersetzung mit Paul Althaus (1922) über den Begriff des Paradoxes: P. Tillich, Kritisches und positives Paradox (Eine Auseinandersetzung mit Kar! Barth und Friedrich Gogarten (1923) K. Barth, Von der Paradoxie des "positiven Paradoxes". Antworten und Fragen an Paul Tillich (1923) P. Tillich: Antwort an Kar! Barth (1923) F. Gogarten: Zur Geisteslage des Theologen. Noch eine Antwort an Paul Tillüh (1924) Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (1922)
HEINRICH BARTH Gotteserkenntnis (1919)
EMIL BRUNNER Die Grenzen der Humanität (1922) Die Mystik und das Wort. Einleitung: Unser Problem (1924) Gesetz und Offenbarung (1925) Die Offenbarung als Grund und Gegenstand der Theologie (1925)
RUDOLF BUL TMANN
Rudolf Bultmann kam aus der exegetischen Arbeit, dem Durchbruch zur Formgeschichte (Die Geschichte der synoptischen Tradition, 1921), in die Weggemeinschaft jener Theologie »Zwischen den Zeiten". Wie sehr ihn aber über die exegetischen Fragen hinaus das theologische Problem einer überwindung des garstigen, breiten Grabens zwischen historischer und systematischer Theologie von Anbeginn an beschäftigte, zeigt seine großartige Rezension von Barths "Römerbrief" in der Christlichen Welt, 1922 (vgl. hier Band 1, S. 119), beweist sein Aufsatz über "Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testamentes" in Zwischen den Zeiten, 1925, und seine Einleitung über Geschichte und die Art der Betrachtung von Geschichte zum Jesusbuch 1926. Bultmann kam von Wilhelm Herrmann her (vgl. seinen Beitrag zur W. Herrmann-Festschrift, Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 27, 1917, 76-87: "Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des Neuen Testamentes") und ist im Vergleich zu K. Barth wohl der treuere Schüler Herrmanns geblieben. Darin mag auch das starke kulturkritische Interesse begründet sein, das ihn in jenen Jahren der Krise und der Revolutionen ständig bewegte, wie es in dem Aufsatz "Religion und Kultur", Christliche Welt, 1920, zum Ausdruck kommt. Die Frage nach einer echten "dialektischen Theologie", ihrer Bedeutung für die Exegese geschichtlicher Zeugnisse und für die Wahrnehmung der Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz, ist von keinem so nachhaltig durchdacht worden. Doch gerade an der Formulierung dessen, was "dialektisch" sei an der "dialektischen Theologie", trennten sich die Wege zwischen Barth und Bultmann. Die zutage tretenden Divergenzen, wie sie schon in Bultmanns Rezension des "Römerbriefes" von Barth sichtbar sind, beherrschen heute weite Flächen der theologischen Problematik. Es konnten. hier nur Aufsätze abgedruckt werden, die nicht in die Aufsatzsammlung Bultmanns "Glauben und Verstehen", Band 1, 1933, aufgenommen worden sind. Der Aufsatz "Religion und Kultur", Christliche Welt, 1920, spiegelt deutlich den Einfluß W. Herrmanns wider. Der Vortrag "Ethische und mystische Religion im Urchristentum" in "Christliche Welt" 1920, wurde gehalten auf der Wartburg für die "Freunde der Christlichen Welt". Die Arbeit über "Das Problem einer theologischen Exegese des Neuen Testamentes" in "Zwischen den Zeiten", 1925, zeigt die Ansätze zur Hermeneutik bei Bultmann vor der Ausbildung einer "existentialen Interpretation". Der Aufsatz über "Die Frage der dialektischen Theologie", Zwischen den Zeiten, 1926, stellt eine Auseinandersetzung mit Erik Peterson dar und zeigt Bultmanns Verständnis von "Dialektik". Hingewiesen sei auf die, in unseren Zeitraum gehörenden wichtigen Aufsätze in "Glauben und Verstehen", Band 1: "Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung", zuerst Theologische Blätter, 1924; "Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?", zuerst Theologische Blätter, 1925; "Kar! Barth, ,Die Auferstehung der Toten"', zuerst Theologische Blätter, 1926.
RELIGION UND KULTUR
1.
In den politischen Kämpfen pflegt die Frage nach der Bedeutung der Religion als Kulturfaktor bald heftig bestritten, bald noch heftiger behauptet zu werden. Das Zeugnis der Geschichte spricht anscheinend für die Kulturbedeutung der Religion, denn aus dem Schoße der Religion oder zum mindesten im engsten Zusammenhang mit ihr, von ihren Kräften getrieben und befruchtet, haben die großen Gebiete der Kultur den Anfang ihrer Entwicklung genommen. Das gilt zunächst für die Geschichte der Wissenschaft. Alle primitive Welterklärung ist religiös; auf die Fragen, die der erwachende Verstand an die kosmischen Vorgänge, wie an die staunenerregenden Vorgänge des Menschenlebens stellt, antworten die Gestaltungen der religiösen Phantasie. Was Blitz und Donner sind, wie das Wachsen und Gedeihen der Pflanzen zu begreifen ist, woher Schlaf und Krankheit kommen, was Geburt und Tod bedeuten, - die erste Antwort gibt die religiöse Phantasie, mit der die Gedanken einer verstandesmäßigen Welterklärung zuerst untrennbar verbunden sind. Die erste Wissenschaft ist das Vorrecht der Priesterkaste; aus ihrem Kreise entsteht wie die erste Theologie, so auch die erste Astronomie; Zeiteinteilung und Kalender gehen auf sie zurück. Die systematisch-wissenschaftlichen Motive sind an der Hand der kultischen ins Leben getreten. Primitive Mathematik wie Medizin haben religiöse Ursprünge. In Priesterkreisen wird die Entstehung der Literatur gefunden werden müssen; heilige Urkunden sammeln die Tradition der Vorzeit, und in der Erklärung der Urkunden wachsen die Anfänge historischer Arbeit empor. - Ein prinzipiell gleiches Bild, wie es die Entstehung der alten Kulturen I zeigt, bietet das im deutlicheren Licht der Geschichte liegende Mittelalter unse,rer eigenen Kultur. Wie sie unter dem Schutz der Kirche gewachsen und gepflegt ist, bedarf kaum der Erinnerung. Philosophie und Geschichtswissenschaft sind im Rahmen der Theologie emporgewachsen, Universitäten
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Rudolf Bultmann
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und Schulen sind ganz wesentlich aus kirchlichen Zwecken entstanden und von kirchlichem Geist gepflegt worden. In der Geschichte der Kunst ist es nicht anders. Primitive Ornamentik steht im Dienst der Religion, wenn sie böse Geister fernhalten oder heilsame Kräfte festhalten will. Die Totenverehrung, die Stätte des Kultus geben Motive für künstlerische Betätigung; Tempel und Götterbilder entstehen, so daß es natürlich ist, daß uns beim Gedanken an antike Kunst zuerst und ganz wesentlich die Werke religiöser Kunst in den Sinn kommen; und ebenso liegt es, wenn wir an byzantinische oder mittelalterliche Kunst denken. - Für die Entstehung der Musik ist der Kultus mit Tänzen und Gesängen, und ebenso der Krieg, dessen Werk ursprünglich auch religiösen Charakters ist, mit seiner Kriegsmusik in gleicher Weise bedeutsam. Auch die Pflege der Musik ist wohl Sache einer priesterlichen Kaste; man denke an die Leviten des Alten Testaments. Und was die kirchliche Musik für die moderne Musik bedeutet hat, zeigt die Erinnerung an Oratorien und Messen wie an die Namen Bach oder Händel, Bruckner oder Reger. - Was uns von den Resten alter Literaturen erhalten ist, zeigt fast durchweg religiösen Charakter. In den Formeln des Kultus und des Zaubers entsteht eine primitive Dichtkunst. Wie aus dem Kult eine Lyrik erwächst, zeigen die alttestamentlichen Psalmen ebenso wie die griechische Lyrik. Aus dem Kultus des Dionysos ist das griechische Drama geboren, und was ist damit gesagt! Wo im Mittelalter ein neuer Ansatz zu dramatischen Spielen entsteht, ist es wieder die kirchliche Sphäre; in ihr wurzelt das Mysterium. Sollen wieder Namen genannt sein? "Aischylos wird in Ewigkeit leben als einer der erhabensten religiösen Dichter" (Wilamowitz); Dante ist ohne die kirchliche Kultur nicht denkbar; ebensowenig Wolfram von Eschenbach, ja auch Goethes Faust. Endlich die Geschichte der Sittlichkeit! Aufs engste verbunden sind im Primitiven die Begriffe "gut" und "böse" mit den religiösen Begriffen von "rein" und "unrein". Ritus und heiliges Recht spielen solche Rolle in der Entwicklung des sittlichen Bewußtseins, daß sie auch auf entwickelter Kulturstufe oft unheilbar mit sittlichen Begriffen verworren sind. Und wo die Eigenart des sittlichen Bewußtseins sich geltend zu machen beginnt, bleibt doch Gott der Geber und Hüter des Sittengesetzes; die heiligen Schriften sind zugleich der Kodex des Rechtes, und "sittlich gut" und "fromm" gelten oft geradezu als identisch. Die sittliche Bewegung der Prophetie trat getragen von religiösem Erlebnis und Glauben in das Leben. Der Katholizismus des Mittelalters übte
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Religion und Kultur
13
seine Kulturarbeit der sittlichen Erziehung in der Form der kirchlichreligiösen Leitung. I
2. Dennoch wäre es falsch, auf diese Geschichtsbetrachtung das Urteil zu gründen; denn die Geschichte lehrt weiter, daß auf allen Gebieten des geistigen Lebens sich die Emanzipierung der Kultur von der Religion vollzieht. In der Geschichte der Wissenschaft: die eigentliche Blüte der Wissenschaft unseres Kulturkreises erwuchs in Ionien, in dem Gebiet der griechischen Kultur, wo mit der Lösung vom heimatlichen Boden zugleich das enge Band zwischen dem geistigen Leben und der Religion gelockert oder zerschnitten war. Hier entsteht die griechische Naturwissenschaft und Philosophie; hier die wissenschaftliche Prosa. Und im engeren Kreis unserer modernen Kultur erwächst wiederum die Blüte der Wissenschaft da, wo sie sich von der Kirche emanzipiert und sich in ihrer Selbständigkeit erfaßt: in den großen Geistesbewegungen des Humanismus und der Aufklärung; die mathematische Naturwissenschaft entsteht, die Philosophie der Aufklärung und des deutschen Idealismus. Und charakteristisch ist die Rolle, die dabei die heidnische Antike spielt. Wie endlich die moderne Naturwissenschaft, wie Medizin und Technik ihr Leben völlig frei von religiös-kirchlichen Motiven und Tendenzen haben, bedarf keines Wortes weiter. Parallel geht wieder die Entwicklung der Kunst. Kennen wir die bildende Kunst der Antike auch ganz wesentlich als religiöse Kunst, so zeigt doch die Besinnung, daß ihr der religiöse Charakter nur als ein für ihre Entstehung charakteristisches äußerliches Gewand anhaftet; in ihrem eigentlichen Wesen ist sie profan geworden. Die Göttergestalten der klassischen griechischen Kunst sind entgöttert; der Gott ist der schöne Mensch geworden. Dasselbe zeigt die Kunst der Hochrenaissance, der die kirchliche Sphäre wohl die stofflichen Motive liefert. Der Realismus, der in der Darstellung des schönen Menschen über den Typus der byzantinischen und frühitalienischen Kunst gesiegt hat, zeigt, daß auch hier der eigentliche Gegenstand der Kunst der Mensch in seinem weltlichen Lebensgefühl und seiner repräsentativen Existenz geworden ist. Wie das entsprechend von der modernen bildenden Kunst gilt, macht besonders der bis in unsere Zeit herrschende Impressionismus ganz klar. Und wirken in der modernsten Entwicklung des Expressionismus auch
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religiöse Motive, so steht doch einmal diese Kunst nicht im Dienst religiöser oder gar kultischer Zwecke, und so werden ihre Gestaltungen als Kunstwerke doch nicht an ihrem religiösen Inhalt, sondern an ihrer Formensprache gemessen. Es bedarf auch nicht längerer Ausführungen, wie die moderne Musik profan geworden ist in Lied und Oper wie in der Instrumentalmusik, wie prinzipiell nicht die Kirche, sondern der Konzertsaal der Ort des musikalischen Genusses ist. - In der Dichtkunst bietet Ionien wie für die Emanzipierung der Wissenschaft, so für die der Dichtung von der Religion das klassische Beispiel. In den homerischen Dichtungen sind die Gestalten frommen Glaubens zu denen des ästhetischen Spiels geworden; sind Lyrik und Drama auch aus dem Kultus entstanden: sie haben doch ihre eigenen Gesetze gefunden und haben ihren Sinn in der Selbstdarstellung oder Darstellung des Menschen. Nicht anders steht es in der modernen Dichtung. War vielleicht die Sittlichkeit am engsten mit der Religion verbunden, auch sie emanzipiert sich. Sowie in den alten Kulturen neben das Gefühl der kultischen Zusammengehörigkeit ein Gefühl der profanen Volks- und Arbeitsgemeinschaft tritt, wächst aus dem Volk ein Schatz profaner Spruchweisheit empor, die mit jenen Regeln des heiligen Ritus keinen Zusammenhang hat. Der alte Orient zeigt es ebenso wie die Antike, in der, aus der ionischen Kultur wiederum, die "Sprüche der sieben Weisen" entstehen. Und neben der unsystematischen Volksmoral entsteht, mit dem profanen Staat emporwachsend, das Bewußtsein um die Gesetze des guten Willens, entsteht ein profanes Recht mit der profanen Forderung der Gerechtigkeit. Am deutlichsten wird die Sachlage dadurch, daß es in dieser Entwicklung zu einem Konflikt zwischen sittlichem und religiösem Denken kommt. Im Alten Testament liegt dieser Konflikt zu Tage im Vergeltungsproblem: das Verhalten der Gottheit - und als ihr Walten muß man doch die Verteilung des I irdischen Geschickes ansehen - deckt sich nicht mit der Forderung des sittlichen Bewußtseins, der Forderung der Gerechtigkeit. Wie im Buch Hiob der Konflikt die Form gewinnt, die der Eigenart israelitischen Geistes entspricht, so bei den griechischen Tragikern Aischylos und Euripides in der Eigenart des Hellenentums: das Ringen mit den unhumanen Forderungen und Anschauungen eines alten Gottesglaubens oder der Protest gegen sie vom Standpunkt der humanen Sittlichkeit aus. In der Orestie des Aischylos hat dieser innerliche Kampf am gewaltigsten Gestalt gewonnen. - In der modernen Kultur hat sich die Emanzipation der Sittlichkeit von der Religion ohne einen solchen
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Religion und Kultur
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Konflikt vollzogen, wenn man ihn nicht vielleicht in der protestantischen Reformation sehen muß. Jedenfalls ist in der Aufklärung und in Kant wie im modernen Rechts- und Staatsleben die profane Ethik mehr und mehr zur Herrschaft gelangt.
3. Die Geschichte bietet also als Ergebnis die Autonomie der geistigen Kultur. Autonom ist die Wissenschaft, d. h. ihre Sätze richten sich nach den eigenen Gesetzen wissenschaftlichen Denkens und nicht nach einer heiligen Offenbarung oder Tradition. Sie ist voraussetzungslos, d. h. natürlich nicht: sie ist unmethodisch, sondern legt ihrer Arbeit natürlich ihre Methodik zu Grunde, aber es bedeutet: sie hat sich die Voraussetzungen für ihre Arbeitsweise und ihre Ergebnisse nicht von einer außerhalb ihrer existierenden Größe - also in unserem Zusammenhang von der Religion - geben zu lassen. Mag auch mancher einzelne Forscher von kirchlicher oder religiöser Tradition abhängig oder beeinflußt sein, so haben doch die Sätze der Wissenschaft ihre Geltung nicht durch solche Beziehungen, sondern nur durch ihre Begründung innerhalb des wissenschaftlichen Gedankensystems. So zeigt sich der profane und autonome Charakter der Wissenschaft insbesondere darin, daß sie auf dem Gebiete der Naturerklärung und der Geschichtsforschung mit keinerlei supranaturalen Faktoren rechnen kann. - Autonom ist die Kunst, d. h. ihre Gestaltungen wollen an den Gesetzen künstlerischer Form gemessen sein, nicht an außerkünstlerischen Zwecken. Autonom ist die Sittlichkeit, worüber nach Kant eigentlich kein Wort mehr nötig sein sollte, und worüber doch in den Kämpfen um das Verhältnis von Staat und Kirche soviel Verständnislosigkeit laut wurde, als bedürfe es der Religion oder sei es deren Eigentümlichkeit, die sittliche Erziehung zu begründen. Die Gesetzgebung der Sittlichkeit wird vom vernünftigen Willen selbst erzeugt. Gott ist nicht der Geber des Sittengesetzes; denn welches wäre dann wohl Erkenntniskriterium für Gottes Willen? die Tradition etwa? sie wäre nur der Ausdruck für die sittliche Erkenntnis früherer Generationen, und da sie doch stets nur in Auswahl und mit Kritik benutzt wird, so wäre die letzte Instanz doch wieder das eigene sittliche Urteil. Die Offenbarung etwa? aber welche? die im eigenen Gewissen? das wäre nichts anderes als eben die Selbstgesetzgebung des vernünftigen Willens, also keine Erkenntnis religiöser Art,
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sondern ganz profane. Der fromme Mensch mag seine Vernunftbegabung in dieser wie in jeder anderen Hinsicht auf Gott zurückführen; das ändert nichts an der Tatsache, daß im Gebrauch seiner Vernunft nicht Gott zu ihm spricht. Die Anschauung aber, die Gott zum Hüter des Sittengesetzes macht, die der Religion zur Motivation des sittlichen Handelns bedarf, hat den Gedanken des Sittlichen überhaupt noch nicht erreicht. "Ich aber will nicht entscheiden, gegen wen in dieser Gedankenverbindung die meiste Verachtung liege, gegen Recht und Sittlichkeit, welche als der Unterstützung bedürftig vorgestellt werden, oder gegen die Religion, welche sie unterstützen soll" (Schleiermacher, Reden 32). " ... denn ich muß es nur gestehen, ich glaube nicht, daß es so arg ist mit den unrechten Handlungen, welche sie (die Religion) verhindert und mit den sittlichen, welche sie erzeugt haben soll" (a. a. O. 36). Kraft der Willensbildung ist nicht die Religion, sondern die Bildung des sittlichen Urteils und vor allem die Erziehung im Gemeinschaftsleben. Man kann sogar die Behauptung von der kulturfördernden Kraft der Religion umkehren. Nicht selten hat die Religion in der Geschichte der geistigen Kultur hemmend I gewirkt. Das Verhältnis des Urchristentums zur antiken Kultur ist bekannt. Die alte Kirche war eine geschichtliche Größe, die kompliziert und reich genug war, um in manchen Linien die Kontinuität der Kultur zu erhalten; aber in seinem Grundwesen war das Urchristentum kulturfremd und hat hemmend gewirkt nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst, sondern auch dem von Recht und Sittlichkeit. Man kann es nicht laut genug sagen, daß das Urchristentum eine spezifisch religiöse, nicht eine ethische Bewegung war. Es hat keine neuen ethischen Ideale gebracht; das christliche Liebesgebot bringt, sofern es eine ethische Forderung und nicht eine Regel des religiösen Gemeinschaftslebens ist, nichts Neues, nichts, was nicht auf der Höhe der antiken Ethik auch ausgesprochen wäre. Das Urchristentum hatte kein Organ für die spezifisch ethischen Probleme des Rechts, der sozialen Gemeinschaft (Sklavenfrage!), des Verhältnisses der Geschlechter etc. Das Verdienst, all diese Probleme behandelt und in einer für die ganze abendländische Kultur fortwirkenden Form lebendig gemacht zu haben, hat die Stoa. Oder man denke an die religiösen Forderungen der Blutrache (Orestie!), des Bannes (1. Sam 15!), an Glaubenskriege und Ketzerverfolgungen, an die konfessionelle Spaltung unseres modernen Kulturlebens und die dadurch
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Religion und Kultur
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veranlaßte schwere Hemmung der Entwicklung von Bildung und Kunst, Recht und Staat. Der Gegensatz wird am klarsten durch die prinzipielle Besinnung auf das Wesen von Kultur und Religion. Die Kultur ist die methodische Entfaltung der menschlichen Vernunft in ihren drei Gebieten, dem theoretischen, dem praktischen und dem ästhetischen. Für sie ist also wesentlich die Aktivität des menschlichen Geistes; er ist es, der die drei Welten der Kultur: die Wissenschaft, Recht und Sittlichkeit, und die Kunst, baut. Die Entwicklung der Kultur geht ferner methodisch vor sich, d. h. alle ihre Gestaltungen haben den Charakter der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit. Mag im Verlauf der Kulturgeschichte das Moment des Zufälligen und Persönlichen, das Moment der Inspiration, Intuition u. dgl. als die psychische Situation, aus der die Gestaltungen der Kultur hervorgehen, eine noch so große Rolle spielen: ihr Recht als Größen der Kultur erweisen alle Gestaltungen nicht durch die Beziehung zu ihrem psychischen Ursprung, sondern in ihrer Bindung in die Gesetzmäßigkeit ihres Vernunftgebietes. Trägt derpythagoreische Lehrsatz auch den Namen seines Finders, so ist seine Richtigkeit nicht durch Autorität oder Charakter des Pythagoras verbürgt, sondern dadurch, daß er den Gesetzen mathematischen Denkens entspricht. Die Bildwerke der klassischen Kunst der Antike wirken, auch ohne daß wir von ihren Schöpfern das Mindeste wissen, weil die Sprache ihrer Form unser ästhetisches Urteil überzeugt. Eine gute Handlung gilt als gut nicht, weil sie unter irgendwelcher psychischen Verfassung lebendig wurde, sondern einzig und allein danach, ob sie an der Idee des Guten gemessen sich rechtfertigt. So gehört zum Wesen der Kultur der Charakter des Vberindividuellen; das Individuum kommt für sie gleichsam nur als Durchgangspunkt in der Selbstentfaltung des überindividuellen Geistes in Betracht. Die Gestaltungen der Kultur haben ihre Geltung nur in ihrem Inhalt, ganz abgesehen von ihrer tatsächlichen Verwirklichung. I
4. In allen drei Punkten erweist die Religion ihren Gegensatz zur Kultur. Sie ist, wie ich nach Schleiermacher sage, das Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit; um psychologische Interpretationen und Mißverständnisse fern zu halten, sagt man vielleicht besser: das Be-
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Rudolf Bultmann
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wußtsein schlechthiniger Abhängigkeit. Alles liegt, um recht zu verstehen, auf der rechten Erfassung des Begriffs "schlechthinig". Schlechthinig ist weder die Abhängigkeit des Sklaven, dessen besten Teil, dessen innerstes Ich mit seinen Gedanken und Gefühlen auch der mächtigste Herr nicht unterwerfen kann. Schlechthinig ist aber auch nicht die tausendfache Abhängigkeit, in der der moderne naturwissenschaftlich gebildete Mensch in seinem körperlichen und geistigen Leben sich in die Gesetzmäßigkeit des Naturverlaufs gefangen und gebunden weiß, weil der bloßen Gesetzmäßigkeit gegenüber keine innere Beugung möglich ist; das Ich lehnt sich vielmehr gegen diese Zumutung auf. Schlechthinige Abhängigkeit ist nur da möglich, wo der Mensch einer Macht begegnet, der sein Innerstes sich frei entfaltet, der er sich befreit und aufatmend in die Arme wirft - sich unterwirft in freier Selbsthingabe. Ist das Religion, so ist sie das Gegenteil von schöpferischaktivem Verhalten des Geistes, so besteht sie nicht im Schaffen, sondern im Sich-Schenkenlassen (wobei wiederum der psychische Zustand des erlebenden Individuums, den man als höchste Aktivität bezeichnen mag, gänzlich außer Betracht zu bleiben hat)1. Tief und fein ist es in der Inschrift, die in Immermanns "Merlin" die Pforte des heiligen Grales trägt, ausgesprochen: Ich habe mich nach eignern Recht gegründet, Vergebens sucht ihr mkh. Der Wandrer, welcher meinen Tempel findet, Den suchte ich!
Die Erkenntnisse und Gedanken der Religion sind deshalb nicht notwendig und allgemeingültig, sondern haben schlechthin nur individuelle Geltung. Eine "Wundergeschichte" muß nach SchleierJ,llacher stets den Ursprung der Religion bilden (Reden 268). Torheit wäre es, zu fordern: "Nach und nach soll der Mensch religiös werden, wie er klug und verständig wird und alles andere, was er sein soll; durch den Unterricht und die Erziehung soll ihm dies alles kommen; nichts muß dabei sein, was für übernatürlich oder auch nur für sonderbar könnte gehalten werden" (a. ·a. O. 273 f.). "Wenn eine bestimmte Religion nicht mit einem Faktum (d.h. aber mit etwas Zufälligem!) 1 Man darf sich zu einer Verwechslung von Religion und Sittlichkeit auch nicht dadurch verleiten lassen, daß das sittliche Gebot Hingabe, Preisgabe, Opfer fordert; denn es fordert dies als Tat; die sittliche Hingabe ist Tat in eminentestem Sinn. Ganz anders die im religiösen Erlebnis erfahrene Abhängigkeit.
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Religion und Kultur
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anfangen soll, kann sie gar nicht anfangen" I (ebd. 278). So wird der Grundunterschied von der Kultur klar: die Religion ist nicht in objektiven Gestaltungen vorhanden wie die Kultur, sondern im Verwirklichtwerden, d. h. in dem, was mit dem Individuum geschieht. Sein Werden, sein Leben ist ihr Sinn. Nun gewinnt, was vorhin über die Autonomie der Kultur gesagt wurde, eine noch deutlichere Beleuchtung von der Seite der Religion aus. Die Religion ist neutral gegenüber den Gestaltungen der Kultur; sie ist neutral gegenüber der Wissenschaft. Besteht diese in der gesetzmäßigen Verknüpfung ihrer Aussagen, so weiß die Religion hiervon nichts. "Bei den unmittelbaren Erfahrungen vom Dasein und Handeln des Universums, bei den einzelnen Anschauungen und Gefühlen bleibt sie stehen, jede derselben ist ein für sich bestehendes Werk ohne Zusammenhang mit andern oder Abhängigkeit von ihnen: von Ableitung und Anknüpfung weiß sie nichts, es ist unter allem, was ihr begegnen kann, das, dem ihre Natur am meisten widerstrebt" (Schleierm. Reden 58). "Die Philosophie wohl strebt diejenigen, welche wissen wollen, unter ein gemeinschaftliches Wissen zu bringen, ... die Religion aber nicht diejenigen, welche glauben und fühlen, unter einen Glauben und ein Gefühl" (ebd. 63). Religionsunterricht, als ein Unterricht, der zur Religion oder in der Religion erziehen will, ist deshalb ebenso widersinnig und unmöglich wie eine Religionsphilosophie. Denn deren rechtmäßiger Gegenstand könnten ja nur Aussagen, also Objektivierungen des religiösen Erlebnisses sein; solche sind aber nie die Religion selbst. Ebenso ist die Religion neutral gegenüber der Kunst. Wie diese im Gestalten, im Objektivieren von Erlebnissen besteht, so ist die Religion nichts anderes als eben ein Erleben selbst. Und mag auch gerade das religiöse Erleben den Künstler am gewaltigsten erregen und zu seinen Gestaltungen drängen, so ist doch das, was die Gestaltungen zur Kunst macht, nur die der ästhetischen Gesetzlichkeit entsprechende Form. Weder ist ein Kunstwerk als Kunstwerk religiös, noch führt ästhetisches Genießen zur Religion. Neutral ist die Religion aber auch der Sittlichkeit gegenüber, wie Schleiermacher in den Reden mit unermüdlicher Energie ausführt. "Ihre Gefühle - sagt er von der Religion - sollen uns besitzen, wir sollen sie aussprechen, festhalten, darstellen; wollt ihr aber darüber hinaus mit ihnen, sollen sie eigentliche Handlungen veranlassen und zu Taten treiben, so befindet ihr euch auf einem fremden Gebiet, und haltet ihr dies dennoch für Religion, so seid ihr - wie vernünftig und löblich
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Rudol! Bultmann
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euer Tun auch aussehe - versunken in unheilige Superstition. Alles eigentliche Handeln soll moralisch sein und kann es auch, aber die religiösen Gefühle sollen wie eine heilige Musik alles Tun des Menschen begleiten; er soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion" (5. 68 f.). "Dieser gänzliche Mißverstand, daß die Religion handeln soll, kann nicht anders als zugleich ein furchtbarer Mißbrauch sein, und, auf welche Seite sich auch die Tätigkeit wende, in Unheil und Zerstörung endigen. Aber bei ruhigem Handeln, welches aus seiner eigenen Quelle hervorgehen muß, die Seele voll Religion haben, das ist das Ziel des Frommen" (5. 71). "Wer hindert das Gedeihen der Religion? Nicht die Zweifler und Spötter; wenn diese auch gern den Willen mitteilen, keine Religion zu haben, so stören sie doch die Natur nicht, welche sie hervorbringen will; auch nicht die Sittenlosen, wie man meint; ihr Streben und Wirken ist einer ganz anderen Kraft entgegengesetzt als dieser; sondern die Verständigen und praktischen Menschen; diese sind in dem jetzigen Zustande der Welt das Gegengewicht gegen die Religion, und ihr großes übergewicht ist die Ursache, warum sie eine so dürftige und unbedeutende Rolle spielt" (5. 144 f.). "Die Religion weiß nichts von einer solchen parteiischen Vorliebe (für das Sittliche); die moralische Welt ist ihr auch nicht das Universum; und was nur für diese gälte, wäre ihr keine Anschauung des Universums. In allem, was zum menschlichen Tun gehört, im Spiel wie im Ernst, im Kleinsten wie im Größten, weiß sie die Handlungen I des Weltgeistes zu entdecken und zu verfolgen" (5. 107). Ja, nicht nur im Spiel wie im Ernst, sondern auch im Unmoralischen wie im Moralischen. Und am klarsten wird dies Verhältnis daran, daß auch der "unmoralische" Mensch ein religiöser Heros sein kann. Man denke an Typen wie Augustin und Muhammed. Auch dies findet in der Regel, die in Immermanns "Merlin" für die Stätte des Grales gilt, seinen Ausdruck: Die Schelmenlist, Das höchste Kleinod für den Pfennig» Tugend" Sich zu erhandeln, hier verrufen ist, Auf Monsalvatsch gibts wilde, freche Jugend, Auf Monsalvatsch geraten kühne Sünder: Sigun', Amfortas, eitle Lüste suchend!
Ganz selbstverständlich also ist Religion Privatsache und hat mit dem Staat nichts zu tun. "Es kann keine Frage darüber sein, ob nicht ein priesterlicher (d. h. religiöser) Mensch seine Religion darstellen, sie
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mit Fleiß und Kunst, wie sichs gebührt, darstellen, und zugleich noch irgend ein bürgerliches Geschäft treu und in großer Vollkommenheit ausrichten könne. Warum also sollte nicht auch, wenn es sich eben so schickt, derjenige, welcher Profession macht vom Priestertum (das ist eben die Darstellung des religiösen Lebens), zugleich Moralist sein dürfen im Dienst des Staates? Es ist nichts dagegen: nur muß er beides nebeneinander, nicht in- und durcheinander sein 2 ; er muß nicht beide Naturen zu gleicher Zeit an sich tragen und beide Geschäfte in derselben Handlung verrichten sollen. Begnüge sich der Staat, wenn es ihm so gut deucht, mit einer religiösen Moral: die Religion aber verleugnet jeden moralisierenden Propheten und Priester; wer sie verkündigen will, der tue es rein" (Schleiermacher, Reden 222). " ... nachdem er (der Staat) seine moralische Bildungsanstalt für sich angelegt hat, was er doch in jedem Falle auch tun muß, lasse er sie (die "Priester") ihr Wesen ebenfalls treiben für sich und kümmere sich gar nicht um die priesterlichen Werke, die in seinem Gebiet vollendet werden, da er sie doch weder zur Schau noch zum Nutzen braucht, wie etwa andere Künste und Wissenschaften. Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat! - das bleibt mein Catonischer Ratsspruch bis ans Ende, oder bis ich es erlebe, sie wirklich zertrümmert zu sehen -. Hinweg mit allem, was einer geschlossenen Verbindung der Laien und Priester unter sich oder untereinander auch nur ähnlich sieht!" (ebd. 223 f.) Das Ideal ist eben deshalb auch nicht die Institution einer möglichst alle Volksgenossen umfassenden, rechtlich organisierten Kirche, nicht die Volkskirche, sondern kleine lebendige Gemeinschaften, Freikirchen, über deren Rahmen hinüber die wahrhaft Frommen zu der einen unsichtbaren, wahren Kirche gehören. Alles Übel schreibt Schleiermacher der Staatskirche zu. "Ihr habt Recht, zu wünschen, daß nie der Saum eines priesterlichen Gewandes den Fußboden eines königlichen Zimmers möchte berührt haben: aber laßt uns nur wünschen, daß nie der Purpur den Staub am Altar geküßt haben möchte; wäre dies nicht geschehen, so würde jenes nicht erfolgt sein" (Reden 210). "So oft ein Fürst eine Kirche für eine Korporation erklärte, für eine Gemeinschaft mit eigenen Vorrechten, für eine ansehnliche Person in der bürgerlichen Welt, ... so oft ein Fürst, sage ich, zu dieser gefährlichsten und verderblichsten aller Handlungen sich verleiten ließ, war 2 Vgl. das, was Herrmann gelegentlich über das Abwechseln von Glaubens- und Arbeitsgedanken gesagt hat.
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das Verderben dieser Kirche unwiderruflich beschlossen und eingeleitet. Wie das furchtbare Medusenhaupt wirkt solche Konstitutionsakte politischer Existenz auf die religiöse Gesellschaft; alles versteint sich, sowie sie scheint ... Die größere und unechte Gesellschaft läßt sich nun nicht mehr trennen von der höheren und kleineren, wie sie doch getrennt werden müßte; ... sie kann weder ihre Form noch ihre Glaubensartikel mehr ändern; ihre Einsichten, ihre Gebräuche, alles ist verdammt, in dem Zustande zu beharren, in dem es sich eben befand. Aber das ist noch nicht alles: die Mitglieder der wahren Kirche, die mit in ihr enthalten sind, sind von nun an von jedem Anteil an ihrer Regierung so gut wie ausgeschlossen mit Gewalt, das Wenige für sie zu tun, was noch getan I werden könnte" (ebd. 211 f.). Hätte der Staat das religiöse Leben sich selbst überlassen, dann wären ungestört "die Mitglieder der wahren Kirche im Besitz geblieben, ihr priesterliches Amt unter ihnen in einer neuen und besser angelegten Gestalt wieder anzutreten. Jeder hätte diejenigen um sich versammelt, die grade ihn am besten verstehen, auf die nach seiner Art am meisten gewirkt werden konnte, und statt der ungeheuren Verbindungen ... wären eine große Menge kleinerer und unbestimmter Gesellschaften entstanden.... 0 goldenes Zeitalter der Religion, wann werden die Umwälzungen der menschlichen Dinge dich künstlich herbeiführen, nachdem du auf dem einfachen Wege der Natur verfehlt worden bist! Heil denen, die dann berufen werden! ... Möchte doch allen Häuptern des Staats, allen Virtuosen und Künstlern der Politik auf immer fremd geblieben sein auch die entfernteste Ahndung von Religion! ... Denn das ist uns die Quelle alles Verderbens geworden!" (ebd. 208 ff.) Diese Besinnung auf das Wesen von Religion und Kultur und ihr gegenseitiges Verhältnis wird zu Ende geführt durch einen abermaligen Blick in die Geschichte. Geistesgeschichte gibt es nur als die Geschichte von Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst, als Darstellung der Selbstentfaltung der Vernunft im Ringen mit dem Natürlich-Stofflichen. Dagegen gibt es keine Geschichte der Religion. Es kann sie nicht geben, wenn das Leben der Religion nicht in objektiven Gestaltungen, sondern im individuellen Leben vorhanden ist. Die Momente dieses Erlebens bilden keinen gesetzlichen Zusammenhang weder der Kausalität noch der Teleologie. Sie bilden keine Richtung, in der Stufe auf Stufe fortbaut, so daß eine Generation ein religiöses Problem für die folgende Generation erledigt haben könnte und neue Probleme organisch hervorwachsen wie bei Sätzen der Mathematik oder des Rechts oder der
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Kunst. Es gibt in der Religion keine Probleme in diesem Sinn, sondern immer nur ein und dasselbe "Problem", das immer individuell aufs neue zu lösen ist: die Macht zu finden, der gegenüber freie Selbsthingabe möglich ist. Die religiösen Erlebnisse stehen also nicht in einem Verhältnis der Entwicklung zueinander, sondern sie sind da oder sind nicht da, und sie sind prinzipiell immer die gleichen. Eine Geschichte der Religion kann es so wenig geben, wie es eine Geschichte anderer geistiger Tatbestände geben kann, deren Wesen gleichfalls nicht in Objektivierung, in Gestaltung vorhanden ist, sondern im Vollzug, im Werden, im Verwirklicht-werden, wie etwa Vertrauen, Freundschaft und Liebe. Kein Mensch denkt daran, eine Geschichte des Vertrauens zu schreiben. Der Schein der Möglichkeit einer Religionsgeschichte entsteht dadurch, daß das religiöse Erleben wie alles Erleben zu Gestaltungen führt, zu Gedanken, Institutionen und Kunstwerken, deren Geschichte sich in der Tat schreiben läßt. Aber diese Objektivierungen sind nicht Religion, sondern zeugen nur von ihr, und einen geschichtlichen Zusammenhang bilden sie nur innerhalb der Geschichte der Kultur - nicht als eigene Geschichte. So ist denn die sogenannte Religionsgeschichte auf den Gebieten der Primitiven tatsächlich nichts anderes als Geschichte primitiver Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit, auf den Gebieten der sich entwickelnden Kultur wird sie zur Geschichte der sich entwickelnden Wissenschaft, der Sittlichkeit, des Rechtes und Staates, der Kunst. Man denke besonders an die Dogmengeschichte und die mittelalterliche Kirchengeschichte. Oder man sehe, eine wie geringe Rolle die Religion und ihr Leben in den üblichen Darstellungen der Kirchengeschichte spielt; eigentlich tritt sie nur da auf, wo es sich um die Darstellung bestimmter Persönlichkeiten handelt - ein Zeichen dafür, daß sie eben nur im Werden des individuellen Lebens existiert. Versteht man also unter "Kulturfaktor" eine geistige Macht, die Geschichte schafft und die in den objektiven Gestaltungen der Kultur ihre Existenz hat, so ist die Religion kein Kulturfaktor, und die Geschichte der geistigen Kultur als Problemgeschichte kann ohne Rücksicht auf die Religion geschrieben werden. Will man aber die Religion als eine Naturkraft, die überhaupt das menschliche Leben in Bewegung setzt, und die zur Schaffung von Kulturgütern führt, als Kulturfaktor bezeichnen, so muß man Leidenschaften wie Habgier I und Liebe auch Kulturfaktoren nennen, so sind Hunger und Krankheit, Verbrechen und Krieg auch als Kulturfaktoren gerechtfertigt, wie man denn in der
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Tat derartige Rechtfertigungen vor einigen Jahren noch hören konnte. Oder gibt es noch ein anderes Kriterium, kraft dessen die Religion vor der Kultur gerechtfertigt wäre? I (450)
5. Der Mensch ist nicht nur Vernunftwesen, sondern auch Naturwesen. Alle geistige Kultur ist nicht etwa nur veranlaßt durch die Natur, sondern überhaupt erst sinnvoll in Beziehung auf Natur. Der Wissenschaft ist die Beziehung auf Natur wesentlich, nicht in dem Sinne, daß die Wissenschaft ohne den Kampf ums Dasein nie entstanden wäre und ohne ihn in Folge der Trägheit der Menschen aufhören würde, sondern weil sie ohne diese Beziehung sinnlos würde, denn ihr Sinn liegt in der Bewältigung der Erfahrung. Höchstens Mathematik scheint es - könnte man ohne die Beziehung auf Natur treiben; aber auch sie wird sinnvoll erst im Zusammenhang der gesamten theoretischen Wissenschaft, die die Gesetzmäßigkeit der Erfahrung zu ihrem Gegenstand hat. Alle Sittlichkeit hört auf, sobald es keine Welt des Natürlich-Stofflichen gibt, für deren Gestaltung die Sittlichkeit das Ziel vorschreibt. Alles Handeln bezieht sich auf Natur, aller Wille auf Widerstände, also auch alles Urteilen, das die Gesetzmäßigkeit des Wollens betrifft, auf Natur. Ebenso hat die Kunst ohne Beziehung auf das Natürlich-Stoffliche keinen Sinn. Es gibt keine bildende Kunst ohne Stein oder Farbe, keine Musik ohne Töne der Instrumente oder der menschlichen Stimme, keine Dichtung ohne den Naturlaut des Wortes. Und so wenig je die Realisation im Stoff der künstlerischen Idee adäquat ist, so sehr tendiert die Idee in der künstlerischen I Schauung nach der Verwirklichung im Stoff, so sehr besteht das Wesen der Kunst in der Gestaltung der Idee im Stoff. Damit ist es aber auch gerechtfertigt, daß es Individuen gibt, die in sich diese Beziehung von Kultur und Natur erleben. Nicht daß sie sich an der Kultur nicht beteiligen würden, wenn die Natur sie nicht mittels des Kampfes ums Dasein dazu zwänge, ist die Meinung, sondern daß sie Kulturwesen nur als Naturwesen sein können. Wie der Inhalt der geistigen Kultur zwar nicht dadurch sein Recht und seine Wahrhaftigkeit erweist, daß er verwirklicht wird, aber die geistige Kultur doch nur als sich verwirklichende existieren kann, so kann oder muß auch das Individuum nicht nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet
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werden, daß es der Durchgangspunkt der Selbstentfaltung der Vernunft ist, sondern auch unter dem, daß in seiner Teilnahme an der geistigen Kultur etwas mit ihm geschieht, daß es etwas wird, nämlich zu einem lebendigen Ich. Wir sind nicht nur Naturwesen, aber unser inneres Leben ist umso reicher, je kräftiger, je elementarer wir als Naturwesen sind. Desto schwerer und inhaltreicher ist - nicht etwa der Kampf, in dem die Natur überwunden, getötet werden soll, wie eine asketische Weltanschauung meint, sondern desto inhaltsreicher ist unser Werden als lebendiger Individuen, deren Inhalt immer durch die Spannung zwischen den beiden Polen Natur und Kultur bestimmt wird. Ohne die geistige Kultur bleiben wir im triebhaften Naturleben wie das Tier. Aber ohne die Natur wird das geistige Leben für uns sinnlos, wir haben keine Spannungen, keine Erlebnisse, kein lebendiges Ich. In diesen Spannungen erlebt der Mensch sein Schicksal, oder: es wird ihm darin sein Schicksal angeboten. Denn das ist die Frage, ob er das Geschehen, in das er gestellt ist, als einen inneren Besitz sich zu eigen machen kann, ob er es als sein Schicksal erkennen kann, in dem er eine einheitliche, sinnvolle Macht walten sieht, oder ob es ihm ein verworrenes und verwirrendes, sinnloses Geschehen ist, gegen das er sich sträuben muß, dem er sich verschließt. Kennt er Augenblicke, in denen ihm in solcher Spannung ein Reichtum des Lebens zuwächst, so bedeutet das: er erlebt solchen Reichtum als Schenkung. Denn dies Leben ist ja weder Natur noch methodisch geschaffene Gestaltung. Es liegt in diesem Sich-schenken-Iassen die Parodoxie vor, daß das Ich ganz auf seine eigene Kraft und Tätigkeit verzichtet, sich völlig abhängig weiß, und daß es doch spürt, daß in solcher Unterwerfung erst sein eigenes Leben :zur Freiheit gelangt, ja daß es nur ehrlich bleiben und Größe gewinnen kann in solcher Unterwerfung und Beugung. Dies Erlebnis also, sich solcher Schenkung öffnen zu können, ist das Erlebnis schlechthiniger Abhängigkeit, der freien Selbsthingabe, ist die Geburtsstunde der Religion. Insofern ist also jedes Erleben religiös; es wird zur Religion im eigentlichen Sinn, indem es zum Bewußtwerden, zum Genießen dieses Lebensgesetzes wird, zum Innewerdeneiner Macht, die solches Schicksal des Ich will und wirkt, und die das Ich also als die Macht über alles Wirkliche erlebt. Insofern ist Religion "Anschauung des Universums", wie Schleiermacher in den Reden sagt; das Wirkliche wird nicht etwa als ein System verstandesmäßig gedachter Gesetzmäßigkeit erfaßt, sondern jenseits der Welt der Erfahrung ist ein Punkt gewonnen, von
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dem aus alles Wirkliche als sinnvolle Einheit erscheint. Lagardes Satz, daß "Religion haben" heiße "einen Plan Gottes in seinem Leben finden", sagt nichts Anderes. Nicht an Erfahrungen oder Illusionen eines kindlichen Vorsehungsglaubens nach der Art Jung-Stillings oder falscherbaulicher Traktate ist gedacht, sondern an das Vermögen in seinem Schicksal die Macht zu erfassen, die das Ich reich und lebendig macht, die es erlöst von der Natur und vom Streben seiner selbst. Religion haben kann also auch heißen: sich sein Schicksal zu eigen machen, sich mit seinem Schicksal identifizieren. Und deutlich ist auch, wie Sinn und Macht dieses göttlichen Lebens als Jenseits erlebt wird, als Jenseits im Verhältnis zur Natur wie zur Kultur; ja der religiöse Begriff des Jenseits erhält erst jetzt einen deutlichen Sinn. Deutlich ist auch, wie natürlich es ist, daß an religiöses Leben sich so leicht immer wieder I das Streben nach einer Metaphysik ansetzt, und ebenso, warum diese Metaphysik unmöglich sein muß. - Vielleicht darf man fragen, ob Kants Postulat, daß die Welt der Erfahrung nach der sittlichen Idee gestimmt sein müsse, darin seinen tiefsten Sinn hat, daß für das Individuum die Verkettung in die Welt der Natur und der geistigen Kultur sinnvoll ist. Religion kann nur haben, wer in bei den Welten steht. Nicht die Kulturhöhe, aber die Teilnahme an der Kultur ist Voraussetzung, und ebenso das Wurzeln in den Lebenskräften der Natur. Auf die Zeiten, die einseitig von Geisteskultur beherrscht waren, pflegte eine Reaktion zu folgen, in der die elementaren Naturkräfte, aus denen das Ich gespeist wird, ihr Recht geltend machten, - oder vielmehr: es machte sein Recht geltend eben das Ich, dessen eigenes, ursprüngliches und geheimnisvolles Wesen in der Kultur unterzugehen drohte. Auf die Zeit der Aufklärung folgte die Romantik; gegen die Zeit der modernen naturwissenschaftlichen Kultur und der historischen Bildung sehen wir jetzt eine Reaktion einsetzen, vor allem in der Kunst, die auf die Zeit der Gotik als seelenverwandt zurückgreift, die über die Welt der Kultur hinaus in ein Jenseits hinübergreift, das mit seinen geheimnisvollen Kräften das Ich erfüllen und ihm das Gefühl eigenen Lebens geben soll. Religion kann nur selten ruhiger Besitz sein, da sie doch die Höhe des Erlebens darstellt.
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Falle nicht, Gott, aus deinem Gleichgewicht. Auch der dich liebt, und der dein Angesicht erkennt im Dunkel, wenn er wie ein Licht in deinem Atem schwankt, - besitzt dich nicht. Und wenn dich einer in der Nacht erfaßt, so daß du kommen mußt in sein Gebet: du bist der Gast, der wieder weitergeht.
Diese Worte Rilkes gelten nicht etwa nur, wie man vielleicht abschätzig urteilen möchte, von einer gewissen "Mystik", sondern, wenn man ehrlich sein will, von jedem religiösen Leben. Wohl kann die Ruhe des Vertrauens im Frommen bleiben und ihre Wärme über sein ganzes Leben breiten. Eigentliche Religion aber ist nur in den Augenblicken des Erlebens vorhanden, und auch hier gilt, daß wir abwechseln zwischen Glaubensgedanken und Arbeitsgedanken. Und der größte Teil des religiösen Lebens besteht doch in Sehnsucht, im Drängen über die Wirklichkeit der Natur und Kultur hinaus, die, wie wir uns gestehen müssen, den Hauptinhalt des Lebens unseres Bewußtseins bilden. Daher ist die Religion bald naturfeindlich, asketisch, bald kulturfeindlich. Immer lebt sie vom Drängen nach dem Erlebnis, nach Erfüllung des Inneren, bald als Verlangen nach Heimat und Ruhe, heraus aus Kampf und Spannung, bald als heißer Durst nach Erlebnissen voll Tiefe und Leidenschaft, nach einem überwältigt-werden von dem größten Herrn, von dem vernichtet zu werden doch erst "leben" heißt. Entsprungen ist die Sehnsucht stets dem Triebe: Recht und Sinn des Ich zu empfinden, das als Ich eben weder bloßes Naturwesen noch Subjekt der geistigen Kultur ist, und das der Wirklichkeit seines Lebens nur im Erleben gewiß wird. In Paradoxien verläuft unser inneres Leben; die Spannungen sind ihm wesentlich; ein "vollkommener" Mensch könnte überhaupt keine Religion haben.
6. Ist die Religion ein Kulturfaktor? Im letztbeschriebenen Sinne gewiß, und zwar der stärkste. Ohne die Kraft des Erlebens würde die Kultur sinnlos, und so ist nun nicht eigentlich die Religion gerechtfertigt vor der Kultur, sondern die Kultur gerechtfertigt durch die Religion. Der Mensch ist nicht um der Kultur willen, sondern die Kultur um des Menschen willen. Was den Menschen zum Menschen
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macht, ist die Kraft der Religion, die Sehnsucht nach Erleben, die Kraft des Erlebens, der Glaube, im Erleben eine Wirklichkeit zu erfassen und in sie hineinzuwachsen, die über alle Freuden und Schmerzen, in die die Spannung zwischen Natur und Kultur hineinstellt, hinwegträgt und das Ich reich und lebendig macht. I Die Gefahr aller Kultur ist die, daß die Kultur vergöttlicht, und zumal daß ein bestimmter Kulturstand verabsolutiert und darüber das Ich des Menschen entleert wird. Es wird inhaltlos, erlebnisarm und flüchtet gleichsam vor sich selbst in die Kultur, die Stimme seiner Sehnsucht zum Schweigen zu bringen; und es macht die Kultur zum Selbstzweck, um sich damit der Frage des eigenen Sinnes und Zweckes zu überheben. Es glaubt an eine Menschheit ohne Menschen; es will die Menschheit glücklich machen "am Individuum vorbei, über das Individuum hinaus" (Werfel). Die Macht der Religion ist "die Gesamtheit des Gegensatzes zu jenem Glauben, daß der Menschheit über den Menschen hinweg zu helfen sei". Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Kultur gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele! Tiefen Ausdruck hat die Reaktion gegen die Kulturvergötterung bei Dichtern wie Dostojewski und Franz Werfel gewonnen. Und uns allen ist die Besinnung dringend nahegelegt durch die Tatsache des Kommunismus; er scheint doch bei seinen geistigen Führern der Protest gegen die Vergötterung der Kultur zu sein, und sein Recht liegt in der Negierung eines bestimmten Kulturstandes als eines absoluten. Insofern bildet er übrigens auch den schärfsten Gegensatz zur Sozialdemokratie, die ihn mit richtigem Instinkt ablehnt, weil sie zur Verabsolutierung der Kultur tendiert. Das Unrecht des Kommunismus, wenn ich ihn recht verstehe, liegt in der Verkennung, daß der eigentliche Sinn der Kultur kein Zustand, sondern eine Richtung ist, eine "ideelle Norm, die sich als solche über jede tatsächlich erreichte Stufe ihrer Entfaltung in einer möglichen Erfahrung erhebt"; und in der Verkennung, daß Kultur in diesem Sinne zum menschlichen Geistesleben notwendig gehört, daß ohne sie das Ich ebenso inhaltsarm wird wie bei ihrer Verabsolutierung. Vom Standpunkt der Kultur aus haben wir gewiß Grund, die Kontinuität der Kultur zu wünschen; vom Standpunkt der Religion aus liegt ein solcher Grund nicht vor. Fand einst im Urchristentum das Weltfremde der Religion in ihrer Eschatologie den Ausdruck, so wird heute der Kommunismus - von seinen nur wirtschaftlich interessierten Mitläufern natürlich abgesehen - der stärkste Ausdruck für das Sehnen nach religiöser Neugeburt sein. Innerlich überwunden werden kann er
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nicht durch Gewalt - wer weiß, ob er sich nicht doch die ganze Welt unterwirft? - sondern nur durch Anerkennung seines inneren Rechtes. Er kann uns zur vollen Deutlichkeit bringen, daß eine Verabsolutierung der Kultur den Menschen vernichtet, daß der Mensch vielmehr, wie die ganze Welt, so auch die ganze Kultur hinzugeben bereit sein muß, damit er seine Seele gewinne. Nur eine religiöse Neugeburt kann uns retten, vor der Verzweiflung über die Katastrophe unserer Kultur bewahren, uns innerlich über sie erheben und uns den Mut für die Zukunft geben. So sehr wir unsere Kräfte dem Neubau des Staates zu widmen haben: der Staat kann uns hier nicht helfen. Er kann für die Religion nichts tun, nur daß er sie ihrer Freiheit überläßt und sich bewußt bleibt, daß er nicht im Stande ist, das ganze Leben des Menschen zu umfassen und zu füllen. In ihm wird die Zusammenfassung aller Kulturarbeit und Kulturwerte wirklich. Aber für das Individuum gibt es Höheres als Kultur; sein Leben, sein Glück, das so zu heißen verdient, wird nicht erarbeitet, sondern als Geschenk empfangen. Höher als Schaffen steht das Erleben.
ETHISCHE UND MYSTISCHE RELIGION IM URCHRISTENTUM Vortrag gehalten 29. September 1920 auf der Wartburg I. Geschichtliche Darstellung: 1. Das alte Geschichtsbild und seine Auflösung; 2. Die Lage des geschichtlichen Problems. 11. Die Aufgaben der Selbstbesinnung auf Grund der geschichtlichen Erkenntnis: 3. Die Beurteilung der historisch-kritischen Arbeit durch die moderne Frömmigkeit; 4. Die Bedeutung dieser Beurteilung; 5. Die Bedeutung von Kultus und Mythus für die religiöse Gemeinschaft; 6. Religiöser Moralismus und ethische Religion; 7. Der heutige Ruf nach Mystik.
1. Das alte Geschichtsbild und seine Auflösung
Der erste durchgeführte Versuch eines geschichtlichen Verständnisses des Urchristentums war das Geschichtsbild F. C. Baurs; es hat die Darstellungen der urchristlichen Religionsgeschichte - herkömmlich "neu-
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testamentliche Theologie" genannt - bis in die neueste Zeit hinein beherrscht trotz aller Knderungen im Einzelnen. Herrschend nämlich blieb das Bemühen, die Geschichte der urchristlichen Religion als eine einheitliche, gradlinige Entwicklung zu begreifen, die durch die drei Stadien: Jesus, Paulus, Johannes, gekennzeichnet ist. Wohl erkennt man vielfach fremde Einflüsse, erkennt Verwicklungen und Modifikationen, aber sie werden eben an der einheitlichen Linie der Entwicklung gemessen. Als Wesen der christlichen Religion gilt dieser Auffassung durchweg der geistige Gehalt der Verkündigung Jesu, der bei Paulus und weiter bei Johannes zur bewußten Entfaltung und I Formung komme. Der Inhalt der christlichen Religion ist - zunächst verstanden aus der Antithese zum Judentum - ein rein geistiger, universalistischer Gottesglaube, für den alle kultischen und zeremoniellen Institutionen und alle gesetzlichen und nationalen Bindungen gefallen sind. Gott ist für diese Frömmigkeit der heilige Wille des Guten, das Gesetz des Guten und zugleich der Vater für den, der das Gute mit seinem eigenen Willen bejaht. Der Fromme findet Gott, wenn er das Gute will, - auch dann, wenn ihn sein Gewissen verurteilt; er erfährt ihn dann als die verzeihende Macht der Gnade (die sich in Jesus offenbart), die die Sünde richtet und den Sünder rettet. In seinem sittlichen Wollen findet der Mensch Gott und in seinem Gottesglauben gelangt er zur Erfüllung seiner Bestimmung als sittlicher Persönlichkeit; die Gottesliebe wird in der Nächstenliebe wirklich und erfahrbar. So ist die Gotteskindschaft zugleich Gabe und Aufgabe, und so ist in der Liebe bereits das neue Leben da. üb der Ton mehr auf die aktive Seite fällt: das Tun des Willens Gottes macht zu Kindern Gottes - oder auf die passive: die vergebende Gnade macht der Gotteskindschaft gewiß - zu Grunde liegt ein Begriff von Gott und Mensch in wesentlich ethischen Kategorien; Baur und Ritschi sind darin ganz einig. Dem entspricht die Deutung des "Reiches Gottes" in der Verkündigung Jesu; dem entspricht die Auffassung der Rechtfertigungslehre als des Zentralpunkts der Anschauung des Paulus. Dies Geschichtsbild wurde gewissermaßen schon untergraben durch einzelne Beobachtungen, deren Konsequenzen freilich zunächst nicht gezogen wurden. An der alten Kirchengeschichte wurde es zuerst deutlich, daß in die Geschichte der christlichen Religion alsbald ein ganz andersartiger Faktor eintritt: der Hellenismus; jedermann weiß es mindestens seit Harnacks Dogmengeschichte. In einem Aufsatz hat
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Harnack gelegentlich gezeigt!, wie die paulinische Rechtfertigungslehre in der alten Kirche durchweg unwirksam ist, beziehungsweise nur in halb- oder mißverstandenen Formeln nachwirkt bis auf Augustin. Harnack meinte zwar immer noch sagen zu dürfen, daß das Evangelium Jesu als konstituierender Faktor in der Geschichte der alten Kirche wirke. Demgegenüber hat z. B. Loeschcke in einer Skizze gezeigt, daß der Einfluß des Evangeliums auf die alte Kirche ein sehr geringer ist 2• Wann aber beginnt die Wirksamkeit des hellenistischen Faktors? Daß im Neuen Testament das Johannesevangelium starke Einflüsse hellenistischer Frömmigkeit aufweise, wurde früh erkannt, ohne daß man sich dadurch das Bild der einheitlichen Entwicklung stören ließ. Ebenso blieb es zunächst ohne große Folgen, daß man hier und dort bei Paulus den Einfluß hellenistischer Ausdrucksformen, Gedanken und Stimmungen beobachtete. Eine grundlegend neue Auffassung wurde eigentlich zum ersten Mal in Wredes Paulus (1905) ausgesprochen. Wrede sieht den unheimlichen, klaffenden Riß zwischen Jesus und Paulus mit voller Deutlichkeit. In seiner Darstellung der paulinischen Theologie wird die Rechtfertigungslehre aus dem Mittelpunkt in den Anhang verwiesen als apologetisches Stück oder Kampfeslehre, und in den Vordergrund treten Gedanken mythischen und mystischen Charakters. Fand Wredes Darstellung zunächst fast nur Widerspruch, so ist sie doch umso bedeutsamer, als sie zu einer Zeit entworfen war, als die religionsgeschichtliche Forschung in ihrer Anwendung auf das Neue Testament noch kaum begonnen hatte 3 • Die neue Epoche beginnt mit der energischen religionsgeschichtlichen Erforschung des Hellenismus und ihrer Fruchtbarmachung für das Neue Testament. Von Philologen haben Reitzenstein und Wendland, von Theologen Bousset und Heitmüller daran die größten Verdienste; vor allem Boussets glänzendes Werk Kyrios Christos (1913) ließ ein ganz neues Geschichtsbild erstehen: der Unterschied zwischen Jesus und Paulus ist in der Tat ähnlich zu sehen, wie Wrede gezeigt hatte. Aber der Einschnitt in der Geschichte des Urchristentums beginnt schon vor Paulus, nämlich gleich mit dem übergang I der christlichen Predigt vom palästinensischen auf den hellenistischen Boden. Paulus trat in ein schon vor ihm bestehendes hellenistisches Urchristentum ein; dies bildet 1 2
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ZThK I (1891) S. 82-178. Gerhard Loeschcke, Zwei kirchengeschichtliche Entwürfe. 1913. Von Ausnahmen wie Otto Pfleiderer abgesehen.
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unbeschadet seiner Eigenart und Bedeutung - die Voraussetzung für sein Christentum, und wesentliche Anschauungen des Paulus sind nur auf Grund dieser Voraussetzung zu verstehen. - Uns ist es jetzt fast unverständlich, wie man einst - zumal in der durch Wrede geweckten Debatte "Jesus und Paulus" - die hellenistische Gemeinde so lange ignorieren konnte. Freilich an eine Gemeinde als Faktor hatte ein Forscher erinnert, Jülicher4, aber an die palästinensische Gemeinde. Und in der Tat ist auch sie stärker in Rechnung zu setzen, als es früher geschah. Die Analyse der synoptischen Evangelien hat - vor allem seit Wellhausen - immer deutlicher gezeigt, wie wenig Sicheres wir von Jesus wissen, und wie sehr die Evangelien in erster Linie ein Zeugnis der palästinensischen Gemeinde sind. Nicht Personen dürfen in erster Linie verglichen werden, sondern Gemeinden: die palästinensische und das hellenistische Urchristentum. Ich muß hier nun methodische Erwägungen wie Vorfragen und Teilfragen übergehen und will nur an vier Beispielen die Lage des Problems erläutern. 2. Die L,age des geschichtlichen Problems 1. Die Erzählung vom Leben Jesu In der palästinensischen Gemeinde wurden Einzelstücke überliefert: Worte und Gespräche Jesu, Wundergeschichten und dergleichen. Jesus erscheint in ihnen als der eschatologische Bußprediger und Prophet der kommenden Gottesherrschaft, als Weisheitslehrer und Rabbi. Es kam auf palästinensischem Boden wohl auch zu (katechismusartigen) Sammlungen solcher Einzelstücke, aber nicht zu einem einheitlichen "Leben J esu". Dies schuf erst der Christus-Mythus der hellenistischen Gemeinde, für die Jesu Leben die Epiphanie des himmlischen Gottessohnes ist und damit als Einheit erscheint. Der erste uns bekannte Versuch solcher Darstellung mit Verwertung palästinensischen Materials ist das Markusevangelium. Wie hier das Leben Jesu auf dem Hintergrund des Mythus erscheint, so hat der Mythus auch neue Einzelstücke geschaffen wie die Tauf- und Verklärungsgeschichte, wie Mt 11, 27 u. a. Im 4
Adolf ]ülicher, Paulus und ]esus. 1907.
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Johannesevangelium endlich ist das palästinensische Gut fast völlig verdrängt; Jesus erscheint hier als der Gottmensch, sein irdisches Leben ist die Offenbarung des himmlischen Logos für die, die schauen können. Jenseits der Grenze des Neuen Testaments sind die Oden Salomos ein charakteristisches Beispiel dafür, wie der Mythus die Herrschaft über die Gestalt Jesu gewonnen hat. Man muß sich klar machen, wie in der Kirche bis in die neue Zeit hinein nicht der historische Jesus, die "Religion Jesu" wirksam war, sondern wesentlich der Christus-Mythus, wie ihn die moderne Frömmigkeit zum Teil wieder verlangt gegenüber dem historischen Jesus der "liberalen Theologie". Jener Mythus ist eine Schöpfung des hellenistischen Christentums, während die "liberale Theologie" auf die palästinensische Tradition zurückgriff. 2. Der Kyrioskult
Mit dem mythischen Christus hängt der kultische aufs engste zusammen. Die palästinensische Gemeinde kannte noch keinen Christuskult, keine Anrufung Jesu als des Herrn, wie sie überhaupt keinen eigentlichen Kult geschaffen hat. Für sie war Jesus der Prophet und Lehrer und vor allem der demnächst kommende "Menschensohn". In der hellenistischen Gemeinde erwächst alsbald ein neuer Kult, der Kult des Kyrios Christos. Er ist das Zentrum der Frömmigkeit der Gemeinden; in ihm wird der Einzelne mit dem Kyrios verbunden und werden alle Einzelnen zum "Leibe Christi" vereint. Er spendet die Kräfte, die den Einzelnen wie die Gemeinde durchfluten, die durch die Sakramente vermittelt werden. Die Vorstellung vom eschatologischen Menschensohn und von der eschatologischen Gottesherrschaft verblaßt. 3. Die Bekehrung des Paulus
Die früheren Versuche, die Bekehrung des Paulus psychologisch zu begreifen, I nahmen (von Holsten bis Weinel) wesentlich Röm 7 zur Grundlage, d. h. wie sie in der Rechtfertigungslehre des Paulus den Kernpunkt seiner Anschauung sahen, faßten sie die Bekehrung als das Ergebnis einer sittlichen Entwicklung auf. Im Zusammenhang damit wurde gewöhnlich als wesentlich dabei mitwirkender Faktor die Tradition der palästinensischen Gemeinde und, durch sie vermittelt, Worte und Person Jesu gewertet. Alle drei Voraussetzungen sind falsch: weder
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steht die Rechtfertigungslehre im Zentrum der paulinischen Anschauung, noch ist Röm 7 eine Darstellung der inneren Entwicklung des Paulus5 , noch kann von einer bedeutsamen Einwirkung der palästinensischen Tradition auf Paulus die Rede sein. Somit erscheint die Bekehrung des Paulus in einem ganz neuen Licht; sie ist das ekstatische Erlebnis eines hellenistischen Juden, das ihn in den Bann des Kyrioskults der hellenistischen Gemeinde zog. Die inneren Dispositionen müssen also ganz anderer Art gewesen sein.
4. Die soziologische Struktur des Urchristentums In seinem großen Werk über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912) charakterisiert Troeltsch den Typus der christlichen Gemeinde: sie ist nicht eine weltliche Arbeitsgemeinschaft mit einem Reform- oder Kulturprogramm, sondern sie ist eine rein religiöse Gemeinschaft mit überweltlichem Ziel und Kraftzentrum. Gegenüber den weltlichen Ordnungen verhält sie sich gleichgültig; doch kann diese Gleichgültigkeit sowohl zum Konservatismus gegenüber den gottgewollten Ordnungen werden wie zur Verachtung und Empörung gegen die teuflischen Schranken, die das Gottesreich hemmen. Diese Haltung der christlichen Kirche bis zum Beginn der Neuzeit sei im Urchristentum, ja letztlich in der Verkündigung Jesu begründet. Troeltsch gewinnt sein Geschichtsbild, indem er, unter dem Einfluß der alten Anschauung von der Einheit der urchristlichen Geschichte, Jesus nach Paulus und Johannes interpretiert. Er trägt unbefangen die paulinische Terminologie (Selbstheiligung, Berufung zur Gottesgemeinschaft, Mitwirken am Werke Gottes usw.) in die Verkündigung Jesu ein. In Wahrheit darf Jesus nicht von der folgenden hellenistischen Entwicklung, sondern nur von der vorhergehenden jüdischen Entwicklung aus verstanden werden. Troeltsch beschreibt ganz richtig das sittliche Ideal und die soziologische Struktur der hellenistischen Gemeinden: hier liegt eine spezifisch religiös orientierte Ethik vor, die Ethik eines religiösen Individualismus, der aus dem Erlebnis der Erfüllung mit dem göttlichen Geist und der mystischen Vereinigung mit dem Kyrios den Antrieb und das Ziel des sittlichen Handelns schöpft. Das Ziel ist ein transzendentes, und die Formel "Gott und die Menschenseele, die in Gemeinschaft mit ihm 5 Vgl. Wilhelm HeitmülIer, die Bekehrung des Paulus ZThK XXVII (1917) S. 136-153.
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unendlichen Wert gewinnt", trifft das Rechte, wenn auch Gott durch den Kyrios repräsentiert wird. Die Seelen, die mit dem Kyrios in Gemeinschaft treten, werden in dieser Gemeinschaft auch untereinander zu einer Liebesgemeinschaft verschlungen, die sich eben in der kultischen Gemeinde darstellt. Das Handeln besteht darin, daß der Mensch sich heiligt für diese Gemeinschaft, und daß er als Mitarbeiter Gottes neue Glieder für die Liebesgemeinschaft wirbt. - Ganz anders bei J esus, der ein solches überweltlich-mystisches Ziel des Handelns nicht kennt, für den Gott nicht das Ziel ist, mit dem die sich Heiligenden zu mystischer Gemeinschaft verbunden werden und so einen unendlichen Wert gewinnen und untereinander zu einer Liebesgemeinschaft verschlungen werden: Jesu Gott ist in erster Linie der heilige Wille, der vom Menschen den guten Willen fordert; und das Verhältnis des Menschen zu ihm ist das des Gehorsams und des Vertrauens. Jesus fordert im Gegensatz zum Judentum nicht Werke, sondern die gute Gesinnung, Wahrhaftigkeit und Unbedingtheit des Gehorsams unter das Gute. Diesen Sinn, nicht irgend einen mystischen, hat auch das Liebesgebot. Bei Jesus bestimmt nicht der Gottesgedanke den Inhalt und das Motiv der sittlichen Forderung, sondern umgekehrt erhält der Gottesgedanke seinen Inhalt durch das Bewußtsein der sittlichen Forderung, gen au wie bei den großen Propheten Israels, deren Tat die Reinigung der volkstümlichen Gottesvorstellung I vom Bewußtsein der sittlichen Forderung des Rechts und der Gerechtigkeit aus war. Da Troeltsch die Antithese völlig ignoriert, in der Jesu Verkündigung zur gesetzlichen Ethik des Judentums steht, sieht er nicht, daß Jesus als Abschluß und Erfüllung in die Geschichte des Judentums hineingehört, während mit Paulus und der hellenistischen Gemeinde etwas Neues beginnt. Man kann sich den Unterschied von Jesus und Paulus am einfachsten an ihrer Stellung zum Gesetz klar machen. Paulus argumentiert nicht wie Jesus von der sittlichen Forderung des Guten, der Wahrhaftigkeit und Unbedingtheit aus gegen das Gesetz, sondern für ihn ist das Gesetz durch Gottes Heilsveranstaltung aufgehoben, und das sittliche Handeln erscheint nun wesentlich nicht als der Gehorsam unter die Forderung des Guten, sondern als das Wirken des Geistes in den erlösten Gotteskindern. Die Beispiele werden einigermaßen gezeigt haben, daß man das palästinensische Urchristentum als ethische Religion charakterisieren darf. Gott ist der Willensgott der alttestamentlichen und jüdischen Tradition, und als sein Wille gilt eben in erster Linie das Gute. Er fordert den guten Willen und nichts als diesen, und er zählt den, der
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guten Willens ist, unter die Geretteten, die an der kommenden Gottesherrschaft teilbekommen. Er ist der gnädige Vater, der zu den Stillen im Lande und zu den bußfertigen Sündern sich neigt, und der die stolzen Musterfrommen und Werkheiligen verwirft. Das hellenistische Christentum wird demgegenüber als mystisch-kultische Religion zu bezeichnen sein. Gott ist hier nicht, oder nicht in erster Linie, der heilige Wille des Guten, die Wirklichkeit, die im Gehorsam gegen das Gute erfaßt wird, sondern er ist die überweltliche Wesenheit, Geist, Leben, Licht, "Wahrheit", Unvergänglichkeit im Gegensatz zu dem stofflichen, finsteren, toten Wesen der "Welt". Diese Frömmigkeit ist, wie die Mystik meist, dualistisch. Sie schaut deshalb auch die göttliche Wirklichkeit nicht an ihrem Wirken in Welt und Schicksal und erfaßt sie nicht innerhalb von Lebensaufgabe und Lebensschicksal, sondern in wunderbaren Erlebnissen, die den Frommen aus dieser Welt herausnehmen, in Ekstase und wunderbarer Gottesschau, in pneumatischen Erlebnissen und kultischen "Handlungen", die mit den Handlungen dieser Welt schlechthin unvergleichlich sind. Und zwar ist die Mystik in erster Linie Kultusmystik: der im Kult gegenwärtige Kyrios spendet die Gaben der übernatürlichen Welt, den "Geist"; er ist selbst der "Geist". Sein Bild ist Symbol und Quell der göttlichen Kräfte, und in der mystisch-kultischen Gemeinschaft mit ihm wird man in das Wesen der himmlischen Welt verwandelt, wird "verklärt". Konsequent ergibt sich also die bedeutsame Folgerung: Jesus und das palästinensische Urchristentum sind eine Erscheinung innerhalb des Judentums, eine jüdische Sekte, wenn man so will. Vom Standpunkt des Historikers muß man urteilen: das "Christentum" als selbständige geschichtliche Größe, als eine religiöse Gemeinschaft mit eigenen Formen des Mythus und Kultus und des Gemeinschaftslebens beginnt mit dem hellenistischen Urchristentum. Man wird das palästinensische Urchristentum als eine einheitlichere Größe als das hellenistische anzusehen haben. In diesem jedenfalls gibt es allerlei Schattierungen. Die Vorstellungen können geistiger oder massiver sein. Auch ist die Kultusmystik nicht der einzige Faktor, wenn auch der wichtigste. Ich kann in diesem Zusammenhang nicht auf den Reichtum der Nuancen eingehe'n und nicht bei den verschiedenen Einflüssen, die sich geltend machen, verweilen. Ich muß aber, damit das neue Geschichtsbild verständlich wird, noch wenigstens an einigen Punkten das Problem erörtern, wie denn das palästinensische und das
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hellenistische Urchristentum überhaupt eine zusammenhängende geschichtliche Bewegung darstellen können.
1. Die Kultusgottheit des hellenistischen Urchristentums ist nicht eine rein mythische Gestalt, sondern sie wird mit der geschichtlichen Person Jesu von Nazareth identifiziert, den die palästinensische Gemeinde als Propheten und Lehrer verehrt und als Menschensohn erwartet. Den damit gegebenen Zusammenhang der palästinensischen und hellenistischen Ge- I meinde repräsentieren das Markus- wie das Johannesevangelium beide in ihrer Weise. 2. Die Eschatologie Als eschatologische Bewegung hatte die neue Gemeinschaft mit der Verkündigung Jesu ihren Ursprung genommen, und als Gemeinde der Endzeit fühlt sich die palästinensische Gemeinde. Als eschatologische Botschaft wurde das Evangelium in die hellenistische Welt getragen. Daß die Zeit kurz sei, daß in größter Eile das Evangelium in der Oikumene gepredigt werden müsse, war auch die überzeugung des Paulus. Auf die Ankunft des Herrn warten, lernten die hellenistischen Gemeinden unter den ersten Stücken. Unterschied die Eschatologie die hellenistisch-christlichen Gemeinden von andern synkretistischen Bildungen der Zeit, so verband sie sie mit der palästinensischen Gemeinde. Und verblaßte auch die Eschatologie allmählich, so gab sie doch für den Anfang ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den palästinensischen und hellenistischen Gemeinden. 3. Die übernahme der Tradition übernommen wurde von den hellenistischen Gemeinden zunächst das Alte Testament. Abgesehen davon, daß ein Teil seines Inhalts neben der Kultusmystik wirksam wird (eben die Eschatologie, dann der Moralismus u. a.), so gibt schon die übernahme als solche das Bewußtsein, in historischer Kontinuität mit Israel und damit mit der palästinensischen Gemeinde zu stehen. Man fühlt sich als das wahre Israel, man nennt Abraham seinen Vater, man bezieht die Verheißungen auf sich, man entnimmt den alttestamentlichen Schriften ein reiches Beweismaterial für die Apologetik u. a. übernommen wurde aber auch die palästinensische Tradition von Jesus. Und auch hier gilt: eine Tradi-
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tion hat als solche ein Schwergewicht, auch wenn ihr geistiger Gehalt nicht voll zur Auswirkung kommt; sie wirkt eigentümlich auf das Selbstbewußtsein und bedeutet eine Bindung von großer Kraft. 4. Der durch Personen und Institutionen gegebene Zusammenhang Die ersten hellenistischen Missionare waren Judenchristen, freilich hellenistische Judenchristen, die aus der palästinensischen Gemeinde vertrieben waren. Sie und die zuerst von ihnen gewonnenen Stammesgenossen (wie Paulus) sind die ersten Träger des Evangeliums in der hellenistischen Welt, und wenn auch hellenistische Juden, so doch Juden, für die der Zusammenhang mit Israel, mit Jerusalem selbstverständlich war. Ebenso wirkt auch als Bindung, daß in den ersten hellenistischen Gemeinden Judenchristen in der Regel einen gewissen Prozentsatz bilden. - Im Zusammenhang damit übernehmen die hellenistischen Gemeinden gewisse Formen der hellenistischen Synagogengemeinden, besonders für Gebet und Predigt, so daß neben den Kyrioskult der Wortgottesdienst tritt. Unter den Personen, die für diesen Zusammenhang maßgebend sind, bedarf aber die des Paulus noch besonderer Hervorhebung, einmal im Sinne der soeben genannten Tendenzen. Seine Bedeutung liegt nicht, wie es früher erschien, in erster Linie darin, daß er die Gesetzesfreiheit des hellenistischen Christentums erstritt. Die Bindung an das Gesetz war und wurde vor und neben ihm von Anderen in verschiedener Weise gelöst, worin schon das hellenistische Judentum ein Vorläufer gewesen war. Vielmehr besteht die Bedeutung des Paulus in dieser Hinsicht darin, daß er trotz der Freiheit vom Gesetz den Zusammenhang mit J erusalem und der palästinensischen Gemeinde festzuhalten vermochte und bewußt pflegte. Darin liegt auch die Bedeutung des sog. Apostelkonvents, der einst in der Baurschen Konstruktion eine besondere Rolle spielte: nicht die Freiheit der Heidenchristen wurde hier errungen; sie hätte sich auch ohne Paulus und seinen Sieg auf dem Konvent durchgesetzt; aber der Zusammenhang mit Jerusalem wurde erhalten. Deshalb ist die wichtigste Bestimmung des Konvents die unscheinbarste: die Sammlung für die jerusalemische Gemeinde; und die ferneren Bemühungen des Paulus für diese Kollekte gehören zum Wichtigsten seiner Tätigkeit. Aber die Bedeutung des Paulus geht weiter. Sie liegt vor allem darin, daß seine Briefe zur Literatur für das hellenistische Christentum wurden, und daß in diesen Briefen eine I eigenartige Verbindung von
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ethischer und mystischer Religion vorliegt. Elemente beider enthält in der Tat die Frömmigkeit des Paulus. Von Jesus unterscheidet er sich zunächst fundamental dadurch, daß er, bei gleicher, aber anders begründeter Polemik gegen die Gesetzlichkeit, das Heil nicht auf den guten Willen und Gottes Güte gründet, sondern auf die Heilstatsachen, von denen der Christus-Mythus redet, und auf den Glauben, der diese Heilstatsachen anerkennt, sich ihnen unterwirft. Fragt man aber - und das ist immer die entscheidende Frage für eine Religion -, worin Paulus Gott als den gegenwärtigen erfaßt, welches die innere Erfahrung ist, die ihn des Heils versichert, so ist das nicht die Heilsveranstaltung; denn Menschwerdung, Tod und Auferstehung des Christus können als solche ja garnicht Objekt der inneren Erfahrung werden. Und die Deutung dieser Tatsachen als den Menschen gewinnende und unterwerfende Offenbarungen Gottes (vgl. Luther und RitschI) spielt bei Paulus keine Rolle. Vielmehr ist es der "Geist", der den Paulus der Gotteskindschaft versichert; im pneumatischen Erleben erwächst die Gewißheit der Gnade Gottes. Und das Heil, soweit es schon jetzt erfahrbar ist, ist die Christusgemeinschaft, soweit es noch zukünftig ist, wiederum das "mit Christus sein". Die Mystik reicht also in das Zentrum der paulinischen Frömmigkeit. Aber der "Geist" ist dann doch auch wieder eine sittliche Macht und erweist seine Früchte im sittlichen Wandel; und der Christus ist doch nicht nur die (kultische) Symbolisierung der mystisch-pneumatischen Kräfte, sondern auch die Kraft, die im Berufsleben des Paulus waltet, deren er inne wird in dem Reichtum, den sein inneres Leben in Kampf und Leid gewinnt, also in seiner inneren Geschichte als sittliche Persönlichkeit, in seinem Schicksal, das er unter seiner Aufgabe erlebt. Und Gott ist für Paulus nicht die Ruhe und Stille des mystischen Gottes, sondern der Willens gott des Alten Testaments, der Geschichte und Schicksal von Welt und Menschen regiert. Die eigentümliche Verbindung von ethischer und mystischer Religion bei Paulus findet ihren Ausdruck in der Doppelheit der göttlichen Gestalten; das mystische Erleben hat seine Beziehung wesentlich zum Kyrios-Geist; Gott ist der, der das Geschehen in Zeit und Welt lenkt und der auch ihn zu seinem Amt berufen hat. I
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3. Die Beurteilung der historisch-kritischen Arbeit durch die moderne Frömmigkeit Ich übergehe die Frage, ob das Nebeneinander von ethischer und mystischer Religion bei Paulus als organisch zu bezeichnen ist, und wieweit diese eigentümliche Doppelheit in der weiteren Entwicklung wirksam gewesen ist. Ich wende mich von der historischen Darstellung zu der Frage, was die Geschichte uns für unsere Gegenwart lehrt. I Die historisch-kritische Arbeit beginnt in der modernen Strömung unserer Zeit der Geringschätzung zu verfallen. Ich verstehe die enttäuschten oder feindseligen Klagen, daß diese Arbeit religiös und kirchlich unfruchtbar sei. Ich glaube freilich, daß sie eine Aufgabe für die Kirche hatte und noch hat, wenn auch weder die wichtigste noch eine unmißverständliche oder gar ungefährliche. Man hat die moderne Richtung der Frömmigkeit, die sich von der geschichtlichen Arbeit abwendet, als Gnostizismus bezeichnet. Soweit mit Recht, als diese Frömmigkeit den Zusammenhang mit den geschichtlichen Mächten überhaupt zerreißen will und die Geschichte ganz in Mythus umdeutet, wie es mir in Barths "Römerbrief" allerdings der Fall zu sein scheint; ebenfalls, soweit diese Frömmigkeit reine Mystik ist. Anders aber liegt es bei einer andern Strömung, die ich in Gogarten eindrucksvoll repräsentiert sehe. Gogarten sagt (Religion weither S. 677): "Religion ist so wenig ohne Geschichtserlebnis zu denken, daß man fast von ihr sagen kann, sie sei selbst das Erleben der GeschiChte (wie gesagt nicht das Wissen der Geschichte). Jedenfalls ist sie ganz und gar durchsetzt von Geschichtserlebnis. " Diese Bindung an die Geschichte ist aber nicht mißiZuverstehen: "Man will nicht, um von den Fesseln und Engen des eigenen zeitlich-räumlichen Daseins befreit zu werden, sich an eine gewesene Zeit und ihre - trotz aller persönlichen Weite und Bedeutung - Beschränktheit binden lassen. Es geht in der Religion um die Ewigkeit, und die läßt sich nun einmal in keinen Zeitabschnitt fangen, und sei es der bedeutendste, der sich je auf Erden ereignete ... Es liegt der Religion schlechterdings gar nichts daran, in irgend einer vergangenen Zeit eirie Offenbarung der Ewigkeit zu finden und zu verehren, sondern sie will in ihrer Gegenwart die Ewigkeit finden." - Diese Frömmigkeit sträubt sich also dagegen, daß unser Zusammenhang mit der Geschichte auf möglichst genauer Kenntnis der Geschichte, auf der historisch-kritischen Arbeit beruhen müßte. Sie sträubt sich dagegen mit Recht. Sie sträubt sich ferner dagegen, daß eine Epoche oder eine
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Person der Vergangenheit, habe sie auch klassischen Charakter, einer Religionsgemeinschaft als normative Grundlage dienen könne. Nur in Größen, die sich über Zeit und Geschichte erheben, in Mythos und Kultus, komme der unerschöpfliche, stets neu geformte und zu formende Gehalt einer Religion zum Ausdruck. Auch das mit Recht. Zwei Vorwürfe werden also gegen die historisch-kritische Arbeit, oder wie man meist sagt, gegen die "liberale Theologie" (zu der auch ich mich rechne) erhoben. 1. Allgemein, daß die historisch-kritische Arbeit zur Voraussetzung der Frömmigkeit gemacht werde; 2. speziell, daß ein bestimmter Geschichtsabschnitt und eine bestimmte Person, der "historische Jesus", als normativ angesehen würden.
4. Die Bedeutung dieser B,eurteilung Der erste Vorwurf sagt sachlich Richtiges; wieweit er die einzelnen Vertreter der "liberalen Theologie" trifft, bleibe dahingestellt. Jedenfalls kann es nie die Aufgabe der historisch-kritischen Theologie sein, die Frömmigkeit zu begründen, sondern nur - wie es die Aufgabe aller Theologie ist - zur Selbstbesinnung zu führen, den geistigen Bestand des Bewußtseins klären und reinigen zu helfen. Wenn sich bei dieser Arbeit der Selbstbesinnung ergibt, daß der geistige Gehalt ein geringer ist, so verklage man nicht die Arbeiter der Selbstbesinnung, sondern man beklage die Kraftlosigkeit der Gemeinde, deren Symptom oder Exponent die Theologie immer ist. Wie sehr das der Fall ist, und wie sehr ihre Arbeit die der Selbstbesinnung ist, zeigt unsere gegenwärtige Situation und zeigt auch die vorhin angestellte geschichtliche Betrachtung. Die Erkenntnis des Unterschiedes palästinensischen und hellenistischen Urchristentums geht ja parallel der Bewegung in der modernen Frömmigkeit, die sich von der ehtisch oder moralistisch gerichteten Auffassung des protestantischen Christentums speziell Ritschlscher Prägung abwendet und eine starke Hinneigung zur Mystik zeigt. Wieweit die Erkenntnis der Forschung, ihre Fähigkeit zur Analyse religionsgeschichtlicher Erscheinungen, ihr Organ für die hellenistische Mystik selbst als I ursächlicher Faktor für die Wendung der neuen Frömmigkeit in Betracht kommt, wieweit sie ihre Folge ist, sei unentschieden. Genug, daß sie jedenfalls ein Symptom der Wandlung des Lebensgefühls unseres Zeitalters ist. Und so wird ihre Arbeit eben auch
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zur Klärung des Zeitbewußtseins beitragen. Das führt zum zweiten Vorwurf· Die "liberale Theologie" habe den "historischen Jesus" und seine Religion zur Grundlage der Frömmigkeit machen wollen und damit an Stelle des Mythus und Kultus, die doch einzig der Ausdruck für das Lebendige, Ewige, Übergeschichtliche einer Religion sein können, eine begrenzte geschichtliche Person gesetzt. Tatsächlich hat die "liberale Theologie" zunächst ihrerseits dagegen protestiert, eine beschränkte geschichtliche Form des Christentums als normativ anzusehen, nämlich das paulinische Christentum in seiner kirchlich dogmatischen Fassung. In der Reaktion dagegen hat in der Tat die "liberale Theologie" weithin die Verkündigung Jesu, die Religion Jesu als normative Form des Christentums hingestellt. Wir sehen jetzt, was das bedeutet; es bedeutet einmal die Entscheidung für das palästinensische gegen das hellenistische Christentum. Es bedeutet aber vor allem, daß als normative Form des Christentums eine geschichtliche Erscheinung angesehen wurde, die vom Standpunkt der Geschichte aus noch gar nicht als Christentum zu bezeichnen ist. Das Christentum als selbständige religiöse Gemeinde hat erst da seine Existenz, wo es sich eine eigene soziologische Form, wo es sich Mythus und Kultus geschaffen hat. Jesus war ein Jude und die palästinensische Gemeinde war eine jüdische Sekte. Eine Form der Religion, in der nur der geistige Gehalt der Verkündigung J esu lebendig wäre, ist in der Geschichte nur innerhalb des Judentums möglich gewesen. Sonst ist sie überhaupt nicht möglich oder nur in Kompromißbildungen, d. h. innerhalb einer anderen kirchlichen Gemeinschaft, deren Rückgrat - Kultus und Mythus usw. - anderen Ursprungs ist. Wie denn die "liberale Theologie" nur im Rahmen einer überkommenen Kirchlichkeit existiert hat. Wenn es der "liberalen Theologie" nicht gelingt, eigene neue AU5drucksformen für die religiöse Gemeinschaft, Kultus und Mythus zu finden, so wird sie für die Geschichte der Kirche ebenso eine Episode sein, wie der Rationalismus trotz aller Leistungen auf einzelnen Gebieten für die Kirche doch im Grunde nicht eine Epoche, sondern eine Episode war, weil er kein Organ für Kultus und Mythus hatte und es nicht vermochte, neue Formen religiösen Gemeinschaftslebens zu finden.
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5. Die Bedeutung von Kultus und Mythus für die religiöse G,emeinschaft Welche Konsequenzen ergeben sich? Unmöglich wäre die Konsequenz, sich für die andere Seite der Alternative zu entscheiden, für das hellenistische Urchristentum. Denn für dies gilt der Satz genau so, daß eine geschichtlich bedingte Form der Vergangenheit nicht normativ sein kann. Die Künstlichkeit katholisierender Repristination des alten Kults wie orthodoxe Verklärung des paulinischen Mythus und kirchlichen Dogmas ist von vornherein gerichtet. Das gilt auch von der enthusiastischen Erneuerung des paulinischen Mythus in der Zurechtmachung bei Barth. So sehr ich die religiöse Kulturkritik des Barthschen "Römerbriefs" begrüße6 , so wenig kann ich in dem Positiven, das er bringt, etwas anderes sehen als eine willkürliche Zustutzung des paulinischen Christusmythus. Das Urteil, das Barth über die "liberale Theologie" fällt, trifft damit ihn selbst in demselben Maße. Einen alten Kultus und Mythus kann man nicht künstlich erneuern; man kann auch nicht künstlich einen neuen schaffen. Was man, ehe priesterliche oder prophetische Naturen schöpferisch neugestalten, tun kann, ist nur dies, daß man an die gegenwärtige geschichtliche Situation anknüpft, sie weiterbildet, indem man rücksichtslos abschneidet, was veraltet und unwahrhaftig geworden ist, und einfügt, was sich zwingend geltend macht. Darüber aber ist in diesem Zusammenhang nicht zu handeln; I vielmehr ist hier die Aufgabe der Selbstbesinnung noch ,einen Schritt weiter zu führen. Kultus und Mythus ist nicht die Religion, sondern die notwendige Form für die Existenz einer religiösen Gemeinschaft. Der Christusmythus und Kyrioskult waren einst die Form für das hellenistische Urchristentum. Vielleicht darf man sagen, daß die mystische eine engere Beziehung zum Kult hat als die ethische Religion; an sich aber bedürfen beide solcher Formen; aber die letzte Frage kann doch nicht die nach den Formen sein, sondern die: Welche Religion fühlen wir in uns lebendig? Bekennen wir uns zu einer ethischen Religion, wie sie innerhalb des Judentums in Jesus und der palästinensischen Gemeinde lebendig war? oder zu einer Mystik, wie sie einst im hellenistischen Christentum in einer ebenfalls historisch bedingten Form herrschend gewesen ist? Die Fragestellung zeigt die Verfahrenheit und Hilflosigkeit unserer 6
Vgl. Religion und Kultur von demselben Verfasser, oben S. 11 ff.
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heutigen Lage. Wir kranken daran, daß wir nicht als religiöse Gemeinschaft klar und sicher hinweisen können auf das, was uns die deutliche Offenbarung Gottes ist. Denn so :würde die Frage würdiger und tiefer gestellt sein: Was gilt uns eigentlich als die Wirklichkeit Gottes? worin schauen, worin erleben wir ihn? worin offenbarter sich uns? 6. Religiöser Moralismus und ethische Religion Der tiefste Fehler der "liberalen Theologie" war m. E. die Verwechslung eines religiös gefärbten Moralismus mit ethischer Religion. Nur deshalb war es auch möglich, dem historischen Jesus eine solche Bedeutung zuzuschreiben; denn in dem, was uns von ihm erhalten ist, spielt das eigentlich Religiöse eine relativ geringe Rolle. Jesu Gottesglaube erscheint in manchen seiner Aussagen als ein kindlicher Vorsehungsglaube und naiver Optimismus, wie er auch in Psalmen und Weisheit Israels, sowie in dem naiven Volksglauben vieler Zeiten und Kulturen lebendig ist. In anderen Aussagen ist seine Gottesvorstellung die mythische der Eschatologie. Beide Vorstellungen wird man kaum als eigentlich religiös bezeichnen können. Das Heil, das J esus erhofft, die Gottesherrschaft, da Sünde und Leid von der Welt vertilgt sind und Gottes Willen auf Erden geschieht, ist eine Größe, in der sich sittliche Ideale mit weltlichen Hoffnungen und frommer Ehrfurcht verbinden, jedenfalls nicht ein spezifisch religiöses Gut. In den am meisten charakteristischen Aussagen erhält der Gottesgedanke seine Bestimmung durch den Gedanken des Guten. Gottes Wille ist die Forderung des Guten, wie vorhin ausgeführt. Das ist also nicht ein eigentlich religiöser Gottesbegriff, sondern, wie es naivem Denken stets eigentümlich ist, es erscheint die verpflichtende Macht des Guten unter der mythischen Vorstellung eines fordernden und strafenden, eines verzeihenden und lohnenden Gottes. Zur Religion wird dieser Glaube doch nicht dadurch, daß besondere psychische Zustände der Erschütterung oder Begeisterung ihn begleiten, sondern nur, wenn er einen neuen Inhalt gewinnt. Nämlich dann, wenn der Mensch, der sich der Forderung des Guten beugt, dabei eine innere Geschichte erlebt, in der er eine Wirklichkeit erfaßt, die nicht die des sittlichen Ideals ist, sondern eine Lebenswirklichkeit, aus der er sich emporwachsen, der er sich ganz unterworfen und von der er sich getragen fühlt; wenn der Mensch, der im Gehorsam des Guten steht,
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spürt, daß er dadurch ein Schicksal erlebt, durch das er verwandelt wird, wenn er durch Erlebnisse, die ihn durch Tiefen und Höhen führen, Erlebnisse, die in religiöser Sprache Sünde und Gnade heißen, hingelangt - nicht zur Erfüllung der sittlichen Forderung, sondern zur Erfüllung seines Seins. In der Religion handelt es sich nicht um das Tun, sondern um das Sein, nicht um die Gesinnung, die sich auf das Ziel des Guten richtet, sondern um das Erlebnis des Vergehens vor der Wirklichkeit Gottes und des Beschenktwerdens durch die göttliche Gnade, um Verwandeltwerden, um Neugeschaffenwerden zu einem Wesen, dessen Tat nicht die Erfüllung einer Forderung, sondern die Darstellung seines Seins ist. Ich will nicht darüber streiten, wieweit wir solches eigentlich religiöse Erleben, das bei Paulus zu wundervollem Ausdruck gekommen ist, bei I Jesus wahrnehmen können; jedenfalls erscheinen an dem Jesusbild, das die "liberale Theologie" entworfen hat, gemeinhin nur jene anderen Züge eines religiösen Moralismus. Otto hat die Wirklichkeit der Religion treffend als das "Ganz andere" bezeichnet. Die Welt des Guten ist nicht das "Ganz andere", sondern sie ist die Schöpfung unserer eigenen sittlichen Vernunft. Das "Ganz andere", von dem die ethische Religion redet, ist nicht die Forderung des Guten, sondern der Gott, der dem Menschen in seinen Erlebnissen unter dem Gehorsam des Guten begegnet. Ein solcher Mensch weiß: wenn er sich als Sünder fühlt, so richtet ihn im Tiefsten nicht das Gesetz des Guten, d. h. sein eigenes sittliches Gewissen, sondern er ist unrein vor dem "Ganz anderen". Und er weiß: wenn er sich begnadet fühlt, so erhebt ihn nicht die Würde des sittlichen Denkens, sondern in der Stille des "Ganz anderen" kann er Reinheit, kann er sich selbst wiederfinden. Er weiß: wenn ihm in Arbeit und Kampf inneres Leben zuwächst, so verdankt er das nicht der Idee des Guten, sondern der geheimnisvollen Macht des "Ganz anderen", die sein Schicksal durchwaltet und sein Leben trägt7 •
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7 Ich stimme dem, was Gogarten in seinem wundervollen Büchlein "Religion weither" und noch tiefer in seinem Eisenacher Vortrag über solches Erleben gesagt hat, aus vollem Herzen zu.
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7. Der heutige Ruf n,ach Mystik Soll der Protestantismus nicht im religiösen Moralismus stecken bleiben, so darf er nicht die Gesinnungsethik Jesu allein predigen; denn diese ist als solche keine Religion, sondern er muß das Spezifische des religiösen Lebens kennen und zum Bewußtsein bringen, er muß von der Offenbarung Gottes reden können und für sie den mythischen und kultischen Ausdruck finden. Damit aber wäre nicht geholfen, daß man Anleihen bei der Mystik macht und die ästhetische reizvolle Form und Terminologie der Mystik benutzt, um Gefühlsstimmungen zu erzeugen. Der heutige Ruf nach Mystik ist verständlich. Er bedeutet vielfach sicher gar nicht den Willen zur eigentlichen Mystik, sondern nur das Verlangen nach religiösem Leben überhaupt. Man muß sich klar sein, worin das Wesen der Mystik beruht. Der Gott der Mystik ist nicht der Willensgott, der im Schicksal waltet und im Gehorsam unter das Gute verehrt und als gnädiger Vater ·erfahren wird. Der Mystiker dagegen glaubt Gott im Jenseits von Welt und Geschichte zu schauen. Mit der Mystik ist entweder ein pessimistischer Dualismus verbunden, der in Welt und Schicksal nicht das Walten Gottes wahrzunehmen vermag, sondern der das Weltgeschehen als trügerischen Schein oder als das Spiel teuflischer Mächte ansieht, - oder ein pantheistischer Naturalismus, der Gott in dem ewig gleichschwebenden Leben der Natur schaut, die geschichtslos ist. Der Mystiker erlebt Gott nicht in seiner inneren Geschichte des Kämpfens und Wachsens im Gehorsam unter das Gute, sondern indem aller Kampf verklingt, und alles Tun, auch das des Guten, versinkt im Schweigen oder in der Ekstase. Ich fälle kein Urteil über Recht oder Unrecht des ethischen und mystischen Typus der Religion. Ich frage auch nicht, ob sich beide Typen der Religion in einer höheren Einheit finden; das würde die Frage der Selbstbesinnung, um die es sich zunächst handelt, verschleiern. Ich weiß aber wohl, daß es bei aller Gegensätzlichkeit der reinen Formen übergänge und Kombinationen in den Individuen gibt, und daß beide Typen in ihren Außerungen große Verwandtschaft zeigen können. Auch die ethische Religion kennt die Andacht und das Schweigen. Auch der Willensgott, der Gott des Schicksals hat eine Stille, in der alles Drängen, alles Ringen zur ewigen Ruhe wird. Aber damit wird er noch nicht zum Gott der Mystik.
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8. Schluß Ausschlaggebend für eine Religion sind weder die Ausdrucksmittel von Kultus und Mythus noch die psychischen Zustände, in denen der Fromme Gott erlebt, sondern nur der geistige Inhalt einer Religion, die Wirklichkeit, die er als Gott bezeichnet. Die psychischen I Formen, das Grauen und Erschauern, das Zittern und Entzücken können sich mit jeder echten Religion verbinden, wie sie auch ohne Religion vorhanden sein können. Nicht ob der Mensch bestimmte psychische Zustände hat, oder ob er an einem Kultus teilnimmt und einen Mythus "glaubt", macht ihn fromm, sondern nur dies, daß er von einer Offenbarung Gottes reden kann, daß er Gott als eine Wirklichkeit gefunden hat, die ihn überwältigt und begnadet, in der er den Sinn seines Lebens findet. In der Mystik ist es die Ruhe und Stille, das leere "Sein", in das die Seele selbstvergessen gleitet, in der ethischen Religion ist es der schaffende Lebenswille, der uns in unserm Schicksal als Kämpfer im Gehorsam unter das Gute zur Erfüllung unseres inneren Lebens reifen läßt.
DAS PROBLEM EINER THEOLOGISCHEN EXEGESE DES NEUEN TESTAMENTS I. Für die Exegese der lutherischen Orthodoxie ist die Schrift ein Buch von Lehren, die auf mich, den Leser, direkten Bezug haben, d. h. die nicht mein theoretisches Wissen bereichern, sondern mich über mich selbst aufklären und mein Leben bestimmen wollen. Sofern diese autoritativen Lehren als allgemeine Wahrheiten angesehen werden, zieht der ältere Rationalismus nur die Konsequenz aus dieser Auffassung der Schrift, indem er Ernst damit macht, daß die Schriftlehren wirklich allgemeine Wahrheiten sind. Denn sind sie das, so sind sie Vernunftwahrheiten, da die Vernunft die Instanz ist, um über den allgemeingültigen Charakter von Sätzen zu entscheiden. Was sich an Unvernünftigem in der Schrift findet, wird also umgedeutet oder als Akkommodation bzw. als zeitgeschichtliche Beschränktheit erklärt. Indem nun
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aber die Beobachtung des zeitgeschichtlich Beschränkten, Individuellen zum Selbstzweck der Betrachtung wird, weil es eine Differenzierung der einzelnen Schriften und Gruppen gestattet und damit die geschichtliche Darstellung ermöglicht, vollzieht sich innerhalb des Rationalismus die Wendung, und es entsteht die moderne zeitgeschichtliche Erklärung. Dabei fällt in der Folge der ursprünglich betonte Gegensatz zwischen dem zeitgeschichtlich Beschränkten und den ewigen Vernunftwahrheiten weg, und statt dessen wird das Individuelle als Fall einer allgemeinen Gesetzlichkeit verstanden, die die Einheit der Geschichte begründet. Diese Gesetzlichkeit nun kann verschieden gedacht sein. Nach der idealistischen, speziell Hegelschen Geschichtsauffassung, die durch die Tübinger Schule zu langdauernder Herrschaft in der neutestamentlichen Exegese gelangte, ist sie eine teleologisch bestimmte. Die Kräfte, die die Geschichte bewegen, sind die Ideen, die die Mo- I mente der Selbstentfaltung des absoluten Geistes darstellen, die ihre Wirklichkeit aber nur in dem konkreten, durch die individuellen Erscheinungen hindurchgehenden Prozeß haben, in dem der absolute Geist zu sich selbst kommt. Mehr und mehr tritt an die Stelle oder neben die dieser Geschichtsauffassung zugrunde liegende idealistische Auffassung vom Menschen eine andere naturalistische, nach der der Mensch das Produkt der Verhältnisse ist, und demgemäß wird die Gesetzlichkeit der Geschichte als kausal bestimmte gedacht. Die Gedanken, Ideale, Institutionen einer Epoche oder eines Individuums werden möglichst weitgehend als Resultat einer Entwicklung erklärt. Und wird dabei die Persönlichkeit (ihr Irrationales!) als Faktor mitgerechnet, so ist doch die dabei zugrunde liegende Auffassung der Persönlichkeit die gleiche naturalistische. Das Irrationale, womit hier gerechnet wird, ist kein anderes als das, womit etwa die geologische Erdgeschichte auch rechnet; denn warum die Gegebenheit der Gesteinsarten gerade so und nicht anders ist, kann sie natürlich auch nicht ableiten. Und das Irrationale, das X, ist ja im Grunde das Eingeständnis dafür, daß das Sein der Personen gerade nicht in dem gesehen wird, was das Wesen der Geschichte ausmacht. Im einzelnen können die kausalen Kräfte, die die Geschichte bewegen, verschieden gedacht sein. Der Mensch kann biologisch gesehen sein, ausgestattet mit verschiedenen Anlagen des Denkens und Empfindens, des sittlichen Wollens usw., und die Geschichte besteht in der Entwicklung dieser Anlagen. Da man von hier aus nicht zu einer Zeit-
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geschichte kommen würde, sondern nur zu einer Naturgeschichte des Menschen, so werden für das Zustandekommen der geschichtlichen Bewegung die Antriebe, die in den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen Notwendigkeiten liegen, in Anspruch genommen. Ja, diese können allein das Bild beherrschen, und die Geschichte des Christentums kann zur Soziologie werden. Andrerseits kann die biologische Auffassung des Menschen auch vom Individuum auf die Menschheit als Gattung übertragen werden, so daß die ganze geschichtliche Bewegung als biologisch gesehene Morphologie dargestellt werden kann. Wie hier überall der Mensch mehr oder weniger psychologisch gesehen ist, so kann der psychologische Gesichtspunkt auch zum herrschenden gemacht werden, auf die Gefahr hin, daß damit wieder die Erfassung der geschichtlichen Bewegung verloren geht und die Interpretation zu einer psychologischen Analyse der Individuen und Gruppen wird. Die Gefahr wird in der Regel nicht gesehen, weil lohne grundsätzliche Klarheit alle andern Deutungen von Mensch und Geschichte mit in Anspruch genommen werden. Im wesentlichen aber herrscht der psychologische Gesichtspunkt in der sog. religionsgeschichtlichen Exegese, wie sich gleich darin verrät, daß sie die "Lehren" der Schrift hinter den Erlebnissen und Stimmungen zurücktreten läßt und auf sie reduziert, daß sie die "Frömmigkeit" zum Thema der Geschichtsdarstellung macht. Kultus und Mystik gewinnen das besondere Interesse; Institutionen werden möglichst aus ihrer Genesis aus (psychologisch zu verstehenden) primitiven Zuständen erklärt. Die Konsequenz wird gelegentlich in einer m. E. zu Unrecht als phänomenologisch bezeichneten Betrachtungsweise gezogen, die den Gesichtspunkt der geschichtlichen Kausalität bewußt zurückdrängt und als Phänomenologie eine verbesserte Psychologie verträgt. Als Reaktion gegen die kausalgesetzliehe und psychologistische Auffassung des Menschen und der Geschichte wird gegenwärtig eine auf anderm Gebiet durch Männer wie Gundolf, Bertram und Reinhardt vertretene Betrachtungsart auch auf das Neue Testament übertragen, in der der Mensch als "Gestalt" gesehen ist, d. h. von ästhetischen Gesichtspunkten aus. Ein schöpferischer Fond, ein Kraftzentrum wird angenommen, aus dem in einem Urerlebnis und in weiteren Erlebnissen die Gestalt erwächst, geformt durch die Kräfte, die vom Zentrum der Persönlichkeit strahlen. Zu einer geschichtlichen Bewegung im Sinne der Entwicklungsgeschichte kann es hier kaum kommen, wenn nicht wieder die Völker und Kulturen auch als Gestalten gesehen werden,
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womit dann der biologische Gesichtspunkt, der in der N amfolge Goethes von vornherein in dieser romantischen Betrachtung wirksam ist, wieder zur Herrschaft kommen würde.
II.
In all diesen Fällen ist die ursprüngliche Haltung aufgegeben, wonach der Text auf den Leser seinen Anspruch erhebt, d. h. nicht sich betrachten lassen, sondern den Leser in seiner Existenz bestimmen will. In all diesen Fällen ist der Text vielmehr aus der Distanz gesehen; man will sehen, "was da steht", von der Voraussetzung aus, daß das wahrnehmbar, ja nur wahrnehmbar sei unter Absehen von der eigenen Stellungnahme; unter der Voraussetzung also, als könne man die Texte interpretieren, ohne zugleich die Samen zu interpretieren, von denen sie reden. Auf Grund der so interpretierten Texte will man die Geschichte verstehen, ohne sich zu fragen, ob es nicht vielleicht in der Geschichte wesentliche Realitäten gibt, die man nur in den Blick bekommt, wenn man die Distanzbetrachtung aufgibt, I wenn man zur Stellungnahme bereit ist. Freilich sagt die neutestamentlime Exegese nicht, daß einen das, was da steht, schließlich nichts angeht. Aber die Exegese selbst wird nicht durch dies "tua res agitur" bestimmt, sondern geht aus von der abwartenden, neutralen Haltung des Exegeten. Die zeitgeschichtliche und psychologistische Exegese vor allem stellt fest, daß dies und jenes damals unter solchen geschichtlichen Umständen und psychologischen Bedingungen gedacht, gesagt, getan worden ist, ohne über Sinn und Anspruch des Gesagten zu reflektieren. Sofern das Einzelne eine über den Moment hinausgehende Bedeutung hat, hat es sie insoweit, als es unter dem Gesichtspunkt der Gesetzlichkeit (meist der kausalen) gesehen wird, und damit wird die Geschichte zu einem großen Relationszusammenhang, in dem jede einzelne Erscheinung etwas Relatives ist. Und es kann hier das Unternehmen entstehen, verlorene Geschichte zu rekonstruieren. Ist sie richtig konstruiert, so steht sie für den Betrachter auf gleicher Stufe mit der auf Grund der gegebenen Quellen gesehenen. Nun hilft es nichts, wollte man hier wie anderwärts etwa Rückkehr zur idealistischen Geschichtsschreibung fordern. Denn nur scheinbar liegt es bei ihr anders, daß sie nämlich den Text lese unter dem Gesichtspunkt des" tua res agitur". Dieser Eindruck entsteht dadurch, daß hier
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die einzelnen geschichtlichen Erscheinungen als Objektivierungen des Geistes in seiner geschichtlichen Bewegung verstanden werden, an der ja auch das interpretierende Subjekt teilnimmt, das so in der Interpretation Klarheit gewinnt über das Wesen des Geistes und damit über sich selbst. Hier findet zwar die Zuordnung des interpretierenden Subjekts zur Geschichte statt, während es in den andern Fällen gleichsam daneben steht. Aber doch ist auch hier die Distanz des Betrachters zur Geschichte nicht überwunden, denn der Exeget sieht in diesem Falle sich selbst aus der gleichen Distanz wie die Geschichte, weil er sich dabei ja nur als Spezialfall des Menschen ansieht und alles Individuelle als Ausdruck der Gesetzmäßigkeit der Entwicklung auffaßt. Das bedeutet: die Zuordnung des existentiellen Subjekts zur Geschichte findet gar nicht statt - wenigstens wenn die Existenz des Menschen nicht in dem Allgemeinen, in der Vernunft, sondern im Individuellen, in den konkreten Momenten des Hier und Jetzt liegt. Eben deshalb sieht der idealistische Betrachter in der Geschichte nichts, was in dem Sinne Anspruch auf ihn macht, daß ihm hier Neues gesagt würde, das er nicht schon potentiell hat, über das er nicht, vermöge seines Anteils an der allgemeinen Vernunft, schon verfügt. Er findet nichts, was ihm als Autorität begegne, er findet in der Geschichte immer nur sich selbst, indem der Gehalt der Geschichte auf I die Bewegung der Ideen reduziert wird, die in der Vernunft des Menschen angelegt sind. Er verfügt also von vornherein über alle Möglichkeiten des geschichtlichen Geschehens. Auch hier kann deshalb das Unternehmen als sinnvoll erscheinen, verlorene Geschichte zu rekonstruieren. . Gerade dies aber ist die entscheidende Frage: ob wir der Geschichte so gegenübertreten, daß wir ihren Anspruch auf uns anerkennen, daß sie uns Neues zu sagen hat. Geben wir die Neutralität dem Texte gegenüber auf, so bedeutet das, daß die Wahrheitsfrage die Exegese beherrscht. Der Exeget ist also letztlich nicht an der Frage interessiert: was bedeutet das Gesagte (als bloßes Gesagtes) an seiner zeitgeschichtlichen Stelle, in seinem zeitgeschichtlichen Zusammenhang? sondern er fragt letztlich: von was für Sachen ist die Rede, zu welchen Realitäten führt das Gesagte? Das heißt aber doch, da es sich nicht um die Erklärung von Natur, sondern um das Verständnis der Geschichte handelt, zu der wir selbst gehören: was bedeutet es für mich und wie ist es in seiner sachlichen Begründung zu verstehen? Dabei bleibt es vorläufig ein offenes Problem, in welchem Zusammenhang beide Fragen in der konkreten Arbeit des Exegeten stehen, ob und inwiefern, die eine nicht
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ohne die andere beantwortet werden kann. Wie es denn überhaupt nicht der Sinn dieser Selbstbesinnung ist, auf Grund einer neuen Methode sämtliche alten Methoden abzutun, sondern nur zu fragen, wie weit sie führen, wenn uns dar an liegt, an die Wirklichkeit der Geschichte heranzukommen. Es sei vorläufig so formuliert: die zeitgeschichtliche Exegese fragt: was ist gesagt? und wir fragen statt dessen: Was ist gemeint? Natürlich fragt in gewissem Sinn auch die zeitgeschichtliche Exegese: was ist gemeint? Aber sie stellt diese Frage so, daß die ganze Geschichte gleichsam auf eine Fläche, eine Karte, aufgezeichnet ist und nun aus möglichst umfassender Kenntnis des umliegenden Gebietes ein Feld oder ein Punkt auf dieser Karte erkannt werden soll. Alles Licht, das die Kenntnis der Zeitgeschichte verleiht, wird gleichsam auf einen Punkt konzentriert, den es zu erkennen gilt. Die Sachexegese sieht dagegen diese Karte der Zeitgeschichte gleichsam transparent und möchte das hindurchleuchtende Licht erfassen, das jenseits der Fläche der Zeitgeschichte steht, und glaubt, erst so erfassen zu können, was gemeint ist. Das Bild ist natürlich unvollkommen; denn so könnte etwa die Psychologie ihre Arbeit an der Geschichte auch beschreiben. Indessen würde sie sich nur noch weiter von dem, was im Text gemeint ist, entfernen, weil sie von vornherein alle Aussagen nur als .Kußerungen eines bestimmten, gesetzmäßig verlaufenden psychischen Lebens I nimmt, während hier danach gefragt wird, welche Sachen mit den Aussagen gemeint sind. Der im Text redende Verfasser hat ja auf jeden Fall nicht eine Aussage machen wollen, die ihren Sinn in dem zeitgeschichtlich fixierbaren, relativen Moment erschöpft, sondern einen jenseits des Relationszusammenhangs liegenden Sachverhalt treffen wollen. Wer z. B. die Rechtfertigungslehre des Paulus dadurch interpretiert, daß er ihre Aussagen aus dem Bekehrungserlebnis des Paulus ableitet, bringt vielleicht heraus, was Paulus gesagt, aber sicher nicht, was er gemeint hat. Versteht man die Anschauung des Paulus, daß der Christ nicht mehr sündige, aus seinem Enthusiasmus, d. h. aus seiner psychischen Verfassung der Begeisterung, in der es für ihn selbstverständlich sei, daß der Christ nur noch das Gute tun könne, und nimmt man etwa noch traditionelle Vorstellungen von der Entsündigung im messianischen Zeitalter zur Hilfe - so erklärt man zur Not die Aussagen des Paulus als Vorgänge im Entwicklungsprozeß eines psychisch geeignet disponierten Juden; man erklärt aber nie und nimmer, was Paulus eigentlich gemeint hat, auf welchen Sachverhalt er hinweisen wollte. Wer das "religiöse Leben" oder das
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"Lebensgefühl" des Paulus zum Thema seiner Paulusinterpretation macht, interpretiert offenbar etwas, was den Paulus nicht im mindesten interessiert hat, sondern ein zeitgeschichtliches oder psychisches Phänomen. Dabei lasse ich die Frage offen, ob und wieweit solche Interpretationen Vorarbeit leisten können, um an die Sache selbst heranzukommen. Es läßt sich also auch sagen: sowohl die zeitgeschichtliche (und psychologische) Exegese wie die Sachexegese wollen das Wort des Textes interpretieren. Jene aber steht unter der Gewohnheit, das Wort von vornherein als notwendigen Ausdruck eines redenden Individuums (das auch eine soziologische Bildung sein kann) zu verstehen, wobei es wenig ausmacht, ob das Individuum als Subjekt psychischer Komplexe und Funktionen gesehen ist, oder ästhetisch-idealistisch als Persönlichkeit, Charakter oder Gestalt, oder naturalistisch-evolutionistisch als Exponent einer bestimmten zeitgeschichtlichen Situation. In all diesen Fällen vermag das Wort des Textes nicht im eigentlichen Sinne zum Interpreten zu sprechen, da er von vornherein und grundsätzlich über alle Möglichkeiten dessen, was gesagt werden kann, verfügt, nämlich mittels des Prinzips seiner Betrachtungsweise. Nun ist aber zweifellos der ursprüngliche und echte Sinn des Wortes" Wort" der, daß es auf einen außerhalb des Redenden liegenden Sachverhalt hinweisen, diesen dem Hörer erschließen und damit dem Hörer zum Ereignis werden will. Der etwaige Einwand einer idealistischen Exegese, daß sie dieser Forderung genüge, I beruht auf der Tatsache, daß sie das redende Individuum zwar nicht als psychisches oder zeitgeschichtlich bestimmtes Subjekt auffaßt, und also seine Aussagen als Hinweise auf transsubjektive Sachverhalte deuten kann. Aber diese Sachverhalte sind nicht die hier gemeinten, da sie ja dem Hörer gar nicht zum Ereignis werden können. Vielmehr, da ihr Inhalt das System der Vernunft, das Wesen des vernünftigen Geistes ist, enthalten sie nur das, worüber der Interpret als vernünftiges Subjekt von vornherein verfügt. Die Sachexegese will also mit dem ursprünglichen und echten Sinn des Wortes "Wort" Ernst machen, indem sie es verstehen will als Hinweis auf Sachverhalte. Der Charakter dieser Sachexegese wird noch genauer dadurch bestimmt, daß sich für sie die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Sachkritik herausstellt, einer Kritik nämlich, die zwischen Gesagtem und Gemeintem unterscheidet und das Gesagte am Gemeinten mißt. Sofern die zeitgeschichtliche Exegese von irgendwelchen Aussagen des Textes konstatiert, sie seien etwa primitiv oder unbehofen, unklar oder widerspruchsvoll, scheint auch sie Sachkritik zu treiben. Aber hier ist der
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Maßstab die formale Logik oder der Gesichtspunkt der immanenten Entwicklung, nicht die Sache, über die geredet wird. Das ist nur scheinbar anders, wenn in der zeitgeschichtlichen Exegese der Text vom Standpunkt des modemen Bewußtseins aus kritisiert wird, worin z. B. Baumgartens Erklärung des ersten Johannesbriefs im Göttinger Bibelwerk groß ist. Da nach den eigenen Voraussetzungen die zeitgeschichtliche (wie die psychologische) Exegese für ihre Aussagen nur relative Geltung beanspruchen kann, ist diese Art von Kritik eine naive Inkonsequenz und besagt im Grunde gar nichts. Man ist ihr gegenüber nur voll Verwunderung, warum sie überhaupt einen Text für andere als antiquarisch interessierte Leser interpretiert, da sie alles besser weiß, als der Text; warum ruft sie überhaupt den Leser zum Neuen Testament? Die mit der Sachexegese geforderte Sachkritik kann ihren Maßstab nur aus der durch den Text -erschlossenen Sache, über die sie nicht vorher verfügt, gewinnen. Die in solcher Sachkritik sich vollziehendf' "Stellungnahme" hat also nichts mit "Werturteilen" zu tun, die nachträglich über den geschichtlichen Befund gefällt würden. Die Sachexegese steht daher in einer eigentümlich zweideutigen oder widerspruchsvollen Situation, da sie zum Gemeinten nur durch das Gesagte kommt und doch das Gesagte am Gemeinten mißt. Das bedeutet aber, daß sie nie zu allgemeingültigen Sätzen als "Ergebnissen" kommt, sondern stets in lebendiger Bewegung ist1• I IU. Die Differenzierung der beiden Fragen: was ist gesagt? und was ist gemeint? ist eine primitive, vorläufige Formulierung. Aber der Unterschied, auf den diese Differenzierung hinzielt, kann nun weiter deutlich werden, wenn gefragt wird, auf Grund welcher Voraussetzungen gefragt wird: was ist gemeint? bzw. wenn gefragt wird nach dem Gebiet, auf dem das Gemeinte liegt und nach seiner Zugänglichkeit für den Exegeten. Denn jene beiden Fragen fallen offenbar nicht auseinander, wenn das Gemeinte nichts anderes ist als ein zeitgeschichtliches Faktum. Insofern freilich zeitgeschichtliche Fakten (z. B. der Tod Jesu oder die Missionsreisen des Paulus) nicht als solche, sondern in einer bestimmten 1 Daß solche Exegese nichts mit "Intuition" zu tun hat, braucht wohl kaum ausdrücklich gesagt zu werden.
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Absicht berichtet werden, erhebt sich natürlich auch die Frage: was ist gemeint? im differenzierten Sinn. Und zwar natürlich nicht in dem Sinne, als sei nach der subjektiven Absicht und Verfassung des Berichterstatters gefragt, womit statt des einen zeitgeschichtlichen Faktums nur ein anderes erfaßt wäre. Die Differenzierung der beiden Fragen tritt ein, je nachdem die Möglichkeiten des Gemeinten über die bloße zeitgeschichtliche (oder psychische) Faktizität hinausgehen. Und allgemein ist zu sagen, daß das Gebiet des Gemeinten so weit reicht, als die Möglichkeiten des Menschen reichen. Die Zugänglichkeit für den Interpreten hängt also davon ab, wieweit er für den Umfang des für den Menschen Möglichen aufgeschlossen ist. Letztlich hängt also die Frage nach der Verständnismöglichkeit eines Textes daran, welche Aufgeschlossenheit der Exeget für seine Existenzmöglichkeit als menschlicher Möglichkeit hat, welche Auslegung von sich als Menschen der Exeget hat. Hat man aber die Frage so weit getrieben, so sieht man plötzlich, daß jene anfängliche Unterscheidung einer neutralen und einer Stellung nehmenden Exegese, einer betrachtenden und einer den Anspruch des Textes ergreifenden - daß diese Unterscheidung auch nur primitiv und unzulänglich ist. Sie war veranlaßt durch die Auffassung der modernen Exegese von sich selbst, aber diese Auff3:ssung ist eine Selbsttäuschung. In Wahrheit gibt es keine neutrale Exegese. Es gibt kein bloßes Auslegen dessen, "was da steht", sondern in irgendeiner (und zwar jeweils bestimmten) Weise geht die Auslegung des Textes immer Hand in Hand mit der Selbstauslegung des Exegeten. Da wir nämlich der Geschichte nicht so gegenüberstehen wie der Natur, über die wir uns im Distanz nehmenden Denken orientieren können, sondern da wir selbst in der Geschichte stehen und ein Teil der Geschiehte sind, ist jedes Wort, das wir über die Geschichte sagen, I notwendig auch ein Wort über uns selbst, d. h. es verrät, wie wir unsere eigene Existenz interpretieren; es zeigt, welche Aufgeschlossenheit wir für die Möglichkeiten unserer Existenz als menschlicher haben. Der Idealist befragt den Text danach, auf welcher Entwicklungsstufe im Gang der Selbstentfaltung des Geistes seine Aussagen stehen bzw. welcher Sinn ihnen zukommt, gemessen an dem ideellen Gehalt des Geistes; welchen Erkenntnischarakter etwa auf wissenschaftlichem oder ethischem Gebiet die Aussagen haben. Er offenbart damit, daß für ihn das eigentliche Sein des Menschen in der Vernunft, in den Ideen vorliegt. Der Romantiker kennt den Menschen nur als Gestalt, als Persönlichkeit, d. h. letztlich
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als Kunstwerk, als geformten Stoff. Für ihn ist die eigentliche menschliche Weise zu existieren das ästhetische Schauen und Gestalten. Für den Psychologen ist der Mensch das Subjekt psychischer Komplexe und Vorgänge; die eigentliche menschliche Weise zu existieren bedeutet für ihn, sich in psychischen Zuständen, in Stimmungen und Erlebnissen befinden. Insofern also eine bestimmte Selbstauslegung jeder Exegese zugrunde liegt, ist keine Exegese neutral; und insofern läßt sich auch sagen, daß jede Exegese einen Anspruch des Textes anerkennt, weil nämlich jedesmal ein in den Möglichkeiten des Textes liegender Anspruch, sich zu erfassen, vernommen wird. Insofern erweist sich auch die Unterscheidung der beiden Fragen: was ist gesagt? und was ist gemeint? als unzulänglich, weil ja keine Exegese einfach den Wortlaut des Textes reproduzieren will und kann, sondern irgendwie sagen möchte, was gemeint ist. Indessen zielten doch jene Unterscheidungen auf einen tatsächlichen, grundsätzlichen Unterschied. Denn das bleibt bestehen: alle jene Möglichkeiten der Exegese gehen davon aus, daß der Exeget grundsätzlich über die Möglichkeiten des Gesagten bzw. Gemeinten verfügt; daß das Wort des Textes für ihn nicht Ereignis (zeitliches Ereignis) wird; daß der Text ihm nicht als Autorität gegenübertritt, der ihm wesenhaft Neues zu sagen hat2 • Das bedeutet aber, daß alle diese Möglichkeiten ausgehen von der Auffassung der menschlichen Existenz als einer verfügbaren, gesicherten. Ihnen steht gegenüber die Sachexegese als diejenige, die auf einer grundsätzlich anderen Auffassung der menschlichen Existenz beruht. Hier wird nämlich die menschliche Existenz nicht in dem Allgemeinen gesehen, das dem Menschen als Exemplar der Gattung Mensch zukommt, sondern in seinem individuellen Leben, das sich in der Zeitlichkeit bewegt mit ihren Momenten des Einmaligen und I Unwiederholbaren, mit ihren Ereignissen und Entscheidungen. Das heißt, daß unsere Existenz für uns nicht verfügbar, gesichert ist, sondern ungesichert, problematisch, daß wir also bereit sind, Worte als Worte zu hören, Fragen zu hören, die Entscheidung für uns bedeuten, den Anspruch eines Textes zu hören als Autorität, an der es sich zu entscheiden gilt. Dann ist vollends klar, daß der Forderung, die Existenz des Menschen nicht im Allgemeinen, sondern im Besonderen zu sehen, nicht 2 Das wird sogar ausdrüddidJ. zum Prinzip gemacht, wenn die Forderung der "Kongenialität" des Exegeten aufgestellt wird.
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durch die Auffassung des Menschen als "Gestalt" genügt wird. Denn eine Interpretation, die die innere Form einer Gestalt erschaut, sieht an der konkreten Existenz des Menschen vorbei; sie sieht das konkrete Hier und Jetzt auch als einen Fall des Allgemeinen; nur daß hier das Allgemeine nicht die für das Denken faßbare Gesetzlichkeit ist, sondern das individuelle Gesetz der betreffenden Gestalt. So kann man seine Existenz nur interpretieren, wenn man sich ihr als zeitloser, oder besser: als vergangen er gegenüberstellt, also gerade dann nicht, wenn man sein Hier und Jetzt als Momente der Entscheidung kennt, die in eine Zukunft führen als in ein ganz anderes. Die Deutung eines Menschen als Gestalt ist immer nur als nachträgliche möglich, wenn das ganze Leben abgeschlossen vorliegt. Das heißt: die Bedeutung der Zeitlichkeit für die Existenz des Menschen ist hier verkannt. Und das ist auch dann nicht anders, wenn das Werden der Gestalt unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung gesehen wird. Denn die Bewegung, um die es sich hier handelt, enthält nicht das Moment der Zeitlichkeit; diese ist vielmehr als wirkliche eliminiert und dient nur noch als Ordnungsschema, d. h. im Werden der Entwicklung zerlegt sich das Sein in seine Momente, aber so, daß auf jeder Stufe ideell das Ganze da ist und die einzelnen Momente nichts Neues bringen, also keinen Entscheidungscharakter haben. Das kommt klassisch in Goethes Urworten (~CG[!1w:;) zum Ausdruck: "Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, die Sonne stand zum Gruße der Planeten, bist alsobald und fort und fort gediehen, nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, so sagten schon Sibyllen und Propheten; und keine Zeit und keine Macht zerstückelt geprägte Form, die lebend sich entwickelt."
Nun ist auch die Möglichkeit gegeben, dem Vorwurf des Subjektivismus grundsätzlich zu entgehen. Natürlich ist jede Exegese als Unternehmen eines Subjekts subjektiv. Für die übliche modeme Exe- I gese in ihren verschiedenen Spielarten bietet sich die Möglichkeit, über diesen primitiven Subjektivismus hinauszukommen, in ihrer Methode. Sie gerät freilich durch ihre Methode in einen neuen Subjektivismus hinein, da die Methode ja nur die aus der zugrunde liegenden Auslegung menschlicher Existenz folgende Betrachtungsweise ist. Wer mit andern gemeinsam im Bereich einer bestimmten Deutung menschlicher
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Existenz steht und damit über eine bestimmte Methode verfügt, der kann »objektiv" erklären - für diesen Bereich. Wer jedoch solche Bindung an eine vorgegebene Auslegung menschlicher Existenz als verfügund betrachtbarer abweist, gibt damit eine Methode auf und gibt den Anspruch auf objektive Ergebnisse der Interpretation auf. Aber er endet damit nicht im vollendeten Subjektivismus, und zwar deshalb nicht, weil er den Anspruch, die Autorität des Textes anerkennt. Denn die einzige Garantie für die "Objektivität" der Exegese, bzw. dafür, daß in ihr die Wirklichkeit der Geschichte zu Worte kommt, ist eben die, daß der Text auf den Exegeten selbst als Wirklichkeit wirkt. Voraussetzung ist also, daß der Exeget in keinem Sinne vorher über die Möglichkeiten des Gesagten, bzw. Gemeinten verfügt, also daß er die Meinung preisgibt, mittels einer Methode feststellen zu können, was geschichtliche Wirklichkeit ist. Kurz gesagt: die Möglichkeit einer »objektiven" Exegese ist allein durch die Sachhaltigkeit der Geschichte selbst gewährleistet. Und diese kommt zu Worte nur, wo der Exeget bereit ist, den Text als Autorität reden zu lassen. Das bedeutet aber nicht, daß er als toter Spiegel die Geschichte abspiegelt, oder daß er das Bild der Geschichte photographiere, sondern daß er in existentieller Lebendigkeit steht. Die Naivität, mit der z. B. die psychologische Exegese jeden sachlichen Anspruch des Textes abzulehnen pflegt, zeigt deutlich, daß der Exeget nicht innerlich lebendig ist, daß ihm seine Existenz nicht problematisch ist. Und deshalb kann er nie dazu kommen, zur Sachhaltigkeit der Geschichte vorzudringen. Wer dagegen das Wort des Textes als Wort hören will, bekennt damit, daß die Möglichkeiten für die menschliche Existenz nicht von vornherein abgesteckt und nicht in der konkreten Situation durch Vernunft, Charakter, psychische und zeitgeschichtliche Bedingungen determiniert sind, sondern daß sie offen stehen, daß sich in jeder konkreten Situation neue Möglichkeiten öffnen, und daß das menschliche Leben dadurch charakterisiert ist, daß es durch Entscheidungen führt. Durch das Wort, das neu in seine Situation hineintritt, wird der Exeget in die Entscheidung gestellt, und dadurch wird das Wort für ihn Ereignis. Also Ereignis ist es nicht als objektiv zu betrachtendes Wort, sondern nur für den existentiell lebendigen Hörer. Je klarer es , somit ist, daß Geschichtsauslegung zugleich Selbstauslegung ist, um so deutlicher ist es auch, daß die Exegese ausdrücklich von der Frage der Selbstauslegung geleitet sein muß, wenn sie nicht dem Subjektivismus verfallen will.
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IV. Ehe wir diesen Gedanken aber weiter verfolgen, soll das Gesagte an einigen Beispielen illustriert werden. H. ]. Holtzmann (Lehrbuch der Neutestamentl. Theologie2, 1911, I S. 224) interpretiert Jesu Gottesglauben als eine besonders hohe Entwicklungsstufe des Gottesglaubens der Menschheit. Für Jesus bedeute Gott die "Repräsentation des Seinsollenden als Liebesmacht". Während nämlich das primitive Gottesbild, das auf der Personifikation von Naturkräften beruhe, allmählich hinter der Unendlichkeit des Kausalzusammenhangs verschwinde, gewinne es an "Widerstandsfähigkeit und Konsistenz", je mehr es "eine feste Stellung im Zusammenhang der Ansprüche und Bedürfnisse des persönlichen Geistes einnimmt und zum unentratsamen Koeffizienten des Vollzuges sittlicher Vorgänge im Selbstbewußtsein wird". - Bedarf es eines Beweises, daß hier der Interpret in einem epigonenhaften Idealismus oder Rationalismus die eigentliche Existenz des Menschen im vernünftigen Selbstbewußtsein des Geistes sieht? ist diese Exegese neutral, oder beruht sie nicht vollständig auf einem vorgegebenen Prinzip, das über die Möglichkeiten des Textes verfügt? Wenn Holtzmann (a. a. o. 11 S. 164) die paulinische Anschauung von der Sündlosigkeit der Christen als die Formel eines "himmelstürmenden Idealismus" deutet, so schiebt er ganz naiv dem Text seine eigene idealistische Auffassung vom Menschen unter, wie denn überhaupt Holtzmann wie andere Exegeten die Sündlosigkeit, von der Paulus redet, nur als die Verwirklichung eines Ideals (ein dem Paulus ganz fremder Begriff), bzw. als die Richtung auf dies Ideal hin deuten können. Das Wesen der %a.LY~ EY'tOAfj 1. Joh 2,8 wird von Holtzmann naiv idealistisch interpretiert: es werden sich "stets neue Bedürfnisse und neue Aufgaben der Liebe einstellen". Daß der Text selbst die Weisung gibt, das "neu" im Sinne der Eschatologie zu verstehen, wird nicht gespürt, weil von jener Auffassung des Menschen aus die Einsicht in den Sinn der Eschatologie überhaupt verschlossen ist. Ebenso idealistisch erklärt Holtzmann 1. Joh 3, 14: "Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben hinübergeschritten sind; denn wir lieben die Brüder": "Liebe ist der Tatbeweis dafür, daß man I im Leben steht; tote Geister wissen nichts von Liebe, ihr Dasein ,schleicht matt und schläfrig dahin' (Rothe), weil es die Höhe des wahrhaft persön-
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lichen Lebens nicht erreicht. Wer nicht liebt . .. bleibt wie einer vis inertiae folgend, im Tode, im Grabe des Naturlebens." Charakteristisch ist auch Rothes Wort, das Baumgarten zur betr. Stelle zitiert: "Nur im Heraustreten des Individuums aus seinen engen Grenzen, in diesem sich an die anderen mitteilen und eben hierdurch wieder die andern in sich aufnehmen und sein eigenes enges Sein bereichern und erweitern durch die sich ihm mitteilende Fülle des Seins der anderen - wird das menschliche Einzelwesen sich bewußt, daß es lebe." Im Text muß unter Liebe doch wohl etwas anderes verstanden sein als die Entfaltung des geistigen Lebens der Persönlichkeit, da die Möglichkeit der Liebe, die ja ein neues Gebot ist, als an die Wirklichkeit der Offenbarung geknüpft angesehen wird. Baumgarten bezeichnet (im Göttinger Bibelwerk) den Inhalt von 1. Joh 1, 1-4 als zunächst abstrakt, meint aber, er gewinne an Anschaulichkeit, wenn man beachte, daß er in volles, warmes Gefühl getaucht sei. Er rechnet also mit Lesern, die für das Gefühl, mit dem ein Text vorgetragen ist, zugänglich sind, ja für die dieses mit" warmem Gefühl" erfüllt zu werden, offenbar das Motiv ist, mit dem sie sich an die Geschichte wenden. Zu 1, 10 ("Wenn wir sagen: wir haben nicht gesündigt, machen wir ihn zum Lügner und sein Wort ist nicht in uns") wird ausdrücklich abgewiesen, das Wort vom Gedanken der Offenbarung aus zu deuten; es sei viel mehr aus der Empfindung zu verstehen: "in der Empfindung herrscht das Bedürfnis vor, denen, die im geheimen Rat Gottes gesessen zu haben wähnen, den ärgsten Vorwurf zu machen, daß sie ihn zum Lügner machen ... " Besonders charakteristisch aber ist Baumgartens Erklärung von 1. Joh 2, 9: "Wer sagt, er sei im Licht, und haßt seinen Bruder, der ist in der Finsternis bis jetzt": Es sei nicht zuzugeben, daß jeder Mangel an Liebe wirklicher Haß sei; das meine der Verfasser auch wahrscheinlich gar nicht im Ernst. Es gäbe ja im "wirklichen Leben" so viele Übergänge und Mittelfarben! Entsprechend heißt es zu 3, 14: man könne sich doch dem Bruder gegenüber auch gleichgültig verhalten. Natürlich! Wenn der Mensch nur als psychisches Subjekt gesehen ist, wenn Liebe und Haß als psychische Erscheinungen genommen werden, so gibt es kein Entweder-Oder für die Haltung des Menschen, sondern nur Übergänge und Nuancen. Aber der Text redet vielleicht von einer anderen Wirklichkeit, als dem "wirklichen Leben", das der Exeget im Sinne hat, von einer Wirklichkeit, die Bengel kannte I in seiner
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lakonischen Exegese: "ubi non est amor, odium est3 • Cor non est vacuum". Er redet von Liebe und Haß deshalb nicht als von den Zuständen eines psychischen Subjekts, die durch alle möglichen Zwischenstufen über das Stadium der Neutralität hinüber einander begegnen, sondern von Liebe und Haß als existentiellen Möglichkeiten, für die es nur ein Entweder-Oder gibt. In der psychologischen Menschenauffassung steckt auch Windischs Erklärung des 1. Joh; so wird (zu 3, 9) erklärt, daß der "ideale Zustand" derSündlosigkeit des Christen aus der Gotteszeugung als "einem einmaligen aber nachwirkenden Erlebnis" abgeleitet werde; so wird 3, 14 gedeutet: "durch eine Bekehrung sind wir zum Leben und zur Liebe geführt worden"; so wird 4, 20 als eine "psychologische Begründung" des Liebesgebots bezeichnet. Für die romantische Exegese, die nach Gestalt und Persönlichkeit fragt, mag wieder Baumgartens Erklärung von 1. Joh dienen; er interpretiert 1, 1-4 so, daß er die geschichtliche Realität des Erlösers (unter der er offenbar nur die zeitgeschichtliche Bestimmbarkeit verstehen kann) auf den "Charakter" Jesu reduziert; aber das ist ja nur ein verschwindender Fall unter all den Versuchen, Jesus als Persönlichkeit zu sehen. Man fragt dabei doch jedenfalls nach etwas, was für den existentiellen Menschen im allgemeinen gleichgültig ist (wenigstens für die Personen des Neuen Testaments); er ist nämlich nicht an seiner Persönlichkeit interessiert, sondern an der Sorge um seine Existenz, bzw. an der Frage um die Wahrheit seines Sorgens. Die Erinnerung, daß auch Sokrates und Caesar, Hildebrand und Dante, Goethe und Napoleon Gestalten, Charaktere oder Persönlichkeiten sind, sollte darauf aufmerksam machen, daß hier jedenfalls nicht nach dem gefragt wird, was im Neuen Testament gemeint ist. In der Tat erhebt sich ja die Frage nach Gestalt und Persönlichkeit aus der gleichen Distanz, von dem gleichen Zuschauerstandpunkt aus wie die Fragen der idealistischen oder psychologischen Exegese; der Mensch ist hier von außen, als Kunstwerk, gesehen, und seine Existenz ist nicht erfaßt als in den konkreten Momenten des Hier und Jetzt auf dem Spiele stehend, als der Zeitlichkeit mit ihren Entscheidungsmomenten ausgeliefert. Warum aber stelle ich diesen Beispielen einer Exegese, die die Wirklichkeit der Geschichte nicht erfaßt, keine Gegenbeispiele gegenüber? 3 Das weiß aber z. B. auch Scheler: über Ressentiment und moral. Werturteil, 1912, S. 25.
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Weil die von der Existenzfrage bewegte Exegese eben nur in der Lebendigkeit des Vollzuges existiert. Es läßt sich also nie ein I Beispiel anführen, das zeigen könnte: so wird es gemacht, und es läßt sich auch nie behaupten: diese meine Exegese ist von der Existenzfrage bewegt. Denn die Einsicht in die Tatsache, daß es so sein müsse, gibt noch keine Gewähr dafür, daß es wirklich so ist. Und da die Gewähr dafür, daß in einer Exegese die Wirklichkeit der Geschichte zu Worte kommt, immer nur durch die Wirklichkeit der Geschichte selbst gegeben sein kann, steht uns kein Kriterium darüber zur Verfügung, wann das der Fall ist. In dieser Situation also stecken wir, und das Ziel unserer Besinnung kann nie sein, nun doch wieder ein Verfügungsrecht über die Geschichte zu gewinnen, sondern nur, uns unsere Situation ganz klar zu machen. V. Wenn wir also die Frage wieder aufnehmen nach dem Gebiet, auf dem das im Text Gemeinte liegt, und nach seiner Zugänglichkeit für den Exegeten, so ist klar geworden, daß wir damit nach den Möglichkeiten fragen, die aus unserer Begegnung mit der Geschichte für unsere Existenz erwachsen. Es ist aber auch klar geworden, daß wir eine Antwort auf diese Frage nicht erwarten dürfen als eine Voraussetzung, von der aus der Text zu befragen wäre. Denn dann würden wir ja gerade vorher über die Möglichkeiten unserer Existenz verfügen, über die uns der Text erst etwas sagen soll. Wir wiesen jede Exegese ab, die die Möglichkeiten menschlicher Existenz als abgeschlossen und übersehbar ansieht, und hielten das für die einzig mögliche Haltung, daß wir das Bewußtsein von der Problematik unserer Existenz haben. Konkret ließe sich die Frage, unter der ein Text interpretiert wird, dann vielleicht so formulieren: wir suchen zu verstehen, in welcher Hinsicht der Text die Auslegung seines Verfassers von dessen Auffassung seiner Existenz, als der eigentlichen Möglichkeit zu existieren, ist. Wir würden bei dieser Frage Aufschluß über unsere eigene existentielle Möglichkeit suchen; wir treten damit dem Text gegenüber ähnlich wie den Menschen, mit denen wir in den Beziehungen des Lebens stehen, in denen wir überhaupt erst eine Existenz gewinnen, nämlich in den Beziehungen von Ich und Du. Es ist dann klar, daß es eine Rekonstruktion der wirklichen Geschichte nicht geben kann, so wenig das Verhältnis vom Ich zum Du, von Freund zu Freund, von Gatte zu
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Gatte, von Vater zu Kind konstruierbar ist. Und doch spielt sich in diesen Beziehungen unsere eigentliche Existenz ab; in ihnen sind wir. Und wie diese Beziehungen für uns zeitliche Ereignisse sind und zwar solche, die den Charakter der Entscheidung tragen, so vollzöge sich die existentielle Begegnung der Geschichte in zeitlichen Momenten, die unsere Entscheidung fordern. I Das würde zunächst bedeuten, daß wir den Entwicklungsgedanken preisgeben müssen, wo es sich um die wirkliche Erfassung der Geschichte handelt. Denn er setzt voraus, daß die Möglichkeiten für den Menschen als übersehbar, verfügbar gelten. Denn von Entwicklung können wir nur reden, wo wir über das sich entwickelnde Subjekt mit unserer Einsicht verfügen, also den Menschen und seine Möglichkeiten kennen. »Kennen" natürlich nicht im quantitativen Sinn, sondern so, wie wir eine Linie kennen, wenn wir zwei ihrer Punkte kennen. Der Entwicklungsgedanke ist der Ausdruck des Verfügenkönnens über die Geschichte, und sein Symptom ist der Gedanke der Rekonstruierbarkeit. Wie die Betrachtung der Geschichte unter dem Entwicklungsgedanken unserer Exegese den Charakter des zeitlichen Ereignisses raubt, so ist es der Entwicklungsgedanke auch, der aus der Geschichte die Zeitlichkeit, d. h. aber die eigentlich menschliche Weise zu existieren, eliminiert. Natürlich nicht die meßbare, sog. objektive Zeit; aber eben diese ist nicht die wirkliche, sondern sie dient nur zur Chronologie als Ordnungsreihe für die Relationen, deren Zusammenhang der Entwicklungsgedanke klar machen will, während das wirklich zeitliche Geschehen gleichgültig geworden ist. Für die Zeit, mit der der Entwicklungshistoriker rechnet, wäre es z. B. einerlei, wie schnell oder wie langsam die Zeit läuft, und der ganze Relationszusammenhang könnte ebensogut in einen Moment zusammengepreßt, wie in die Unendlichkeit zerdehnt gedacht werden. Für einen Intellekt, der den ganzen Relationszusammenhang überschauen könnte, wäre die Zeit gar nicht da; er könnte das ganze Geschehen auch in ein anderes Ordnungssystem als das zeitliche eintragen. Entsprechend ist eben für solchen Betrachter der Geschichte die Betrachtung zeitlos, während die existentielle Begegnung mit ihr ein zeitliches Ereignis ist, in welchem das Wort des Textes seinen Charakter der Zeitlichkeit behält. Und zwar wäre dies Ereignis, sofern unsere Existenz als unsere eigentliche Möglichkeit zu leben, sich in unserm Tun vollzieht, freie Tat. Natürlich nicht so, als fühlte man sich auf Grund eines verstandenen Textes zu einer Tat veranlaßt, sondern das Verstehen selbst ist
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die Tat. Als freie steht sie außerhalb meiner Verfügung und vollzieht sich nur in der Entscheidung, so daß ich nicht gleichsam daneben stehen und sie kontrollieren kann. Sie kann also nicht zum Prinzip einer Methode gemacht werden, sondern erwächst als Entscheidung aus der im Text gestellten Frage, und sofern sie solche durch die Geschichte herausgeforderte Entscheidung ist, ist sie Gehorsam gegenüber der Autorität der Geschichte. I Dies: das Wissen um die Unsicherheit unserer Existenz, das Wissen, daß unsere Existenz in unsere freie Tat der Entscheidung gelegt ist; dazu eine Haltung der Gechichte gegenüber, die sie als Autorität anerkennt und dadurch aus der Distanz des Betrachters in die Gegenwart der Entscheidung gerückt sieht, wäre die Voraussetzung jeder Exegese. Ehe aber gefragt wird, was dann das Eigentümliche der Exegese des Neuen Testaments oder einer theologischen Exegese ist, muß noch einmal betont werden: es handelt sich nicht um die Proklamierung einer neuen Methode. Die Frage, wieweit die Kompetenz der Methoden für die wirkliche Erfassung eines Textes reicht, wieweit jede konkrete Arbeit der Exegese immer methodisch sein muß, sei ausdrücklich zurückgestellt. Zunächst kommt es darauf an zu sehen, daß eine Methode die wirkliche Geschichte nicht erfaßt, weil sie immer nur erfaßt, worüber wir grundsätzlich verfügen. Das wird um so klarer, wenn man bedenkt, daß Interpretation ja in der Regel auch die Vermittlung des Textes an einen Dritten sein soll, über den (in seinem existentiellen Sein) ich ja auch nicht verfüge. Und deshalb lassen sich, wie schon gesagt, mit der geforderten Exegese nie definitive Ergebnisse erarbeiten, die ja nur dazu dienen könnten, die Geschichte tot zu machen, weil sie den Charakter der Zeitlichkeit verloren haben und dem Dritten den Weg zur existentiellen Begegnung mit der Geschichte versperren. Die Ergebnisse einer existentiell bewegten Exegese lassen sich also nicht im gleichen Sinn rechtfertigen und begründen wie die einer methodischen Exegese. Die Möglichkeiten des Textverständnisses lassen sich sowenig nachher wie vorher abgrenzen, sondern sind unerschöpflich wie die Möglichkeiten, die aus der Begegnung von Ich und Du erwachsen.
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VI. Nun geht die bisherige Besinnung davon aus, daß es unsere Sache ist, von uns aus die Frage nach unserer Existenz zu stellen und als so Fragende der Wirklichkeit der Geschichte zu begegnen. Das aber ist eine abstrakte Situation, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, da wir an keinem Punkte außerhalb der Geschichte stehen und gleichsam zum erstenmal in sie eintreten können. Und doch ist diese Situation der Ausgangspunkt aller profanen Exegese, sofern sie sich selbst versteht. Inwieweit nun und in welcher Weise auf den verschiedenen Gebieten profaner Geschichtswissenschaft, also etwa der Geschichte des Staates, der Literatur, der Kunst, der Mathematik, die Bewegtheit durch die Existenzfrage vorhanden ist und wie sie in der I konkreten Geschichtsschreibung wirkt, das zu untersuchen, kann ich mir nicht als Aufgabe stellen4 • Im allgemeinen wird man sagen dürfen, daß das Interesse für ein bestimmtes Geschichtsgebiet, wenn die Arbeit auf ihm nicht eine bloße Beschäftigung ist, auf einer bewußten oder unbewußten Wahl unter den verschiedenen Möglichkeiten der Erschließung menschlicher Existenz beruht, und daß, sofern diese Wahl aus existentieller Lebendigkeit erwachsen ist, diese Lebendigkeit dauernd in der geschichtlichen Arbeit wirken wird. Und zwar insoweit, als die Erkenntnisse 4 Ich darf aber wohl auf Diltheys Bemühen um den Sinn geschichtlicher Interpretation hinweisen und zugleich darauf, wie seine Gedanken besonders in der modernen Literaturwissenschaft fortwirken. Ein Beispiel ist R. Ungers Abhandlung "Literaturgeschichte als Problemgeschichte" (Schriften der Königsb. Gel. Ges. I geisteswiss. Kl. 1, 1924). Im Anschluß an Dilthey faßt er Dichtung als Lebensdeutung, so daß ihm die Literaturgeschichte zur Problemgeschichte wird, wobei dann "Problem" nicht als rationalistischer Begriff gemeint ist, sondern als Existenzbegriff, so daß die Problemgeschichte nicht zur dialektischen Bewegung formaler ästhetischer Begriffe wird, sondern zu einer "Phänomenologie der Lebensprobleme" . Die "Rätselund Schicksalsfragen des Daseins" (wie Natur und Geist, Liebe und Tod) bilden den Gehalt der Dichtung, damit aber auch den Gegenstand der Literaturgeschichte. Diese ist also gar nicht möglich ohne bewußte Stellungnahme zu den Sachen selbst und hat deshalb im Gegensatz zur alten historisch-philologischen Methode den Zusammenhang mit der Philosophie zu suchen. Bei dieser Gelegenheit sei aber auch darauf hingewiesen, daß kein anderer als Albert Eichhorn es wußte, daß Geschichtsphilosophie ein notwendiger Bestandteil der Geschichtswissenschaft sei, daß Historiker nur sei, wer die Gegenwart verstehe (H. Greßmann, Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, 1924, S. 8); wie er dehn auch eine Vorlesung über die theologischen Hauptbegriffe (Sünde, Glaube, Inkarnation) las (a. a. O. S. 13) und in seiner Abhandlung über die Rechtfertigungslehre der Apologie (1887) auf ein Verständnis der Vorgänge des Glaubenslebens selbst abzielte (S. 10).
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auf all diesen Gebieten nicht als von außen gesehener Stoff aufgefaßt und angehäuft werden, sondern als sie zur Erfassung unserer durch die Wahrheitsfrage bewegten Existenz führen sollen. Das Lernen auf diesen Gebieten steht unter der Wahrheitsfrage, und damit geschieht jeder Schritt der Erkenntnis unter der Voraussetzung der Bereitschaft zur radikalen Preisgabe des bisher Erkannten, also auf Grund radikaler Voraussetzungslosigkeit. Die philosophische Exegese endlich wird die Geschichte nicht um der Einzelkenntnisse auf irgendeinem Gebiet willen befragen, sondern wird von vornherein ausdrücklich von der Frage nach den Möglichkeiten menschlicher Existenz geleitet sein, und zwar eben von der Voraussetzung aus, daß der Mensch von sich aus die Existenzfrage stellen kann und die Möglichkeit der freien Tat hat, in der er seine Existenz gewinnt.
VII. Nun ist das Eigentümliche für die Exegese des Neuen Testaments dies, daß sie zwar im Kreis der profanen Exegese bleiben kann, daß ihr aber die Behauptung des Neuen Testaments entgegentritt, der Mensch verfüge über seine Existenz nicht einmal insoweit, daß er von sich aus die Existenzfrage stellen könne und die Möglichkeit der freien Tat habe; all das gäbe es nur für den Glauben. Es wäre dann also die entscheidende Frage für das Verständnis des Neuen Testaments, ob die Forderung des Glaubens anerkannt wird oder nicht. Ja, aber damit wäre die Situation des Exegeten als eine I ganz unmögliche charakterisiert. Denn nicht nur, daß ihm die Möglichkeit dieser Entscheidung abgesprochen wird - das Neue Testament behauptet sogar, daß er von sich aus gar nicht wissen könne, was Glaube ist, da dies Wissen erst Ergebnis der glaubenden Exegese sein könnte. Und es muß doch das Fragen selbst, wenn es richtiges Fragen sein soll, glaubendes Fragen sein! Die Bereitschaft zum glaubenden Fragen müßte also beim Exegeten vorausgesetzt sein? Das ist aber offenbar sinnlos und würde ein Oberden-eigenen-Schatten-springen fordern. Es zeigt sich, daß die ganze Reflexion nicht vollzogen werden kann, wenn sie prinzipiellen Charakter hat, d. h. wenn sie den Exegeten in jener unrealen, abstrakten Situation sieht, in der der profane Exeget stehen will; wenn sie absieht von seiner konkreten Situation. Diese ist aber die, daß die Exegese des Neuen Testaments zur Aufgabe wird für den, der in der Tradition
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der Kirche des Wortes steht. Nur wenn dies bedeutet - nicht, daß ich von außen gesehen als zeitgeschichtliches Individuum, sondern daß ich mit meiner Existenz in der Tradition des Wortes stehe, gibt es solche Bereitschaft des glaubenden Fragens. So wenig es deshalb eine besondere Methode theologischer Exegese gibt, so wenig gibt es eine Möglichkeit, eine theologische Exegese des Neuen Testaments "prinzipiell" zu rechtfertigen. Die rechte Befragung des Textes kann nur eine glaubende sein, d. h. eine im Gehorsam gegen die Autorität der Schrift begründete. Wie Paulus den Glauben als (J1ta'X.o~ fordert, ohne daß sich die Autorität des Wortes zu legitimieren brauchte, wie bei Johannes die t-tap'{;up{a nicht eine neben dem Worte stehende Legitimation für dieses, sondern eben das Wort selbst ist, so gibt es offenbar nur eine fachgemäße Exegese des Neuen Testaments, die aus dem Gehorsam hervorgeht. zav '{;tC &EAr,) '{;O &D..1Jt-ta ao'{;ou 7tOtEtV, "(vwcrE'{;at 7tEpl '{;'7ic otoax'7iC, 7tO'{;EPOV h '{;OU &EOU zcr'{;w ~ Z"(W Gm' zt-tau'{;ou AIXAW (Joh 7, 17). Die Tat dieses Gehorsams ist die Voraussetzung der Exegese, und über diese Tat verfüge ich nicht, da sie freie Tat ist, also nicht meiner abwartenden Stellungnahme überlassen, sondern I nur im Getanwerden wirklich, und da ich - was auf das gleiche hinauskommt - nicht in einer abstrakten Situation vor die Entscheidung dieser Tat gestellt werde, sondern in der konkreten, in der das Ganze meiner Existenz zusammengefaßt ist und auf dem Spiele steht. Eine theologische Exegese wäre also eine solche, für die der Glaube Voraussetzung wäre, aber dann kann sie eben auch nur getan, wissend gewagt, kann nicht begründet und gerechtfertigt werden, da wir über die Voraussetzung nicht verfügen. Damit ist die Frage erledigt, ob man etwa auch Augustin, Luther oder Schleiermacher oder gar die Bhagavadgita ebenso interpretieren müsse wie das Neue Testament. Sofern ich prinzipiell reflektiere, mich also in einer abstrakten traditionslosen Situation sehe, gibt es hier keine Verschiedenheit. üb aber bei solcher Interpretation glaubendes Hören Ereignis wird, darüber läßt sich eben prinzipiell nichts ausmachen. Damit ist aber die Exegese in der gleichen Lage wie die Theologie überhaupt, die auch nur sinnvoll ist unter der Voraussetzung des Glaubens, und die doch über diese Voraussetzung nicht verfügt, die aber doch getrieben werden muß. Denn ein Verzicht auf die Theologie würde auch den Verzicht auf den Glauben bedeuten und würde beweisen, daß der Sinn der Offenbarung als der Rechtfertigung des Sünders nicht verstanden ist. Denn Theologie bedeutet die begriffliche
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Darstellung der Existenz des Menschen als einer durch Gott bestimmten. Da sie aber weder über Gott noch über den existentiellen Menschen verfügt, kann sie nie ein Reden aus Gott, sondern nur ein Reden über Gott und über den Menschen sein. Und sie kann ihr Recht nur dadurch erweisen, daß sie sich stets daran erinnert, daß solches Reden ein Reden des sündigen Menschen ist, das gar nicht beansprucht, ein Reden aus Gott zu sein, und das gerade in der Erkenntnis dieser Schranken gerechtfertigt sein kann, da Gott den Sünder rechtfertigen will. Diese Erinnerung aber bedeutet nicht die Beziehung auf eine verfügbare Voraussetzung oder eine Hypothesis wissenschaftlichen Arbeitens, sondern sie bedeutet die Beziehung auf die Offenbarung, die nur im Akt wirklich sein kann. Ein Verzicht auf die Theologie aber wäre deshalb ein Verzicht auf den Glauben, weil sie die Bedeutung der Rechtfertigung für den konkreten Menschen mit seinen Unternehmungen - also in diesem Fall dem Unternehmen der Theologie - nicht erkennen und die Verheißung für ihn und seine Arbeit verschmähen würde. Pecca fortiter, heißt es hier5. Weil nun die Textauslegung nicht von der Selbstauslegung zu I trennen ist und diese in der Exegese des Neuen Testaments gerade explizit wird, und weil andrerseits die Selbstauslegung des Menschen als geschichtlichen Individuums sich nur in der Auslegung der Geschichte vollziehen kann, so fallen im Grunde Theologie und Exegese oder systematische und historische Theologie zusammen. Jene kann also nicht die "kritische Besinnung auf den Glaubensgrund" und die systematische Entwicklung ihrer Sätze aus einem verfügbaren Datum zu ihrer Aufgabe machen 6 • Eine biblische Theologie andrerseits wäre ja nach dem Gesagten nicht die Feststellung eines Komplexes zeitgeschichtlicher Aussagen bzw. Phänomene oder des Bewußts·eins der neutestamentlichen Autoren. Sondern in ihr vollzöge sich die existentielle Begegnung mit der Wirklichkeit dieser Geschichte. Freilich ist in der konkreten Arbeit eine Trennung der systematischen und der historischen Aufgabe gerade deshalb notwendig, damit die Bezogenheit beider aufeinander immer wieder neu erfahren wird. Die systematische Theologie hätte dann die begriffliche Explikation der Existenz des Menschen als durch Gott bestimmter zu ihrem direkten Thema zu machen, während für die historische Theologie dies nur indirekt das Thema sein könnte, 5 Dies habe ich eingehender ausgeführt in dem Aufsatz "Welchen Sinn hat es, von Gott zu reden?" ThBI IV (1925) Nr. 6. 6 Vgl. Gogarten, ZZ III (1925) Heft 1 S. 78.
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und sie direkt nur darzustellen hat, welche Auslegung des Menschen in den Texten gegeben wird, und zwar so, daß sie diese Auslegung aus der Begrifflichkeit der Vergangenheit in die Begrifflichkeit der Gegenwart bringt. Damit ist Theologie in jedem Falle ein wissenschaftliches Unternehmen, da sie die Aufgabe des begrifflichen Denkens ist. Und ihre Wissenschaftlichkeit erleidet dadurch keine Einbuße, daß sie sich darüber klar ist, daß die zur Begrifflichkeit erhobenen Inhalte nicht rationalen Ursprungs sind. Ihre zweideutige Situation ist für sie, angesichts ihres die Existenz des Menschen betreffenden Themas, nur deutlicher als für jede andere Geschichtswissenschaft, die doch letztlich auch in einer zweideutigen Situation steckt, da sie nirgends das Unternehmen eines abstrakten Menschen ist. Dagegen kann die Theologie nicht den Anspruch erheben, direkt Wortverkündigung zu sein. Denn als wissenschaftliche Arbeit kann sie es immer nur zu Sätzen von relativer Gültigkeit bringen, während die Wortverkündigung nur Sinn hat, wenn ihre Sätze den Anspruch des Definitiven für die konkrete Situation (und anders als für die konkrete Situation gibt es keine Wortverkündigung) erheben. Die Bewegtheit, die daraus erwächst, daß ein Glaubenssatz keine allgemeine, zeitlose Wahrheit ist, sondern I nur in dem Akte wirklich ist, in dem die Offenbarung .Ereignis wird, ist beiden gemeinsam. Aber die begriffliche Arbeit der Theologie, auch der exegetischen, kann auch im konkreten Moment nie als abgeschlossen gelten, sondern hat den Charakter, daß sie immer besser werden muß, was in gleichem Sinne von der Wortverkündigung zu fordern sinnlos wäre, wenn diese wirklich ist, was sie sein soll. Die Kirche muß eine immer bessere Theologie fordern, aber nicht eine immer bessere Wortverkündigung, sondern nur Wortverkündigung überhaupt. Sofern nun für die exegetische Theologie als die Arbeit begrifflichen Denkens das Neue Testament nur indirekt, aber nicht direkt Wort Gottes ist, läßt sich ihr Hauptthema im Anschluß an die theologische Tradition völlig korrekt als "Neutestamentliche Theologie" formulieren. Sie macht dann nur Ernst damit, daß Gottes Wort ein zu den Menschen gesprochenes verhülltes Wort ist, daß die in der Schrift vorliegende Offenbarung verhüllte Offenbarung ist. Es begegnet uns also in der Schrift ein Reden, das sich zunächst darbietet als ein Reden über Gott und über den Menschen, denn es ist in der menschlichen Sphäre gesprochen. Wie es zwischen Ich. und Du keine unmittelbare
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Begegnung gibt, sondern nur die im Wort mit seinem Charakter, Ausdruck zu sein für Etwas, verhüllte, so gibt es keine unmittelbare Offenbarung, sondern nur die im menschlichen Wort verhüllte. Wie eben gerade diese Tatsache die Notwendigkeit der exegetischen Theologie begründet, die Aussage des Textes in die Begrifflichkeit der Gegenwart zu erheben, so erwächst ihr damit die für alle Exegese bestehende Notwendigkeit der Sachkritik. über ihre Begründung und ihre Zweideutigkeit sprachen wir schon (S. 340); sie wird hier von neuem deutlich, denn an der Erhebung der Aussagen des Textes in die Begrifflichkeit der Gegenwart muß es sich herausstellen, wieweit die Sache, um die es im Texte geht, im Gesagten äquivalenten Ausdruck gefunden hat. Barth7 hat schon recht, daß die Kritik das Mißverständnis vermeiden muß, als meine sie, das 'ltysufLaG xrnO"'tou stände im Text konkurrierend neben anderen Geistern. Aber es ist doch Ernst damit zu machen, daß im Texte, als den Aussagen von Menschen, das 'ltYSUfLlX XPLO"'tOU überhaupt nicht direkt zu sehen ist, und daß, sofern Paulus von der "Sache" redet, er als menschlich Redender einen Standpunkt vertritt, den man nicht nur mit andern Standpunkten vergleichen kann, sondern von dem man auch fragen kann, ob er selbst ihn immer festgehalten hat. Wenn man überhaupt theologische Exegese als Wissenschaft treiben will, so darf man sich durch die Frage nicht schrecken lassen: "Auf welche Stelle könnte I man etwa den Finger legen mit der Behauptung, daß da nun ausgerechnet das 'ltYSUfLlX XPLO"'tOU zu Worte komme?" In der Tat, solche Unterscheidung hat man zu treffen; und jene Frage kann nur wieder an die eigentümliche Situation des Exegeten erinnern, der von der Existenzfrage bewegt ist und daher weiß, daß er über kein Kriterium verfügt, die Wirklichkeit der Geschichte abschließend zu erfassen (S. 347 f. 350). Er kann jedoch um deswillen nicht auf bestimmte Aussagen verzichten; aber er kann erst recht nicht den Charakter des Textes als Wortes Gottes zur verfügbaren Voraussetzung der Exegese machen. Jene Verpflichtung zur Sachkritik ist ihm also wahrlich kein Anlaß zum übermut, sondern die beständige Erinnerung an die Verpflichtung zur Selbstkritik und zwar im existentiellen Sinne. Die Sachkritik hat sich auch nicht durch die Frage verwirren zu lassen, ob nicht eine Textstelle, die kritisch beanstandet wird, doch weil innerhalb des neutestamentlichen Kanons stehend - ein Wort der Offenbarung werden könnte. Vorausgesetzt, die kritische Beanstandung 7
Vorwort zur dritten Aufl. des Römerbriefs, 1923 S. XXI.
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wäre richtig, so könnte jenes ja etwa dann der Fall sein, wenn die betreffende Stelle von andern Stellen her interpretiert wird, also z. B. durch Allegorese (die zwar nie als Methode, aber durch ihren Inhalt gerechtfertigt sein könnte). Aber mit dieser Möglichkeit darf man offenbar nicht rechnen. Vielmehr: ebenso wie der Kanongedanke den Charakter der Kontingenz der Offenbarung sichern will und das Mißverständnis abwehrt, als handle es sich in der Offenbarung um allgemein einsichtige Wahrheiten oder um den Glauben besonders glaubenskräftiger Individuen, so muß durch' die Kritik gesichert werden, daß der Offenbarungsgedanke nicht zur verfügbaren Voraussetzung für die Exegese wird, als sei je die Forderung der existentiellen Begegnung mit der Wirklichkeit, von der der Text redet, aufgehoben als die (nicht verfügbare!) Voraussetzung für das Verständnis des Textes. Weil es keine unmittelbare Begegnung mit Gott gibt, sondern weil seine Offenbarung im Wort verhüllt ist, kann es für die Exegese auch keine Berufung auf ein inneres Licht, kann es keine "pneumatische" Exegese geben, die mit dem Pneuma als vorausgegebenem Besitz des Exegeten rechnet. Ein Pneuma, das verfügbar wäre ohne Bindung an das Wort, gibt es für uns nicht. Die Exegese kann nur von der Interpretation des Wortes ausgehen. Da die Arbeit der Exegese begriffliche Arbeit ist, und da das Wort des Textes nie die Sache selbst, sondern Ausdruck für die Sache ist, wird dem Exegeten auch die Sache nur zugänglich, wenn er das Wort versteht. Das Wortverständnis ist freilich mit der ganzen Zweideutigkeit belastet, die I dadurch entsteht, daß Worte nicht nur der einmalige Ausdruck für das Hier und Jetzt der konkreten Situation sind, sondern daß sie daneben auch Wörter sind, die ihre eigene Geschichte haben, und zwar daß sie jenes nur sein können, sofern sie dieses sind. Der Exeget muß also, ohne sich einzubilden, damit dem Sinn eines Wortes im konkreten Hier und Jetzt schon erfaßt zu haben, grundsätzlich die ganze Geschichte der Wörter des Textes kennen. Damit ist die ganze historisch-philologische Arbeit am Neuen Testament legitimiert, ja gefordert, die ihren speziellen Charakter dadurch erhält, daß das Neue Testament griechisch geschrieben ist. Pointiert könnte man sich ausdrücken, daß diese Arbeit auf die Herstellung eines Lexikons hinausläuft. Da aber die Wörter der Sprache keinen fixierten Sinn haben wie Etiketten, sondern bestimmt sind ebenso durch die Eigentendenz eines Wortes von seinem Ursprung her wie durch seine Geschichte und den weiteren und engeren Zusammenhang, in dem es auftritt, könnte dies Lexikon ja kein Nachschlage-
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wörterbuch für Schüler sein, sondern die Aufgabe der Grammatik wie der ganzen begriffs- und religions geschichtlichen Forschung ist darin eingeschlossen. Da die Worte eines Textes an ihrer Stelle aber erst verstanden werden können in wechselseitigem Verständnis der Sache, über die geredet wird, so kann die Arbeit offenbar nicht so angefaßt werden, daß die historisch-philologische Forschung zuerst als Vorbedingung eine zeitgeschichtliche Erklärung liefert, der dann die Sachexegese ihre Erklärung nachzuschicken hätte, so daß nun doch, um mit Barth zu reden, Niebergall im fünften Bande das Wort erhielte 8 • Dann ist es aber auch mißverständlich, zu sagen, daß die historische und die theologische Exegese in verschiedenen Räumen stattfänden9 , vielmehr ist zu betonen, daß das Auseinanderfallen der historischen und der theologischen Exegese für beide Seiten ein unhaltbarer Zustand ist und man von Rechts wegen den historisch-philologischen Kommentaren nicht einen theologischen hinterdreinsenden kann. Im tatsächlichen Vorgang der Exegese steht die historische und die theologische Exegese in einem nicht analysierbaren Zusammenhang, weil ja die echte historische Exegese auf der existentiellen Begegnung mit der Geschichte beruht, also mit der theologischen zusammenfällt, wenn anders das Recht dieser eben auf der gleichen Tatsache beruht. Und jene existentielle Begegnung ist ja nicht etwas, was als Unternehmen gemacht werden könnte und als solches seinen Platz in oder hinter der methodischen philologischhistorischen Erklärung erhielte.
DIE FRAGE DER "DIALEKTISCHEN" THEOLOGIE Eine Auseinandersetzung mit Peterson Wenn Sokrates im OtIXAEYE:cr&cn die Wahrheit zu finden meint, so liegt dem die Anschauung zugrunde, daß der einzelne Mensch in seiner empirischen Verfassung nicht über die Wahrheit verfügt, daß diese aber im gemeinsamen Reden, im Gespräch, zutage kommen kann. Denn 8
Vorwort zur zweiten Auflage deli- Römerbriefs, 1922, S. 11.
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K. Barth, Die Auferstehung der Toten, 1924, S. V.
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der einzelne hat kein Kriterium für wahr und falsch; gelingt es aber im Gespräch, daß der eine durch den andern überführt oder überzeugt wird, so liegt eben darin ein Kriterium. Im fortlaufenden Gespräch, im Fragen und Antworten, im Prüfen und überführen muß also die Wahrheit immer mehr zur Klarheit kommen. Darin liegt die überzeugung, daß die Wahrheit schon von vornherein in einer verborgenen Weise im Reden vorhanden war, daß jedes Reden als solches in irgendeinem Maß an der Wahrheit teil hat .. Es liegt darin aber noch ein anderes: daß auch im weiteren Reden die Wahrheit immer nur in einer gewissen Verborgenheit vorhanden sein wird; denn das Fragen und Antworten geht immer weiter. Das Erkennen gelangt also immer nur schrittweise zu den Voraussetzungen, auf Grund derer seine jeweiligen Sätze Geltung haben; und es gilt, nach immer tiefer liegenden Voraussetzungen zu suchen, um schließlich zu der Voraussetzung zu gelangen, die selbst keiner andern mehr bedarf. Dieser Prozeß ist unendlich, und doch ist er sinnvoll, denn die aA1j.&wx ist das unendliche Ziel nicht als ein Etwas, das je (wenn auch erst im Unendlichen) zur Gegebenheit werden könnte, sondern sie ist immanent im ganzen Prozeß des Gesprächs (des Denkens) enthalten. I Sie ist die "unanschauliche Mitte" jeweils zwischen zwei Aussagen. Es darf nur nie vergessen werden, daß der ganze Prozeß des Erkennens ein dialektischer, ein Gespräch, ist, in dem keine Aussage für sich genommen, absolute Wahrheit beanspruchen darf, sondern immer nur wahr ist in der Beziehung auf jene Mitte, und daß diese Beziehung dadurch garantiert wird, daß jeder Satz mit seinem Gegensatz zusammengebracht wird, daß es zu jedem Satz seinen Gegensatz zu finden gilt. Die Wahrheit, die hier jeweils erkannt wird, ist also freilich nie die Wirklichkeit, sondern immer nur die Möglichkeit. - Und übrigens zeigt sich, daß zum Begriff dieses OUXA8yccr.&o:~ gar nicht zwei (oder mehr) wirkliche Personen gehören, sondern daß das Denken als solches ein O~O:AEyca&o:~ ist, das sich geradesogut auch als Monolog eines einzelnen abspielen könnte. Die Zweiheit der O~O:AcY0!1cYO~ hat nur den Sinn, den dialektischen Charakter des Redens (Denkens) als solchen zu garantieren. In diesem Gespräch gilt es nun auch, daß die Frage die Antwort ist und umgekehrt. Denn wenn sich im Wechsel von Frage und Antwort die immanente Bewegung des AOYOC vollzieht, so muß jede Frage, sprechende Bewegung des fortschreitenden Denkprozesses als Antwort sofern sie als einzelner AOYOC am A6yoC des Ganzen teil hat, die entauslösen. Eine Frage erhält also nicht eine zufällige, sondern die not-
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wendige Antwort. Die Antwort ist durch die Frage determiniert, wie die Frage durch die Antwort der früheren Stufe determiniert war und die neue Antwort eine neue Frage auslösen muß. So ist also auch im Grunde jene Beziehung auf eine Voraussetzung (und letztlich auf die Voraussetzung) ein Setzen der Voraussetzung selbst, das mit dem Reden als solchem erfolgt, sofern eben jeder Aoyot;; am ganzen AOYOt;; teil hat. Also handelt es sich nicht um das zufällige Setzen einer "Arbeitshypothese" irgendeines denkenden Individuums, sondern um die immanent mit jedem Reden, das den Anspruch auf Wahrheit erhebt, gesetzte Voraussetzung. Ist nun hier die Wahrheit nie die Wirklichkeit, das Dahaben einer Gegebenheit, so ist sie im Grunde nur das Gesetz des Erkennens selber; d. h. im Erkennen erfaßt der Erkennende nichts anderes als das Erkennen selbst. Und besteht dabei die Meinung, daß man in solchem Erkennen das Wesen der Dinge und seiner eigenen Existenz erfasse, so zeigt sich darin, daß man das Sein der Dinge und seiner selbst nirgends anders als in den AOYO~ sieht. Im "Ernst" kann man nicht von anderem Seienden reden; denn alles als Objekt Begegnende harrt der Auflösung in AOYO~, der Reduktion auf AOyO~. Redet man dann von Gott, so hat dies Reden keinen "Ernst", wenn man sich I darüber täuscht, daß Gott hier nichts anderes bedeuten kann, .als jene erste Voraussetzung alles Denkens, die als Voraussetzung zugleich der Inbegriff der Gesetzlichkeit alles Denkens ist. Aber auch, wo man von jener Täuschung frei ist, gilt: so von Gott reden, heißt in der Tat nicht von Gott reden, so ernst im übrigen dies Reden sein mag. Ist nun, wie Peterson uns vorwirft und wie auch mancher .andere meint, das Reden der "dialektischen" Theologie ein solches Reden von Gott, das dazu noch, da es sich dann über seinen eigenen Sinn täuschte, in keinem Sinne "Ernst" wäre? Auch in der "dialektischen" Theologie handelt es sich um ein Gespräch auf Grund der Voraussetzung, daß die einzelne Aussage nicht über die Wahrheit verfügt, keine allgemeine Geltung hat, sondern daß sie ihren Sinn nur gewinnt in Verbindung mit einer Gegenaussage auf Grund der Beziehung beider Aussagen auf eine unanschauliche Mitte. Auch in der "dialektischen" Theologie redet man davon, daß die Frage die Antwort und die Antwort die Frage sei. Aber gleich hier wird deutlich,. daß es sich bei aller formalen Ähnlichkeit um etwas fundamental Verschiedenes handelt, so daß man fragen muß, ob es wirklich gerechtfertigt ist, von "dialektischer" Theologie zu reden.
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Doch ist das schließlich gleichgültig, wenn nur der Sinn nicht mißverstanden wird. Es ist aber klar, daß die Rede: die Frage ist die Antwort und umgekehrt, von uns "Dialektikern" nur mit Bezug auf eine einzige, bestimmte Frage gebraucht wird: die entscheidende Frage, die der Mensch selbst ist in seiner Existenz. Und die Antwort ist gleichfalls eine einzige, bestimmte: die Rechtfertigung des Sünders durch Gott. Wohl wird die Antwort sofort wieder zur Frage, wenn sie vom Menschen ergriffen wird, wenn sie als Satz, losgelöst von dem dadurch bezeichneten wirklichen Geschehen, verstanden wird. Aber sie wird dann nicht zu einer neuen Frage, sondern zur alten, und die Antwort, die sie erhält, ist wieder nicht eine neue, sondern die alte. Also handelt es sich nicht um einen fortschreitenden Denkprozeß, sondern um ein Verharren auf einem Punkt oder meinetwegen um ein Kreisen um einen Mittelpunkt. Jeder Versuch "fortzuschreiten" würde damit bestraft werden, daß der vermeintlich Fortschreitende sich alsbald zuruckgeschleudert sieht in die alte Frage. Die Frage ist nämlich gar nicht vom Menschen aus gestellt, so wenig wie die Antwort durch das Fragen des Menschen determiniert ist. Denn solange der Mensch fragt, ist die Antwort nicht die Frage (Barth, Ges. Vortr. 161); sie ist es erst dann, wenn Gott gefragt hat; d. h. aber: in Frage steht der wirkliche Mensch in I seiner Jeweiligkeit, nicht der abstrakte Mensch. Da der Mensch aber über seine Existenz gar nicht verfügt (er steht ja nicht neben ihr, sondern in ihr, er lebt sie, ist sie in ihrem Verlauf), so sieht er die Frage, unter der er steht (nämlich, daß er Sünder ist), nur dann, wenn Gott sie ihm zeigt. Zeigt Gott sie ihm aber, so ist die Frage die Antwort, und zwar nicht, indem die Frage beseitigt oder "aufgehoben", d. h. im weiteren Prozeß des Erkennens als ein Schritt auf die Antwort hin verstanden wäre, sondern die Antwort muß eben die Frage sein (Barth, Ges. Vortr. 167), d. h. der Sünder ist der Gerechtfertigte. Also das Sein der Antwort, die die Frage ist, ist nicht ein durch die Bewegung des AOYOC konstituiertes oder im AOYOC fundiertes Sein, sondern das wirkliche Sein in der existentiellen Konkretheit des Menschen, dessen Sein hier eben nicht in den A6YOL gesehen ist, sondern in seiner geschichtlichen, in der Zeit zwischen Geburt und Tod verlaufenden Wirklichkeit. Die Wahrheit, um die es hier geht, ist nicht abstrakte Möglichkeit, sondern konkrete Wirklichkeit. Wie die Frage, in der wir stehen, unsere existentielle Situation ist (ob wir darum wissen oder
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nicht), und weder unser subjektives Fragen, noch eine Station in der Bewegung des Denkprozesses ist, so ist auch die Antwort nur wirklich als von Gott gesprochene, als das unsere Existenz neu begründende Geschehen (Barth, Ges. Vortr. 165). Und hierin sind wir mit Peterson ganz einig: ",Das gottselige Geheimnis' ist da, bevor es vom menschlichen Geist aktualisiert werden kann, bevor der Glaube sich ihm zu nähern, der menschliche Wille sich mit ihm in Einklang zu setzen vermag" (ZZ 1925, 294). Es ist ein ewiges Geschehen, sofern es nie einen Status (weder in der empirischen Geschichte der Menschheit noch der des Individuums) schafft, der geistige oder seelische Gegebenheit wäre, sondern immer wieder durch das Wunder des Heiligen Geistes neu wird. Aber ein ewiges Geschehen, das also nicht als die ewige Bewegung des AOYOC einsichtig wäre, sondern das nur wirklich ist, sofern es von Gott aus geschieht und in unserer Zeitlichkeit eben durch das Wunder des Heiligen Geistes Ereignis wird. Aber eben dieser Begriff des ewigen Geschehens läßt das dialektische Verfahren (um nicht Methode zu sagen!) als die angemessene Redeweise der Theologie erscheinen. Denn indem ich von diesem ewigen Geschehen rede, als hielte es gleichsam auch nur einen Moment still für die Betrachtung und Fixierung in der Aussage, habe ich es schon verfälscht, und nur der beständige Vorbehalt, daß es so nicht gemeint sei, kann meinen Aussagen ihr Recht geben. Und dieser Vorbehalt wiederum wird praktisch, indem ich zum Satz den Gegensatz stelle. Wie das I aussieht, das ist von Barth (Ges. Vortr. 172) gezeigt -, soweit man das eben "zeigen" kann; denn im Grunde kann man es nicht, weil man hier überhaupt nichts in abstracto demonstrieren kann. Hier nämlich ist das Gespräch keine Fiktion, sondern es handelt sich in Satz und Gegensatz stets um das vom und zum wirklichen Menschen Gesagte, so daß umgekehrt die monologische Form theologischer Entwicklung Fiktion ist. Diese "Dialektik" ist dann aber nichts weniger als ein Gespräch, das als solches seine Voraussetzung setzt. Gerade dies vermag der theologische Dialektiker nicht (Barth, Ges. Vortr. 174), d. h. er vermag überhaupt nicht, seinem Reden Sinn und Wahrheit (= Wirklichkeit!) zu geben, weil er über die Voraussetzung nicht verfügt. Sein Reden ist deshalb nur Zeugnis von der Wahrheit Gottes, die "in der Mitte" liegt (Barth, Ges. Vorti. 173). Diese Wahrheit ist ja das Geschehen von Gott aus, Gottes Tat, d. h. für den Redenden weder vorausgesetzt als das immanente Denkgesetz, das jeder Aussage ihren Sinn gibt, nom
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vorgestellt als die vollendete Erkenntnis am Ende des unendlichen Weges alles OLIXAEjscr&IXL; sondern sie ist das Geschehene (in der Zeit Geschehene), auf das er sich bezieht, auf das er hinweist. Und nicht dadurch wird sein Reden ein Prozeß in infinitum, daß er immer Neueres, Wahreres von Gott sagen müßte, sondern dadurch, daß er den Hinweis auf das Geschehene sofort wieder dagegen sichern muß, als ein Hinweis auf ein objektiv nachweisbares Faktum der Menschheits- oder Seelengeschichte mißverstanden zu werden; denn es ist ja ein ewiges Geschehen! Der "Ernst dieser "Dialektik besteht also gerade darin, daß das Gespräch als allein angemessene Redeform dafür angesehen wird, daß von Gott die Rede ist. Gerade darin, daß sie sich nicht einbildet, den Ernst Gottes zu erreichen (Peterson, Was ist Theologie 7), gibt sie Gott die Ehre. Weder ist Gott hier eine dialektische Möglichkeit, noch ist hier von "Gott überhaupt oder vom "Menschen überhaupt die Rede, sondern vom offenbaren Gott und vom konkreten Menschen, d. h. freilich nicht vom empirischen Menschen (von seinen Erlebnissen oder dgl.), sondern vom existentiellen Menschen, den es nicht in der Abstraktion, sondern nur in seiner Wirklichkeit gibt!. Die Antwort auf die Frage, was ist Theologie? lautet also zunächst (vgl. Peterson, Was ist Th. 5), daß es Theologie nur in I dem gibt, daß von der Offenbarung Gottes als einem ewigen Geschehen, aber einem Geschehen, geredet wird; daß es freilich keine Theologie gibt, die in allgemeinen Sätzen von Gott redet, keine Theologie, die an Stelle Gottes redet, bzw. die den Ernst Gottes zu erreichen meint. Im Grunde aber kommt die Differenz zwischen Peterson und uns gar nicht in dieser Abgrenzung zum Ausdruck. Denn soweit Peterson hier gegen uns polemisiert, beruht seine Polemik auf einem - freilich verbreiteten - Mißverständnis. Daher gilt alles bisher Gesagte eigentlich vielmehr gegen unsere anderen Gegner als gegen Peterson. Unsere eigentliche Differenz aber ruht in folgendem: Wenn das OLctAEjscr&IXL der Theologie auf ein (von Gott aus erfolgtes) Geschehen als seine Voraussetzung hinweist, so ist damit gegeben, daß der Gegenstand der Theologie, sofern in ihr von Gott geredet wird, im Grunde allerdings CC
CC
CC
CC
1 Was heißt übrigens »empirisch"? Der »empirische" Mensch ist doch auch nur der in einer bestimmten Betrachtungsweise gesehene, nämlich der im von sich selbst absehenden Hinsehen erfaßte, d. h. als Naturding gesehene Mensch, nicht der wirkliche, mit dem wir im Miteinandersein von vornherein verbunden sind. Der empirische Mensch ist also eine Abstraktion.
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gar kein ~ka;AEy€cr&a;L zuläßt (soweit gehen wir also als Dialektiker!), sondern daß die einzig angemessene Art, von ihm zu reden, die Botschaft, die Verkündigung ist. Aber eben dieser Tatsache, d. h. ihres unmittelbaren Zusammenhangs mit der Verkündigung (als ihrer Voraussetzung, nicht ihrer Folge!) ist sich die "dialektische" Theologie bewußt, und darin unterscheiden wir uns von Peterson. Denn er gewinnt seine theologischen (dogmatischen) Begriffe nicht aus dem Ereignischarakter ihres Gegenstandes und verliert deshalb den direkten Zusammenhang der Theologie mit der Verkündigung. Er gewinnt seine Begriffe vielmehr aus der "Seinsordnung" (vgl. ZZ 1925, 290) mittels einer sog. Wesensschau. Wie das aber zugeht, zeigt am deutlichsten sein Aufsatz über den Lobgesang der Engel (ZZ 1925, 141-153). Hier beschreibt er zunächst die "höhere Seinsform" des Mystikers vom Blickpunkt des Mystikers aus; der Mystiker ist also eigentlich das Objekt der Betrachtung, und die Betrachtung ist im Grunde eine historische. Plötzlich aber ist unter der Hand dieser Blickpunkt mit dem der Wesensschau vertauscht, und die Mystik ist nun als Objekt gesehen, und sie wird als wirkliche Seinsweise mit der vom Mystiker intendierten einfach gleichgesetzt2 • So aber werden von Peterson beständig Wesenheiten ausgespielt, die in Wahrheit nur Begriffe einer jeweils bestimmten geschichtlichen Seinsauslegung sind, und die damit, daß sie vorhanden sind, noch nicht ihr Recht und ihre Gültigkeit ausgewiesen haben. Im Grunde liegen deshalb Wahrheit und Sein gerade für ihn, und nicht, wie er uns vorwirft, für uns in der Sphäre der AOYOL. Denn aus den AOYOL allein erhebt er seine Wesen-I heiten. Wenn dann freilich zu diesen Wesenheiten auch das gehört, daß sie auctoritas besitzen, je nachdem, welche Stelle sie in der Offenbarung einnehmen, so ist doch nicht einzusehen, wie es auf diesem Wege der Wesensschau zur Erfassung einer auctoritas kommen kann, und auch nicht, wieso die auctoritas hier etwas anderes sein kann als etwas, das man an diesen Wesenheiten konstatierend wahrnimmt. Von der auctoritas eines Wesens kann ich im Ernste doch nur reden, wenn diese auctoritas nicht etwas an ihm, sondern sein Sein ist, und wenn sie es für mich ist. Die Debatte zwischen uns müßte deshalb ganz anders geführt werden (und sie wird es hoffentlich noch); sie müßte von der Frage nach den Seinsbegriffen3 und nach der Möglichkeit, echte theologische Begriffe zu gewinnen, ge2 3
Vgl. H. Schlier, ZZ 1925, S. 410 A. 1. Vgl. H. Schlier, ZZ 1925, S. 410-414.
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führt werden. In der Polemik gegen unechte theologische Begriffe, gegen Rationalismus, Psychologismus und Historismus (also z. B. auch gegen Althaus) sind wir ja mit ihm ganz einig. Die Art seines Angriffs gegen uns und seine speziellen Vorwürfe haben zur Folge, daß unsere eigentliche Differenz hier immer nur indirekt oder gelegentlich zum Vorschein kommt. Aber wir müssen uns doch zunächst gegen seine Vorwürfe verteidigen. Die "dialektische" Theologie also hat gerade darin ihren "Ernst", daß sie die Ungleichheit ihres Redens mit dem göttlichen Reden, diesen ihren wie aller Theologie letzten Unernst sehr ernst nimmt. Dieser letzte Unernst bedeutet, daß alles auch noch so ernste Reden von Gott tatsächlich unter dem Vorbehalte des allein wirklich ernstmachenden Ernstes Gottes, wie er sich im Jüngsten Gerichte manifestiert (Peterson, Was ist Th. 7), steht. Diesen Vorbehalt bringt die "dialektische" Theologie zum Ausdruck. Unter diesem Vorbehalt allein würde Petersons Reden ein Recht haben, wenn schon es ein statisches Reden ist, das diesen Vorbehalt nicht zum Ausdruck bringt. Man kann natürlich fragen, warum nicht auch in statisch-undialektischer Weise von Gott geredet werden dürfe, in der Weise also, wie nach Peterson das Reden des Dogmas verläuft. Und es wäre zu antworten: daß dies allerdings geschehen darf und vielleicht auch geschehen muß, aber doch nur unter der einen Bedingung, daß dem, der so redet (und wenn es die Kirche wäre!), das Bestehen jenes ewigen, in der Göttlichkeit Gottes und der Menschlichkeit des Menschen ruhenden Vorbehalts so selbstverständlich ist, daß er gar nicht besonders zum Ausdruck gebracht zu werden braucht. Dann wäre freilich das statische Reden im höchsten Sinne dialektisch, eben in seinem ganz und gar Undialektischsein. I Aber das gilt für Peterson nicht. Er meint den vollen Ernst Gottes in seinem dogmatischen Reden gegenwärtig zu haben, das ja nicht mehr ein "Reden" sondern ein "Sprechen" ist. Er hat diesen Ernst, weil das Reden, das er hier meint, nicht sein Reden, sondern das der Kirche ist, die nichts anderes ist als die Verlängerung des furchtbaren, ewigen Ernstes Gottes in Christus in diese Zeit und Welt hinein. "Das Dogma liegt in der Verlängerung des Redens Christi von Gott, und darum ist die Autorität des Dogmas ... die Autorität Christi, die sich hier ,ausspricht'" (Peterson, Was ist Th. 21 f.). Und .zwar - und das ist das Entscheidende - wird diese ,Verlängerung' aufgefaßt als eine direkte, ungebrochene, keineswegs immer neu durch Gottes Wunder im Heiligen Geiste begründete wirkliche Verlängerung, sondern als eine einfache
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und undialektische Kontinuität der Offenbarungsgeschichte mit der Kirchengeschichte. Hier liegt unser eigentlicher Gegensatz. Vielleicht könnten wir alle Aufstellungen Petersons aufnehmen und mitsprechen, - denn wir sind wie gesagt eins mit ihm in der scharfen Gegnerschaft gegen allen Psychologismus und Historismus -, aber doch nur unter dem Vorbehalt, daß diese Kontinuität gebrochen wäre durch den Vorbehalt des Heiligen Geistes, welcher bedeutet, daß Gottes Ernst wirklich Gott selber vorbehalten bleibt und niemals an eine irdische Instanz, und wenn es die Kirche wäre, ein für allemal delegiert werden kann. übrigens dürfte sich auch Kierkegaard nicht über den Charakter und Sinn des dialektischen Verfahrens getäuscht haben. Gerade in der Schrift, auf die Peterson gelegentlich anspielt, in "Furcht und Zittern", sagt er sehr deutlich, daß der Dialektiker als Dialektiker es nicht weiter bringt als der gewöhnlichste und einfältigste Mensch (S. 28). Er wußte: "Ich kann die Bewegung des Glaubens nicht vollziehen" (29). "Die letzte Bewegung, die paradoxe Bewegung des Glaubens zu vollziehen, ist mir schlechthin unmöglich" (48). "Ich kann die Bewegungen des Glaubens wohl beschreiben, ausführen kann ich sie nicht" (33). Der Glaube wird gerade in "Furcht und Zittern" deutlich gegen die Resignation der Schwermut abgegrenzt. Und auch darüber, was Ernst sei, wußte Kierkegaard Bescheid und meinte gerade durch die Dialektik den Ernst der Sache zu wahren. "Der Ernst ist gerade, daß Christus keine direkte Mitteilung machen kann" (Einübung im Christent. 120). Wer Christus direkt reden läßt, der macht ihn menschlich "zu einem öffentlich ernsten Manne, beinahe so ernst wie der Pfarrer" (119). "Es wird damit begonnen, die direkte Mitteilung zu verweigern: das ist der Ernst" (124). "Alles I christliche Erkennen, wie streng auch seine Form sein mag, muß Sorge sein; das eben ist das Erbauliche. Die Sorge ist das Verhältnis zum Leben, zur Wirklichkeit der Persönlichkeit und so (christlich) der Ernst. Die Erhabenheit des gleichgültigen Wissens ist (christlich) so wenig höherer Ernst, daß sie (christlich) Scherz und Eitelkeit bedeutet. Der Ernst ist wieder das Erbauliche" (Krankh. z. Tode 3). "Die Spekulation kann sich ... mit der Sünde nicht befassen ... Wirklich ist nur das Einzelne, und so existiert Sünde nur als Sünde des Einzelnen. Das ist der Ernst ... , daß sie meine und deine Sünde ist - und so auch Sünde des spekulativen Denkers, der doch auch ein Einzelner ist. Soll er nun aber in seinem spekulativen Denken von dem Einzelnen (also auch von sich selbst als einem Einzelnen)
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absehen, so kann er nur ohne Ernst, also leichtsinnig an seine Sünde denken. In der Tat ist alles Gerede der Spekulation von der Sünde, ethisch (also sachgemäß, also richtig) betrachtet, leichtsinnig" (Krankh. z. T. 113 f.). Wenn Gott Mensch wird, "so ist dies Faktum der Ernst des Daseins. Und der Ernst in diesem Ernst ist wieder, ~daß darüber jeder eine Meinung haben soll" (123). Wer nur experimentiert (und das würde ja der Dialektiker Petersons tun), der "kennt keine Macht über sich; daher fehlt ihm der Ernst; und er kann nur einen Schein von Ernst vorspiegeln, indem er seinen Experimenten mit sich selbst die allerhöchste Aufmerksamkeit schenkt. Das ist, ob es ihm noch so ernst ist, nur affektierter Ernst, also eben kein Ernst. Wirklicher Ernst liegt nur in dem Gedanken, daß Gott auf den Menschen sieht" (63). "Bloß das Gottesverhältnis ist Ernst. Das Ernstliche ist gerade das, daß die Aufgabe auf eine höchste Höhe hinaufgedrückt wird, weil einer da ist, der den Druck der Ewigkeit anwenden kann. Der Ernst liegt darin, daß die Begeisterung über sich eine Macht hat und ihren Meister bei sich" (Leben und Walten der Liebe 199). "Ernst ist eines Menschen Verhältnis zu Gott; Ernst ist in dem, was ein Mensch so tut, denkt, sagt, daß er dabei an Gott denkt" (329). Ernst ist also nichts anderes als die unbedingte Sachlichkeit, und der Ausdruck des Willens, sachlich zu reden, ist die Dialektik, wie denn das Verhältnis zum Leben überhaupt ein dialektisches ist. "Der Ernst des Lebens ist das: in der alltäglichen Wirklichkeit die Idealität sein und ausdrücken zu wollen. Aber sie auch wirklich zu wollen: so daß man nicht, zu seinem eigenen Verderben, geschwind ein für allemal einen Strich darüber macht, sie auch nicht aufgeblasen wie einen Traum eitel nimmt (0, in beiden Fällen trauriger Mangel an Ernst!), sondern sie demütig in der Wirklichkeit will" (Einübung i. Chr. 164; dort auch über die Dialektik dieses Ernstes S. 199). "Der I kannte den Ernst nie, der nicht vom Ernst gelernt hat, daß man auch zu ernsthaft tun kann" (Leben u. W. d. Liebe 349). "Es kann einer gerade nicht ernsthaft vom Tode reden, wenn er nicht die im Tode liegende Hinterlist, die ganze tiefsinnige Schalkhaftigkeit des Todes zu benutzen weiß" (361). Ist über den Sinn der theologischen "Dialektik" Klarheit erreicht, so versteht sich die Auseinandersetzung mit den einzelnen Vorwürfen Petersons eigentlich von selbst. Wir sind mit ihm darin einig, daß für die Zeit zwischen Christi erster und zweiter Ankunft an Stelle alles dialektischen Fragens das Punkturn des Glaubens getreten ist (Peterson W. i. Tb. 8). Denn unser "dialektisches" Verfahren hat ja gar nicht
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den Sinn, als via dialectica den Glauben zu begründen oder zu ersetzen, sondern es erhebt sich auf dem Grunde des Glaubens und ist der Versuch, dem Glauben angemessen zu reden. Wir sind mit ihm darin einig, daß zum Glauben wesentlich gehört, daß er Gehorsam ist (a. a. 0.), und daß also in der Theologie konkrete Autorität und konkreter Gehorsam laut wird, daß in ihr Offenbarung vorausgesetzt und wirksam ist (a. a. O. 9). Wir wissen so gut wie er und Kierkegaard, daß die Existenz des Dialektikers als solchen kein Gehorsam ist, und wir hüten uns, sie dafür .auszugeben. Wir wissen also so gut wie er, daß der Gehorsam des Glaubens ganz undialektisch ist. Aber die entscheidende Frage ist doch: in welcher Weise wird in der Theologie Offenbarung "vorausgesetzt"? In welcher Weise wird in ihr konkrete Autorität und konkreter Gehorsam laut? Daß die Offenbarung weder eine Gegebenheit historisch-empirischen Charakters, noch eine Hypothesis im Prozeß des radikalen Denkens ist, weiß Peterson so gut wie wir, und seine Theologie hat wie die unsere die Absicht, über einen abstrakten Offenbarungs-, Autoritäts- und Glaubensbegriff hinauszukommen. Sein eigener Offenbarungsbegriff ergibt sich aus seiner Auffassung vom Sein des Menschen, als eines Wesens, das in dem Stufenbau von Seinsformen an einer bestimmten Stelle des Kosmos eingeordnet ist und die Möglichkeit hat, die ganze kosmische Seinsordnung in der Spekulation zu begreifen, ja auch seine eigene Seinsform zu steigern zu einer höheren, der göttlichen Seinsform näheren. Diese letztere Möglichkeit, so muß man Peterson doch wohl interpretieren, ist gegeben durch die Tats<;lchen der Schöpfung und der Offenbarung; und die Offenbarung ist - wie der Mensch ein kosmisches Wesen istein kosmischer Vorgang, der einmal stattgefunden hat und in der Form eines kausalen Prozesses (wie sonst?) weiterwirkt. Ein Wissen um die Offenbarung I kann es dann nur in der Form der Spekulation geben, innerhalb deren der Glaubensgehorsam das Datum der Offenbarung auf Grund irgendwelcher Autorität als gegeben hinnimmt. Hier ist in Wahrheit gar nicht von konkreter Autorität und konkretem Gehorsam die Rede, weil nicht vom konkreten Menschen die Rede ist. Denn der konkrete Mensch kann gar nicht verstanden werden als eine Wesenheit, die in einer kosmischen Seinsordnung ihre Stelle und damit ihre Sicherung hat. Der konkrete Mensch existiert nur in der Jeweiligkeit seines zeitlichen Seins, in seiner Geschichtlichkeit und damit in völliger Ungesichertheit. Er hat, weil die Zeitlichkeit seiner Existenz diese als eine immer im Ver lauf befindliche charakterisiert,
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gar nicht die Möglichkeit, sich in eine Seinsordnung eingegliedert zu sehen. Und von einer Offenbarung, die ein kosmischer Vorgang wäre, könnte er nicht nur nichts wissen, sondern sie ginge ihn auch gar nichts an. Ist nach unserer Meinung vom wirklichen Menschen nur die Rede, wenn er in der Jeweiligkeit seiner Zeitlichkeit gesehen ist, und ist Offenbarung das ewige Geschehen von Gott aus, das in unsere Zeitlichkeit, in unsere Geschichte eintritt, so ist die Offenbarung als" Voraussetzung" in unserem theologischen Reden nur dann vorhanden, wenn es Gott gefällt, diese Voraussetzung zu machen, sie wirklich werden zu lassen im Wirken des Heiligen Geistes. Der Gehorsam ist doch nichts, was in Rechnung gesetzt werden könnte als ein verfügbares Datum, sondern ob Gehorsam in unserer Theologie vorhanden ist, entscheidet Gott. Die Autorität, die in der Theologie laut werden soll, ist doch nicht unsere Autorität, sondern die Autorität Gottes, d. h. aber: sie ist keine direkte, für den Theologen verfügbare, sondern die Autorität des Geistes, über den wir nicht verfügen. Oder anders ausgedrückt: das Partizipieren am Logos, das nach Peterson (W. i. Th. 11) in der Theologie vorausgesetzt ist4 , ist kein direktes, sondern ist die durch das Wunder des Heiligen Geistes geschaffene Teilnahme des Menschen am Geiste Gottes. Wir treiben keine theologia gloriae. Das bedeutet ja alles nicht (und darin sind wir mit Peterson wieder einig; denn auf uns geht sein Satz S. 29 doch wohl nicht, daß in der Theologie der Neuzeit der Glaube eine Haltung der Seele sei), daß der realistische Charakter der theologischen Erkenntnis, der auf dem Realcharakter der Offenbarung beruht, vergessen oder preisgegeben sei. Es bedeutet aber, daß der Realcharakter der I Offenbarung diese nicht zu einem konstatierbaren objektiven Faktum macht, sondern daß es sich in ihr um ein Tun Gottes handelt, das sich nicht innerhalb irgendwelcher kosmischer Ordnungen vollzieht. Daher lehnen wir wie Peterson die Verbindung der Dogmatik mit der idealistischen Philosophie ebenso ab wie die Forderung eines "Systems der christlichen Lehre" und sind mit ihm der Meinung, daß von der Menschwerdung Gottes als einer dialektischen Möglichkeit reden, überhaupt nicht von ihr reden heißt (W. i. Th. 10). Wir lehnen aber ebenso Petersons Versuch ab, aus der Theologie eine Spekulation über menschliche und göttliche 4 Was heißt es übrigens, daß in der Theologie vorausgesetzt sei, daß Offenbarung, Glaube und Gehorsam in irgend einer Weise ein Partizipieren am göttlichen Logos involviert. In welcher Weise denn? Darauf kommt es ja gerade an!
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Seinsordnungen und ihre Beziehungen zu machen, also im Grunde eine transponierte Empirie, die die Konkretheit ihrer Objekte so wenig erreicht wie die naturwissenschaftliche die der ihren. Peterson hat natürlich ganz recht zu bestreiten, daß das Paradox der eigentliche Sinn der Offenbarung sei (W. i. 111. 11 u. 27). In der Tat handelt es sich im Christentum nicht um einen oder mehrere paradoxe Sätze, und man könnte fragen, ob das Reden vom Paradox nicht besser unterbliebe, weil der Terminus wie der der Dialektik durch den philosophischen Sprachgebrauch belastet ist. Im Ernste kann aber ja gar kein Zweifel sein, daß, sofern wir vom Paradox reden, das paradoxe Geschehen gemeint ist, nämlich das Geschehen, daß Gott dem Sünder gnädig ist. Als Satz ist das nicht im mindesten paradox, sondern das Verständlichste von der Welt; als Geschehen aber ist es das Unverständlichstes. Dies also, daß der Satz (denn nur im Satze läßt sich vom Geschehen reden!) von der Gnade Gottes für den Sünder als wahrer gesprochen werden kann, ist das Paradox. Hier das Paradox leugnen hieße wieder: die direkte, ungebrochene, dingliche Kontinuität des Offenbarungsgeschehens behaupten, also gerade nicht daran denken, daß Christus zum Himmel aufgefahren ist und den Geist gesandt hat. (Denn Christi Himmelfahrt wäre ja ein höchst überflüssiges Mirakel, wenn es direkte Kontinuität der Offenbarung gäbe.) "Nicht paradox" das hieße: - nicht etwa den Glauben ausschalten (denn von einer Theologie des Glaubens zu reden, dagegen wehrt sich Peterson mit Recht), sondern das Wundertun des Heiligen Geistes ausschalten, I der allein Offenbarung als Offenbarung sicherstellt (wie er ja auch erst den Glauben schafft). Es ist in der Tat völlig klar, daß es keine Theologie gibt, wenn Offenbarung nicht "eine relative Erkennbarkeit in sich birgt" (W. i. 111. 11), wenn sie (nämlich ihr Inhalt als Satz) paradox ist. Aber keiner von uns behauptet das doch! Wir sind vielmehr mit Peterson ganz einig, daß, wenn Offenbarung paradox ist, es eben keine Offenbarung gibt -, wobei eben zu verstehen ist: wenn der Inhalt der Offenbarung paradox ist. Im andern Sinne aber gilt: wenn die Offen5 Wir wissen also gar nicht, warum Peterson uns entgegenhält (W. i. Th. 27), daß das stoische Paradoxon, der Weise allein sei König, zwar ein paradoxer Satz sei, nicht aber die Aussage, daß das Kreuz Christi den Juden ein Argernis und den Griechen eine Torheit sei; nämlich deshalb nicht, weil auch das Kreuz Christi selber kein Satz sei. Eben dies betonen wir ja gerade, und eben weil wir wissen, daß wir und auch Peterson das nur in der Form eines Satzes aussprechen können, reden wir "dialektisch".
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barung als Geschehen nicht paradox ist, so gibt es auch keine, und dann auch keine Theologie, sondern nur Weltwissenschaft oder kosmologische Spekulation. So ist denn in der Tat der Glaube auch Erkennen -, aber warum nur in relativem Umfang? bzw. welchen Sinn hat es, dies hier zu sagen? Es kann sich im Glauben ja nur um das Erkennen der Offenbarung handeln, und da ist der Glaube Erkennen in vollem Umfang. Denn so wenig wie der Inhalt der Offenbarung ein Paradox ist, so wenig ist er ein Mysterium, demgegenüber von einem schrittweisen oder teilweisen Erkennen geredet werden könnte. Also wohl ist der Glaube ein Erkennen, und Theologie deshalb nicht mit Schriftstellerei zu verwechseln (W. i. Th. 13). Aber dieser Vorwurf ist doch wohl nur ein Fechterkunststück Petersons, denn wer kann, der den Elgersburger Vortrag gelesen hat, auf den Gedanken kommen, uns jene Verwechslung vorzuwerfen? Denn dieser Vortrag geht ja von der Unmöglichkeit der Situation des Theologen als der eines Standes aus -, und wie könnte diese Unmöglichkeit vom Schriftsteller ausgesagt werden! Und dieser Stand des Theologen hat nun, das ist unsere Meinung, die unmögliche Aufgabe, von Gott zu reden. Wovon denn sonst in aller Welt? - Aber Peterson bestreitet uns ja nicht das Objekt, sondern das Verhalten zu ihm, eben das "Reden". Daß dies "Reden von etwas" die einzige religiöse und geistige Möglichkeit des Menschen wäre (W. i. Th. 14), hat zwar wohl niemand von uns gesagt oder gedacht. Aber das meinen wir allerdings, daß der Mensch auch als Theologe die Grenzen seiner menschlichen Möglichkeiten nicht so weit überspringen kann, daß er aufhört, ein ~00Y AOYOY EXOY zu sein, d. h. daß er nur im Reden sich und andern zum Bewußtsein bringen kann, was er vernimmt und mitteilt, d. h. also, daß das "Reden von etwas" in der Tat zur menschlichen Existenz als menschlicher gehört. Und weil dies Reden als solches nie die Sache selbst hat und vermitteln kann, meinen wir, daß es wirkliches Reden von Gott nur als Gottes Wort selbst geben kann, I bei Christus, oder als unser Reden, nur insofern der Geist solches Reden gibt. Mag von irgendeinem betrachtenden Standpunkt aus die Differenzierung der Terminologie zutreffen (und dies zu bestreiten, fällt uns gar nicht ein), daß Christus "redet", die Propheten und Prediger "sagen" und die Kirche und die Theologie "spricht": wer in der Welt als Mensch sich in Worten vernehmen läßt, der redet; und ob dies "Reden ein Reden", "Sagen" oder "Sprechen" im differenzierten Sinne sei, das steht gar nicht bei ihm. Die Petersonsche Theo-
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logie aber ist, wenn sie dies vergißt, gar keine Theologie von Menschen, sondern von Mystagogen oder meinetwegen von Engeln oder Seligen. Menschliche Worte und menschliches Reden aber sind Worte und Reden "über etwas", d. h. sie haben von vornherein die Tendenz, abgesehen von der existentiellen Situation des Redenden (und Hörenden) verstanden zu werden als Sätze, die ihren Sinn in sich befassen. Daß solches "Reden über" keinen Sinn hat, wenn es sich um Gott handelt, suchte der von Peterson angegriffene Aufsatz in den Theologischen Blättern (1925 Nr. 6) zu zeigen, und er suchte weiter zu zeigen, unter welcher Bedingung ein solches "Reden über Gott", das uns nicht erspart bleiben kann, ein "Reden aus Gott" sein könne. Die einfache Antwort lautete: wenn es Gott gefällt. Und daß diese Antwort nur Sinn hat als Antwort des Glaubens, der im Gehorsam die Verheißung des göttlichen Wortes ergreift, wurde dort auch gesagt6. Daß die Möglichkeit "aus Gott" zu reden nur eine dialektische sei (W. i. Th. 17), wäre ein Satz des Unglaubens. Daß aber die Realisierung dieser Möglichkeit nicht in unserer Verfügung steht, ist doch wohl genug zur Sicherung gegen den Vorwurf, daß man sich mit Christus verwechsle. Wenn diese Möglichkeit im Glauben ergriffen wird, so kann doch keine Verwechslung stattfinden, denn Christus ist doch kein Glaubender! Das allerdings ist zu sagen: wo das Reden aus Gott Wirklichkeit wird, wo es ein geistgegebenes ist, da ist es das Reden Christi, aber doch nicht als unseres! I Ist Gott aber der Gegenstand unseres menschlichen Redens, so werden wir uns, gerade um nicht philosophische Dialektik zu treiben und um nicht zu spekulieren, klar machen, daß wir von uns reden müssen. Daß das nicht heißt: von unseren Erlebnissen, ist doch wohl deutlich genug gesagt. Daß wir aber dann von unserer Wirklichkeit reden, in der wir allein ein Sein zu Gott haben können, sollte ebenso deutlich sein. Denn "bloß Gott ist nicht Gott. Er könnte auch etwas anderes 6 Eins wurde dort allerdings versäumt, nämlich darauf hinzuweisen, daß das gesprochene Wort seinen echten Sinn nur hat, als zu dem Hörer gesprochenes, m. a. W. daß das wirkliche Sein des Menschen ein Miteinandersein ist, oder daß für das Wort das Gehörtwerden wesentlich ist. Wie denn bezeichnender Weise das gepredigte Wort vom Glauben im Neuen Testament auch &xo1j 7\"[cr't"e:cu<; genannt wird. Der Charakter der Theologie aber im Unterschied von der Predigt ist der, daß sie nicht zu konkreten Hörern redet. Daraus folgt einerseits, daß die Theologie ihren Sinn nur haben kann als kirchliche Theologie (d. h. darin, daß sie in der Gemeinde und für sie geschieht), andrerseits aber, daß sie in der Tat als menschliches Unternehmen nur ein "Reden über" sein kann.
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sein. Der Gott, der sich offenbart, ist Gott" (Barth, Ges. Vortr. 169). "Der sich offenbart", d. h. doch wohl: der in unsere Wirklichkeit spricht. Oder wie Herrmann es ausdrückte: "Was ein allmächtiges Wesen für sich selbst sei, bleibt uns verborgen. Aber in dem, was er an uns wirkt, ist er erschienen. Von Gott können wir nur sagen, was er an uns tut" (Die Wirklichkeit Gottes 41 f.). Oder w:ie es bei Luther heißt: "Und hie sehen wir auch, daß an Christum gläuben nicht heiße gläuben, daß Christus eine Person ist, die Gott und Mensch ist; denn das hülfe niemand nichts; sondern daß dieselbige Person Christus sei, das ist, daß er umb unseretwillen von Gott ausgegangen und in die Welt kommen ist, und wiederumb die Welt verläßt und zum Vater gehet"7. Oder endlich wie Melanchthon sagte: Christum cognoscere id est beneficia eius cognoscere. Daß man sich damit nicht zum Christus macht (W. i. Th. 15 f.), ist doch wohl deutlich. Denn redet der Satz, daß ich ein Sünder bin und daß Gott dem Sünder gnädig ist, etwa nicht von Gott, eben sofern er von mir redet? Redete er nicht von mir, so wäre er sinnlose Spekulation, was gerade auch Kierkegaard wußte (s. o. S. 48). Daß er freilich etwas Wirkliches sagt, steht nicht bei mir. Und eben davon, d. h. von der menschlichen Situation, nehmen wir den Theologen nicht aus, weil wir nicht theologia gloriae treiben dürfen. Wir meinen nicht, daß der Theologe, sofern er in der Kirche oder die Kirche in ihm spricht, eine direkte Autorität habe und ihm der Geist, der allein sein Reden zu einem lebendigen machen kann, zur Verfügung ~eht. Denn jede Qualifikation eines Redenden (oder auch Lobsingenden), die mehr besagt, als was innerhalb der menschlichen Möglichkeiten liegt, steht nicht bei uns, um sie an einen Redner auszuteilen. Deshalb kümmert es uns wenig, eine Ahnenreihe zu nennen, in der Propheten und Apostel neben Reformatoren und Schriftstellern stehen (W. i. Th. 27), - nämlich dann nicht, wenn wir darüber reflektieren, welches Verfahren für unsere Theologie als menschlichen Versuch, von Gott zu reden, das angemessenste sei. Und deshalb beruhigt es uns auch nicht, daß "man" (wer?) sagen I kann: das Subjekt der Theologie sei nicht der Theologieprofessor, sondern primär Christus und sekundär die Kirche (W. i. Th. 30). Denn das hilft uns nichts, wenn wir Theologie treiben wollen, da wir eben dies nur als Theologieprofessoren tun können. Das bedeutet natürlich nicht, daß nach unserer Meinung die Sprache des Dogmatikers ein unmittelbares Reden von dem sei, was 7
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er glaubt (ZZ 296). über seinen Glauben verfügt er ja gar nicht! Und wir können in der Tat mit Peterson sagen, daß der Dogmatiker darlegt, was die Kirche glaubt (a. a. 0.), nur daß die Kirche für uns keine so eindeutige Größe ist wie für Peterson8 • Sofern aber Theologie mit Autorität redet (und darin sind wir wiederum mit Peterson einig), ist sie kein menschliches Unternehmen. Sie redet mit Autorität (sie "spricht" also), wenn Gottes Wort in ihr lebendig ist, wenn der Geist in ihr wirkt. Sofern das aber der Fall ist, ist ihre Autorität keine "abgeleitete" (W. i. Th. 16), d. h. unter dem Bilde einer kontinuierlichen Emanation vorzustellende, sondern eine durch Gottes jeweiligen Herrscherakt übertragene. Für uns, die wir als Theologen uns zu reden unterfangen, hat diese Autorität freilich nur den Sinn, daß sie uns die Theologie zu einem Auftrag macht. Wir müssen Theologie treiben; wehe uns, wenn wir es nicht täten! Aber als direkte Autorität können wir sie nicht geltend machen, sie ist also nur eine indirekte. So bequem haben es doch weder wir Theologen, daß wir für unsere Sätze Autorität in Anspruch nehmen könnten, noch auch die Laien, daß sie sich auf unsere Sätze als Autorität beziehen könnten, mag das auch anderwärts der Fall sein. Aber eben deshalb (weil nur "die Offenbarung selber letzthin das eigentliche Wesen der Theologie bestimmt" W. i. Th. 19), gibt es anderwärts keine Theologie, d. h. kein Reden auf Grund von Offenbarung und Gehorsam. Doch ist eben dies wieder ein theologischer Satz, der in der "Dialektik" des ganzen theologischen I Denkens steht; denn der Blick auf andere "Theologien" kann uns unser Unternehmen doch immer wieder fragwürdig machen. Jener Auftrag aber, unter dem die Theologie steht, ist nichts anderes als "der konkrete Vollzug dessen, daß der Logos Gottes konkret von B Warum sagt übrigens Peterson (ZZ 297), daß es sich in der Dogmatik um das Erkennen der "Lehre" einer Kirche handelt? Warum einer? wenn es nicht um die Lehre der Kirche geht, ist die Dogmatik ja eine abstrakte Möglichkeit, die sich beliebig oft verwirklichen kann. Handelt es sich in ihr (wie Peterson richtig sagt) um ein Erkennen Gottes, so kann es doch nur eine Dogmatik, nämlich die der christlichen Kirche geben. So wenig mit Glaubenslehren verschiedener Theologen gedient ist, so wenig doch mit verschiedenen, gleichmäßig den Anforderungen einer Dogmatik entsprechenden Dogmatiken einzelner historischer Kirchen. Die Anforderungen, die an die Dogmatik zu stellen sind, sind doch keine bloß formalen, sondern diejenigen, die daraus erwachsen, daß von einer bestimmten Heilstat Gottes geredet werden soll. Aber ferner: im allgemeinen redet auch Peterson ja von der Kirche. Aber wo ist diese, wenn die Möglichkeit (und Tatsächlichkeit) besteht, daß "die Kirchen" nichts mehr davon wissen, daß es Dogma gibt (W. i. Th. 24)?
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Gott geredet hat" (W. i. Th. 19). Aber um deswillen ist die Theologie noch nicht die "Elongatur der Logosoffenbarung" (ebd.) im direkten Sinne, sondern nur in dem indirekten. Sie ist ein menschliches Unternehmen, das in göttlichem Auftrag geschieht und unter der Verheißung steht, daß Gottes Geist unser Wort zu einem lebendigen Wort machen will, das Autorität ist. Warum aber wird zwischen Theologie und Offenbarung noch das Dogma eingeschoben? (W. i. Th. 19 ff.). Wir kennen "das" Dogma überhaupt nicht, und wir fragen uns, warum uns Peterson nicht sagt, wo und was dieses Dogma sei! Wir kennen nur Dogmen, die wir freilich nicht als "Bekenntnisse" ansehen, so wenig für uns die Theologie in der Verlängerung des Glaubensaktes liegt (W. i. Th. 21). Die Dogmen fixieren jeweils einen Stand der theologischen Arbeit und nehmen damit am zweideutigen Charakter aller Theologie und theologischen Autorität teil. Wir meinen also freilich nicht, sie durch historische Betrachtung zu erledigen. Denn so wenig wie die Theologie ein Wissen auf Grund menschlicher Voraussetzungen ist, sind ihre Ergebnisse, die Dogmen, zufällige Schulmeinungen bzw. Stadien eines Entwicklungsprozesses. Ihr Sinn liegt ja in dem Unanschaulichen, von dem sie reden; sie haben den Charakter des Hinweises, des Zeugnisses von der in der Schrift bezeugten Offenbarung Gottes. Aber damit verlieren sie nicht den Charakter menschlicher Formulierungen, die im Zusammenhang einer Entwicklungsgeschichte menschlichen theologischen Denkens stehen, und kein kirchlicher Spruch kann sie davon befreien. Ihre Autorität ist also wie die der Theologie eine indirekte; sie besteht nur durch die Beziehung auf die Offenbarung. Als Menschenwort aber stehen die Dogmen unter dem Gericht des in der Schrift offenbaren Wortes Gottes. Das bedeutet wiederum nicht, daß wir die Bibel prinzipiell gegen das Dogma ausspielen (Peterson, ZZ 299), sondern daß das Dogma sich an der Schrift zu legitimieren hat9• I 9 Dies alles ist gut lutherisch nach dem Eingang der Formula concordiae, wo es heißt: credimus, confitemur et docemus unicam regulam et normam, secundum quam omnia dogmata omnesque doctores aestimari et iudicari oporteat, nullam omnino aliam esse, quam prophetica et apostolica scripta cum veteris tum novi testamenti ... Reliqua vero sive patrum sive neotericorum scripta, quocunque veniant nomine, sacris litteris nequaquam sunt aequiparanda, sed universa illis ita subiicienda sunt, ut alia ratione non recipiantur, nisi testium loco, qui doceant, quod etiam post apostolorum tempora, et in quibus partibus orbis doctrina illa prophetarum et apostolorum sincerior conservata sit ... Hoc modo luculentum discrimen inter sacras veteris et novi testamenti litteras et omnia aliorum scripta retinetur, et sola sacra
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Den Unterschied von Theologie und Dogma mag man so formulieren, daß alle Theologie zum Dogma tendiert, daß sie der immer im Fluß befindliche Prozeß der Reflexion und Argumentation (damit auch der Kritik) ist, während die Dogmen die jeweiligen Ergebnisse der theologischen Arbeit sind. Natürlich kann man sagen, daß die Kirche das Dogma jeweils kreiert (ZZ 297 f.), aber das ist für uns ein historisches Urteil; denn direkte Autorität durch die Kreierung eines Dogmas auszuüben, steht einer Kirche (denn es kann sich hier doch nur um eine jeweilige Kirche handeln) so wenig wie dem Professor zur Verfügung. "Das" Dogma ist eine ideale Größe, nämlich die vollendete Theologie; hätten wir "das" Dogma, so brauchten wir keine Theologie mehr. Das Dogma kann also gar nicht Gegenstand der Theologie sein, sondern es ist ihr Ziel, ihre Vollendung. Daher muß denn in der Tat" das" Dogma, nicht der Theologe die innere Form der Dogmatik bestimmen, wie Peterson mit Recht sagt (ZZ 300). Gegenstand der Theologie ist allein die Offenbarung Gottes, wodurch die Theologie denn auch grundsätzlich aus der Verbindung mit den sogenannten Geisteswissenschaften gelöst ist (W. i. Th. 23). In gewissem Sinne sind freilich auch die Dogmen Gegenstand der Theologie, insofern zu ihr die kritische Besinnung über ihre eigene Arbeit gehört, da alle ihre Ergebnisse nur die relative Geltung beanspruchen können, die sich durch die Beziehung auf die Schrift ausweist. Die Alternative also, ob zwischen theologischen Schulmeinungen und dem Dogma zu wählen sei (W. i. Th. 24), dürfen wir abweisen. Und wollte man statt dessen fragen, ob zwischen theologischer Schulmeinung und Offenbarung zu wählen sei, so könnten wir uns für die zweite Seite entscheiden, wenn wir dabei nur nicht vergessen, daß wir die Offenbarung nie direkt haben. Die Alternative muß in Wahrheit heißen: Theologische Schulmeinung oder Glaube an die Offen- I barung in Gottes Wort. Und wir wissen, daß wir diese Alternative nicht selbst entscheiden können, sondern daß der Geist den Glauben wirkt. scriptura iudex, norma et regula agnoscitur, ad quam seu ad Lydium lapidem omnia dogmata exigenda sunt et iudicanda, an pia an impia, an vera, an vero falsa sinto Cetera autem Symbola et alia scripta, quorum paulo ante mentionem fecimus, non obtinent auctoritatem iudicis; haec enim dignitas solis sacris litteris debetur: sed duntaxat pro religione nostra testimonium dicunt eamque explicant ac osten_dunt, quomodo singulis temporibus sacrae litterae in articulis controversis in ecclesia Dei a doctoribus, qui tum vixerunt intellectae et explicatae fuerint, et quibus rationibus dogmata cum sacra scriptura pugnantia reiecta et condemnata sint.
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Wie sehr die ganze Denkweise Petersons auf die Ausschaltung des Heiligen Geistes hinausläuft, wird klar bei der überlegung seiner Thesen über Schrift und Predigt. Ausgeschaltet ist zwar der Heilige Geist in seinen Reflexionen nicht, aber umgeschaltet: denn er ist durchgängig und mit stärkster Konsequenz auf die Institution bezogen, d. h. auf die lehrende, die Sakramente verwaltende und predigende Kirche. Aber eben damit ist er nach unserem Verständnis ausgeschaltet. Von hier aus wird es verständlich, daß Peterson z. B. kein Interesse an einer gen auen Inspirationslehre zeigt. Er spricht (W. i. Th. 29) merkwürdig undogmatisch von Theorien in der Inspiration, während für uns die Frage nach der Inspiration gerade an diesem Punkte eigentlich brennend wird. Für Peterson ist die Inspirationslehre durch seine Lehre vom Dogma ersetzt. Denn bei allem eben konstatierten Unterschied zwischen ihm und uns kommt nun doch in seiner Anschauung wieder ein gemeinsames Anliegen zum Ausdruck. Seine Lehre vom Dogma ist nämlich in Wahrheit der Schutz gegen eine Auffassung von der Schrift, die diese als ein Kompendium von Lehren im Sinne der orthodoxen Inspirationslehre oder des Biblizismus nimmt oder sie auffaßt als eine Sammlung von Schriften oder Reden prophetischer Persönlichkeiten; m. a. W. sie ist der Schutz gegen die direkte Identifizierung von Schrift und Offenbarung. Deshalb sind wir mit Peterson darin einig, daß die Schrift Gottes Wort erst sagt, wenn sie gesagt (und wie wir hinzufügen müssen: gehört) wird. Wie der, der Mose und Jeremia, Matthäus und Paulus hört, nur Zeugnis von Offenbarung hört (Barth, ZZ 1925 S. 220), so hört auch, wer heute den Exegeten und Prediger hört, nur Zeugnis, und Exegese wie Predigt sind insofern nur die gradlinige Fortsetzung des alttestamentlichen Prophetentums, aber nicht die Fortsetzung dessen, daß der fleischgewordene Logos von Gott geredet hat. Die Theologie ist also in der Tat weder Systematisierung der biblischen Begriffe und Lehren, noch die historische Beschreibung des Glaubens, Lebens und Lehrens der biblischen Personen. Sie setzt vielmehr voraus (in dem früher angegebenen Sinne), daß die Schrift wirklich Zeugnis der Offenbarung ist, und sie redet von der Offenbarung; sie ist also insofern wirklich der konkrete Vollzug dessen, daß der Logos Gottes konkret von Gott geredet hat, und nur die Offenbarung kann letztlich ihr Wesen bestimmen (W. i. Th. 19). Deshalb können wir uns auch völlig zu dem von Peterson über das Verhältnis der Christus- I offenbarung zum prophetischen Wort Gesagten (W. i. Th. 30, A. 20) bekennen,
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unter der einen Voraussetzung, daß hier mit dem "Offenbarungsgeschehen" das gemeint ist, was wir als das ewige Geschehen bezeichnet haben. Wir stimmen also zu: "Für das prophetische Sagen ist die Bibel ein völlig adäquates Medium. Für das Reden Christi ist aber wesentlich, daß es nicht in die Bibel adäquat eingeht, insofern Christus nicht nur Gottes Wort gesagt hat, sondern es gewesen ist." Aber wir können nicht mit fortfahren: "Durch das Dogma wird die Gefahr beseitigt, die darin liegt, daß die biblische Vermittlung des Redens Christi aus seinen Reden von Gott ein prophetisches Sagen macht" (a. a. 0.). Denn freilich sehen wir diese Gefahr auch, aber Peterson scheint uns eben jenen Fehler zu machen, den Heiligen Geist auszuschalten und eine kontinuierliche Fortsetzung der Offenbarung im Dogma zu statuieren. Jene Gefahr läßt sich nämlich überhaupt nicht durch eine verfügbare, objektive Instanz beseitigen, sondern wir stehen dauernd in der Ungesichertheit, die nirgends anders überwunden wird als im gläubigen Hören des Zeugnisses; d. h. es läßt sich nicht durch irgendein Dogma die Offenbarung zum direkten Inhalt der Aussage machen, sie kann nur immer Ereignis werden im gläubigen Hören des Zeugnisses. Und trotzdem stimmen wir wiederum mit Peterson darin überein, daß das Dogma doch in gewissem Sinne die Rettung bedeutet -, bedeutet im eigentlichen Sinne, sofern es Hinweis, Zeugnis ist, nicht für die Schrift, sondern für die in der Schrift bezeugte Offenbarung. So ist es also notwendige Lebensäußerung der Kirche; denn diese sichert sich durch das Dogma selbst dagegen, die Schrift in direktem Sinne als Offenbarung zu verstehen, sei es im Sinne der orthodoxen Inspirationslehre, des Biblizismus oder der modernen Anschauung von "Gott in der Geschichte". Und sie bekundet durch das Dogma, daß sie ernst damit machen will, die Schrift als Zeugnis zu verstehen, indem sie im Dogma von dem Bezeugten redet und selbst so Zeugnis ablegt. Und deshalb ist die Theologie insofern allerdings immer Exegese, als sie den Zugang zur Offenbarung nur durch das Zeugnis der Schrift hat und in der Exegese zu erfassen sucht, was die als Zeugnis verstandene Schrift sagt. Ihrer Form nach ist also Theologie immer Exegese der Schrift. Ihrem Inhalt nach ist sie Reden von der Offenbarung. Da diese aber das ewige Geschehen ist, unter dem als dem Gericht oder der Vergebung der wirkliche Mensch steht, ist der Gegenstand der Theologie nichts anderes als die begriffliche Darstellung der Existenz des Menschen als durch Gott bestimmter, d. h. so wie er sie im Lichte der Schrift sehen muß.
FRIEDRICH GOGAR TEN
Die ganz eigentümliche und den Zeitgenossen monströs anmutende Wirkung der "dialektischen Theologie" ist wesentlich in der Kampfgemeinschaft zwischen Kar! Barth und Friedrich Gogarten begründet. Im Kampf gegen die Kulturtheologie des· 19. Jahrhunderts und gegen die vielfältigen religiösen Bewegungen der ersten Nachkriegsjahre in Deutschland war Gogarten der eigentliche Künder des "Neuen", den man hörte. Rückschauend schreibt er 1937: "Es war nicht nur eine andere Weise, in der man hier und dort nach Gott fragte, sondern es war ein anderer Gott, nach dem hier und dort gefragt wurde" (Der Zerfall des Humanismus und die Gottesfrage, 1937). In diesem radikalen Sinne wird man die leidenschaftliche Absage an die herkömmliche Theologie verstehen müssen, mit der Gogarten 1920 durch seinen Aufruf "Zwischen den Zeiten" in der "Christlichen Welt" in die Offentlichkeit trat. Mit diesem Kampfruf wurde Gogarten für Barth zu einem "Dreadnought für uns und gegen unsere Widersacher" (Antwort, 858). Nicht von ungefähr stellte sich das gemeinsame Organ von Barth, Thurneysen und Gogarten, mit Schriftleitung durch Georg Merz 1922 unter diesen Titel und das darin angezeigte Programm. Der Vortrag "Die Krisis unserer Kultur", den Gogarten 1920 auf der Wartburg den "Freunden der Christlichen Welt" hielt, wirkte ähnlich. Der Dichter Wilhelm Schäfer glaubte, Luther selbst zu hören: "Es brannte göttliche Dämonie in ihm, wie sie in Jesus war, als er die Tische der Wechsler im Tempel umstürzte." Ahnlich beeindruckt war der Marburger Neukantianer Paul Natorp (vgl. Christliche Welt, 1921, Nr. 23, 402 ff.). Aus der Fülle der Diskussionen, die Gogarten im Anschluß an diesen Vortrag und einen anderen über die "Not der Absolutheit" (Christliche Welt, 1921, 142-145), mit der Anthroposophie, zu der gerade der berühmte Nürnberger Kanzelredner H. Rittelmeyer übergewechselt war, mit dem religiösen Sozialismus, den der Quäkerfreund Emil Fuchs vertrat, mit der Kulturtheologie seines Heidelberger Lehrers Ernst Troeltsch und mit der "Lutherrenaissance" von Kar! Holl und Emanuel Hirsch streitbar führte, werden hier die Stimmen von Fuchs und Troeltsch gebracht. Erste - freundliche - Differenzen innerhalb des Kreises, der sich um "Zwischen den Zeiten" sammelte, traten an Gogartens Lehre vom "modernen Menschen" hervor, auf die sich Barth und Thurneysen nicht einließen. Sie traten, genauer gesagt, in dem Augenblick hervor, in dem Gogarten zur überwindung des neuzeitlichen Subjektivismus (Fichte, vgl. Gogartens frühe Schriften: Fichte als religiöser Denker, 1914; Religion weither, 1917) und zur positiven Formulierung des Gottesgedankens Ferdinand Ebners Personalismus aufnahm, wie er .zuerst in dessen Schrift "Das Wort und die geistigen Realitäten. Pneumatologische Fragmente", 1921, entworfen wurde. Die Freundschaft mit Eberhard Grisebach, die etwa aus der gleichen Zeit datiert, förderte diese Entwicklung der Theologie bei Gogarten. Es ist hier darum der Vortrag "Gemeinschaft oder Gemeinde", 1923, wieder abgedruckt, in dem Gogartens Verarbeitung des Personalismus zuerst greifbar wird. Barths Befremden darüber geht hervor aus einem Brief vom 7. Okt. 1922 (Gottesdienst - Menschendienst, 46 f.). Thurneysens Kritik am Fehlen einer" wirklichen Eschatologie" bei Gogarten findet sich in einem Brief vom 23. Febr. 1923 (ebda. 69 ff.). Die wesentliche Quelle für Gogartens Theologie aber lag weniger in der Aufnahme des philosophischen Personalismus als vielmehr in einer sehr eigenständigen Wiederentdeckung Luthers. Sein Nachwort zu Luthers Schrift "De servo arbitrio" , die in den zwanziger Jahren so stark Furore machte, bringt sein Lutherverständnis gesammelt zum Ausdruck.
ZWISCHEN DEN ZEITEN 1.
Das ist das Schicksal ·unserer Generation, daß wir zwischen den Zeiten stehen. Wir gehörten nie zu der Zeit, die heute zu Ende geht. Ob wir je zu der Zeit gehören werden, die kommen wird? Und wenn wir von uns aus zu ihr gehören könnten, ob sie so bald kommen wird? I So stehen wir mitten dazwischen. In einem leeren Raum. Wir gehören nicht zu den Einen, nicht zu den Andern. Nicht zu denen, die vor uns gehen und die uns zu ihren Nachfolgern machen und uns ihre Gedanken und überzeugungen als Erbe lassen möchten. Wir können ihnen nicht folgen. Wir konnten es nie. Wo wir es taten, taten wir es nur, um zu sehen, wie sie es machten. Aber nie um ein Vorbild, ein Beispiel für unser eigenes Tun zu haben. Wir sind gescholten worden darum, als Individualisten, als Nörgler, als Eigenbrödler. Wir haben darunter gelitten. Aber wir konnten nicht anders. Eure Gedanken waren uns fremd, immer fremd. Wenn wir sie dachten und gebrauchten, war' es uns, als wenn uns eine Leere von innen her würgte. Wo wir Euch hörten, hörten wir den besten, treusten Willen, aber es klang unseren Ohren hohl, hohl. Weil wir sonst nichts hörten als den besten Willen. Aber das war doch Eure Absicht und unsere Sehnsucht, mehr zu sagen und mehr zu hören. Ihr sprachet doch von Göttlichem und nicht nur von Menschlichem. Ihr wolltet es. Ihr wißt nicht, wie uns das gequält hat, daß wir nicht mehr hören könnten. Denn wir konnten uns selbst nicht finden (wir suchten ja bei Euch; ja, wir suchten) und Ihr ließet uns leer. Nie hat uns darum die quälende Frage verlassen, ob wir, die wir mit dem Wort einmal Alles geben sollten, überhaupt einmal etwas zu geben hätten. Wir bekamen ja nichts. Viel Lehrreiches, viel Interessantes, ja, aber nichts, was dieses Wortes wert gewesen wäre.
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2. Wir haben Euch manches Mal in unserer Not gezürnt, weil Ihr uns allein ließet. Und weil Eure Worte so schwach, so leer waren, daß sie zu Boden sanken, bevor sie uns erreichten. Und dann am meisten, wenn uns die Not, nichts zu haben, mit dem wir einmal vor die Menschen treten konnten, zu Euch trieb und wir durch alle Eure Antworten auf Eure Fragen unsere Frage zu Euch schrien. Heute habt Ihr auch einmal eine Not, die an Eure geistige Existenz rührt. Aber sie kommt Euch von außen, aus den äußeren Umständen. Ihr fürchtet um Eure Wissenschaft wegen der Druckerkosten und der Papierpreise. Aber diese Wissenschaft ist ja innerlich längst am Ende. Das soll gewiß keine Schmähung sein, ganz gewiß nicht. Heute wissen wir, daß wir von Euch keine Antwort auf unsere Frage verlangen konnten, weil Ihr unsere Frage gar nicht verstandet und vielleicht auch heute noch nicht versteht. Denn Ihr gehört einer anderen Zeit als wir, die wir vielleicht keiner gehören. Könnten wir Euch unsere Frage ganz deutlich machen, wir müßten die Antwort auf sie haben. Aber noch haben wir nur ein dunkles Ahnen der Antwort und sind froh, daß es langsam, langsam heller wird. Und weil wir nicht mehr von Euch verlangen, was Ihr uns nicht geben könnt, können wir dankbar von Euch nehmen, was Ihr habt. Aber fortsetzen können wir Eure Arbeit nicht. Und ob die es tun werden, die hinter uns kommen? Darauf brauche ich keine Antwort zu geben. Wir gehörten nie zu Eurer Zeit. Es konnte deshalb geschehen, daß Ihr mit einem und demselben Atemzug erschraket über unseren Radikalismus und über unsere reaktionäre Gesinnung. So fern waren wir dieser Zeit, daß wir uns immer nur außer ihr suchen konnten, und Nietzsche und Kierkegaard, Meister Eckehard und Lao-Tse, sind manchen unter uns mehr Lehrer gewesen als selbst die von Euch, denen wir unser ganzes geistiges Werkzeug verdanken.
3. Heute sehen wir Eure Welt zu Grunde gehen. Was diesen Untergang betrifft, so könnten wir über ihn sei seelenruhig sein, wie wenn wir etwas vergehen sähen, dem wir durch garnichts verbunden sind. Wir
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sind ihm auch nicht verbunden. Daß es uns trotzdem bewegt, ist nur, weil sich vor unseren Augen etwas begibt, was wir schon längst wie leibhaftig gesehen haben. Ich weiß nicht, ob in Träumen. Aber es war viel leibhaftiger, viel wirklicher als ein Traum jemals sein kann. Es war immer in uns wie eine tiefe Erfahrung. Es I war wohl im Geheimen, ohne daß wir es wußten, immer die Voraussetzung für unser Verhalten dieser Zeit gegenüber. Darum erkennen wir wohl auch die Zersetzung bis in die verborgensten Winkel hinein, wo Ihr sie noch nicht seht. Wir sahen sie ja schon längst, bevor sie so offenbar wurde, wie sie es heute ist. Wir mögen nicht die Hand rühren, um sie ·aufzuhalten. Was sollen wir denn da aufhalten? Und wie sollten wir es? Alle diese Dinge sind ja längst zersetzt. Sie sind längst entwicklungsgeschichtlich erklärt, längst in den Strom der allgemeinen Geschichte hineingestellt. Sie wurden es gerade in dem Augenblick, in dem Ihr sie wissenschaftlich bearbeitetet. Nicht einen Augenblick vorher hättet Ihr das gedurft. Das ist tot, worauf die Wissenschaft (soll ich sagen "unsere" Wissenschaft?) ihren Blick richtet und was sie begreifen kann. Und was hat diese Zeit noch, was die Wissenschaft noch nicht bearbeiten durfte und was sie nicht begriff? Ich will der Wissenschaft keinen Vorwurf machen. Nicht sie tötet. So stark ist sie nicht. Sie darf nur Totes angreifen. Nun nimmt der Strom des entwicklungsgeschichtlichen Geschehens alle diese Dinge mit. Die Welt ist bis in die fernsten Winkel erfüllt vom Brausen dieses Stromes. Ihr dürft nicht von uns verlangen, daß wir uns gegen diesen Untergang stemmen. Denn Ihr habt uns ihn verstehen gelehrt. Nun sind wir des Unterganges nur froh, denn man lebt nicht gerne unter Leichen.
4. Wir sehen heute rund um die Erde herum keine Formung des Lebens, die nicht zersetzt wäre. Habt Ihr uns nicht gelehrt, in allem und jedem das Menschenwerk zu sehen? Habt Ihr uns nicht selbst die Augen für das Menschliche geschärft, indem Ihr uns alles in die Geschichte und in die Entwicklung einstelltet? Wir danken Euch, daß Ihr es tatet. Ihr schufet uns das Werkzeug, laßt es uns nun gebrauchen. Nun ziehen wir den Schluß: Alles, was irgendwie Menschenwerk ist, entsteht nicht nur, es vergeht auch wieder. Und es vergeht dann, wenn das Menschen-
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werk alles Andere üb erwuchs. Ich sagte vorhin: wenn die Wissenschaft es begreift. Eben: das kann sie in dem Augenblick, in dem der Mensch sich durchgesetzt hat. Heute ist eine Stunde des Unterganges. Wir sehen die Zersetzung in Allem. Das bedeutet dies: wir haben das feinste Gefühl für das Menschliche bekommen. Wir spüren, wie es sich heute in Allem durchgesetzt hat. Bis in den feinsten Gottesgedanken hinein. Und wir bewegen in allem Ernst den Gedanken bei uns, ob es heute überhaupt Menschen gibt, die wirklich Gott denken können. - Wir wissen, daß Er sich den Einfältigen (versteht Ihr dieses Wort?) nie verbarg. - Wir sind alle so tief in das Menschsein hinein geraten, daß wir Gott darüber verloren. Ihn verloren. Ja, wirklich verloren; es ist kein Gedanke mehr in uns, der bis zu ihm reicht. Sie reichen alle nicht über den menschlichen Kreis hinaus. Nicht ein einziger. Das wissen wir nun. Und es ist uns vor diesem Wissen, als hätten wir vorher nie etwas gewußt.
5. Ist es ein Wunder, daß wir bis in die Fingerspitzen hinein mißtrauisch geworden sind gegen alles, was irgendwie Menschenwerk ist? Ja, uns selbst ist es ein Wunder. Denn wenn das Mißtrauen gegen das Menschliche auch noch das ist, was unser Gefühl am meisten bestimmt, so ist dieses Mißtrauen, das vor nichts zurückscheut, doch nur möglich, weil ein Keim von Wissen des Anderen, des Nicht-Menschlichen in uns sein muß. Noch können wir Gott nicht denken. Aber wir erkennen immer deutlicher, was Er nicht ist, was Er nicht sein kann. Man kann uns nicht mehr täuschen, und wir können uns selbst nicht mehr täuschen und Menschliches für Göttliches nehmen. Es ist uns viel damit genommen, aber nichts, dem wir nachtrauern könnten. Denn das flimmernde Durcheinander von Göttlichem und Menschlichem in allen unseren Gedanken, Worten und Werken war uns zu lange eine quälende Not. Und bliebe uns nichts als diese nur-menschliche Welt, schon das wäre uns eine Erlösung nach jenem elenden Versteckenspielen, bei dem I man nie wußte, was im gegebenen Augenblick nicht da sein durfte, das Menschliche oder das Göttliche. Darum ist ein Jubel in uns über das Spenglersche Buch. Es beweist, mag es im Einzelnen stimmen oder nicht, daß die Stunde da ist, wo
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diese feine, kluge Kultur aus eigener Klugheit den Wurm in sich entdeckt und wo das Vertrauen auf die Entwicklung und die Kultur den Todesstoß bekommt. Und das Spenglersche Buch ist nicht das einzige Zeichen. Wer lesen kann, liest es aus jedem zweiten Buch und Aufsatz und wenn auch nur aus dem" Warum", das als das Treibende hinter ihnen stand. Muß denn jetzt nicht das große Besinnen anfangen? Oder gibt es Theologen (was ist aus diesem Namen geworden!), die kommen und diese Kultur beschwätzen, daß es doch nicht ganz so schlimm sei und daß alles schon wieder ganz gut werde?
6. Es gab Zeiten, da meinten wir, an einer neuen kommenden Kultur arbeiten zu können, und da glaubten wir, sie brächte dann das Heil. Ihr Bild stand uns groß und reich vor der Seele. Aber dieser Traum ist ausgeträumt. Wir wurden nicht nur gegen das Menschliche in dem, was Andere taten, mißtrauisch, wir wurden viel mißtrauischer gegen das Menschliche in dem, was wir selbst tun und planen. Und das trennt uns von denen, die heute die Zeit bestimmen. Nicht daß wir ihr Tun ablehnen. Aber wir sehen, daß sie dieselben sind wie die, die sie ·ablösen. Nur daß sie es auf die umgekehrte Weise versuchen. Was jenen selbst verborgen blieb und worüber sie sich täuschen bis auf den heutigen Tag, daß sie sich feme von allem Göttlichen im menschlichen Kreis bewegen, das wollen diese mit klarer Bewußtheit tun. Wir können es verstehen (wir lernten ja von jenen Alles und Jeden verstehen), daß sie es so tun. Denn sie durchschauten jenen langen, frommen Irrtum. Aber sie durchschauten ihn nicht ganz. Sonst könnten sie nicht meinen, daß ihr Werk gelänge, wenn sie nichts Anderes wissen, als bewußt zu tun, was jene unbewußt taten und wobei ihr Werk zerbrach: eine Welt mit Menschenwillen und aus Menschenweisheit bauen. Auch hier ist viel guter Wille, der uns beschämt, wenn wir nicht mit dem vollen Einsatz unserer Kraft und überzeugung mitmachen können. Aber wir können nicht. Lockt uns der Mut, die Unbefangenheit und die Rücksichtslosigkeit gegen Dinge, die keine Rücksicht verdienen, und die junge Kraft dieser neuen Zeit und zieht unser menschlicher Gerechtigkeitssinn uns auch wirklich in ihre Reihen, weil unser Mensch-
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liches an einer Stelle in den Zeiten stehen muß, unser Blick und unser Denken sucht ein anderes Ziel.
7. Der Raum wurde frei für das Fragen nach Gott. Endlich. Die Zeiten fielen auseinander und nun steht die Zeit still. Einen Augenblick? Eine Ewigkeit? Müssen wir nun nicht Gottes Wort hören können? Müssen wir nun nicht seine Hand bei Seinem Werk sehen können? Darum können wir nicht, dürfen wir noch nicht von der einen Zeit zur anderen gehen. So sehr es uns auch zieht. Erst muß hier die Entscheidung gefallen sein. Vorher können wir nichts mit ganzem Herzen tun. Solange stehen wir zwischen den Zeiten. Das ist eine furchtbare menschliche Not. Denn da zerbricht alles Menschliche und wird zu Schanden, alles was war und alles was sein wird. Aber darum können wir, begreifen wir nur die Not bis zum Letzten, nach Gott fragen. Dann verstrickt sich nicht die Frage im Menschlichen und bringt falsche Antwort aus ihm, falsche, weil es eine menschliche und keine göttliche Antwort ist, und mögen wir mit dem besten Willen gefragt haben. Es gilt kein guter Wille, auch nicht der beste, in göttlichen Dingen. Wir wissen nun, wie weit die Frage reichen muß; unser Mißtrauen gegen das Menschliche führte uns den Kreis, bis zu dem es reicht (heute muß man hinzufügen: daß die ganze geheimwissenschaftliche Jenseitigkeit des Menschlichen mit in diesen Kreis gehört) und wird ihn uns immer wieder führen. I
8. Aber bringt uns dies weiter? Nein, in der geschichtlichen Entwicklung, in der Heilung der menschlichen Wirrsal nicht einen Schritt. Wir sind in einem anderen Kreis und suchen nach etwas Anderem als nach Fortschritt, und es bewegt uns kein kulturinteressierter Opportunismus mehr. Wir haben deshalb auch gar keine Vorschläge, wie man es besser machen könnte. Die Praktiker werden ja alle danach fragen. Unser einziger praktischer Vorschlag, den wir machen können, ist der (und der ist nicht praktisch, weil ihn Keiner allein mit gutem Willen durchführen kann): mit Entsetzen einzusehen, daß in der Lage, in der wir
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tatsächlich alle sind, auch wenn es bis heute nur Wenige erkannten, gute Vorschläge nicht mehr helfen können. Versteht man noch nicht, daß unsere Stunde (aber sie läuft nicht mit den anderen, den gewöhnlichen) wahrscheinlich die Stunde der Buße ist? - Oder kann man mit ein und demselben Atem Buße tun und sein Programm für das Kommende entwickeln? Hüten wir uns in dieser Stunde vor nichts so sehr, wie davor, zu überlegen, was wir nun tun sollen. Wir stehen in ihr nicht vor unserer Weisheit, sondern wir stehen vor Gott. Diese Stunde ist nicht unsere Stunde. Wir haben jetzt keine Zeit. Wir stehen zwischen den Zeiten.
DIE KRISIS UNSERER KULTUR 1. Die Sache; 2. Die psychologische, philosophische und religiöse Betrachtungsweise; 3. Die Bedeutung des Menschlichen darin; 4. Der religiöse Aspekt: das Ineinander von totalem Werten und totalem Entwerten der Welt; 5. Noch einmal dieses Ineinander; 6. Die entscheidende Frage; 7. Die Religion: Seele oder Krisis der Kultur? 8. Die Religion: mystische Abgeschiedenheit von der Welt oder volle Weltlichkeit? 9. Der Mensch in der Mitte zwischen sich selbst und Gott; 10. Die Entscheidung; 11. Das Gericht; 12. Was sollen wir denn nun tun?
1. Die Sache
Es gibt Ereignisse, die von so entscheidender Bedeutung sind, daß es verhängnisvoll ist, wenn man auf irgend eine Weise versucht, vorschnell mit ihnen fertig zu werden. Es machte im Anfang des Krieges jemand die ironische Bemerkung, jener Spruch von der Umwandlung aller Anschauungen durch den Krieg gälte dem, der ihn pathetisch zum Besten gäbe, doch allemal nur von den Anderen. Das wäre freilich das äußerste Maß jenes Verhängnisses. Heute erlebt unsere Welt eine Erschütterung, von der der Krieg nur ein leises Vorzeichen war. Und die Tragik jener Selbsttäuschung, die ja eine ganze Handvoll spürbarer Folgen gehabt hat, wäre doch nur spaßig im Verhältnis zu der Tragik, die diese Selbsttäuschung heute bei einer Wiederholung zur Folge haben würde.
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Lassen Sie mich diese Selbsttäuschung genauer betramten. Vielleicht gibt uns das von vornherein Klarheit über unser grundsätzliches Verhältnis zu jedem bedeutenden Geschehen in der Welt. Und um diese Klarheit handelt es sich uns ja bei diesen gemeinsamen überlegungen. I Dieser Selbsttäuschung liegt die Meinung zu Grunde, als sei man selbst mit seiner Erkenntnis dem Geschehen vorausgeeilt, so daß es einem nun Recht gibt. Und diese Meinung kann audt durchaus begründet sein. Nur: sie trifft bei dem Geschehen, um das es sich gerade handelt, bloße Veränderungen auf der Oberfläche, bloß·e Verschiebungen des vorhandenen Materials. Im Grunde bleibt Alles, wenn aum nicht, wie es war, so doch dasselbe, was es war. Wie sehr es das bleibt, beweist gerade der, der einem demonstriert, wie tief die Erschütterung reiche, die von dem fraglichen Ereignis ausgehe. Nämlich so tief, daß alle Menschen ihre Anschauungen revidieren und sich ändern müßten. Nur er behalte remt und könne, möge nun auch was immer geschehen, derselbe bleiben, der er auf Grund seiner vorauseilenden Erkenntnis schon seit langem sei. So komisch einem solch ein Mensch, wenn man ihn einmal erkannt hat, vorkommen mag, so geschwätzig und oberflächlich seine überlegungen dann erscheinen mögen, es vergeht einem das Lächeln, wenn man zugleich begriffen hat, daß diese Haltung einmal die übFme Haltung ist, die wir den Ereignissen gegenüber einnehmen. Und daß sie zum andern die Haltung ist, die mit unbedingter Sicherheit jedes Ereignis, und sei es noch so trächtig an Segen, von vornherein unfruchtbar macht. Und unter dem Aspekt, zu dem wir hier gelangen möchten, ist Unfruchtbarkeit nicht nur ein Ausfallen, nicht nur ein Fehlen, sondern sie ist verderbendes und vernichtendes Verhängnis. Denn wir suchen den Aspekt, unter dem alles Geschehen nicht nur ein buntes, wechselndes Verändern ist, bei dem es schließlich nicht so sehr darauf ankommt, ob die Dinge diese Gestalt oder jene annehmen, wo man sich zuletzt an dem wechselnden Bild, an der reichen und immer wieder sich verändernden Buntheit erfreuen kann und alle Tragik und Schuld schließlich nur die tiefsten und in ihrer Dunkelheit leuchtendsten Farben in das Bild bringt. Unter dem Aspekt, den wir suchen, ist der Augenblick, der nun gerade ist, nun gerade gelebt sein will, der - nun, der nichts anderes will, als eben jetzt gelebt sein.
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2. Die 'psychologis,che, philosophische und religiöse Betrachtungsweise
Wirklich gelebt sein. Das bedeutet, psychologisch betrachtet, daß er alle Energie, alle Aufmerksamkeit, alles Verantwortungsgefühl auf sich zieht, sodaß keine Möglichkeit bleibt, ihn als einen unter anderen zu betrachten, sich aus ihm zu heben und ihn mit der ganzen unabsehbaren Reihe der vor ihm und der nach ihm unter sich zu lassen zur meditierenden oder beurteilenden Schau. Das bedeutet, philosophisch gesprochen, die Beziehung seines Inhaltes, mag der nun sein, was er will, auf das Absolute. Auch da wird dieser Augenblick mit seinem Inhalt aus der Relativität und dem Hingleiten im Fluß der Zeit herausgerissen. Was vor ihm war und was nach ihm sein wird, wird in straffer Ordnung auf ihn bezogen, bekommt von ihm Sinn und Ziel. Es bleibt nicht, was es war. In der Perspektive dieses Einen Augenblicks, in der Beziehung auf ihn nimmt es die, wenn ich den Ausdruck wagen darf, dynamische Gestalt dieses Einen Augenblickes an, wird es in dieser dynamischen Gestalt zu dem Leib dieses Einen Augenblickes, der so den gleichmäßigen Fluß der Zeit, in dem eine Welle der anderen gleicht, in seiner blitzhaften Bewegung verzehrt. Religiös gesprochen bedeutet dies, daß unter dem Aspekt, den wir suchen, der Augenblick, der jetzt gerade da ist, nichts anderes will, als nun gerade gelebt werden - es bedeutet, religiös gesprochen, die Begegnung Gottes in diesem Augenblick. Damit gewinnt dieser Augenblick in der Gestalt, die er nun gerade hat, sie sei immer, wie sie mag, einen Inhalt, der nichts, schlechterdings nichts mehr neben sich duldet. Es bleibt nichts, was vor ihm war, und nichts, was nach ihm sein wird. Auch nicht jene straffe Ordnung, von der wir eben noch sprachen. Denn hier ist nichts mehr, was geordnet werden könnte. Hier ist nur dieser Eine Augenblick und sein Inhalt. Hier ist auch keine blitzhafte Bewegung mehr. Hier ist die reine Gegenwart. Hier ist der Augenblick zur letzten Vollendung gebracht. I
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3. Die Bedeutung des Menschlichen in der psychologischen, philosophischen und religiösen B etrach tun g sweise Aber bringen wir uns nicht um das Verständnis dieser Vollendung dadurch, daß wir sie in irgend einem Sinn zu einem menschlichen Produkt machen? Die psychologische Betrachtung, von der wir sprachen, sieht das menschliche Produkt. In ihr bleibt der Mensch, wie er ist, mit seinen Zufälligkeiten, seinen Schwächen und Tugenden, seinen Erkenntnissen und Irrtümern ein wesentlicher Faktor oder sogar der wesentliche Faktor. Und es ist nur ein leises Nachlassen der seelischen Spannung und Konzentration nötig, und die Reflexion hat ungehemmten Raum und unwidersprochenes Recht, diesen Augenblick als einen unter vielen in die unendliche gleiche Reihe einzuordnen. Die philosophische Betrachtung entnimmt das menschliche Produkt wenigstens der Zufälligkeit. Für sie ist nicht die zufällige psychische Konzentration ausschlaggebend. Die ist für sie gleichgültig. Sie hat ihre Wahrheit in, der strengen gesetzmäßigen Ordnung, in der sie diesen Augenblick auf das Absolute bezieht. Und ist auch das strenge Leben dieser Ordnung die Liebe zum Absoluten, die wie alle Liebe in ewigem Verlangen das Einssein mit dem Geliebten sucht, so bleibt sie selbst doch immer an die Diskursivität der Vernunft gebunden, sie bleibt immer nur die strenge geordnete Bewegung auf das Absolute hin. Immer bleibt hier der Mensch mit seiner Vernunft und dort das Absolute. Und der Augenblick ist zwischen ihnen beiden wie ein elektrischer Funke zwischen zwei Polen, aber zeitlos und darum in unendlicher Bewegung, ein unendliches Streben. In unendlicher Bewegung und darum doch ein Einiges, eben dieser Augenblick. In der religiösen Betrachtung ist aber auch diese Bewegung nicht mehr vom einen zum andern, vom Menschen zu Gott. Nicht mehr das unendliche Streben. Es hat hier keinen Sinn, denn es reichten nicht tausend Unendlichkeiten, um den Weg, der vom Menschen zu Gott führt, zu Ende zu gehen. Und wo diese Bewegung, dieses unendliche Streben bleibt, da wird es zur elendesten Qual. Denn mit jedem Schritt, den man auf diesem Wege weitergeht, wird die Entfernung größer, wird es aussichtsloser, je ans Ende zu kommen. Die religiöse Betrachtung hat nur Sinn, wenn in ihr nichts bleibt als Gott, wenn alles Menschliche schwindet, wenn sie die Grenzen eines
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anderen, grundanderen Reiches überschreitet, wenn des Menschen Handeln aufhört und Gottes Tun beginnt. Darum: was in diesem Augenblick geschieht - aber, damit wir den rechten Beginn nicht verfehlen und nicht von vornherein aus der religiösen Betrachtung in die moralische abgleiten, nicht das ist gemeint, was nun auf diese gewonnene Erkenntnis hin geschehen wird, sondern das, was in diesem Augenblick geschah, was der Inhalt dieses Augenblickes gerade da war, als wir unsere Aufmerksamkeit auf ihn lenkten - was also in diesem Augenblick geschieht, gehört nun nicht mehr in die allgemeine Relativität des Geschehens, stammt nicht mehr aus dem Zusammenhang des Geschehens und Geschehenlassens, das von den Menschen, ihrer Energie und ihrer Energielosigkeit bestimmt wird, und mündet auch nicht als Ursache oder mit seinen Folgen in die allgemeine Entwicklung der Weltgeschichte. Sondern es ist Gottes eigenste Tat und - es bleibt Gottes eigenste Tat. So ist es damit, daß es als Gottes eigene Tat erkannt ist, ein Neues, ein absolut Neues geworden, und wäre es auch, äußerlich betrachtet, etwas Altes, längst Bekanntes. Wäre es auch längst als das Neue von einem klugen und tiefen Zeitbetrachter vorhergesagt, es ist doch etwas Anderes. Sieht er nur das Neue, das er voraussagte, so sieht er nur eine Veränderung innerhalb des Alten, aber er sieht nicht das Neue, das all diesem Alten mit allen seinen Veränderungen gegenüber das ganz und gar Neue, das absolut Neue, das absolut Andere ist. So sehr das Andere, daß es wie ein allerdings sehr unfreiwilliger Witz wirkt, wenn einer diesem Neuen gegenüber mit seinen Voraussagen kommen wollte, und wäre er seiner Zeit an Einsicht um Jahrhunderte vorausgeeilt. Denn es I ist doch wohl komisch, wenn einer mit großer Vertrautheit von Dingen redet, von denen ihn gerade diese vermeintliche Vertrautheit auf Weltenweiten trennt. Denn freilich diese totale Umwandlung, diese [tE't&ßo:crtc E2c (j).. AO Y€VOc ist nur da möglich, wo das Menschliche restlos verschwindet. Aber das ist die Grundvoraussetzung für jede religiöse Betrachtung, daß sie den Menschen als handelnden Faktor aus dem Bilde fortsehen kann, daß sie, positiv ausgedrückt, Gott als den allein Handelnden erkennt. Daß die religiöse Betrachtung damit jeder anderen und vor allem jeder üblichen und gewohnten Betrachtungsweise widerspricht und wie sehr sie das tut, sollte man sich immer und immer wieder ins Gedächtnis rufen. Es geht hier Alles und in Allem gegen den Augenschein. Und
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man kann das nicht durch psychologische oder religionspsychologische Betrachtung reparieren, nicht durch ein Gleichsetzen von Gottes Handeln mit der schöpferischen Unmittelbarkeit des Menschen; nicht durch ein Transponieren von Gottes Handeln ins Unterbewußtsein oder ins Unbewußte des Menschen. Gott braucht keinerlei Dämmerzustände des Menschen, um hier auf Erden handeln und sich offenbaren zu können. Wo er sich offenbart und wo er handelt, da tut er es vor dem hellsten, klarsten, seiner selbst bewußtesten Bewußtsein des Menschen. Und die Flucht in jene Dämmerzustände des menschlichen Bewußtseins, in das Unterbewußte und in das sogenannte "Schöpferische", ist garnicht, wie sie sich selbst gerne vormacht, die Flucht vor dem Menschen, das Verlangen vom Menschlichen loszukommen, sondern sie ist letztlich Flucht vor Gott, Verlangen, der Klarheit auszuweichen, die ihn umgibt. Es ist der letzte Versuch, nun doch dem Menschen zu geben, was Gott gehört. Aber auch der muß überwunden sein. Auch dieser Kreis muß überschritten sein, damit man in jenes andere Reich gelangen kann, in dem die Dinge unter dem religiösen Aspekt gesehen werden.
4. Der religiöse Aspekt: das Ineinander von totalem Werten und totalem Entwerten der Welt Damit hätten wir den Aspekt gefunden, den wir suchten und unter dem wir unser Thema betrachten wollen. Aber bevor wir das tun, lassen Sie mich noch einiges über die Art dieses Aspektes sagen. Wir können das umso getroster tun, als es einmal von der allergrößten Wichtigkeit ist, daß wir ihn ganz rein gewinnen, ungetrübt durch andere Betrachtungsweisen, und ihn uns so rein erhalten. Und daß wir uns der ungeheuren - wenn ich so sagen darf - Labilität dieses Standpunktes immer von neuem bewußt werden. Und wir können zum andern darum getrost einen großen Teil unserer überlegungen darauf verwenden, diesen Aspekt in seiner Reinheit zu gewinnen und zu behaupten, weil wir, wenn uns das gelingt, schon mitten in unserem Thema drin stehen, und das nicht nur in dem Sinn, daß wir über es sprechen, sondern daß wir es in unserem eigenen Verhalten realisieren. Das heißt, um es gleich in aller Deutlichkeit und Konkretheit zu sagen: wir vollziehen damit die Krisis der Kultur, die einzige, die für uns als Religiöse in Betracht kommt, die aber auch für uns als Religiöse
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notwendig ist, ja, die geradezu das Kriterium dafür ist, ob wir diese Welt und ihr Geschehen in Gottes Licht sehen können. Es kommt für die Reinheit dieses Aspektes alles darauf an, ob es uns gelingt, das Geschehen, das er betrachtet, so zu sehen, daß es nicht mehr in den Zusammenhang des allgemeinen menschlichen Geschehens gehört, es zu sehen als das, was Gottes eigenste Tat ist und Gottes eigenste Tat bleibt. Hier liegt denn auch die größte Schwierigkeit, die jede religiöse Betrachtung, die das in ihrer Substanz und nicht nur in ihrer Aufmachung, in den Redewendungen ist, unserem Denken bereitet. Hier ist der Punkt, "da - nach einem Worte Luthers - Adam von gefallen ist. Aber wenig sind ihr, die so weit kommen, daß sie völliglich glauben, daß er der Gott sei, der alle Dinge schafft und macht. Denn ein solch Mensch muß allen Dingen gestorben sein, dem Guten und Bösen, dem Tod und Leben, der Höll und dem Himmel und von Herzen bekennen, daß er aus eigenen Kräften nichts vermag" (W. A. 24, 18). I Dieses lutherische "Aber wenig sind ihr, die so weit kommen" mag uns Warnung sein, wenn wir meinen, es sei doch nicht so schwer, bis dahin zu kommen, wo man glaubt, daß alles Geschehen Gottes Tat ist. In der Unmittelbarkeit, die da gemeint ist, ist keine Spur von Gott zu finden. Man muß "allen Dingen gestorben sein, dem Guten und Bösen, dem Tod und Leben, der Hölle und dem Himmel". Das ist dieses Glauben. Es ist ein Herausgenommensein aus dem gewöhnlichen Dasein und - das ist das Wichtigste! - ein Draußenbleiben. Damit ist schon angedeutet, daß es sich nicht um ekstatische Zustände handelt, die kommen und gehen und immer nur eine kleine Weile bleiben und die ja auch nur in der optischen Täuschung den Menschen aus dem gewöhnlichen Lauf der Dinge herauslassen, sondern es ist ein Wegsehen alles dessen, was sonst unser Leben und unsere Wirklichkeit bestimmt. Ein Wegsehen aber nicht in dem leeren Sinn des Nichtmehrsehens oder des Daranvorbeisehens. Die Welt, in der Gott handelt, ist keine leere Welt, auch keine reine Wunderwelt von paradiesischen Merkwürdigkeiten, sondern sie ist diese Welt, die wir täglich mit unseren Augen sehen, in der wir täglich mit unserer Arbeit unsere Werke tun, und sie ist doch eine ganz andere Welt, die wir - sind uns die Augen für sie nicht geöffnet - sehen und doch nicht sehen. Dieses Wegsehen, dieses allen Dingen- gestorben sein ist ein Doppeltes: es ist ein totales Entwerten alles dessen, was unser gewöhnliches Leben ausmacht und unsere ge-
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wöhnliche Wirklichkeit konstituiert. Gewöhnliches Leben, gewöhnliche Wirklichkeit: das schließt aber nach dem Worte Luthers dies ein: Gutes und Böses, Tod und Leben, Hölle und Himmel. Und dieses Wegsehen, dieses allen Dingen gestorben sein ist zugleich ein höchstes, unbedingtes Werten alles dessen, was es für uns gibt, desselben, das wir total entwerteten. Was uns zu dem höchsten, unbedingten Werten und zu dem totalen Entwerten treibt, ist Ein und Dasselbe: es ist das Wissen um Gottes Wirklichkeit. In ihrem Licht wird alles: Gutes und Böses, Tod und Leben, Hölle und Himmel wertlos, ein wesenloser Spuk. Denn es zeigt sich nun, wie das alles, wie alle Wirklichkeit für den Menschen der Spiegel geworden ist, in dem er sein eigenes Wesen beschaut, seine Kleinheit und Erbärmlichkeit aufbauscht. So kann es vor Gottes Licht nicht bestehen. Aber fiel Gottes Licht einmal darauf und verschwand dann vor ihm all das Menschengetue, all der Stolz und all die Unwürde, all der Eigenwille und all die Nachlässigkeit, all der übermut und all die Angst, die sich alle Wirklichkeit dieser Welt als ihr Eigentum, als ihre Rettung angeeignet hatte, verschwand das vor dem Lichte Gottes, dann wird diese Welt wieder zur reinen Schöpfung Gottes, und es wird jedes Ding und alles Geschehen zum Spiegel der Gottheit. Aber, wohlgemerkt, es gibt für uns Menschen nicht das Eine oder das Andere, nicht das Werten ohne das Entwerten, nicht das Ja ohne das Nein. Freilich, es gibt für uns auch nicht dieses totale Entwerten ohne jenes höchste Werten. Und damit unterscheidet es sich grundsätzlich von dem üblichen Kritisieren, das aus dem immanenten Zusammenhang der Dinge herauskommt und nur ihre gegenwärtige Gestalt in Frage stellt, das an fortschreitende und allmählich bessernde Knderung glaubt. Diese Kritik, dieses Nein stammt aus einem absoluten Jenseits der Dinge und stellt sie und ihren Wert ganz und gar in Frage. Da gibt es keine kontinuierende Besserung und Veränderung, oder sie ist vollkommen gleichgültig. Da gibt es nur ein Zurückkehren in die ursprüngliche Schöpfung, in den Ursprung. Da gibt es nur ein Wiedergeborenwerden aus dem Geist Gottes. Da gibt es nur ein volles Neuwerden, das heißt ein Neuwerden nicht aus diesem tausendfältig gebundenen und bedingten Punkt in der allgemeinen Entwicklung, sondern ein Neuwerden aus dem ewigen Urbeginn der Schöpfung, aus jenem ewigen Wort Gottes, "das von Ewigkeit gesprochen ist und immer gesprochen wird". Das ist gemeint, wenn ich vorhin sagte, daß für die Reinheit des
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Aspektes, unter dem wir unser Thema betrachten wollen, alles darauf ankäme, daß es uns gelänge, das Ge- I schehen, das wir betrachten wollen, so zu sehen, daß es nicht mehr in den Zusammenhang des allgemeinen menschlichen Geschehens gehört, sondern es zu sehen als das, was Gottes eigenste Tat ist und Gottes eigens te Tat bleibt.
5. Noch einmal dieses In,einander Darin liegt schon ein Anderes, das wir uns aber zur größeren Klarheit noch deutlich machen wollen. Man kann die religiöse Betrachtungsweise, die wir hier a"\lsüben, nur in dieser ihr eigentümlichen Gespanntheit und Dialektik haben. Das heißt genauer: man kann sie eigentlich nicht haben, sondern man kann sie eben nur in aller Konkretheit ausüben, oder aber es bleibt eine leere Schale ohne jeden Inhalt. Wir sahen schon, es gibt für uns nicht jenes totale Entwerten ohne jenes höchste Werten. Umgekehrt gibt es für uns jenes höchste Werten, also den Glauben, daß alles Geschehen Gottes eigenstes Tun sei, nicht ohne jenes totale Entwerten. Vor diesem Glauben steht der tiefste Unglaube, der dunkelste Pessimismus. Denn, ich lasse wieder Luther reden, "also tut Gott in allen seinen Werken: wenn er uns lebendig machen will, so tötet er uns; wenn er uns will fromm machen, trifft er uns das Gewissen und macht uns erst zu Sündern; wenn er uns will gen Himmel aufrücken, stößet er uns zuvor in die Hölle" (Walch XVIII, 2119). Darum - und das ist es, was wir uns hier noch deutlich machen wollten - es kann sich bei dieser religiösen Betrachtungsweise niemals um eine objektive Feststellung handeln. Wir sagten es schon vorhin: in dieser Unmittelbarkeit ist keine Spur von Gott zu finden. Da ist immer nur menschliche Spur zu finden und nichts-aIs-menschliche Spur. Jede objektive Feststellung, das will sagen, jede Feststellung, die nicht jenes allen Dingen gestorben sein hinter sich hat, die rein nur vom Menschen ausgeht, findet auch nichts als den Menschen und findet nur· diese ganz und gar bis in die innersten, feinsten Poren menschenbestimmte vom menschlichen Witz und menschlicher Kurzsichtigkeit und menschlichem Eigennutz durchsetzte Welt. Nennt man dies oder das darin Gott, so fand man eben einen Götzen. Ein gamicht so seltenes Ereignis, wie wir gemeinhin annehmen, da es uns, wenn nur im übrigen
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die landläufigen Formeln gebraucht werden, meist nicht sonderlich auffällt. Gott hat keinen Platz in der Welt, solange der Mensch sich nicht ganz vernichtete. Wir sprechen nicht aus einer idealen Situation heraus, sondern wir sprechen aus der tatsächlichen Situation heraus, in der wir Menschen uns hier auf Erden vorfinden. Und diese tatsächliche Situation ist der Abfall von Gott, ist die Gottlosigkeit. Darüber sollte eine Auseinandersetzung von Rechts wegen nicht nötig sein. Ist sie nötig, so weise ich auf alle großen Religiosi hin, für die alle ohne Ausnahme diese Voraussetzung von vornherein galt. Und es ist das für ihre religiöse Genuinität freilich sehr verdächtige Verdienst neuerer Religionsstifter oder vielleicht genauer und auch wohl mehr in ihrem Sinn Religionsverbesserer, diese Voraussetzung als heute nicht mehr geltend behauptet und dafür die andere eingesetzt zu haben: Der Mensch ist gut. Aber vielleicht ist da in dunkler Ahnung etwas Richtiges gemeint. Denn gegen jenen Satz: Gott hat keinen Platz in der Welt, solange der Mensch sich nicht ganz vernichtete, stellen wir nun den anderen: Wo Gottes Wirklichkeit erkannt ist, da ist in der Welt kein Platz mehr für den Menschen, da ist die Eigenexistenz des Menschen aufgehoben. Da steht der Mensch wieder als Gottes Schöpfung im Ursprung der Dinge, da wo sie noch bei Gott sind, da wo jenes Gotteswort über ihnen klingt: Und Gott sah an Alles, was er gemacht hatte; und siehe da: es war sehr gut. Da gibt es nicht mehr die Zweiheit, den Dualismus, in dem es heißt: Hier Mensch, hier Gott. Da gibt es nur noch Gott und Gottes Wirklichkeit, Gottes Schöpfung, und der Mensch in ihr wie ein Atemzug in einem lebendigen Leib, so verwoben mit Gott, so ganz nur sein Wille, sein Leben. Aber man kann nicht das behaupten und daneben sich selbst, oder anders gesagt: man kann nicht diese - lassen Sie I es mich einmal so nennen - Erkenntnis des Ursprungs vertauschen mit der Erkenntnis dessen, was aus dem Ursprung sich, wie wir heute sagen, heraus entwickelte. Aber diese Welt, so wie sie in ihrer tiefen, verzweifelten Gottlosigkeit ist, ist keine Entwicklung aus Gott, so wenig wie der verlorene Sohn als ein Bote und als ein Ebenbild seines Vaters in die Welt ging. o ja, er war auch der Bote und das Ebenbild seines Vaters. Als er sich in den Bordellen der großen Stadt wegwarf, da, ja da erst recht war er auch ein Bote seines Vaters, und seine Botschaft war in diesem Tun die unerhörte Güte seines Vaters, der ihm bis in diesen Schmutz, bis in diese verlorene Tiefe Freiheit geschenkt hatte. Und er war auch
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das Ebenbild seines Vaters. Er war es da, als er sich in der letzten Verzweiflung des Vaters erinnerte und - warum eigentlich? - gewiß war, daß er es wagen dürfte, trotz allem zum Vater zurückzukehren. Aber er war beides, Bote und Ebenbild, nicht von sich aus betrachtet. Da stand zwischen ihm und dem Vater dieser furchtbare Fall. Da war die Güte des Vaters und die Erinnerung an ihn das Gericht zum Tode. "Vater, ich bin hinfort nicht wert, daß ich dein Sohn heiße." Freilich, dieses Gericht zum Tode ist der Eingang zum Leben. Aber auch nur hier ist der Eingang. Und nur wenn man da hindurch ging, kann man die Erkenntnis des Ursprungs, daß alles Geschehen Gottes eigenste Tat ist, auf diese Welt und unser eigenes Tun anwenden. Aber das ist dann kein Sichwiederhineinstellen in die Welt. Es ist nicht die Behauptung, die Welt, so wie sie da ist, sei das Geschöpf Gottes und darum gut und darum ohne Vorbehalt zu bejahen. Die Welt, so wie sie da ist, ist ein Abfall von Gott und der ganze furchtbare Schrecken und das ganze ziellose, sich selbst verzehrende Sehnen der Gottlosigkeit und darum bis auf den Grund zu verneinen. Das ist - um das vorweg zu nehmen - die Krisis der Kultur, so wie sie für uns allein einen Sinn haben kann und so wie wir sie nicht von dieser Zeit und ihren Ereignissen uns geben lassen, sondern wie wir sie selbst vollziehen. Und eine Religion, die sich irgendwie abfinden muß mit dieser Welt, so wie sie ist, d. h. wie sie bedingt ist durch ihr Vorher und Nachher, wie sie eingehängt ist in die endlose Kette der sogenannten Entwicklung, eine Religion, die nicht mit gutem Gewissen als ihre erste und letzte Botschaft diese zu verkündigen hat: Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, eine solche Religion ist selbst mit in die Bedingtheiten hineingezogen, von denen sie befreien sollte, und sie wird den wahnsinnigen Tanz der Weltgeschichte, der sogenannten Entwicklung mittanzen. Eine solche Religion ist selbst aus dem Ursprung heraus gefallen und kennzeichnet selbst ihre Gottesferne dadurch, daß sie die Sehnsucht als ihr vornehmstes und ihr Wesen am tiefsten erschöpfendes Gefühl behauptet. Und schlägt dem größeren Zusammenhang von Bedingtheiten, den man eine Kultur nennt, die Stunde, wo die ihm immanente Kraft zu Ende geht, dann wird diese Religion, die vielleicht dieser der Kultur immanenten Kraft der nächste, unmittelbarste und feinste Ausdruck war, mit verwelken. Und gerade weil sie der unmittelbarste und feinste Ausdruck dieser Kraft ist, wird sie am frühesten das Ende anzeigen
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und es in ihrem eigenen Schicksal vorwegnehmen, während die robusteren und derberen Gestalten es noch eine lange Zeit treiben können, .als sei mit ihnen garnichts geschehen. 6. Die entscheidende Frage Damit haben wir die Frage, die für uns unserem Thema gegenüber die entscheidende ist, gestellt. Denn, nicht wahr, Sie erwarten von mir in Ihrem Kreise hier nicht, daß ich Ihnen ein Bild dieser Zeit hinmale, Ihnen in aller Ausführlichkeit ein Bild unserer Kultur gebe, so wie sie im Augenblick ist, und dann zeige, hier steht es nicht gut und da steht es nicht gut, und dann vorschlüge, hier müßte man dies und da müßte man das machen, und dann würde es mit ein wenig oder auch, je nach dem Temperament, mit .viel Gottvertrauen schon wieder besser werden. Wenn Sie dergleichen I wollen, so können Sie das heute in jeder Zeitung und in jeder Zeitschrift zur Genüge lesen, wenn man da auch - ob so ganz ohne Grund? - auf dieses Gottvertrauen nicht gerade viel Gewicht legt. Eher könnten Sie schon erwarten, daß ich dieses allgemeine Bild unserer Kultur voraussetzte und dann versuchte abzuschätzen, wie tief die Krisis, die wir heute erleben, reicht, und ob sie nicht eine Hauptursache hätte, der man dann mit gesammelter Kraft zu Leibe rücken müßte. Wäre unsere Gemeinschaft nicht eine religiöse Gemeinschaft, so hätten Sie auch mit gutem Recht erwarten können, daß ich das Thema in diesem Sinn behandeln würde. Nun ist aber unsere Gemeinschaft eine religiöse, und es handelt sich bei allem, was wir hier tun, um religiöse Selbstbesinnung. Es ist darum von vornherein gegeben, daß das Thema hier nach seinem religiösen Sinn gefragt wird. Und nun ist unsere Situation in Bezug auf dieses Thema heute ganz einfach so, daß wir in allem Ernst vor die Frage gestellt sind: Haben wir heute eine Religion, die mit hineingezogen ist in jene Krisis der Kultur und sich also gegen sie wehren muß? Oder haben wir eine Religion, die von sich aus eine Krisis der Kultur vollzieht, von der jene, die heute innerhalb der Kultur selbst und aus ihrer immanenten Entwicklung heraus sich zeigt, nur ein leises Vorzeichen, nur ein gleichnishafter Ansatz ist? Die Antwort, die wir auf diese Frage geben, ist selbst die Stellung, die wir zur Krisis unserer Kultur einnehmen. Entweder wir haben -
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ich bitte Sie um die Erlaubnis, den Gegensatz ganz scharf herauszuarbeiten. Ich betone aber ausdrücklich, ich will mit der Schärfe nicht verletzen; ich halte sie aber für nötig um der Klarheit willen. Wir müssen uns über diesen Gegensatz, über dieses Entweder-Oder ganz klar sein, weil es sich dabei um die Klarheit darüber handelt, wo wir unseren Platz in der Welt haben und was für eine Aufgabe von uns in ihr erfüllt werden soll - also entweder wir haben eine Religion, die die Seele dieser Kultur sein will, die also, um den vorhin gebrauchten Ausdruck wieder aufzunehmen, selbst jene Kraft ist, die dem größeren Kreis von Bedingtheiten immanent ist, den wir Kultur nennen, aber die doch der feinste, unmittelbarste Ausdruck dieser Kraft ist. Oder wir haben eine Religion, die eine unausgesetzte Krisis dieser und jeder Kultur ist. I 7. Die Religion: Seele oder Krisis der Kultur? Ich sage ausdücklich: dieser und jeder Kultur, um gleich von vornherein ein Mißverständnis abzuwehren. Denn man wird mir gleich einwerfen: dieser Gegensatz ist gar kein Gegensatz oder er braucht es wenigstens nicht zu sein. Denn faßt man nur jene Religion, die die Seele der Kultur sein will, tief genug, so ist sie zugleich die kritische Krisis der Kultur. Denn sie ist es, die die Kultur niemals still stehen läßt auf der Stufe, die sie gerade erreicht hat; sie ist das treibende und vorwärts drängende Bild ihrer Vollkommenheit; sie ist ihr Leben, das nimmer ruht und immer neuen Gestaltungen ruft; sie ist, mit Worten von Oswald Spengler ausgedrückt, die Möglichkeit, die in dieser Kultur Wirklichkeit werden will; sie ist das Werden, das das starre Gewordensein immer wieder durchbricht. Sie ist es, die die Tiefen des Unbewußten, die Quellen des schöpferischen Grundes aufbricht, aus denen der Kultur die neuen Antriebe, die seelische Gesundheit immer wieder zuströmen. Es mag dies zugleich eine genauere und, ich hoffe, nicht ungerechte Verdeutlichung dieser Religion sein, von der wir jetzt sprechen. Und es ist ja gar kein Zweifel, daß sie von der größten Bedeutung für die Kultur ist, daß sie für die seelische Gesundheit einer Kultur vom größten Einfluß ist, daß sie das eigentliche Leben in der Kultur ist und darum auch die Urheberin jener Krisen, durch die die Kultur an jeder Wende hindurch muß. Aber sie ist, was sie ist, selbst erst wieder aus dieser Kultur heraus. Sie ist selbst ein Teil jener
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Bedingtheiten, die zusammen in ihrer Einheit diese Kultur ausmachen. Sie ist dieser Kultur immanent. Das heißt: stirbt diese Kultur, so stirbt sie mit ihr. 'Unweigerlich. Ihre Mythologie mag unsterblich sein, ihre heiligen Urkunden mögen von den Philologen mit der I größten Sorgfalt kritisch bearbeitet und von literarischen Liebhabern mit dem größten Enthusiasmus gelesen werden. Das Leben formen sie nicht mehr. Als Religion sind sie tot. Was sie leben, leben sie als Kuriositäten; wo man sie pflegt, pflegt man sie als exotische Kostbarkeiten. Anmerken möchte ich hier übrigens dies: haben religiöse Urkunden dieses Schicksal, so ist das durchaus noch kein Beweis dafür, daß sie Urkunden einer solchen kulturbedingten Religion sind. Was in die Sichtbarkeit dieser Erde eingeht, muß in der Form der jeweilig herrschenden Kultur sichtbar werden und wird in seiner Sichtbarkeit, in seiner irdischen Form immer wieder dem Schicksal jeder Kultur, nämlich dem Tode unterliegen können. Und es wird das immer wieder tun, wenn Menschen da sind, die sehen und doch nicht sehen, die hören und doch nicht hören, wenn Menschen vor ihm stehen, in denen die ursprüngliche Schöpfung nicht lebt. Es bleibt also der Gegensatz zwischen dieser Religion, die die Seele der Kultur sein will, und der anderen, die eine absolute Krisis dieser und jeder Kultur ist. Denn soweit jene Kulturreligion eine Krisis der Kultur bedeutet, ist sie das doch nur immanent, das will sagen, sie ist das aus der Kraft dieser Kultur heraus. Sie ist die jeweilige Krisis, die die Kultur in ihrer Entwicklung, an ihren Wendepunkten durchmacht. Aber sie ist nicht die Krisis, die diese ganze Kultur in ihrem ganzen wirklichen und möglichen Umfang in Frage stellt, nicht die Krisis, die dieser Kultur das naive Vertrauen zu sich selbst und den naiven Glauben an ihre unbeschränkte Dauer und mehr oder weniger abbruchlose Entwicklung zerschlägt. Und kommt dieser Kultur einmal diese totale Krise, d. h. der Untergang - und der kommt zu irgend einer Stunde, wenn nicht von Rußland, dann von den berühmten Eiszeiten, die Troeltsch bei seinen kulturellen Überlegungen immer zuguterletzt frieren machen - so kommt er der Religion dieser Kultur eben auch. Und das ist ja nur gut. Was sollte sie nachher noch? Sie müßte sich dann schon mal wieder ganz gründlich fortentwickeln und schon mal wieder von neuem zeitgemäß werden. Aber wahrscheinlich wird ihr in der zwischen den beiden Kulturen liegenden kulturlosen Zeit der Atem ganz und gar ausgegangen sein. Vorher aber bleibt dieser Religion nichts anderes übrig, als mit allen Kräften gegen diesen Untergang
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anzuarbeiten. Sich selbst anzubieten als das beste Heilmittel für diese kranke und sehr pessimistisch und müde gewordene Kultur. Und zwar muß das Anbieten sehr eifrig betrieben werden, denn diese zu Ende gehende Kultur wird nicht so sehr gewillt sein, auf diese "aufrüttelnden" Stimmen zu hören. Vor allem weil sie selbst inzwischen in das Stadium eingetreten ist, wo sie weiß, ihr Zustand ist ja gerade die Folge davon, daß diese Religion starb. Ob da nicht die tiefere Erkenntnis bei der Kultur ist?
8. Die Religion: mystische Abgeschiedenheit von der Welt oder volle W.eltlichkeit? Es bliebe noch eins. Nämlich der Nachweis, daß diese Krisis, die wir gegenwärtig erleben, nicht die ist, die den endgültigen Untergang unserer Kultur einleitet. Dieser Nachweis ist wohl kaum zu erbringen, aber die Möglichkeit wenigstens, daß diese Krisis nicht die letzte Stunde unserer Kultur ist, kann durchaus vorhanden sein. Damit wäre Zeit gewonnen, aber das ist in diesem Fall nicht viel. Denn läßt man sich schon einmal mit der Religion ein, dann bedeutet das in der Tendenz wenigstens - ob diese Tendenz Wirklichkeit wird, ist eine andere Frage - es bedeutet also in der Tendenz wenigstens ein Heraustreten aus der Zeit. Es bedeutet allerdings zugleich die Fähigkeit - ob sie erreicht wird, hängt von der Absolutheit jenes Heraustretens ab - es bedeutet also zugleich die Fähigkeit, mit allem, was man ist und hat, auch mit dem zeit- und weltfernsten und zeit- und weltüberlegensten religiösen Gedanken wieder in diese Zeit zurückzukehren. Jene Kulturreligion kann aber weder das eine noch das andere. Natürlich hat auch sie die Tendenz, mit ihrem ganzen Sein aus der Zeit herauszutreten. Aber wie macht sie das? Nun, sie macht es nicht so, daß sie die Zeit und alle ihre Inhalte, also vor allem die Kultur, alle Kulturgebilde und I Kulturwerte total, in ihrem ganzen Wert verneint. Sie wehrt sieh im Gegenteil mit aller Gewalt, denn es handelt sich dabei um ihr besonderes Wesen, gegen den Gedanken, der diese totale Verneinung meint, nämlich den Gedanken, daß diese Welt so wie sie ist, die Welt des Abfalles ist, die Welt des Sündenfalles, die Welt der Erbsünde. Sie kennt keinen Abfall und keine Erbsünde, sie kennt nur die Entwicklung. Und wo sie darum aus der Zeit heraustreten will, wo sie sich mit der Ewigkeit berühren will, da versenkt
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sie sich in den schöpferischen Grund, aus dem alle Entwicklung aufsteigt. Diese Versenkung in den schöpferischen Grund ist aber in Wahrheit nichts anderes als ein Abstrahieren von der Zeit, ein Abstrahieren von der Wirklichkeit, sie ist - wenn ich auf das zurückgreifen darf, was ich zu Anfang schon sagte - ein Daran-vorbei-sehen, sie ist aber kein Weg-sehen; sie ist ein Ausweichen, aber sie ist kein Aufheben. Sie läßt, wenn sie diese Versenkung übt, die Zeit und die Wirklichkeit, wo sie sind und wie sie sind: aber sie nimmt nicht alle Zeit und Wirklichkeitmit sich und stellt sich und sie vor Gottes vernichtende Heiligkeit. Denn Gottes Heiligkeit vernichtet. Nicht um zu vernichten, sondern um zum Leben zu erlösen. "Wenn Gott uns lebendig machen will, sagt Luther, so tötet er uns." Luther sagt: so tötet er uns; er sagt nicht: so taucht er uns in die schöpferische Unmittelbarkeit. Er würde das auch niemals sagen. Er würde das deshalb nicht tun, weil er zu genau weiß, was dieser schöpferischen Unmittelbarkeit vorausgeht. Das wird man wohl nicht so bald vergessen, wenn man es durchmachte. Und dann: nicht diese schöpferische Unmittelbarkeit ist der letzte, tiefste Grund, nicht sie ist der Quell, aus dem das neue Leben strömt. Sie ist erst Folge, psychologische Gegebenheit. Der letzte, tiefste Grund tut sich da auf, wo alles, auf dem man bis dahin stand, vernichtet wurde, wertlos wurde, sinnlos wurde, Sünde wurde, d. h. Trennung, Abfall von Gott. Da, in dieser Vernichtung schafft die Schöpfung und nur da allein; in dieser Wertlosigkeit steht der göttliche Wert auf; in dieser Sinnlosigkeit leuchtet der ewige Sinn aller Dinge; da, in dieser Sünde macht Gott uns fromm. Es gibt eben nur eine einzige Möglichkeit von der Welt, der Zeit loszukommen, und die ist hier, wo Gottes. Heiligkeit sie vernichtet. Das aber ist nicht jenes stille, süße, mystische Ausgehen aus der Zeit und aus der Welt. Das ist auch kein skeptisches Ablassen von der Welt und ihren Dingen, wobei man freilich möglichst mit Gewissenhaftigkeit tut, was die Stunde von einem verlangt, aber sich sonst in ein feines, seelisches Reich zurückzieht, das einem immer bleibt und in das kein Lärm dieser Welt hineindringt oder doch so fern, so weit, daß aus dieser fernen Verworrenheit ein leises, spielendes Klingen wird. Diese eine einzige Möglichkeit von der Welt, der Zeit loszukommen verlangt, daß man sich mit keiner Faser von der Welt und Zeit löst und sie ganz auf sich nimmt, nicht einer Schwierigkeit aus dem Weg geht und alle Verantwortung für alles auf sich lädt.
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9. Die unvermeidliche, aber unhaltbare Situation: Der Mensch in.der Mitte zwischen sich selbst und Gott Hier gibt es keine Entwicklung, die aus einem tiefen, schöpferischen Grund steigt und sich nach einem verborgenen immanenten Gesetz bewegt, in das sich selbst einzustellen, das Wesen der Religion ist. Hier gibt es nur die eine freie Tat, die jetzt in diesem Augenblick geschieht, einfach dadurch, daß ich bin und lebe und dieser Welt als meiner Welt gegenüberstehe, dieser Welt, für die ich, wie sie nun ist, alle Verantwortung trage. Auf diese Eine Tat, auf diesen Einen Augenblick weist alles hin, was ich je tat, in ihr begegnen sich alle meine Handlungen und jede bringt immer wieder diese ganze Welt, diese ganze Zeit als ihre Last, als ihre Schuld. Denn es gibt nichts Einzelnes in dieser Welt, es ist alles ineinander verhaftet. Es ist darum nichts Gutes aus Bösem zu lösen. Es gibt nur zweierlei: entweder die ganze Welt ist gut oder die ganze Welt ist böse. I Und vom Menschen aus gesehen, ist diese ganze Welt böse. Oder nein, nicht vom Menschen aus gesehen. Vom bloßen Menschen aus gesehen ist diese Welt so, wie wir sie für gewöhnlich sehen: gut und böse durcheinander. Aber diese beiden, Gut und Böse, sind dann relative Begriffe geworden. Das heißt: gut ist das, was nicht böse ist, und böse ist das, was nicht gut ist. Da ist ihnen beiden, dem Guten und dem Bösen, ihre Absolutheit, ihr Dämonisches, ihre unüberwindliche Macht genommen. Es sind bürgerliche Tugenden und bürgerliche Laster aus dem gemacht, was Welten erbaut und Welten zerstört und die göttliche Schöpfung ins Fratzenhafte verwandelt. Also nicht vom bloßen Menschen aus gesehen ist diese ganze Welt böse. Aber sie ist es vom Menschen aus, wenn er als Mensch mit Gottes Augen sieht. Wenn er als Mensch mit Gottes Augen sieht! Dann sieht er die dämonische, götterhafte Gewalt des Bösen, der nichts entgeht, die alles mit ihrem vergiftenden Hauch streift, auch das Feinste und Edelste, das von Menschen gedacht und getan werden kann. Aber diese Situation ist ja in sich unhaltbar, daß man als Mensch mit Gottes Augen sieht. Sie ist in demselben Augenblick unmöglich geworden, in dem sie erkannt ist als Diese Situation, als diese sinnlose, daß wir uns als Menschen neben Gott behaupten wollen, daß wir als Menschen mit Gottes Augen sehen wollen.
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10. Die Entscheidung Und dann leuchtet Gottes Licht wieder rein über dieser Welt und über uns selbst, nicht mehr gebrochen durch unser menschliches Wesen. Und Gottes Macht kann frei ausgehen und ist nicht mehr gehemmt durch unseren Willen. Und aus jenem "die ganze Welt ist böse" wird nun das andere "die ganze Welt ist gut". "Ein Christenmensch ist heilig an Leib und Seel, er sei Lai oder Pfaff, Mann oder Weib." (Banner Ausgabe II, 318). "Den Segen soll man lassen bleiben auf dem ganzen Menschen mit Leib und Seele. Denn der ein Christ ist, der ist gesegnet durch und durch, alles, das er siehet, höret und fühlet; also daß sich das Wort mächtig weit erstrecket" (W. A. XXIV, 251). Hier ist freilich alles Gnade, alles Wunder. Man komme hier nicht mit psychologischen Erklärungen, man hüte sich sogar vor psychologischen Verdeutlichungen. Darauf kommt es ja gerade an, durch diesen letzten Kreis mit Rücksichtslosigkeit hindurchzustoßen. ihn so zu sprengen, daß er sich niemals wieder um unsere Gedanken schließen kann. Hören wir hier auf Ludwig Rubiners Wort: "Aber die letzte Barrikade gegen das Leben im Geiste, gegen die unbedingte Freiheit zu Gott, gegen unseren Weg zum Absoluten: ist die Seele"1. Oder wenn Sie lieber Luthers Stimme vernehmen: "Nit auf die ungewisse Reu, sondern auf sein gewisse Zusagung will er uns gebauet haben, daß wir bestehen mögen in aller Not." (Banner Ausgabe II, 98.) Es kommt alles darauf an, daß wir uns hier nicht verwirren lassen und hier nicht mit unseren menschlichen Fragen kommen; daß wir hier, wo Gottes Licht leuchtet, nicht versuchen, mit menschlichem Licht Klarheit, menschliche Klarheit zu schaffen. Es kommt alles darauf an, daß wir hier, wo alles weggeräumt ist, was uns von Gott trennt, und wo wir in Nacktheit von ihm stehen, wo wir nichts für uns bewahrten, daß wir da nicht wieder uns selbst zwischen uns uIJd Gott stellen. Hier gibt es nur Eine Verdeutlichung, nur Eine Offenbarung: Jesus Christus. Aber was heißt da Verdeutlichung, was heißt. da Offenbarung? Hier gibt es keine Verdeutlichung, keine Offenbarung, die von dem, was verdeutlicht, was geoffenbart werden soll, gelöst werden könnte. Jesus Christus ist selbst die Gottes-Tat, ist selbst die Vernichtung dieser Welt, ist selbst die ursprüngliche Schöpfung. Es ist die einfachste Sache von der Welt, daß Gott den Menschen durch einen Men1
Der Mensch in der Mitte, S. 184. Aktionsverlag.
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schen half. Und nur in ihrer letzten, tiefsten, einfachsten Einfachheit ist sie wahr. Aber diese letzte, tiefste, einfachste Einfachheit ist diese, daß man Gott nicht haben kann ohne Gott. I 11. Das Gericht Es bleibt uns nun noch die unmittelbare Anwendung dieser in unseren überlegungen gewonnenen Erkenntnis auf unsere gegenwärtige Situation, nämlich auf die Krisis unserer Kultur, in der wir heute ganz offenbar stehen. Ich kann hier im Grunde aber nichts anderes mehr· sagen, als ich schon gesagt habe; es kann sich nur um größere Verdeutlichung handeln. Der Sinn dessen, was ich bisher sagte, ist kurz zusammengefaßt dieser: Religiös betrachtet bedeutet jede Krisis der Kultur nur ein leises Vorzeichen, nur ein Gleichnis der totalen Krisis, die die Religion für jede Kultur bedeutet. Ist die Krisis aber Schicksal für die Religion, wird die Religion selbst von ihr erfaßt, ja droht ihr dieses Schicksal alfch nur von ferne, so ist das ein untrügliches Zeichen, daß die Religion sich selbst an die Kultur verlor. Von Bedeutung für diese Krisis, die dann auf die Religion überzugreifen droht, ist aber nicht, daß das Ansehen der Religion innerhalb der Kultur geringer wird und daß die Zahl ihrer Bekenner zurückgeht. So wichtig das im übrigen ist, hierfür sind es ganz gleichgültige Dinge. Von Bedeutung, ein Zeichen der Erkrankung ist dies, daß denen, die die Religion bekennen, eine ihrer wichtigsten Sorgen wird, wie der Anschluß an die Kultur zu gewinnen sei, und wie man dieser Kultur durch die Religion zurecht helfen könne. Es wird unversehens aus der Kultur der Zweck und aus der Religion ein Mittel zur Kultur, wenn denn auch das feinste, wichtigste und geistigste. Für die Religion, die sich selbst nicht verlor, kann eine Krisis der Kultur niemals Schicksal sein, sondern immer nur Aufgabe, zu vollziehen, was diese Krisis nur beginnt und auch nur dann beginnt und dann auch wieder nur gleichnisweise beginnt, wenn die Religion es vollzieht: nämlich das Gericht. Aber nicht das Gericht, das von außen her vollzogen wird in Verurteilung und Verdammung, das Gericht des Moralisten, der seinen gesetzlichen Maßstab hervorzieht und ihn an die kulturelle Wirklichkeit anlegt und nun die Fehler konstatiert. Auch nicht das sehr beliebte. und gerne vollzogene Gericht jener Leute ist
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gemeint, die, wie man das argloser, aber bezeichnender Weise nennt, in einer Bewegung stehen, die irgend einen Fehler an dieser Kultur entdeckten und ihn nun manchmal mit einem idiosynkratischen Eifer aus allen Winkeln dieser Kultur aufstöberten und, wenn sie ihn in allen Winkeln fanden, ihren Spruch ausstoßen. Wo solche Menschen auch helfende Arbeit tun, sei sie tausendmal gesegnet. Aber das ist ein Tropfen auf einen heißen Stein. Auch nicht das Gericht ist gemeint, das die Kultur immer und immer wieder an sich selbst vollzieht. Da fällt sie das Urteil etwa so: es mußte so werden nach den großen Gesetzen der Entwicklung. Es folge der letzte Akt. Und dann bereite man sich auf das nächste Spiel. Das Gericht, das die Religion an der Kultur vollzieht, ist wesentlich anderer Art. Es trifft nicht hier einen Fehler und da einen. So wie es das Gericht aller Moralisten tut, die hier etwas auszusetzen haben und da etwas. Es trifft aber auch nicht nur eine ganze Epoche der Kultur und spricht ihr das Todesurteil und stellt ihr den Sterbeschein aus. Sondern es trifft die Kultur als Kultur. Noch weiter müssen wir gehen: dieses Gericht zielt nicht auf eine besondere Zeit, die es vorher aus der ganzen Zeit heraus nahm, sondern es zielt auf diese ganze Zeit selbst. Dieses Gericht trifft nicht ein besonderes Stück der Welt, das es vorher aus ihr herausnahm, sondern es trifft die ganze Welt. Meinen Sie aber nicht, das bedeute nun ja doch nichts anderes, als daß diese eine besondere Kultur, um die es sich doch allein handelt, verschwinde in dieser ganzen Welt, die vor die Schranke gefordert ist. Und damit sei dieses Gericht doch nur ein Spiel, und nun komme hier zuguterletzt ja doch eine der beliebten und gut zu verwendenden Abstraktionen heraus, die sich gewöhnlich einstellen, wenn die Religion von den letzten Dingen redet, und mit denen sie dann der Wirklichkeit aus dem Wege geht. Man drehe sich doch nur um und sehe, gegen wen denn das Gericht ergeht. GegeI?- diese ganze Welt, ja. Aber die ist I tot und stumm, und es hat keinen Sinn von ihr Rechenschaft zu fordern. Dann bleibt also nur der, der das Gericht selbst anstellte, der diese ganze Welt vor seine Schranke forderte. Eben der Fromme selbst. Denn er ist der, der hört in dieser Welt, der sieht in dieser Welt, der eben das Gericht hört und sieht. üb er der einzige ist, der hört und sieht, oder nicht, ist ganz gleichgültig. Jedenfalls hört und sieht er das Gericht, das über die ganze Welt, über die ganze Zeit ergeht. Und er kann sich nicht lösen von dieser Welt, er kann sich nicht neben sie stellen und sagen: hier
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ist die böse, schlechte Welt und hier bin ich, der gute, reine Fromme. Die ganze Welt zeigt ja auf ihn: hier ist der, in dem ich mich selbst erkenne als die, über die das Gericht ergehen muß. Und alle Zeit läuft ja hin auf diesen Einen Augenblick und weist ·auf ihn: hier ist der, in dem ich endlich offenbar werde und alle meine Schuld herausschreien kann. Das ist das Gericht, das die Religion an der Kultur vollzieht, das die Krisis der Kultur, die die Religion selber ist. 12. Was sollen
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denn nun tun?
Zum Schluß noch ein Wort über die Frage: Was sollen wir denn nun tun? Denn diese Frage wird ja sicher gestellt werden. Sie liegt einem selbst immerzu in den Gedanken. Es hilft aber nichts: wir müssen sie erkennen als den Versuch, zuguterletzt doch noch dem einzigen, was zu tun ist, aus dem Weg zu gehen. Und das ist eben das, was wir ja schon taten, wenn anders unsere Worte nicht leer waren, wenn anders unsere Gedanken nicht nur ein theoretisches, spekulatives Spiel waren, sondern Verwirklichung: nämlich diesem Gericht standhalten, es vollziehen, das heißt aber - ich darf es nun wohl so nennen, ohne in Gefahr zu geraten, damit die letzte, höchste Aktivität aufzugeben, deren der Mensch fähig ist - das Gericht an sich vollziehen lassen. Hier schafft Gottes Hand ganz rein. Ist denn nicht genug geschehen, wenn wir sie schaffen lassen? Es gäbe doch nur ein Einziges, was nun noch notwendig wäre, nämlich dies, daß alle Augen geöffnet werden für das, was wir nun sehen, daß alle diesem Gericht standhalten. Aber kann das dadurch geschehen, daß wir dem Gericht davon laufen und ,zu Gott sagen: warte eine kleine Weile, daß wir die anderen auch holen? Das taten wir ja, und wir liefen lange genug davon, um zu wissen: Wir holen ihm so nicht eine Seele, nicht eine einzige. Wir .nehmen ihm so nur die eine, die wir schon im Begriff waren ihm zu geben: unsre eigene. Es geht nur so, daß wir da, genau da bleiben, wo wir uns nun endlich fanden: in Gottes vernichtender, schaffender Tat. Genau da, wo Jesus Christus spricht, heute wie vor zweitausend Jahren: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.
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122 DIE NOT DER ABSOLUTHEIT DIE RELIGIöSE ENTSCHEIDUNG Offener Brief an Pfarrer D. Emil Fuchs
Es wird wahrscheinlich Ihrer eigenen Ansicht nicht widersprechen, wenn ich sage, daß die Situation, in der wir Theologen und Kirchenmänner stehen, jeden Tag dringender zur Entscheidung treibt. Und ich werde wohl auch in übereinstimmung mit Ihnen sein, wenn ich unsere Situation so zeichne: auf der einen Seite das Christentum, auf der anderen Seite unser Volk und mehr als unser Volk, und wir, die Theologen, zwischen beiden als die, die den andern nicht mehr und ;nicht weniger als das Christentum schuldig sind. Sie selbst haben in Ihrer Entgegnung1 auf Wilhelm Schäfers Aufsatz über die Wartburgtagung2 die Situation so geschildert. Freilich Sie sagen es dort so: wir hätten heute die Aufgabe, ein Christentum zu schaffen, das seine Weltaufgabe sieht und das zugleich dem Arbeiter, dem Sozialisten eine Kraft sein kann. Erlauben Sie mir dazu ein paar Worte des Widerspruchs. Daß ich diese Worte an Sie richte, geschieht nicht nur, weil Sie mich in jener Entgegnung als an der Lösung dieser Aufgabe beteiligt gezeichnet haben, die Beteiligung an dieser Aufgabe, so wie Sie sie gestellt haben, aber allen meinen Einsichten und Absichten widerspricht, sondern vor allem weil mich seit langem der Gedanke plagt, daß unser, der Theologen, bestes Wollen auf falschem Wege ist, und weil ich wenige Pfarrer weiß, deren Wollen und Tun mir von je so rein und klug erschienen wäre wie das Ihre. Verzeihen Sie, daß ich als der Jüngere Ihnen das sage, aber ich muß es sagen, um mit dem, was ich schreiben will, ganz deutlich zu werden: I Ich darf wohl noch einmal unsere Situation zeichnen, wie wir sie übereinstimmend sehen. Sie ist so: auf der einen Seite das Christentum, ·auf der anderen Seite die Menschen und wir in der Mitte zwischen beiden. Aber als was stehen wir in der Mitte zwischen beiden? Das Frankfurter Zeitung 1920 Nr. 799. Frankfurter Zeitung Nr. 786, inzwischen neugedruckt: "Drei Briefe mit einem Nachwort an die Quäker." Verlag Georg Müller, München. 1
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scheint mir die entscheidende Frage zu sein. Nun ist hier nur Zweierlei möglich: entweder wir sind Vermittler oder wir sind Mittler. Vermittler: das heißt, wir stehen als Dritte zwischen den beiden Kontrahenten und verhandeln zwischen ihnen. Mittler: das heißt, wir stehen genau an der Stelle, wo die beiden Kontrahenten hart und scharf aufeinander stehen und wo sie schroff und feindlich gegeneinander stehen. Da können wir nicht Dritte sein, denn da sind wir Schauplatz, auf dem die beiden Kontrahenten ihr hartes Aneinander und ihr schroffes Gegeneinander auskämpfen. Und nun kann ich mir nicht helfen, ich habe den Eindruck, daß wir heute durchaus Vermittler sind und unser bestes und reinstes Wollen auch ·auf nichts anderes hinausgeht als darauf, Vermittler zu sein. Und zwar Vermittler nach beiden Seiten hin, zum Christentum hin und zum Menschen hin. Ich kann dafür, wie die Dinge liegen, keinen direkten Beweis beibringen. Immerhin, in Ihrer Entgegnung finde ich Belege für diese Vermittlung nach beiden Seiten hin. Und daß ich sie bei Ihnen finde, beweist mir mehr und erschreckt mich auch mehr, als wenn ich sie bei noch so vielen anderen Pfarrern fände. Denn das Verständnis für unsere Situation und der rücksichtslose Wille, sie verstehen zu lernen, scheint mir merkwürdig wenig verbreitet zu sein. Um so offener und öffentlicher sollten darum die, die klar sehen und unter allen Umständen sehen wollen, miteinander sprechen und sich gegenseitig zur rücksichtslosen Klarheit verhelfen. In Ihrer Entgegnung finde ich die Vermittlung zum Menschen hin darin, daß Sie von der Pflege der Frömmigkeit sprechen. Ich glaube wohl zu wissen, was das ist, und gestehe, daß ich lange genug solche Pflege geübt habe oder üben wollte. Aber ich glaube nun auch zu wissen, daß diese Pflege nicht von ferne an das reicht, was sie letztlich meint, nämlich jenes Hören und Sehen, das noch niemals ein Mensch sich selbst gab. Denn das kann nur von dem gegeben werden, der gesehen und gehört wird. Man kann es darum unmöglich dadurch I pflegen, daß man allerhand gute und erfreuliche Seelenregungen und Gemütsbedürfnisse kultiviert. Ich mag nicht ein Wort mehr sagen, um dergleichen Vorgänge im Menschen zu wecken. Und wenn ich es noch möchte (ich wüßte dann freilich, daß diese Pflege das vollendetsteMittel wäre, jenes Hören und Sehen zu blenden und zu betäuben, wenn - ja, wenn Menschen da irgendwelche Macht hätten), ich könnte es dann kaum verantworten, daß ich es noch auf unsere trotz aller religionspsychologischen Praxis höchst dilettantische theologische Weise täte und
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nicht auf die äußerst virtuose und raffinierte der Anthroposophen, die, was eine Technik ist, auch als Technik behandeln und üben und darum Erfolge über Erfolge haben und gar nicht bei den übelsten Menschen. Aber lassen Sie mich noch deutlicher sagen, warum ich die Pflege der Frömmigkeit für eine Vermittlung zum Menschen hin ansehe. Wo wir Menschen noch irgendwie meinen, helfen zu können, da scheint mir unsere eigentliche Not noch nicht von ferne gesehen, ja auch nur geahnt zu werden. Da weiß man noch nichts von jener unheilbaren Not der Absolutheit. Ich gebrauche mit Absicht dieses ungewohnte Wort, weil wir das Wort, das uns für diese Not überliefert worden ist, gar zu sehr in die Sphäre hineingezogen haben, wo wir mit einigermaßen gutem Willen alles machen können, wo wir meinen, mit einiger Pflege der Frömmigkeit die Not der Sünde heilen zu können. Zwar, wir müßten dann schon erst einmal die Sünde pflegen oder zum mindestens das Sündengefühl. Und damit wären wir bei denen, die einiges von der Frömmigkeit verstanden und darum auch wußten, wo man mit ihrer Pflege anzufangen hat. Es ist wohl auch nicht zufällig, daß vor kurzem im "Neuen Werk" der Ruf zum Pietismus laut wurde. Aber man weiß ja auch da nichts von der Not der Absolutheit und wird von ihr auch auf dem Wege des Pietismus nichts zu wissen bekommen. Auch da vermittelt man noch, wenn auch ohne zu wissen und zu wollen; man sieht nur ein Stück, nur eine Seite der Not und, wie das Vermittlerweise ist, die, an der sich dies und das ändern läßt. Die ganze Not, die allem und allem Bemühen der Menschen gegenüber bleibt, was sie ist und wie sie ist, und die, sah man sie einmal, in Allem und Jedem nagt und alle und jede Güte I zweifelhaft macht, sieht und hört man eben nur mit jenem Sehen und Hören, das den Absoluten sieht und hört und darum auch nur von ihm gegeben werden kann. Darum ist diese Vermittlung zum Menschen hin nur die Kehrseite der Vermittlung nach der anderen Seite. Auch sie finde ich in Ihrem kurzen Aufsatz, und zwar darin, daß Sie uns die Aufgabe stellen, ein Christentum zu schaffen, das seine Weltaufgabe sieht und das zugleich den Sozialisten und Arbeitern eine Kraft ist. Ich verstehe Sie wohl richtig, wenn ich sage, daß Sie diese Aufgabe stellen, weil Sie das Christentum für die Gottesoffenbarung halten, die uns allein aus unseren verfahrenen Zuständen helfen kann. Sie sehen selbstverständlich im Christentum nicht nur ein Produkt menschlicher Kulturgeschichte, das sich etwa schon in mancherlei Nöten der Ge-
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schichte als gute Hilfe erprobt hätte und darum heute mit einiger zeitgemäßer Anderung wieder einmal angewandt werden müßte. Sie sehen aber, wenn ich Sie recht verstehe, in ihm eine Gottesoffenbarung, die jeweils in die Form der gerade herrschenden Anschauungen und Lebensgefühle umgearbeitet werden muß, um der Zeit dann die Hilfe sein zu können, die eine Gottesoffenbarung sein will. Ich weiß wohl, mit wie viel und wie großem Ernst diese Auffassung durchgearbeitet worden ist, in dem dringenden Verlangen, das Christentum, das Gefahr lief, als Rest einer ungültig gewordenen Weltanschauung auf die Seite geworfen zu werden, für unsere Zeit zu retten. Und wenn es sich um etwas handelte, das nur ein Produkt menschlicher Kulturgeschichte wäre, so wüßte ich nicht, wie man anders als mit Bewunderung vor dieser kunstvollen Arbeit stehen sollte, die aus dem Erzeugnis einer ganz anderen und in allen ihren übrigen Teilen längst zu Grabe getragenen oder höchstens in Museen aufbewahrten Kultur etwas gemacht hat, das sich mit Anstand und leidlich beweglichen Gliedern heute unter uns als unsereins sehen lassen kann. Aber nun will das, was man so besorgt und geschickt ins Zeitgemäße verändert hat, etwas ganz anderes sein als ein Produkt menschlicher Kulturgeschichte. Und sein Verhältnis zu seiner jeweiligen kulturellen Erscheinungsform kann darum nicht das des Wesens zu seiner mehr oder weniger vollkommenen, aber im Prinzip durchaus mit der Zeit I zur Vollendung zu bringenden Umhüllung sein. Sondern es ist das des unerhörtesten Gegensatzes, des unbedingten Entweder-Oder, des nie zur Ruhe kommenden Kampfes. Eines Kampfes und Entweder-Oders, das wir auch durch gar keine Betrachtung sub specie aeterni aufheben und zur Ruhe bringen sollten. Denn wir sind ja niemals nur Betrachter, sondern wir sind eine Existenz in der Zeit, und schließlich ist diese Existenz das Wichtigste an uns, um derentwillen allein wir ja auch diese Betrachtungen anstellen. Und gerade mit ihr geraten wir Unter der species aeterni in die äußerste Bedrängnis, in den schärfsten Gegensatz zu dem "Ewigen", in das entscheidungsvollste Entweder-Oder: entweder wir oder die Ewigkeit. Wer meint, hier gäbe es auch nur zur Ermöglichung einer objektiven kulturellen und geschichtlichen Betrachtung ein Sowohl-Alsauch, das heißt, ein zuständliches ruhiges Ineinander dessen, was wir sind, und dessen, was die Ewigkeit ist, oder eine Einkleidung der Ewigkeit in die Form dieser Zeit auf Grund von umfassender und gründlicher geschichtlicher Erkenntnis und freier schöpferischer Tat,
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weiß nicht, was wir sind sub specie aeterni und dachte noch nie den Gedanken der Ewigkeit. Es ist wohl möglich, daß uns dabei das, was wir Christentum zu nennen uns gewöhnt haben, verloren geht, nicht nur seine Geschichte, sondern auch das, was wir sein Wesen nennen. Es liegt uns aber auch an ihm nichts, gar nichts, denn es liegt uns alles an der ewigen, ursprünglichen Gottestat, die diese ganze Geschichte erst in Bewegung setzte (müssen wir vielleicht sagen: von sich stieß?). Man braucht uns nicht erst darauf aufmerksam zu machen, daß die Kategorien Ursache und Wirkung hier nicht weiterführen. Ich weiß auch,· daß noch nicht viel gesagt ist, wenn ich sage, daß hier die Kategorie des "Von-neuemgeboren-werden" gilt, also die Kategorien Tod und Geburt. Die einzige Verbindung also, die es an dieser Stelle gibt, wäre die der absoluten Gegensätzlichkeit. Immerhin: wissen wir auch von der ursprünglichen Gottestat nichts, dann wissen wir doch gerade durch dieses Nichtwissen von der tatsächlichen Unmöglichkeit unserer Existenz und von der Notwendigkeit aus ihr herauszukommen. Wird dann aus dieser Notwendigkeit, die eine göttliche ist, gen au wie die ihr entsprechende Unmöglichkeit unserer Existenz, die Wirklichkeit, die I wieder, wenn sie überhaupt ist, nur eine göttliche sein kann, so werden wir uns wahrscheinlich jene Geschichte des Christentums von neuem gewinnen müssen. Denn ist sie die Geschichte des Christentums, das heißt, ist das, von dem sie berichtet, von Gottes ursprünglicher Tat in Bewegung gesetzt und (und nun brauche ich nicht mehr zu fragen) abgestoßen, so muß es eine Fülle des Neuen Lebens in sich tragen. Und wir werden uns in dieser Welt des Todes nicht einen Pulsschlag jenes Lebens entgehen lassen wollen. Freilich wir sind Menschen und jenes Leben ist Gottes und darum nur mit einer Betrachtung zu erblicken, die keinen Augenblick aus der ruhelosen Gegensätzlichkeit herausfällt, die für uns die einzige Verbindung ist mit allem, was göttlich ist, und die wohl überhaupt unser ganzes inneres Sein beherrschen wird. Denn was wir von neuem geboren sind, das sind wir in Gott; wir selbst aber bleiben Menschen. Und selbst wenn wir in glaubendem Trotz oder in kühner Plerophorie all unser Sein mit all seiner Unmöglichkeit und Sünde in Gottes Sein hineinstellen - und Gottes übermächtiges ursprüngliches Sein zwingt uns, es zu tun - dann ist doch dieses Tun und der Glaube, in dem es geschieht, noch unser, und vielleicht ist die Gegensätzlichkeit, die zwischen uns und Gott ist, hier, wo Gottes Friede sich ganz um
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sie legt, am allergrößten und unser Wissen von ihr hier am allerdeutlichsten. Es muß darum auch wohl so sein, daß man aus unseren Worten, mit denen wir hiervon sprechen, mehr das Nein als das Ja hört, mehr den Kampf als den Frieden. Und es sollte einen nicht so sehr wundern, wenn das Ja selbst dann so gut wie ungehört bleibt, wenn es auf das deutlichste und bestimmteste gesagt wurde. Es ist wohl für uns Menschen in diesem Leben auch nur dann das wirkliche Ja, wenn es vom Nein rings umgeben ist. Luther, der ja in diesen Dingen nicht so unerfahren ist, meint dazu: Wir wissen, daß Christus selbst das Evangelium nicht habe lehren können, ohne zu strafen. Und die Weisheit klaget, daß ihre Zucht verachtet worden. Sie ist das Salz der Erden: sie beißet, daß sie reinige: straft, daß sie heile: schilt, daß sie selig mache: tötet, daß sie lebendig mache. W':!r anders lehret, der predigt nicht das Evangelium, sondern plaudert seine Schmeichelei daher (Walch XVIII, 1316). I Ist es nun so, wie ich sagte, daß das Verhältnis der ursprünglichen Tat Gottes, die wir meinen, wenn wir vom Christentum sprechen, zu ihrer jeweiligen kulturellen Erscheinung nicht das des Wesens zu seiner immer mehr zu verbessernden Erscheinungsform ist, sondern das des, von der Erscheinungsform her jedenfalls, unaufhebbaren Gegensatzes, so ist es auch klar, daß man das Christentum für sich und seine Zeitgenossen nie und nimmer dadurch gewinnen kann, daß man seine Erscheinungsform nach den Forderungen der Zeit umschafft oder neuschafft. Wer da anfängt, will vermitteln zwischen der Ewigkeit und der Zeit und greift auch mit den reinsten Händen und dem besten Willen immer nur in die Zeit. Wollen wir das Christentum, dann gibt es nur das, was menschlich eine Unmöglichkeit, aber göttlich eine Notwendigkeit ist: das Greifen nach der Ewigkeit, nach der Gottestat selbst. Da gibt es nur das Sich-in-die-Mitte-stellen zwischen sich selbst und Gott, wo man aber nicht mehr Dritter ist, auch nicht neben sich und Gott; dorthin, wo die " Weisheit beißt, daß sie reinige: straft, daß sie heile: schilt, daß sie selig mache: tötet, daß sie lebendig mache".
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E.FUCHS: VOM UNBEDINGTEN ERNST UNSRER FRöMMIGKEIT
Antwort auf Friedrich Gogartens Klage über die Not der Absolutheit Lieber Freund! Darf ich so sagen und zwischen uns die gesellschaftlichen Schnörkel wegwischen? Ich habe wenigstens das Bedürfnis so zu sagen, da wir so zu einander stehen, daß wir um das Tiefste der Menschenseele miteinander geistig ringen. Das Lesen Ihres offenen Briefes war mir eine Andachtsstunde voll Selbstprüfung und ermutigender Freude. Tief empfunden habe ich es auch, wie wundervoll es für Sie, die Jüngeren, ist, das Wirken im Leben zu beginnen in einer Zeit, da der ganze Ernst aller wirklichen Lebensfragen so gewaltig uns bedrückt. Wie mühsam mußten wir uns zu der Entschlossenheit des ganzen Erlebens und Entscheidens durchringen. Aber vielleicht tragen wir doch auch aus jenen ruhigen Zeiten eine Erfahrung des Göttlichen in uns, die nicht unbeachtet bleiben darf. Besonders tief berührt hat mich Ihr Wort: "Wir werden uns in dieser Welt des Todes nicht einen Pulsschlag jenes Lebens entgehen lassen wollen." Ja. Das ist es vor allen Dingen! Selma Lagerlöf läßt in ihrer Legende "Die Vision des Kaisers" den Kaiser Augustus I das große Wunder miterleben - und am andern Tage baut der Kaiser dem großen Wunder einen Tempel. Wenn ich als Kind solche Geschichten las, kam es mir immer unmöglich vor, daß die Betreffenden mehr nicht taten. Mußte er nicht hinziehen und sich dem Wunder ganz hingeben? - Nein! Das ist das Furchtbare im Schicksal und Wesen der Menschen. Sie bauen dem Wunder wohl einen Tempel, wohl auch in ihren Herzen - aber die Macht und Bedeutung geben sie immer wieder der Alltäglichkeit, die doch Nichts, wirklich Nichts ist für den, der eine Ahnung des Ewigen wirklich in sich trägt. Das Ewige völlig ernst nehmen als die Wirklichkeit, das ist mir Frömmigkeit, "Glauben", wie es Luther nennt. Die Menschen, die nur so ein wenig angekränkelt sind von der Frömmigkeit, d. h. sie wie einen wunden Punkt sentimentalen Empfindens auf der sonst recht
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gesunden Haut weltlicher Klugheit und Anpassung tragen, - früher meinte ich, ich müßte sie schütteln und rütteln - jetzt genügt es mir, mich deutlich von ihnen zu scheiden. Am furchtbarsten sind diese Menschen, wenn sie den Mut haben, gleichzeitig Gott zu predigen und ihr Leben, ihre Kirche nach Rücksichten weltlicher Klugheit einzurichten und zu verwalten. Es scheint mir, daß hier die eigentliche Todesgefahr unserer evangelischen Kirche liegt. Selbst heute können die Maßgebendsten unter ihren Maßgebenden sich nicht ganz und gar auf die Wirklichkeit des Ewigen stellen, sondern leiten unsere Kirche nach den kleinen Rücksichten irdischer Anpassung. Will ich also die Gottesoffenbarung des Christentums für unsere Zeit umarbeiten oder umarbeiten helfen? - Ja bin ich ein Christ? Ich gestehe Ihnen offen, daß ich darauf keine so rasche, sichere Antwort geben kann. Die Wirklichkeit des Ewigen erfassen: das ist immer die Sache des einzelnen Menschen, immer wieder ein Eigenes und Letztes. Hier ist nichts zu "erneuern". Ein Jeder kann nur das sein, was er ist, ergriffen von jenem Urgewaltigen, dessen Gewißheit uns immer wieder als das Wunder aller Wunder erscheint. Das bin ich nun, ganz wie ich es bin, und da mir die Stimme dieses Urgewaltigen aus Jesus hertönt, aus Amos, aus Paulus, aus Luther so ist es mir ganz selbstverständlich, in ein nahes inniges Verhältnis zu ihnen zu treten und Andere dadurch reicher zu machen, daß ich sie zu ihnen führe. Aber ich empfinde gegenüber einem Rabindranath Tagare keine Scheidewand. In andern Formen und Gefühlen klingt mir von dort das Ernstnehmen der Wirklichkeit entgegen, die heilig über allem Vergänglichen und Irdischen steht. Wenn das Frömmigkeit ist, kann man sie dann pflegen? Nein, man kann es nicht. Sie haben ganz recht, mir diesen unglücklichen Ausdruck vorzuhalten und mir klar zu machen, wie ganz gefährlich es ist, ihn zu gebrauchen. Wir merken oft selbst nicht, wie wir uns - schon in unserm Sprachgebrauch - überlieferten Irrtümern anpassen. Die Wirklich- I keit des Ewigen muß in das Sein eines Menschen eintreten oder nicht. Pflegen können wir nur Gefühle oder Empfindungen, und wenn "fromme" Gefühle oder Empfindungen nur groß werden, weil Andere sie pflegen, dann haben wir eben jenes Angekränkeltsein von Frömmigkeit. In ihm ist die Frömmigkeit eine Unwahrhaftigkeit und wird den Starken, Wahren geradezu verächtlich. Ebensowenig können wir Frömmigkeit vermitteln, anpassen. Immer bedeutet das, daß wir Menschen veranlassen, etwas, was in Andern
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ganz groß, wahr, gewaltig gewesen ist, in ihr Leben hineinzunehmen, in dem es ein Fremdes ist und bleibt und eben nur dann Kraft, Wahrheit und Leben sein könnte, wenn es dasselbe Sein der Wirklichkeit in ihnen wäre, wie es bei jenen war. Was meinte ich mit jenem unglücklichen Ausdruck? Einmal Gemeinschaftsbildung der wahrhaft Frommen, daß wir ganz stark, ganz wahr zu einander treten und jener heißen Sehnsucht Stillung suchen, die den Widerstrahl der Urgewalt allergrößten Erlebens in andern Menschenseelen so wunderbar selig empfindet. Ich habe diese Sehnsucht und halte sie mit für ein ganz Starkes in aller Frömmigkeit. Was wir weiter tun können, ist, als Einzelne, als Gemeinschaft vor die Andern treten mit unserm ganzen Ernstnehmen und dadurch versuchen, sie aus den Betäubungen aufzurütteln, in die der Dunst der Surrogate für Religion oder der Dunst irdischer Wichtigkeiten sie versetzt hat. Und ankämpfen können wir gegen die ganze Roheit, Alltäglichkeit, belastende Bitterkeit des Lebens, das, vielen Menschen die lebendige Kraft ihrer Seele, die Wahrhaftigkeit selbst, erstickt und tötet, ehe sie dahin kommen, selbst sie zu verteidigen. Gleichzeitig können wir streben, möglichst viele Menschen in die Gemeinschaft unsers seelischen Lebens hineinzuziehen, damit sie wieder lernen, es als die Wahrheit zu nehmen und ihm sich hinzugeben. Erst dann ja wird ihre Seele die Fähigkeit finden, das Sein des Ewigen in ihr und um sie wirklich zu nehmen. Solcher Zusammenschluß wirklich frommer Menschen muß in mitreißender Kraft eine starke Lebens- und Gewissensführung für unser Volk werden. Das nannte ich "ein neues Christentum schaffen". Frömmigkeit läßt sich nicht schaffen, wohl aber eine Gemeinschaft der Frommen voll tragender Gewalt für weite Lebenskreise. Man kann lächeln über die hilflosen Versuche kleiner Menschen, da zu bessern, was das Geschick auf die Menschheit legte. Mir aber war es der große Augenblick, da ich der unbedingten Wirklichkeit des Ewigen gewiß wurde, als es mir zeigte: Du mußt jede dieser Menschenseelen unbedingt wichtig nehmen. Du mußt unermüdlich die Gemeinschaft mit ihnen suchen und sie zu sich selbst bringen. Du mußt ein Kämpfer sein gegen jede Gemeinheit und Roheit, in der Menschenseelen ersticken. Wenn ich das lassen wollte, so würde ich eben das Ewige nicht mehr ernst nehmen, wie es in mein Leben trat. Ich kann und darf
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mich an Nichts freuen, das ich nicht gleichzeitig zu einem Mittel mache, andern Menschen ihre Seele lebendiger, wahrer zu gestalten. Selbst mein Familienleben ist mir nur so ein Glück, das ich unbefangen genieße, wenn es gleichzeitig eine offene Gemeinschaft für alle ist, die den zarten Kräften, welche auch von hier aus Seelen stärken und wecken können, zugänglich sind. Das ist eben das überwältigend große Erleben meiner Frömmigkeit, daß wir kleinen, irdischen Menschen Werkzeuge des unaussprechlich Gewaltigen sind. Durch uns hindurch schafft er jenes Große, das größer ist, als wir ahnen, von dessen Größe aber überall da ein Abglanz und eine wahrhaftige Wirklichkeit ist, wo jene wirkliche Seelengemeinschaft sich bildet und jenes wahrhaftige Leben der Seele ist, in denen er uns umschließt. Das aber ist für mich die Arbeit der Kultur. Sie gestaltet die Menschheit um zu einer Gemeinschaft der Seelen, sagen wir das alte heilige Wort: zum Reiche Gottes, wenn auch darin mehr gesagt ist, als wir uns ausdenken können. Deshalb muß die wirkliche Kunst das Leben und Sein der Seele uns herausstellen. Deshalb muß das Recht Gemeinheit I und Kampf einschränken. Deshalb müssen wir alle täglich kämpfen, ringen, schaffen und gestalten, daß wir uns näher und inniger mit denen verstehen können, die unsere Lebensgemeinschaften bilden. Alles Materielle ist nur vorbereitendes Mittel. Aber alle materielle Erleichterung des Lebens wirkt auch mit, daß mehr Seelen frei sich gestalten können und immer weniger vom Drucke des Reinirdischenerdrückt werden. Daß dabei immer wieder das Wirtschaftliche zum Beherrschenden wird und die Menschen in dem stecken bleiben, was nur ein Umweg zum Wahren sein sollte, ist das große Verhängnis der Kleinen, Schwachen, Irdischen. Und nun lächeln Sie vielleicht, wie so Viele. Vielen ist das schon ein Steckenbleiben, daß man dies Irdische und Kußerliche überhaupt ernst nimmt. Ich aber stehe mit meinem ganzen Sein und Wesen dort drüben, wo Millionen - Millionen - vom Drucke erbärmlicher Kußerlichkeiten um ihr Menschentum gebracht werden. Es ist mir ganz unmöglich, a11 das ungeheuer Große der Seele zu haben - und zuzusehen, daß es diesen einfach verschlossen ist. Und wenn es Schaden litte, und wenn es zu Grunde ginge, ich muß hinüber und mit ihnen ringen und arbeiten aus ihrer Enge und Dumpfheit herauf, bis auch ihnen das Leben weit und
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frei genug wird, daß ihr,e Seele Seele sein und leben und die Wirklichkeit des Ewigen mit ganzer Kraft umfangen kann. - Gott sei Dank, das Leben der Seele leidet nicht Not in solcher Arbeit, sondern steigert sich in einer innerlichen Entschlossenheit und Kraft, darin von Neuem die Wirklichkeit Gottes sich offenbart. So kann ich nur zu einer religiösen Gemeinschaft gehören, die tragende Kraft für alle werden will. Deshalb bin ich Pfarrer. Deshalb gehöre ich trotz allem zur Volkskirche. Deshalb suche ich die Wege, ,auf denen wir, die Frommen, zu Weckern und Kräften im Volksleben werden können, selbst auf die Gefahr des Irrtums und der menschlichen Schwachheit hin. 0, ich weiß es klar und ernst: man kann sich unter die ringenden Massen der Menschen stellen und mit ihnen klein und schwach werden, mit ihnen dem Materiellen dienen, mit ihnen das Bestehende als Macht anerkennen und sich ihm innerlich beugen, mit ihnen die Kunst als eine fröhliche Erheiterung des Lebens hinnehmen, mit ihnen essen, trinken, freien und sich freien lassen und eigenes Wohlergehen, eigenen Aufstieg sich zum Lebensziel werden lassen; es liegt eine ungeheure Gefahr im Mitarbeiten mit den Menschen an ihrer "Kultur". Aber doch nur für den, der es eben nicht ganz ernst genommen hat mit jenem Ewigen. Und ist mit dem überhaupt zu rechnen? - Der Ernste strauchelt, paßt sich auch einmal mehr an, als er dürfte. Es reißt ihn wieder heraus und weiter. Dieser schwere Kampf ist sein Schicksal. Zur völligen Kompromißlosigkeit zu kommen durch Herauslösen aus der Gemeinschaft der Halben - Individualismus, Sekte, soziale Siedlung - ist mir unmöglich, so sehr ich mich derer freue, die ganz und echt diesen Weg gehen. Kennen Sie E. T. A. Hoffmanns Märchen vom Goldenen Topf? Den Einen ist er der wunderliche, lächerliche Herr Archivarius Lindhorst mit seinem ganzen absonderlichen, nicht ernst zu nehmenden Wesen dem Auge des Ergriffenen die erhabene Gewalt schicksalhaften Schaffens. Das gilt auch von unserer Kultur - es gilt von uns allen. Nicht die Religion, Gott selbst ist mir tragende Kraft der Kultur, die nur so lange "Kultur" ist, ,als sie mit Ihm etwas zu tun hat, ob sie es weiß oder nicht. Was Sie Kulturreligion nennen, ist mir nur ein Surrogat. Ihr fehlt ja das Ernstnehmen, das alles entscheidet. Wohl uns, wenn der Glaube uns trägt, der uns nicht irre werden läßt an dem ganz Großen, ganz Wunderbaren, das wir sind, zu dem wir sind.
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Und das Nein? - Ist es nicht die ganze entschlossene, starke Lebenstat, die nur die Seele wichtig nimmt und nichts Anderem dient bei sich und Andern? Es ist die Lebenstat, die lächelnd an den äußeren Vorteilen und Stellungen vorübergeht, die Andere sich erkaufen - auf Kosten ihrer tiefsten Wahrheit. Es ist die große, große Fröhlichkeit, die das Leben füllt I unter den Enttäuschungen des Irdischen, im steigenden Gefühl der unendlichen Wirklichkeit, der man gehört. Es ist die klare Fähigkeit, im Andern immer nur seine eigene Wahrheit und Seele zu sehen und zu nehmen und nicht sein Außeres, auch nicht dann, wenn er es selbst für sehr wichtig hält. Ja - mein "Nein" ist immer ein "Ja"! So wie ich "Nein" sagen will, leuchtet mir aus irgend einem verborgenen Ecklein des verkümmerten Menschenwesens, durch den Herrn Archivarius Lindhorst hindurch, jenes Andere entgegen, dem ich mich ehrfürchtig beugen muß, und ich sage: Ja, du Ewiger, auch hier muß ich dir dienen und dich lieben und kann nicht ferne sein dem, aus dem heraus Du Höhen und Sonnen schaffen willst - zu seiner Zeit. Reden wir nur verschiedene Sprachen? - Bis zu einem gewissen Grade ist es so. Denn immer wieder fühle ich, wie nahe wir uns sind in unserm Empfinden. Aber es ist doch noch mehr. Durch uns kleine Menschen hindurch leuchtet ja immer nur ein Strahl der Wirklichkeit, die uns ergreift und mit uns arbeitet, was sie will, und das ist oft ein Anderes, als uns es zu sein scheint. Deshalb sind alle unsere Formulierungen so sehr mangelhaft und verschieden. Deshalb will ich Sie auch nicht belehren und nicht überzeugen. Ich bin ganz zufrieden, wenn aus meinen Worten Sie das berührt, was aus Ihren Worten mich berührt hat, das große Gefühl, daß hier eine Menschenseele wahrhaft auf ihre Weise die göttliche Wirklichkeit geschaut und ernst genommen hat. Wo man das fühlt, gehört man zusammen und der Unterschied wird für einander zur Bereicherung des Lebens. Miteinander wollen wir weiter den Weg des unbedingten Ernstnehmens für uns und unser Amt suchen.
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E. TROELTSCH: EIN APFEL VOM BAUME KIERKEGAARDS
Es ist das Schicksal unseres schon ohnedies so kleinen und kirchlich einflußlosen Kreises, daß immer von neuem Erisäpfel in ihn hineingerollt werden, die alle anregen, viele aufregen, schließlich neue Glieder heranlocken und alte verärgern. Das macht unseren Kreis so anregend, macht ihn aber .auch zu einem Spiegelbilde der ganzen so überaus schwierigen Lage des deutschen Protestantismus-, der teils ein Annex der konservativen Staatsform und ihrer Herrenschichten, teils in alter lutherischer Weise die berufsständische Religion bäuerlicher und kleinbürgerlicher Kreise, teils eine halb-wissenschaftliche Kulturreligion, teils ein Experimentierfeld religiöser Subjektivitäten ist. Von alle dem, am meisten aber vom letzteren, steckt etwas in unserem Kreise, den seine Kleinheit und das persönliche Vertrauen der Mitglieder zu einander trotz allem zu ehrlichem Austausch beisammen hält und der dadurch einen Mikrokosmus ehrlicher und persönlich liebenswürdiger Protestantismen bildet. Aber das bringt auch die Folge mit sich, daß aus allen diesen Ecken von Zeit zu Zeit Erisäpfel in den Kreis geworfen werden und freundschaftlichen Streit, wohl auch innere Sorge, stets von neuem erregen. Den letzten solchen Apfel hat Pfarrer Gogarten hereingeworfen. Es ist ein Apfel vom Baume Kierkegaards. Daß ein Schriftsteller, vermutlich vor allem aus ästhetischer Freude an scharf geschliffenen Paradoxien und an dem die Phantasie reizenden tragischen EntwederOder, sich in einer großen Tageszeitung für Gogarten erklärt und alles übrige mit einiger Geringschätzung behandelt hat, hat die Wirkung erhöht. Das ist seit alten Zeiten die Wirkung Kierkegaards, der, selbst zur Hälfte Ästhetiker und Künstler, stets die Nichtchristen stärker ergriffen hat als die Christen. Ich konnte bei der letzten Eisenacher Tagung nicht anwesend sein. Sonst hätte ich mich an der Aussprache beteiligt, um so mehr, als nach meinem Gefühl sich Gogarten ganz wesentlich gegen mich wendet. Ob er dabei meine Meinungen richtig auffaßt und mir, dem vor allem der Entwicklungsbegriffeines der schwersten Probleme ist, nicht gerade hierin eine etwas trivialere Auffassung zuschreibt, als ich sie wirklich habe, das möge als eine schließlich persönliche Angelegenheit hier außer Betracht bleiben. In dem Verhältnis von Christentum und Kultur habe ich stets eine offene, überaus schwierige Frage gesehen und darum die Askese, in ihrer katholischen wie in ihrer protestantischen Gestalt, stets neu betont. Freilich ist dabei die Askese nur .eine Seite der Sache und
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hat der Zwang des Lebens stets diese Askese irgendwie ergänzt oder umgebogen. Das ist nun wesentlich theoretisch und historisch geurteilt. Daß es sich um sehr viel allgemeinere und vor allem die Pfarrer betreffende Dinge handelt, zeigt sein Brief an Pfarrer Fuchs, an den ich mich daher im Folgenden auch wesentlich halten will, soweit er durch die praktische Nutzanwendung den Gedanken selbst schärfer verstehen lehrt. Gogarten spricht wie Kierkegaard von "dem Christentum", das ihm mit keiner Kirche oder Konfession'oder historischen Gestalt zusammenfällt, sondern das ein ganz persönliches, von I der Seite des schärfsten Radikalismus gegen Welt, Volk, Staat, Kultur und Kirche genommenes Privat-Christentum ist, sich aber auf Grund des gemeinsamen Radikalismus ohne Weiteres als das intuitiv und allein tief und wahr verstandene Christentum Christi gibt. Wie Gott angeblich einfach radikal der Welt gegenübersteht, in grundlos überlogischer Freiheit in sie eingreifen kann und die von ihm grundsätzlich abgefallene Welt wesentlich in ihres Nichts durchbohrendes Gefühl zurückwerfen will, so handelt es sich für dieses Christentum ausschließlich darum, sich in dem überzeitlichen Augenblick des persönlichen Gegenüber von Gott und Mensch von dem Absoluten schlechthin richten und verurteilen zu lassen, und zwar das so gründlich, daß man über sich selbst dabei gar nicht hinausgeht und auf jede Mitteilung und übertragung dieses Seelenzustandes auf Andere verzichtet. Die Begegnung mit dem Absoluten, sein radikaler Gegensatz gegen die Welt, die Selbstverurteilung des Menschen in dieser absoluten Situation und die Geringschätzung aller Vermittelung zwischen Gott und Welt, welche nach Kierkegaard wesentlich Interesse und Werk aller Kirchen ist: das ist das Christentum der Absolutheit oder des Entweder-Oder, der Echtheit und seelischen Tiefe, der historischen Wirklichkeit und des Ideals. Weiteres darf gar nicht mit ihm in Zusammenhang gebracht werden. Während Kierkegaard sich vor allem gegen die Kirchen wendet, wendet sich Gogarten gegen die Kultur, gegen ihre sozialen Forderungen und wissenschaftlichen Gedanken, die alle historisch oder intellektualistisch sind. Die Naturwissenschaften liegen Gogarten ferner, sonst würde er auch den Ausgleich mit ihnen ähnlich stigmatisieren. Die Position scheint wie bei Kierkegaard rein religiös begründet, sie ist aber wie bei diesem mit sehr subtilen und gegenwärtig sehr modernen Philosophemen über das Relative und Absolute, über Intuition und Verstandeserkenntnis, über Zeit
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und Augenblick verbunden, auch in einer sehr philosophischen Sprache ausgedrückt. Durch Berufungen auf Jesus und auf Luther ist das vielfach verdeckt. Aber dabei muß man bedenken, daß für Jesus das Entweder-Oder die Entscheidung für das kommende und bevorstehende Gottesreich war, das dann den positiven Gehalt der Religion und der Weltbeziehung bringen würde. Bei Luther darf man nicht vergessen, daß der radikalen Ertötung des alten Menschen die Belebung des neuen entsprach und daß dieser neue Mensch auch nach Luther seine Vermittelungen mit der» Welt" suchen mußte. Wenn man seine Erfahrungen auf dem ersten Gebiete schätzt, so darf man die nicht minder gründlichen und schmerzlichen auf dem zweiten nicht übersehen. überhaupt darf man nicht vergessen, daß die alte Kirche schon seit Paulus bei dem Zurückweichen der Utopie des bevorstehenden Gottesreidtes nach allen Seiten unzählige Vermittelungen schuf und den alten Radikalismus als Askese und Mönchtum nur in ihrem Kernholz zurückbehielt. Nur so ist sie überhaupt eine Größe der historischen Wirklichkeit geworden, und ihre historischen Absenker, die protestantischen Kirchen, mußten auf etwas andere Weise den gleichen Vermittelungsweg gehen. Für ihn sprach überd;es immer außer den Notwendigkeiten des Lebens und den in den heiligen Schriften selbst schon (besonders bei Paulus) ausgesprochenen Zugeständnissen an diese doch auch etwas in der christlichen Idee selbst, die Fortdauer des Schöpfungsglaubens, die weltumspannende und also auch jene Notwendigkeiten mitumfassende Einheit Gottes und ein undefinierbares im Liebesgedanken Jesu liegendes Element der Mitempfindung alles Menschlichen und Natürlichen. Nur kleine, dann auch konsequent chiliastische Sekten konnten das Entweder-Oder Jesu erneuern und dann meist verschärfen; nur mystische Versenkung konnte es durch einen psychologischen gleich radikalen Dualismus ersetzen. Um so interessanter sind dann die auch unter diesen Umständen niemals ausbleibenden Vermittelungen mit der Welt und die jedesmal nach schroffen Anfängen einsetzenden Verweltlichungen. Kierkegaard seinerseits gehört durch Abstammung und Erziehung wie durch Geistesart und schließliche Lebensrichtung in diese Gegend der Sektenreligion und hat dementsprechend für ein rein individuelles und abstraktes, rein persönlidtes und absolut radikales Christen- I tum gekämpft. Er war zu einer besonders tiefen Herausarbeitung dieses Gegensatzes insbesondere disponiert durch seine ästhetisch-künstlerische Lebensperiode, in der er oft bis an die Grenze des sittlich Möglichen gegangen ist und
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den Spürsinn der modemen Psychologie für alles Raffinierte und Versteckte bis aufs Kußerste ausgebildet hat. Die Wendung gegen diesen in seinem eigenen Wesen liegenden Gegensatz hat ihn dann zu jenen scharfsinnigen Auseinandersetzungen mit der romantischen und pantheistischen Entwicklungsphilosophie geführt, die in der Tat ernsteste Probleme beleuchten und die ihn selbst in den schroffsten pietistischen und nun vollkommen psychologisierten Dualismus hineingetrieben haben. Vor der Notwendigkeit, die positive, bejahende, irgendwie mit der Welt sich abfindende Seite seiner Religion herausarbeiten zu müssen, bewahrte ihn sein früher Tod und seine völlige Einsamkeit und Absonderlichkeit, welche mit einer psychopathischen Anlage zusammenzuhängen scheinen. Das Gefühl der an diesem Punkt bestehenden Schwierigkeit ist es wohl, was ihn immer maßloser und bitterer in seiner Polemik gegen die Welt-, Vermittlungs- und Kirchenchristen werden ließ, nachdem er erst nur die Vermittelungen von Welt und Gott in der deutschen spekulativen Philosophie leidenschaftlich bekämpft hatte. Er hatte schließlich nur mehr Polemik und nichts Positives, in der Richtung auf sich selbst nur die aus der "absoluten Situation" Gott gegenüber entspringende Selbstverurteilung. Zu verstehen ist das wohl. Denn es ist nicht zu leugnen, daß in der modemen Welt das Christentum - kirchlich und außerkirchlich - noch unendlich viel tiefer in die weltliche Kultur, in die modeme Wissenschaft, in die sozialen Probleme, in Politik und Oekonomik hineingerissen worden ist, als das für den Katholizismus und die altprotestantischen Kirchen der Fall war. Die modeme Welt stellt alles auf die Autonomie oder Eigenkraft des Menschen und glaubt ihm in der Wissenschaft dafür den Führer und Organisator mitgegeben zu haben. Man braucht nur an Giordano Bruno und an Bacon zu denken, die von entgegengesetzten Seiten her den gleichen Weg gewiesen haben. Daneben ist die Stellung jeder Religiosität und vor allem des Christentums unzweifelhaft schwierig. Von diesen Schwierigkeiten ist das modeme Leben voll, und es ist ganz richtig, daß dementsprechend die modemen Vermittelungen sehr viel weiter gegangen sind als die der katholischen und altprotestantischen Kirchen. Gogarten empfindet in diesen Vermittelungen den Verlust des radikalen Entweder-Oder, des radikalen christlichen Dualismus. Denn das ist dasjenige, was er unter der "Absolutheit" versteht. Ich kann das sehr wohl nachempfinden und vermute, daß seine psychologischen Voraussetzungen ein bißchen ähnlich sind· wie die Kierkegaards. Insbe-
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sondere scheint ihn das soziale, mit der Oekonomie vermittelnde Christentum und das Werben um die Massen abgestoßen zu haben. So zerhaut er den Knoten ganz ähnlich wie Kierkegaard, den Knoten, an dem Jahrtausende aus guten Gründen geschürzt hatten, der in der modernen Welt allerdings recht verwickelt geworden ist und an dem nur Allzuviele ohne Ahnung von seiner Gefährlichkeit und Schwierigkeit mit braven, aber leichten Händen weiter schürzen. Ist eine derartige Position in innerer persönlicher Notwendigkeit begründet, so ist mit ihr schwer zu rechten. Logische und historische Gründe verfangen bei der heutigen "Jugend" überdies nicht. Sie hat den Antihistorismus, den Irrationalismus und Intuitionismus, Dinge, um die wir Älteren uns heiß und vorsichtig bemüht haben und die für viele Jüngere heute schon bequeme und vergnügte Dogmen geworden sind. Man kann dem also nur die eigene instinktiv, innerlich letzte, mit einem selbst gewachsene religiöse Position entgegenstellen. Das ist ja schließlich auch in der Tat das Entscheidende und Wesentliche; nur ist es bei Niemandem so ohne Weiteres, ohne historische und kulturelle Besinnung und ernstes Denken erwachsen, wie unsere neuesten ErlebnisRomantiker es gerne darstellen. Meine persönliche Position also, von der denn nun geredet werden muß, ist gegenüber der Gogartens eine gänzlich instinktiv I und naiv andere Fassung des religiösen Dualismus. Gottes Wesen und ewige Schöpfung mag völlig grundlos und überlogisch sein. Es mag als beständige Neuschöpfung aus seiner Le_benstiefe immer neue Wirklichkeit produzieren. Aber es steht der Welt nicht gegenüber wie bei Gogarten, sondern trägt die Welt in sich, ist selbst das Leben der Welt, ist selbst die beständige Selbstspaltung in endliche Lebensfülle und Erhebung des Endlichen aus der Selbstliebe und Selbstverherrlichung zu Gotteinigkeit und Gottesdienst, die beständige Selbstentäußerung und die beständige Selbstvereinigung. Das ergibt für das endliche Wesen die Notwendigkeit einer revolutionären Selbstumkehrung, einer grundsätzlichen Richtungsveränderung im Laufe seines Lebens und Werdens. Aber diese erwächst aus seinem innersten Wesen, ist schon in seiner Selbst- und Weltliebe latent und bricht aus deren unvermeidlicher Katastrophe bei allen denen hervor, die mit dem letzten Grund der Dinge wirklich wurz·elhaft verbunden sind. Daß diese Verbindung für das bewußte Leben eine so verschieden starke ist, scheint in Prädestination begründet, und daß sie so verschieden gelingt, auch wo die Möglichkeit gegeben ist, scheint an dem Maß der Treue und an den um-
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gebenden Einflüssen zu liegen. Dann ist freilich diese innere Revolution die tiefste Gottesoffenbarung; aber neben dieser gibt es tausend andere. Denn die Welt ist überall Gottes. Und vor allem entsteht dann die Aufgabe, den jeweils vorliegenden Lebensstoff durch Auslese und Bejahung so zu vereinheitlichen und zu kneten, daß seine Formung ein Ausdruck der so gewonnenen Lebenskräfte sein kann. Regel und Ideal dieser Formung muß jede Zeit und jeder lebendige Mensch sich selber schaffen. Ich will nicht fragen, welche Einflüsse an dieser Gestaltung des religiösen Gefühls beteiligt sein mögen. Ich will auch nicht fragen, ob man das "noch" christlich nennen will; ich führe jedenfalls selbst diese Lebensposition wesentlich auf das "Christentum" zurück, ohne behaupten zu wollen, daß das nun sein Wesen sei. Ich sage nur: es stammt von dort. Ich frage auch nicht, ob das eine für Pfarrer mögliche Position ist, die leider immer an der Bibel sich legitimieren müssen. Auch nicht, ob es massenwirksam und der heutigen Jugend entsprechend ist. Ich frage mich nur, wovon ich lebe und was meine Position ist, wenn ich die Gogartens als seelisch für mich unmöglich bezeichnen muß. Mit alledem wende ich mich nun freilich mehr gegen Gogartens Eisenacher Vortrag oder genauer gegen die darin für mich sichtbare Kritik meiner eigenen Positionen als gegen die praktischen Nutzanwendungen, die in dem Briefe an Pfarrer Fuchs zu Tage traten. Dem letztem entnahm ich nur einige Züge der Charakteristik, die mir hier verst.ändlicher zu sein scheint als in jenem. Ich stelle nur die Gegenposition auf, wie ja auch Gogarten nur seine Position aufzeigt. Die Begründung liegt in beiden Fällen so tief und verwickelt, daß von ihr hier gar nicht die Rede sein kann, und Begründungen sind an und für sich schon nicht im Geschmack der modemen Romantiker: übrigens ein sicheres Zeichen dafür, daß es mit diesem Geschmack nicht sehr lange dauern kann. Die in dem Briefe an Pfarrer Fuchs berührte Pfarrerfrage möchte ich meinerseits nicht weiter verfolgen. Sie ist gewiß schwierig. Aber Gogarten müßte dann auch die Konsequenzen Kierkegaards in der völligen Verwerfung von Kirche und Kulturvermittelung, die ja beide eng zusammengehören, ziehen, oder er müßte im Fall der Verwerfung dieser Konsequenzen seine Voraussetzungen berichtigen. Mit seiner Theologie des absoluten Moments gibt es keinen Pfarrer, keine Gemeindeverwaltung, keine Mission und keine Predigt der Erziehung und Seelenleitung. Will man dieses letztere, so muß man an die "Vermit-
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telung" notwendig heran, und die Frage ist nur, wie man sie bei der engen protestantischen Bindung an Bibel und Bekenntnis gestalten kann. Die Katholiken mit ihrem stark sakramental-liturgischen Zuge und ihrer N eutralisierung des jeder Diskussion entzogenen Dogmas tun sich hier leichter. Aber das sind uralte, immer neu erörterte Fragen, zu denen ich nichts Neues sagen kann und die ich den Beteiligten I überlassen muß. Sie haben es nicht leicht und verdienen mehr eine sie tragende Sympathie als eine überlegene Kritik, die ja nicht schwer ist.
WIDER DIE ROMANTISCHE THEOLOGIE Ein Kapitel vom Glauben 1.
Die entscheidende Frage ist die, ob es angeht, das Verhältnis zwischen Gott und Menschirgendwie mit Kategorien des organischen Lebens zu denken. Geht das an und tut man es, dann allein müssen solche Ausgangspunkte wie Troeltschs Aussage: "Gottes Wesen und ewige Schöpfung trage die Welt in sich, sei selbst das Leben der Welt, sei selbst die beständige Selbstspaltung in unendliche Lebensfülle und Erhebung des Endlichen aus der Selbstliebe und Selbstverherrlichung zu Gotteinigkeit und Gottesdienst, die beständige Selbstentäußerung und die beständige Selbstvereinigung"l oder Heumanns und Fuchs' "völliges Ernstnehmen des Ewigen als der Grundkraft alles Seins und Sollens, als der auch alles Große im Menschen umschließenden Wirklichkeit"2 zu wesentlich anderen Positionen führen als der von mir vertretenen. Nun haben allerdings die, die sich gegen meine Thesen gewandt haben, sich darauf beschränkt, ihren Widerspruch kund zu tun, und sie haben ihre eigenen Positionen nur, soweit es dazu erforderlich war, angedeutet. Immerhin I ist das deutlich genug geschehen, daß die GrundeinsteIlung sichtbar wird. Und diese GrundeinsteIlung ist bei ihnen allen, wie das auch durchaus dem Gebrauch der Kategorien des Organischen für das Verhältnis von Gott und Mensch entspricht, die romantische3 • ChW 1921 Nr. 11 Sp. 189. 2 ChW 1922 Nr. 6 Sp. 93. Da ich mich im Folgenden auch auf Erich Foerster beziehe, möchte ich gleidt hier bemerken, daß Foerster von diesem Urteil auszunehmen ist. Seine eigene Posi1
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Diese Behauptung wird, vermute ich, besonders Troeltsch einigermaßen verwundern. Denn er geht gerne auf Kriegspfaden gegen die heutigen Romantiker. Und man sollte von daher meinen, daß seine eigene Position jedenfalls alles Andere als romantisch sei. Zwar in seinem letzten Aufsatz gegen die Romantiker4 , in dem er eine glänzende und außerordentlich lehrreiche übersicht über die neue romantische Wissenschaft gibt, die in ihrer kultiviertesten und geschmackvollsten Gestalt aus dem Kreis um Stefan George stammt, verzichtet er ganz darauf, die große überlegenheit, mit der er diese neue Schule behandelt, auf die eigene Position zu gründen, und er verweist diesen geistvollen Romantikern gegenüber auf die Technik (Spengler!) des philologischen Betriebes einmal, deren Beherrschung er übrigens dem Führer der Georgeschen Schule, Friedrich Gundolf, zuspricht, noch mehr auf die Technik des industriellen Betriebes, schließlich auf die harten ökonomischen Notwendigkeiten der modernen großen Bevölkerungsmengen. Aber wo Troeltsch seine eigene Position andeutet, wie in dem schon angeführten Aufsatz in diesem Blatt, da wird es ganz deutlich, daß seine eigene GrundeinsteIlung trotz aller Angriffe auf die modernen Romantiker doch keine andere als die romantische ist. Ich möchte diese Behauptung begründen, trotzdem nach Troeltsch Begründungen nicht im Geschmack der Romantiker sind. Ich möchte das aber nicht tun, ohne nachdrücklich zu bemerken, daß ich Troeltsch gen au an der Stelle, wo ich mich gegen seine Gedanken wende, zu Dank verpflichtet bin. Denn gerade an der Stelle habe ich viel von ihm gelernt, und seine Arbeiten haben mir bei der "historischen und kulturellen Besinnung" nicht wenig geholfen, durch die ich, wie ich wenn Troeltsch recht hat 5 - im Unterschied von den "neuesten Erlebnisromantikern" wohl weiß, zur klaren Erkenntnis meiner Position gekommen bin. Ich glaube übersehen zu können, welche Folgen Troeltschs entscheidende und darum wohl auch immer und immer wieder vorgetragene Erkenntnis von dem "großen Wandel der Dinge in dem tion, wenigstens soweit sie in seinem Vortrag über "marcionitisches Christentum" (ChW 1921, Sp. 809 ff.) sichtbar wird, bleibt so sehr erbaulich-ethisch, daß sie mit der eigentlichen theologischen Problematik gar nichts zu tun bekommt trotz aller Ansätze. Richard Wilhelm konnte denn auch mit gutem Grund auf sie als auf eine gute Darstellung des Konfutianismus verweisen. Daß Johannes Witte dann gegen Wilhelm ausgerechnet Hermann Keyserling als Autorität aufrief, sei bei dieser Gelegenheit als eine etwas verwunderliche Tatsache angemerkt. 4 In Schmollers Jahrbuch, 45. Jg., 4. H.: "Die Revolution der Wissenschaft". 5 ChW 1921 Nr. 11 Sp. 188.
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modemen Geiste, daß für ihn die Geschichte in den Zusammenhang des allgemeinen Geschehens eingereiht ist"6, für die Theologie hat. Jede Theologie, die sich an dieser Erkenntnis so oder so vorbeistehlen will, ist gerichtet. Und man kann Troeltsch nur dankbar sein, daß er dieses Gericht an der überkommenen Theologie vollzogen hat. Troeltsch steht mit der Anwendung jener Erkenntnis von der Allgesetzlichkeit des historischen Denkens auf die Theologie unmittelbar davor, die Theologie von der Halbheit zu befreien, mit der sie in dem Raum zwischen Gott und Mensch unentschlossen hin und her pendelt und, indem sie weder den entscheidenden Ausschlag nach der einen, noch den nach der anderen wagt, weder zu einer Erkenntnis des Menschen noch zu der Gottes kommt. Troeltschs~rkenntnis bedroht die Theologie mit völliger Gegenstandslosigkeit. Denn ihr Gegenstand, das göttliche Geschehen, I ist nicht mehr ihr Gegenstand, wenn er in der Allgesetzlichkeit der Historie zu einem unter anderen geworden ist, also aufgehört hat, göttliches Geschehen zu sein. Aber daß Troeltschs Erkenntnis diese Bedrohung aller und jeder Theologie mit völliger Gegenstandslosigkeit ist, bedeutet keinen Einwand gegen sie, sondern das spricht im Gegenteil für sie. Gerade darum kann sie zur Befreiung von aller Halbheit werden. Denn diese Erkenntnis kann die Theologie vor das Problem stellen, das von Rechts wegen ihr einziges sein sollte, nämlich das der Offenbarung. Die aber dann jedenfalls von uns nicht mehr als Gegenstand, als Objekt genommen werden kann, was sie ja auch nicht ist. Dann nämlich, wenn sie wirklich Offenbarung Gottes ist, und nicht, wie die romantische Auffassung es will, Offenbarung und Ausdruck eines menschlichen Seelenzustandes. Man hat allen Grund, dies sehr genau zu unterscheiden, wenn man erkennen will, worauf es hier ankommt. Macht die Theologie trotzdem die Offenbarung wieder zum Gegenstand ihrer Erkenntnis - und wenn denn überhaupt Theologie sein soll oder sein muß, wird sie nicht umhin können, das zu tun -, so wird sie sich bewußt bleiben müssen, was sie getan hat. Nur dann wird sie nicht die Offenbarung mit ihrem, der Theologie, Gegenstand verwechseln oder doch diese Verwechselung als einen mit ihrem eigenen Dasein gegebenen und darum niemals zu vernachlässigenden Faktor in ihre Rechnung einstellen. Eine Verwechselung, die übrigens nicht nur der Theologie unterläuft, sondern Jedem, der sich der Offenbarung gegenüber nicht nur glaubend verhält, das heißt: sie das Subjekt sein 8
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läßt, sondern auch über sie denkt, das heißt: sie zum Objekt macht. Und wer fiele nicht immer wieder aus der Haltung des Glaubenden und nähme die des Denkenden und Wissenden an. Und man könnte von hier aus sagen, die Aufgabe der Theologie sei keine andere, als diese Verwechselung immer wieder aufzudecken, also die Gegenstandslosigkeit alles und jedes Denkens über Gott und Gottes Offenbarung immer von neuem zu erweisen. Man sage nicht, das sei eine zu geringe und zu negative Aufgabe. Denn diese Aufgabe bedeutete doch wohl nicht mehr und nicht weniger als Klarheit schaffen über den Glauben, der wirklich Glaube ist. Das will sagen, der, soweit er Glaube ist die Einschränkung ist nötig; denn welcher Glaube verfällt nicht unausgesetzt der Gefahr, zum »Wissen" zu werden und also aufzuhören, Glaube zu sein! -, die Offenbarung nicht zum Gegenstand und Objekt macht, sondern sie das Subjekt sein läßt.
2. Ich sagte, die Erkenntnis Troeltschs hätte die Theologie wieder in entscheidender Weise vor ihr Problem, die Offenbarung, stellen und sie damit von ihrer Halbheit befreien können. Bei Troeltsch selbst hat sie das nun allerdings nicht getan. Das hat wohl seinen Grund darin, daß diese Erkenntnis bei Troeltsch immer die des Historikers gewesen und geblieben ist. Er meint, darum, weil für den modemen Geist die Geschichte ohne jede Ausnahme in den Zusammenhang des allgemeinen Geschehens eingereiht ist, könne die» unmittelbar religiöse Empfindung nur auf das übergeschichtliche, auf Gott selbst gerichtet sein"7. Aber ist denn in irgendeiner Zeit die »unmittelbar religiöse Empfindung" auf etwas Anderes gerichtet gewesen als auf das übergeschichtliche, auf Gott selbst? Die »unmittelbar religiöse Empfindung" hat sich niemals auf Etwas gerichtet, was.in den Zusammenhang des allgemeinen Geschehens hätte eingereiht werden können. War sie wirklich, wofür sie ausgegeben wurde, war sie nämlich Glaube, so geschah mit dem, worauf sie sich richtete, eine solche Wandlung, daß es nur noch auf unerhört indirekte Weise mit ihrem anschaulichen, geschichtlichen Gegenstand identisch war. So daß dessen Ein- I reihung in den Zusammenhang des allgemeinen Geschehens einerseits sehr irrelevant bleiben kann, solange nämlich dieses allgemeine Geschehen rein für sich betrachtet 7
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wird, etwa nach den Gesetzen der historischen Kausalität. Andererseits ist diese Einreihung allerdings von allergrößter, vom wirklichen Glauben nie übersehener (er wäre sonst kein Glaube) Bedeutung, sobald nämlich das allgemeine Geschehen in Beziehung zu dem gesetzt wird, was der Grund dieser Wandlung ist. Jedenfalls hat sich die "unmittelbar religiöse Empfindung", also der Glaube, niemals auf etwas Anderes gerichtet als auf das "Ubergeschichtliche", auf Gott selbst. Wobei es aber das entscheidende Kriterium dafür ist, ob er auch wirklich ist, wofür er ausgegeben wird, daß er von jener Wandlung weiß; ich könnte auch sagen, von jener l.lnerhört indirekten Identität dessen, was er als seinen Gegenstand in Anschaulichkeit sieht oder sich vorstellt, und dessen, was nie sein Gegenstand sein kann und darf und schlechthin unanschaulich, unerfahrbar, unwißbar ist. Womit aber auch schon gesagt ist, daß sich die" unmittelbar religiöse Empfindung" genau ebenso wie auf das Ubergeschichtliche auch auf das Geschichtliche richtet. Denn nur dann kann von jener unerhört indirekten Identität des Geschichtlichen und" übergeschichtlichen ", die der Glaube glaubt, die Rede sein. Man wird leicht bemerken, daß das, was ich hier Wandlung nenne, etwas ganz Anderes ist, als was Troeltsch so nennt. Troeltsch weiß wohl davon, daß der Glaube, "wo er sich an Geschichtstatsachen gehalten hat, diese in gerade hicht-geschichtlicheRealitäten" umwandelte8• Aber da er den Glauben ganz nach Romantiker-Art als Mythen bildende "religiöse Phantasie"9 faßt, so kann er denn auch meinen, daß diese "Umwandlung sich nur solange' fortsetzen lasse, als die angeblichen geschichtlichen Grundlagen nicht Gegenstand wirklicher geschichtlicher Forschung geworden sind"lO. Wüßte er, daß der Glaube gerade niemals ist, was er ihn "nur" sein läßt, nämlich "Glaube an einen konkreten Gedankeninhalt"l1, sondern daß er Glaube ist an ein für uns, denen alles notwendigerweise zum Inhalt, zum Objekt, zum Gegenstand wird, schlechthin Unkonkretes, Unanschauliches12, so wüßte er auch, daß alle" wirkliche geschichtliche Forschung" samt ihren Ergebnissen und der ganze "Gesamtinstinkt des modernen Geistes, der zur Religion in Geschichte und Gegenwart 2, 1450. Ges. Schriften 2, 826 f. 10 RGG 2, 1450 f. 11 a. a. O. 1448. 12 Eine allerdings sehr überflüssige, aber vielleicht doch nötige Frage: Kann Gott und irgendein Göttliches jemals für uns, solange wir die sind, die wir sind, zu etwas Konkretem, Anschaulichem, in Troeltschs Sinne Glaubbarem werden? 8 8
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Geschichte eine andere Stellung einnimmt, als das Mittelalter und die Antike"13, den Glauben an seiner Wandlung nicht im Geringsten hindern können, sondern ihn nur auf das Intensivste zu ihr zwingen und ihn davor behüten können, zu einem sentimentalen, spekulativen oder ethischen "Religionssurrogat" zu werden, deren nach Troeltsch14 das moderne Denken viele enthält. Weil die entscheidende Erkenntnis Troeltschs, daß der Glaube sich "nur auf übergeschichtliches, auf Gott selbst" richte, sich immer nur als historische Erkenntnis begriffen hat, ist es nicht zu verwundern, daß Troeltsch in seiner Theologie nie zu anderen als zu romantischen Begriffen gekommen ist. Sein Glaubensbegriff zum Beispiel ist in allen seinen Bestimmungen romantisch. Sowohl wenn Troeltsch den Glauben bestimmt als "eine von dem geschichtlich-persönlichen Eindruck ausgehende, mythisch-symbolisch-praktische, eigenartig religiöse Denkund Erkenntnisweise"15, als auch wenn er "die Anfänge solchen Glaubens nur bei naiven Menschen und bei naiven Volksschichten " geboren werden läßt16, oder wenn er sagt, daß "die Glaubenserkenntnis sich auf das Ganze einer durch I Tat und Willen wesentlich zu ergreifenden seelischen Gesamtkraft bezieht, die ... von starken religiösen Individuen ausstrahlt"17. Das alles ist reiner romantischer Subjektivismus, der auch durchaus seine romantische Polarität findet und in seiner romantischen Bestimmtheit nur gesteigert wird, wenn es heißt, daß dabei "der Einzelne an die Vorgeschichte und angesammelte Gesamterfahrung gebunden bleibt, und daß diese Gesamterfahrung in geschichtlichen Knotenpunkten neue schöpferische Impulse empfängt, die eine gewaltige Steigerung der auch sonst in jedem kleinsten Vorgang liegenden irrationalen Neubildung sind"18. I
3. Der gleiche Nachweis ließe sich für alle anderen theologischen Begriffe erbringen, die Troeltsch behandelt hat. Aber worauf es mir hier ankommt, ist nicht allein der Nachweis, daß Troeltschs Theologie romantisch ist, sondern vor allem der weitere Nachweis, daß eine 18 14 15 16
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Ges. Schriften 2, 826. RGG 2, 445. RGG 2, 1440. a. a. O. a. a. O. 1442. 18 a. a. O. 1454.
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romantische Theologie den Problemen, die in der Theologie, also mit dem Gedanken Gott gegeben sind, nicht von ferne gerecht werden kann. Sie kann diese Probleme nicht einmal in ihrer wirklichen Problematik und Dialektik ergreifen, weil ihre Spannungen und dialektischen Gegensätze ein zu geringes Ausmaß haben. Es ließe sich das sehr leicht an dem Gottesbegriff selbst zeigen, wie ihn Troeltsch im Gegensatz zu der Fassung, die ich vertrete, angedeutet hat19. Es wäre aber möglich, daß die Knappheit und Gelegentlichkeit dieser Formulierung zu leicht zu Mißverständnissen führte. Ich behalte darum lieber als Beispiel das Problem, das im Mittelpunkt des Troeltschschen und des heutigen theologischen Denkens überhaupt steht, und das von Troeltsch in seinem Buche "Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte" auf das sorgfältigste formuliert worden ist, das Problem, das man heute Glaube und Geschichte nennt. Troeltsch sagt, das Problem der Geschichte sei "nicht das EntwederOder von Relativismus und Absolutismus, sondern die Mischung von beidem"20. Und diese Mischung bezeichnet er dann genauer als "die immer neue schöpferische Synthese, die dem Absoluten die im Moment mögliche Gestalt gibt und doch das Gefühl einer bloßen Annäherung an die wahren letzten allgemeingültigen Werte in sich trägt"21. Um gleich anzudeuten, worauf ich im Gegensatz zu Troeltsch hinaus will, versuchte ich schon hier das Problem so zu formulieren, wie es meines Erachtens formuliert werden muß: Allerdings handelt es sich nicht um ein Entweder-Oder von Relativismus und I Absolutismus, es handelt sich aber auch nicht um eine Mischung, sondern es kann sich allein um ein Sowohl-Als-auchhandeln22 . Und dieses Sowohl-AIs-auch ist ganz und gar keine "immer neue schöpferische Synthese", sondern es ist nichts Anderes als der Glaube, der aber ganz und gar nicht "dem Absoluten die im Moment mögliche Gestalt gibt", sondern der die reine, volle Gegenwart des Absoluten in diesem Momente glaubt und der darum auch nicht "das Gefühl einer bloßen Annäherung an die wahren letzten Werte in sich trägt", sondern der die absolute Ferne dieses Momentes ChW 1921 Nr. 11 Sp. 189. Die Absolutheit des Christentums, 2. Aufl. S. 58. 21 a. a. O. 22 Man wird mir vielleicht die gerade entgegengesetzte Formulierung entgegenhalten wollen, die ich z. B. in meinem Brief an Fuchs gebraucht habe. ChW 1921, Sp. 142 ff. Aber das wäre ein arges Mißverständnis. Denn es geht ja nicht um Formulierungen, sondern um eine Sache, die man nicht sorglich gent;lg von leicht zu erlernenden Formulierungen freihalten kann. 19
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und seiner selbst von den "wahren letzten Werten", also von Gott glaubt. Es ist ein Irrtum, wenn Troeltsch meint, das, was er "die immer neue schöpferische Synthese" nennt, sei eine Mischung von Relativismus und Absolutismus. Denn ihre Gegensätze rühren weder an das Relative noch an das Absolute. Streng genommen, darf Troeltsch hier gar nicht von Absolutem reden. Denn das Absolute heißt doch wohl das allem Bedingten, also Relativen schlechthin Entgegengesetzte, das von allen Beziehungen Losgelöste. Es ist dann aber ein völliger Ungedanke, daß das Absolute eine im Moment mögliche, also durch den Moment und seine Situation bedingte Gestalt haben könne. Es ist ebenso ein Ungedanke, daß es dem Absoluten gegenüber eine Annäherung, also eine durch etwas Anderes als das Absolute bedingte Lage geben könne. In dem Augenblick, wo man das Absolute unter eine Bedingung stellt, also wo man zum Beispiel von einer im Moment möglichen Gestalt spricht, hat man eben durchaus nicht mehr mit dem Absoluten zu tun, sondern mit Bedingtem, mit Bezogenem. Aber es lohnt sich, genau zuzusehen, wie dieses Bedingte beschaffen ist, das notwendigerweise aus dem Absoluten wird, wenn man es unter eine Bedingung stellt. Dieses Bedingte ist nun, nachdem es einmal in Beziehung zum Absoluten gebracht worden ist, und jedenfalls in seiner Beziehung zum Absoluten, das absolut Bedingte. Es hat, wenn ich so sagen darf, rückwärtige Beziehung zum Absoluten. Es ist das Nicht-Absolute: das soll heißen: es ist als ein auf das Absolute Bezogenes nicht dies oder das, das wieder durch dieses und jenes bedingt und bestimmt, also statt das NichtAbsolute nur das Nicht-Di~ses oder Nicht-Jenes wäre; sondern seine einzige Bestimmtheit ist, daß es nicht das Absolute ist, das es war oder, vielleicht genauer augedrückt, das es sein soll. Das würde also bedeuten: jene ,;im Moment mögliche Gestalt" soll nicht nur eine Gestalt des Absoluten sein, also das Absolute unter einer Bedingung, sondern sie soll das Absolute selbst sein, und ist es doch nicht und kann es auch gar nicht sein. Denn ein bedingtes Absolutes hat unvermeidlich aufgehört, das Absolute zu sein. Denkt man also das Absolute scharf, so wie es nun einmal gedacht werden muß, wenn man es denn überhaupt in sein Gedankengefüge einstellt, würde also Troeltschs Synthese wirklich zu einer Synthese von Absolutem und Relativem, so enthüllt sich Troeltschs Position in Wahrheit als die Negation. Also das, was er "die im Moment . mögliche Gestalt des Absoluten" nennt und worunter er doch wohl die Kultur und vor allem deren feinstes und innerlichstes Gebilde, die Reli-
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gion, versteht, wird gerade hier, unter dem Anspruch ihrer Annäherung an die "wahren letzten Werte" in der absoluten Ferne vom Absoluten erkannt. Und ich habe also recht, wenn ich in meinem Wartburgvortrag die Kultur mitsamt der Kultur-bedingten Religion unter das härteste Nein gestellt sah. Aber welche Religion ist denn nicht kulturbedingt? wird Troeltsch fragen. Und er wird I diese Frage mit Recht stellen und hat sie gestellt. Aber da er sie als Historiker und Romantiker stellt, wird er nicht die Antwort geben: Die Offenbarung (die allerdings keine Religion ist) und dann erst mit dieser Antwort die entscheidende Frage stellen. Das alles hat nichts mit einer "inneren persönlichen Notwendigkeit" zu tun und ist nicht "die eigene instinktiv, innerlich letzte, mit einem selbst gewachsene religiöse Position", wie Troeltsch das nach alter Romantiker Art meint 23 • Sondern das ist eine Position, die sich einem ergibt, wenn man sich "heiß und vorsichtig bemüht" um den Gedanken des Absoluten, ohne den es ja aber auch keine Klarheit gibt über den "Antihistorismus, den Irrationalismus und Intuitionismus, Dinge", die einem von da aus allerdings, etwas leichtfertig geredet, schon zu "bequemen und vergnügten Dogmen" werden können, wie Troeltsch das von " vielen Jüngeren" mein t 24 ; weil man eingesehen hat, daß sie für die Probleme, die sich vom Gedanken des Absoluten her ergeben, ohne entscheidende Bedeutung sind; denn es handelt sich da um sehr andere Gegensätze, als Historismus und Antihistorismus, Rationalismus und Irrationalismus und dergleichen es sind. Von der romantischen Position gilt allerdings, daß sie eine instinktiv, innerlich letzte, mit einem selbst gewachsene Position ist. Wenn es nicht überhaupt so ist, daß in allen Zeiten die innerlich, instinktiv letzte, mit einem selbst gewachsene Position eine romantische war und ist, so ist es zum mindesten so in unseren Zeitläufen. Wer von uns wäre nicht in seiner "instinktiven und naiven" geistigen Haltung (man beachte den Widerspruch! aber dieser Widerspruch, der eine Unklarheit ist, ist das Wesen der Romantik) Romantiker. Und dieser Angriff auf die romantische Theologie soll nicht heißen, daß mein Wartburgvortrag völlig frei von Romantik sei. Allerdings sehe ich die gar nicht geringen und ungefährlichen Reste von Romantik, die in ihm noch sind und die ich in den folgenden Arbeiten zu überwinden versucht habe, gerade nicht da, wo Troeltsch sie sucht. Wobei ich wieder nicht versäumen 23
eh W 1921 Nr. 11 Sp. 188.
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möchte zu sagen, daß mir die ständige Auseinandersetzung mit Troeltsch, die mich begleitet und aus der ich lerne, seitdem ich als Student bei ihm gehört und gelernt habe, nicht zuletzt geholfen hat zu sehen, wieviel von meiner instinktiv, innerlich letzten, mit mir gewachsenen Position auch in dieser Arbeit noch ist, die der erste Versuch war, von der Romantik, also der mit mir gewachsenen Position loszukommen.
4. Troeltsch meint, mit meiner "Theologie des absoluten Moments" gäbe es "keinen Pfarrer, keine Gemeindeverwaltung, keine Mission und keine Predigt der Erziehung und Seelenleitung"25. Nun, es gibt auch ganz gewiß keine Theologie ohne das "absolute Moment", es sei denn die romantische Theologie, ob nun in der Gestalt, wie Troeltsch sie skizziert hat, oder in der Gestalt der Orthodoxie. Die Unmöglichkeit der Orthodoxie hat Troeltsch erwiesen, und auch wenn ich mit dem, was ich gegen seine eigene Theologie einwende, recht habe, so bleibt seine Verunmöglichung jeder Orthodoxie bestehen. Die Notwendigkeit, die Theologie, wie Troeltsch selbst sie skizziert hat, und die der Ausdruck einer "gewachsenen" Position ist, zu überwinden, behauptet Troeltsch selbst, wenn er sagt, daß "auch das religiöse Lebenselement zunächst zu den lediglich gegebenen Trieben" gehöre und darum "der Erhebung in die Sphäre ... des Gesollten und objektiv Notwendigen" bedürfe 26 • Im übrigen kommt Troeltsch in seiner Theologie ja auch nicht ohne "das absolute Moment" aus, im Gegenteil: das Absolute steht in seiner Theologie so gut im Mittelpunkt und ist das entscheidende I Problem, wie es das in jeder anderen auch ist. Allerdings behaupte ich, daß der Versuch, den Troeltsch macht, das Absolute durch eine "Mischung" mit dem Relativen zu gewinnen, ihn vom Absoluten rettungslos fortführt. Es gibt außer diesem Abweg noch einen zweiten. Das wäre statt der "Mischung" und "Vermittelung" des Absoluten und des Relativen seine Isolierung. Und wenn Troeltsch meine Theologie als die des absoluten Moments bezeichnet, so meint er wahrscheinlich eine Theologie des isolierten absoluten Moments. Und mit einer solchen Theologie müßte es dann allerdings, da gebe ich Troeltsch durchaus recht, zu einer" völligen Verwerfung von Kirche und Kulturvermittelung" kommen. 25
ChW 1921 Nr. 11 Sp. 189.
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Ob übrigens Kierkegaard eine solche Theologie vertreten hat, ist mir trotz seiner letzten Schrift "Der Augenblick" immerhin fraglich. (Vgl. die Bemerkung über "Meine Produktivität als ,das Korrelativ' zum Bestehenden betrachtet" in dem von Gottsched herausgegebenen Auszug aus seinen Tagebüchern "Buch des Richters".) Kierkegaard war ein Dialektiker und handhabte die Weise der "indirekten Mitteilung" mit unerbittlicher Konsequenz, so daß man nur mit äußerster Vorsicht Aussagen machen kann, die er vielleicht nicht einmal hatte, weil er nämlich die Offenbarung glaubte. Schon eher mag Marcion eine solche Theologie gehabt haben. Vorausgesetzt, daß Foersters Darstellung, die er in seinem Vortrag "Marcionitisches Christentum"27 von ihr gegeben hat, richtig ist. Es wäre dann allerdings ein sehr beträchtlicher " Fehlgriff " , wenn Foerster, wie er das in diesem Vortrag tut, meine Theologie für eine "Erneuerung des Marcionitismus" hält. Diesen Fehlgriff konnte er, soviel ich sehe, nur deshalb tun, weil er, wie übrigens auch Heumann und Troeltsch, übersehen hat, daß meine Theologie durchweg dialektisch bestimmt ist, das heißt, daß keine Aussage in ihr ohne ihre Aufhebung, ihren Gegensatz genommen sein will. Wenn ich annehmen darf, daß die Formulierungen in Foersters "Vorwort" zu seinem Vortrag nicht ganz ohne Beziehung auf meinen Wartburgvortrag, der ein Jahr vor dem seinigen in demselben Kreise gehalten und damals, witziger Weise, als Zungenrede bezeichnet wurde, geprägt sind, so scheint eine solche Dialektik Foerster allerdings so ungewohnt zu sein, daß er die "Ethik der Logik" gegen sie aufruft. Aber das kann mich nicht bewegen, auf diese Dialektik zu verzichten. Denn ich bin überzeugt, daß einem ohne sie jeder der Gegensätze, die mit dem Gedanken "Gott" gegeben sind und ohne die er schlechterdings nicht zu denken ist, hoffnungslos verborgen bleibt. Womit beileibe nicht gesagt sein soll, daß diese Dialektik nicht sehr anderen Ausdruck haben kann, als ich ihr gebe. Sie kann zum Beispiel - und es ist die Frage, ob nicht statt dieser beispielsweisen Möglichkeit die unumgängliche Notwendigkeit gesetzt werden muß den plastischen, unerhört konkreten Ausdruck des paulinischen und lutherschen in Christo! haben; statt dessen Foerster denn auch, bezeichnend genug, "lieber" sagt: in Gott28, und das Troeltsch immerhin aus - soziologischen Gründen zuläßt29 • ChW 1921 Nr. 45 Sp. 809 ff. 28 a. a. o. Sp. 826. Vgl. "Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben", z. B: S. 30: "Die Verbindung der christlichen Idee mit der Zentralstellung Christi in Kult und 27 29
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Ich glaube diesem "in Christo" nicht ganz feme zu sein, wenn ich das Problem, um das es hier geht, formuliere als das Sowohl-AIs-auch von Absolutem und Relativem. Und wenn Troeltsch mir anheimgibt, die "gründlichen und schmerzlichen Erfahrungen" Luthers auf dem Gebiet der" Vermittelungen mit der ,Welt'" nicht zu übersehen, so glaube ich dieser Mahnung getrost folgen zu können, ohne I zu einer grundsätzlichen Revision meiner Thesen gezwungen zu sein. Denn man darf bei Luther nicht nur, wie Troeltsch mahnt, nicht vergessen, "daß der radikalen Ertötung des alten Menschen die .Belebung des neuen entsprach", man darf noch sehr viel weniger vergessen, daß dieser "neue" Mensch ganz und gar nicht der "neue" Mensch der Romantik, also kein "schöpferischer" Mensch ist, auch nicht die "unbedingt wahrhaftige Seele" Foersters, "die die Metanoia, die Besinnung, bis auf den letzten Punkt durchgeführt hat". (Darf man fragen, wann dieser "letzte Punkt" in der Besinnung erreicht ist? Und als Begründung dieser Frage darf ich vielleicht ein Wort Luthers hersetzen: "Ich will das für mich bekennen: Ich wollte nicht, auch wenn es geschehen könnte, daß mir ein freier Wille gelassen wäre, damit ich könnte nach der Seligkeit streben; ... [es] wäre alle meine Arbeit aufs Ungewisse getan, als der in die Luft streichet, und mein Gewissen, wenn ich auch bis an den jüngsten Tag lebete und wirkete, wäre nimmer sicher und gewiß, wieviel es tun sollte, daß Gott genug geschehe. Denn was ich für ein Werk auf Erden immer täte, so wäre doch das Knötlein im Gewissen, ob das also Gott gefiele, oder ob er etwas mehr forderte." Walchsche Ausgabe 18, 2474.) Sondern man wird sich sehr eindringlich vor Augen halten müssen, daß dieser "neue" Mensch "neu" ist lediglich in Christo, sola fide, "allein durch den Glauben", womit die tatsächliche, wenn man .will: geschichtliche, psychologische Gegenwart und Dauer des "alten" Menschen erschütternd behauptet und geleugnet wird in Einem zugleich und immer wieder in Einem zugleich behauptet und geleugnet wird. Das ist die Haltung des Menschen unter dem Sowohl-AIs-auch, ich kann dafür auch sagen: des glaubenden Menschen. Das Bild des Gratwanderers, das Kar! Barth hierfür braucht, trifft schon die Sache. Und wenn Foerster dagegen meint, dieser "Aspekt würde die Millionen im Flachland schrecklich anmuten", so möchte ich wohl wissen, wie es den Lehre ist keine begriffliche aus dem Begriff des Heils folgende Notwendigkeit ... Sie ist sozialpsychologisch für Kult, Wirkungskraft und Fortpflanzung unentbehrlich, und das mag genügen, um die Verbindung zu rechtfertigen und zu behaupten."
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Bewohnern des Flachlandes mit der ersten von Luthers 95 Thesen geht, die doch auch gerade keine Ansiedelung im Flachlande bedeutet. Was die" Weltbeziehung" dieses Menschen mit dieser Haltung angeht, so ist sie allerdings sowohl von seinem "alten" wie von seinem "neuen" Menschen gemeint. Denn er ist ja nicht und niemals entweder der eine oder der andere, aber auch nicht, wie die Romantiker jeder Art meinen, nun der eine und dann der andere, denn er ist, wollte man den einen oder den anderen isolieren, weder der eine noch der andere, sondern er ist sowohl der "alte" als auch der "neue" Mensch. Aber mir scheint immer noch das für uns Schickliche zu sein, diese Beziehung zuerst vom "alten" Menschen aus zu sehen. (Dieses psychologische Nacheinander ändert nichts an dem wesentlichen Zugleich. Und die Romantiker, Historiker, Psychologen und Soziologen tun gut, bevor sie triumphieren, eine sehr prinzipielle Besinnung über den Unterschied von "Glauben" und "Wissen" vorzunehmen. Was dann zugleich eine, wieder prinzipielle, Besinnung darüber wäre, daß sie zu diesem Zweck aufhören müssen, Romantiker, Historiker, Psychologen und Soziologen zu sein.) Denn mir scheint, als wäre die "Sünde" und "Schuld" die eigentliche Tatsache, die uns mit der" Welt", mit der Zivilisation, mit der Kultur, mit der Kirche, mit der "Religion" solidarisch macht und uns zur Mitarbeit an ihr zwingt und die verhindert, daß aus dem Sowohl-Als-auch ein Entweder-Oder oder auch nur ein "Dennoch" wird. (übrigens warne ich wieder davor, diese "Schuld" irgendwie historisch oder psychologisch oder soziologisch, also romantisch mißzuverstehen.) Ist die "Schuld" die Klammer, die uns und die Welt zusammenschließt, dann wird man allerdings nicht mehr mit idealistischen und romantischen Forderungen und Voraussetzungen seine Arbeit an der Welt und in der Welt unterbauen und normieren, und alle Gedanken von der I Kultur als der "Annäherung an die wahren letzten Werte" werden einem vergangen sein. Man wird sich die Normen für sein Tun in der Welt jedenfalls von keinem wie immer gearteten Idealismus geben lassen. Und da der Idealismus seine Krönung in seinem Staatsideal gefunden hat, so wird man jeder idealistischen Staatsideologie gegenüber besonders vorsichtig sein, ob sie sich nun marxistisch oder neu-deutsch gibt. (Friedrich 11. war ganz sicher kein Idealist, schon eh~r war er ein Kyniker, eine geistige Haltung, die von der hier angedeuteten nicht so sehr entfernt ist.) Und man wird wissen, daß allen, die mit der stürmischen Frage: Was sollen wir denn tun? auf der Suche
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nach Vorschlägen zur Errichtung einer "neuen" Welt sind (gehört aber Jemand irgendwann und er mag sich halten, wie er will, nicht zu dieser Schar?), der Ruf zur Ordnung und zur Sache gilt, der sagt: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Buße ist aber nicht, wie Foerster verdeutlicht, eine Besinnung, die bis auf den letzten Punkt durchgeführt wird, sondern das gerade ist ihr Eigentümliches, daß sie eben an der Stelle beginnt, wo sie bis auf den sogenannten letzten Punkt durchgeführt ist. Sagt einem dann Jemand, wie Foerster das tut30 , man vergesse, während man die Kultur und die Welt verneine, daß man sie mit seinem tatsächlichen Verhalten bejahe, oder sagt einem ein Anderer, wie Troeltsch es tut, man müsse die Konsequenzen seiner Anschauung "in der völligen Verwerfung von Kirche und Kulturvermittelung ziehen", so kann man nur mit einiger Verwunderung feststellen, daß hier das entscheidende Wort nicht gehört und verstanden worden ist, eben das von der von Menschen jedenfalls nicht aufzuhebenden und für sie nicht vermeidbaren Sünde und Schuld.
GEMEINSCHAFT ODER GEMEINDE? Man wird mit dem größten Nachdruck fragen können, ob diese Frage heute noch ernsthaft zu stellen ist. Setzen wir Gemeinschaft als die Form des gemeinsamen Lebens, bei der das Konstituierende die Individualität, der Wille, die Gesinnung und Zustimmung des Einzelnen ist, und setzen wir im Gegensatz dazu Gemeinde als die Form des gemeinsamen Lebens, bei der eine nicht auf dem Willen der Einzelnen ruhende und nicht aus ihm resultierende Autorität die Einzelnen über ihren Willen weg zusammenschließt, so ist die Situation heute die, daß eine lange Entwicklung, die mit der Entstehung der modernen Welt vor vierhundert Jahren begann, jene erste Form des gemeinsamen Lebens, also die Gemeinschaft, ohne jeden Zweifel zur Geltung gebracht hat. Nicht als ob diese Form nun schon durchgesetzt wäre, aber sie ist das unbestrittene Ziel. Ja, sie erscheint heute vielleicht sogar als die einzige Möglichkeit, wieder zu einem gemeinsamen Leben zu kommen. Denn das ist keine Frage: jegliche Form des Zusammenlebens der Menschen vom Staat bis zur Kirche und von der Schule bis zur Familie, 30
eh. W. 1921, Nr. 45, Sp. 820.
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die in früheren Zeiten 'eine Fraglosigkeit der Geltung ohnegleichen hatten, ist heute bis in den Grund hinein erschüttert. Diese objektiven, unabhängig von der Zustimmung des Einzelnen geltenden Formen sind gesprengt und haben die Einzelnen aus sich entlassen. Man mag darüber schelten und meinen, das sei nichts als Rebellion des Einzelnen, und man müsse sie mit Gewalt zwingen, sich der Autorität dieser Formen wieder zu fügen. Diese Gewalt ist einfach nicht mehr da, und kein Schelten auf die böse moderne Zeit und kein Preisen der besseren alten Zeiten wird sie auf irgendeine Weise wieder herstellen. Denn es hülfe auch nichts, wenn die äußere, materielle Gewalt / durch welche Umstände immer / einmal wieder vorhanden wäre. Es geht hier um geistige Entscheidungen. I Wollte darum diese Gewalt jene objektiven Formen zur zwangsweisen Geltung bringen, so erwiese sie sich nach der Auffassung dieser Zeit als ethisch minderwertig und wäre damit von vornherein zur Niederlage verurteilt. Denn wenn jene objektiven Formen des gemeinsamen Lebens einmal Autorität über den Willen und die Zustimmung der Einzelnen hinweg hatten, so nur deshalb, weil hier der Einzelne und sein Wille als durchaus nicht gut, sondern mindestens ebenso sehr als böse und des Zwanges durchaus bedürftig angesehen wurde. Und jegliche Form des gemeinsamen Lebens war hier gar nicht, auch nicht mit ihren letzten und höchsten Absichten, auf die Herausbildungeines Ideals des Einzelnen oder der Gemeinschaft angelegt. Man hatte hier von vornherein nicht· so etwas wie ein höchstes Ziel, sondern man wollte nur gegebene Gegensätze möglichst reibungslos, aber gar nicht mit Scheu unter Umständen auch vor den gröbsten Reibungen, in Beziehung zueinander setzen. Man wollte nicht durch diese objektiven Formen des gemeinsamen Lebens den Einzelnen erziehen, damit er dann einmal infolge dieser Erziehung aus dem Zwang entlassen werden konnte. Die Gemeinde war gar nicht darauf angelegt, daß einmal und wenn auch erst nach Unendlichkeiten der Entwicklung Gemeinschaft aus ihr wurde, in der es nicht mehr den Gegensatz von Zwang und Freiheit, Autorität und Individualität gab, die vielmehr der freieste Zusammenklang der in ihr verbundenen Individualitäten sein sollte. Mit einem Worte, diese Auffassung der Gemeinde und der Formen des gemeinsamen Lebens und damit auch der Einzelnen und der Individualität ist durchaus nicht idealistisch. Sie hat keine unendlichen, also auch keine ewigen Ziele. Sie ist beschränkt in jeder Beziehung, nicht nur im Vergleich mit einer, im weitesten Sinne des Wortes, idealistischen Auffassung der Gemeinschaft. Ihr Ziel, wenn denn davon
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überhaupt geredet werden kann und man nicht besser möglichst nüchtern und unidealistisch sagte ihr Zweck, ist nicht schöpferisches Leben, sondern lediglich und sehr nüchtern Gehorsam und Ordnung. Denn sie ist ohne Glauben an die unendliche Entwicklungsfähigkeit und Vollendbarkeit der Individualität. Das aber heißt für modernes Denken und modernes Fühlen: sie ist überhaupt ohne Glauben. Und darum, weil sie dem modernen Menschen I/und der hat sich durchgesetzt auch in den konservativsten und orthodoxesten Kreisen / ohne Glauben scheint, darum ist diese Auffassung der Gemeinde von vornherein verurteilt. Sie erscheint dem modernen Denken und Fühlen, dessen Glaube der Glaube an unendliche Entwicklungsmöglichkeiten ist, nicht nur als reaktionär, sondern, was viel schlimmer ist, als Müdigkeitserscheinung, die scharf bekämpft werden muß. Und man mag sogar die Frage stellen / und der naiventwicklungsgläubige individualistische Liberalismus stellt die Frage nicht nur, sondern beantwortet sie auch entsprechend / ob man sich mit einer solchen Auffassung nicht in Widerspruch setzt zu dem, was Gott in der Geschichte und ihrer Entwicklung auf das allerdeutlichste zu den Menschen spricht. Denn die Geschichte hat doch, könnte man meinen, indem sie mit der modernen Welt den Individualismus heraufbrachte, und nachdem der Individualismus durch die gewaltige Tat der Philosophie des deutschen Idealismus auf das allertiefste begründet worden ist, die Entscheidung gegen die objektive, autoritäre Gemeinde und für die im tiefsten und gläubigsten Sinne individualistische Gemeinschaft gefällt. Und man könnte von offenbarem Ungehorsam gegen Gottes Willen sprechen, wo diese Entscheidung nicht als erfolgte hingenommen wird. Wenn man es, was auch vorkommt, nicht vorzieht, den Grund für die Nichtanerkennung dieser Entscheidung in der allgemeinen Enttäuschung dieser Jahre oder gar in Neurasthenie zu suchen. Man mag schon aus diesen Erwägungen erkennen, daß es sich bei der Entscheidung, ob Gemeinschaft oder Gemeinde? nicht nur um eine Einzelfrage handelt, über die man entgegengesetzter Meinung sein könnte und im übrigen dann doch in allerbestem und weitgehendem Einverständnis. Sondern diese Differenz geht durchs Ganze. Es stehen sich da zwei Anschauungen gegenüber, die in allem, im Kleinsten wie im Größten, im Äußerlichsten wie im Innerlichsten von einander abweichen, und von denen die eine die andere aufhebt. Es handelt sich also nicht um Polarität, so daß die eine Auffassung die andere von ihrer Einseitigkeit befreien und sie ergänzen könnte, sondern es handelt sich
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um ein klares Entweder/Oder. Es handelt sich auch nicht um einen Gegensatz in der Form, in der die Erkennt- I nisse und Anschauungen mitgeteilt werden. Etwa in dem Sinne, daß die Form der Mitteilung das eine Mal die ästhetische, künstlerische wäre und das .andere Mal die wissenschaftliche. Es bliebe dann noch die Frage, ob es sich bei diesem Gegensatz um den Gegensatz zweier Kulturen handelt. Und das scheint mir allerdings eine Frage zu sein, die sorgfältig zu erwägen und immer wieder zu stellen ist. Und zwar müßte sie aus dieser überlegung gestellt werden: wer sich für die objektive, .auf Autorität gegründete Gemeinde gegen die individualistische, auf Freiheit gestellte Gemeinschaft entscheidet, gerät dadurch heute in eine sehr fatale Nachbarschaft von Reaktionären, Romantikern und von solchen, die das Heil vom Osten, Rußland, China oder Indien erwarten, und anderen Ressentimentserlegenen aller Art. Wird aus dieser Nachbarschaft irgend eine Gleichheit mit diesen Kulturbegründern und -vertiefern, dann ginge es allerdings nur um die allen individuellen Einfällen freigegebene Frage um den Gegensatz oder die Mischung zweier Kulturen. Nur daß sich da nicht, wie man in solchen Fällen wohl meint, zwei Kulturen gegenüber stünden, sondern im günstigsten Fall Kulturüberreste. Denn wo eine Kultur über sich zu reflektieren und sich selbst zu begründen beginnt, da träumen nur einige haltlos und einsam gewordene Intellektuelle ihren Traum. Jene Frage, ob es sich bei diesem Gegensatz nicht vielleicht um den Gegensatz zweier Kulturen handelt, wäre also immer wieder zu stellen, um darüber zu wachen, daß nicht unversehens aus der Frage nach der Wahrheit eine Frage um diese oder jene Kultur wird. Denn jenes Entweder/Oder ist das Entweder/Oder von Wahrheit oder Irrtum. Es ist klar, daß keine Entwicklung der Geschichte die Wahrheit verändern kann, nicht einmal wenn diese Entwicklung eine ganze und sogar glänzende Kultur zustande gebracht hätte. Vorausgesetzt, daß es dergleichen in dem Sinne, wie die intellektuellen Kulturträumer es verstehen, gibt. Sondern die Entwicklung und auch die glänzendste Kultur hat sich vor der Wahrheit zu rechtfertigen. Und es ist durchaus nicht einzusehen, warum nicht eine Jahrhunderte lange Entwicklung und die glänzendste Kultur sich an diesem Maß als furchtbarster Irrtum erw,eisen könnte. Auch dann, wenn dieser Irrtum das ganze I geistige Leben einer Zeit durchsetzt hat, so daß es fast aussichtslos und unmöglich scheinen könnte, von diesem Irrtum loszukommen. Denn er säße dann in jedem Gedanken. Er täte das schon deshalb, weil kein
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Wort in seiner Bedeutung von ihm, diesem Irrtum, fr·ei wäre. Denn die Worte sind in Jahrhunderte langer ernster und sorgfältigster Arbeit mit dem Gedanken dieses Irrtums angefüllt. (Aber daß Irrtum und ernste, gewissenhafte Arbeit sich keineswegs auszuschließen brauchen, ist für dieses individualistische Denken schon undenkbar.) Und wer weiß, wie sehr das Wort mit seinem gegebenen, also überkommenen Inhalt das Denken seine Wege führt, weiß auch, wie schwer es ist, den Worten eine neue Bedeutung zu geben, sie aus· ihrer gewohnten Bahn herauszureißen und sie auf den Weg zu bringen, den das Denken sie führen will. Dazu kommt noch etwas anderes, dessen Erkenntnis noch wichtiger ist. Handelt es sich bei unserer Frage um den Gegensatz Wahrheit/ Irrtum und nicht nur UIil den Gegensatz zweier Zeiten, Generationen oder Kulturen, haben wir es also nicht mit einem zufälligen, sondern, wie man sagt, mit einem absoluten Gegensatz zu tun, so ist leicht einzusehen, daß es ein Irrtum ist, der auch nicht nur einer Zeit, Generation oder Kultur wesentlich ist, sondern ein Irrtum, an dessen Abgrund man ständig geht, wenn man sich um die Wahrheit müht. Wenn denn die Wahrheit nur Eine ist und darum, bildlich gesprochen, kein breites Feld, auf dem sich jeder nach seinem individuellen Wohlgefallen hinund herbewegen kann, wie es ihm seine schöpferischen Einfälle eingeben, sondern ein schmaler, überwachsener und schwer erkennbarer Pfad durch unergründlichen Sumpf, wo jeder falsche Schritt einen in die sehr scharfe Gefahr des Versinkens bringt. Steht es so mit diesem Irrtum, ist er einem selbst so erschreckend nah und wahrt man sich diese Erkenntnis als eine immer wieder neu zu gewinnende, so ist man davor wohl bewahrt, die Entscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum mit der zwischen zwei Kulturen unversehens zu verwechseln. Und auch davor wird man bewahrt bleiben, daß man das Programm für eine neue, autoritäre, objektive Kultur entwickelt und damit in die Gesellschaft der fortschrittlichen oder reaktionären oder was sonst für Romantiker gerät, die das überflüssigste Geschäft I betreiben, nämlich Kulturbegründung oder Kulturvertiefung oder was sonst. Und man wird ganz sicher nicht daran denken, seine Leser einzuladen, .an die Gründung einer autoritären Gemeinde heranzugehen. Denn das würde ja in Wirklichkeit, da man Gemeinden gerade nicht gründen kann, bedeuten, eine Gemeinschaft und zwar eine Gesinnungsgemeinschaft gründen zur Propagierung einer objektiven Gemeinde und zur Bekämpfung der Gesinnungsgemeinschaft. Womit man aber klar be-
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wiese, daß man nicht wüßte, was man sagt und was man will. Dergleichen weitgesteckte und irgendwie auf Weltverbesserung gehende Zwecke kann man nicht mehr haben, wenn man mit der Wahrheit zu tun bekommt. Denn man bekommt dann mit dem Allernächsten zu tun: mit sich selbst, nämlich, daß man in steter Wachsamkeit ist, die richtige Entscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum zu treffen. Und um nicht schon hier in den Sumpf des Irrtums, ich könnte auch sagen des Individualismus zu geraten, sei ausdrücklich gesagt, daß diese Entscheidung nicht aus den schöpferischen Tiefen des Individuums heraufgeholt wird, sondern nichts ist, als die sachliche, nüchterne Erkenntnis der Wahrheit und der Gehorsam gegen sie. Das ist also keinerlei Individualismus. Denn es geht hier nicht um die schöpferische Entwicklung des eigenen Ich, sondern nur um Selbsterkenntnis. Dies und nichts anderes kann darum auch allein die Absicht und die Aufgabe einer überlegung wie dieser sein. Lediglich diese ganz und gar nicht persönliche, sondern höchst sachliche Aufgabe und Arbeit ist es darum auch, die den Leser und Schreiber miteinander verbindet. Und man würde nicht einmal diese allerdings beschränkte Verbindung - soll ich sagen Gemeinschaft? - halten, wenn man statt dessen irgendwelche unmittelbaren Kußerungen der Seele spüren, wenn man also eine unmittelbare Berührung der Seelen erleben wollte. Will man diese Verbindung halten und damit die gestellte Aufgabe erfüllen, so müßte man zuvor den verhängnisvollen Irrtum des Individualismus eingesehen haben und nicht nur den Irrtum irgend eines oberflächlichen, sondern erst recht eines vertieften Individualismus, dessen Irrtum und Schuld nur um so größer wird, je tiefer man ihn auffaßt. Und es gibt außer der ästhetischen Auffassung des Individualis- I mus, wie sie heute in der sogenannten religiösen Bewegung gebräuchlich ist, noch beträchtlich tiefere, nämlich den ethischen und den spekulativen Individualismus. In einem Bericht über die Wartburgtagung des Bundes für Gegenwartchristentum hat Emil Fuchs 1 als die eigentliche Substanz der Gemeinschaft zwischen im übrigen noch so verschiedenen Menschen, wie dieser Bund sie nach seiner Meinung zu verwirklichen sucht, den Willen zur Wahrhaftigkeit hingestellt. Und er stellte dieser Gemeinschaft eine andere gegenüber, die sich auf gleiche Gedanken, gleiche Bekenntnisse, gleiche Gottesdienste und Zeremonien gründet. Und er meinte, es bilde 1
Dezember-Heft 1920 des "Kunstwart".
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eine Voraussetzung der Zusammengehörigkeit im neuen Bunde, daß das alles überwunden sei. Das sieht sehr weitherzig, sehr tolerant, sehr undogmatisch aus und ist es doch ganz und gar nicht. Denn wenn das nicht die Proklamierung des reinsten Subjektivismus und der hemmungslosesten Willkür ist, und wenn es eine wohlüberlegte und wohlbegründete Anschauung ist, dann ist ihre Voraussetzung unweigerlich diese, daß das wahrhaftige Wollen in seiner Wahrhaftigkeit, daß der einzelne Mensch in seiner Individualität, in seiner individuellen Eigenheit die eigentliche Wirklichkeit, göttliches Leben, also die Wahrheit ist. Man kann nicht die Wahrhaftigkeit zum Maßstab machen, wenn sie nicht in ihrem Wahrhaftigsein die Wahrheit selbst ist. Oder man weiß nicht, was man sagt. Und so ergibt sich das überraschende Bild, daß die Bescheidenheit, mit der der Individualist jeglicher Art nur die Wahrhaftigkeit als das letzte Maß aufstellt, an dem er die anderen mißt und an dem er selbst von den anderen gemessen sein will, zur Voraussetzung den Glauben an die Eine Wahrheit hat: daß er selbst, der Individualist, in seiner Wahrhaftigkeit, in seiner Individualität die Wahrheit ist. Weil nach der Auffassung des Individualismus der Einzelne in seinem individuellen Sein die Wahrheit ist, weil in seinem Erkennen, wenn es nur sein eigenes persönliches Erkennen ist, die Wahrheit selbst erkennt, weil in seinem eigenen Sehen, wenn es nur sein ursprüngliches, schöpferisches Schauen ist, die Wahrheit selbst schaut, I so kann die Wahrheit niemals sein Gegenüber, sein Außer-ihm, niemals etwas Erkanntes, etwas Geschautes sein. Immer ist die Wahrheit in ihm, in seinem eigensten, lebendigsten, das heißt in seinem ursprünglichen, schöpferischen Sein und Tun. Ja, das selbst ist die Wahrheit in ihrem lebendigen Sein. Und alles gegenständliche Sein, alles Erkannte, alles Geschaute, alles Gewirkte ist nur Ausdruck, nur Symbol der selbst nie geschauten, nie gewirkten, sondern immer nur schauenden, wirkenden Wahrheit. Man kann auch sagen: die Wahrheit ist nur in der Individualität, um ihren innersten Kern und Grund mit einem Wort zu bezeichnen: im Ich. Ja genauer: sie ist nicht im Ich als ein Es, als etwas Gegenständliches, etwas Gedachtes, eben als ein Etwas, sondern sie ist das reine Ich-bin. Sie kann nur von sich sagen: Ich bin. Und auch das ist nicht genau gesagt. Aber das Unsagbare läßt sich nicht sagen. Das, was nie ein Erkanntes ist und sein kann, läßt sich nicht erkennen; ja, die Wahrheit selbst erkennt nicht sich, denn dieses Sich wäre ja schon wieder ein Erkanntes, wäre nur Ausdruck, nur Symbol. Sie kann eben nur erken-
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nen, nur sein, nur wirken, und das kann sie nur als reines Ich, als Individualität. Wie sehr die Individualität in ihrem reinen individuellen Sein, wie sehr die Wahrhaftigkeit in ihrem reinen Wahrhaftigsein hier als die . Eine allgemeine Wahrheit vorausgesetzt wird, wird noch deutlicher, wenn wir nun fragen, wie diese Individualität zur Gemeinschaft kommt. Ich brauche kaum erst zu sagen, daß wir hier nicht nach dem einfachen, empirischen Nebeneinander der Menschen in Zeit und Raum fragen, sondern nach der Verbindung, der Gemeinschaft der Menschen im Innersten ihres Seins. Das aber ist die Frage, wie das Ich zum Ich kommen kann. Denn das ist das Wesen der individualistischen Gemeinschaft, daß ihre Glieder sich in ihrer reinen, tiefsten Individualität berühren sollen. Es will sich, wie Fuchs in jenem Bericht sagt, »der eine freuen an der Wahrheit und Wahrhaftigkeit des andern, und aus dieser Freude aneinander will man sich gegenseitig zur Quelle der Kraft werden". Das heißt: das Ich will unmittelbar zum Ich kommen, es will eins werden mit dem individuellen Leben desandern, um aus ihm sich Kraft zu trinken zu seiner eigenen Eigenart. Wäre les nun nicht so, daß die Wahrhaftigkeit und Individualität gerade in ihrem innersten Sein als die Eine, in allen lebende und sich bezeugende Wahrheit angesehen würde, so wäre eine Gemeinschaft zwischen diesen Individualitäten, die jede ihre besondere Wahrheit hätten, schlechthin unmöglich. Gerade in ihrem tiefsten, innersten Sein wären die Menschen in einer unendlichen, hoffnungslosen, von keiner Gewalt zu durchbrechenden Einsamkeit. Gerade weil sie in sich geschlossene Individualitäten wären, wären sie damit abgeschlossen von jeder anderen. Und es gäbe von k.einer zu keiner anderen einen Weg. Jede lebte in ihrer Welt, die nur ihre Welt wäre. Gerade da, wo das Verlangen nach Gemeinschaft schier unerträglich wäre, müßte jeder jeden anderen allein lassen, wie nahe er ihm auch stünde. Wo man ganz bei sich wäre, da wäre man dann eben auch ganz und gar nur bei sich und bei niemandem sonst, da kennte man zu seiner eigenen Qual nur sich selbst, da würde -auch der sehnendste Ruf nach einem anderen nur vom eigenen Ohr vernommen, und niemals hörte man auf diesen Ruf eine andere Antwort als immer nur den eigenen unaufhörlich wiederholten, nie erwiderten Ruf. Das kann nur anders sein, wenn jede Individualität in ihrem eigensten, innersten Sein die Eine Wahrheit ist. Dann ist sie in sich, in ihrem eigenen Sein eins mit allen anderen. Und wie ihr ihre eigenen Werke, ihre eigenen Anschauungen, nur Symbole ihres eigenen Seins, der Einen
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Wahrheit sind, so sind ihr auch die Werke und Worte, das gelebte Leben jeder anderen Individualität Zeichen und Hinweise auf das tiefere Leben und Sein, die unsagbare und unerkennbare Wahrheit selbst. Durch das alles hindurch berührt sie sich mit der anderen Individualität unmittelbar. Aber wie sich auch eine Individualität mit der anderen berührt, wie sehr sie auch eins werden mögen, niemals gibt hier eine Individualität der anderen, was diese nicht schon in sich trüge. Sie schenkt ihrem Leben nicht einen neuen Klang, sie weckt nur, was in ihr schon angelegt war. "Den anderen habe ich erst dann und nur so, daß ich seine besondere Schönheit erkannt habe und ihm helfe und diene zu seiner Schönheit, wie er mir zu meiner", so sagt / charakteristischer Weise in ästhetischen Kategorien / ein Vertreter dieser An- I schauung2 • Diese Gemeinschaft ist wahrhaftig eine individualistische. Eine Gemeinschaft, in der es nur und ganz allein das Ich gibt. Und ihr Lied heißt: ,Ich bin ich'. Das ist alles, ja wirklich ein und alles, was ihre Glieder einander zurufen. Aber es braucht auch kein anderes Lied. Denn kommt es aus der tiefsten Individualität / und nur von dorther kann es klingen /, und ist die Individualität in ihrem innersten, individuellen Sein, das eigentliche, das wirkliche Sein, das Sein, das alles andere begründet und in sich trägt, ist sie also Gottes eigenes Sein / und nur dann ist dieses Lied: ,Ich bin ich' ein Jubelklang und der Freudenschrei des befreiten Ich / kommt also dieses Lied: ,Ich bin ich' aus dem tiefen, reinen Grund der Individualität, da, wo sie nur in sich ist, und ist die Individualität in diesem Grunde göttlich, dann sänge ja nicht nur ein Mensch, wenn ich so sagen darf, ein menschlicher Mensch dieses Lied, sondern in ihm, der göttlich ist in Der Tiefe, aus der dieses Lied kommt, sänge die ewige Gottheit selbst, und sie sänge ihre eigene Herrlichkeit, das ewige ,Ich bin, der Ich bin', und es könnte wahrhaftig kein Mensch dem anderen glückhaftere, seligere, stärkere Worte sagen als diese. Erwiesen sich aber diese Voraussetzungen als falsch, dann wäre dieser Jubelschrei in Wahrheit das furchtbare Klagegeschrei des in dem schmach- und jammervollen Kerker seiner Ichhaftigkeit gefangenen Menschen, der nach dem Du, das ihm dieses grausigste Gefängnis sprengen soll, verlangt. Und dieses Klagegeschrei wäre um so furchtbarer, wenn der Mensch es nicht einmal selbst in seinem Sinn verstünde. Prüfen wir darum die beiden Voraussetzungen. Das sind diese: einmal, daß der Mensch seine Individualität in ihrem tiefen reinen Grund 2
Mensing in der Freien Volkskirche, Blatt für Gegenwartschristentum 1922.
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realisieren kann. Und dann: daß die Individualität in diesem Grunde göttlich ist. Ist mit der Individualität das innerste Sein des Menschen gemeint, das, was nicht die Umstände gemacht haben, was nicht bedingt ist durch dies und das, was überhaupt kein Etwas ist, sondern das Sein im Sein, das Leben im Leben, das reine, ewige Ich-bin, so ist das allerdings göttlich. Denn Gott allein ist das Leben im Leben, das I Sein im Sein: nur das Göttliche ist nicht ein Etwas, ein Dies oder Das; nur das Göttliche ist unbedingt. Eine andere Frage aber ist die, ob der Mensch diese Individualität ist, und ob er sie jemals werden kann. Haben das göttliche ,Ich bin, der Ich bin' und das menschliche ,Ich bin ich' wirklich denselben Sinn? Oder anders ausgedrückt: ist das Ich in dem ewigen reinen Ich-bin, das das ewige und göttliche ist, dasselbe Ich wie das zweite? Ist es ein Identitätssatz, wenn ich sage: Ich bin ich? Oder klafft nicht zwischen dem ersten Ich, das das Ich ist durch das ich von Ewigkeit, von Gott her bin, und dem zweiten, das ich jetzt in diesem Augenblick, in dieser Zeit bin, klafft nicht zwischen ihnen ein Gegensatz, wie zwischen Zeit und Ewigkeit? Und soll man wirklich im Ernste fragen, ob ein Mensch in seinem Leben diesen Gegensatz aufheben kann? Daß er das könnte, kann man ja nur meinen, wenn man sich nicht klar gemacht hat, was jenes erste Ich in dem Satze ,Ich bin ich' bedeutet. Es bedeutet die Gotteinigkeit, die Gotteskindschaft, es bedeutet ein Bild, das Gott gleich ist, es bedeutet das reine, frohe unschuldige Sein in Gott. Daraus ist das ,Ich bin ich' des Menschen geworden. Hat man wirklich keine Ohren, um zu hören, daß es Gedankenlosigkeit, die furchtbare Gedankenlosigkeit ist, die den heutigen Menschen überfällt, sobald er vom Ewigen, von seinem eigenen Sein im Verhältnis zur Ewigkeit spricht, wenn man meint, dieses ,Ich bin ich' sei auf irgendeine Weise dem göttlichen: ,Ich bin, der Ich bin' gleich? Und doch ruht das ganze heutige Denken auf diesem Irrtum, auf dieser Blasphemie. Es ist der Irrtum, aus dem heraus wir von Anbeginn an alle als die geworden sind, die wir sind, und es in jedem Augenblick immer wieder werden: daß wir sein wollen wie Gott. Es ist immer dieselbe Sünde, daß wir den Menschen an Gottes Stelle setzen wollen. Immer wieder sprechen wir diese Worte ,Ich bin ich' Gott nach. Und wir möchten alle, sie hießen / und die Idealisten und Individualisten und die Mystiker sind sogar davon überzeugt, daß sie heißen /: Ich bin das A und das 0, der Anfang und das Ende, der da ist, und der da war, und der da sein wird. Und sie heißen doch immer nur, mag sie sprechen wer will: Ich bin ich,
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das will sagen: nur ein enges, qualvoll enges, zum Ersticken einsames, von I allem Du, von Gott und Menschen getrenntes Ich und voll Verlangen nach Gott und aller Kreatur. Und es heißt weiter: Nicht ein Verhängnis oder Schicksal hat mich tückischer Weise dazu gemacht; nein: ich bin ich, da hat kein Drittes Platz, dem die Verantwortung zuzuschieben wäre. Mein ist die Schuld. Es heißt nicht: Es machte mich das Schicksal oder Gott zu diesem Ich, das ich nun bin. Ich bin es, seit ich bin. Diese Schuld ist mein Sein und ist es, solange ich war und bin und sein werde. Und wenn diese Worte: ,Ich bin ich' in ihrem tiefsten Sinn, wenn sie als der Verzweiflungsschrei des Menschen verstanden werden, wenn aller Stolz und Hochmut und zuletzt auch alle Verstockung aus ihnen verschwunden ist, dann heißen sie / und sie heißen von Anfang an nichts anderes als dies /: Gott, sei mir armen Sünder gnädig! Wir sahen, daß die Form der Verbindung der Menschen untereinander, die wir Gemeinschaft nannten, ihrem ganzen Wesen nach individualistisch ist. Das heißt: Sie steht auf dem Ich, auf seinem Willen, seiner Gesinnung, seiner Wahrhaftigkeit. Ja, die Gemeinschaft wäre, vorausgesetzt, daß sie verwirklicht wäre, schließlich nicht mehr und nicht weniger als die Offenbarung, die Entfaltung des Ich in seinem tiefsten Wesen, der Individualität in ihrer Ursprünglichkeit, ihrem unmittelbaren Leben. Das bedeutet, anders ausgedrückt: das Problem der Gemeinschaft ist hier nicht, wie das Ich zum Du kommt, sondern das Problem ist: Wie kommt das Ich zum Ich? Und zwar ist das in dem doppelten Sinne gemeint, den der Satz hat, der sich aber zuletzt als ein und derselbe Sinn, als identisch erweisen soll. Denn das Ich kommt nach dieser Auffassung zur Gemeinschaft mit dem Du nur dadurch, daß sich ihm das Du, das ihm in harter Gegensätzlichkeit, in undurchdringlicher Fremdheit, in unbegreifbarer Andersheit gegenübersteht, in ein Ich verwandelt, das weiter nichts will, als seine reine Ichheit sein und darleben. Aber damit sich mir das Du, das mir als Du ferner bleibt, als der Himmel der Erde ist, in seiner Ichheit, seiner Individualität, seiner Eigenheit erschließt, müßte ich selbst zum reinen Ich geworden sein, müßte ich selbst nichts wollen, als mich selbst in meiner tiefsten, eigensten Selbstheit darleben I und erschließen. In dieser Selbsterschließung erschlösse sich mir mein eigenes Ich, erschlösse sich mir das Ich des anderen, erschlösse sich mir das reine, ewige Ich der Gottheit in dem Zusammenklang meines Ich und des Ich des anderen.
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Das wäre die individualistische Gemeinschaft in ihrer Vollendung. Eine Gemeinschaft, in der es nur das Ich, nur Eins-sein, nur Individualität, nur Freiheit und Freiwilligkeit, nur Unmittelbarkeit gäbe. Und in der es keinen Zwang, kein Allgemeines, kein Gegenüber, in der es kein Du gäbe, nicht das Du eines Menschen, nicht das Du Gottes. Denn Gott wäre hier zum reinen, ewigen Ich geworden. Genauer: Gott wäre mir hier zum reinen, ewigen Ich geworden. Das aber heißt nichts anderes und kann nichts anderes heißen als: ich wäre hier zum reinen ewigen Ich Gottes geworden. Mit diesem Satz, dieser Behauptung steht und fällt die individualistische Gemeinschaft und alles, was mit ihr zusammenhängt, zum Beispiel die ganze individualistische Persönlichkeits kultur der letzten Jahrhunderte und der kommenden, wenn sie wirklich erst noch die Vollendung und Vertiefung des Individualismus bringen werden, wie seine Vertreter behaupten, um nicht an der immerhin kläglichen Beschaffenheit des gegenwärtigen Individualismus von vornherein das Spiel zu verlieren. Es liegt nicht viel daran, ob ein Individualist sich zu diesem Grundsatz des Individualismus auch wörtlich bekennt. Der Individualismus gibt sich meistens ästhetisch und vor allem der religiöse Individualismus ist fast immer nur ein religiös betonter ästhetischer Individualismus. Das liegt in der Sache, denn der Individualismus ist von Haus aus ästhetischer Herkunft, und er hat innerhalb der ästhetischen Sphäre seine Berechtigung, aber eben mit ihr auch seine Beschränkung. In dieser Übertragung ästhetischer Kategorien und Prinzipien auf ein grundanderes Gebiet, nämlich auf das religiöse, versteckt sich eine elementare Unklarheit des Gedankens. Hier könnten die religiös-ästhetischen Individualisten ein gutes Stück tüchtiger Arbeit bei sich selbst tun. Allerdings geht das nur unter der Bedingung, daß sie, bei dieser Arbeit zum mindesten, aufhören, Individualisten zu sein, und das Gesetz der Wahrheit über sich anerkennen, die aber keine individual i- I stische Wahrhaftigkeit ist, sondern vor der sich auch die aufrichtigste individualistische Wahrhaftigkeit als verhängnisvollster Irrtum erweisen wird. Wir erkannten im scharfen Gegensatz zum Individualismus, daß der letzte Sinn seines: ,Ich bin ich' nicht das göttliche ,Ich bin, der Ich bin' ist, sondern das sehr menschliche ,Gott, sei mir Sünder gnädig'. Hier ist das Ich aus seiner herrschenden Stellung gewichen. Es ist nicht mehr die einzige und erst recht nicht mehr die letzte eigentliche Wirk-
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lichkeit. Gott kann mir hier nicht zum Ich werden, in dem sein und mein Ich gleichen Wesens sind, so daß zwischen ihnen nicht zu scheiden wäre. Sondern er ist hier Du, wirklich nur Du. Und damit ist die harte, schroffe, unerbittliche Gegensätzlichkeit zwischen Gott und Mensch gesetzt, die zwischen Ich und Du gesetzt ist. Das weiß der Individualismus, daß zwischen dem Ich und dem Du eine Grenze gezogen ist, die jede wesenhafte, substantielle Gemeinschaft zwischen ihnen unmöglich macht. Darum, weil er solche Gemeinschaft will, vollzieht er ja jene Verwandlung der ganzen Welt, Gottes und der Menschen in das Ich, darum muß er sie vollziehen. Darum löst er alles Du in das Ich auf, muß er es tun. Darum muß für ihn das Ich die eigentliche, einzige Wirklichkeit sein. Darum bricht aber auch der ganze Individualismus zusammen und erweist sich die individualistische Gemeinschaft in demselben Augenblick als Phantom, wo ein Du auftaucht, das sich jeder Verwandlung in ein Ich entzieht, mit dem sich jede innige, unmittelbare Gemeinschaft im Ichsein und im mystischen Ichgefühl verbietet. Und dieses Du taucht in demselben Augenblick auf, in dem das Ich erkennt, daß es nicht die eigentliche, die einzige Wirklichkeit ist. Wenn es erkennt, daß die Welt zerbrochen ist in Ich und Du. Mit dieser Erkenntnis gibt sich uns das Problem der Verbindung der Menschen untereinander ganz von neuem. Hier kann es nicht mehr mit der individualistischen Gemeinschaft gelöst werden, deren Problem war, wie das Ich zum Ich kommt. Denn hier ist es als das Problem erkannt, wie das Ich zum Du kommt. Und zwar zu dem Du, das mir nicht und niemals zum Ich werden kann, sondern mir in der harten, I schroffen Gegensätzlichkeit des Du gegenübersteht und stehen bleibt. Es gibt hier nicht mehr den individualistischen Ausweg, das Du in ein Ich zu verwandeln, und so die Gemeinschaft zu realisieren. Dieser Ausweg ist nun erkannt als die ungeheuerliche Selbsttäuschung, daß man das eigentliche Problem beiseite stellt, nämlich das Du und mit ihm den Gegensatz, der überwunden werden soll, und daß man dann eine Selbstverständlichkeit behauptet, daß nämlich, wenn jeder zu einem reinen Ich geworden ist, kein Gegensatz mehr vorhanden und die Gemeinschaft verwirklicht ist. Zwischen dem Ich und dem Du gibt es eine Verbindung, die sich über das Maß des ganz Momentanen, ganz Zufälligen erheben soll, nur durch ein Drittes. Und dieses Dritte kann nur ein der Subjektivität und Individualität so Entnommenes sein, wie es die Autorität ist. Oder
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/ das ist die zweite Möglichkeit / die Verbindung besteht in der unbedingten Unterordnung des einen unter den anderen, des Ich unter das Du. Niemals aber können Ich und Du in wesenhafter Gleichheit miteinander verbunden sein, wie die individualistische Gemeinschaft es will. Mit anderen Worten: es gibt zwischen Ich und Du keine unmittelbare Gemeinschaft, sondern nur eine mittelbare. Und eine mittelbare Gemeinschaft, in der also ein Mittel den Gegensatz, den bleibenden und trennenden Gegensatz vermittelt, nenne ich Gemeinde. Hier gibt sich uns die schwere, vielleicht schwerste Frage nach der Autorität auf. Wer ist Autorität? Wo ist überhaupt Autorität möglich? Autorität ist nicht möglich, das sahen wir, bei der Anerkennung eines wie immer gearteten Individualismus. Autorität und Individualismus schließen sich gegenseitig aus. Man kann darum nicht den Individualismus behaupten, wenn auch nur so, um an seiner Vollendung zu arbeiten, und dann außerdem, weil man merkt, daß es nicht anders geht, auch noch einige Autorität behaupten wollen. Jede und auch die zahmste oder undurchdachteste Form des Individualismus macht jegliche Autorität schlechthin unmöglich. Das ist die Situation unserer Kultur, wenn man will: unseres Zeitalters. Und sie ist das in Recht und Staat, Arbeit und Kunst, Ehe und Familie, Schule und Kirche. Das Suchen nach Autorität hat nur Sinn, wenn man sich I darüber klar geworden ist, daß der Individualismus in jeder Form, die er annehmen kann, ein Irrtum ist. Denn es kann Autorität nur sein, wo es das unaufhebbare, unverwischbare, eherne Gegenüber des Du gibt. Das aber gibt es nicht und kann es nicht geben im Individualismus, weil der Individualismus die prinzipielle Aufhebung des Du in das Ich ist. Da Autorität eine geistige Realität ist, und ihr Zwang, wenn man dieses Wort hier überhaupt gebrauchen darf, nicht der Zwang und die Notwendigkeit einer Sache ist, so kann sie nur als Du, als die Autorität eines Du sein. Man verwechsele aber die Autorität nicht mit der Oberzeugungskraft, die ein Führer, sogar ein genialer Führer bei den Individualisten, also in heutigen Bewegungen hat. Denn in dem Führer und erst recht in dem genialen Führer erkennt man sich, sein eigenes, innerstes Ich wieder. Und die Zustimmung zu ihm ist nichts als die Zustimmung zum eigenen Ich und durchaus nicht die zum Du. Denn man folgt dem Führer wegen seiner genialen Individualität, wegen seiner umfassenden und intensiven Ichhaftigkeit, in der man sein eigenes Ich sich wiederfinden und in seiner Kraft und Intensität sich stärken lassen kann. Daß ein Führer Führer ist, hat er nicht von sich; das hat
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er allein von seinen Anhängern und ihrer Zustimmung zu ihm: die Anhänger wählen sich den Führer. Aber der Führer wählt sich nicht seine Anhänger. In dem Augenblick, wo er seine Genialität verlöre, verlöre er auch seine Gefolgschaft. Wollte er aber Autorität sein, so müßte er gerade darauf verzichten, mit seiner Genialität, seiner Individualität und Ichhaftigkeit auf seine Gefolgschaft zu wirken. Das bedeutet aber, daß ein Mensch als Mensch niemals Autorität sein darf und auch niemals sein kann. Denn in dem Augenblick, wo er selbst als Mensch Autorität sein will, setzt er sein Ich, seine Genialität an deren Stelle. Es kann also nur Gottes Du Autorität sein. Denn Gott allein ist das reine, das absolute Du, dem wir uns auf keinerlei Weise gleichstellen können, und dessen Autorität darum nicht durch unsere Zustimmung ist, und dessen Autorität auch nichts abgebrochen wird durch unsere Absage. Es ist auch Gottes Du, das uns zu dem Ich macht, das wir sind und das uns unser ,Ich bin ich' als ,Gott, sei mir Sünder gnädig' I erkennen läßt. Es ist Gottes absolutes Du, das uns unsere tiefe, undurchdringbare Einsamkeit erst in ihrer Verlorenheit schmecken läßt. Wir hätten nichts von dem verstanden, was wir bisher erkannten, wenn wir die Autorität, dieses Du Gottes nun wieder in einer inneren Erfahrung finden wollten, wenn wir irgendeine unmittelbare, aus den schöpferischen Tiefen unseres Ich quellende Gewißwerdung dieser Autorität behaupten, wenn wir diese Autorität Gottes irgendwie von der individuellen Gesetzlichkeit, das hieße also mit der Genialität oder dem letzten, tiefsten So-sein unseres Wesens gleichsetzen wollten. Gottes Du wird niemals unser Ich, trotz Angelus Silesius, ja, was sehr viel mehr bedeutet: trotz Eckehart. Es bleibt Gottes Du; uns so fern, so fremd, so unnahbar wie jedes Du. Nur noch ferner, noch fremder, noch unnahbarer, weil es das ewige Du Gottes ist. Man wird fragen: wie aber kann ich, wenn es so steht zwischen dem Ich und dem Du, dem menschlichen Ich und dem göttlichen Du, wie kann ich dann von Gott wissen? Die Antwort darauf kann nur sein: dadurch, daß Gott sich von sich aus mir mitteilt. Und wenn man nicht wieder in den Individualismus zurückfällt, dann wird man auch sehen, daß diese Mitteilung wirklich eine Mitteilung sein muß und keine platonisch-idealistische Selbsterinnerung sein darf. Denn Gott bleibt das Du und wird auf keinerlei Weise zum Ich. Es gibt also keine unio mystica zwischen Gott und Mensch, Gott und Seele, keinerlei unmittelbare Berührung oder Erfahrung. Nichts dergleichen. Es kann nur ein
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Hören seines Wortes geben. Denn das Wort ist die einzige Form der Mitteilung zwischen dem Ich und dem Du3 • Aber ich erinnere daran, daß das nicht das mystische Wort der inneren Erfahrung ist, denn dann hörten wir nur unser Ich, aber nicht Gottes Du. Dieses Wort kann nur ein äußeres Wort sein. Und dieses göttliche Wort ist Gottes Autorität. Wir sahen schon, es kann Verbindungen unter den Menschen nur geben durch Autorität. Wir sahen auch, es gibt keine Autorität, I sie sei denn von Gott. Genauer, damit nicht auch hier wieder der Irrtum des Individualismus sich einschleicht und diese von Gott stammende Autorität mit der Genialität des Menschen verwechselt wird: es gibt keine Autorität, es sei denn durch die Autorität von Gottes Wort. So kann es also keine Verbindung der Menschen untereinander geben, es sei denn durch Gottes Autorität, das heißt also: durch die Autorität von Gottes Wort. Und die Verbindung der Menschen untereinander, die von vornherein und vor allem anderen unter Gottes Namen steht und die wir Kirche nennen, kann nicht konstituiert sein durch die gleiche individuelle religiöse Bewegtheit und das gleiche religiöse Erlebnis, nicht durch den Willen zur Wahrhaftigkeit und "durch die Freude des einen an der Eigenart des anderen", sondern ganz allein und lediglich dadurch, daß Gottes Wort in ihr gepredigt und gehört wird. Ihre Ordnung ist nicht auf innige Gemeinschaft ihrer Glieder eingestellt, damit sie sich gegenseitig mit ihrer Individualität erbauen und zur Kraft werden, sondern auf nicht mehr, aber auch auf nicht weniger, als daß das Wort Gottes in ihr gepredigt wird. Sie ist also keine individualistische, persönliche Gemeinschaft, sondern eine autoritäre, sachliche Gemeinde. Was das heißt, versteht nur, wer die Grenzen und das Wesen des Ich erkannt hat, und daß die im tiefsten Sinne nicht, wie der Individualismus will, heißen: schöpferisches, ursprüngliches Leben, sondern Schuld und Sünde. Damit ist der Punkt bezeichnet, auf dem die tiefste Gleichheit aller und damit ihre schlechthinnige Verbindung und Solidarität in einer Gemeinde erreicht ist, in der die vorhandenen Gegensätze nicht etwa aufgehoben, aber außer Gültigkeit gesetzt sind. Nur alle Gegensätze, die sich hier einstellen und behaupten wollten, weil 3 Ich kann nicht unterlassen, hier auf das bedeutende und schöne Buch von Ferdinand Ebner "Das Wort und die geistigen Realitäten", Brenner-Verlag, Innsbruck 1921, hinzuweisen.
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sie religiöser Art sind, sind schlechthin aufgehoben, also die Gegensätze zwischen Priester und Laien, Führer und Geführten, Genie und Masse. Zwar wird auch ein romantischer Individualismus diese tiefste Gleichheit und die in ihr gegebene Gemeinschaft in Anspruch nehmen. Aber er wird sie und kann sie nur aus dem individuellen, schöpferischen Erlebnis der Sünde / man verzeihe diese geistreiche Formulierung; aber es handelt sich hier in der Tat um nicht mehr als um I eine geistreiche Wendung / begründen, das dann von jedem Einzelnen verlangt werden muß. Und da es sich hier nicht nur um diese oder jene Sünde handelt / die ja gerade nicht die Gleichheit, sondern die Verschiedenheit begründen würde /, sondern um die totale Sündhaftigkeit, so würde hier wieder die unmögliche Forderung der Realisierung der Individualität in ihrem tiefsten, reinsten Grunde gestellt. Nur hier mit dem entgegengesetzten Vorzeichen. Freilich wie sehr hier trotz des entgegengesetzten Vorzeichens ein und dasselbe gemeint ist, eben die Realisierung der Individualität in ihrem reinen tiefen Grund, geht schon daraus hervor, daß diese totale Sündhaftigkeit der Individualität nur als die dialektische Gegenseite ihrer reinen Göttlichkeit erscheint. Und es gilt darum für sie gen au dasselbe, was wir auf die Frage geantwortet haben, ob eine Realisierung der Individualität in ihrem reinen Grunde möglich ist. Und weil sie auf dieselbe unrealisierbare Voraussetzung gegründet ist, so ist auch diese Gemeinschaft, die durch das individualistische Erlebnis der totalen Sündhaftigkeit konstituiert werden soll, ein leeres Phantom. Man mag nun sagen, daß dieses Urteil auch die Gemeinde treffen müsse, von der wir vorhin aussagten, daß in ihr die tiefste Gleichheit und darum auch die schlechthinnige Verbindung und Solidarität ihrer Glieder gegeben sei. Aber das Konstituierende dieser Gemeinde ist gerade nicht ein individualistisches Erlebnis; ihre Voraussetzung ist nicht die Realisierung der Individualität in ihrem tiefen reinen Grunde. Ihre Voraussetzung ist statt dessen gerade der Verzicht des Ich auf den Anspruch, die eigentliche, die einzige Wirklichkeit zu sein. Und nicht der Verzicht, der aus einer immanenten Erschöpfung oder Verzweiflung des Ich stammt / damit wären wir nur wieder bei dem romantischästhetischen Individualismus und seinem Phantom von Gemeinschaft /. Der Verzicht, der hier gemeint ist, ist nur möglich aus der Erkenntnis des göttlichen Du und dem Gehorsam gegen seine Autorität. Das aber heißt: nur aus dem hörenden Hören von Gottes Wort. Zwar wie sich in der Anschauung des romantisch-ästhetischen Indi-
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vidualismus die totale Sündhaftigkeit der Individualität als die dialektische Gegenseite ihrer reinen Göttlichkeit erwies, so ergibt sich I hier als die göttliche Antwort auf die Sünde der Menschen ihre Vergebung und damit die göttliche Heiligkeit alles menschlichen Lebens. Aber diese Antwort ergibt sich nicht aus einer dialektischen Umkehrung, sondern ganz allein / und darauf kann nicht streng genug geachtet werden / aus dem hörenden Hören von Gottes Wort. Daraus ergibt sich, daß die Gemeinde, die durch die Autorität von Gottes Wort konstituiert wird, nicht nur die Gemeinde der totalen Sündhaftigkeit, sondern ebenso die Gemeinde der Seligen ist. Aber wie die Erkenntnis oder das Erlebnis dieser totalen Sündhaftigkeit nicht Folge einer Realisierung der Individualität in ihrem reinen Grunde ist, sondern das Hören des göttlichen Urteils ist, genau so wenig ist diese Heiligkeit Ergebnis einer solchen Realisierung der Individualität. Sondern sie ist nur, wo Gottes Wort gehört und geglaubt wird. "Denn wo ich das soll glauben ... , so muß ich flugs bekennen, daß mit mir und allem, was ich vermag, verloren ist" (EA 20,142). Diese Heiligkeit wird die Erinnerung daran, daß ihre Kehrseite die totale Sündhaftigkeit ist, nicht verlieren. Und es wird keinen Unterschied ausmachen, ob man die eine oder die andere zur Substanz und zum Konstituierenden alles menschlichen Lebens und darum auch alles gemeinsamen Lebens macht. Und eine andere Substanz und ein anderes konstituierendes Prinzip wird man nicht finden. Jedenfalls aber wird man Diese Heiligkeit nicht benutzen können, um eine irgendwie ideale Gemeinschaft unter den Menschen zu errichten, in der der Gegensatz von Zwang und Gesinnung, Autorität und Freiheit, Ich und Du zur mittlerlosen, unmittelbaren Einheit geworden wäre; also auch nicht, um irgendeinen Idealzustand auf dieser Erde im Namen Gottes herbeizuführen. Und wenn man wissen will, wie von hier aus das gemeinsame Leben der Menschen sich in Staat und Recht, Ehe und Familie, Arbeit und Kunst, Schule und Kirche gestaltet, so wird man wahrscheinlich besser tun, von der totalen Sündhaftigkeit auszugehen, und man wird vielleicht gerade dann am wenigsten vergessen haben, was es heißt, "daß wir wiederum eine neue Kreatur sind worden, nachdem wir gar verdorben und umbracht sind" (EA 20, 127). Jedenfalls individualistisch wird das alles dann nicht mehr sein und idealistisch auch nicht. Man versteht auch dann den I anderen noch nicht in seinem individuellen So-Sein und man wird nicht von dem anderen verstanden. Aber was liegt daran! Glaubt man an Gottes Wort auf Gottes
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Autorität hin, so ist man in seinem tiefsten und höchsten, äußerlichsten und innerlichsten existentiellen So-Sein von Gott verstanden, "Dem anderen zu seiner besonderen Schönheit dienen, so wie er mir dazu hilft", kann man hier nicht, denn es ist vor den Augen, die hier in die Tiefen sehen, keine "Schönheit", sondern Schuld und Sünde. Aber / und das ist hier das Höchste / es kann hier einer dem anderen auf Gottes Wort hin und in Gottes Namen alle seine Sünde vergeben.
HISTORISMUS I.
Die Historisierung unseres gesamten Denkens hat sich heute in einer so umfassenden Weise durchgesetzt, daß sich ihr kein Gedanke, den wir denken, mehr entziehen kann. Und jedem Gedanken, der eine Norm sucht oder selbst eine sein will, droht von dieser Historisierung aus seine schlechthinnige Aufhebung. Denn das ist das Wesen dieser Historisierung, daß sie alle Gestaltungen des menschlichen Lebens, und seien sie von der höchsten normativen Geltung, in den Fluß der Geschichte, einer Entwicklung einstellt und innerhalb dieser Entwicklung jede einzelne Gestaltung ihren eigenen Maßstab, ihre eigene Norm sein läßt. Damit ist .aber jede Norm aufgehoben. Denn Norm kann nur das sein, was einem anderen Gesetze unterworfen ist, als das ist, nach dem sich die Erscheinung entwickelt, der sie Norm sein soll. Es bliebe hier noch dieser Ausweg, daß das letzte Ziel der ganzen Geschichte selbst diese Norm wäre, der die einzelnen Erscheinungen, aus deren Folge die Geschichte besteht, zu unterwerfen wären. Aber auch dieser Ausweg ist nicht mehr zu gehen. Denn auch dieses letzte Ziel, auch dieser Wirklichkeit gewordene Inbegriff des Wesens, wie die Aufklärung und wie Hegel sie der Historisierung alles übrigen Geschehens entziehen wollten, sind inzwischen "historisch" geworden. Die Historisierung ist heute so gründlich durchgeführt, daß auch diese Konzeptionen, die als der Entwicklung und ihrer Relativität entnommen die Norm für alle einzelnen Stadien der Entwicklung sein sollten, in ihrer historischen Bedingtheit erkannt sind: sie sind Verabsolutierungen von durchaus zu-
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fälligen historischen Erscheinungen. Damit sind auch sie als Normen erledigt. Und auch der letzte Ausweg ist hier verstellt: nämlich der in einen vollständigen Relativismus, der sich in feiner, ästhetischer Betrachtung der Geschichte leise aus ihr hinausschleichen möchte. Denn die scheinbare überlegenheit einer solchen relativistischen Geste ist hier erkannt als die Müdigkeit einer kulturell späten Zeit. I Das alles bedeutet praktisch eine ungeheure Erschütterung aller Autoritäten und Normen und aller von ihnen getragenen Gestaltungen des menschlichen Lebens. Die fraglose Gültigkeit, die sie so gut wie alle besaßen, ist in Frage gestellt. Und das nicht etwa, wie sich ein an dieser fraglosen Gültigkeit in mehr als einer Rücksicht interessiertes Bürgertum einreden möchte, nur durch grundsätzliche Revolutionäre. Sondern die lediglich historisch-empirische Begründung aller dieser Institutionen und ihre Entkleidung von aller absoluten Gültigkeit wird von der heutigen in ihren Methoden durchaus historisierten Wissenschaft besorgt, und damit erschüttert diese auf das nachdrücklichste und gründlicher als alle Revolutionäre es könnten, auch alle Autoritäten und Normen, "alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und darum von der höchsten autoritativen Art, seien es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit, seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre herrschende Form beziehen "1. Das ist in ganz kurzen Sätzen die geistige Lage der Gegenwart, so wie Troeltsch sie in seinen Arbeiten immer und immer von neuem deutlich gemacht hat und wie er sie zum Ausgangspunkt seiner Arbeit nimmt und von der er sich seine Aufgabe stellen läßt. Diese Aufgabe besteht, so formuliert er selbst es in seiner letzten, aus dem Nachlaß veröffentlichten Arbeit2, "in einer Prüfung der Grundkonzeptionen aller Theologie überhaupt", wie er sie in seiner Schrift "Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte"3 seine vorangegangenen Arbeiten zusammenfassend, angestellt hat. Es ist die Prüfung der theologischen Grundkonzeptionen von der allgemeinen Historisierung des Denkens aus. Das Ergebnis ist die Erkenntnis, daß die Positionen des theologischen Denkens ihrer vermeintlichen absoluten Normativität entkleidet und ebenso wie die Positionen alles Denkens 1 2
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Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus, Neue Rundschau XXXIII, S. 573. Der Historismus und seine überwindung. Fünf Vorträge, 1924. 2. Aufl. 1912.
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in den Fluß der Geschichte gestellt und als lediglich historische Gebilde enthüllt werden. Sehr einfach ist für Troeltsch die Auseinandersetzung mit der einen der beiden Schulen, in die er die Theologie scheidet, mit der orthodoxsupranaturalistischen. Er zeigt, wie diese Schule den von ihr behaupteten Anspruch des Christentums, die einzige und einzigartige Wahrheit zu sein, auf das Wunder und zwar auf das innere Wunder der I Bekehrung gründet. Da ein inneres Wunder als solches aber nur durch ein äußeres, den äußeren Geschichtsverlauf und dessen Kausalität durchbrechendes Wunder zu erweisen ist, und zu diesem Zweck dann dieselbe Gültigkeit, nämlich die der unmittelbaren und ausschließlichen Gottgewirktheit, auch für die ganze heilige Geschichte gefordert werden muß, so ist für Troeltsch, der von der Voraussetzung der durchgehenden Historisierung alles Denkens und Geschehens ausgeht, die Theorie dieser Schule eine Unmöglichkeit. Denn die durchgehende Kontinuier- . lichkeit des historischen Geschehens könnte nur um den Preis ihrer selbst irgendeine Ausnahme ihrer Gültigkeit zugestehen. Es geht darum auch nicht an, der historischen Methode zwar das außerchristliche und außerbiblische Geschehen zur Erforschung und zur Deutung zu überlassen. Denn das ist ja das Besondere der modernen historischen Methode, daß sie ausnahmslos alles sich unterwirft. Und wenn man ihre Richtigkeit auch nur an einer Stelle anerkennt, kann man sich ihren Konsequenzen nicht mehr entziehen. Das klar gemacht und immer wieder und immer deutlicher gezeigt zu haben, ist das große Verdienst von Ernst Troeltsch, das er auch einer orthodox-supranaturalen Theologie gegenüber hat. Denn es wäre demgegenüber die Aufgabe einer supranaturalistischen Theologie, statt zu einer "abstrakten Unmöglichkeit der strikten Wunderleugnung" die Zuflucht zu nehmen4 , die von Troeltsch in allem heutigen Denken aufgezeigte Historisierung einer grundsätzlichen kritischen Prüfung zu unterziehen, nicht nur in bezug auf die Heilige Geschichte, sondern in bezug auf alle Geschichte, und nach dem Wahrheits- und Wirklichkeitscharakter dieses historisierten Denkens zu fragen. Das würde dann freilich bedeuten, daß die Voraussetzung dieser supranaturalistischen Theologie, die Trennung des heiligen Geschehens von dem profanen und die mit dieser Trennung auf das engste zusammenhängende apologetische Art des Denkens auf das gründlichste aufgegeben würden. Doch darüber wird noch zu reden sein. 4
Die Absolutheit, S. XIX.
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Mit der zweiten der heiden Schulen, in die er die Theologie scheidet, der idealistisch-evolutionistischen, setzt Troeltsch sich sehr viel eingehender auseinander. Ja, man kann sagen, daß sein Denken, soweit es im engeren Sinne theologisch ist, überhaupt in der kritischen Auseinandersetzung mit dieser idealistisch-evolutionistischen Theologie besteht. Er selbst stammt als Theologe aus dieser Schule. Die Theorie dieser Schule ist nach Troeltsch »der Versuch, unter Vermeidung all der mirakulösen Isolierungsmittel auf rein historische Weise die Geltung und Bedeutung des Christentums in einem Sinne darzutun, der hinter I der Selbstgewißheit der altkirch1ichen Lehre nicht zurückbleibt"5. Diese Theorie hat ihre klassische Durchbildung von keinem geringeren als Hegel erhalten. Der Grundgedanke dieser Theorie, der allen ihren im übrigen sehr verschiedenen Darstellungen zugrunde liegt, ist die Gleichsetzung des Begriffes der absoluten, vollendeten Religion und des Christentums: im Christentum ist die vollendete Religion historisch in die Erscheinung getreten. Hier sind dann auch alle anderen Religionen Wahrheit von Gott, aber in unvollkommener Form. Sie sind Vorstufen, die zum Christentum hinführen, und in ihm finden sie alle ihre Erfüllung. Von diesen Konstruktionen aber gilt nach Troeltsch, daß ihr »Regenbogen nur auf dem Nebel einer noch sehr unbestimmten historischen Erkenntnis leuchten konnte"6. Der Gedanke einer absoluten Religion sei nicht aus der Historie genommen, sondern aus dem Begriff des Absoluten selbst. Und die fortschreitende historische Forschung habe gezeigt, daß das Christentum nie und nimmer als eine einfache Idee zu verstehen sei, sondern nur als eine aus tausend Bedingungen und Einflüssen entstandene historisch-zufällige Erscheinung von durchaus begrenzt individueller und zeitgeschichtlicher Art. Der Gedanke einer historischen Realisation eines Allgemeinbegriffes, wie in diesem Fall des Begriffes der absoluten Religion, die in allen Religionen als die treibende und gestaltende Kraft vorhanden wäre, widerspricht eben dem Wesen 'der historischen Wirklichkeit. Diese kennt nur begrenzte, zufällige, individuelle Erscheinungen. Nun hat aber, wie Troeltsch zeigt, die jüngste große theologische Schule, die Schule Albrecht Ritsch1s, aus dieser Not eine Tugend gemacht. Da der Begriff einer absoluten Religion eine Unmöglichkeit sei, so betont sie gerade den historischen Charakter des Christentums und behauptet aus seiner besonderen historischen Erscheinung und seinem »individuell-histori5 8
Absolutheit, S. 23. Absolutheit, S. 41.
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schen" Anspruch auf absolute Offenbarung und Erlösung die normative . Geltung gegenüber allen anderen Religionen. Troeltsch zeigt indessen, daß hier mit einem zweideutigen Begriff des Historischen operiert wird, aus dem man das eine Mal, nämlich bei seiner Anwendung auf alle nichtchristlichen Erscheinungen, alle seine relativisierenden Konsequenzen zieht, den man aber das andere Mal, nämlich bei seiner Anwendung auf das Christentum, ohne diese Konsequenzen gebraucht, denn da soll der "individuell-historische" Anspruch auf schlechthinnige Offenbarungsqualität diese begründen. Dieser Theorie gilt mutatis mutandis dasselbe, was der orthodox-supranaturalistischen Theorie gegenüber zu sagen war, wie sie denn auch im Grunde nichts anderes ist als ein abgeschwäch- I ter Supranaturalismus7 • Und es ergibt sich angesichts dieser Theorie von neuem die Notwendigkeit, sich über den Begriff. des Historischen und seine Konsequenzen und damit also über die durchgehende Historisierung des heutigen Denkens Klarheit zu verschaffen.
II. Troeltschs eigene Lösung des Problems, wie ein auf diese Weise ganz und gar als rein historische Erscheinung erfaßtes Christentum noch zur Grundlage für ein System von Normen gemacht werden könne, sieht so aus: So gewiß es keinen in allen empirischen Religionen vorhandenen UJid in ihnen aus Entstellung und Unvollkommenheit sich emporarbeitenden Allgemeinbegriff der Religion gibt und das Christentum insbesondere nicht dieser Allgemeinbegriff ist, so kann doch mit allem Recht behauptet werden, daß in allen Religionen sich ein Gemeinsames findet. Und zwar ist das ein gemeinsames, allen gültiges Ziel. Und dieses Ziel ist "in dem Gedanken der Zielsetzung, in der vorwärts treibenden Unruhe und Sehnsucht, in der Entgegensetzung gegen die bloß natürliche Welt selbst die hervorbringende Kraft"8. Und von diesem Ziel und dieser Kraft des Personalismus behauptet Troeltsch, daß unter den großen Religionen das Christentum seine "stärkste und gesammeltste Offenbarung" sei. Ja, es nehme insofern "eine durchaus einzigartige Stellung ein, indem es allein den überall empfundenen 7 Absolutheit, S. 48; vgl. auch Gesammelte Schriften II, S. 729-753: Historische und dogmatische Methode in der Theologie. 8 Absolutheit, S. 74.
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Bruch der höheren und der niederen Welt vollzogen hat, die dingliche, tatsächlich gegebene und mitgebrachte Wirklichkeit durch eine aus Tat und innerer Notwendigkeit stammende höhere Welt überbaut, verwandelt und schließlich aufhebt und zu diesem Werk befähigt durch die erlösende Verbindung der in Welt und Schuld verstrickten Seelen mit der entgegenkommenden ergreifenden Liebe Gottes"9. Wie dieser Personalismus nur in einer persönlichen überzeugung als gültiges Ziel anzunehmen sei, so stehe auch die Anerkennung der Gültigkeit des Christentums als diesen Höhepunkt der Offenbarung "auf der Nadelspitze persönlicher überzeugung"lo. Aber Troeltsch ist der Meinung, daß sich doch aus der Religionsgeschichte die Gewißheit gewinnen lasse, daß das Christentum als dieser Höhepunkt und zugleich "als der Konvergenzpunkt aller erkennbaren Entwicklungsrichtungen I der Religion gelten" könne l l . Das bedeutet nicht die Realisation des Allge~ meinbegriffes der Religion durch das Christentum. Denn das Christentum ist dieser Höhepunkt ja gerade in seiner historischen Besonderheit und in seinem ganz individuellen Charakter. Es kann auch nicht heißen, daß es der letzte Höhepunkt der Religion sei. So sehr es für uns, in unserer besonderen geschichtlichen Lage in seiner historischen Besonderheit der tatsächliche Höhepunkt ist, so wenig schließt doch gerade diese historische Bedingtheit aus, daß nicht eine noch höhere Offenbarung möglich wäre, wenn wir über sie auch schlechthin gar nichts zu sagen vermögen. Es genügt für uns nach Troeltsch, daß dem Christentum die höchste Gültigkeit zukommt in dem ganzen Umkreis, den wir kennen. So lautete die Lösung, wie Troeltsch sie in seiner Schrift: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte vorgetragen hat. Im Vorwort zur 2. Auflage, die 1912 erschien - die erste Auflage war 1902 erschienen -, bemerkt Troeltsch aber schon, daß die Problemstellung schon nicht mehr ganz dieselbe sei, wie in dem Augenblick, als er diese Schrift verfaßte; die Problemstellung hätte sich in dem dazwischen liegenden Jahrzehnt ganz ungeheuer verschärft. Dazwischen liegen, um von fremden Arbeiten zu schweigen und nur Troeltschs eigene zu nennen, die Untersuchungen, die er 1912 in seinem großen Werk "Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" zusammenfaßt. Und in dem seitdem verflossenen zweiten Jahrzehnt sind die Untersuchungen des großen Werkes "Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichts9
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Absolutheit, S. 86. Der Historismus und seine überwindung, S. 71.
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Absolutheit, S. 89.
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philosophie" hinzugekommen und haben die Situation noch über jenes Maß hinaus verschärft. Diese beiden Werke führen insofern über die Problemstellung der "Absolutheit des Christentums" hinaus, als in dem ersten eine viel tiefere Einsicht in die individuelle Beschränktheit des Christentums gewonnen wurde. Das Christentum ist danach ganz und gar abhängig von den Kulturen, auf deren Boden es wächst. So ist auch seine Idee des Personalismus keine allgemein menschliche, sondern eine spezifisch abendländische, europäische Idee, und darum gar nicht so ohne weiteres auf einen anderen kulturellen Boden, etwa den der indischen Kultur, zu übertragen. Damit wäre der Begriff der Höchstgeltung und vor allem der des Konvergenzpunktes aller erkennbaren Entwicklungsrichtungen der Religion, die beide im vollen Umfange für das Christentum in Anspruch genommen wurden, sehr bedeutend verkürzt, ja, der zweite sogar ganz aufgehoben. Das Christentum bleibt für uns Europäer die höchste Offenbarung, "das uns zu- I gewandte Antlitz Gottes". Seine "Geltung besteht vor allem darin, daß wir nur durch es geworden sind, was wir sind, und nur in ihm die religiösen Kräfte behalten, die wir brauchen". Dabei ist aber ohne weiteres zugestanden, daß "andere Menschheitsgruppen im Zusammenhang völlig anderer kultureller Verhältnisse den Zusammenhang mit dem göttlichen Leben auf eine individuell ganz andere Weiseempfinden und eine ebenso mit ihnen gewachsene Religion haben, von der sie sich nicht lösen können, solange sie sind, was sie sind"12. In dem zweiten der angeführten großen Werke wird das Problem, wie auf dem Boden eines grundsätzlich historischen Denkens geltende Normen zu gewinnen seien, über den engen Rahmen der theologischen Fragestellung hinausgeführt auf das allgemeine Gebiet der Historie und angewandt auf kulturelle, politische, ethische, soziale, künstlerische und wissenschaftliche Normen. Das ist eine ganz folgerichtige Entwicklung. Denn erst in dieser Erweiterung der Fragestellung zeigt sich ihr ganzer Sinn. Denn es hat keinen Sinn, um die Höchstgeltung einer Religion zu finden, sie mit anderen Religionen zu vergleichen, wenn jede Geltung einer Religion bedingt ist durch die ihr zugehörige Kulturwelt. Hier müßte man, will man überhaupt vergleichen, die ganzen Kulturwelten miteinander vergleichen und gegeneinander werten, von denen die Religionen ja nur ein Stück, wenn denn auch vielleicht das wichtigste sind. 12
Der Historismus und seine überwindung, S. 77 f.
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Es leuchtet aber ein, daß hier, unter den gemachten Voraussetzungen, eine Wertvergleichung unmöglich ist. Troeltsch fühlt sich denn auch veranlaßt, noch smärfer als in seiner Smrift von 1902 darauf hinzuweisen, daß ein etwaiger Zusammenschluß der verschiedenen Relig~onen und der in ihnen wirksamen Antriebe »nicht in einer der historischen Religionen selbst schon liegen kann, sondern daß sie alle in eine gemeinsame Richtung deuten und alle aus innerem Antrieb in eine unbekannte letzte Höhe streben, wo allein erst die letzte Einheit und das Objektiv-Absolute liegen kann"13. Wenn Troeltsch in diesem Zusammenhang, wo er die allerengste Verbindung der Religion mit dem Gesamtgebiet der kulturellen, historischen Gestaltungen behauptet, und wo es zum mindesten scheinen könnte, als wäre das Christentum ganz an die abendländische Kultur preisgegeben, - wenn Troeltsch in diesem Zusammenhang sagt, daß er das eigentlich Religiöse immer selbständiger und eigentümlicher als autonome Macht des Lebens empfinde, und wenn das heißen soll, daß es überhaupt keine Normen gibt ohne die Gewinnung einer religiösen Norm, so wird daraus deutlich, I wie dringendes ist, daß diese Fragen gelöst werden, und wie hier in der Tat dem Christentum eine »neue weltgeschichtliche Stunde" schlägt. Denn es steht vor der Aufgabe, einer gesetzlosen Welt zu Gesetzen und Normen zu verhelfen. Zugleich ist aber auch deutlich, wie ungeheuer scharf und schwer die Problemstellung geworden ist: es geht auf gar keine Weise mehr an, dem Christentum dadurch zu einer normativen Gültigkeit zu verhelfen, daß man ihm die normauflösenden und Autorität zerstörenden Tendenzen des modernen his'torisierten Denkens fernhält, indem man sein Geschehen als ein besonderes und einer besonderen Kausalität unterliegendes von allem anderen, dem »weltlichen" Geschehen abgrenzt. Hier gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder man erkennt die Troeltschsche Aufstellung als richtig an, vor allem seine entscheidende These von der durchgehenden Historisierung unseres Denkens. Dann muß man mit ihm den Schritt machen von jeder Theologie, sowohl der orthodox-supranaturalistischen als der idealistisch-evolutionistischen und der Ritschlschen zur Geschichtsphilosophie als der eigentlichen normbegründenden Wissenschaftl'. Man mag im Zweifel sein, ob Troeltsch in seiner Schrift über die Absolutheit des Der Historismus und seine überwindung, S. 82. Vgl. Der Historismus, S. 110: "Erkennt man die Normen der Lebensgestaltung nicht mehr im kirchlichen oder seinem Nachkömmling, dem rationalistischen Dogma, dann bleibt nur die Geschichte als Quelle und die Geschichtsphilosophie als Lösung." 13 14
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Christentums noch der Theologie die Begründung der Normen zuerkannte. Dort legte er das Bekenntnis ab zum Christentum, "sofern man es in seiner historischen Gesamterscheinung versteht"15. Das ist im Grunde schon dieselbe Idee, die er zuletzt als die eigentliche Norm gebende oder doch die Norm in sich enthaltende gesucht und aufgestellt hat, die Idee des Europäismus. Nur daß er diese Idee hier, in der "Absolutheit", noch wesentlich vom Christentum her, also theologisch sah. Später aber sieht er sie wesentlich vom Europäismus aus, also kulturphilosophisch. Und wie weit er hier zu gehen geneigt war, zeigt ein Satz wie der, daß "die großen Religionen eben doch Festwerdungen der großen Rassegeister zu sein scheinen, ähnlich wie die Rassen selbst Festwerdungen der biologisch-anthropologischen Formen sind"16. Ich brauche nicht zu sagen, daß dieser übergang Troeltschs von der Theologie zur Geschichtsphilosophie, vom Christentum zum Europäis- I mus nicht etwas Zufälliges, auf persönlichen Eigentümlichkeiten und Interessen eines einzelnen Menschen Beruhendes ist, sondern daß Troeltsch mit diesem übergang, der bei ihm noch durch eingehende historische und philosophische Arbeit begleitet ist, den tatsächlich und längst erfolgten Wechse! der Theologie gegen die Geschichtsphilosophie, des Christentums gegen die Idee des Europäismus in glänzendster und für die Betroffenen, Theologie und Christentum, umso erschreckenderer Weise repräsentien und rechtfertigt. Das wäre die eine Möglichkeit, vor die Troeltsch die heutige Theologie, ganz gleich von welcher 1}ichtung sie ist, stellt: als eigentliche und letztlich Norm begründende Wissenschaft abzutreten und diesen Rang an die Geschichtsphilosophie abzugeben, und selbst zu einer reinen Geschichtswissenschaft zu werden, deren Aufgabe es ist, das Christentum zu erforschen. Das alles heißt ja aber nichts anderes, als den längst eingetretenen Zustand als zu Recht bestehend anzuerkennen, und - das wäre die bittere Aufgabe, die sich neu ergäbe - sich aller seiner Konsequenzen voll bewußt zu werden. Die andere Möglichkeit wäre die, daß man die entscheidende These Troeltschs, die die durch15 s. 82. V gl. dazu auch den folgenden Satz: "Als solche vereinigt es den israelitischen Prophetismus, die Predigt Jesu, die Mystik des Paulus, den Idealismus des Platonismus und Stoicismus, die mittelalterliche Zusammenschmelzung der europäischen Kultureinheit mit dem religiösen Gedanken, den germanischen Individualismus Luthers, die Gewissenhaftigkeit und Aktivität des Protestantismus." 16 Der Historismus und seine überwindung, S. 80.
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gehende Historisierung unseres gesamten Denkens behauptet, in Frage stellt. Freilich nicht in dem Sinne, daß man fragt, ob diese Historisierung tatsächlich erfolgt ist. Denn daß sie erfolgt ist, steht außer Frage; auch daß sie in dem Maße erfolgt ist, in dem Troeltsch es behauptet. Sondern es wäre zu fragen, ob diese Historisierung zu Recht erfolgt ist. Das ist nicht das alte apologetische Problem, das Christentum und die biblische Geschichte vor der Einbeziehung in den allgemeinen geschichtlichen Zusammenhang zu bewahren, sondern es ist die Frage, ob nicht das gesamte Geschehen einem historischen Denken verborgen und entzogen bleiben muß, weil ein historisiertes Denken sich in einer unwirklichen, in einer von vornherein durch es verunwirklichten Sphäre bewegt. Damit würde die Theologie freilich vor eine ungeheure große Aufgabe gestellt, aber schließlich doch vor keine andere als vor ihre Aufgabe: die eigentlich und letztlich Norm begründende Wissenschaft zu sein. Ist es wahr, was Troeltsch sagt, daß es "ohne den Gottesgedanken keine Maßstabbildung gibt" - und die Theologie wird nicht gut das Gegenteil behaupten können -, so wird eben diese erste und entscheidende Maßstabbildung Aufgabe der Theologie sein. Es ist nun gewiß kein Zufall - ich erlaube mir anzunehmen, daß es bei dieser Angelegenheit in der Sprache, in dem Jargon, den man spricht, nicht leicht Zufälle gibt -, daß Troeltsch an dieser Stelle, wo er sagt, daß es ohne den Gottesgedanken keine Maßstabbildung gibt, I ohne alle Umstände hinzusetzt: oder irgendein Analogon zu ihm17 • Damit enthüllt sich das schlechthin Götzenhafte und Schemenhafte dieser und nicht nur dieser Geschichtsphilosophie erschreckend deutlich. Denn das wird dadurch deutlich, daß die Behauptung, daß der Gottesgedanke als irgendwie vorausgesetzte Grundvorstellung der Dinge hinter allem Denken steht, sagen will, daß irgendeine dunkle, nicht weiter faßbare Vorstellung vorausgesetzt wird, bei der es schließlich gleichgültig ist, welchen Namen man ihr gibt. Denn diese letzte, nicht mehr zu begreifende Einheit der Gedanken ist der Ort der schlechthinnigen Ruhe und nicht etwa derart der grundlegenden Entscheidung, und es ist mit ihr, trotz Troeltschs energischer Leugnung, die durchaus kontemplative Art dieses Denkens unwiderruflich gesetzt. Und es ist nicht so schwer, wie Troeltsch meint (S. 113), den Zusammenhang zu ahnen zwischen dieser Ruhe im Religiösen und dem unendlichen Schaffen der Geschichte, über dem das wirklich nicht gottesfürchtige 17
Der Historismus, S. 184.
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Wort "Lebensprozeß des Absoluten" steht und nicht das Wort Entscheidung. Jene grundlegende Behauptung will also nicht sagen, daß allem sinnvollen Denken eine reale und darum nicht zu verstehende, also nicht zu denkende und auf keine Weise kontemplative, aber in ihrer Wirkung alles andere bestimmende Begegnung mit Gott vorausgesetzt wird, bei der dann aber ganz gewiß nicht "irgendein Analogon" an seine Stelle gesetzt werden kann. Ist aber die Grundlegung schon eine Bewegung in lauter Unwirklichkeit, so ist nicht zu hoffen, daß man in der Folge auf irgendeine Wirklichkeit stoßen wird. So bleibt also der Theologie ihre Aufgabe, und nach dem Fehlschlag dieses geschichtsphilosophischen Versuches ist sie dringender als je, ist sie aber wahrscheinlich auch schwieriger als je. Denn das möchte ich doch nun, nachdem ich den Irrtum der Troeltschschen Theorie vorläufig angedeutet habe, mit um so größerem Nachdruck sagen, daß mir die Leistung Troeltschs von der allergrößten Bedeutung zu sein scheint, und daß keine Theologie hoffen darf, irgend etwas von Bedeutung zu leisten, die sich nicht gründlich mit ihm auseinandergesetzt hat. Nachdem Troeltsch seine Arbeit geleistet hat, ist jede Theologie, die nicht das Problem des Historismus in der ganzen Breite angreift, in der Troeltsch es gestellt hat, von vornherein unfruchtbar. Und man wird sich bei dieser Auseinandersetzung mit Troeltsch immer wieder vQr Augen halten müssen, daß diese Auseinandersetzung nicht zuerst der Theorie Troeltschs gilt, mit der er trotz und in der Historisierung des Denkens Normen zu gewinnen sucht, sondern daß diese Auseinandersetzung zuerst und in der Hauptsache dieser allgemeinen Histori- I sierung des Denkens selbst gilt. Und die, das kann nicht oft genug gesagt werden, ist keine Theorie Troeltschs, sondern eine Tatsache, die er in ihrem breiten Umfang mit allen ihren Konsequenzen aufgezeigt hat. Und diese Auseinandersetzung ist um so schwerer, als unser eigenes Denken selbst an dieser Historisierung teilnimmt. Unsere gesamte Bildung ist eine historische. Und auch alle Bildungsreformen, mögen sie noch so radikal sein, verlassen doch diesen Boden nicht. Hier kann nur die gründlichste Besinnung helfen. Zu ihr kann die klare Durchdringung des Historismus und seiner Voraussetzungen, die Troeltsch in seinem letzten Werke geliefert hat, nicht wenig beitragen.
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III. Troeltsch hat schon in einem 1898 zum erstenmalerschienenen Aufsatz18 gesagt, daß die historische Methode aus einer ganz bestimmten metaphysischen Grundannahme hervorginge, und zwar, wie er es damals formulierte, aus der Annahme eines Gesamtzusammenhanges des Universums und damit auch der Betätigungen des menschlichen Geistes. In seinem großen Werk über den Historismus hat er dann ausführlich über diese metaphysischen Grundvoraussetzungen des Historismus und damit der historischen Methode gesprochen. Man wird das Wesen des Historismus am gründlichsten von hier aus verstehen können. Es handelt sich bei dieser metaphysischen Grundannahme um einen Gedanken, der, wie Troeltsch sich ausdrückt, an der Grenze der Wissenschaft liegt und dessen Recht keine strenge Wissenschaft mehr beweisen kann (S. 173). Aber seine Bedeutung ist so groß, daß nur von ihm aus "die großen Grund- und Prinzipienfragen nach Wesen und Gehalt der wissenschaftlichen Arbeit" beantwortet werden können (S. 687). Ohne daß "die Historie derart an ihren Rändern in einen mystischen Hintergrund des Allebens zurückgeht", sei "nicht einmal die Selbständigkeit ihrer Logik und Methode aufrecht zu erhalten. Sie würde zur unbegreiflichsten Paradoxie im engsten Sinne dieses Wortes" (S. 87). In ihm allein liege auch die Bürgschaft, "daß die historische Bewegung schließlich doch in einer letzten Einheit ruhe, die nur bei ihrer eigenen Bewegtheit sich jedem Begriff entzieht und die daher mit den Worten ,Einheit' und ,All' nur sehr unzureichend bezeichnet wird" (S. 173). So steht denn auch der entscheidende Begriff der Troeltschschen Geschichtsphilosophie, der Begriff der Individualität, ganz und gar auf diesem Hintergrund und taucht mit seiner Substanz tief in ihn ein. I Zugleich aber ist er eng verbunden mit den klaren, übersehbaren, logischen und empirischen Gebieten dieser Geschichtsphilosophie. Denn es liegt Troeltsch außerordentlich viel daran, mit der empirischen Forschung und ihren nüchternen, praktischen Methoden in engster Fühlung zu bleiben. Man kann sagen, daß das große Werk über den Historismus eine Philosophie der Individualität ist und zwar als desjenigen Begriffes, der die historische Wirklichkeit ausmacht. Demzufolge wird in dem ersten der vier Kapitel, die das Werk ausmachen, der Begriff 18 über historisme und dogmatisme Methode in der Theologie. Wieder abgedruckt in den Gesammelten Smriften, Band 11, S. 729.
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der Individualität in seiner Bedeutung für die empirische historische Forschung bestimmt. Wie das gemeint ist, wird sofort deutlich, wenn ich sage, daß Troeltsch einmal meint (S. 201), daß dieses Kapitel, das die überschrift "Das Wiedererwachen der Geschichtsphilosophie" trägt, eigentlich überschrieben sein müßte: "Naturalismus und Historismus" (so ist jetzt nur der Schlußabschnitt des Kapitels überschrieben). Der Begriff der Individualität, der den historischen Gegenstand im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen konstituiert, ist nicht der Allgemeinbegriff "des Gesetzes im Verhältnis zum Einzelfall, sondern der der Lebenseinheit - Troeltsch spricht auch von individueller Totalität (z. B. S. 32) - zu ihren Elementen, keine abstrakte Fassung immer gleicher Vorgänge, sondern die immer noch anschauliche Repräsentation unzähliger Einzelvorgänge in einem sie zusammenfassenden Ganzen" (5. 120). Es wird hier die historische Wirklichkeit abgegrenzt von der naturwissenschaftlichen und damit die historische Forschung von deI! naturwissenschaftlichen. In den beiden mittleren Kapiteln wird dann der metaphysische Gehalt des Individualitätsbegriffes gewonnen. In dem zweiten, das, wie Troeltsch an der erwähnten Stelle sagt, eigentlich "Historie und Wertlehre" heißen sollte - es ist tatsächlich überschrieben "über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge und ihr Verhältnis zu einem gegenwärtigen Kulturideal" -, ist der entscheidende Begriff der der "Wertrelativität". Er bedeutet "das stets bewegliche und neuschöpferische, darum nie zeitlos und universal zu bestimmende Ineinander des Faktischen und des Seinsollenden" (S. 211). Der Begriff der Individualität enthält also "nicht bloß die rein faktische Besonderheit eines jeweiligen historisch-geistigen Komplexes, sondern er bedeutet eben damit eine Individualisation des Ideellen oder Sein-Sollenden" (5. 201). Troeltsch gewinnt dieses Ineinander von Sein und Sollen, Historisch-Relativem und Normativ-Geltendem in dem Begriff der Individualität dadurch, daß er den tiefsten Kern der Individualität, das sogenannte Ich, nicht "als etwas Isoliertes und Leeres, nur mit den formalen Fähigkeiten des Vorstellens, Fühlens und Wollens ausgestattetes, sondern als I virtuell und jeweils in sehr verschiedenem Umfang das Allbewußtsein in sich befassend oder umgekehrt dieses als das Ich in sich schließend betrachtet" (5. 209). Damit hat dann die Individualität aufgehört, etwas nur Tatsächliches zu sein. Sie nimmt nun teil am "Wert" des Absoluten, freilich nur als das Relative, das sie als historische Individualität ist. So ist sie denn eine" Wertrelativität" , in deren "Relativem ein Absolutes lebendig und schaffend wird" (S. 212).
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Im dritten Kapitel, das von dem historischen Entwicklungsbegriff und der Universalgeschichte handelt, wird der Gedanke der Partizipation des endlichen Geistes am unendlichen weiter ausgeführt und damit zugleich der Begriff der historischen Entwicklung gewonnen. Dieser Begriff ist im Grunde nichts anderes als der Begriff der historischen Individualität in seiner vollen Entfaltung, in seiner vollen Lebendigkeit. "Die wesenhafte und individuelle Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste" (S. 677) läßt die Individualität teilnehmen an der "bewegten Lebenseinheit" des unendlichen Geistes, wodurch die Lebenseinheit selbst zu einer Bewegtheit kommt, zu einem Werden, in dem sie sich entwickelt. So daß also die Bewegtheit, das Werden der Geschichte im letzten Grunde die Bewegtheit des göttlichen Lebens selbst ist. Außerdem aber läßt diese Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste die Individualität teilnehmen an dem konkreten Gehalt des unendlichen Geistes. Wir sahen vorhin schon, wie dadurch die Individualität zu einer Individualisation .des SeinSollenden wird. Aber die Bedeutung dieser Teilnahme ist dadurch noch nicht erschöpft. Sondern sie dient Troeltsch auch noch zur Lösung des für die Geschichte außerordentlich wichtigen Problems der Erkenntnis des "Fremdseelischen" : "vermöge unserer Identität mit dem Allbewußtsein tragen wir das Fremdseelische in uns und können es verstehen und empfinden wie unser eigenes Leben, indem wir es doch zugleich als ein fremdes, einer eigenen Monade angehöriges empfinden" (S. 684). Auf Grund der so gewonnenen Erkenntnis des Fremdseelischen ist es möglich, auch fremde Individualitäten zu erkennen und historisch, das heißt in ihrer lebendigen Bewegtheit zu verstehen. Und das brauchen nicht nur einzelne Persönlichkeiten zu sein, sondern es können auch überpersönliche Lebenseinheiten sein, wie etwa die Renaissance oder der Krieg von 1870/71 oder der Kapitalismus oder das Christentum oder die abendländische Kultur. Denn wenn auch der Entwicklungsbegriff zunächst "auf die Erfassung einzelner abgeschlossener und quellenmäßig hinreichend übersehbarer Kreise eingeschränkt ist" (S. 658), so "drängen naturgemäß die Einzelkreise zu Verbindungen und Reihen, die ja überdies real-kausal und an- I schaulich vorliegen ... Auf diesem Wege kommt es zur Universalgeschichte, die allerdings die natürliche Vollendung und Krone der Historie, die zusammenfassende Leistung des Entwicklungsbegriffes ist" (688 f.). Der Begriff der Universalgeschichte ist aber für Troeltsch nicht der einer Geschichte der ganzen Menschheit. Denn deren Individualität ist schlechthin nicht zu über-
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sehen. Hier verlöre man, wollte man sie konstruieren - und sie ist nur zu konstruieren -, jede Fühlung mit der Realität und deren empirischen Erforschung. Wollte man sich aber an alles das halten, was man von der Menschheit weiß, so würde man in reiner Kontemplation des Vorhandenen stehen bleiben müssen, weil man infolge der Unabgeschlossenheit doch nur zu einem Kaleidoskop des Menschenturnes käme. Das ist aber nicht der Sinn des ganzen Unternehmens der Historie in einer Welt, die in den schwersten geistigen Nöten lebt und "des eigenen Wesens und Sinnes sicher werden will" (S. 692). Ihr ist nur gedient mit einer Universalgeschichte, die die weiteste, aber abgeschlossene Individualität erfaßt und darstellt, die diese Welt in ihrer "realkausal und anschaulich" vorliegenden Einheit selbst ist. Das wäre "die Entwicklungsgeschichte der mittelmeerisch-europäisch-amerikanischen Kultur" (S. 690). Denn "die eigene Stellungnahme und positive Kulturarbeit ist der einzige Sinn", den Troeltsch der Geschichtsphilosophie zuschreiben kann und "der allen Neigungen und Versuchen zu einer lediglich kontemplativen und in diesem Sinne universalen Schau der Geschichte grundsätzlich entgegensteht" (S. 708). Das letzte Kapitel des Burues erfaßt dann den so erweiterten Begriff der Individualität als den Begriff des Aufbaues des Europäismus. Denn der Europäismus ist die individuelle Lebenseinheit des Abendlandes. Dieser Gedanke des Aufbaues soll "aus der universal-geschirutlichen Entwicklung die großen elementaren Grundgewalten herausholen, die unmittelbar bedeutungsvoll, wirksam und anschaulich sind." Er hat weiter "diese Grundgewalten in ihrem ursprünglichen Sinn und ihrem Herauswachsen aus der historischen Bewegung verständlich zu machen, damit unserer geschichtlichen Erinnerung die entscheidenden Akzente aufzusetzen und sie in Hinsicht auf die Gegenwart zu gliedern, schließlich das in der modernen Welt sich herausbildende Verhältnis dieser Grundgewalten zueinander und zu dem modernen Leben zu erfassen" (S. 765). Mit dieser Idee des Aufbaues wäre dann auch die "gegenwärtige Kultursynthese" gegeben, nach der wir heute so leidensvoll suchen. Denn, so schließt Troeltsch sein Buch, "die Idee des Aufbaues heißt Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen" (S. 772). I
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IV.
Troeltsch hat den zweiten Band seines großen Werkes nicht mehr schreiben können, der die materielle Geschichtsphilosophie oder die Universalgeschichte des Abendlandes bringen sollte, zu der er sich mit diesem ersten Bande den Weg gebahnt hatte, und mit ihr dann die gegenwärtige Kultursynthese. Was Troeltsch in dem ersten Bande ausgeführt hat, scheint mir indessen völlig zur Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung zu genügen. Denn er hat in dem ersten Bande den Schlüssel gegeben, mit dem er das Problem des Historismus löst. Hier, an der eigentlichen Grundlegung, hat allein eine Kritik einzusetzen, die nicht auf Einzelheiten, sondern auf das Ganze geht. Und bei der Kritik, die wir gegenüber den Troeltsch'schen Thesen auszuüben haben, geht es um das Ganze. Die Frage ist also nicht die, ob die Historisierung des Denkens tatsächlich in dem Maße erfolgt ist, wie Troeltsch es behauptet. Wir erkennen Troeltschs Behauptung als zu Recht bestehend an, daß das gesamte Denken historisiert ist, und daß diese durchgehende Historisierung eine notwendige Folge ist, wenn man das Recht der modernen historischen Methode auch nur an einer einzigen Stelle anerkennt, und daß demzufolge, wenn einmal eine solche partielle Anerkennung erfolgt ist, alle Versuche, dies oder das vor jener Historisierung zu bewahren, Haltlosigkeiten sind, die nur auf einer Unklarheit dessen beruhen, was die moderne historische Methode ist. Hier aber Klarheit geschaffen zu haben, ist das große Verdienst Troeltschs, durch das seine Lebensarbeit entscheidende Bedeutung für die gesamte Theologie hat, und von dem auch nicht das Geringste abgebrochen würde, wenn wir mit unserer Kritik an ihm Recht behielten. Unsere Frage ist also nicht die, ob die Historisierung des gesamten Denkens tatsächlich erfolgt ist oder ob die Folgerungen, die Troeltsch daraus zieht, zu Recht bestehen, sondern ob die tatsächlich erfolgte Historisierung zu Recht erfolgt ist. Wir stellen diese Frage darum auch nicht in dem alten theologischen Sinn, nämlich in dem Sinn der Abgrenzung auf die sogenannte Heilsgeschichte, ob mit bezug auf sie diese Historisierung zu Recht bestünde, wobei ihre Berechtigung in bezug auf die sogenannte Profangeschichte ohne weiteres zugestanden wird. Nach Troeltsch ist der Schlüssel zur Lösung des Problems des Historismus gegeben in der Idee der" wesenhaften und individuellen Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geist" und in der eben damit gegebenen "intuitiven Partizipation der endlichen Geister an
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dem konkreten Gehalt und der bewegten Lebenseinheit des unendlichen Geistes". Denn" vermöge unserer Identität mit dem IAllbewußtsein tragen wir das Fremdseelische in uns und können es verstehen und empfinden wie unser eigenes Leben, indem wir es doch zugleich als ein fremdes, einer eigenen Monade angehöriges empfinden". Diese heiden Sätze enthalten alle Momente, die für den Begriff der Geschichte konstituierend sind; ich füge hinzu: für den Begriff der Geschichte, wie Troeltsch sie sucht, dem es nicht um die bloße kontemplative Geschichstbetrachtung zu tun ist, sondern der aus der Geschichte heraus ein "gegenwärtiges und die nächste Zukunftsrichtung bestimmendes Kultursystem" gewinnen und damit eine "historische Tat" tun will (S. 120), der also nicht nur Geschichte schreiben, sondern selbst Geschichte bestimmen will. Denn ihm ist nicht Gelehrsamkeit Selbstzweck, sondern aus ihr sollen "Verantwortung und Schaffenswille entstehen, die Kräfte, die wir vor allem brauchen" (S. 82). Das aber, was Geschichte in diesem nicht nur kontemplativen, sondern verantwortungsvollen Sinne konstituiert, das ist einmal, daß sie eine tat- . sächliche Begegnung mit dem anderen Menschen, dem Du ist - dem Fremdseelischen, wie Troeltsch höchst bezeichnender Weise sagt -. Und das andere Merkmal ist dieses, daß die Geschichte eine Begegnung mit Gott ist - oder irgendeinem Analogen zu ihm, sagt Troeltsch auch hier, wie wir schon sahen, höchst bezeichnender Weise -. Denn das erste, die Begegnung mit dem anderen Menschen, gibt der Geschichte erst Inhalt. Für einen isolierten, von der Gemeinschaft mit anderen abgeschlossenen Menschen gibt es keine Geschichte. Für ihn gibt es höchstens eine Selbstentfaltung, so wie alles Organische sich, einer inneren Notwendigkeit nachgebend, entfalten muß. Wenn Troeltsch sagt, daß der historische Entwicklungsbegriff "auf der Intuition des Fremdseelischen" beruhe, so weist das auf denselben Tatbestand hin. Freilich hebt es diesen selben Tatbestand wieder auf, indem es den Menschen auf diese Weise aus seiner Isolierung nicht erlöst und ihn mit dieser "Intuition des Fremdseelischen" nicht in den geschichtlichen Raum, in die Sphäre der Geschichte versetzt. Das zweite Moment, das die Geschichte konstituiert, nämlich die Begegnung mit Gott, macht die Geschichte insofern erst zur Geschichte, als allein die Begegnung mit einem Unbedingten ein Geschehen etwas anderes als nur eine Veränderung sein läßt und ihm die Zweideutigkeit gibt, die es haben muß, um den Menschen zur Entscheidung aufzurufen. Wenn Troeltsch sagt, daß das Wertproblem "das erste große Problem aller Geschichtsphilosophie
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ist, hinter dem alles weitere erst in zweiter Linie kommt", so ist wieder der gleiche Tatbestand gemeint. Wieder aber wird dieser Tatbestand aufgehoben und das Geschehen I gerade nicht in den Raum der entscheidenden Begegnung gerufen, in dem allein Geschichte geschieht, wenn Troeltsch das Wertproblem durch den Individualitätsbegriff lösen will und zwar so, daß er die Individualität zur schöpferischen macht, sie ein Sein-Sollendes, ein Aufgegebenes sein läßt, und das wieder dadurch, daß er den endlichen Geist am unendlichen und an dessen absolutem Wert teilnehmen läßt. Wir sagen nichts anderes, als was Troeltschauch sagt, wenn wir sagen, daß die wirkliche Geschichte eine Handlung ist, die nicht eine eindeutige Begegnung ist, nämlich eine Begegnung zwischen zwei Menschen. Wäre sie nur das, so wäre sie vor der Auflösung in Relativismus und Naturalismus, also in einen lediglich naturhaften Prozeß, auf keine Weis·e zu bewahren. Sondern wirkliche Geschichte ist eine Handlung, die aus einer doppelten, einer zweideutigen Begegnung besteht: der mit einem anderen Menschen und der mit Gott. Und die eine Begegnung ist der anderen gleich, insofern als keine ohne die andere tatsächlich möglich ist. Denn eine Begegnung mit einem Menschen, die nicht zugleich eine Begegnung mit Gott und also nur ein naturhafter, den Gesetzen und Notwendigkeiten der Physis folgender Vorgang wäre, wäre gar keine wirkliche Begegnung mit einem Menschen. Geschichte ist also immer eine Handlung, ·an der drei beteiligt sein müssen: Gott und du und ich. Alles das sagt nichts anderes, als was Troeltsch auch sagt. Troeltsch will aber diese doppeldeutige Begegnung und damit die Geschichte dadurch verstehen und sich dadurch einen Weg ~ur "historischen Tat" bahnen, daß er diese Drei letztlich auf einen reduziert und die zwischen ihnen sich abspielende Handlung zu der inneren Lebensbewegtheit dieses Einen, zum "Lebensprozeß des Absoluten" macht. Denn diese Reduzierung bedeutet seine Theorie von der wesenhaften und individuellen Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen. Dadurch wird fürTroeltsch die Geschichte zum "Lebensprozeß des Absoluten" oder zum "Werden des göttlichen Geistes" (S. 212). Und vermöge der intuitiven Partizipation des endlichen Geistes am unendlichen weiß der Mensch um die Geschichte. Hier ist aber die Dreidimensionalität der wirklichen Geschichte in eine zweidimensionale, flächige, deutende Darstellung verwandelt. Hier hat man sich aus der actio zurückgezogen in die contemplatio. Und nun mag auf dieser kontemplativen Fläche geschehen, was will, auch die größte Geschäftigkeit der Kontemplation, der wissenschaftlichen Dar-
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stellungen und Deutungsversuche wird nicht die geringste Tat zustande bringen. Es sei denn, man betrachte einen neuen Deutungsversuch der Geschichte schon als eine "historische Tat". Aber auch die geistvollste "gegenwärtige Kultursynthese" wird sich immer nur in der I Zeitlosigkeit der gelehrten Kontemplation bewegen. Wirkliche Gegenwart und mit ihr wirkliche Geschichte gibt es aber nur in der Zeit, nur in der Dreidimensionalität des wirklichen Geschehens. Zu der aber gibt es keinen übergang aus der zweidimensionalen Deutung oder Darstellung. Und keine intuitive Teilhabe der endlichen Geister am unendlichen vermöchte mehr, als dem Menschen dazu zu dienen, daß er auch sich selbst, seine eigene "Gegenwart" in die Kontemplation mit einbezöge und sie in das zweidimensionale Bild verwandelte. Troeltsch scheint es selbst zu empfinden, daß er mit dieser Theorie von der wesenhaften und individuellen Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geist im Kontemplativen, Bildhaften bleibt und nicht zur Tat kommt. Er meint, diese Theode möge ein Mythos sein, so wie es die platonische Lehre und die christliche auch gewesen seien. Er nimmt dann den Ausgang nicht bei dem Absoluten, sondern bei dem endlichen Geist und bei dessen geschichtlicher Tat. Und hier entwickelt Troeltsch dann seine Lehre vom "Sprung", "durch den wir in eigener Entscheidung und Verantwortung aus der Vergangenheit in die Zukunft gelangen" (S. 178). Das eigentliche Wagnis dieses "Sprunges" bestünde darin, sagt er, "daß wir einen aufblitzenden Vernunftgedanken als Ausfluß der göttlichen Lebendigkeit zu betrachten, zu erfassen und durchzuführen wagen" (S. 185; vgl. auch S. 167, 172, 175). Aber man sieht: diese Tat führt nicht aus dem Kreis der Kontemplation hinaus, sie ist selbst nichts anderes als Kontemplation, Selbstanschauung. Was anderes aber als das kann als "geschichtliche Tat" übrig bleiben, wenn die Drei, die zu einem geschichtlichen Geschehen nötig sind, auf einen reduziert werden? Und was wird das sein, was übrig bleibt, wenn sein innerster Kern nichts ist .als der Glaube an einen Mythos? Troeltsch hat an den entscheidenden Stellen seines Buches ausführlich darauf hingewiesen, daß der Historismus seinen Ausgangspunkt in der Bewußtseinsphilosophie habe, wie sie das Denken der letzten Jahrhunderte bestimmt habe und von Descartes begründet sei. (Vgl. die Abschnitte: "Naturalismus und Historismus" S. 102-110, "Historie und Wertlehre" S. 200-220 und "Historie und Erkenntnistheorie" S. 656-693). Troeltsch geht denn .auch selbst auf diesen Ausgangspunkt zurück. Aber er sieht in der Art, wie man bisher diesen Ausgangspunkt
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aufgefaßt hat, den Fehler. Man darf nach Troeltsch das Bewußtsein nicht "als geschlossenes substantielles Einzelbewußtsein" auffassen, aber -auch nicht als das "transzendentale Bewußtsein überhaupt". Beide Male kommt man nur zu allgemeinen Begriffen und nie zu einer Erfassung der Geschichte als individueller Wirklichkeit. I Man muß statt dessen, sagt Troeltsch, "das Ich als Monade fassen, die vermöge des Unbewußten oder ihrer Identität mit dem Allbewußtsein am Gesamtgehalt des Wirklichen partizipiert und die ,Außenwelt', die körperliche wie die fremdseelische, vermöge dessen virtuell in sich trägt, um unter gewissen Bedingungen die vom individuellen Bewußtsein erlebten Ausschnitte des Alls als eigene Erlebnis- und Erfahrungswirklichkeit auf das eigene Ich zu beziehen und die darin liegenden zugleich mitgeschauten Zusammenhänge mit logischen Mitteln weit über die bewußte Erfahrung hinaus zu ergänzen" (S. 675). Wir haben geprüft, zu welchen Ergebnissen, zu welcher "Geschichte" mit welchem Wirklichkeitsgehalt diese Theorie führt. Man wird über diese Ergebnisse nicht erstaunt sein, wenn man sich klar macht, daß hier von vornherein in den Begriff hineingesteckt wird, was nachher mit ihm gefunden werden soll. Damit werden die Probleme so gestellt, daß sie von vornherein beseitigt werden. Ist das Problem der Geschichte die Frage nach der tatsächlichen realen Begegnung mit Gott und mit dem Menschen, so wird sie hier dadurch beantwortet, daß die drei in dem einen Bewußtsein enthalten sind und sich das Bewußtsein, um die Antwort zu geben, sich nur s-einer selbst bewußt zu werden braucht. Nur wird dabei übersehen, daß eine Frage, die das Bewußtsein sich selbst stellt, gar keine wirkliche Frage sein kann, sondern daß sie mit der schon implizite in ihr enthaltenen Antwort nur die Entfaltung einer bereits gemachten Voraussetzung ist. Damit also, daß Troeltsch durch jene Theorie von der Identität der endlichen Geister mit dem unendlichen Geiste dem Bewußtsein das "Fremdseelische" und Gott als seinen Inhalt gibt, hat er das Problem der Geschichte von vomeherein beseitigt.
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PROTESTANTISMUS UND WIRKLICHKEIT N ach wort zu Martin Luthers "Vom unfrei·en Willen" Der Protestantismus hat längst mit dem Geiste der modernen Welt seinen Frieden gemacht. Er hat es entweder mit schlechtem Gewissen getan und darum so stillschweigend wie möglich. Das ist dann freilich nur darum der Friede mit dem Geiste der modernen Welt, weil es der Friede mit dem Geiste der Welt überhaupt ist. Hier behält der Protestantismus dann seine eigene Gestalt, aber sie verkümmert und wird unwirklich, weil er sich isoliert und in seinen Kirchen und Gemeinschaften ein Sonderdasein führt. Er wagt seinen Gegner kaum anzusehen und scheut es, sich klare Vorstellungen über ihn zu machen. Am liebsten leugnet er seine Existenz und tut so, als wäre alles noch so, wie es früher einmal war. Oder der Protestantismus hat ausdrücklich und mit gutem Gewissen seinen Frieden mit dem Geiste der modernen Welt gemacht. Er hat das getan fast bis zum völligen Aufgehen in die Moderne. Er hat zur Rechtfertigung dieser bis zur Selbstauflösung gehenden Vereinigung mit dem Geiste der modernen Welt das Dogma von der Identität des Protestantismus und des modemen Geistes aufgestellt. Und um den geschichtlichen Beweis für diese Identität gleich bei der Hand zu haben, läßt er, oder heute muß man schon sagen: ließ er mit der Reformation die sogenannte Neuzeit beginnen. Damit war dann von vornherein nahegelegt, daß diese Neuzeit im großen und ganzen das Geschöpf oder die Wirkung der Reformation sei und daß sie wesentlich von protestantischem Geist erfüllt sei. Je mehr aber der moderne Geist sich über sich selbst und seine Herkunft klar wurde, um so weniger ließ sich das Dogma in dieser Gestalt halten. Von den Sprechern des modemen Geistes wurde die Kluft zwischen ihm und den Reformatoren rücksichtslos aufgerissen. Und man braucht sich da keineswegs an besonders radikale Geister zu I wenden, die aus irgendeiner Animosität heraus die Kluft tiefer und breiter sehen könnten, als sie in Wahrheit ist. Auch ein Mann wie Dilthey kann sagen, daß "diese ganze Lebensauffassung, welche die Voraussetzung der protestantischen Rechtfertigungslehre, als der zentralen überzeugung der Reformatoren, bildet" - nämlich "das alldurchdringende Gefühl der Ohnmacht zu guten Handlungen, die gänzliche Jenseitigkeit des Weltschöpfers und Weltrichters, dessen absolutes
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Recht, die aus seiner Heiligkeit stammenden Ansprüche an seine Kreatur trotz der ihr mitgegebenen Ohnmacht durchzusetzen" - "vergangen ist und damit die Rechtfertigungslehre durch den Glauben keinen Sinn mehr für uns hat." Es bleibt für das alles nur noch das historische Interesse übrig1• Damit ist in aller zu wünschenden und hier auch nötigen Deutlichkeit der Gegensatz des modernen Geistes zum Protestantismus bezeichnet. An diesem Gegensatz wird auch nicht das Geringste gemildert, wenn Dilthey meint, das Bleibende der Reformation sei erstens die Befreiung von der Knechtschaft der Hierarchie und zweitens die Begründung der religiösen überzeugung aus der inneren Erfahrung. Denn das Erste ist eine bloß negative Bestimmung der Freiheit, und es ist mit einer so bestimmten Freiheit noch nicht die geringste Verwandtschaft bezeichnet. Ein Bleibendes der Reformation wäre diese Freiheit erst dann, wenn sie damals und heute aus demselben Grunde käme. Daß sie das nicht tut, beweist schon die Tatsache, daß der Moderne sie als ein Bleibendes anführen kann. Denn ihm, dessen Kultur "durch eine ungeheure Ausbreitung und Intensität des Freiheits- und Persönlichkeitsgedankens charakterisiert ist"2, ist die Freiheit als Freiheit schon etwas Positives. Das ist sie den Reformatoren nicht gewesen. Ihnen ist das Positive, aus dem die Freiheit ganz allein ihren Sinn erhält, die Bindung. Das zu erweisen, ist die Absicht dieser Darlegung. Was dann das Zweite, die Begründung der religiösen überzeugung aus der inneren Erfahrung angeht, so ist es damit dasselbe wie mit der Freiheit. Auch hier ist es so, daß dem Modernen die I innere Erfahrung schon an sich ein Inhaltliches ist. Das ist auch sie den Reformatoren nicht gewesen. Das beweist schon der scharfe Gegensatz der Reformatoren gegen die Lehre der Sektierer und Mystiker vom inneren Licht, auf die sich umgekehrt die Modernen mit Vorliebe berufen. Man hat trotzdem die Kontinuität des Protestantismus mit dem modernen Geiste festhalten wollen und hat dazu innerhalb des Protestantismus zwischen Alt- und Neuprotestantismus unterschieden. Es gehört dann der Altprotestantismus zum sogenannten Mittelalter und der Neuprotestantismus zur modernen Welt. Und die Ablösung des Mittelalters von der Neuzeit ist dann nicht mehr die Reformation, sondern das Jahrhundert der Aufklärung, in dem sich der NeuproteW. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, 4. Aufl. 1913, S. 151. Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 2. Auf!. S. 102. 1
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stantismus herausbildet. In ihm wird "das Ende der mittelalterlichen Kultur bewirkt" und tritt "an Stelle der staatlich-kirchlichen Zwangskultur der Anfang der modernen kirchenfreien individuellen Kultur"3. Es ist nun freilich eine seltsame Sache mit dieser Kontinuität. Denn sie gilt bei einer genauen Untersuchung so gut wie in allen Punkten nicht vom eigentlichen Protestantismus, sondern von den Täufern, Sektierern, Mystikern und Humanisten der Reformationszeit. Und wo der eigentliche Protestantismus einmal in Betracht kommt, da kann man, wie Troeltsch selbst es bei den "grandiosen politischen und wirtschaftlichen Wirkungen des Calvinismus" tut, sagen, daß es "doch nur Wirkungen wider Willen" sind4• Und es ist das nicht nur bei den Wirkungen auf kulturellem Gebiet so, sondern gerade" so ist es auf dem Gebiete des Glaubens. Auch hier sind es die Täufer, Spiritualisten und Mystiker und nicht zuletzt die Humanisten, die fortwirken, und nicht die Reformatoren. Und wenn, wie Troeltsch berichtet, Semler, "der Vater und Bahnbrecher eines historisch-kritisch denkenden und empfindenden Protestantismus, es als eine selbstverständliche Wahrheit aussprechen konnte, daß alles, was die neue Theologie erobert habe, schon bei dem großen und bewunderungswürdigen Erasmus sich finde"5, so muß man dazu sagen, daß ein einziger Blick in I Luthers Schrift gegen Erasmus (de servo arbitrio) genügt, um erkennen zu lassen, daß eine auf Erasmus zurückgehende historisch-kritisch denkende und empfindende Theologie nichts mehr mit dem Protestantismus der Reformatoren zu tun haben kann. Und wenn an dieser Stelle, nämlich in der Wirkung des Protestantismus auf die Religion der modernen Welt die stärkste historische Bedeutung des Protestantismus liegen so1l6 und hier der Kausalzusammenhang zwischen Protestantismus und moderner Welt am deutlichsten zu sehen sein soll, so wird hier - vorausgesetzt, daß man nicht zu jeder Veränderung des Protestantismus bereit ist und sein Wesen nicht geradezu in einer chamäleonartigen Verwandlungsmöglichkeit sieht - besonders deutlich, daß die historische Bedeutung des Protestantismus für die modeme Welt lediglich eine negative ist: er hat im Grunde nur die Hemmungen beseitigt, die das katholische System trotz allen Glanzes doch wesensnotwendig dem Werden der neuen Welt entgegengesetzt hat. Das sind Troeltschs eigene Worte, die 3
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Ernst Troeltsch a. a. O.S. 63. a. a. O. S. 86. a. a. O. S. 100. a. a. O. S. 92.
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er allerdings braucht, als er von der Bedeutung des Protestantismus für die moderne Kultur spricht7. Aber sie können nach allem, was er sagt, auch gerade so auf die Bedeutung des Protestantismus für die modeme Religion angewandt werden. So bringt gerade dieser, von der Erkenntnis des Gegensatzes des modemen Geistes zum Protestantismus der Reformatoren ausgehende Versuch, doch noch eine Kontinuität zwischen ihnen aufzuweisen, den Beweis, daß hier keine Kontinuität vorhanden ist. Denn der Neuprotestantismus, der über den Altprotestantismus hinweg - dessen radikaler Gegensatz zu dem modernen Geist zugegeben wird - die Kontinuität mit dem Entscheidenden der Reformatoren herstellen soll, hat gerade mit den Reformatoren nichts mehr zu tun. Troeltsch sagt, daß der Protestantismus an dem Punkt, "wo der Weg der persönlichen überzeugung wichtiger wurde als das Ziel der übernatürlichen Rettung"8, den täuferischen und mystischen Enthusiasmus und die humanistische und philologisch-philosophische Theologie zu sich herangeholt und ihnen "die Tore zum Commercium und Connubium geöffnet" habe. Aber er übersieht, daß das ein sehr trügerisches I Commercium ist. Denn der Protestantismus geht nicht mehr in diese Tür hinein, und zwar deshalb nicht, weil er gerade hier beseitigt wird. An seine Stelle tritt eine Religion des "Gottsuchens im eigenen Fühlen, Erleben, Denken und Wollen". Troeltschs Versuch, die Kontinuität zwischen Protestantismus und modernem Geist aufzuzeigen, ist ein Versuch, den Frieden, den der Protestantismus mit dem Geist der modemen Welt gemacht hat, doch noch trotz der Aufkündigung von seiten der Modeme aufrecht zu erhalten. Er macht diesen Versuch durchaus auf Kosten des Protestantismus. Und es gilt von diesem Unternehmen, was Troeltsch im ganzen von der Bedeutung des Protestantismus für die moderne Kultur sagt: "er hat damit weder an innerer Kraft für sich selbst noch damit zugleich an Kultur schaffender Kraft gewonnen"9. Die Auseinandersetzung zwischen dem Protestantismus und dem modernen Geist, die einmal kommen muß, nachdem man ihren Gegensatz so scharf erkannt hat, wie es heute geschehen ist, ist also noch zu führen. Und es mag heute die Stunde für diese Auseinandersetzung 7 8 9
a. a. O. S. 86. a. a. O. S. 100. Religion in Geschichte und Gegenwart [1. AufL] IV, Sp. 1916.
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gekommen sein. Denn heute zum erstenmal seit seinem Entstehen ist der moderne Geist bis ins Innerste erschüttert. Aber noch ein so freier Geist wie Troeltsch war so von der fraglosen Gültigkeit des modernen Geistes eingenommen, daß es ihm garnicht in den Sinn kommen konnte, ihn sich ernsthaft vor dem Geiste des Protestantismus rechtfertigen zu lassen. Nicht einmal dann, als er der, von ihm durchaus nicht in der Feme gesehenen, Gefahr ansichtig wurde, daß der Freiheits- und Persönlichkeitsgedanke, durch den doch die moderne Kultur seiner Meinung nach charakterisiert ist, durch ebendieselbe Kultur bedroht wird1o. So sehr beherrschte der moderne Geist die Gedanken und die ganze Lebenseinstellung. Und es gilt nicht nur vom katholischen Menschen, was Guardini von dessen innerer Vergewaltigung durch den protestantischen Individualismus - so sagt Guardini; aber er meint den modernen Individualismus, der vom protestantischen "Individualismus" wesentlich verschieden ist; darüber wird noch zu I sprechen sein - sagt. Dieser Individualismus war "nicht nur selbst überzeugt, er stelle die Religion und Seelenhaltung des wahrhaft wertvollen Men:schen dar, sondern er hat auch weithin dem Katholiken dies Gefühl eingewirkt. Lange Zeit hat er es vermocht, vielen Katholiken über das innerste Bewußtsein ihres Wertes ein zweites, eine Art Pariagefühl zu legen"l1. Es gilt, was Guardini hier vom katholischen Menschen sagt, genau so vom protestantischen. Man wird sich aber nicht vorstellen dürfen, daß bei dieser Auseinandersetzung zwischen dem Protestantismus und dem modernen Geist billige Triumphe zu erwerben sind, und daß es ein leichter und fröhlicher Einzug in das alte, so lange leer gestandene Haus des Protestantismus sein wird, der da gefeiert werden kann. Zu feiern wird überhaupt nichts sein. Aber auf sehr bittere Erkenntnisse wird man sich gefaßt machen müssen. Es sei denn, daß Selbsterkenntnis, und nun gar in einer Stunde wie dieser, keine bittere Sache ist. Man wird hier zunächst dieser sehr bitteren Erkenntnis nicht ausweichen können, daß der Protestantismus allerdings auf das Stärkste beteiligt ist an der Entstehung der modernen Welt. Das scheint dem zu widersprechen, was vorhin behauptet wurde. Daß nämlich keine Kontinuität zwischen Protestantismus und modernem Geiste vorhanDie Bedeutung des Protestantismus, S. 102. Kirche und Wirklichkeit. Ein katholisches Zeitbuch. Hg. v. Ernst Michel. Jena, 1923, S. 177. 10
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den sei. Aber es handelte sich vorhin um die Frage, ob der moderne Geist die legitime Fortsetzung und Entwicklung des Protestantismus sei. Darauf war zu antworten: nein. Es ist aber eine andere Frage, ob der Protestantismus an der Entstehung dieses ihm garnicht homogenen modernen Geistes beteiligt ist. Und hierauf ist zu antworten: ja. Und es ist aus diesen Worten schon deutlich, welcher Art diese Beteiligung ist. Mag auch die Einheit und Gebundenheit der Lebenswelt, die die katholische Kirche dem Abendland manches Jahrhundert hindurch geschenkt hat, schon vor der Reformation an manchen Stellen brüchig sein, es kann doch kein Zweifel sein, daß ihr erst die Reformation den entscheidenden Stoß gab. Die Reformatoren haben mit vollem Wissen um das, was sie taten, die Grenzen und Schranken, Normen und I Gesetze zerrissen, durch die die Kirche die Welt, die immer ins Unbegrenzte und Schrankenlose drängt, vor dem Chaos behütete und als Kosmos erhielt. Die Reformatoren haben ihre Tat damit begründet und gerechtfertigt, daß sie die Grenzen, Gesetze und Normen, durch die die Kirche die Welt als Kosmos zu erhalten suchte, als menschliche Erfindungen und menschliche Willkürlichkeiten erkannten. Daß für diese Gesetze und Normen von der Kirche eine sakrale und das Gewissen bindende Gültigkeit gefordert wurde, machte den Reformatoren den Angriff gegen sie zu einer Pflicht, die durch gar keine Bedenken und durch keine Gefahr aufgehoben werden durfte. Auch nicht durch die Gefahr der Auflösung der bürgerlichen Welt und ihrer festen Ordnungen. Sie haben diese Freiheit aber nicht gesucht um der Freiheit willen. Sie haben nicht die Bindung gegen die Freiheit schlechthin eintauschen wollen, sondern sie haben diese falsche, unrechtmäßige Bindung um einer anderen, der rechtmäßigen Bindung willen zerrissen. Die unrechtmäßige Bindung ist der Anspruch der Kirche, das bürgerliche, weltliche Leben und seine Institutionen, Familie, Staat und Gesellschaft, beherrschen zu wollen und zwar mit derselben Gewissen bindenden Autorität, die sie auf religiösem Gebiet für sich verlangt. Dieser Anspruch wird zurückgewiesen. Freilich nicht, um das bürgerliche Leben, Familie, Staat und Ges·ellschaft in völliger Autonomie sich selbst zu überlassen. Es wird auf sich selbst und seine eigene Gesetzlichkeit gestellt, aber es erhält seine wahrlich nicht lose Bindung von der Erkenntnis der Sündhaftigkeit alles Menschenlebens her. Damit wird das bürgerliche Leben einer entschiedenen Diesseitigkeit zugewiesen und einer auf ihrem diesseitigen Wesen begründeten Gesetzlichkeit unterworfen. Aber diese Diesseitigkeit ist ihrerseits, wie das
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nicht gut anders sein kann, wenn dieses Wort überhaupt einen Sinn haben soll, durch ein Jenseits realiter begrenzt, und sie kann darum nicht, wie die moderne Diesseitigkeit das ohne weiteres kann, gerade so gut auch ihr Gegenteil sein. Und wenn es, wie Troeltsch von der modernen Kultur meint, oft genug auf dasselbe herauskommt, ob das Leben, das sie zu leben versucht, "als rein menschliches oder als ein im ganzen Umfang von Gottes Geist erfülltes" erscheint12 , so I liegt die Vermutung nahe, daß dieses Leben weder menschlich noch göttlich und also eine Phantasmagorie und kein wirkliches Leben ist. Dieser "Innerweltlichkeit" gegenüber, die als Charakteristikum der modernen Kultur gilt, ist zu sagen, daß die Auffassung vom bürgerlich-weltlichen Leben, die die Reformatoren hatten, sich auf die Wirklichkeit dieses diesseitigen und darum weltlichen Lebens gründet. Und die Befreiung des bürgerlich-weltlichen Lebens aus der Bindung der katholischen Kirche, die die Reformatoren vollbrachten, wurde ihnen geboten aus der Bindung durch die Gesetze, die jede Wirklichkeit nicht in der Idee, sondern realiter als ihre Begrenzung - und nur durch die Begrenzung ist sie Wirklichkeit - über sich weiß. Man braucht garnicht daran zu denken, daß der Mensch vor nichts so sehr ausweicht wie vor der Wirklichkeit, es genügt die Erinnerung daran, wie lange und wie tief die Welt in der Bindung durch die Kirche gelebt hat, um zu verstehen, daß diese Bindung durch die Wirklichkeit selbst sehr schnell wieder gegen die viel leichter zu ertragende und vor allem aufrecht zu erhaltende Bindung des bürgerlich-weltlichen Lebens durch die Kirche vertauscht wurde. Diese Vertauschung ging um so leichter vor sich, als die Autorität der Kirche auf religiösem Gebiete durchaus aufrecht erhalten wurde. Zwar der Stoß, den die kirchliche Kultur durch die Reformation erhalten hatte, konnte dadurch nicht wieder gut gemacht werden, daß sie nun auf protestantischem Gebiet, mit den Modifikationen, die hier geboten waren, wieder eingeführt wurde. Im Gegenteil, gerade die Mehrheit in der kirchlichen Kultur, die ihrem Wesen und ihrem Anspruch nach nur eine sein kann, hat sie vollends zerstört und hat die moderne Kultur und ihr Ideal der Innerweltlichkeit und der Freiheit schlechthin den Sieg gewinnen lassen. Und als der Protestantismus auf seinen Territorien die kirchliche Kultur nicht mehr behaupten konnte, hat er sich entweder auf die Pflege einer unfruchtbaren Innerlichkeit beschränkt, oder er ist selbst, 12
Troeltsch, a. a. O. S. 15.
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wie wir schon sahen, als sogenannter "Neuprotestantismus" ganz in dem modernen Kulturglauben aufgegangen. So ist der Protestantismus allerdings beteiligt an der Entstehung der modernen Welt: er hat die Bresche gebrochen in die eherne Mauer, in die die katholische mittelalterliche Kirche die Welt eingeschlossen I hatte. Diese Tat ist an sich groß genug, daß sie die größte Bewunderung verdient. Und die hat man ihr denn auch reichlich dargeboten. Und es ist keine Frage, daß ein Unmaß von Kräften durch diese Befreiungstat entfesselt worden ist. Und diese Entfesselung ist eine Tat des Protestantismus und ist selbst guter, echter Protestantismus. Denn sie ist eine direkte Folge der grundsätzlichen Entkirchlichung der Kultur. Sie ist guter, echter Protestantismus, trotzdem sie durchaus gegen den Willen und zum größten Mißtrauen der Kirchen des nachreformatorischen Altprotestantismus geschah. Aber auch dies, daß diese Kräfte in der Folge fessellos blieben und heute vor unseren Augen daran sind, in ihrer Fessellosigkeit eine Welt zu Grunde zu richten, ist eine direkte Wirkung des Protestantismus, nämlich davon, daß er nicht weniger als sich selbst der Welt schuldig geblieben ist. Denn der Protestantismus ist in seinem tiefsten Wesen nicht Freiheit um der Freiheit willen. Sondern man hat den tiefsten Grund seines Wesens erst dann ergriffen, wenn man begreift, daß er wie nichts Bindung ist. Bindung aber nicht, wie der Moderne von seinem Freiheit:;,... und Persönlichkeitsgedanken sagen wird, an den in dieser Freiheit zu ihm sprechenden und sich ihm offenbarenden Gott. Von dieser "Bindung", die der Moderne dann für sich in Anspruch nehmen wird, ist zu sagen, daß sie nur ein anderes Wort für die schrankenlose, nur in sich, in ihrer Unbegrenztheit ruhende Freiheit ist. Das heißt aber, daß sie für uns, die wir in jeder Beziehung endliche Wesen sind, niemals zur wirklichen Bindung werden kann. Hier träumt man, wie Luther schon Erasmus, einem der Väter des "Neuprotestantismus" vorwarf, "es stehe noch um den Menschen also, als da er durch die Sünde unverderbt war, und sieht nur, wie er an Leib und Gliedmaßen äußerlich ganz scheint"13. Der Protestantismus ist Bindung durch den offenbaren, in die Endlichkeit eingegangenen Gott. Allein diese Bindung ist wirkliche Bindung. Denn sie ist Bindung durch die endliche Wirklichkeit. Diese Bindung ist der Protestantismus der Welt schuldig geblieben, und er hat die Welt darum, als er sie in der Gebundenheit durch die kirchliche Kultur des Altprotestantismus nicht 13 Vgl. S. 124 meiner Ausgabe von Luthers Schrift" Vom unfreien Willen". München 1924.
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mehr halten I konnte, ihrer unfehlbar ins Chaos drängenden Schrankenlosigkeit überlassen müs,sen. Die Auseinandersetzung des Protestantismus mit dem modernen Geist, für die heute die Stunde gekommen sein mag, ist also nicht eine theoretische Angelegenheit. Der Protestantismus kann sie nur führen, wenn er sein Werk an der Welt tut, wenn er ihr die einzige Bindung gibt, die nicht eine Bindung des Menschen durch sich selbst und darum die Sklaverei unter die Willkür und unter alle Süchte des Menschen ist, sondern die die Bindung an die Wirklichkeit ist. Es geht bei dieser Auseinandersetzung auch nicht um einen Rückblick darüber, wie es gekommen ist, und ein Feststellen davon, daß das historische Schicksal oder die Entwicklung es nun so geführt habe. Sondern es geht um die Feststellung einer Schuld. Und mag es auch tausendmal die Schuld vergangener Geschlechter sein; es ist genau so die Schuld des heutigen Geschlechtes. Denn, was damals verfehlt wurde, wurde und wird heute verfehlt; und was damals zu tun gewesen wäre, ist heute genau ebenso wieder zu tun. Es kann sich also nicht darum handeln, eine Wiederbelebung der Reformatoren in Szene zu setzen. Unsere Aufgabe heute - eine gesetzlos gewordene Welt ruft nach Gesetzen! eine unwirklich gewordene Welt hungert nach Wirklichkeit! - kann nichts mit der Auffrischung historischer Erinnerungen zu tun haben. Die Reformatoren waren keine Humanisten und alles andere eher als die Anfänger einer historischen Betrachtung der biblischen Schriften. Und es hätte keinen Sinn, wenn wir heute an ihnen zu Humanisten werden wollten. Dann würden wir gerade die Verbindung zerbrechen, die wir mit ihnen suchen. Unsere Beschäftigung mit den Reformatoren kann nur den Sinn haben, daß wir uns von ihnen die Augen für die Wirklichkeit öffnen lassen. Sehen müssen wir die Wirklichkeit dann selbst, das kann uns keiner abnehmen. Wir s,ehen sie aber noch nicht und haben nicht die Spur mit ihr zu tun, wenn wir uns begnügen, die Reformatoren selbst zu sehen, und sähen wir sie historisch noch so genau und noch so richtig. "Wir sind alle zum Tod gefordert und wird keiner für den an dem sterben; sondern ein jeglicher in eigner Person muß geharnischt und gerüstet sein für sich selbst, mit dem Teufel und Tode zu I kämpfen. In die Ohren können wir wohl einer dem andern schreien, ihn trösten und vermahnen zu Geduld, zum Streit und Kampf, aber für ihn können wir nicht kämpfen, streiten, es muß ein jeglicher allda auf seine Schanze selbst sehen und sich mit den Feinden, mit dem Teufel und Tode selbst
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einlegen und allein mit ihnen im Kampf liegen. Ich werde dann nicht bei dir sein, noch du bei mir"14. Das gilt, weil es von der Begegnung mit dem Tode gilt, von jeder Begegnung mit der Wirklichkeit. Es wird wohl richtig sein, daß jede Zeit an jeder anderen nur sieht und begreift, was auch sie in ihrer Gegenwart und in ihren gegenwärtigen Verhältnissen und Bedrängnissen selbst bewegt. Es ist dann aber wohl gerade so richtig, daß eine Zeit, die selbst noch nicht der Wirklichkeit begegnet ist, um sich von ihr belehren zu lassen, sondern die mit ihren Lehren und Ideologien das Leben zu beherrschen sucht, daß eine solche Zeit an jeder anderen Zeit, an die sie sich etwa, um Belehrung zu suchen oder was sonst, wendet, auch nur ihre Lehren und Ideologien begreifen wird. Nie aber wird sie diese Zeit da sehen können, wo sie selbst wirklich ist, wo sie der Wirklichkeit begegnet15 . Zeiten und Menschen, die der Wirklichkeit begegnen und in der Auseinandersetzung mit ihr begriffen sind, werden notwendigerweise über sich selbst hinwegweisen auf die Wirklichkeit hin, mit der und von der sie leben und an der sie selbst wirklich werden. Und sie werden auch hinwegweisen über die Lehre, die sie sich über ihre Auseinandersetzung und Begegnung mit der Wirklichkeit bilden. Nicht als ob sie die Bedeutung dieser Lehre gering erachteten. Im Gegenteil, auch sie wird mit demselben Ernst und derselben Verantwortung betrieben wie alles, was vor der Wirklichkeit und in der Auseinandersetzung mit ihr getan wird. Auch die Lehre hat Teil an der Wirklichkeit, aber nur als Lehre. Und gerade weil sie in vollem Ernst als Lehre von der Wirklichkeit genommen wird, kann sie nicht selbst die Wirklichkeit sein wollen, auch nicht in der Form des Symbols oder des Mythos. Solange kann sie auch nicht eine geheimnisvolle Kraft in sich tragen wollen, die sie I auf geheimnisvolle Weise dem vermittelt, der diese Lehre annimmt. Solange kann sie sich darum auch nicht in Dichtung verwandeln. Solange bleibt sie, was sie ist: nichts als Lehre, die gerade darum, weil sie nichts ist als Lehre von der Wirklichkeit, auf die Wirklichkeit hinweist; die aber auch in diesem Hinweis, aber auch nur in ihm, an der Wirklichkeit teilnimmt. Von dieser Beschaffenheit ist auch die Lehre der Reformatoren. Man weiß, mit welcher Sorgfalt, mit welchem Ernst sie ihre Lehre ausge14 Luther, Sämtliche Werke, Erlanger Ausgabe (im folgenden zitiert als : E. A.) 28,205 f. 15 Vgl. hierzu: Eberhard Grisebach, Probleme der wirklichen Bildung, München 1923.
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bildet haben. Trotzdem ist ihr geschehen, was auch anderen Lehren geschehen ist,. die nicht entfernt so stark und heftig auf die Wirklichkeit hinwiesen: man blieb an ihr selbst haften und nahm sie selbst für die Wirklichkeit. Man meinte, wenn man die Lehre annähme, dann habe man in ihr die Wirklichkeit. Schon sehr bald nach den Reformatoren, ja, schon unter ihren Augen beginnt diese Erstarrung und Dogmatisierung der Lehre des Protestantismus. Schon in der Konkordienformel ist diese Veränderung vor sich gegangen16 • Demgegenüber scheint es ein tieferes Verständnis der Reformatoren zu sein, wenn man später, unter der Einwirkung des modemen Geistes, die Starrheit der Lehre aufhob und den Dogmatismus beseitigte, indem man, wie man sagte, auf den Sinn dieser Lehre zurückging und sie selbst nur als eine zeitgeschichtlich bedingte Einkleidung dieses zeitüberlegenen Sinnes auffaßte. Es wurde, heißt das, wie Troeltsch diese folgenschwerste Verwandlung des Protestantismus, die der deutsche Idealismus vollzog, bezeichnet, "das protestantische Christentum in allgemeine Vernunftwahrheiten" übersetzt17 • Die folgenschwerste war diese Verwandlung, weil es sich bei dieser Vernunft nicht wie bei der Aufklärung um einen höchst dürren und in seiner Leerheit sehr bald zu entlarvenden" Verstand" handelte, sondern, wie Troeltsch es formuliert, um die "wertbestimmte Substanz des Lebens in ihrem Emporstreben aus der Unbewußtheit in klare bewußte Selbsterfassung ihres vollen theoretischen, ästhetischen, ethischen und religiösen Gehaltes". Es gilt aber von dieser Lehre, was von der refor- I matorischen Lehre jedenfalls nach der Meinung der Reformatoren nicht gelten kann, daß sie nämlich Mythos und Symbol ist, und die" vollendete Erkenntnis" ist dann selbst die "Einigung mit Gott "18. Damit ist dann auch der Kernpunkt der religiösen Lehre des modemen Geistes bezeichnet, nämlich die Immanenz Gottes in dem geistigen Leben selbst. In der Tat ist mit alledem ein außerordentlich wichtiges Element des Protestantismus ergriffen. Nämlich dies, daß es Wahrheit und Wirklichkeit nur gibt in der allerpersönlichsten Anteilnahme, nur in der subjektivsten Wahrhaftigkeit, nur in der freiesten Entscheidung. Das ist wohl auch gemeint, wenn Troeltsch sagt, die Religion sei von Luther gegenüber der katholischen sakramental-dinglichen Auffassung Vgl. W. Hernnann, Verkehr des Christen mit Gott, 7. Auf!. 1921, S. 179. Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, S. 698, in: Kultur der Gegenwart: Geschichte der christlichen Religion. 2. Auf!. 18 a. a. O. S. 457. 16
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in die Sphäre des Gedanklichen gezogen. Es ist jenes Element, das von der reformatorischen Lehre dadurch als eine unumgängliche Vo,raussetzung ihrer selbst bezeichnet ist, daß sie selbst nur Lehre von der Wirklichkeit und auf gar keine Weise selbst die Wirklichkeit ist. Damit ist der Mensch an die Wirklichkeit selbst gewiesen. Damit wird er ~ben von dieser Lehre mit sich und der Wirklichkeit allein gelassen, wird er auf sich selbst gestellt. Das ist der einzige, freilich unerhört schwerwiegende Sinn des reformatorischen "Persönlichkeitsgedankens" und des protestantischen "Individualismus". Und dieses überaus wichtige und grundlegende Element des Protestantismus scheint in der Tat von der modernen Auffassung und Umgestaltung des Protestantismus aus dem starren Dogmatismus der altprotestantischen Orthodoxie gerettet zu sein. Und es wäre dann hier an diesem entscheidenden Punkte doch die Kontinuität zwischen dem sogenannten Neuprotestantismus und den Reformatoren gewahrt. Aber es scheint nur so zu sein; in Wahrheit zeigt sich gerade hier der unüberbrückliche Gegensatz zwischen dem, was man Neuprotestantismus nennt, samt dem modernen Geist auf der einen Seite und den Reformatoren und ihrem Protestantismus auf der anderen Seite. Ich sagte, es gälte von der modernen Lehre, was von der reformatorischen nicht gelten könne, daß sie nämlich Mythos und Symbol I ist. Und von ihrer vollendeten Erkenntnis kann gesagt werden, daß sie "Einigung mit Gott" ist. Daraus wird der Sinn dieser Lehre klar. Daraus wird auch das Wesen, die Struktur der Wirklichkeit klar, von der sie redet. Diese Lehre weist nicht, im Gegensatz zu der reformatorischen Lehre, auf das Objekt, sondern sie weist lediglich auf das Subjekt; ja mehr noch, sie weist, da sie Erkenntnis, da sie Gedanke ist, nicht nur hin auf das Subjekt, sondern sie ist der eigentliche Ausdruck, sie ist die eigentliche Substanz, die eigentliche Wirklichkeit des Subjektes. Darum ist sie oder besser - da diese Vollendung schlechterdings unerreichbar ist - wäre sie in ihrer Vollendung Ausdruck des absoluten Subjektes, nämlich Gottes selbst. Damit ist deutlich, daß die Rettung des subjektiven Elementes des Protestantismus, deren der moderne Geist sich rühmt und auf die er seinen Zusammenhang mit dem reformatorischen Protestantismus gründet, um den Preis der völligen Subjektivierung der Wirklichkeit vor sich geht. Wirklich ist hier allein das Subjekt. Eine andere Wirklichkeit als die subjektive kann es hier garnicht geben. Alle Objektivität
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könne nur eine gedachte Objektivität sein und habe, da sie "nichts als eine ganz subjektive Denkfiktion" sei, keinen Wert, heißt es in einer der letzten und besonders charakteristischen Verlautbarungen des "idealistisch-christlichen" Neuprotestantismus19 • Wie sollte es anders sein, wenn man das Subjekt, den Gedanken, das Ich zum alleinigen Prinzip der Wirklichkeit gemacht hat? Wie sollte es aber auch anders sein, als daß man bei einer solchen Verabsolutierung des Subjektes, des Ich alle Wirklichkeit verliert, wenn denn die Wirklichkeit nun einmal die unaufhebbare Gegensätzlichkeit, der unlösbare Widerstreit von Subjekt und Objekt, von Ich und Du ist? Der moderne Persönlichkeitsgedanke ist also nichts anderes als eine Verabsolutierung des Subjektes, des Ich. Wollte er nichts anderes sein als ein Schema des Ich, hielte er die Grenze der reinen Idealität des Gedankens ein und vergäße er nicht, daß mit dieser Absolutierung die Sphäre der Wirklichkeit verlassen ist, so wäre gegen ihn nichts einzuwenden. Aber diese Bescheidung wird nicht geübt. Die Absolution, die Loslösung des Ich aus der Sphäre der Bedingtheit, der Relatio- I nen, des Widerstreites und seine Erhebung in die Sphäre des Gedankens, der Freiheit, der reinen Ichhaftigkeit, das heißt hier der Persönlichkeit, gilt gerade als die Gewinnung der Wirklichkeit, erscheint selbst als die Wirklichkeit. Und der Gedanke der Immanenz Gottes ist der umfassendste und letzte Ausdruck für den eigentlichen Sinn dieser Anschauung. Es gehört schon die ganze Gewaltsamkeit der Subjektivität des modernen Geistes und seine Blindheit für alles Wirkliche - die dem, der ihn einmal in seinem Wesen erkannt hat, kein Rätsel mehr an ihm ist - dazu, um nicht zu sehen, daß von diesem Persönlichkeitsgedanken auch nicht die Spur bei den Reformatoren zu finden ist. Im strengen Sinn kann von einem Persönlichkeitsgedanken bei den Reformatoren garnicht die Rede sein, während das Ich des modernen Geistes durchaus eine Persönlichkeitsidee ist. Das Ich, von dem die Reformatoren sprechen und das sie ansprechen, ist dagegen in gar keiner Weise eine Idee, ist ganz und gar nicht die reine Subjektivität, die reine Ichhaftigkeit, von der das Denken und die Lebensauffassung des modernen Geistes in seiner ganzen Ausdehnung bestimmt ist. Das Subjekt, an das die reformatorische Lehre sich wendet und das sie auf die Wirklichkeit hinweisen will und von dem sie durchaus kein subjektiver Ausdruck 19
Karl Bornhausen, Est Deus in nobis, ehW 1923, Nr. 49/50.
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ist, dieses Subjekt ist wirklich oder erfaßt seine Wirklichkeit nur dann, wenn es die Bindung, die Begrenztheit durch das Objekt anerkennt. Im Gegensatz zur modernen Persönlichkeitsidee kann man von diesem Subjekt, von diesem Ich, an das die reformatorische Lehre sich wendet, auch sagen, daß es seiner Wirklichkeit inne wird, wenn es auf seine Verabsolutierung, auf seine reine, freie, durch gar nichts begrenzte und bedingte lchhaftigkeit, wenn es auf das Ruhen in seiner Selbstheit verzichtet. Wenn es darauf verzichtet, dann erst erfaßt das Ich seine Wirklichkeit. Denn es ist nicht wirklich aus seiner reinen lchhaftigkeit, sondern es ist wirklich allein in seiner Relation mit dem Objekt, in seiner Bedingtheit durch das Du. Und nur, wenn es auf seine eigene Verabsolutierung, auf seine freie, schöpferische, durch gar nichts gegebene und bedingte Selbstheit verzichtet, nur dann kann es diese Bedingtheiten und Relationen und Bindungen anerkennen I und sich in sie mit allem Streben und Willen, mit aller Lust hineinbegeben. Wenn es darauf verzichten kann. Denn das ist hier das Problem. Ganz im Gegensatz zum Persönlichkeitsgedanken des modernen Geistes, dessen Realisierung gerade von der Lösung aus allen Bindungen und Bestimmtheiten durch das Objekt, von dem Streben nach der unbedingten Freiheit, nach der reinen durch gar nichts bestimmten lchhaftigkeit abhängt. Es scheint mir nicht allzuschwer zu erkennen zu sein, daß es sich hier um völlige Gegensätze handelt, von denen der eine den anderen ausschließt. Bedeutet der moderne Persönlichkeitsgedanke die Verabsolutierung des Subjektes, des Ich und ist ihm alles Objekt nur etwas dem Ich Aufgegebenes, das in die lchheit und ihre Freiheit umgewandelt und aufgehoben werden soll, und bleibt damit das Ich sich selbst ein Aufgegebenes, ein aus der Unbegrenztheit der eigenen Freiheit immer neu zu schaffendes, ist das Ich des modernen Persönlichkeitsgedankens also das schlechthin schöpferische Ich, so ist im völligen Gegensatz dazu dem Menschen, an den die reformatorische Lehre sich wendet, alles Objekt ein Gegebenes, und das Ich weiß sich als ein von derselben Macht, die das Objekt schuf, Geschaffenes. Hier geht alles darum, das Gegebene als solches gelten zu lassen. Und gegeben ist hier Subjekt und Objekt, Ich und Du, Geschöpf und Schöpfer. Gegeben ist ihre Unterschiedenheit. Sie ist anzuerkennen, sie ist zu respektieren. Hier ist darum nicht ihre Einheit aufgegeben als etwas, das zu verwirklichen wäre. Will man das Dualismus nennen, so ist hier allerdings von dem schroffsten Dualismus die Rede. Hier kann also nicht das Subjekt den Anspruch machen, das eigent-
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liche Prinzip der Wirklichkeit zu sein. Sondern Wirklichkeit sind hier Subjekt und Objekt, Ich und Du in ihrer Gegebenheit und in ihrer gegebenen U nterschiedenheit und Gegensätzlichkeit. Und der ungeheure Anspruch des Ich, das eigentliche Prinzip der Wirklichkeit zu sein, wird hier erkannt als die widergöttliche überheblichkeit des Geschöpfes, das sich zum Schöpfer machen will. Es ist wohl deutlich genug, wie ferne von dieser Anschauung der Gedanke der Immanenz Gottes ist. Daß es da schlechthin keine über- I gänge und Zusammenhänge geben kann. Und es ist nichts als der ausdrückliche Verzicht auf das Du, das mir als wirkliches Du immer gegenübersteht, wenn man sagen kann, die Transsubjektivität oder die Objektivität Gottes sei nur eine gedachte Objektivität2o • Wer das sagt, verschließt von vornherein die Augen vor der elementarsten, freilich auch am schwersten auszuhaltenden und zu respektierenden Tatsache unseres Lebens, nämlich vor der nur um den Preis der Wirklichkeit aufzugebenden Gegensätzlichkeit von Du und Ich. Nach der protestantischen Lehre stehen Gott und Mensch sich als Du und Ich einander gegenüber in der Unvermischbarkeit der Wesen, die in dieser Urscheidung und in diesem Urverhältnis gegeben ist. Auf das strengste ist das Gottesverhältnis in den Raum gebannt, der durch diese beiden, vom Ich und Du, ausgefüllt ist. Dieser Raum aber ist kein anderer als der Weltenraum. Denn nur in ihm gibt es eine Welt, einen Kosmos; nur der Raum, der auf das strengste durch die allein die Welt schaffende Kraft des spannungsvollen Verhältnisses von Du und Ich geordnet und bis in den letzten Winkel und bis auf das geringste der Dinge, die ihn erfüllen, bestimmt ist, nur dieser Raum ist die Welt. Ist der Raum nicht mehr hierdurch bestimmt, so gibt es in ihm nur noch das sinnlose Chaos, nur den Wahn einer geordneten Welt. Es ist wohl dasselbe, was ich hier sage, gemeint mit dem Worte, das sagt, daß das Gottesverhältnis nur ein sittliches sein könne, und daß nur die Welt und nur das Leben wirklich seien, die sittlich bestimmt sind. Aber es ist damit noch nicht der letzte, nicht der tiefste Grund aufgezeigt, aus dem alle Wirklichkeit aufsteigt. Wohl ist es wahr, daß das wahre, das wirkliche Gottesverhältnis sich notwendigerweise in sittlicher Tat beweisen muß, und daß das kein Leben in der Wirklichkeit, kein wirkliches Leben ist, das nicht sittlich bestimmt ist. Aber das Letzte ist das alles nicht. Das Verhältnis zwischen Du und Ich, 20
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das das wirkliche ist, weil in ihm das Du Du und das Ich Ich bleibt, in dem weiter das Du das erste Wort und das Ich das zweite ist, in dem darum das Ich erst am Du und durch das Du zum I wirklichen Ich, das heißt zum konkreten, erfüllten Ich wird, dieses Verhältnis, diese Wirklichkeit von Ich und Du, ist noch nicht bezeichnet durch die sittliche Tat. Die sittliche Tat, die das Letzte, die die Begründung der Wirklichkeit sein will und sich nicht als Ausfluß, .als Wirkung eines anderen weiß, trägt ihr Gesetz in sich selbst. Wenn irgendwo, dann ist für sie das Ich das erste Wort. Es ist ja gerade das Wesen der so verstandenen sittlichen Tat, daß ich mir das Gesetz gebe und daß ich es mir nicht geben lasse von einem anderen, von einem Du. Das Wesen dieser sittlichen Tat ist die Freiheit, die durch nichts begrenzte, die in sich, in ihrer eigenen Freiheit und das heißt hier: in ihrer eigenen Unbegrenztheit ruhende. Die sittliche Tat, die sich in ihrem reinen sittlichen Wesen gründet, ist ihl'em Wesen nach einsam, und sie ist nicht das Verhältnis von Du und Ich. Denn diese sittliche Tat kennt überhaupt nicht das Du. Sie kennt es nur als das gleichgerichtete Ich. Denn nur so scheint die Gefahr vermieden, von der jedes Verhältnis zwischen den Menschen bedroht ist, daß nämlich der eine den anderen als Mittel mißbraucht. Aber der Preis, um den man sich von dieser Gefahr loskauft, ist nicht weniger als das Du selbst und die Begegnung mit ihm. Hier ist das einzige Verhältnis, das es zum anderen Menschen geben kann, das Bewußtsein, mit ihm gleichgerichtet und von dem gleichen impetus der Freiheit getrieben zu sein. Es gibt hier keine Möglichkeit, mit Gott und den Menschen zu sprechen als die, daß man mit sich selbst in seinem tiefsten Innern spricht. Und es gibt hier keine Möglichkeit, mit Gott und mit den Menschen eins zu sein, als die, mit sich selbst in seinem letzten Grunde eins zu sein. Und das Letzte und Tiefste, was hier über das Verhältnis zu Gott ges,agt werden kann, ist das Ovidische Est Deus in nobis. Gott muß "im Menschen selbst zum Gedanken, zum Wort, zur Tat werden". Und von dem "Gott über uns" als dem Gegensatz von diesem "Gott in uns" heißt es dann ganz folgerichtig, daß er "nicht zu uns kann"21. Natürlich nicht, denn das Ich ist hier das in sich geschlossene, zu dem kein Lichtstrahl dringen kann, wenn er nicht in ihm selbst aufleuchtet. Das Ich ist hier nicht nur das erste Wort, sondern das einzige, das die Wirklichkeit bezeichnet. I 21
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So wenig begründet die sittliche Tat die Wirklichkeit; so wenig ist sie das lebendige, konkrete Verhältnis von Du und Ich, daß da, wo sie zum letzten Grund der Wirklichkeit gemacht wird, einem nicht nur das Du entschwindet, sondern mit dem Du auch noch das Ich. Denn das Ich, das das Subjekt dieser ganz nur auf die Freiheit gegründeten sittlichen Tat ist, ist nicht das wirkliche Ich, sondern die Idee des von aller Begrenzung, aller Bedingtheit, aller von außen kommenden Bestimmung freien Ich. Das aber heißt nichts anderes als: das Subjekt dieser zuletzt und allein auf Freiheit gegründeten Tat ist das von seiner Begrenzung und Bestimmtheit durch das Du befreite, also Du-lose Ich. Und das heißt nichts anderes als: es ist ein ganz und gar unwirkliches Ich. Und es ist nichts als eine Verzweiflungstat, wenn man dem Ich dadurch die Wirklichkeit verschaffen will, daß man den "Gott in uns" verkündigt. Denn dieser "Gott in uns" ist genau so unwirklich wie das Ich, dem er Wirklichkeit verschaffen soll. Wirklich wird das Ich nicht dadurch, daß man auf seinen innersten Grund zurückgeht und dieser letzten Tiefe dann den Namen "Gott in uns" gibt. Wirklich wird das Ich allein aus der Begegnung mit dem Du. Das Du aber kann nie in uns sein; es kann nie ein Teil unseres Ich sein. Wohl geht all unser Verlangen nach dieser Verschmelzung. Nichts wird uns so schwer, wie die Grenze, die hier gezogen ist, zu respektieren, ihre Scheidung auszuhalten. Aber diese Grenze nicht aushalten, sie nicht respektieren, heißt die Wirklichkeit nicht aushalten, heißt die Wirklichkeit nicht respektieren. Die Wirklichkeit heißt nicht Ich und sie heißt nicht Du. Das will sagen: sie ist keine Einheit, sondern sie ist die Zweiheit. Denn sie heißt Ich und Du. Ich und Du aber sind nur in der strengen, unaufhebbaren Gegensätzlichkeit ihres ganzen Wesens miteinander verbunden. Nur in ihrer reinen, durch gar nichts abgelenkten und aufgehaltenen Gegensätzlichkeit sind sie aufeinander bezogen. Es ist zwischen dem Ich und dem Du eine unüberschreitbare Grenze gesteckt. Diese Grenze aber ist die Wirklichkeit des Ich und Du. Nur wo diese Grenze respektiert, nur wo ihre Grenzsetzung, ihr Anspruch ausgehalten wird, nur da ist das Ich wirklich Ich und nur da ist das Du wirklich Du. Und es gibt keine hoffnungs- [losere Trennung und Verlassenheit als die ist, die über den Menschen kommt, wenn er diese Grenze überschreiten will. Denn dann gibt der Mensch sich selbst auf und den Anderen, und er nimmt die Wirklichkeit nicht da, wo sie ihm in der zu wahrenden und auszuhaltenden Grenze
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zwischen Ich und Du begegnet. Weil diese Grenze die Wirklichkeit von Ich und Du ist, darum ist sie der Schlüssel zu aller Wirklichkeit. Nimmt der Mensch aber die Wirklichkeit nicht hier, wo sie allein zu finden ist, in dem Gegenüber von Ich und Du, will er sie in der Verschmelzung dieser beiden finden, so tauscht er die Wirklichkeit gegen das Heer aller seiner Süchte, der edlen und unedlen, und damit gegen den Wahn und die Unwirklichkeit ein. Hält man dieses fest als etwas nie und unter keinen Umständen Preiszugebendes, daß nämlich Ich und Du nur in der strengen, unaufhebbaren Gegensätzlichkeit ihres ganzen Wesens miteinander verbunden sind, dann kann man es auch wagen, das Wort zu nennen, das der Name für dieses Grund- und Urverhältnis, für seine Wirklichkeit ist, die die Wirklichkeit aller Wirklichkeiten ist, nämlich die Liebe. Ich wiederhole: nur dann kann man es wagen, wenn man es als eine niemals preiszugebende Wahrheit erfaßt hat, daß die Grenze, die das Du vom Ich, die dich von mir scheidet, niemals zu überschreiten ist, und daß man, überschreitet man sie doch, den Wahn für die Wirklichkeit, die Sucht für die Liebe eintauscht. Keines von allen Worten ist in unserem Munde so voll Sucht wie dieses Wort. Und ob es die gemeinste oder die edelste Sucht ist, das macht da keinen Unterschied, wo es gerade gilt, jede Sucht gegen die Wirklichkeit einzutauschen. Sprechen wir aber heute von Liebe, dann sprechen wir von der verzehrendsten, der brennendsten Sucht nach Wirklichkeit. Und das gerade ist die Liebe nicht, das gerade kann sie nicht sein, wenn es denn wahr ist, daß sie selbst die Wirklichkeit ist. Von der Liebe, die die Sucht, die der Eros ist, gilt im gesteigerten Maße das, was wir von der im Ich und seiner Freiheit begründeten sittlichen Tat gesagt haben. Auch für sie gibt es das Du nicht. Unterschieden sind sie vor allem darin, daß die sittliche Tat das Du nur als das gleichgerichtete Ich kennt. Sie erkennt darum gar nicht die unübersteigbare Grenze, die zwischen dem Ich und Du gezogen I ist. Sie ist darum auch immer in sehr hohem Maße wirklichkeitsfremd. Der Eros hingegen weiß von dieser Grenze; er weiß von ihrem Leid. Aber er will die Einheit, und darum erträgt er nicht den Anspruch dieser Grenze, darum respektiert er nicht ihre Scheidung. Der Eros will garnicht das Du. Und wenn er es will, so will er es als sein Geschöpf; aber eben gerade darum nicht als Du. Denn das Du kann niemals das Geschöpf des Ich sein. Im Eros will das Ich sich selbst und immer wieder nur sich selbst. Und so bezeugt der Eros in seinem unersättlichen
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Hunger, in seiner rastlosen Schaffensgier die Unwirklichkeit des Ich, das von seiner Sucht besessen ist. Es bleibt bei dem, was wir vorhin sagten, daß das Ich nicht dadurch wirklich wird, daß man auf seinen innersten Grund zurückgeht, auch wenn dieser innerste Grund der Eros selbst ist. Und wenn wir sagten, daß das Ich allein in der Begegnung mit dem Du wirklich wird, so ist damit hier noch nicht ohne weiteres gemeint, daß das Ich erst dann wirklich wird, wenn es das Du liebt. Das alles kann nicht gemeint sein mit der Behauptung, die Liebe sei die Wirklichkeit. Denn mit alledem wäre die Grenze der sittlichen Tat oder des Eros noch nicht überschritten. Wohl wird das Ich seine Wirklichkeit damit beweisen, daß es das Du liebt. Aber wirklich wird der Mensch als Ich nur dadurch, daß er geliebt wird. Und geliebt wird mit einer Liebe, die ihrerseits keine Sucht ist, in der der Liebende also nicht sich selbst, die Wirklichkeit seines Ich sucht. Von dieser Liebe, die nicht wieder eine Sucht ist, kann nur der mit der Tat zeugen - und ein anderes Zeugnis als das mit der Tat gilt hier nichts -, der diese Liebe selbst als eine Wirklichkeit erfahren hat, der sich selbst von ihr geliebt weiß, der in ihr die Wirklichkeit seines eigenen Seins, seines eigenen Ich gefunden hat, weil vor ihrer Wirklichkeit die Allmacht der Sucht und aller Süchte gebrochen wird und der Wahn der Scheinwirklichkeit des Eros erkannt wird. Diese Liebe kann das ihrer mächtige Subjekt nicht in einem Menschen haben. Sie kann es allein in Gott haben. Denn Gott allein ist der aus sich und in sich Wirkliche. Ich habe mit Absicht gesagt, daß der Mensch von dieser Liebe, nämlich davon, daß er sie erfahren hat, nur zeugen kann. Freilich ist nur I das Zeugnis wahr und wirklich, das mit der Tat abgelegt wird. Aber immer bleibt des Menschen Liebe, und mag sie noch so rein, noch so stark sein, nur ein Widerschein der göttlichen Liebe. Und nur so lange, als sie das ist, nur so lange, als der Mensch nicht aus eigener Kraft zu lieben vermeint, kann sie Zeugnis, kann sie Frucht der göttlichen Liebe sein. Nur so lange ist sie Liebe und nicht Sucht. Es ist nur die Folgerung aus allem, was wir bisher ausgeführt haben, wenn ich nun weiter behaupte, daß bei einer" übersetzung des protestantischen Christentums in allgemeine Vernunftwahrheiten"22, als welche Troeltsch den "Neuprotestantismus" ausgibt, vom protestan22
Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche, S. 698.
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tischen Christentum schlechterdings nichts übrigbleibt. Troeltsch meint denn auch von dieser "allgemeinen Vernunftwahrheit", daß es für sie nicht mehr, wie für den reformatorischen Protestantismus, die Hauptfrage sie, wie man einen gnädigen Gott kriege, sondern ob es Gott überhaupt gebe. Aber das läßt nun nicht, wie Troeltsch meint, nur "Probleme erkalten", die dem reformatorischen Protestantismus seine Glut gegeben haben23 , sondern da wird der Gott, der des Menschen Du ist, an dem er zum Ich wird, und vor dem ihm ist, "als wäre er und Gott allein im Himmel und .auf Erden, und Gott mit niemand denn mit ihm zu schaffen hätt"', dieser Gott wird zu dem leeren Schema, zu der Allgemeinheit eines "Gott überhaupt". Und der Gott, der dem Menschen gnädig ist, der ihn liebt, wird zu der allgemeinen Vernunftwahrheit von der Liebe Gottes. Hier wird die völlige Entleerung, die mit dieser "übersetzung des protestantischen Christentums in allgemeine Vemunftwahrheiten" vollzogen wird, am allerdeutlichsten. Denn wenn es irgend etwas in gar keiner Allgemeinheit geben kann, dann ist es die Liebe. Auch die lebendigste überzeugung davon, daß Gott die Liebe ist, ist nicht die Liebe selbst. Hier bleibt man entweder, wie Wilhelm Herrmann es Bousset gegenüber gezeigt hat24, in dem Irrtum der Orthodoxie, die meint, es genüge, eine Lehre von der Liebe Gottes anzunehmen. Und man I nimmt dann die Lehre von der Liebe statt der Liebe. Damit kommt man .aber nicht zur Wirklichkeit, die allein das Gegenüber von Du und Ich ist. Oder aber man gerät wieder in den Subjektivismus der Erkenntnis, wo dann, wie Troeltsch sich ausdrückt, das das Wunder ist, daß der "Mensch in seiner Schwachheit und Sünde einen solchen Gedanken fassen könne"25. Hier wird aus dem Glauben, der dessen gewiß ist, daß Gott als sein Du zu ihm spricht, wie ein Mensch zum andern, im Handumdrehen eine "Religion des Gott-suchens im eigenen Fühlen, Erleben, Denken und Wollen"26. Es kann also auch hier keine Lehre an die Stelle des wirklichen Lebens treten, weder eine bis zum Dogma objektivierte, noch eine bis zur vollendeten Erkenntnis, in der die "Einigung mit Gott" erlebt wird, subjektivierte Lehre von der Liebe Gottes. Sondern es kommt hier alles auf die wirkliche Liebe an, das will sagen: darauf, daß ich dem Du 23 a. a. o. S. 605; vgl. auch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, 2. Aufl., S. 98. 24 Wilhelm Herrmann, Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1923, S. 165. 25 Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche, S. 457. 26 Troeltsch, Die Bedeutung, S. 98.
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Gottes begegne, daß Gott selbst, und das heißt nichts; anderes, als daß mein Gott mir begegnet als das Du, in dessen Wirklichkeit ich wirklich werde, ich meine Wirklichkeit finde und von aller Sucht erlöst werde. Es gibt .aber, darüber kann im Ernst kein Zweifel sein, nur ein einziges Du, das mir begegnen kann, das ist das Du des Menschen, das menschliche Du. Nur das Du, das ebenso bedingt, ebenso gebunden, ebenso relativ, ebenso begrenzt, ebenso wenig absolut ist, wie mein Ich es ist. Das aber ist nur das menschliche Du. Es gibt darum auch nur eine einzige Möglichkeit, geliebt zu werden. Das ist die, daß ein Mensch uns liebt. Freilich sind wir uns darüber schon klar geworden, daß kein Mensch aus sich die Kraft hat, mit dieser ganz suchtlosen Liebe zu lieben. Und in einem Menschen, der uns liebte mit dieser ganz suchtlosen Liebe, das heißt in einem Menschen, der uns wirklich als Du begegnete, der mit seinem Du auf uns gerichtet wäre, so, daß er nicht sich in uns suchte, sondern nur uns; der sich uns gäbe, aber nicht, wie das sonst wohl Menschen tun, die mit dieser Selbsthingabe uns nur um so gründlicher, restloser für sich nehmen, für sich gewinnen wollen und in der leidenschaftlichsten Selbsthingabe doch nur sich selbst suchen, die sich uns I nur geben, um ihr eigenes Ich, ihr eigenes Selbst in uns aufzurichten - in einem Mensclnen, der sich uns gäbe und auch in dieser Hingabe seines Selbst nur sein Du gäbe, das heißt: der gerade hier unser Ich als Ich bewahrte, auch hier die Grenze nicht überschritte, auch hier nicht in die Sucht der Leidenschaft geriete und von ihr nicht beherrscht wäre, in diesem Menschen begegnete uns das göttliche Du. Denn kein Mensch hat aus sich die Wirklichkeit, die ihn so restlos frei macht von aller Sucht nach der Wirklichkeit und aus der er die Liebe gewinnen könnte, von der es wahr ist, daß sie langmütig ist und freundlich, die nicht eifert, nicht Mutwillen treibt, die sich nicht blähet, sich nicht ungebärdig stellt, die das Ihre nicht sucht, sich nicht erbittern läßt, die das Böse nicht zurechnet, sich nicht der Ungerechtigkeit freuet; die sich aber der Wahrheit freuet; die alles erträgt, alles glaubt, alles hofft, alles duldet. Noch etwas aber täte diese Liebe, täte dieser Mensch an uns. Indem er uns so als Du begegnet, ohne uns in unserem Ich zu vergewaltigen, indem er die Grenze respektiert, indem er uns - es ist nun deutlich, was das heißt: indem er uns liebt, zwingt er uns eben durch seine Liebe, durch den reinen Blick seines Du, ihn selbst als Du zu sehen, das heißt: die Grenze zu respektieren, die zwischen ihm und mir gezogen ist. Der
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geliebte, der von dieser suchtlosen Liebe geliebte Mensch kann sich nicht mehr verabsolutieren wollen, kann nicht mehr der allein auf sich stehende, der in seiner unbedingten Freiheit ruhende Mensch sein wollen. Der von dieser Liebe geliebte, von dieser Liebe vor die Grenze, vor diese, ihm von dem liebenden Du gesteckte Grenze seiner selbst gestellte Mensch muß den Anspruch seiner Gottgleichheit, seines WieGott-sein-wollens als den Frevel, als die Sünde erkennen, von der keine Fiber seines Wesens frei war, und von der keine Fiber seines Wesens jemals frei sein kann, solange er aus sich, aus seiner Kraft zu leben meint. Und das ist das Opfer seines Glaubens, daß er diesen Anspruch dem zu Füßen legt, der gerade nichts sein will als ein Mensch, nichts als der von Gott geschaffene, ganz nur von Gottes Du lebende Mensch, und der ihn darum lieben kann, der ihm als Du, als wirkliches und ihm darum seine Wirklichkeit schenkendes Du begegnet. I Das ist die eine Folge dieser Begegnung, daß der Mensch seine Sünde erkennt. Seine Sünde, das ist der Anspruch seines Wie-Gott-seinwollens. Und die andere Folge ist diese: der Mensch, dem in der Begegnung mit dem Du Gottes seine Wirklichkeit - im Neuen Testament heißt es statt dessen: dem das Leben geschenkt worden ist, kann nicht anders, als durch jedes Du, dem er fortan begegnet, erinnert zu werden an das Leben, das ihm durch das eine Du, das ihm in der suchtlosen, wirklichkeitschweren Liebe begegnete, zuteil geworden ist. Und ihm wird sich die geschenkte eigene Wirklichkeit darin beweisen, daß er jedes Du, ob Freund oder Feind, das ihm begegnet, lieben kann; daß er es so lieben kann, daß er nicht in eroshafter Sucht seine eigene Wirklichkeit, sich selbst, sein Ich im Du sucht, sondern so, daß er von seinem eigenen Leben, von seiner eigenen Wirklichkeit schenkt. So hebt der Mensch an, wie Luther sich ausdrückt, "zu börnen in göttlicher Liebe"27. Das deute man aber nicht so, als ob der Mensch, der in dieser Begegnung steht, nun überfließe von "quellender Liebe". Es ist mit alledem nur gesagt, daß er es kann. Der Quell ist .angeschlagen. Der Brunnen ist gegraben. Der Mensch ist mit seinem Ich an seine Grenze gestellt, er hat seine Wirklichkeit gespürt in der Begegnung mit dem Du, das ihn liebt ohne Sucht und das er lieben kann ohne Sucht. Er weiß, daß sein Heil "in der Verheißung Gottes" steht und nicht in seiner Freiheit und deren Werken, und daß es darum fest steht. Er hat das Leben, das allein Leben ist, geschmeckt. Und er weiß, daß er 27
Luther, E. A. 11, 2. Aufl., S. 339.
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das Leben nur haben kann, daß er selbst nur wirklich ist, wenn er sich aus dieser Bindung durch das Du Gottes und aus der durch diese erste Bindung gegebenen zweiten Bindung an das Du der Brüder nicht wieder löst. "Wenn du weißt, wie du durch Christum einen gnädigen gütigen Gott hast, der dir deine Sünde will vergeben, und derselben nimmermehr gedenken, und bist nun ein Kind der ewigen Seligkeit, ein Herr über Himmel und Erden mit Christo, so hast du nichts mehr zu tun, denn daß du zufahrest und dienst deinem Nächsten"28. I Es ist wohl kein Zufall, daß es sich bei der ersten grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen dem reformatorischen Protestantismus und dem modernen Geist, der Auseinandersetzung zwischen Luther und Erasmus, um die Frage des unfreien Willens gehandelt hat. Denn nirgendwo sonst wie hier wird der Gegensatz so unübersehbar deutlich zwischen dem reformatorischen Protestantismus, dem die Begegnung von Du und Ich die Wirklichkeit ist, und dem modernen Geist, dem das das Letzte, die Wirklichkeit Begründende eine allgemeine Wahrheit, nämlich die von der Freiheit ist. An der Lehre vom freien Willen wird es sich immer wieder entscheidend zeigen, ob man in der Wirklichkeit lebt oder nur in einem Wahn von Wirklichkeit. Das heißt, ob man in der Begegnung mit dem Du sein wirkliches Leben begründet weiß und es in ihr findet, oder in dem immer erneuerten und wiederholten Versuch einer Objektivierung seines eigenen Ich. (Dabei ist es im letzten Fall ganz gleich, ob man diese Objektivierung in der Gewinnung einer allgemeinen rationalen Wahrheit sucht oder in der Gestaltung der individuellen rationalen" Wahrheit" des eigenen individuellen Wesens. Das eine geht über die Aufklärung zurück auf den Humanismus, das andere über den romantischen Idealismus ·auf die Schwärmer der Reformationszeit. Beide Male aber beschränkt man die Wirklichkeit auf das Ich.) Wo die Wirklichkeit allein in der Begegnung mit dem Du gefunden wird, da ist sie die schlechthin so, wie sie ist, bestimmte. Da ist das, was so ist, wie es ist, wie es jetzt und hier, dieses eine, einzige Mal ist, die ganz auf Entscheidung gestellte Wirklichkeit. Hier gibt es darum Entscheidungen, die den Namen verdienen, weil sie unwiderrufbar sind. Wo die Wirklichkeit nicht die Entfaltung des Ich ist, sondern die Begegnung von Ich und Du, da sind Entscheidungen nicht nur innere 28
Luther, E. A. 15, 2. Auf!., 42 f.
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Entwicklungen des sich gestaltenden Subjektes, sondern da sind sie Begegnungen mit dem Du. Da sind sie darum auch nicht in erster Linie durch die unendlichen schöpferischen Möglichkeiten des Ich bedingt, sondern sie sind bedingt durch das Du, und es wären keine Entscheidungen, das heißt aber nichts anderes als: Begegnungen mit dem Du, wenn in ihnen nicht das Du das Bedingende und Bestimmende wäre. Dabei wird die Verantwortlichkeit des Ich in gar keiner I Weise angetastet. Im Gegenteil, erst hier kann es zu einer wahren Verantwortung auf den Anspruch, auf die Frage, die dem Ich vom Du gestellt ist, kommen. Und den Anspruch, die Frage stellt das Du. Und auch den tiefsten Anspruch und die letzte Frage stellt nicht der Mensch an das Leben, sondern sie werden ihm gestellt. Hier ist die Lehre vom unfreien Willen vor jeder Verwechslung mit dem Determinismus geschützt. Denn zwischen dem Du und Ich gibt es keinen Determinismus, sondern nur die Verantwortung. Im andern Fall, wo das Ich selbst das die Wirklichkei.t begründende ist und die Wirklichkeit nichts anderes als die schöpferische Entfaltung des Ich ist, gibt es keine unwiderrufbaren Entscheidungen, denn die Möglichkeiten des Ich sind seinem Wesen nach unbegrenzt. Hier gibt es statt der Entscheidungen die Entwicklung. Und es gehören zu dieser Entwicklung alle "Entscheidungen", auch die irrigen. In der Entwicklung werden sie aufgehoben, hören sie auf, entscheidend zu sein. Sie werden auf die mittlere Linie der Entwicklung geführt, sie werden "mediatisiert". Damit aber hört eine Entscheidung auf, Entscheidung zu sein. Und man kann hier denn auch von der Entscheidung der Sünde sagen, für den modemen Geist sei sie nicht "eine Weltzerstörung, sondern mit dem Werden des Guten geordnet"29. Hier ist es dann so, wie Luther es dem Erasmus vorwirft: "Ihr denkt, daß beide, Gott und der Teufel, weit von uns sind und sehen uns nur zu, auf welchen Teil wir uns wenden wollen mit dem freien Willen. Ihr glaubt aber nicht, daß beide, Gott und der Teufel, welche wie zwei Königreiche ewig wider einander streiten, eine kräftige Wirkung und Treiben haben im menschlichen Willen, da der menschliche Wille muß wie ein Knecht sein, ja, wie ein Pferd dem Reiter folgen"30. Wenn aber auf diesen femstehenden Gott die Lehre vom unfreien Willen angewandt wird, so ist es gar nicht anders möglich, als daß aus der Lehre vom unfreien 29 30
Troeltsch, Protestantisches Christentum und Kirche, S. 701. Luther, Vom unfreien Willen. S. 271.
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Willen ein Determinismus wird, der dem Menschen nichts weniger als sein Menschentum nähme und aus Gott den Götzen eines starren dinghaften Mechanismus machte. Man ist unter einer solchen Voraussetzung gar nicht imstande, die Lehre vom unfreien Willen zu ver- I stehen, die nichts anderes bedeutet als die Bindung des wirklichen, des "existentiellen" Menschen an den wirklichen, und das heißt: an seinen Gott. Sie bedeutet auch nicht mehr das Vorherwissen und Vorherbestimmen durch den lebendigen Gott, sondern sie ist Determinismus und Fatalismus, wenn sie aus der Region des Jetzt und Hier, des Einmaligen, des Aktuellen in die Region des Allgemeinen, Begrifflichen und Ideellen übertragen wird. Der Glaube an sie ist darum von nichts weiter entfernt als von dem "Disputieren, ob ich erwählt sei oder nicht"31. Und es ist das Maß der Strenge bezeichnet, mit der der Glaube an die Unfreiheit des Willens aller Allgemeinheit, aller rationalen Gewißheit und überlegung zu entziehen ist, wenn Luther sagt: "Meine Meinung ist diese, daß wir der Gnade Gottes vertrauen sollen, aber über unsere und anderer zukünftige Beharrung und Erwählung in Ungewißheit bleiben sollen, wie jener sagt: wer steht, sehe, daß er nicht falle"32. Hier werden die Heilsgewißheit, die sich auf die geoffenbarte Gnade stützt, und die Erwählungsgewißheit, die sich auf die verborgene, nur von Gott gewußte Prädestination bezöge, scharf voneinander unterschieden. In dieser Unterscheidung und vor allem darin, daß die Heilsgewißheit behauptet, die Erwählungsgewißheit dagegen ausgeschlossen wird, zeigt sich auf das deutlichste die Bedeutung der Lehre vom unfreien Willen. Sie verhindert auf das strikteste, daß die Heilsgewißheit irgendwie auf ein Wissen oder eine Erfahrung oder ein Werk des Menschen sich stützen könnte. In der ausschließlichsten Weise, die man sich denken kann, wird hier die Heilsgewißheit jeder Begründung auf das Subjekt, den Menschen entnommen und das Ich an das Du, durch das es lebt, der Mensch an Gott, der ihn rechtfertigt, gewiesen. Und es ist auch nur in der unbedingten Hingabe an Gott, die diese letzte Ungewißheit bedeutet, und die, "wenn Gott es so wollte", die Bereitschaft wäre "zur Hölle und zum Tode ewiglich"33, die volle Gewißheit der Gnade zu gewinnen. Und so wenig ist mit der Unterscheidung des Luther, E. A. 1, 2. Aufl., 261. Luther, Briefwechsel, herausgegeben von Enders, Bd. IV, 51. Vgl. hierzu auch Kar! Holl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte I, Luther, 2. Aufl. Tübingen 1923, S. 112 und 152. 33 Luther, Römerbriefvorlesung, herausgegeben von Ficker, II, 215. 31
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geoffen- I barten und des verborgenen Willens Gottes eine Zwiespältigkeit in den Willen Gottes getragen, daß vielmehr gerade der Deus absconditus, der verborgene Gott, der vorherweiß und vorherbestimmt und der den Tod des Sünders will, nachdrücklicher als irgend etwas anderes auf den Deus revelatus, den offenbaren Gott der Gnade hinweist 34 • Und es ist die Lehre vom unfreien Willen der stärkste Ausdruck für die Bindung des geschaffenen Ich an das schaffende Du, des verantwortlichen Menschen an den ihn ansprechenden Gott. Wir sagten zu Anfang, das Wesen des Protestantismus sei Bindung. Und zwar Bindung durch die endliche Wirklichkeit. Damit wenden wir uns gegen die übliche Auffassung, die das Wesen des Protestantismus in der Freiheit zu finden meint. Wollte man diese Freiheit nur so verstehen, daß der Mensch in ihr befreit wird von dem Anspruch seines Ich, autonom, allein auf sein Gewissen gegründet zu sein, und in seiner Autonomie, seiner Selbstgesetzlichkeit und in seiner Freiheit unmittelbar mit dem göttlichen Wesen verbunden zu sein, ja, es in sich zu tragen - wollte man diese Freiheit so verstehen, daß der Mensch von allen diesen Ansprüchen befreit ist, so könnte man sich mit dieser Auffassung zur Not einverstanden erklären. Aber man versteht die Freiheit, in der man das Wesen des Protestantismus zu finden meint, gerade durchaus im Sinne dieses Anspruches. Und man versteht die Freiheit im Sinne dieses Anspruches nicht nur in bezug auf den Menschen selbst, sondern auch in bezug auf die staatliche und gesellschaftliche Gestaltung des menschlichen Lebens. In beiden Beziehungen ist darum die Freiheit als das besondere Charakteristikum des Protestantismus abzulehnen. Damit soll die Befreiung, die der Protestantismus der katholischen Kirche und dem Mittelalter gegenüber vollzogen hat, nicht im geringsten geleugnet werden. Aber es soll behauptet werden, daß diese Befreiung nicht um einer schlechthinnigen Freiheit willen vollzogen wurde, als sei. die Freiheit das tiefste und letzte Wort, das zur Welt I zu sprechen wäre. Es soll gesagt werden, daß diese Befreiung erfolgte um einer anderen Bindung willen, als die katholisch-mittelalterliche war. In aller Kürze sei der Unterschied dieser beiden Bindungen bezeichnet: die Bindung durch erdachte, willkürliche Gesetze, denen durch die Kirche sakrale Weihe und Gültigkeit gegeben war, sollte ersetzt werden durch die Bindung an und durch die Wirklichkeit, die eben darum, 34 Otto Scheel, im Ergänzungsband lIder Braunschweiger Lutherausgabe, S. 540; vgl. dazu auch Ferdinand Kattenbusch, Deus absconditus bei Luther; in der Festgabe für J. Kaftan, Tübingen 1920, S. 187 und 203.
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weil sie Wirklichkeit ist, göttlich ist, und deren Gesetze keiner Weihe und Gültigkeitserklärung durch die Menschen bedürfen. Ich behauptete schon zu Anfang, daß der Protestantismus der Welt diese Bindung schuldig geblieben ist und die Welt in das Chaos ihrer Schrankenlosigkeit hat gleiten lassen. Bis heute ist die Welt diesem Chaos verfallen. Hier hat der Protestantismus sein Werk zu tun. Er kann es nicht tun, wenn sein letztes Wort Freiheit heißt. Denn Freiheit heißt Schrankenlosigkeit, heißt unbedingte, unendliche Schrankenlosigkeit. Er kann es aber auch nicht tun, wenn die Bindung, von der wir meinen, daß sie sein letztes Wort sei, eine andere ist als die Bindung durch die Wirklichkeit, und das kann nichts anderes heißen als durch Gott. Es gilt auch hier, was von der reformatorischen Lehre im ganzen gilt, daß fast vor den Augen der Reformatoren eine Rückbildung dessen vor sich geht, was sie gewollt und angefangen haben. War ihr Werk die Befreiung des menschlichen Lebens in allen seinen Funktionen aus den Fesseln der mittelalterlich-kirchlichen Kultur, so begann aus diesem Werk doch wieder eine neue kirchliche Kultur zu entstehen. Nur mit dem Unterschied, daß die Kirchen nun im Interesse des Staates oder vielmehr der Obrigkeit ihr Werk tun, und diese kirchliche Kultur die großen Maße und die weltumfassende Gestalt verliert, und nach dem Maße der Verwandlung des Papstes in so und so viele Hofprediger alles kleiner und dürftiger wird, als es in der von der mittelalterlichen katholischen Kirche beherrschten und inspirierten Kultur gewesen war. Demgegenüber scheint es auch hier wieder ein tieferes Verständnis und ein Wiederaufnehmen ursprünglich reformatorischer Intentionen, wenn der "Welt" und dem menschlichen Leben mit seinen Einrichtungen von dem modemen Geiste ihr eigenes Recht und ihre I Selbständigkeit gegeben wird. Aber auch hier scheint es nur so. Denn die Eigengesetzlichkeit der Dinge, von der der modeme Geist glaubt, daß wir ihr die Dinge überlassen müssen, ist in Wahrheit gar nicht das Gesetz der Dinge. Denn es ist ganz unmöglich, daß ein Denken jemals die Welt und ihre Gesetze sollte begreifen können, das keinen Platz für das Du hat, und das das Du immer erst, um es begreifen zu können, in das Ich verwandeln muß. Es kann nicht anders sein, als daß diese Eigengesetzlichkeit der Dinge in Wahrheit nur die Eigengesetzlichkeit des Ich ist, das nur sich selbst auch in der Beherrschung, und zwar der einseitig vom Ich her gedachten Beherrschung der Dinge darstellen will. So sind von diesem Denken alle Institutionen und Funktionen des
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menschlichen Lebens, wie Ehe, Schule, Kirche, Staat, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft, vom Subjekt, vom Ich aus gedacht. Es können die Gesetze und Normen, die von diesem Denken für die tatsächlichen und nicht nur erdachten Institutionen angeboten werden, gar nicht Normen und Gesetze dieser tatsächlichen Institutionen sein. Und wenn diese Normen, Gesetze und Ideale auf die tatsächlichen Institutionen angewandt werden, wie das seit dem Beginn der Moderne, also seit dem 18. Jahrhundert geschieht, so können sie gar nicht anders, als daß sie sie zerstören und in dieselbe Unwirklichkeit auflösen, in der dieses nur vom Subjekt her bestimmte Denken sein gespenstisches Wesen treibt. Gegen dieses Wesen hilft gar nichts, als daß der Irrtum dieses Denkens, als daß die Sünde dieses falschen Anspruches des Ich erkannt wird und daß die Augen für das Du geöffnet werden.
VI. EDUARD THURNEYSEN
Eduard Thurneysen wird als engster und treue ster Weggefährte Kar! Barths gewöhnlich zu sehr und darum auch zu Unrecht als im Schatten Barths stehend angesehen. Doch war er es, der Barth zu Blumhardt, Kutter und Ragaz brachte und ihm wesentliche Impulse für die Theologie des "Römerbriefes" vermittelte. Seine eigene Schrift über "Dostojewski", 1921 (weitere Auflagen 1922, 1925, 1930, 1937, 1948), seine Arbeiten über Sozialismus und Christentum, seine Predigten und Andachten und seine Entwürfe zu einer neuen Homiletik haben damals mindestens ebenso stark gewirkt, wie Barths "Römerbrief" oder Gogartens "Religiöse Entscheidung". Thurneysens Dostojewskibuch gehört als sein eigener Beitrag zu den Anfängen dialektischer Theologie. Sie sind ohne dieses Werk kaum ganz verständlich. Von seinen Aufsätzen wird hier wieder abgedruckt: 1. "Sozialismus und Christentum", Zwischen den Zeiten, 1923. Hier sind die Anregungen von Blumhardt, Kutter und Ragaz zusammen mit seiner Kritik am religiösen Sozialismus der Genannten zusammengefaßt. 2. "Schrift und Offenbarung", Zwischen den Zeiten, 1924. Dieser im Februar 1924 in Marburg gehaltene Vortrag mit anschließender Diskussion mit ]ülicher, Rade, Bultmann und Heidegger spiegelt das Ringen um den Offenbarungs begriff wider, das sich um diese Zeit aus der anfänglichen, sog. "Theologie der Krise" erhob. Vergleiche zur Diskussion über diesen Vortrag: "Gottesdienst - Menschendienst" , S. 100 ff. 3. "Offenbarung in Religionsgeschichte und Bibel", Zwischen den Zeiten, 1928. In diesem Aufsatz brachte Thurneysen die Frage nach der Offenbarung zu einer ersten, abschließenden Klärung. Verwiesen sei außer auf das Dostojewskibuch auf die Aufsatzsammlung Thurneysens, Das Wort Gottes und die Kirche, 1927, in der auch die beiden ersten der hier wieder abgedruckten Aufsätze enthalten sind.
SOZIALISMUS UND CHRISTENTUM
I. Es ist eine vielleicht schon nicht mehr aktuelle, sondern bereits historische Frage, an der wir stehen, wenn wir von dem Zusammenstoß reden, der zwischen Christentum und Sozialismus stattgefunden hat. Denn dieser Zusammenstoß hat stattgefunden und ist, wie sich immer deutlicher herausstellt, das kirchengeschichtliche Ereignis des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in seinen Auswirkungen auf die Kirchen (beider Konfessionen!) von viel entscheidungsschwererer Bedeutung als alle innerkirchlichen Ereignisse, obwohl seinerseits wieder (was noch zu zeigen ist) mit diesen in engem, kausalem Zusammenhang stehend. Aber diese Auswirkungen sind im wesentlichen heute abgeschlossen und übersehbar geworden. Diskussionen darüber haben also keine unmittelbare, aktuelle Bedeutung mehr. Die beiden - wie soll ich sagen? - feindlichen Brüder sind sich begegnet, aber sie sind aneinander vorübergeschritten und stehen sich nun als gegeneinander abgegrenzte geschichtliche Mächte gegenüber: Sozialismus und Christentum. Die Kopula "und", die zwischen ihnen gesetzt zu werden pflegt, bedeutet wie in allen solchen Fällen nicht ihr Verbunden-, sondern gerade ihr unabänderliches gegenseitiges Fremdsein, Getrennt- und Geschiedensein. Der denkwürdige, welt- und gottesgeschichtliche Augenblick, wo sie noch nebeneinander standen und ihr schicksalsschweres Gespräch führten, ist vorüber. Wir führen, indem wir davon reden, nicht mehr dieses Gespräch selber, wir führen im besten Falle ein Gespräch über dieses Gespräch. Es wird gut sein, sich das von allem Anfang an klar vor Augen zu halten. Wir wissen ja, wie dieses Gespräch verlaufen ist. Es ist damals, als das Christentum dem Sozialismus begegnete, genau gesagt, zu gar keinem Gespräch gekommen. Es war die ganze Begegnung ein vollständiges, schroffes Aneinandervorübergehen, ein sich N icht-Verstehen, sich Nicht-Erkennen auf der ganzen Linie. Sie endete mit leidenschaft-
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licher Ablehnung und schweren gegenseitigen Anklagen, die wie der Pulverdampf eines ausklingenden Gefechtes bis heute in der Luft liegen und die ganze Lage zwischen Sozialismus und Christentum immer noch kennzeichnen. Die heiden in einer Zeit Zusammengeführten und Aufeinandergeworfenen haben ihren Weg alsbald fortgesetzt, aber in gänzlich verschiedener, auseinanderliegender Richtung. Und was bis heute noch herüber und hinüber verhandelt wird, was man sich gelegentlich noch nachruft von einem Lager zum andern, das ändert nichts mehr an dieser auf beiden Seiten eingeschlagenen Richtung, I an der für diesmal endgültig vorübergegangenen und verpaßten Gelegenheit, sich wirklich zu begegnen, wirklich ins Gespräch einzutreten, sich wirklich das zu sagen, vor allem sagen. zu lassen, was da zu sagen und zu hören gewesen wäre. Das bedeutet nun freilich nicht, daß nicht doch noch weiter über diese Begegnung verhandelt werden muß. Es wird vielleicht die Verhandlung darüber vielmehr erst recht beginnen müssen, -etwa so wie die Verhandlungen über den Kriegsausbruch und die Schuldfrage beim Weltkrieg erst jetzt allmählich möglich werden und in Fluß kommen. Aber eben - die Verhandlung darüber, nicht mehr die Verhandlung seIher, die einst, damals, im aktuellen historischen Augenblick, im Kairos, um das neue Schlagwort zu brauchen, zu führen gewesen wäre. Das ist zweierlei! Und diese Einsicht in den sekundären Charakter unseres Gespräches wird nicht ohne Einfluß auf die Art dieses Gespräches bleiben. Wir werden uns zu sagen haben, daß es sim geziemt, dieses Gespräm in gedämpftem Tone zu führen. Pathos ist heute in dieser Verhandlung nimt mehr am Platz. Lorbeeren sind hier keine mehr zu holen. Es ist auf keiner Seite mehr etwas von jenem Einsatz und Wagnis dabei, das solche Gespräme im aktuellen, im kritischen Augenblick auszeimnet. Es braumt, um es ganz deutlich zu sagen, z. B. keinerlei Mut mehr dazu, dem dem Christentum gegenüber endgültig aus Schußweite abgezogenen, desinteressiert gewordenen Sozialismus von Kanzel oder Katheder herab seine wirklichen oder vermeintlichen Sünden vorzuhalten. Es ist aber ebenso billig geworden, allerlei vielleicht sogar sehr weitgehend soziale Postulate im Namen des Christentums auszurufen und zu verfechten, Postulate, die vielleicht noch vor 15 Jahren geltend zu machen Mut gekostet hätte. Die EvangelismSozialen aller, auch der modernsten Schattierungen mögen sim das merken. Sie sind zu spät aufgestanden. Es ist auch davor zu warnen, irgendwelche Leidenschaft darauf zu verwenden, die zehnmal Sichern und Geremten, die von einer Schuld der Kirche dem Sozialismus gegen-
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über immer noch nichts hören wollen, zu bekehren. Denn selbst wenn dies gelänge, so würde dadurch an der nun einmal abgeschlossenen Rechnung und Lage nichts mehr geändert. Die Geschichte wartet nicht auf Nachzügler und gibt wenig oder nichts um späte Reue. Aber nochmals: Man möge daraus nicht entnehmen, es sei nun überhaupt sinnlos geworden, auf das im Grunde nicht mehr aktuelle Thema noch einzutreten. Im Gegenteil: Es ist dieses im gedämpftem Tone zu führende Gespräch über das Verhältnis von Sozialismus und Christentum wenn etwas Gebot der Stunde. Wir stehen vielleicht, nein, sicher vor andern, neuen, höchst aktuellen Situationen. Für den, der zu sehen vermag, zeichnen sie sich bereits in aller Deutlichkeit ab. Aber eben: für den, der zu sehen vermag! Wie wollen wir für die Gegenwart sehend werden, wenn wir im Vergangenen noch so I wenig klar sehen?! Ich verhehle nicht: ich bin der Meinung, daß die Kirche in jener Schicksalsstunde, .als sie dem Sozialismus begegnete, versagt, im entscheidenden Punkte völlig versagt hat. Aber wie soll sie in einer neuen Probe, einer neuen Frage und Lage gegenüber anders, besser, offener, für die ihr von Gott gestellte Aufgabe bereiter dastehen, wenn sie sich über jenes eben hinter ihr liegende Versagen noch in keiner Weise klar geworden ist?! Also nicht um irgendwie eine verspätete Abrechnung zu halten oder um für eine längst zu spät kommende, nur unsere gänzliche Desorientiertheit offenbarende evangelisch-soziale Bewegung in unserer Kirche Propaganda zu machen, halte ich die überlegung dieser Fragen für wichtig, sondern ganz einfach um aus vergangenen Fehlern zu lernen. Das mag den Einen zu viel, den Andern zu wenig sein, oder - - sind wir vielleicht doch schon so weit, daß wir auf dieser Basis verhandeln können? Jedenfalls: es soll hier niemand "bekehrt" werden. Es wird hier im Interesse unserer Gegenwartsaufgabe zur Selbstbesinnung eingeladen und auf eine gewisse ruhige Bereitschaft gerechnet, an dieser Selbstbesinnung teilzunehmen, auch auf die Gefahr hin, daß sie rücksichtslos ausfällt. Sollte diese Bereitschaft sich finden, so könnte sich das Seltene ereignen, daß es unter uns statt zu den bekannten, fruchtlosen, mehr oder weniger eifrigen gegenseitigen Monologen zu einem Gespräch käme. Gespräch -aber bedeutet Gemeinschaft!
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11. Wenden wir uns nach diesen mehr methodischen Erwägungen der Sache selber zu. Es war in der Tat ein seltsames Zusammentreffen, als das modeme Christentum aller Schattierungen um die Mitte und in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts mit dem Sozialismus zusammenstieß. Wenn es uns hier auf historische Studien im engem Sinne ankäme, so müßte ich nun an Hand etwa der Biographien, der schweizerischen und der deutschen Kirchenzeitungen, Pfarrerblätter und Erbauungsschriften jener Zeit im einzelnen und an konkreten Beispielen zeigen, wie es sich wirklich um einen Zusammenstoß, ein Aufeinanderprallen handelte, als die Spitze der aufsteigenden Arbeiterbewegung plötzlich in das Gesichtsfeld der christlichen Kreise trat. Das Christentum kam damals eben her von seiner Erweckungsbewegung und war im vollen Zuge seiner Missions- und Liebeswerke. Es war ihm aber fast völlig verborgen geblieben1, daß währenddem in der Welt draußen, die es so gerne Welt sein ließ, wahre babylonische Türme von Kapitalismus, Militarismus, Nationalismus in Gründung und Entstehen begriffen waren, und, während z. B. die Heidenmission ihren Aufschwung nahm, auch die Industrialisierung Europas einsetzte und zwar mit einer rapiden Wucht und I Schnelligkeit: eines friedlich-schiedlich neben dem andern. Aber eben doch mit der Wirkung, daß eines Tages die Christenheit mit Schrecken feststellen mußte, daß ihr nicht nur im femen Afrika oder Asien, sondern hart neben ihren Domen und Missionsanstalten, unmittelbar vor den Fenstern ihrer Betsäle und Versammlungshäuser in den unheimlich anwachsenden Proletariermassen der großen Industriezentren eine gewaltige Heidenschaft erwachsen war. Sie hat sich dann auch nach einigem Besinnen und Schwanken wenigstens teilweise entschlossen, diese Lage anzuerkennen, darauf einzugehen und diese neue, innere Aufgabe in Angriff zu nehmen. Sie gründete neben der äußern die innere Mission. Damit war aber im Grunde noch nicht viel mehr geleistet als eben dieses: die Lage war eingesehen und anerkannt, das Problem gestellt. D. h. es wurde ins Auge gefaßt und anerkannt: da auf der einen Seite sind wir, wir die Christen, wir die Kirche, und dort drüben auf der andern Seite dehnt sich die weite Masse gottentfremdeter Menschen, die da plötzlich unter uns aufgetreten ist wie ein Fremdling, der nicht zu uns gehört und doch zu uns gehört. Man stand 1 Man lese einmal daraufhin alle die Claus Harms, Menken, Tholuck, Knak, Hofacker, Knapp, Kapff, Sander, W. Hoffmann.
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sich wenigstens einmal gegenüber, und es kam zu den ersten Treffen. Wiehern hielt seine mit Grund berühmte Wittenbergerrede. Der Hofprediger Stoeeker wagte sich in sozialistische Versammlungen. Auch praktisch wurde zu- und angegriffen. Die Ambulanz trat gleichsam in Aktion, um die von der sozialen Not am schwersten Getroffenen aufzunehmen und ihre Wunden zu verbinden ohne Ansehen der Person. Es sei wieder an Wiehern erinnert und statt vieler anderer noch der Name Gustav Werners und Bodelsehwinghs genannt. Es sei dies alles anerkannt, und es kann nicht verkleinert werden. Die Mühe, die z. B. Wiehern hatte, um durchzudringen, die Feindschaft, die ein Stoecker erfuhr, zeigen, daß es etwas Großes bedeutete, nur schon das Problem zu sehen und die Begegnung zu eröffnen. Aber nun hing alles davon ab: Was da bei dieser Begegnung zwischen Christentum und sozialer Bewegung tatsächlich gesprochen wurde, ob es zu einem starken, klaren, lösenden Worte kam, ob überhaupt nach einem solchen Worte gesucht und gerungen wurde von denen, die nun im Namen des Christentums mit dieser modernen Arbeiterschaft das Gespräch zu führen unternahmen. Und das wiederum hing, wie in allen solchen Fällen einzig und allein von der Einschätzung der ganzen Lage ab, davon, ob der ganze Umfang, die ganze Tiefe und Weite und unerhörte Aktualität des hier gestellten Problems und - was damit zusammenhängt - ob die Kräfte, die zu seiner Bewältigung notwendig gewesen wären, wirklich erkannt und erwogen wurden. "Wer ist aber unter euch, der einen Turm bauen will und sitzt nicht zuvor und überschlägt die Kosten, ob ers habe, hinauszuführen!" Und da ist nun das eine zu sagen: Es kam auf Seite der Kirche im großen und ganzen I nieht zu dieser überlegung, es kam nieht zu diesem Hinsitzen und überschlagen der Kosten. Die Kirche stürzte sich mit bekanntem Eifer auf die neue Aufgabe (etwa so wie heute in ihre" Volksmission" I), aber sie war von vornherein ihrer Sache sicher. Wieder muß ich mir hier den historischen Beweis im einzelnen versagen. Er wäre nicht schwer zu führen und wäre erdrückend. Aber schließlich: der Verlauf des Treffens selber ist Beweis genug. Die innere Mission fiel und fällt bis heute mit ihren Bemühungen zu Boden wie ein zu kleiner Deckel, mit dem man ein viel zu großes Loch decken möchte. Wirklich entscheidende Wendung und Hilfe ging nicht von ihr aus. Und wie immer, wo es nicht zu wirklicher Hilfe kommt, hat dies seinen Grund nicht in mangelnder Tatbereitschaft, in mangelndem Eifer und gutem Willen, aber in mangelnder Einsicht in die Größe, in die Tiefe, in die Quellen der Not und
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die Tiefe der eigenen Ohnmacht und Schuld dieser Not gegenüber. So war es auch hier. Vielleicht ist dies der eine, der einzige, aber freilich auch der entscheidende Vorwurf, der dem Christentum jener Tage und der ganzen nachfolgenden Zeit bis heute in dieser Sache gemacht werden kann und gemacht werden muß. Es fehlte (und fehlt) ihm an der Fähigkeit, die ganze Tiefe der Frage zu erfassen, die in der auftauchenden sozialen Not in ihrem ganzen Umfange sich zu Worte meldete. Es hätte damals bei einigem Nachdenken, bei einiger Bereitschaft und Bereitwilligkeit, auf die Frage der Zeit zu hören, an dem Rätselbild des proletarischen Bruders, der da mit einem Male wie aus dem Boden gestampft vor Augen stand in der ganzen Not und Blöße seiner Gottlosigkeit und Unkultur, statt ihn allzuschnell als leichte Beute von Bekehrungs- und Liebesversuchen zu betrachten, eine Entdeckung gemacht werden können. Eine Entdeckung, die der Größe und Wucht jener anderen Entdeckung nichts nachgegeben hätte, die 350 Jahre früher Martin Luther, der gefeierte Glaubensheld, an dem zwar noch näherliegenden, aber nicht minder rätselhaften Paradigma der eigenen, persönlichen Schuld und Gottlosigkeit gemacht hatte. Diese Entdeckung wäre der welt- und gottesreichsgeschichtliche Sinn und Inhalt der sicher nicht zufälligen Begegnung geworden, die das auf seine Christlichkeit, seinen Eifer, seine Erfolge so stolze Christentum des 19. Jahrhunderts mit dem Sozialismus hatte. Diese Entdeckung hätte dann die Quelle von weiteren unabsehbaren Entdeckungen, Wendungen, Ereignissen werden können, die vielleicht das unglückliche 19. Jahrhundert vor dem Absturz bewahrt hätten, den es dann - sicher mit deshalb, weil in jener Schicksalsstunde sein Christentum nicht sah, was zu sehen war - im Abgrund des Weltkrieges gefunden hat. Wir wollen uns an dieser Stelle keinen leicht ins Phantastische oder auch Sentimentale abirrenden "Wäre es doch ... Hätte es doch ... " hingeben; es liegt wirklich nicht daran, daß dieses oder jenes äußerlich anders gegangen wäre, als es tatsächlich gegangen ist. Es liegt I nicht einmal daran, daß der Weltkrieg vermieden worden wäre. Es liegt alles einzig und allein daran, daß diese Entdeckung, diese Wendung nicht irgendeinem äußerlich glücklicheren Weltzustande entgegen, wohl aber diese Wendung nach innen, nach der Tiefe, auf den Grund der Lage, die damals hätte erfolgen müssen, tatsächlich nicht erfolgt ist. Würde sie heute erfolgen, sie wäre auch mit allen Opfern des Weltkrieges nicht zu teuer bezahlt. Aber, muß ich fast beifügen, hören sie Mose und die Propheten nicht, wie werden sie hören, wenn die Toten aufstünden, selbst wenn es die
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Toten des Weltkrieges wären. D. h. haben wir den wahren Sinn der sozialen Frage nicht verstanden, wie werden wir den Sinn der Katastrophe verstehen, in deren Auswirkungen wir heute noch mitten drinstehen! Es deutet vieles darauf hin, daß die Kirchen auch heute wieder wie damals dem ganzen Jammer einer weltweiten Gottlosigkeit gegenüber nur wieder mit ihrem Eifer, ihrem guten Willen, ihren guten Werken sich zu helfen versuchen und das, was eigentlich geschehen müßte, ungeschehen lassen.
IU. Doch versuchen wir nachträglich zu erkennen, um was für eine Entdeckung es sich damals bei der Begegnung von Sozialismus und Christentum eigentlich gehandelt hätte. Der Proletarier, wie er leibt und lebt, im ganzen Trotz seiner Gottlosigkeit, bar aller Tugenden und Vorzüge, beladen mit allen Nachteilen und Schwächen und Sünden derer da unten, steht vor den Augen seines glücklicheren, bessern, edleren christlichen Bruders. Wir wollen einen Augenblick bei diesem Bilde verweilen. Wir wollen zu sehen versuchen, was da zu sehen ist. Wir wollen dem Christentum, das doch in unserer Betrachtung der Dinge in Anklagezustand versetzt ist, Gelegenheit geben, sich zu rechtfertigen, zu erklären, warum es mit dem Rätsel, mit der Aufgabe, die ihm dieser in jeder Hinsicht heruntergekommene, zerlumpte Proletarier aufgegeben hat, nicht anders fertig zu werden vermochte. Was konnte ich anderes tun, hören wir es sagen, als alsbald meine Bekehrungsversuche aufzunehmen an diesem armen, verhetzten, verelendeten Menschen? War es nicht der einzige, der wahrste Liebesdienst, den ich ihm erweisen konnte? Ihm die Augen zu öffnen über die ganze Verdorbenheit seines Zustandes, ihn zu Buße und Bekehrung zu rufen und zu führen und ihm für diesen Fall die überreiche Gnade Gottes, von der ich weiß, während er nichts davon weiß, in Aussicht zu stellen? - Ja, wirklich, was hätte das Christentum anderes tun sollen? Was soll es bis auf den heutigen Tag anderes tun! Es ist ja so unendlich klar, daß der durchschnittliche Proletarier wirklich nur als Objekt der Bekehrung für uns Christen in Betracht kommen I kann. Wie soll es sich da in irgendeiner Weise um eine neue Entdeckung handeln, die für das Christentum an diesem Menschentyp zu machen wäre? Wie
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kann es sich darum handeln, daß wir uns an ihnen, statt sie sich an uns, zu bekehren hätten! Es wird ja freilich behauptet, der Sozialismus und die Sozialisten brauchten den Vergleich mit der ihnen gegenüberstehenden christlichbürgerlichen Welt und Kultur, sowohl auf die beiderseitigen ideellen Lebensziele als auch auf die praktische Lebensgestaltung gesehen, nicht zu scheuen, ja, es könnte sich bei einem solchen Vergleiche sogar wieder einmal mehr Seumes "Wir Wilde sind doch bessere Menschen" ergeben - zu Gunsten der Sozialisten. Jedenfalls spielt eine solche Aufstellung von Rechnung und Gegenrechnung mit einem oft überwältigenden Plus zu Gunsten des Proletariates eine Hauptrolle in der großen, leidenschaftlichen Abrechnung, die sich das moderne Christentum in neuerer Zeit von religiös-sozialer Seite gefallen lassen mußte. Meistens verläuft sie so, daß zunächst die Ideologie des Sozialismus mit ihrem Pazifismus, ihrem Demokratismus, ihrem Antimammonismus und Internationalismus der christlichen Ideologie gegenübergestellt und ihre wesentliche übereinstimmung festgestellt wird, worauf dann ein helles Licht auf die Kraft und edle Leidenschaft fällt, mit der die sozialistische Bewegung im Unterschied zu dem sehr viel lahmeren Christentum diese Ideen verfechte. Aber sehen wir genau zu! Selbst wenn der Nachweis gelingt, daß die Ideologie des Sozialismus im wesentlichen mit der christlichen Iaeenwelt übereinstimmt, ja, gerade wenn er gelingt, so ist damit nur aufs neue die grundsätzliche ideelle überlegenheit des Christentums gegenüber dem Sozialismus dokumentiert. Der ganze Vergleich beruht ja geradezu auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß die christliche Ideenwelt von vornherein als der Maßstab anerkannt ist, an dem die mit ihr in Konkurrenz tretenden sozialistischen Ideen sich zu messen haben. Der christliche Gedanke wird als Richter angerufen, der Richterspruch fällt vielleicht nicht zu Ungunsten des Sozialismus, aber wichtiger ist, daß es gerade durch diese Anrufung und Vergleichung zutage tritt, wer hier mißt und wer hier gemessen wird. Das kommt weiter vor allem auch darin zum Ausdruck, daß bei allen solchen Vergleichen jeweilen jene doch sicher nicht unwesentlichen Elemente der sozialistischen Gedankenbildung, die unter dem Namen Marxismus zusammengefaßt werden können, vor dem Richterstuhl der christlichen Idee entweder stark umgebogen oder· dann ganz zurückgedrängt zu werden pflegen. Es ist ja eigentlich auch nicht fraglich, daß, wenn es auf die Ideen ankommt, die sich hüben und drüben zum Vergleich .anbieten,
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die christlichen Gedanken über Gott und Welt, über Geschichte, Mensch und Leben als die schließlich unvergleichlich überlegeneren, originaleren, geistvolleren, bewegteren und beweglicheren da- I stehen der gewöhnlichen sozialistischen Gedankenwelt gegenüber mit ihrer im besten Falle pantheistischen Religiosität, ihrem Geschichtsmaterialismus, ihrem Entwicklungsoptimismus, ihrer völligen Abwesenheit aller jener tiefen Gedankengänge über Sünde und Gnade, Schöpfung, Fall und Erlösung, Feindschaft des Menschen gegen Gott und Versöhnung durch Christus, wie sie den Kern des christlichen Denkens bilden. Und wie armselig steht der Sozialismus da mit seinen paar Propheten der ganzen edlen Geisterschar gegenüber, die durch die Jahrhunderte herab auf der Seite des Christentums zu finden ist. Nein, es kann keine Rede davon sein, daß das Christentum, sofern es auf die Tiefe und Originalität der Ideenbildung ankommt, vom Sozialismus sich müßte korrigieren oder gar überbieten lassen. Wenn die Entscheidung über Vorrang, Priorität und Überlegenheit auf diesem Boden fallen sollte, dann ist sie schon gefallen - und zwar zu vollen Ungunsten des Sozialismus. Aber wird das Resultat vielleicht ein anderes, wenn wir den Boden abstrakter Ideenvergleichung verlassen und etwa mit der Parole: "Aufs Leben kommt es an, nicht auf die Lehre" den Schauplatz der sogenannten "Wirklichkeit" betreten? Wir bestreiten die Überlegenheit der christlichen Ideenwelt über die sozialistischen Ideen gar nicht, so sagen uns gerade die Einsichtigsten unter den Bekämpfern des modernen Christentums unter den Sozialisten, aber wir fragen: Was helfen die bessern, die größern, die tiefsinnigeren Ideen, Theologien und Dogmen, wenn sie nicht ins Leben umgesetzt werden? An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen! Seid Täter des Wortes und nicht Hörer allein! Schaut statt auf die bloßen Ideen auf ihre jeweiligen Träger, auf Gestalt und Tun der Menschen, an denen diese Ideen zur Erscheinung kommen oder auch - nicht kommen. Es entspricht dem Charakter der auf diesem Gebiete allein möglichen empirischen Urteile, daß wir uns auf ein möglichst breites Beobachtungsmaterial stützen müssen. Es gibt auf bei den Seiten, im Lager der christlich-bürgerlichen Welt und im Lager der Sozialisten, Spitzenerscheinungen nach oben und nach unten, die außer Betracht fallen müssen, wenn es sich um die Feststellung des wesentlichen empirischen Typus und seine Wertung handelt. Der Durchschnitt muß ins Auge ge faßt werden. Wir stellen uns einen Vertreter des Proletariates vor, keinen von denen, die sich, etwa durch eine Selbstbiographie, selbst vorgestellt haben, keinen Ausnahmefall, keinen literarisch
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gewordenen oder religiös beeinflußten, einen alltäglichen, gewöhnlichen, einen aus der großen Masse der Namenlosen und Unbekannten, und wir stellen ihn uns vor am besten in einer möglichst konkreten, aktuellen Situation: etwa beim Streikpostenstehen, bei der Lektüre seiner Zeitung (mit ihrem bekannten, von allen Anständigen und feiner Empfindenden auf der Gegenseite verurteilten rüden, revolutionären I und herausfordernden Ton!), in der Parteiversammlung, im Wirtshaus und nicht zuletzt in der harten, stumpfsinnigen Fron seiner Arbeit, Gestalten, wie sie Meunier gemeißelt, Käthe Kollwitz gezeichnet und vieUeicht Andersen Rexö gestaltet hat. Und nun stellte man dagegen einen Vertreter der christlich-bürgerlichen Welt! Gewiß, da ist viel faules, brüchiges, vor allem ängstliches, kleinliches, enges, ja, borniertes Wesen, das sehr unvorteilhaft absticht von einer gewissen revolutionären Großzügigkeit auf der Seite der proletarischen Existenz. Aber da sind - auch beim Durchschnitt - gewisse feste Grundsätze, da ist (wir denken an das Heer der Beamten und kaufmännischen Angestellten, von den Bauern gar nicht zu reden) Berufstreue, da ist weithin noch Tradition und Respekt davor, da ist viel Bildung und Wissen, da ist, je höher man steigt, auch Kultur, Takt und Geschmack, da sind freilich mancherlei ausgefahrene Geleise, aber immerhin Geleise, Wege, Ziele und ein vielfaches ernstes und eifriges Gehen auf diesen Wegen und Streben nach diesen Zielen. Da sind, man mag sagen patriarchalische Ordnungen, aber jedenfalls Ordnungen, da ist Familiensinn und Familienstolz, Sinn für Legalität in Ehe und öffentlichem Leben, da ist sehr oft eine wirklich vergeistigte Lebensauffassung oder jedenfalls ein Bemühen darum, da ist vor allem noch religiöses Bedürfnis und kirchliche Gewöhnung und darauf gegründete Charakterbildung, und darum findet man da, was man auch sagen mag, immer noch verhältnismäßig zahlreiche gehaltvolle, reife Persönlichkeiten, Pflege geistiger Güter. An alledem fehlt es auch beim Proletariate nicht ganz. Aber es ist dort jedenfalls nicht das Kennzeichnende, es sind im besten Falle Reste, die sich dort von der eigenen bürgerlich-christlichen Vergangenheit her noch erhalten haben. Sollte also wirklich der durchschnittliche Vertreter der christlich-bürgerlichen Schicht dem Proletarier gegenüber als der minderwertige Typus erscheinen? Und dazu kommt endlich, daß auch das - man mag vorwurfsvoll sagen: - Wenige und Geringe, das immerhin zur Hebung der sozialen Not auf allen Gebieten geleistet worden ist, wahrhaftig zum weit überwiegenden Teile dem Konto nicht des Sozialismus, sondem dieser vom
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Sozialismus so gerne in Anklage versetzten christlich-bürgerlichen Welt gut zu schreiben ist. Man überlege einmal, wer denn schließlich die Fürsorge für Arme, Alte, Kranke, für Lahme, Blinde, Stumme, Taube, für Epileptische und Krüppel aller Art an die Hand genommen hat. Man denke darüber nach, von wem die - es sei zugegeben: immer noch viel zu wenigen - Liebeswerke und Anstalten gegründet und unterhalten wurden und noch werden. Wer ist es, der auch der Heidenwelt gedenkt, den Gefallenen nachgeht, die Trinker rettet, die Gottentfremdeten evangelisiert, die verwahrloste Jugend sammelt und auch in die Dunkelheiten der Gefängnisse und Irrenhäuser noch ein wenig Licht und I Liebe trägt? Etwa der Sozialismus und die Sozialisten? Freilich - wir rühren damit an einen von ihrer Seite immer wieder erhobenen Vorwurf - den Krieg hat das Christentum nicht verhindert. Aber haben sie ihn denn verhindert? Und habe ich nicht wenigstens - antwortet das Christentum - das Rote Kreuz auf den Schlachtfeldern aufgepflanzt und auch sonst zahllose Mittel und Wege gesucht und gefunden, um der Kriegsnot zu wehren? Ist es nicht wiederum die christlich-bürgerliche Welt unter Anführung des amerikanischen Präsidenten und unter ausdrücklicher Berufung auf die tiefsten Wahrheiten des Christentums gewesen, die nach dem Kriege den Völkerbund errichtete als ersten ernsthaften Versuch, künftigen Kriegen vorzubeugen, und sind es nicht gerade die Sozialisten gewesen, die hier nicht nur nicht mitgemacht haben, sondern geradezu ostentativ bei Seite traten? Das furchtbare russische Experiment werden sie selber lieber nicht als ihre Gegenleistung in Erinnerung bringen, aber wiederum darf darauf hingewiesen werden, daß es wieder in der Hauptsache die Vertreter nichtsozialistischer, sondern bürgerlicher Humanität und Christlichkeit gewesen sind, die auch da, als infolge der russisch-proletarischen Wirtschaftsexperimente die furchtbare Hungersnot ausbrach, tatkräftige Hilfe leisteten. Noch einmal: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen ... ja, wirklich, wenn gute Werke die Früchte sind, nach denen gefragt ist, und wenn die genannten Werke diese guten Früchte sind, von denen mit Recht auf die Gesundheit des sie tragenden Baumes geschlossen werden kann, wenn dies beides zutrifft, dann kann das Christentum ruhig den Vorwurf zurückweisen, es hätte der sozialen oder irgendeiner andern Not gegenüber versagt. Und es bleibt höchstens und erst recht die Frage, wo denn, welches denn die Früchte seien, die demgegenüber der Sozialismus aufzuweisen hat.
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So steht es also zwischen Sozialismus und Christentum. Der Vergleich bringt erst recht die Armut und Blöße des Proletariers an den Tag, sein Nichtsein und Nichthaben alles dessen, worauf es offenbar ankommt, die ganze Dunkelheit und Tiefe, in der er steht. Nun erst sehen wir die Begegnung der beiden in ganzer, scharfer Deutlichkeit. Und ich höre das Christentum noch, seiner Demut die Krone aufsetzend, sagen: Ich hätte von alledem, was ich zu meinen Gunsten anführen mußte, lieber geschwiegen, aber deine Vorwürfe, proletarischer Bruder, zwangen mich zum Reden. Aber nun will ich wirklich schweigen, will wirklich nichts anderes als dir die ganze Fülle meiner überlegenen Ideen, Persönlichkeitswerte und Werke zukommen lassen. Ich habe dies im Grunde immer gewollt. Nur leider bist du so merkwürdig verstockt und hast meinen guten Willen nicht gesehen und anerkannt. Seltsam, fügen wir bei, daß dies überhaupt möglich war! Seltsam, daß es überhaupt noch eine soziale Frage geben konnte, wenn doch eine solche überlegene I Fülle von Karität ihr auf der andern Seite gegenüberstand! Seltsam, daß die furchtbare Macht des Mammonismus, der Armut, der geistigen und seelischen Not, die hinter dem Wört "soziale Frage" steckt, nicht längst überwunden, getilgt, zu Boden geworfen ist - wenn doch das Christentum dergestalt auf den Plan trat und tritt! Seltsam vor a:llem, daß es überhaupt möglich ist, daß der Sozialismus solch eine Anziehungskraft ausübt bei der so offenkundigen Armut und Dürre, in der er, wie gezeigt, der Christenheit und ihren Kirchen gegenübersteht! Nicht wahr, seltsam, sehr seltsam das alles? Wir stehen da offenbar am kritischen Punkt unserer Untersuchung. Ich frage: Habe ich irgendetwas unterschlagen, was zugunsten des Christentums angeführt werden könnte? Habe ich nicht im Gegetiteil vieles, allzuvieles unterschlagen, was immerhin auf der andern Seite, beim Sozialismus, an respektablen Werten und Leistungen doch auch vorhanden ist? Und doch, die soziale Frage brennt weiter, der Proletarier bleibt weiter verstockt. Er wendet sich endgültig ab. Unsere christlichen Vorzüge überzeugen ihn nicht. Er hat offenbar nicht gehört und nicht gesehen, was er hören und sehen müßte, wenn er sich von uns gewinnen lassen sollte. Woran liegt es? Wirklich nur an seiner völligen Unbelehrbarkeit und willentlichen Verhärtung uns gegenüber? Oder liegt es an der ja natürlich auch vorhandenen menschlich-irdischen Schwachheit der Christenheit, daran, daß immerhin auch sie noch nicht genug aufzuweisen hat an Liebeswerken, an Ideen und Idealen, an feinen, geistig durchgebildeten, reifen und gehaltvollen Menschen, an allgemeiner Kraft
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der überzeugtheit und Begeisterung oder auch einfach an missionarischer Technik der Ausbreitung ihrer Ideen und Kräfte, an durchgegrabmen Kanälen, durch die sich die reichen Ströme. ihrer Lebensschätze ergießen könnten auf die dürre Flur des modernen Heidentums, das sich ringsum breitet? Sollte die Christenheit noch mehr Eifer, noch mehr Glaube, noch mehr Liebe aufwenden, noch mehr Mission treiben, Evangelisation und Volksmission noch ganz anders in Angriff nehmen, noch mehr tun für Charakterbildung, christliche Schule, Liebeswerke? Aber wenn sie das bisher nicht genügend getan hat, lag es nicht eben an dem dumpfen Widerstand der Masse, der bösen Welt, der bekannten, allzubekannten Hemmungen, mit denen man auf Erden nun einmal zu rechnen hat? Fällt also nicht doch der Vorwurf wieder von ihr ab und zurück auf die Gegner? "Sie hat getan, was sie konnte." Wer mehr von ihr verlangt, ist ungerecht. - Das ist das Dilemma, in dem wir uns an dieser Stelle befinden, und das ist der Trost, mit dem wir Christen uns an dieser Stelle, angesichts dieser Vorwürfe in der Regel schließlich zu trösten wissen. Und gänzlich unbegreiflich ist uns nur, daß man uns in dieser Lage nicht begreift und uns Gerechtigkeit widerfahren läßt. Unbegreiflich ist uns I nur, daß der Proletarier uns nicht wenigstens das abnimmt, was wir immerhin zu bieten haben. Unbegreiflich ist uns, daß er fortfährt in seiner Abschätzung von allem und jedem, was wir sind und was wir tun. Als ob es alles nichts wäre, als ob es darauf nicht ankäme. Als ob es darauf nicht ankäme! Wir werfen den ganzen Ertrag des geschichtlichen Daseins des Christentums in die Wagschale: Auf was soll es denn ankommen, wenn nicht darauf! Was soll Gewicht haben, wenn dieses kein Gewicht hat! Wenn einmal, so wird es hier heißen müssen: Gewogen, gewogen ... und wahrlich nicht zu leicht erfunden! Nein, wir können nicht anders als unserm Gott danken dafür, daß wir nicht sind wie die andern Leute. Und gerechtfertigt gehen wir hinab in unser Haus vor jenen andern, gerechtfertigt das Christentum vor seinem Verkläger, dem Sozialismus. Wirklich?! - - Sehen wir immer noch nicht, wo wir stehen?! Ging nicht in Wahrheit gerade der andere gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht der fromme Beter, nicht der tiefsinnige Theologe, nicht der große Wohltäter, der den Zehnten gab von allem, was er hatte, sondern der andere, der andere, der Namenlose, der Unbekannte, der, der nichts hatte von alledem, worauf es in unsern Augen offenbar ankommt, der andere im ganzen, großen Rätsel dieses seines Nichtseins und Andersseins. Lassen wir es zunächst uner-
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örtert, ob und inwiefern der moderne Sozialismus wirklich jener andere sei, der gerechtfertigt hinab geht in sein Haus, aber soviel ist gewiß: Wir sind es nicht, sind es jedenfalls soeben nicht gewesen, sofern wir ja jedenfalls der nicht sind, der nichts hat, sondern der sind, der viel hat, der Gewichtiges hat, der alles hat, sofern wir - in aller Demut, ja gerade in Demut - der Nicht-Verlierende, Nicht-Unrechthabende, Nicht-Erniedrigte, Nicht-Gedemütigte, sondern im Gegenteil Triumphierende, Rechthabende, Gewichtige sind. Es ist keine Frage: in dieser Rolle stand das Christentum bei seiner Begegnung mit dem Sozialismus diesem gegenüber. Es hatte Recht. Subjektiv und objektiv. Es war in der unvergleichlich viel bessern Position. Es verfügte über all das, was seinem Gegenüber abgeht. Und es legte gerade zur Zeit dieser Begegnung in zahlreichen Biographien (zumeist erst noch: Selbst-biographien!) in stolzer Demut Zeugnis davon ab. Und dennoch - auf welcher Seite die kulturellen, geistigen, religiösen Mehrwerte liegen ist nicht fraglich, aber ist es damit getan? Warum wird das Christentum trotzdem mit der ihm durch den Sozialismus gestellten Frage so gar nicht fertig? Warum will und will die Anklage auf ein wesentliches Versäumen und Versagen von links her so gar nicht verstummen? Warum überzeugen wir Christen durch den von uns angetretenen Beweis des Geistes und der Kraft immer nur uns selber und niemals die andern, für die er eigentlich berechnet war? Und warum vermögen wir selber schließlich sogar uns bei I unserer Rechtfertigung, so gewiß sie aufrichtig gemeint ist, doch nicht zu beruhigen? Warum kann der nächste beste Proletarier, dem wir begegnen, gerade durch den Anblick und die Empfindung seiner ganzen geistigen und materiellen Armut und Dürre ein so unwiderstehliches Schuldgefühl in uns wecken, daß uns unsere ganze Rechtfertigung als eine vergebliche Ausflucht erscheint, buchstäblich als Aus-flucht, zusammengerafft und hervorgestammelt von einem, der auf der Flucht ist - freilich auf der Flucht vor etwas, nein, vor einem ganz andern als der es ist, dem gegenüber er sich ja so zwingend und so erfolgreich zu rechtfertigen weiß! Denn noch einmal: Sehen wir nicht, wo wir stehen? Wir sehen uns dem Sozialismus gegenüber. Wirklich nur dem Sozialismus? Dann wäre unsere Lage in der Tat leicht und einfach. Aber nun ist sie gar nicht leicht und einfach, sondern tragisch und verwickelt, wie es nur immer eine geschichtliche Lage sein kann. Nicht weniger tragisch und verwickelt jedenfalls, als es z. B. die Lage der jüdischen Frommen zur Zeit Jesu den Zöllnern und Sündern gegenüber war. Auch sie hatten das
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Recht, höchstes Recht auf ihrer Seite und standen doch mitten im tiefsten Unrecht. Auch sie hatten alles, worauf es ankommt, aber rätselhafterweise kam es offenbar im entscheidenden Augenblick gerade darauf nicht an. Vor wem denn? möchten wir fragen, in welchem entscheidenden Augenblick? Nun jedenfalls vor Jesus, "als die Zeit erfüllet war". Er sah die Dinge so rätselhaft anders, als wir sie sehen. Er gab dort Recht, wo wir nur Unrecht geben, und dort Unrecht, wo wir Recht geben. Er preist dort selig, wo wir Wehe rufen, und ruft dort Wehe, wo wir selig preisen. Eine höchst beunruhigende Lage: Die Vertreter zweier Menschheitsschichten stehen sich gegenüber. Es ist keine Frage, daß der eine ethisch und religiös und auch rein menschlich betrachtet vor dem andern den Vorzug verdient. Aber wie das Urteil fällt, da fällt es nicht zugunsten dieses einen. Also können höchste geschichtliche, menschliche Werte nicht vor dem Verdikte retten, und es braucht geistige, kulturelle und religiöse Armut vor diesem Richter noch nicht Verurteilung zu ergeben. Relativ sind alle Vorzüge und Nachteile dieses Aons; nichts steht fest; nichts gibt es, worauf sich der eine gegenüber dem andem berufen könnte. Einem letzten Urteil und Gericht ist alles Hohe und Niedrige unterworfen. Unbestreitbar, unbedingt fest und gesichert ist nur das eine: die Souveränität, die unbedingte, grundlose Freiheit des in diesem letzten Gericht und Urteil waltenden Richters selber. Wir stehen nicht nur auf uns selber und auf die Rationalität unserer eigenen Urteile angewiesen einander gegenüber. Wir stehen einander gegenüber, aber wir stehen gleichzeitig miteinander - vor Gott. Und seine, Gottes eigene, freie Entscheidung, das ist das einzige, worauf es schließlich ankommt. Es wäre aber nicht das einzige und wäre darum nicht mehr die freie, eigene, I grundlos allein in Gottes Willen ruhende Entscheidung, wenn daneben noch etwas anderes in Betracht käme. Darum muß alles, auch das höchste Menschliche daneben versinken. Nichts anderes als die Anerkennung dieser grundlosen Freiheit des göttlichen Willens bedeutet die Stellungnahme Jesu im Streitfall seiner Zeit zugunsten der unrechthabenden Zöllner und Sünder und zu ungunsten der rechthabenden Frommen. Nichts anderes kann aber auch der Sinn jener alle unsere Beruhigungsund Rechtfertigungsversuche dem Sozialismus gegenüber immer wieder so unheimlich störenden, nicht zum Schweigen zu bringenden sozialen Frage sein. Es fehlte dem Christentum des 19. Jahrhunderts wahrlich wenig oder nichts von dem, worauf es ankommt im Urteil der Menschen, im Urteil der Geschichte, der profanen und der religiösen. Aber
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kommt es denn darauf an - vor Gott?! Fragt Gott nach den Qualitäten der Menschen, nach der Güte ihrer Charaktere, dem Tiefsinn ihrer Ideen? Rechtfertigen uns vor ihm unsere guten Werke? Ich frage - und wenn diese Frage zur Folge hätte, daß nun erst recht die andere Frage aufbräche: Ja, auf was kommt es denn an vor ihm? Auf was kommt es denn an, wenn es auf das nicht ankommt, was das Christentum gegenüber dem Proletariate, als es ihm begegnete, tatsächlich aufzuweisen hatte? So würde ich antworten: Auf nichts anderes kommt es an als darauf, daß eben diese Frage endlich aufwacht, sich zu stellen beginnt mit dem den ganzen Menschen erschütternden, weltweiten Gerichtsernst, der von ihr ausgeht über alle Höhen und Tiefen unseres Lebens und wahrlich auch unseres christlichen Lebens. Auf diese Frage: Worauf kommt es an, schließlich, endgültig? im letzten Gericht? darauf kommt es an. Denn mit dieser Frage, wenn sie wirklich gestellt ist, tritt die Christenheit vor ihren Gott. Weil sie in und mit dieser Frage, wenn es wirklich diese Frage ist, alles hergibt, was sie hat, all ihre Sicherheit, all ihren Ruhm, alle ihre Werke, alle ihre Ideenschätze, alle ihre Frömmigkeit (ja, auch diese!), alle ihre Vorteile, all ihr Rechthaben, weil sie in dieser Frage, wenn sie wahrhaftig aufbricht, so wie sie in der Reformation aufbrach, Verzicht leistet, völligen, restlosen Verzicht darauf, den Ruhm des Bessern zu haben, Verzicht darauf, sich von den Gottlosen abzuscheiden, Verzicht darauf, Bekehrungsversuche zu machen, weil sie in und mit dieser Frage selber endlich demütig wird, klein, arm, bloß, leer, nichts mehr ausspielen mag, nicht mehr das eigene Recht behauptet, tief ins Unrecht tritt, in die große Erschütterung aller Werte, alle Schuld auf sich nimmt und nur noch eines weiß: die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, nicht aus Werken, sondern aus Glauben allein. Damit gibt sie Gott seine Ehre wieder, damit sagt sie, damit bekennt sie Gott, und das ist die Frucht, die er an ihr sucht, und an der man sie erkennen soll. Und nun vergegenwärtigen wir uns noch einmal das ärgerliche, an- I stößige, aufreizende Reden von der proletarischen Seite her: Sie wollen und wollen dort nichts wissen von all dem guten Willen und treuen Meinen und rechtschaffenen Tun auf unserer Seite. Sie wollen nichts wissen von unserm Christentum, von unsrer Kirche, von unsrer Schule, von unsrer Moral und Weltanschauung, von unsrer Wohltätigkeit, von unsrer Gesellschaftsordnung, von unserm Staat, von unsern Völkerund Kirchenbünden, von unsrer Mission, am allerwenigsten von der auf sie gerichteten innern Mission. Sie stehen immer wieder mißtrauisch
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und ablehnend allem gegenüber, was auf unsrer Seite ins Werk gesetzt, aufgerollt und angetrieben wird. Nicht daß sie meinen, es sei nicht nötig, daß etwas, daß vieles geschehe, aber sie mißtrauen ständig den innern Voraussetzungen, von denen aus auf unsrer Seite alles geschieht - mit Ausnahmen, die es freilich auch gibt, und die noch jedes Mal jene Mauer von Mißtrauen auf der andern Seite durchbrachen, sich aber gerade dadurch auch als - Ausnahmen erwiesen! So steht es zwischen Sozialismus und Christentum, ja - aber dämmert uns nun nach unserer eben gemachten überlegung nicht die Ahnung auf, daß sie Recht haben könnten die auf der andern Seite, die Unversöhnlichen, seltsam Mißtrauischen zu unserer Linken, Recht haben in all ihrem Unrecht, mehr Recht, als sie selber wissen mit dieser steilen, unerfreulichen Ablehnung alles dessen, was wir sind und haben und wollen und tun? Mehr Recht, sage ich, als sie wissen, ganz sicher! - Aber kommt es denn darauf an, daß sie selber es wissen, wie Recht sie haben? Ist es nicht fast besser, sie wissen es nicht? Ist nicht gerade ihr unwissendes, großes Schreien voll Enttäuschung und voll Hunger und Verlangen nach etwas ganz und gar anderem, als unsere Ideologien und unsere Charaktere und Leistungen es sind und bieten, das Beste an ihnen? Ist nicht gerade von dem Augenblicke an, wo das Proletariat nur allzusehr des Rechtes, der Begründetheit seines Protestes gegen unsere ganze Kultur sich bewußt wurde, wo die Sozialisten ihrer eigenen Armut sich als eines Vorzuges zu rühmen begannen (" Wir Wilde sind doch bessre Menschen"), wo sie eine eigene, aus ihrer Lage heraus entwickelte Ideologie unserer Ideologie entgegenzuwerfen versuchten, wo sie auf dem nur allzu bekannten Schlachtgefilde, auf dem man recht und schlecht um politische und wirtschaftliche Vormacht miteinander ringt, mit ihrem Gegenüber in Wettbewerb zu treten unternahmen, wo sie also aus dem vielleicht sehr viel tiefern Gegensatz, der sie von der bürgerlich-christlichen Schicht trennte, einen nur wieder sehr relativen kulturellen und Klassenunterschied werden ließen, ist nicht in diesem Augenblick die eigentümliche Kraft von ihnen gewichen, die wir doch immer wieder empfinden, wo sie uns in unverfälschten, unreflektierten, von Nebenabsichten und politischen Machtberechnungen freien Protesten gegen das Weltunrecht, das Weltelend, die Weltnot, an deren brennendstern Punkte I sie stehen, vielleicht aus einfachstem, stammelndem Munde entgegentritt? Genügt es denn nicht, daß wir wissen, was sie besser nicht wissen; wissen um das freilich nicht menschliche, aber göttliche Recht, das in der Ablehnung unseres Chri-
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stentums durch die modeme Heidenschaft des Proletariats verborgen liegt?! Und: wäre nicht in demselben Momente, wo uns diese Einsicht aufdämmert, eine Brücke geschlagen über alle Gräben, eine Türe geöffnet durch alle Mauem, Brücken und Türen, über die hinweg, durch die hindurch wir uns sofort mit allen diesen Unversöhnlichen, Mißtrauischen, Ablehnenden verstehen und finden könnten? In was bestehen sie denn diese Gräben und Mauem, die uns von ihnen trennen? Bestehen sie nicht in dem, nur in dem, was wir im Unterschied zu ihnen sind und haben und tun, und was wir so gern, ach, so gern von ihnen endlich einmal anerkannt und gewürdigt sehen möchten? Wenn aber das, gerade das gar nicht mehr nötig ist? Wenn es gerade darauf nicht mehr ankommt? Wenn es auf etwas ganz und gar anderes ankommt, auf etwas, das wir, die Habenden, mit ihnen, den NichtHabenden, wahrhaftig nur gemeinsam haben können und müssen jenseits aller unserer wirklichen und eingebildeten Vorzüge, nämlich auf dieses Stehen in Erwartung eines letzten Urteiles allein, dieses Stehen im Gerichte Gottes, das, ob wir es wissen oder ob wir es nicht wissen, unsere einzige und letzte Möglichkeit und Wirklichkeit ist, und das sich noch niemals vollzogen hat, ohne daß es zugleich zu einem Harren und Seufzen nach einem im Gerichte hervorbrechenden göttlichen Erbarmen gekommen wäre. IV. Wenn doch das Christentum in jenen entscheidenden Tagen aus solcher, seiner eigenstenEinsicht heraus dem Sozialismus begegnet wäre! Wenn es erkannt hätte, daß der Proletarier in seiner ganzen Not und Armut, in seiner Gottlosigkeit, in seiner Ungeistigkeit eine Botschaft an uns, die Christenheit auszurichten hatte, daß da etwas zu sehen, zu merken, zu lernen war! Und zwar gerade das Eigentliche, das Wesentliche, das eine Zentrale, der ganze Sinn der in ihren Kirchen tausendmal ausgesprochenen Rechtfertigung aus Glauben, der ganze Sinn dessen, was in dem einfachen, auf aller Lippen und in aller Ohren liegenden Worte von der Vergebung der Sünden liegt! Aber dazu hätte es anderer, gründlicherer, aufrichtigerer Augen bedurft, als unsere christlichen Augen es im ganzen sind. Dazu hätte die ganze tiefe Verlegenheit, Chaotik und Schwäche, die hinter den so glänzenden Fassaden des 19. Jahrhunderts ja doch verborgen war, und in der Ratlosigkeit, mit der man der neuauftauchenden sozialen Frage
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gegenüberstand, nur besonders scharf zum Ausdruck kam, gerade von den Christen in übereinstimmung mit der sozialistischen Kritik restlos und radikal zugegeben werden müssen. I Aber dazu fühlte sich dieses Christentum nicht berufen, es war selber viel zu wenig innerlich bewegt von der verborgenen Not seiner Zeit. Das ist der Nachteil des Bevorzugten, daß er selten hinter die Fassaden sieht, auf den Grund einer Lage kommt, und das ist der Vorzug des Benachteiligten, die Stärke des Schwachen, daß er diese schärferen, gründlicheren Augen hat, die das können und müssen. Um dieser größeren Aufrichtigkeit willen preist Jesus die Armen, die Erniedrigten seiner Tage selig. Denn mit dieser Aufrichtigkeit steht man nahe der Stelle, wo es zu großen Einsichten kommen kann, zu der Einsicht in die letzten und tiefsten Gründe aller menschlichen Not und zu der Einsicht in die dieser Not gegenüberstehende, ihr einzig gewachsene göttliche Hilfe. Man wird sagen: Die Sozialisten des 19. Jahrhunderts sind aufs Ganze gesehen sicher auch nicht bis zu dieser Stelle, bis in die Tiefen dieser Einsichten vorgedrungen. Aber wer wagt es, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen? Wer trägt die Schuld dar an, daß aus der Problematik der sozialen Frage nicht der Geist einer neuen Reformation geboren wurde, die nichts anderes gewesen wäre als eine Neuentdeckung der alten Reformation? Wären nicht wir, wir Christen es gewesen, die zu dieser Auslösung berufen gewesen wären? Aber dazu hätten wir unsrerseits uns von den Sozialisten zuerst an den Punkt heranführen lassen müssen, wo es zu dieser tiefen und ganzen Anschauung und Empfindung der Not der Lage kommt und zum Hunger und Durst nach der Ganzheit und Völligkeit der göttlichen Antworten. Diesem Punkt standen sie zum mindesten nicht ferne. Die Nähe dieses merkwürdigen, kritischen Punktes ist geradezu der eigentliche, wesentliche Sinn ihrer ganzen, uns oft so rätselhaften geschichtlichen Haltung. Der Sozialismus lebt wahrhaftig nicht von den paar Antworten, die auch er allenfalls auf die wirtschaftlichen und kulturellen Fragen der Zeit zu geben hat, er lebt von der großen Frage nach einer ganz andern Antwort, als alle diese menschlichen Antworten, seine eigenen und die der bürgerlichen Welt, es sind. Von daher seine bekannten, viel beklagten Negativitäten, seine Ungeduld, sein Utopismus, seine radikalen Angriffe, sein ewiges Unbefriedigtsein. Von daher vor allem nun auch das uns so schmerzliche Rätsel seiner fast völligen Harthörigkeit gegenüber dem gewiß gutgemeinten Liebeswerben von unserer Seite. Die wirkliche Harthörigkeit aber lag bei der Christenheit jener Tage, die das Wort nicht verstand,
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das im Rätsel der Gottentfremdung und Kirchenferne des ihr gegenüberstehenden Proletariates zu ihr geredet war. Der Sinn dieses Wortes war der, daß sie, statt über die andern über sich selber zu Gerichte sitze. Und dieses Wort war ausgegangen von dem, zu dem sie sich ja bekannte, von Gott selber, der seiner Kirche die Not und Verlegenheit dieser Begegnung mit dem Sozialismus sicher nur bereitet hatte, damit sie in der Bedrängnis dieser Begegnung ihm wieder begegne. I Was wäre es z. B. gewesen, wenn die Christenheit damals, erschüttert durch die Mauer der Gottlosigkeit und die stets steigende innere mehr noch als äußere Not der proletarischen Massen auf die furchtbare Armut, Leere und Dürre der eigenen, der christlichen Verkündigung und Theologie aufmerksam geworden wäre! Wenn sie erkannt hätte, wie wenig vorwärtsführende, lösende Worte von ihr ausgingen. Die Sozialisten ihrerseits sahen im Grunde ja nicht wirklich hinein in die innere Armut der modernen Theologie freier und positiver Richtung. Sie sahen nicht, wie weithin Gott in dieser Theologie verraten war an den Gott dieser Welt, den Menschgott, den Gott, den wir begreifen, und von dem wir uns Bild und Gleichnis machen. Sie sahen nicht, wie hinter dem Respekt vor dem, was man "Wirklichkeit" und "Erfahrung" nannte, der Respekt vor Gott dem Souveränen, Freien, sein eigenes Werk Schaffenden, dem Schöpfer und Erlöser zurückgetreten war. Sie sahen nicht, wie hinter dem Respekt vor der "Wirklichkeit" in Wirklichkeit Respekt vor den sogenannten unumstößlichen Tatsachen dieser Welt, vor dem Gelde, dem Staate, der naturalistischen Wissenschaft stand. Sie sahen nicht, wie gänzlich die Christen den Sinn für das Eigene, das Wirksame, Dynamische, Kräftige in Gott, den Sinn für die Absolutheit des göttlichen Willens verloren hatten. Freilich, auch die Sozialisten ihrerseits wußten wenig oder nichts von Gericht und Heil Gottes, die beide so viel größer sind, als die Theologen es Wort haben wollten, aber sie sahen, empfanden, erlebten wenigstens etwas von der Größe der Not der Welt, die auch so viel umfassender war, als die damalige Christenheit ahnte, die statt mit den realen Mächten , der Sünde zu rechnen, es in der Nachfolge ihrer großen theologischen Führer immer nur mit dem Sündenbewußtsein zu tun hatte, und die statt auf die immer gewaltiger am Horizonte Europas aufsteigende Verfinsterung zu achten, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die sekundären Reflexe wandte, die von Licht und Schatten da draußen in den Seelen der Menschen sichtbar wurden. Unsere Kritiker in der Welt draußen wußten gar nicht, wie brüchig und zerfahren unser ganzes,
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fast rein auf eine aller sichern Wertmaßstäbe beraubten Psychologie und Historie gestelltes theologisches Denken (man lese hierüber immer wieder die sämtlichen scharfsinnigen Analysen des christlichen Zeitbewußtseins und des theologischen Denkens von Ernst Troeltsch!) am Ausgang des Jahrhunderts dastand. Aber wir, wir Christen und Theologen selber, wir hätten es merken und wissen können und sollen. Uns hätte es an dem rätselhaften Nicht-Verfangen und Versagen aller unserer Worte aufgehen können, den großen Nöten einer Kultur gegenüber, die sich eben in unheimlichem Laufe den Abgründen des aus ihr heraus geborenen Weltkrieges nahte. Warum hat uns das alles nicht ganz anders zu schaffen gemacht? Warum wurden wir so wenig be- I unruhigt, bedrängt und aufgeschreckt gerade durch die soziale Frage, die ja nur die Spitzenerscheinung der ganzen weltweiten Krisis war, in der wir uns schon mitten drin befanden, ohne es zu merken? Solch ein Aufwachen, Erschrecken, Bedrängtwerden, sich selber ins Gericht nehmen - das wäre die Buße der Kirche gewesen, wie sie die Stunde erheischte. Buße nicht vor den Sozialisten, Buße nicht vor Feuerbach oder Nietzsche oder irgendeinem andern der großen Mahner und Kritiker, die wie Sturmvögel dem kommenden Debacle vorauszogen, aber Buße, wie sie angesichts "des Feindes", des Mahners, des Kritikers, des Widersachers und Bedrängers in den Psalmen immer wieder geübt wird, Buße vor Gott, vor dem Gott, der uns auch den "Feind" erweckt, nicht damit wir uns über ihn erheben, sondern damit wir uns demütigen vor dem, der durch den "Feind" in der Demütigung sein Wort an uns richten will, wahrlich nicht zu unserm Schaden, sondern um uns unbegreiflicherweise gerade da, gerade in der Demütigung nach dem Worte des 23. Psalmes "einen Tisch zu bereiten im Angesicht unserer Feinde". Ich sage nicht, daß es niemals und nirgends zu dieser Buße der Kirche gekommen sei. Aber es ist bei weitem nicht genug geschehen. Sie ist nicht umfassend, nicht durchdringend, nicht rücksichtslos genug geschehen. Immerhin, hier ist die Stelle, wo zwei Namen genannt werden dürfen, der Name Christoph Blumhardts des Jüngern und Hermann Kutters als zweier Männer, die das Gebot der Stunde gehört und erfüllt haben. Sie waren beide mit aufgerüttelt durch die Stimme des Sozialismus. Man würde sie aber völlig mißverstehen, wenn man meinte, sie hätten nichts anderes im Sinne gehabt als eine Politisierung der Kirche vom Sozialismus oder umgekehrt eine Idealisierung des Sozialismus vom Christentum aus. Beides ist von sie mißverstehenden Nachfahren reichlich geschehen. Vielleicht ist das meiste dessen, was man
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unter religiös-sozialer Bewegung versteht, im Grunde diesem Mißverständnis entsprungen oder bei ihm gelandet. Ihnen selber lag solches ferne, so sehr sie auch oft daran zu streifen schienen .auf ihrem Wege. Ihr zentrales Anliegen war und ist kein anderes als diese Buße der Kirche, der Christenheit, das Aufmerken auf das auf hörende Ohren wartende lebendige Wort Gottes. Aber sie beide sind aufs Ganze gesehen, vor dem Kriege jedenfalls, einsam und unverstanden geblieben. Sie wurden überhört, und soweit sie gehört wurden, überschrien, ja, als Feinde der Kirche an den Pranger gestellt. Heute beginnt man einzusehen, daß gerade sie beide ein Ehrenzeichen des Christentums waren und noch sind. Hätte das Christentum durch die Einsicht in seine eigene Ohnmacht sich zur Buße rufen lassen, so hätte es vielleicht noch etwas weiteres gesehen, was seine Begegnung mit dem Sozialismus es lehren konnte. Der Sozialismus ist nicht nur der Schrei nach einer neuen Welt, die Sehnsucht und Hoffnung I darnach. Das mag als sein Wesen erkannt werden, aber in seiner geschichtlichen Entfaltung ist dies sein Wesen notwendigerweise als umfassende Gegenbewegung gegen die in der damaligen Kultur und Wirtschaft herrschenden Kräfte und Tendenzen in Erscheinung getreten. Der Sozialismus ist der einzige ernst zu nehmende Kritiker und Gegner des Mammonismus und des Militarismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er ist in diesem Sinne (um einen Ausdruck Siegmund Schulzes zu gebrauchen) vielleicht nicht ohne Recht selber die größte Kulturbewegung der neuem Zeit zu nennen 2 • Man kann nun freilich sofort hinweisen auf die völlige Ohnmacht, in der auch der Sozialismus schließlich der ausbrechenden Krisis gegenüberstand. Man kann vor allem mit Recht sagen, daß auch der Sozialismus selber in vollem Maße an der die Krisis verursachenden Krankheit der ganzen Kultur teilgenommen hat als eines ihrer wesentlichen Glieder. Er steht durchaus auf dem gleichen Boden wie seine 2 Diese Seite der Sache scheint auch für den sog. Kairoskreis um M ennicke und Tillich die wesentliche zu sein. Es geht dort, soweit zu erkennen ist, um die praktische und geistig-wissenschaftliche Begründung einer in den Wehen dieser Zeit von der alten christlich-bürgerlichen Welt sich lösenden sozialistischen Kultur ("sozialistisChe Lebensgestaltung") zu der auch - geradezu als ihr Mittelpunkt - eine neue Religiosität (und Theologie?) gehört. Die innere Gefahr eines solchen Unternehmens wird von Mennicke und Tillich stark empfunden, aber noch ist es auf keine Weise deutlich, wie sie dieser Gefahr entgehen wollen. Fast jedes ihrer Worte zeigt sie mitten drin und insofern auch schon bedroht von der unabwendbaren Krisis aller religiössozialen Bewegung bisher..
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Gegner, er teilt mit ihnen alle wesentlichen Voraussetzungen, vor allem die titanische Machteinstellung, die der wahre Keim des Verderbens der ganzen Kultur ist. Das sei alles zugegeben und mag dazu dienen, daß wir uns hüten, zum Schluß nun doch wieder die Kulturbedeutung des Sozialismus in irgend einem Sinne allzulaut auszurufen. Doch sollten wir auf dem Wege unserer bisherigen überlegungen davor geschützt sein. Wir wissen, das radikale Gericht, das über die Höhen der bürgerlich-christlichen Kultur ergeht, ergeht ebenso radikal auch über die allfälligen Höhen einer proletarisch-sozialistischen Kultur. Aber das darf und muß doch gesagt w~rden: Es steckt auch in dem freilich menschlich-titanischen und insofern schon, ehe er begonnen war, gerichteten Versuch der I Selbstbefreiung des Proletariates eine sehr wesentliche Erkenntnis, die in der Haltung des diesem Befreiungskampf mit verschränkten Armen zuschauenden Christentums jedenfalls nicht zu finden ist. Und zwar ist das darin enthalten, dessen sich das modeme Christentum besonders gerne - freilich in ganz anderem Sinne - rühmte: Erkenntnis der Wirklichkeit. Das ist so gemeint: Die proletarischen Freiheitskämpfer wissen vielleicht wenig oder nichts von Sünde und Sündenbewußtsein, aber dafür wissen sie um die reale Kraft und Gewalt, mit der der Herr dieser Welt, das Geld, über die Menschen herrscht. Sie erfahren sie am eigenen Leibe. Sie ist es, gegen die sie sich auflehnen. Gewiß nicht aus "letzten" Einsichten und mit "letztem" Rechte. Gewiß, ihr Kampf spielt sich durchaus auf der irdisch-weltlichen Ebene politischer Machtkämpfe ab, und das dabei aufgewendete Pathos ist so fragwürdig und zweideutig wie alles Pathos, das bei solchen Kämpfen hüben und drüben aufgewendet wird. Fern bleibe vor allem jede religiöse Verklärung. Die besten und einsichtigsten proletarischen Kämpfer haben übrigens eine solche auch nie verlangt, sondern im Gegenteil oft genug schroff abgewiesen. Die Biographie z. B. eines Bebe! aus älterer oder die im Gefängnis geschriebenen, erIn umgekehner Richtung scheint die Tendenz bei Ragaz und seinem Kreis zu verlaufen. Dort rückt unverkennbar die religiöse Frage in den Mittelpunkt, aber freilich in Gestalt einer Art von Messianismus, dem die ethischen und kulturellen Fragen in gefährlicher Verkürzung erscheinen, durch den ferner das bei Ragaz ja immer wieder mit starker Kraft hervorbrechende, an Carlyle erinnernde Ethos bedroht wird, und der jedenfalls (dies vor allem ist nicht zu übersehen!) mit der neutestamentlichen und der Blumhardtischen Hoffnung (trotz Ragazens starker Berufung auf beide) nicht einfach zusammenfällt, sondern stärker davon differiert als es zunächst scheinen mag. Doch seien damit die wesentlichen Anregungen, die wir Ragaz verdanken, nicht verneint, und im übrigen ist ja auch um ihn herum alles noch im Fluß.
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staunlichen Briefe einer Rosa Luxemburg aus neuerer Zeit zeichnen sich auch in dieser Hinsicht durch ihre, wenn man ihre menschliche Situation bedenkt, geradezu heroische Leidenschaftslosigkeit und Sachlichkeit aus. Aber den irdisch-menschlichen Charakter aller dieser Kämpfer und Kämpfe voll zugegeben: - hier wird jedenfalls wirklich gekämpft! Es sind nicht die Kräfte des Gottesreiches, es sind irdische Kräfte, aber es sind jedenfalls Kräfte, die aufgeboten werden und nicht nur - nun eben Stimmungen, Gefühle, Ideologien, Gesinnungsethik und Bekehrungspredigt, Karität und Trostreligion, wie sie das moderne Christentum in voller Verkennung der furchtbaren Wirklichkeit, die es rings umgab, und unter voller Verleugnung der eigenen reformatorischen, vor allem reformierten Vergangenheit einzig ins Feld zu stellen wußte. Die Arbeiterbewegung mit ihrem starken Drängen auf wirkliche Antworten, auf reale Lösungen, auf Antworten und Lösungen, die der wirklichen Not, der realen Bedrängnis entsprächen, sie hätte einem bußfertigen Christentum ein ungeheurer Hinweis und Anstoß werden können, sich zu besinnen auf den ebenfalls und noch in einem ganz andern Sinne realen, wirklichkeitsvollen, existenziellen Sinn seiner eigenen letzten Antworten und Wahrheiten. Das ganze Problem der Ethik und die damit eng, viel enger, als es das um diese seine eigenen Tiefen längst nicht mehr wissende Christentum ahnte, verbundene eschatologische Frage wäre von hier aus nicht nur als Kunstfrage theologischer Dialektik, sondern erzwungen durch die reale Dialektik des Lebens selber ganz neu aufgerollt worden. Es hätte sich da, um es I noch ein letztes Mal zu sagen, für das abendländische Christentum aus der sozialen Krisis eine noch ganz anders wesentliche innere Krisis entwickeln können und müssen, es wäre dieses Christentum in ein heißes, reales Ringen getrieben worden um den Sinn seiner tiefsten Gerichts- und Verheißungsworte, in ein ganz neues Lesen der Bibel, in ein lebendiges, aus der Gegenwartsnot herausgeborenes, nicht bloß gelehrtes und antiquarisches Verständnis seiner Reformation, in der es, wenn auch von ganz andern Ausgangspunkten aus um nichts anderes als auch um diese Frage der Erneuerung, der Wiedergeburt des ganzen Lebens gegangen war, in ein existentielles Beten und Schreien zu dem Gott, dem nicht nur der Himmel, sondern auch die Erde und was darinnen ist, gehört. Ein unauflösliches, aber völlig paradoxes Aufeinanderbezogensein von Himmel und Erde, Innerm und Kußerm, Zeitlichem und Ewigem, nichts anderes ist ja das Geheimnis der Offenbarung in Christus vom Wunder seiner Geburt bis zur leiblichen Auf-
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erstehung. Nie hätte ein sich selber verstehendes, von den Toten erwachendes Christentum es verfehlen dürfen, durch das Schreien und Rufen derer da draußen, auf dieses sein eigenes Anliegen, das tiefe Anliegen, den letzten Gehalt seiner eigenen Offenbarungs geschichte neu aufmerksam zu werden. Was hätte ein solches innerlich aufmerksames und bewegtes Christentum seiner Zeit sein und geben können! Es ist :zu keiner Stunde von der Kirche verlangt, daß sie Wirtschaftsprogramme und politische Reformvorschläge vorbringe und durchführe. Das besorgen die dazu Berufenen jeweilen zehnmal besser als sie. Aber das ist verlangt, daß sie ihre eigene Aufgabe ernst nehme. Ihre eigene Aufgabe aber ist: tief und ganz hineindringen in die reale Not des Lebens in ihrem vollen Umfang und nicht minder tief und ganz in die dieser Not antwortende göttliche Offenbarung und nicht ruhen, bis es zwischen diesen bei den Polen wieder zu blitzen beginnt, zu einem Rufen und zu einem Erhören kommt. Was sich dann daraus für die irdisch-menschliche Fläche des politisch-wirtschaftlichen Lebens in Staat und Gesellschaft ergeben wird, soll ihre erste Sorge nicht sein. Es genüge ihr, zu wissen, daß sich der Widerschein der dann wieder aufleuchtenden ewigen Worte auch auf dieser Ebene des irdischen Geschehens, in den "Ordnungen der Sünde" (Gogarten), unter denen sich ja unweigerlich auch die Kirche als Institution befindet, in Form neuer, anderer, besserer Gestaltung des Lebens zeigen wird. Es ist daran zu erinnern, daß in noch viel umfassenderer Weise als der Sozialismus auch die Reformation eine Kulturbewegung gewesen ist, ohne es primär sein zu wollen. Soviel ist sicher, daß in der Krisis einer solchen Selbstbesinnung der Kirche jene zahllosen nationalen und internatio- I nalen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen und religiösen Ideologien, die heute den Himmel des Abendlandes bedecken wie eine Dunstschicht, verbrannt würden wie mit einer feurigen Glut. Diese Ideologien sind der tiefere Grund, warum es auf keinem Gebiete des Lebens zur Gesundung kommt. Sie stehen auch zwischen den Völkern und verhindern die sachliche Bereinigung der Differenzen, indem sie (z. B. in Gestalt der Schuldfrage - das sieht Fr. W. Förster so gar nicht ein!) die Geister erhitzen. Überall dienen die Menschen den Götzen ihrer (oft sehr hohen, aber gerade darum nur umso gefährlicheren) Ideale und Programme. Darum fehlt es an jener tiefen besonnenen Sachlichkeit, die - um das nur anzudeuten - der Sinn des so unsagbar verzeihenden Lebensverständnisses in den Gleichnissen Jesu und wohl auch die letzte Absicht der säkularisierten Ethik der Reformatoren ist. Diese Sachlichkeit, oder
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sagen wir verdeutlichend diese "Furcht des Herrn" weiß, was Welt ist und hält sich darum frei von jeder Neigung zur Verabsolutierung alles bloß Relativen, Endlichen und Vergänglichen; sie weiß aber auch wer Gott ist und gibt darum den Kampf nicht auf ums Vollkommene, ums letzte Ziel, sondern führt ihn, aber nicht aus Ideologie - sondern in Hoffnung. Erwartet Jemand, daß ich zum Schluß noch hervorhebe, daß doch nicht nur das Christentum, sondern auch der Sozialismus des 19. Jahrhunderts seine Fehler gemacht habe? - Wo habe ich denn behauptet, daß er fehlerfrei gewesen sei und seinerseits nichts zu lernen gehabt hätte aus seiner Begegnung mit dem Christentum? - Wenn wir aber verstanden haben, um was es geht, dann wird sich das eben darin zeigen, daß wir alle Lust gänzlich verloren haben, nach den Sünden des Sozialismus zu fragen. Das ist geradezu der Prüfstein der Erkenntnis bis auf den heutigen Tag, daß wir die Frage nach den Sünden des Proletariates uns gegenüber gar nicht mehr aufwerfen, weil wir mit der eigenen Versäumnis und Verfehlung genug und übergenug zu tun haben, weil wir das eine sehen, daß die ganze Begegnung anders ausgelaufen wäre, wenn das Christentum seine eigene Lage besser verstanden hätte. Auch der Sozialismus wäre dann ein anderer geworden, als er es geworden ist. Aber die Würfel sind gefallen, das Proletariat ist an der Kirche vorübergegangen, und keine nachträglichen Bemühungen, keine Volksmission oder dergleichen witd etwas daran ändern, sofern diese Bemühungen, soweit zu sehen ist, alle unternommen werden, ohne daß zuerst und vor allem eine grundsätzliche Neubesinnung über die eigenen inneren Voraussetzungen erfolgt ist. Sollte man mir aber vorwerfen, daß ich zu scharf geredet habe nach der Seite der Kirche, so habe ich zu sagen, daß heute gerade die Verantwortlichkeit für die Kirche nicht anders als in der Strenge und Schärfe einer solchen Selbstbesinnung sich äußern kann. Wenn etwas, so tut das not, und wir wissen, warum wir nicht aus der Kirche austreten.
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Wir Theologen können bei unserer Beschäftigung mit den Schriften der Bibel immer aufs neue eine merkwürdige Erfahrung machen. Ich will sie an dem mir persönlich am nächsten liegenden Beispiel beschreiben. Wir sind Pfarrer und haben eben eine Predigt gehalten. Irgend eine Stelle des Alten oder Neuen Testamentes hat im Mittelpunkt gestanden. Und es sei angenommen, wir haben wirklich nichts anderes versucht, als unsern Text nach allen Regeln der Kunst anzuwenden und auszulegen. Es ist durch genaue Vorbereitung und durch hingebende und gesammelte Vermittlung ·an die Gemeinde alles geschehen, was geschehen kann, um das Gelingen zu sichern. Und von außen und nicht nur von außen gesehen ist auch alles aufs beste gelungen. Ich erspare mir die nähere Beschreibung. Und doch - ist das Unternehmen wirklich gelungen? Wem von uns fiele es nicht schwer, auch nach bestverlaufener Predigt auf diese Frage mit einem runden: Ja, sie ist gelungen! zu antworten? Auch Pfarrer, die sonst nicht an Hemmungen leiden, werden sich besinnen, das zu tun. Und zwar nicht nur deshalb, weil es schließlich keinerlei Werk auf Erden gibt, das nach Vollendung seinen Meister nur loben würde. Sondern wir Theologen kennen ein Gefühl des Unbehagens, ja, mehr: ein Zittern und Zagen, das uns gerade nach ganz guten Vorträgen, Vorlesungen oder Predigten befallen kann, und das mit der selbstverständlichen Gebrechlichkeit aller irdischen Dinge nichts zu tun hat. Kein Zweifel, auch diese gibt uns zu denken und zu tragen, wie wollte es anders sein! Doch darüber könnten wir uns jederzeit beruhigen mit dem Troste aller rechtschaffenen Arbeiter: Ich habe getan, was ich konnte. Hier aber ist etwas anderes gemeint. Wir haben getan, was wir konnten, und sind doch unserem eigentlichen Auftrage gegenüber nicht nur viertel- oder halb-, sondern ganz und gar und jedesmal und immer unnütze Knechte geblieben. Unser Auftrag war, den Text zum Reden zu bringen, aber eben - was will das heißen diesem Texte gegen- I über? Es steckte und steckt da hinter seinen Buchstaben, hinter allen Buchstaben aller Texte, die wir aus der vor uns aufgeschlagenen Bibel entnehmen mögen, in, sub et cum literis möchte man in keineswegs zufälliger Anlehnung an eine berühmte Formel sagen, ein geheimnisvolles, strenges, herrisches Etwas, an das
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wir trotz aller Mühe, die wir aufwandten, nicht herangekommen sind. Und doch ist es gerade dieses unergründlich freie Etwas, dieses wesentliche Geheimnis unseres wie jedes Textes, das aufzudecken und ans Licht zu bringen, unsere Aufgabe gewesen wäre. Denn es ist das eigentliche Objekt, um das es sich hätte handeln sollen, das Thema, um deswillen es einzig und allein einen Sinn hat, von diesem Konglomerat von Schriften, die die Bibel bilden, als von einer Einheit zu reden, um deswillen es also überhaupt eine Bibel gibt, an die wir als christliche Theologen gebunden sind. Wir bleiben unsern Zuhörern das Beste schuldig, wenn wir ihnen dieses Eine schuldig bleiben, und stehen doch immer neu unter dem Eindruck, daß wir es ihnen, jedenfalls von uns aus, schuldig bleiben müssen, weil diesem Objekt gegenüber mit keiner Kunst und Kraft der Auslegung oder Darbietung jemals etwas auszurichten ist. Sollte es aber dennoch geschehen, daß wir ihm nahekommen, daß wir und mit uns unsere Hörer es zu Gesichte bekommen, "es", das eigentlich Gemeinte und Gesuchte, so sind jedenfalls nicht wir es gewesen, denen das gelungen ist, sondern es hat sich ohne unser Verdienst an uns ereignet, es ist uns unbegreiflicherweise gegeben worden, was wir uns nicht nehmen konnten; aber wie wollten wir mit dem Hochgefühl eigener Tat darauf zurückblicken! Es ist die Erfahrung des Pfarrers, die ich da wiedergegeben habe. Aber sie tritt so oder so überall da auf, wo man sich mit der Bibel ernsthaft beschäftigt. Sie kann auch den theologischen Dozenten befallen. Wehe ihm und seiner Auslegung, wenn sie ihn nicht befällt! Sie ist verborgen in dem Unbehagen des Studenten ob der seltsamen Unergiebigkeit so mancher Kommentare (und wahrlich nicht etwa nur der historisch kritischen!), bei denen er sich Rats erholen möchte. Sie steckt natürlich auch in dem stillen Seufzer des einfachen Bibellesers, der trotz redlichen Bemühens mit der von ihm gelesenen Bibel so wenig anzufangen weiß und darum auch den allerlei Charlatanen und Ersatzkünstlern der Bibelforschung so leicht in die Netze gerät. Warum ich überhaupt von dieser Erfahrung rede? Weil sie nichts anderes ist als der in unserem eigenen Erleben auftretende Reflex des Problems, über das wir jetzt miteinander nachdenken möchten. Schrift und Offenbarung, wenn die Verbindung dieser beiden Begriffe nicht nur eine rein äußerliche ist, wenn sie vielmehr, I nur schon historisch betrachtet, jemals einen Sinn gehabt hat und ihn vielleicht heute noch hat, so kann es kein anderer sein als eben dieses von uns, auch ohne daß wir darüber in tieferes Nachdenken gekommen zu sein brau-
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chen, längst schon Empfundene, daß es sich in der Bibel, ganz allgemein ausgedrückt, um ein außerordentliches Thema handelt, um ein Thema, dessen Außerordentlichkeit darin besteht, daß es in einem allen menschlichen Erkenntnismitteln entzogenen Jenseits der Erkenntnis liegt. Sollte es wider Erwarten dazu kommen, daß wir von diesem unserer Erkenntnis entzogenen Objekt der Bibel doch etwas wissen, so kann dies auf keine andere Weise geschehen, als daß dieses Objekt, da wir nicht zu ihm kommen können, zu uns komme, daß es seine Jenseitigkeit und Ferne aufgibt und uns nahetritt und, indem es das tut, in uns zugleich das neue Sehen schafft, dem dieses Unsichtbare und Verborgene einzig sichtbar werden kann, das heißt aber auf keine andere Weise als eben: durch Offenbarung. Wir verdeutlichen uns diese Aussage noch etwas näher, ohne vorerst auf die Frage nach ihrem Rechte einzugehen. Der Begriff Offenbarung bedeutet nach ihr zunächst also ein Doppeltes: Er bezeichnet einmal die gänzliche Ferne, die Entlegenheit und Verborgenheit des Inhaltes, um den es sich in den Schriften handelt, die sich auf Offenbarung beziehen. Für unser Forschen und Erkennen heißt das, daß wir zunächst immer nur das sehen und verstehen werden, was die betreffenden Schriften wesentlich nicht sagen wollen. Ihr eigentlicher, ihr zentraler Inhalt liegt in exklusivstem Sinne außerhalb der Welt menschlichen Erkennens und menschlichen Seins. Es bedeutet aber dieser Begriff zweitens zugleich, daß dieses Verborgene, Entlegene, Ferne nicht verborgen, fern, entlegen bleiben will, sondern eintreten möchte in diese Welt des menschlichen Erkennens und Seins. Aber freilich, wie soll es das, wenn es dabei doch bleiben will, was es ist, das Nichtmenschliche, von uns nicht auszudenkende und nicht zu erzeugende Andere, das es ist? Hier klafft ein Graben, der nur durch einen dritten, allerdings außerordentlichen Gedanken überbrückt werden kann. Dieser dritte, den Offenbarungsbegriff erst vollendende Gedanke ist es, der diesem Begriff den erstaunlichen, fast wäre zu sagen verwegenen Sinn gibt, der ihm eignet. Das verborgene, jenseitige "Objekt" muß, um zur Mitteilung zu gelangen, zum "Subjekt" werden, das sich selber mitteilt. Aber mitteilt - wem? Der menschlichen Erkenntnis, die doch gar nicht fähig ist, von dem etwas zu wissen, was über alle Begriffe hinausliegen soll? Von einem unendlichen Endlichen also, einem "Objekt", das gleichzeitig, im strengsten Sinne gleich- I zeitig, "Subjekt" ist, von dem nie und nirgends Gegebenen als vom jetzt und hier Gegebenen? Und nun soll sie dennoch dessen fähig werden, gerade dessen fähig werden?
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Finitum capax infiniti? Ja, eben das wird hier verkündigt. Das sind wir zu denken genötigt, wenn wir dem Begriff der Offenbarung gerecht werden wollen. Wir sind zu denken genötigt, daß im selben einen Akt der Selbstmitteilung dieses Inhalts auch unsere Erkenntnis in eine totale Krisis hineingeführt und in dieser Krisis umgeschaffen wird zu einer neuen Erkenntnis, die erkennt, was wir vor dieser Krisis und abgesehen von ihr nicht erkennen könnten. Offenbarung heißt: dieser Inhalt schafft sich selber, indem er sich mitteilt, die Ohren, die ihn einzig hören, die Augen, die ihn einzig sehen können 1• Die allerletzte, den Kreis schließende Bestimmung aber ist diese: daß mit alle dem nichts anderes dargeste~lt ist als der Inhalt der Bibel. Offenbarung bezieht sich auf Schrift, und es ist ein wesentliches Merkmal, das zum Offenbarungsbegriff gehört, daß er nur in der Korrelation zur Schrift überhaupt einen Sinn hat. Es ist der modernen Religionsphilosophie vorbehalten geblieben, den Begriff aus dieser Korrelation zu lösen, ihn als absoluten Begriff zu verwenden, jedenfalls diese Korrelation ihrer Exklusivität zu entkleiden. Die Dinge liegen geradezu so, daß Religionsphilosophie überhaupt erst möglich wird durch die grundsätzliche Lockerung dieser grundsätzlich gemeinten Korrelation von Offenbarung und Schrift. Vielleicht ist die Zeit nicht mehr ferne, wo man auf Seiten einer ihres Themas wieder sicheren Theologie erkennt, was für ein vernichtendes Verdikt über das religionsphilosophische Unternehmen als solches in dieser Feststellung liegt. Die innere Katastrophe der modernen Religionsphilosophie, die von ihren Anfängen bei Schleiermacher über Richard Rothe bis zu PReiderer und Troeltsch hin immer aufs neue entweder in eine Mythologie oder in bloße Religionspsychologie auslief, auslaufen mußte, könnte an sich schon genügen, uns die Augen darüber zu öffnen, was wahrhaft besonnene kritische Philosophie seit den Tagen Kants (und ich füge bei: was auch besonnene Theologie, es sei hier dankbar an Wilhelm Herrmann erinnert!) immer schon gewußt hat, daß Religionsphilosophie nur die Auflösung der Religion und damit die Selbstaufhebung der religionsphilosophischen Fragestellung bedeuten kann. Diese Einsicht scheint heute im Wachsen zu sein auch unter den I Theologen. Es ist merkwürdig still geworden um die noch vor wenig Jahren so lebhaft ver1 Es wird ohne weiteres der innere Zusammenhang klar sein, in dem diese Begriffsbestimmung zur Frage: Cur deus homo? und zu ihrer Antwort in der reformatorischen Rechtfertigungslehre steht. Denkt man daran, so bekommt diese nur smeinbar formale Bestimmung ihren wirklichen Gehalt.
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handelte Meisterfrage nach dem religiösen Apriori und seiner Begründung. Es soll auch wieder häufiger theologische Systematiker geben, die ihrer Dogmatik I keine Religionsphilosophie mehr vorausschicken, und die wissen, warum sie das unterlassen. Sollte das als Anzeichen dafür gedeutet werden dürfen, daß langsam die Bahn wieder frei wird für eine neue, wesenhafte Erfassung des Offenbarungsbegriffs? Wesenhaft ist er dann erfaßt, wenn die alte reformatorische Korrelation von Offenbarung und Schrift wieder in ihre Rechte gesetzt wird. Denn der Satz, daß Offenbarung sich auf Schrift bezieht, ist die denkbar schärfste Sicherung gegen alles Abirren in den grundsätzlichen Abweg der modernen religionsphilosophischen Fragestellung. Er will besagen, daß wir die kühnen, unerhörten Gedanken, die wir vorhin bei der Entfaltung der innern Dialektik des Offenbarungs begriffes gedacht haben, nicht aus Willkürgedacht haben. Es sind keine freischwebenden Spekulationen, sondern sie beziehen sich wie aUe echten Gedanken auf ein Objekt, das durch sie bestimmt wird. Und dieses Objekt ist eben der Gehalt aller wesentlichen Aussagen der in der Bibel zusammengefaßten Schriften. Wir denken den Gedanken der Offenbarung, weil wir ihn denken müssen, eben um jenen Aussagen gerecht zu werden. Wie der Geometer, wenn er ein schwieriges Gelände vermessen will, das Netz seiner Bestimmungslinien kompliziert und engmaschig legen muß, um all den Geländefalten gerecht zu werden, so sind wir gezwungen, angesichts dessen, was wir in den Texten vorfinden, die in ihrer Gesamtheit die Bibel bilden, diesen Gedanken der Offenbarung zu denken. Oder wie will man, um Beispiele zu nennen, die Abrahamsgeschichte (ob sie nun Mythus oder wirkliche Geschichte sei) verstehen, oder die Berufung des Mose, oder den Sinn der sogenannten Visionen des Jesaja und Jeremia, um von allem andern im Alten Testament zu schweigen? Wie will man erst die Mitte der Bibel, Jesus Christus, und wie will man den Widerhall, den diese Mitte in den Briefen des Paulus gefunden hat, wie will man das alles verstehen, nicht nur psychologisch und genetisch analysieren, ohne den Gedanken der Offenbarung zu denken, so wie wir ihn eben bestimmt haben? Ist er denn überhaupt etwas anderes als ganz einfach der Versuch, das zu umschreiben, was der Inhalt dieser und aller verwandten Stellen und ihres gesamten Kontextes ist? Der Versuch, die unerhörte Linie nachzuzeichnen, die für den, der zu sehen vermag, in diesen Stellen sichtbar wird? Wir verdeutlichen uns das noch etwas näher. Diese Texte reden aufs einfachste und allgemeinste ausgedrückt - alle von Gott und vom I
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Glauben an Gott, von der Berührung und Ergreifung der zeitlich irdischen Existenz des Menschen durch das Jenseits aller Zeit. Ich meine damit nichts anderes als eine schlichte historische Feststellung zu machen. Hier scheiden sich unsere Wege nicht von den Wegen aller ernsthaften Exegeten. Aber nun kann man sich freilich mit dieser Feststellung begnügen. Es ist nicht gesagt, daß man sich weiter darum interessieren muß, wie denn nun hier von Gott geredet wird, was der eigentliche Sinn des also Festgestellten sei. Gibt es nicht mehr als genug anderes daneben und darum herum, was das Interesse fesseln und beschäftigen kann? Z. B. die Frage nach der Entstehungsgeschichte der Texte, in denen sich diese Feststellung machen ließ? Oder die Frage nach der literarischen und kulturellen Beziehung, in der diese Texte untereinander und zu ihrer Umwelt stehen. Oder die Frage nach der Biographie, vor allem der Frömmigkeit ihrer Verfasser und Bearbeiter. Die Theologie der letzten Jahrzehnte hat diesen Fragen allen ein reiches, man kann finden überreiches Interesse gewidmet. Es liegt mir ferne, sie deswegen zu tadeln. Es liegt mir noch ferner, irgend eines der Resultate, auf die sie dabei gekommen ist, sofern es ein wirkliches Resultat ist, zu bestreiten. Wir wollen und werden uns niemals weigern, der Pentateuchkritik aufmerksam zuzuhören, wir verstehen das Interesse an der synoptischen Frage und wissen um den Wert ihrer Einsichten. Wir erschrecken auch nicht vor der Möglichkeit, daß das Mosaik oder Splitterwerk, in das die allerneueste Forschung die neutestamentliche synoptische überlieferung auflöst (ich denke an Rud. Bultmanns scharfsinnige Untersuchungen zur Geschichte der synoptischen Tradition), in ihrer Sphäre zu Rechte bestehen sollte. Aber das kann man nicht von uns verlangen, daß wir ob all diesen Fragen nach dem Wie der Komposition und der religionsgeschichtlichen Herkunft des Vorstellungsmaterials dieser Texte die Frage nach dem Was dessen, das in diesen Texten gesagt wird, vergessen. Will überhaupt etwas darin gesagt werden? Die Einheit ihrer Entstehung ist gründlich zerschlagen, aber was hält sie dennoch zusammen? Steigen diese Fragen auf, begnügt man sich nicht mit der bloßen stillschweigend vorausgesetzten Tatsache, daß es in den biblischen Texten "irgendwie" um Gott geht, und mit den im übrigen lehrreichen Mitteilungen, wie die Aussagen dieser Texte eingebettet erscheinen in das große Geschiebe der zeitgenössischen religiösenStrömung und Literatur, möchte man eben dieses dunkle "irgendwie" erhellen, mit dem es gerade diesen Autoren im Unterschied zu andem um ihr Thema ging, so sehe ich nicht, wie man darum herum-
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kommen will, den Gedanken der Offenbarung sehr ernst zu nehmen. Denn I eben dieser Gedanke ist hier, wenn nicht alles trügt, gedacht worden. Es ist der letzte Sinn, unter dem alle wesentlichen Aussagen der biblischen Autoren stehen. Sie alle beziehen sich, so verschieden sie nach Herkunft und Vorstellungsmaterial sein mögen, auf Offenbarung. Der äußere Hinweis auf diese einheitliche Beziehung ist der Kanon, von dem noch zu reden sein wird. Das allerdings nur negative innere Kriterium: daß es, wie von Fall zu Fall an den Texten zu erweisen wäre (einige Andeutungen darüber werden noch zu machen sein), schlechterdings keine andere zureichende Voraussetzung gibt, unter der gerade die zentralsten Aussagen dieser Schriftsteller einen Sinn bekommen, außer dieser einen, daß sie sich auf Offenbarung beziehen. Damit ist allerdings noch nichts gesagt über die Wahrheit und Gültigkeit des Offenbarungsbegriffs. Es bleibt uns gänzlich unbenommen auch diesen Begriff in dem spezifischen Sinne, in dem er hier auftritt, nur unter dem Gesichtspunkt der religionsgeschichtlichen Kuriosität zu würdigen, ihn also für uns nicht in Kraft zu setzen. Diese Möglichkeit ist als Möglichkeit sogar im Begriff der Offenbarung selber enthalten. Offenbarung besagt ja, daß sie ein nach Form und Inhalt dem menschlichen Erkennen Unzugängliches sei, eben ein fremdes, unbegreifliches Kuriosum. Offenbarung besagt, daß, wenn die Wahrheit und Gültigkeit dessen, was sie sagt, überhaupt erkannt und bejaht wird, wenn also Glaube an die Offenbarung entsteht, dies nicht ein Akt menschlichen Erkennens sei, sondern eben jener unbegreifliche Akt der Selbstmitteilung ihres Inhaltes, wovon wir geredet haben. II.
Wir halten bei der bisher gewonnenen Einsicht einen Augenblick inne und erinnern uns noch einmal an das Gefühl tiefen Unbefriedigtseins, von dem wir ausgingen, und das uns etwa nach einer Predigt befallen kann, und das seinen Grund darin hat, daß der Prediger dem eigentlichen Thema seines Textes nicht nahegekommen ist. Wir haben festgestellt: er konnte ihm nicht beikommen, und wir verstehen nun vielleicht den Grund dieses Nichtkönnens etwas besser. Es dürfte vielleicht - müssen wir nun sagen - freilich nur in einem höchst übertragenen Sinne, von einem dem Texte Beigekommensein dann geredet
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werden, wenn das Schriftwort, statt daß wir es be-handeln, anfinge, während wir es behandeln, gewaltig an uns zu handeln. Wenn es anfinge - noch einmal sei es gesagt -, in, mit und unter unserm Worte selber das Wort zu nehmen, so daß wir, während wir reden, redend seine Hörer würden und mit Luther (fast etwas allzu kühn 2) I sagen könnten: "also bin ich gewiß, daß wenn ich auf die Cathedra trete und will predigen oder lesen, daß es nicht mein Wort ist, sondern meine Zunge ist ein Griffel eines guten Schreibers" (EA 57, S. 39). Und Calvin, der dieses Geheimnis vom zum Subjekt werdenden Objekt des Schriftwortes besonders tief verstanden und bewundernswert ausgesprochen hat, sagt: "itaque summa scripturae probatio passim a deo loquentis persona sumitur" (Instit. I 7, 4), d. h. die eigentliche Bewährung der Schrift liegt immer wieder darin, daß es Gott selber ist, der da redet. Und im selben Kapitel, nachdem er eben erwogen hat, inwieweit die göttliche Wahrheit und Gültigkeit des Schriftwortes sich nicht auch durch rationale Beweisführung erhärten lasse, fällt das Wort: "Deus solus de se idoneus testis est in suo sermone", d. h. Gott selber ist allein der, der vollgültig von sich zeugen kann in seinem Worte. Und um noch ein drittes Wort anzuführen: an berühmter Stelle der Institutio sagt Calvin: "Vom Himmel her kommt die Schrift, und das ist die Frage, ob man in ihr die lebendige Stimme Gottes selber vernimmt", "si vivae ipsae dei voces illic exaudirentur" (Instit. I/7, 1). Stärker kann man nicht mehr hinweisen auf jenes verborgene, jenseitige Objekt in der Bibel. - Muß ich noch ausdrücklich darauf hinweisen, daß wir mit diesen überlegungen und Feststellungen nirgendwo anders hingelangt sind als zur berühmten, oder muß ich sagen berüchtigten Lehre von der Inspiration der Schrift durch den Heiligen Geist, wie sie die Reformation ausgebildet hat. Sie stellt die systematische Verarbeitung der Einsichten dar, die wir soeben in großen Zügen entwickelt haben. Der deus ipse loquens, von dem in dem Calvinzitat die Rede war, das ist, in der Sprache dieser Lehre ausgedrückt, die dritte Person der Trinität, der Heilige Geist. Heiliger Geist heißt Gott dann und da, wo er aus dem Objekt zum an uns handelnden, zu uns redenden Subjekt wird. Und nur da, wo dies geschieht, wo man wirklich seine 2 Luther braucht diese Worte in einer Auseinandersetzung mit Bullinger, um entgegen der vorsichtigeren reformierten Auffassung die volle Identität des Menschenwortes mit Gottes Wort zu behaupten. Vgl. aber zum Ganzen der Lutherischen Inspirationsauffassung: Karl Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegekunst in Ges. Aufsätze I.
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Stimme in seinem Worte vernimmt, hat man das vernommen, was die Bibel eigentlich sagen will. »Sine spiritus sancti illuminatione verbo nihil agitur", sagt wieder Calvin (111/2, 33), d. h. wo es nicht zur Erleuchtung durch den Heiligen Geist kommt, hat das Wort nichts gewirkt. Nichts - sagt Calvin, und das bedeutet: es hängt schlechthin alles an diesem einen. Sollte es sein, daß sich dieser Akt der Selbstmitteilung des Göttlichen nicht vollzieht, so bleibt das Schriftwort vollkommen dunkel, auch wenn die geistvollste Exegese oder Predigt darüber gehalten worden wäre. I Es sei zu dieser Lehre noch eine Bemerkung gemacht. Wir sind durch eine falsche theologische Schulung gewöhnt worden, in ihr die Hochburg jenes Glaubenszwanges zu sehen, durch den wir gegen alles subjektive Urteil und Empfinden genötigt werden sollen, ein starres, objektives, fern von uns und außer uns sich ereignendes Wunderwirken Gottes für wahr zu halten, nur darum, weil es im Texte der Bibel sich aufgezeichnet findet. Wir meinen: die Inspirationslehre sei dazu da, um uns alle Möglichkeit zu nehmen, durch den Hinweis, daß eben auch die Bibel sich geirrt haben könnte, diesem Glaubenszwange auszuweichen, um uns vielmehr bis ins einzelne an Text und Buchstaben der Schrift zu binden. Das mag für die Inspirationslehre der spätern Orthodoxie gelten, dazu mögen auch die Reformatoren einigen Anlaß gegeben haben, aber im Grunde ist es ein großes Mißverständnis ihrer ursprünglichen Intentionen. Nicht um den Glaubenszwang eines papierenen Papstes aufzurichten, sondern im Gegenteil, um jeden auch den feinsten Glaubenszwang unmöglich zu machen, redeten sie von der Inspiration der Schrift und meinten damit die Begründung des Schriftsinnes im (objektiven) Geiste Gottes, der aber, sofern er zu uns redet, als solcher zugleich auch das innere Zeugnis ist, das dem (subjektiven) menschlichen Verstand und Herz zur Erleuchtung dient. Der Geist ist sozusagen die Klammer der Erkenntnis, innerhalb derer sich Subjekt und Objekt begegnen. Es gibt allerdings kein hörendes Ohr ohne die redende göttliche Stimme; das Objektive Gottes ist das Primäre; aber es kann ebensowenig von einem göttlichen Objekt die Rede sein ohne ein darauf bezogenes menschliches Subjekt. Um diese Beziehung von Objekt zu Subjekt geht es geradezu in der Inspirationslehre, d. h. also um die Konstituierung wirklicher Gotteserkenntnis. »Non in ignoratione, sed in cognitione sita est fides", sagt Calvin (111/2, 2): Eben weil die Reformatoren von einem außer uns und fern von uns thronenden Gotte an sich nichts wissen wollten, eben um diesen Götzengott zu
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stürzen, haben sie die Inspirationslehre ausgebildet. Die von uns vermißte Subjektivität kommt gerade hier zu ihrem Rechte. Gott und das Göttliche sollen nicht länger aufgefaßt werden können als ein Etwas, das ~ns in starrer, unnahbarer Objektivität gegenübersteht, sondern das menschliche Subjekt ist, sofern wirklich von Gott die Rede ist, aufs stärkste beteiligt. Es wäre nicht etwa die Heilighaltung Gottes, an der Calvin so viel lag, wenn es sich anders verhielte, sondern im Gegenteil die furchtbarste Verdinglichung und Vermenschlichung Gottes. So wehrt sich denn Calvin geradezu einmal dagegen, daß Gott auch nur das Objekt des Glaubens genannt werde (IlI/2, 1). Und an I anderer Stelle sagt er: "Solange wir uns Christus vorstellen, wie er außer und ferne von uns ist, extra nos, adeoque procul a nobis, solange bleibt er für uns wie ein toter Besitz liegen" (IIl/1, 3). Allerdings enthält die Schrift objektive Wahrheit, oder wie Calvin sich ausdrückt, "himmlische" Wahrheit, aber diese Wahrheit muß subjektiv werden, d. h. sie muß zu uns reden. Freilich - dies als Warnung an solche, die etwa meinen, mit der hier betonten Subjektivität irgendwie in die Nähe psychologischer Bestimmungen gekommen zu sein - sofern sich das ereignet, sofern Gott in seinem Worte mit mir redet, bin ich nicht mehr der alte, sondern der neue Mensch, den Gott durch diesen Akt des Mit-mir-Redens schafft. Nicht mein, des Menschen eigener Geist, vernimmt die Stimme des Geistes Gottes. Gott kann nur durch Gott verstanden werden. Es ist hier nicht die Rede vom "innern Licht" oder vom "Erleben Gottes", vom Numinosen oder Irrationalen, sondern von Offenbarung und von Glaube an Offenbarung.
III. Wir fassen den Sinn dieser Lehre, so wie wir sie uns nun verdeutlicht haben, dahin zusammen, daß die Wahrheit über Gott nur durch Gott selber mitgeteilt und verstanden werden kann. Sie liegt also ausschließlich in seinem eigenen Worte. Anders ausgedrückt: Soll wirklich von Gott die Rede sein, so muß Gott selber reden. Denn mit diesem Worte "Gott", wenn es ernst genommen werden soll, ist ein Erstes und Letztes gemeint, etwas, hinter das man nicht mehr zurückgehen kann. Nicht eine Wahrheit, die selber wieder in andern Wahrheiten ihre Begründung findet, sondern das alle Wahrheit selber Begründende; Kar! Barth
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hat darauf aufmerksam gemacht3 , daß diese Gotteserkenntnis nichts zu tun habe mit der Selbstevidenz letzter Vernunfterkenntnis. Man mag diese vielberufene Selbstevidenz axiomatischer Sätze allenfalls als vergleichende Analogie gelten lassen, aber man darf was hier gemeint ist nicht damit verwechseln. Denn bei der Selbstevidenz solcher Axiome ist zum mindesten die Organisation eines Systems der Vernunft selber vorausgesetzt. Diese ist hier zwar nicht aufgehoben, aber es ist charakteristischerweise davon abgesehen. Eben nicht die Gegebenheit einer menschlichen Ratio, sondern Offenbarung ist hier vorausgesetzt. Das bedeutet, daß zugleich mit der Wahrheit, die hier erkannt wird, auch das Erkennen selber geschaffen wird, ohne das diese Wahrheit nie zu erkennen wäre. Erkennen und Erkanntes sind hier ein und dasselbe. "In deinem Lichte sehen wir das I Licht." Philosophisch ausgedrückt: Offenbarung tritt hier auf als grundsätzlichster Grenzbegriff, an dem die Vernunft selber zum Problem wird. Den menschlichen Rationes steht die Ratio Gottes in exklusiver Weise gegenüber. Es werden keine selbstevidenten Vernunftsätze aufgestellt, sondern von Gott ist hier die Rede. Wie soll, wie kann anders von ihm geredet werden als in der vollen Paradoxie einer reinen Behauptung, daß hier von dem ge. redet werde, der vor und über aller Vernunft stehe 4 ? Gott wird hier wirklich als Gott erklärt, als der absolut Freie, Souveräne, jenseits und über allen menschlichen Korrelationen Stehende, auch dann jenseits und über diesen Korrelationen stehend, wenn es ihm in unbegreiflichem Willensentschlusse wohlgefällt, in diese Korrelationen einzutreten, d. h. sich zu offenbaren, sich von uns erkennen und benennen zu lassen. Auch dann gilt, ja gerade dann gilt der Satz: Gott redet nur in seinem eigenen Worte von sich selber. Die Wahrheit über Gott liegt allein im Worte Gottes. Vielleicht sind wir diesem Gedankengange, gezwungen durch die ihm innewohnende Konsequenz, bis hieher, wenn auch zögernd, geIn "Reformierte Lehre", Heft V, S. 23 dieser Zeitschrift. Es sei hier noch einmal ein Calvinwort angeführt: "quod mens nostra fide complectitur modis omnibus infinitum est et genus hoc cognitionis omni intelligentia sublimius est" (lU 2, 14). Solche Formulierungen sind nicht etwa als metaphysische Spekulationen zu verstehen, sondern als kritische Grenzbestimmungen. Calvin ist sich bewußt, daß er das Unmögliche aussagt, wenn er vom Glauben und vom Inhalt des Glaubens redet. Eben dieses Bewußtsein, das doch wohl der eigentliche Sinn des Problems von Vernunft und Offenbarung ist, bringt er hier zum Ausdruck. Und wahrscheinlich steht er damit wirklich kritischer, ihrer Grenzen bewußter Erkenntnis näher, als es dem Wortlaute nach zunächst scheinen möchte. 3 4
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folgt. Aber werden wir auch noch mitgehen, wenn wir, wieder in Konsequenz des Offenbarungsgedankens, zu der Feststellung schreiten: Dieses Wort Gottes liegt allein vor in der Schrift, und unter Schrift ausschließlich die Sammlung der Literaturdenkmäler verstehen, die im Kanon des Alten und Neuen Testamentes enthalten sind? - Wir wissen: dieser Satz, daß das Wort Gottes in der durch den Kanon bestimmten Schrift vorliege, ist ein Kernsatz der Tradition. Er ist in der altprotestantischen Dogmatik bekannt unter dem Namen des Schriftprinzips und gilt speziell in der reformierten Dogmatik als der Eckstein des ganzen theologischen Systems. Aber wir wissen auch, daß das modeme Denken an keinem andern Punkte der Theologie so sehr Anstoß genommen hat wie gerade an diesem. Und doch ist dieses Schriftprinzip nur der Punkt, an dem der ganze Sinn dessen, was wir soeben als Offenbarung bestimmt haben, besonders deutlich in Erscheinung tritt. Ich möchte weiter gehen und sagen, daß das Schriftprinzip nichts anderes sei als der wirklich zu Ende gedachte Gedanke I der Offenbarung. Denn was bedeutet es schließlich anderes als die radikale, die endgültige Unterstreichung jenes Gedankens, daß die Selbstevidenz, mit der die Wahrheit über Gott auftritt, in keinem Sinne zu verwechseln sei mit der Selbstevidenz einer allgemeinen Vernunftwahrheit? Wir haben es, wenn wirklich diese Wahrheit auftritt, d. h. wenn es wirklich zu einem Erkennen Gottes kommt, nicht mit einer allen Vernünftigen direkt anschaulichen und verständlichen Wahrheit zu tun, sondern mit einer Wahrheit, die eben, um wahr zu werden, besonderer Erleuchtung und Offenbarung bedarf, und die, indem sie wahr wird, diese besondere Erleuchtung und Offenbarung selber ist. Sie tritt auf, diese Wahrheit, aber sie tritt, gerade weil sie Offenbarung ist, nicht auf als eine allgemeine, allen zugängliche, potentiell überall und immer schon vorhandene und nun bloß in Erscheinung tretende, vom vernünftigen Menschen bloß noch zu entdeckende Wahrheit, sondern sie tritt auf, ich wiederhole: weil sie Offenbarung ist, als ein einmaliges, spezielles, nicht immer und nicht überall, sondern nur da und nur dann, wo sie eben auftritt, vorhandenes Faktum. Sie tritt auf als ein Ereignis, als ein Geschehen. Sie trägt also notgedrungen, ich wiederhole: weil sie eben keine allgemeine Vemunftwahrheit ist, den Zug des Zufälligen, des Endlichen, des Bedingten. Sie erscheint in der Verkleidung, in der Verhüllung einer zufälligen Geschichtswahrheit, sie trägt den Charakter der Kontingenz. Ich fUhre ein einziges Beispiel an, das freilich mehr als nur ein Beispiel, das die Sache selber ist: Der in der
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Schrift als Christus, als der Gesalbte Gottes Bezeugte ist - der Mensch Jesus von N azareth. Wir nehmen Anstoß an diesem Bedingten, Endlichen, Einmaligen der Offenbarung. Aber nichts zeugt eindeutiger davon, daß es wirklich Gott ist, der hier redet, daß also Christus nicht nur ein Symbol ist für eine schon vor ihm bestehende allgemeine Wahrheit, nichts zeugt eindeutiger gegen dieses Zweite und für dieses Erste ,als eben dieses Kontingente, dieses Einmalige, dieses nur hier und nirgends sonst sich Findenlassen der geoffenbarten Wahrheit. Das ist allerdings ein Absurdum für unser historisch-psychologisches. Denken. Denn es bedeutet den Anspruch, daß eine zufällige Geschichtswahrheit, um den Ausdruck Lessings zu gebrauchen, eben doch mehr sein soll als eine zufällige Geschichtswahrheit. Es wird ein einmal, da und dort Geschehenes in ganz und gar rätselhafter Weise zu einem im exklusivsten Sinne besonderen Geschehen gestempelt, zu einem Geschehen, das im Unterschied zu allem, was sonst geschieht, geschehen ist und geschehen wird, eine eigene, besondere Fracht in sich birgt. Es bleibt dies freilich, eben weil es vom historisch-psychologischen Denken I aus nicht zu begründen ist, der Form nach eine reine Behauptung. Es kann mit keinem Mittel der Forschung oder des Erkennens aufgewiesen werden. Wer daran noch zweifeln sollte, belehre sich hierüber bei Ernst Troeltsch 5 • Für die allgemeine Geschichtsforschung sind die Jahre 1-30 grundsätzlich von keiner andern Qualität als andere Jahre, und das Geschehen, das damals in jener östlichen Ecke des römischen Reiches sich abspielte, genau so relativ, so zufällig oder auch menschlich notwendig wie ,alles andere Geschehen zu jener Zeit. Aber - stimmt diese Feststellung nicht merkwürdig genau überein mit dem, was wir selber in unserer Erörterung des Offenbarungsbegriffes festgestellt haben? Was will sie anderes sagen als eben dieses: Verhüllt, vollständig, bis zur Unkenntlichkeit verhüllt und verborgen und darum zum Ärgernis geworden ist die göttliche Majestät in diesem Geschehen, von dem die Schrift bezeugt (nur bezeugt!), daß sich dort Offenbarung ereignet habe. Wäre es anders, wäre sie nicht verhüllt, wäre sie kenntlich, menschlichzugänglich, so wäre es eben nicht mehr die Majestät göttlicher Offenbarung, sondern menschliches Geschehen und bliebe es, selbst wenn es sich als solches bis zur höchsten denkbaren Höhe erhöbe. Und wenn es dazu kommt, daß menschliche Augen trotz der Verhüllung das Verhüllte in der Verhüllung ,erkennen, daß menschlichen Geistern das &
Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte.
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Argernis zur Offenbarung wird, so ist eben das geschehen, was in der Schrift selber als das Verhüllte bezeugt wird: Es ist Offenbarung geschehen. Gott hat selber Kunde gegeben von sich selber. Noch einmal: Hier sind Erkennen und Erkanntes ein und dasselbe.
IV. Gerade das Wesen der Offenbarung bedingt also die Zufälligkeit des Gewandes, in dem die sich offenbarende Wahrheit auftritt, allein auftreten kann. Dieses Gewand ist das in den Texten der Bibel geschilderte Geschehen. Und die Bibel selber ist nichts anderes als die Zusammenfassung dieser Schilderung eines Geschehens, das sich durch nichts anderes von irgend einem andern Geschehen unterscheidet als eben durch diese Behauptung ("Zeugnis" nennt sie es selber), daß hier ein solch außerordentliches Geschehen vorliege. Dieser Anspruch ist nicht so sehr an der in den Texten immer wieder auftretenden Aussage, daß hier Gott rede, zu erkennen, sondern vielmehr an der grundsätzlichen Reinheit und Völligkeit, mit der er tatsächlich im ganzen Verlauf der Darstellung der biblischen Texte durchgeführt erscheint. I Er ist also nicht etwas Einzelnes, ein Zug neben andern Zügen im Welt- und Lebens- und Gottesbild der biblischen Schriftsteller, er ist vielmehr geradezu das Charakteristikum, die wesentliche Bestimmtheit undRichtung aller Züge dieses Bildes, das Kriterium, an dem hier einzig und allein gemessen, angenommen und verworfen wird. Er tritt als das Eine, um das es geht, in der Mitte der Bibel auf, dort in jenem rätselhaften Leben Jesu, das wesentlich weder das Leben eines Helden, noch das eines Dichters, noch eines Weisen, noch eines Heiligen, noch eines Schwärmers, noch irgend eines in rational faßbaren geschichtlichen, ästhetischen oder sittlichen oder religiösen Kategorien verlaufenden Menschentypus' ist, sondern das gerade im Wesentlichen völlig unerklärlich bleibt, solange es nicht verstanden wird als das, als was es sich selber jenseits alles geschichtlich Erkennbaren bezeugt: "Leben des Einzigerzeugten vom Vater voller Gnade und Wahrheit." Aber derselbe Offenbarungsanspruch ist auch das Geheimnis des Alten Testamentes, der Sinn der Propheten und der Psalmen, Hiobs und der Geschichtsbücher. Und er reicht, wenn auch oft bis zur Unkenntlichkeit getrübt, bis hinaus an die äußersten Ränder der Bibel. Er ist ihr kon-
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stitutives Prinzip, der Inhalt der Bibel, der es uns erlaubt, ja, der uns dazu nötigt, von einer einheitlichen "biblischen Linie"6 zu reden. Seinen eindeutigen, starken Ausdruck hat dieser Anspruch gefunden in der Tatsache des Kanons. Kanon heißt Regel, und der Sinn dieser Regel, nach der die Schriften des Alten und Neuen Testamentes zusammengefaßt sind, ist kein anderer als eben diese Behauptung, daß es sich hier um Schriften handle, die von einem Geschehen berichten, das sich auf Offenbarung bezieht. Natürlich ist auch diese Regel gleich wie ihr Inhalt historisch-psychologisch betrachtet eine reine, weiter nicht zu beweisende Behauptung. Für das historische Erkennen ist die Bibel jedenfalls keine Einheit und darf und kann es nicht sein, sondern sie ist von ihr aus gesehen ein zufälliges Konglomerat von Schriften, deren einziges gemeinsames Band eben diese sachlich so wenig durchsichtige Behauptung des Kanons ist, der sie alle umschließt. Aber auch hier möchte ich fragen: Wie sollte es anders sein? Auch das Prinzip der Kanonsbildung muß für das historische Erkennen ein Absurdum sein, weil auch es seinem Wesen nach kein allgemeines Vernunftprinzip sein kann, sondern nur aus dem Prinzip der Offenbarung heraus zu verstehen ist, d. h. sich selber begründen muß. Man kann wohl genetisch feststellen, daß und wie die einzelnen I Schriften in den Kanon gekommen sind, aber ist damit etwa der Sinn des Kanons erklärt? Warum sind gerade diese Schriften und keine andern in den Kanon aufgenommen worden? Warum ist z. B. der Judasbrief und der zweite Petrusbrief noch darin, die Didache und die Schrift des Hermas nicht mehr? Warum wurde die Apokalypse so spät und so zögernd aufgenommen? Die lange Reihe psychologischer und kirchenpolitischer Motive, die dafür bestehen, und die in jeder Geschichte der Kanonsbildung nachgelesen werden können, ist gewiß eine nicht zu unterschätzende Verdeutlichung des Hergangs einer solchen Rezeption oder Nichtrezeption, aber eben - keinesfalls mehr als das, keinesfalls eine Antwort auf das Warum?, das nicht nach irgend einem genetischen Motiv, sondern das nach dem letzten, dem wesentlichen, sachlichen Grunde der Kanonsbildung als solcher fragen möchte. Eine solche Frage hat freilich nur dann einen Sinn, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß überhaupt ein solch wesentlicher, letzter Grund dahinter gestanden haben könnte. Es liegt in der Logik der Sache, daß dies dann kein anderer sein kann als das Wirksamwerden des den Kanon organisierenden 6 Vgl. hiezu: Karl Barths "Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke", Verlag ehr. Kaiser.
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Offenbarungsprinzipes, d. h. die bei den an der Kanonsbildung Beteiligten vorhandene Einsicht in dieses Prinzip. Es scheint nun aber die heimliche Voraussetzung der sonst so voraussetzungslosen modernen Kanonsgeschichte zu sein, daß eine solche Einsicht in jenen fernen, entlegenen Zeiten der Kanonsbildung nicht gewaltet haben könne. Damit begibt sich die Kanonsgeschichte selber der einzigen Möglichkeit, von der rein genetischen zu einer wirklich grundsätzlichen, systematischen Würdigung der Kanonsbildung zu gelangen. "Unbewußt, nicht nach Grundsätzen hat die Kirche, meinetwegen in dem überbewußten Zustand, in dem alle geniale Produktion vor sich geht, den neuen Kanon geschaffen", lesen wir in einer der gangbarsten neutestamentlichen Einleitungen7 • Aber stimmt das wirklich? Wäre es nicht auch rein methodisch betrachtet das Vorsichtigere, Richtigere, nicht von vornherein davon abzusehen, den Kanon so zu verstehen, wie er sich selber verstanden haben will? Es würde bedeuten, daß man annimmt, jene Geschlechter, die den Kanon bildeten, hätten nicht grundsatzlos, nicht unbewußt gehandelt, sondern sie hätten gewußt, was sie taten. Es würde heißen, daß man als Agens erster Ordnung vor und hinter, in und mit den allerlei Motiven zweiter Ordnung eine wirkliche Einsicht bei ihnen voraussetzt in den Offenbarungscharakter der zu rezipierenden Schriften. Es würde ganz ·einfach heißen, jener alten Zeit habe der Gedanke der Offenbarung, der I Gedanke, daß Gott sich selber mitgeteilt habe, mit allen seinen Konsequenzen, also auch mit der einer bestimmten Urkunde, die davon zeugt, noch nicht ganz ferne gelegen, sie habe das Zeugnis dieser Urkunde verstanden und eben in den Schriften gefunden, die sie dann im Kanon gegen alle andern Schriften abgrenzte. Abgrenzte - das sei freilich sofort hinzugefügt -, weil diese Grenze offenbar bereits nicht mehr von allen deutlich gesehen wurde. Denn die manifeste Sichtbarmachung des Kanons - darin hat die Kanonsgeschichte völlig recht - ist allerdings selber schon ein Merkmal dafür, daß die eigentliche "Urgeschichte des Christentums", um diesen Ausdruck von Franz Overbeck zu gebrauchen, zu Ende gegangen war. Ich frage: Warum soll es bei der Kanonsbildung nicht so zugegangen sein? Etwa weil wir uns ein solches Wirksamwerden des Offenbarungsprinzipes nicht vorstellen können? Vielleicht müssen wir uns doch wieder etwas von jenen "Katzenaugen, die im Dunkeln sich zurechtfinden", wünschen, von denen wieder Overbeck sagt, daß man sie 7
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brauche, um in jenen dämmerhaften, fernen Zeiten etwas Deutliches zu sehen. Vielleicht sind jene Zeiten nicht nur ihrer zeitlichen, sondern ihrer innern, sachlichen Entferntheit wegen so dämmerhaft für uns. Vielleicht liegen eben doch hinter den Geheimnissen der Kanonsbildung Fragen und Antworten, die noch von ganz anderer Wichtigkeit und Dringlichkeit sind als die rein genetischen Fragen, die heute die Blätter der Kanonsgeschichte fast ausschließlich füllen. Vielleicht fiele, wenn man diesen Fragen und Antworten wieder mehr nachginge, auch auf allerlei Rätsel in der Genesis des Kanons ein neues Licht. Für den jedenfalls, der sich mit der rein genetischen Erklärung des Hergangs nicht mehr einfach zufrieden geben kann, der vielmehr das ganz andere Anliegen, das dahinter steckt, wittert, für ihn könnten Fragen wie die, warum gerade diese Bücher und keine andern den Kanon bilden, sehr wesentliche Fragen werden, Fragen, aus denen eines Tages als Antwort der volle Hinweis auf Offenbarung hervorbrechen könnte. Sie werden gemerkt haben, daß in diesen letzten Ausführungen eine Auseinandersetzung grundsätzlicher Art liegt mit der Theologie, von der wir alle herkommen. Diese Theologie, besonders glänzend vertreten durch die sog. historisch kritische Schule der vergangenen Jahrzehnte, ist gekennzeichnet dadurch, daß sie wenigstens grundsätzlich ernst gemacht hat mit der Methode der historisch-psychologischen Betrachtung, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts für die Bearbeitung geschichtlicher Probleme allgemein durchgesetzt hat. Der Sinn dieser Betrachtung ist· der, daß es auf dem weiten Feld der Geschichte kein Gebiet mehr geben könne, das den Grundsätzen des allgemeinen I Erkennens nicht unterworfen wäre, sondern auf besondere Behandlung Anspruch erheben könnte. Unter ernsthaft Denkenden kann keine Rede davon sein, daß der Theologie des Liberalismus daraus ein Vorwurf erwachse, daß sie diese Betrachtung auch auf die biblischen Schriften anwandte. Im Gegenteil, das ist und bleibt ihr großes und wesentliches Verdienst. Wir alle können hinter diese historisch-psychologische Betrachtung nicht mehr zurück. Wir können es gerade von unsern Voraussetzungen aus auch gar nicht wünschen. Es ist ferner klar, daß sich von dieser Betrachtung aus die Frage nach Recht und Sinn des biblischen Offenbarungsanspruches besonders dringlich erheben mußte. Auch aus der Aufwerfung dieser Frage erwächst dem Liberalismus keinerlei Vorwurf. Ich möchte im Gegenteil sagen: hätte er sie nur wirklich, mit ganzem Ernste aufgeworfen! Aber eben - hier scheiden sich unsere Wege. Was gegen die Theologie des Liberalismus geltend gemacht
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werden muß, ist dieses: daß sie sich eben dieser Frage, der Frage, die im biblischen Offenbarungsanspruch vor sie trat, nie wirklich angenommen hat. Und doch wäre gerade sie in der einzigartigen Lage gewesen, von der allein richtigen Voraussetzung aus, daß nämlich Offenbarung als solche im Gebiete geschichtlichen Geschehens nicht feststellbar sei, an das Offenbarungsproblem heranzutreten. Hätte nicht gerade diese Voraussetzung, die wenn eine die ihrige war, diese Theologie dazu führen können, ja führen müssen, den wirklichen Gedanken der Offenbarung wieder ganz neu zu entdecken, den die dem Liberalismus vorausgehende ganz oder halb orthodoxe Theologie so weithin vergessen hatte? Sollte es wirklich sein, daß uns in den Schriften der Bibel eine grundsätzlich andere Interpretationsschwierigkeit geboten wäre als bei der Interpretation irgend einer andern profanen Schrift? Was soll überhaupt dieser ganze, nur auf einer Behauptung der Bibel selber beruhende Unterschied zwischen heiliger und profaner Schrift, wie er durch die Kanonsbildung sanktioniert worden ist? Was für ein grundsätzlicher Unterschied besteht denn zwischen den Texten etwa der Veden oder Goethes Faust oder den Texten irgendwelcher nichtkanonischer Schriftsteller des 1. und 2. Jahrhunderts und den Texten der im selben Jahrhundert schreibenden neutestamentlichen Autoren? Dieser Art sind die konkreten Fragen, die sich dem stellen, der von der historischpsychologischen Betrachtung aus an die Literaturwelt der Bibel herantritt. Gegen diese Fragen ist nichts einzuwenden. Diese Fragen sind gut. Sie müssen gestellt werden. Sie können nicht scharf genug gestellt werden. Die Theologie, von der wir herkommen, hat diese Fragen gestellt. Aber hat sie sie wirklich im Ernste gestellt? Waren es für sie wirklich mehr I als Scheinfragen, die sie, schon indem sie sie stellte, für beantwortet hielt? War sie nicht, schon bevor sie sie stellte, eben von jener heimlichen Voraussetzung erfüllt, daß es etwas wie "Offenbarung" nicht nur im genetischen Zusammenhang des historischen Werdens nicht, sondern überhaupt nicht gebe, daß es sich also gar nicht lohne, den Gedanken der Offenbarung ernsthaft zu Ende zu denken? War er ihr jemals mehr als ein religionsgeschichtliches Vorkommnis allerdings gewaltigen Umfanges und von beträchtlicher geschichtlicher Wirkung? Stellen daher diese Fragen im Denkzusammenhang des Liberalismus etwas anderes dar als den Versuch, unsere Frage, die wirklich ernst gemeinte Frage nach Offenbarung und nach der Notwendigkeit und Möglichkeit, von ihr Kenntnis zu bekommen, von vornherein nicht
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entstehen zu lassen, sondern sie als Frage kurzerhand aufzuheben? Damit war dann freilich auch die Theologie selber als solche aufgehoben. Sie hatte ihr eigentliches Thema verloren. Sie mußte verschwinden in der allgemeinen Religionsgeschichte und diese ihrerseits in der allgemeinen Kulturgeschichte. Ich fasse zusammen: Es ist und bleibt für das historisch-psychologische Denken ein seltsames und womöglich zu beseitigendes Krgernis, daß auf dem weiten Felde der menschlichen Religionsgeschichte an einer bestimmten, im übrigen durch nichts Besonderes ausgezeichneten Stelle die Behauptung auftritt, daß hier Offenbarung vorliege, hier und nur hier. Ein merkwürdiger Anspruch das! Merkwürdige Dichtigkeit und Dringlichkeit, mit der dieser Anspruch gerade an dieser Stelle der Religionsgeschichte auftritt! Seltsame Tatsache, daß hier der umzäunte Bezirk des Kanons auftaucht als der (unzulängliche!) Versuch, diesen Anspruch auf die in ihm zusammengefaßten Schriften in exklusiver Weise zu beschränken. Ja, seltsame, ärgerniserregende Tatsachen das alles - aber, und hier beginnt wieder unser Dissensus der gewöhnlichen Betrachtung gegenüber, mindestens so seltsame Tatsache, daß man in der Epoche der Theologie, von der wir herkommen, über den grundsätzlichen Anspruch, der in dieser Tatsache kanonischer Schriften liegt, so wenig grundsätzlich nachgedacht hat. Warum hatte man es denn so eilig, die Genesis, immer wieder die Genesis des Kanons zu erklären, und warum meinte man, damit das Rätsel der Tatsächlichkeit des Kanons erklärt zu haben? Dieses Rätsel besteht darin, daß es offenbar Menschen gegeben haben muß, die diese bestimmte Auslese von Schriften zusammengesehen, als Einheit empfunden und von allen andern scheinbar oder wirklich so nah verwandten und doch offenbar ganz und gar andern Schriften abgegrenzt haben. Das Rätsel besteht darin, wie rasch sich dieser Kreis kanonischer Schriften schloß, wie allgemein er I sich durchsetzte, und wie er als solcher 14 bis 15 Jahrhunderte hindurch im Wesentlichen unangefochten sich erhalten hat. Wir bilden uns heute besonders viel darauf ein, die nahe Verwandtschaft der neutestamentlichen Schriften, z. B. mit den Schriften ihrer hellenistischen oder jüdischen Zeitgenossen festzustellen. Aber ungleich viel interessanter und denkwürdiger bleibt es doch, daß es Menschen gegeben haben muß, die trotz dieser nahen Verwandtschaft einen tiefen Einschnitt gesehen haben müssen, so tief, so grundsätzlich, daß sie die einen von den andern durch eine unübersteigliche Mauer geschieden haben. Seltsame Augen, die da etwas gesehen haben, was wir offenbar nicht
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mehr sehen! Oder ist es nur eine Illusion, der sie zum Opfer fielen? Seltsame Illusion, würde ich dann sagen, die dergestalt Jahrhunderte überdauert! Noch einmal: In nichts anderem können diese Menschen damals das unterscheidende Merkmal gesehen haben als in der Echtheit und Kraft, mit der der Offenbarungs anspruch hier, gerade hier und nicht dort drüben beim hellenistischen Nachbar offenbar aufgetreten ist. Ich weiß, daß damit noch nichts bewiesen ist für die Wahrheit und Gültigkeit dieses Anspruchs. Nein, bewiesen ist hier nichts. Aber ein Hinweis von gewaltiger Eindringlichkeit, ein Hinweis auf das Anliegen der Offenbarung ist damit aufgerichtet. Ein Hinweis, ich unterstreiche: mehr nicht! Wehe dem, der hier mehr haben, der hier etwas beweisen wollte! Völlig ungeschützt, nach allen Kanten der historischen Kritik preisgegeben muß der Kanon im Feld der Geschichte liegen bleiben! Niemals darf er zum konstitutiven Prinzip erhoben werden. Konstitutives Prinzip ist allein die Offenbarung selber, deren Abschattung höchstens und im besten Falle der Kanon sein kann. Niemals dürfen wir, gerade um der Reinheit des Offenbarungsgedankens willen, auf den orthodoxen Abweg uns verlocken lassen und daraus, daß eine Schrift in den Kanon aufgenommen ist, ihren Offenbarungs charakter erschließen wollen. Nicht weil sie im Kanon steht, ist sie Zeuge der Offenbarung, der Kanon ist nicht Realgrund der Offenbarung, aber sofern sie Zeuge der Offenbarung ist, ist sie im Kanon, oder - muß beigefügt werden - gehört sie in den Kano~. Denn auch das Offenbleiben des Kanons muß um seines notwendig kontingenten Charakters willen grundsätzlich gefordert werden. Sofern er geschlossen wird, kann er nur immer aufs neue geschlossen werden durch einen freien Bekenntnisakt derer, die in den in ihm enthaltenen Schriften die Zeugen der Offenbarung erkannt haben. Es zeugte von tiefer Einsicht, wenn der Bestand des Kanons auf reformiertem Gebiet da und dort ins Bekenntnis aufgenommen worden ist. Es wird also keineswegs Gott durch mensch- I liches Dekret zwischen zwei Buchdeckel eingeschlossen, wie man gelegentlich sagen hört, aber es wird bezeugt, daß es Gott gefallen habe, sich nirgendwo anders als hier in den zwischen diesen zwei Buchdeckeln eingeschlossenen Schriften zu offenbaren. Und wenn ich gefragt werden sollte, ob denn nun die außerhalb der Bibel liegende Religionswelt von Gott gänzlich verlassen sei, so antworte ich: Auch das in der Bibel sich abspielende religiöse Geschehen gehört, sofern man (wie es doch wohl die Voraussetzung eines solchen Fragestellers ist) von Offenbarung absieht, voll hinein
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in die allgemeine Religionswelt, und dann hat allerdings eine Unterscheidung von biblischer und außerbiblischer Religion keinen oder nur den Sinn eines Stufenunterschiedes. Oder sollte sich in dieser Frage doch ein tieferes Anliegen zu Worte melden? Sollte damit der Hinweis gemeint sein auf das große, wirkliche Erbarmen Gottes über aller Welt? Dann antworte ich: Sofern dieses Anliegen gemeint ist, so ist es ja selbst, wenn es wirklich ernst ist, erwachsen auf dem Boden der Offenbarung. Denn woher anders sollten wir den Mut zu dem unerhörten Gedanken nehmen, daß wir, und zwar nicht nur die Heiden, sondern wir alle, auch die sogenannte christliche Kulturwelt, in das göttliche Erbarmen eingeschlossen sind, als von dem Einen her, von dem Offenbarung zeugt, von Jesus Christus her? Solch ein Gedanke ist entweder Gipfel menschlicher Religionsanmaßung, oder dann ist er Wahrheit in Christus. Auf keinen Fall kann man sich von einem Gedanken aus, der nur innerhalb der Offenbarungswelt überhaupt einen Sinn hat, gegen die Offenbarung und ihre Urkunde wenden wollen.
V. Sie werden gemerkt haben, daß in den eben gemachten Darlegungen wieder eine Auseinandersetzung grundsätzlicher Art enthalten ist, aber nach der Gegenseite des Liberalismus, nach der Seite der Orthodoxie hin. Dem Liberalismus bleibt das eine wesentliche Verdienst, durch die Anwendung der historisch-kritischen Betrachtung auf die Bibel es unmöglich gemacht zu haben, die Offenbarung durch irgend welche rationalen Gründe zu stützen. Er bestätigt damit, wenn er sich selber recht versteht, was der Inhalt der Offenbarung selber ist, nämlich den Satz: Gott kann nur durch Gott verstanden werden. Eine Offenbarung, die durch Vernunftgründe gestützt werden muß, ja auch nur wesentlich gestützt werden kann, ist keine Offenbarung. Dieser Stützungsversuch ist aber gemacht worden und wird immer wieder gemacht. Er ist das wesentliche Charakteristikum dessen, was man Orthodoxie nennt. Aber es ist damit auch schon gesagt, daß er dem Prinzip I der Offenbarung nicht minder widerstreitet, ja in seiner Weise noch schlimmer widerstreitet, als ein sich nicht wirklich verstehender Liberalismus es in seiner Weise tut. Orthodoxie ist geradezu der Versuch, nicht die Offenbarung auszuschließen und aufzuheben, sondern sie zu - begründen. Offenbarung begründen wollen, heißt aber sie beziehen auf ein allgemeines
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Vernunftprinzip. Das aber kann, auch wenn, ja gerade wenn es im Unterschied zum Liberalismus in positivem Sinne geschieht, nur geschehen um den Preis der Eskamotierung des Ärgernisses der Verhüllung. Es ist aber ganz klar, daß, wenn auch nur ein Deutchen dieses Ärgernisses hinfällt, die Offenbarung selber hinfällt. Es bleibt dabei: Offenbarung kann, wenn sie echt ist, nicht begründet werden. Sie begründet sich selber, oder sie ist nicht Offenbarung. Der Glaubenszwang aber, der da sofort eintritt, wo die Regeln allgemeiner Vernünftigkeit auf Form und Inhalt der Offenbarung angewendet werden, ist die furchtbarste Verunehrung Gottes. Allen solchen Versuchen der Intellektualisierung und Rationalisierung des Offenbarungsprinzipes und des kanonischen Anspruches seiner Urkunde gegenüber hat der Liberalismus mit seiner Skepsis grundsätzlich recht. Er hat recht mit seiner These, daß es für das vernünftige Erkennen nur die große allgemeine Relativität menschlichen Geschehens gebe. Und er hat recht damit, auch die Bibel in dieses Geschehen einzubeziehen. Er hat recht, wenn er das Sichtbarwerden eines nach Form oder Inhalt Besondern, Offenbarungsmäßigen in der Bibel für die Vernunfterkenntnis bestreitet. Diese Bestreitung ist der Orthodoxie gegenüber sein Verdienst. Sie ist gerade von der Theologie der letzten Jahrzehnte gründlich geleistet worden. Wir kennen ja den Prozeß der Auflösung, in die Schritt für Schritt die Literaturdenkmäler der Bibel hineingezogen worden sind. Drei Stufen sind, wenn ic..~ recht sehe, zu unterscheiden. Die erste Stufe ist der in der neutestamentlichen Forschung unter dem Namen "Synoptische Frage" (in der alttestamentlichen Forschung entspricht ihr die Wellhausensche Hypothese) auftretende Nachweis, daß die Bibel ihrer Farm nach keineswegs das einheitliche Gebäude sei, als das sie lange dargestellt worden ist. Es werden Risse und Fugen sichtbar gemacht, die auf eine äußerst komplizierte Entstehungsgeschichte hinweisen, deren Rekonstruktion eine wesentliche Aufgabe des Arbeitsprogramms der Forschung bildet. Dann trat als zweite Stufe die sogenannte religionsgeschichtliche Schule auf den Plan und wies nach, daß auch das Material, aus dem, bildhaft gesprochen, das Haus der Bibel errichtet ist, keineswegs den einheitlichen, gar etwa verbalinspirierten Charakter habe, den man ihm zugeschrieben habe, daß es vielmehr aus den ver- I schiedensten religionsgeschichtlichen Steinbrüchen, aus BabyIon, aus Ägypten, aus dem Hellenismus, aus den Rabbinen, ja aus Indien zusammengetragen sei, jedenfalls dorthin seine nächsten Beziehungen habe. Und die dritte, die modernste,
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die formgeschichtliche Schule ist bestrebt, auch die nach diesen bei den ersten Stufen der Forschung noch verbleibenden Reste literarischer oder religionsgeschichtlicher Einheit endgültig aufzulösen. Sofemeinheitliche Gesichtspunkte, unter denen der Stoff betrachtet werden kann, überhaupt zur Verfügung stehen, sind es lediglich ästhetische, solche der Stilbetrachtung. Wir hätten den Sinn dessen, was Offenbarung ist, schlecht verstanden, wenn wir auch nur einen Finger rühren wollten, um diesen Prozeß aufzuhalten. Je mehr die äußere sichtbare Einheit der Bibel in Frage gestellt wird, um so dringlicher wird die Frage nach der verborgenen innem Einheit dieses seltsamen Splitter- und Trümmerfeldes aufbrechen, das da zurückzubleiben pflegt, wo die historische Kritik ihre Arbeit getan hat. Bereits melden sich die Stimmen, die diese Frage, wenn auch erst nur andeutungsweise aufwerfen. Ich denke an das in seiner Art bedeutende Buch von Dibelius über "Die Formgeschichte des Evangeliums", in dem die Frage nach dem "formgebenden Prinzip" der so seltsam gewachsenen synoptischen Tradition und das heißt nach den letzten Motiven ihrer so ganz unliterarischen Schichten entstammenden, von so ganz und gar andem als schriftstellerischen Absichten getriebenen und bewegten Verfasser in eindringlicher Weise und in oft schlagendsten Formulierungen erhoben wird. Ich weise endlich nur noch hin auf den Prozeß der Auflösung, die auch auf das Inhaltliche der biblischen Darstellung übergegriffen hat. Ich denke vor allem an das Neue Testament: Die Gestalt Jesu ist völlig ihrer göttlichen Attribute entkleidet, ganz und gar in die menschliche Reihe gestellt worden. Schon beim ältem Liberalismus. Aber während Jesus dort wenigstens auf dem menschlichen Boden noch auf eine gewisse Höhe gestellt erschien, ist die Forschung unterdessen dazu gekommen, auch die menschliche Größe, Originalität und Bedeutung der Gestalt Jesu immer mehr in Frage zu stellen. Ihr Bestes stamme aus rabbinischen Quellen und habe Parallelen in der indischen und chinesischen Weisheit. Jesus selber wird als geschichtlich faßbare Persönlichkeit immer rätselhafter und fragwürdiger und verschwindet als im Wesentlichen unerkennbar im geschichtlichen Dunkel. Um so dringlicher, sagen wir auch da, sieht man sich nur vor die Frage nach dem eigentlichen und ursprünglichen Geheimnis der Gestalt Jesu gestellt. Sind nicht auch dafür schon Anzeichen vorhanden? Wir sind der stets schwankenden und in allen Teilen fragwür- I digen Jesusbilder müde, die die theologischen Historiker (und zwar nicht nur der liberalen
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Richtung) trotz Albert Schweitzers Leben-Jesubuch versuchsweise zu zeichnen immer noch nicht aufgegeben haben, und die oft wahrhaft romanhafte Gestalt annehmen. Aber vielleicht sind wir dafür wieder näher dem Tage, wo auch wir es verstehen werden, daß auf die Frage von Cäsarea Philippi: "Wer saget denn ihr, daß ich sei?" keine andere Antwort mehr übrig bleiben konnte und kann als die Antwort des Petrus: "Du bist Christus der Sohn des lebendigen Gottes!" Wir wissen dann vielleicht auch ein wenig, was damit gesagt ist, und wir haben hoffentlich auch Verständnis für das diese Antwort als Offenbarungsantwort sichernde Nachwort: "Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart. " Mit diesen Andeutungen sind wir bis an den Rand der grundsätzlichen Erwägungen vorgedrungen, bis dahin wo diese in etwas ganz anderes ausmünden: in die Eirizelexegese der Texte selber. Denn das wird klar sein: die ganze hier entwickelte Anschauung kann ihre Bewährung nur suchen und finden in ihrer in gründlicher, schrittweiser Exegese sich vollziehenden Anwendung auf die Texte, wie sie selber schließlich nichts anderes ist als die aus Exegese gewonnene Einsicht in den letzten Sachgehalt eben dieser Texte. über ihre Grundthese, daß diese Texte im tiefsten nur verstanden werden können unter Voraussetzung des Offenbarungsprinzips ist apriori nichts auszumachen; sie kann, wie es im Wesen der Sache liegt, nur aposteriori, d. h. im unter . dieser Voraussetzung gewagten Auslegungsversuch ihre Bewährung finden. Weil aber dieses Offenbarungsprinzip seinerseits nur aus der Schrift selber zu erheben ist, ist jene petitio principii, jene Voraussetzung im strengsten Sinne unvermeidlich, die schon der junge Luther klassisch so formuliert hat: "scriptura sacra sui ipsius interpres". Das heißt, daß wer es nicht wagt, sich auf diese Voraussetzung einzulassen, notgedrungen ein willkürlicher und eigenmächtiger Ausleger bleiben wird. Er wird die Schrift von irgendeinem außer ihr liegenden Gesichtspunkte aus zu deuten unternehmen müssen. Ob dies dann ein schwärmerisches Geistprinzip ist, wie es die Täufer der Reformationszeit anwandten, oder ob es die Voraussetzung einer modernen liberalen oder konservativen Welt- und Geschichtsauffassung ist, das ist grundsätzlich belanglos. "Schwärmerei" ist beides. Denn es sind beide Male von der Schrift selbst losgelöste Prinzipien, von denen aus die Auslegung versucht wird. Im Unterschied dazu beruht die unendliche überlegenheit der reformatorischen Exegese darin, daß damals der Auslegungsversuch unter Voraussetzung des Offenbarungsprinzips tat-
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sächlich gewagt worden I istS• Aber freilich was heißt das? Was uns an der reformatorischen Exegese vor allem der neutestamentlichen Schriften sofort befremdend und unser historisches Empfinden störend auffällt, das ist die Voraussetzung der vollen Glaubwürdigkeit in allem Wesentlichen, unter der sie an die biblischen Autoren herangeht. Sie unterscheidet sozusagen gar nicht zwischen der Urkunde und einem hinter der Urkunde liegenden, durch sie hindurch erst mühsam zu eruierenden historischen Geschehen, in dem Sinne, daß sie eines gegen das andere kritisch abwägen würde. Ist das nur der vielberufeneMangel an historischem Sinn der damaligen Zeit, den wir dafür in sehr viel höherm Maße besäßen? Wir möchten es bezweifeln. Es ist vielleicht mehr als wir meinen auch schon damals die Relativität alles Geschehens und damit auch aller Urkunden begriffen gewesen, aber es ist zugleich das für das historische Empfinden völlig Unbegreifliche begriffen gewesen, daß und warum mit der Konstatierung der Relativität oderum jenen andern hierhergehörenden Kierkegaardschen Begriffeinzuführen - der historischen Ungleichzeitigkeit dieser Urkunde und diesem Geschehen gegenüber noch wenig, nein, noch gar nichts festgestellt ist von dem, was dieses Geschehen und diese Urkunde eigentlich sagen will. Schon die neutestamentlichen Autoren selber haben etwas von dieser historischen Ungleichzeitigkeit ihrem Stoff gegenüber gewußt (vgl. die Einleitung zum Luk. Ev.!) und haben ihn dennoch unter Voraussetzung völliger Gleichzeitigkeit dargestellt (vgl. hiezu die Feststellungen von Dibelius). Das bleibt unverständlich für das historischpsychologische Denken. Sofern es dennoch verstanden wird, ist eben Offenbarung verstanden. Und das heißt, es ist verstanden, wieso es trotz der Ungleichzeitigkeit zur Gleichzeitigkeit kommen kann des Schreibers mit seinem Stoffe und, fügen wir bei, des Lesers mit der Schrift und zwar nicht erst auf dem Wege oder vielmehr Umwege der seelischen Einfühlung oder Nacherfahrung, sondern primär, "ohn alle 8 Vgl. nochmals den Aufsatz von Karl Holl in seinen Lutheraufsätzen über "Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst" , der diese Grundsätze bei Luther deutlich entwickelt und zugleich zeigt, daß gerade dadurch die gen aue Berücksichtigung des philologischen Wortsinnes bei der Auslegung nur gefördert erscheint. Ein wenig zu bedauern bleibt, daß Holl die innere, geistgewirkte Erfassung des Schriftsinnes bei Luther allzusehr gleichsetzt mit der seelischen und gemütlichen Ergriffenheit, unter der sie sich bei Luther vollzieht. Inspiration wird dadurch allzusehr unter psychologischen Kategorien begriffen und damit ihr eigentlicher Sinn getrübt.
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Mittel", wie Luther in dieser Sache unzweideutig sagt (bei Holl, 1. Aufl. S. 427), oder, wie wir nach allem Vorangegangenen wohl sagen dürfen, ohne mißverstanden zu werden: durch Inspiration. Die historische Kontinuität erscheint ge-I waltig durchbrochen; dieses Geschehen
tritt allem Geschehen exklusiv gegenüber. Und wer wirklich von diesem Geschehen reden will, kann es nicht anders tun, als indem auch er aus der historischen Kontinuität heraustrit~, obwohl er darin steht, und von dem redet, was "gezeugt, nicht geworden" ist. Sachgemäße Auslegung muß diesen exklusiven Standort der biblischen Autoren, wie er besonders im Neuen Testamente hervortritt, erkannt haben, muß sich darum bemühen, ihn deutlich zu machen und die Schriften dieser Autoren von da aus zu erklären. Ein solcher wieder versuchter Anschluß an die reformatorische Exegese kann natürlich nicht einfach eine Repristination dieser Exegese sein wollen. Für uns heute ist die Lage insofern anders, als uns durch die kritische Arbeit die völlige Ungleichzeitigkeit dieses Stoffes und seiner Darstellung ungeheuer eindrücklich geworden ist. Das ganze Suchen und Forschen nach einem hinter der Urkunde möglicherweise zu entdeckenden "historischen Jesus", nach dem sogenannten "Urgestein" der überlieferung ist ein Ausdruck dafür. Ich wiederhole schon Gesagtes, wenn ich betone, daß es sich nicht darum handeln kann, diese unsere Lage den Texten gegenüber zu bestreiten oder zu vergessen. Aber ebensowenig dürfen wir aus dieser Lage das Recht herleiten wollen, auf das Offenbarungsprinzip bei der Auslegung kurzerhand zu verzichten. Im Gegenteil, auslegen heißt nun: die jenseits aller historischen Ungleichzeitigkeit liegende Gleichzeitigkeit des in diesen Texten Redenden mit dem, wovon er redet, herauszustellen unter ständig geübter kritischer Abgrenzung 9 dieser Gleichzeitigkeit gegenüber der tatsächlichen liter ar- und religionsgeschichtlichen Ungleichzeitigkeit. Die kritische Frage wird dadurch nicht etwa ausgeschaltet, aber sie erfährt nun endlich ihre methodische Begrenzung. Sie wird nun erst sachlich einwandfrei gestellt werden können. Denn sie dient nun nicht länger (wie bisher so oft) dazu, das eigentliche Anliegen der Texte zum Schweigen zu bringen, sondern sie deckt es nun gerade auf und beleuchtet es in seiner ganzen riesenhaften historischen Rätselhaftigkeit. Das wesentliche Geheimnis der alt- und neutestamentlichen überlieferung wird nicht mehr länger 9 Hierin läge der methodische Unterschied zur Predigt, bei der diese kritische Abgrenzung wegfällt, deren Grundverhältnis zum Texte vielmehr das der reinen Gleichzeitigkeit sein muß.
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in einem irgend wie gefundenen, von jedem neuen Forscher freilich wieder anders bestimmten geschichtlichen "Urgestein" gesehen, sondern in dem trotz der vollen historischen Relativität, in der sie sich gibt, trotz des gewaltigen Materials an religionsgeschichtlichen Parallelen, die sich dazu aufweisen lassen, seltsam unauflös- I baren character indelebilis ihres in seiner Linienführung bis ins Einzelne so gänzlich über- oder (um nochmals Overbecks Ausdruck zu gebrauchen) urgeschichtlichen Geschichtsbildes. Ich weiß: eine Exegese unter diesen Voraussetzungen ist vergleichsweise ein Gang über einen im Auftauen begriffenen Stromlauf. Es ist ein Springen von Scholle zu Scholle. Die historische Brüchigkeit des Materials darf nicht vergessen werden, man darf sozusagen nie länger als eine Sekunde und immer nur mit einem Fuße auf einer Scholle der überlieferung absetzen. Man muß in ständiger Dialektik begriffen, d. h. auf der einen Seite die Ansprüche der historischen Kritik nicht aus dem Auge lassend, aber gleichzeitig das durch diese Ansprüche erst recht beleuchtete eigentliche Thema und Anliegen der Texte ins Auge fassend den übergang wagen. Es ist ein Wagnis. Man kann nicht mehr, um im Bilde zu bleiben, hinübergehen, .als ob man eine - historisch betrachtet - völlig zuverlässige Eisdecke unter den Füßen hätte. Man kann freilich andrerseits sich auch nicht länger damit begnügen, immer nur aufs neue die historische Unzuverlässigkeit dieser überlieferungsschicht vor Augen zu führen. Man muß, wissend was man tut, den übergang wirklich wagen. Ich denke bei alledem vorzugsweise an die synoptische Tradition, der gegenüber diese Fragen besonders brennend sind. Und ich füge gerade im Blick auf diese Tradition bei, daß es uns bei diesem übergangs- oder Auslegungsversuch nicht an überlegener Führung fehlt. Paulus und Johannes, ja, im Grunde auch die gegenwärtige Redaktion der Synoptiker selber, der gerade von dieser überlegung aus für das Wesentliche nicht von vornherein grundsätzlich zu mißtrauen wäre, stellen bereits diesen übergang dar. Wir werden gut daran tun, uns, wenn wir es wagen müssen, Synoptiker auszulegen, von dieser Führung leiten zu lassen. Genau gesehen werden unsere Auslegungen im besten Falle - es liegt dies wieder im Wesen der Sache - nichts anderes sein können als möglichst verständnisvolle Widerspiegelungen der Auslegung, die Person und Werk Jesu im Neuen Testament selber schon gefunden haben10 • 10 Vgl. zu diesen Bemerkungen über Exegese Karl Barths Vorreden zum Römerbrief, ferner zum Begriff der Gleichzeitigkeit Kierkegaards Philosophische Brocken.
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Aus alledem mag uns klar werden, daß die Ausschaltung der Offenbarungsfrage mit dem Liberalismus nicht notwendig verbunden sein muß. Sowenig ein naiver Biblizismus von vornherein wirkliche Offenbarungseinsicht einschließt. Es hat liberale Denker und Forscher gegeben, die alle Wege der historischen Kritik bis zum letzten Ende gingen mit dem direkten Ergebnis, daß am Ende dieser Wege der merkwürdige, rätselhafte Anspruch auf Offenbarung in den alt- oder I neutestamentlichen Schriften mehr oder weniger eindringlich und von ihnen selber verstanden vor ihnen stand. Für mich und einige andere ist in diesem Zusammenhang der Name des skeptischen Basler Historikers Franz Overbeck von Bedeutung gewordenl l . Offenbarungseinsicht bezeichnet ein Jenseits von Liberalismus und Orthodoxie. Sie ist ihrer beider Krisis. Ob sie sich dieser Krisis beugen, ihrer beider geschichtliche Lebensfrage. Heute erfährt das vor allem ein allzu sicherer, das eigentliche Thema der Theologie vergessender Liberalismus. Das kann aber kein Anlaß zu unbesonnenem Triumph auf der Gegenseite sein. Es handelt sich hier nicht um den Kampf zweier menschlicher Denkrichtungen, sondern um Kampf und Sieg wirklicher, demütiger und wahrhaftiger Gotteserkenntnis wider alle menschliche Anmaßung, nenne sie sich liberal oder orthodox. Ich bin am Schluß. Es ist gewiß keine Kleinigkeit, Philologe zu sein und Plato auslegen oder Germanist zu sein und den Faust erklären zu müssen oder den Stimmungsgehalt der Lyrik Mörikes wiederzugeben. Man wird in allen diesen Fällen bald genug vor den Schranken der Interpretationskunst stehen und vor der Unmöglichkeit, sie endlos weiter hinauszurücken und so den Sinn eines der angeführten Werke bis auf den letzten Rest erfassen zu können. Genau ebenso und nicht anders mag es uns mit der Bibel ergehen. Aber das ist hier der Unterschied: daß wir uns als Philologen und Historiker bei dieser Unmöglichkeit beruhigen können, ja, daß die theoretisch nur in einer unendlichen Anzahl von Annäherungsversuchen zu vollziehende, praktisch also nie zu verwirklichende Annäherung ans Objekt, Ergreifung des Objekts geradezu den Reiz und Stimulus und Zauber des Forschens ausmacht. Während wir uns bei derselben Unmöglichkeit nicht beruhigen können, wenn sie in der Bibel an ihrem eigentlichen Thema uns entgegentritt. Es gibt freilich auch in der Literaturwelt der Bibel Aufgaben genug, die grundsätzlich nicht anders geartet sind als die 11 Vgl. Barth und Thurneysen: Zur innern Lage des Christentums, Verlag Chr. Kaiser, München.
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Aufgaben der Platoforschung oder der Fausterklärung. Die Bibel ist zunächst ein Literaturdenkmal wie ein anderes und steht unter keinen andern Gesetzen der Erforschung als alle Literatur. Aber eben in dem Augenblicke, wo jener jenseits dessen, was die Bibel als Literaturdenkmal ist, auftauchende Anspruch auftritt, der in der Form .einer apodiktischen Behauptung, daß hier Gottes Wort unter all dem Schutt oder Glanz der Menschenworte schlummere, durch die ganze Bibel sich hindurchzieht und sie zu dem macht, was sie ist: in diesem I Augenblick wird mit einem Schlage alles anders. Dieser Anspruch stellt uns, wenn wir ihn hören, vor eine Schranke, bei der wir uns nicht mehr beruhigen können, weil er nichts anderes besagt, als daß exakt jenseits dessen, was wir menschlich-vernünftigerweise mehr oder weniger verstanden zu haben glauben, erst das eigentliche Geheimnis des Textes vor uns aufgehen würde. Es ist eben jenes: nihil- noch nichts, noch gar nichts verstanden, auch wenn ihr alles verstanden habt!, das uns bei Calvin begegnet ist, das von diesem Anspruch ausgeht. Alles was wir zum Texte zu sagen wissen, abgesehen von diesem Anspruch, vor dieser Schranke, verhält sich zu dem, was jenseits dieser Schranke sich zu Worte melden möchte, wie das Vorfeld zur eigentlichen Festung. Daß wir mit allem unserm Auslegen, Reden und Predigen zunächst immer im Vorfeld uns bewegen und nicht an das eigentliche Thema der Bibel heranzukommen vermögen, das ist unsere Not, die eigentümliche Schwierigkeit, mit der wir als Theologen beladen sind. Ich erinnere an unsern Ausgangspunkt, jenes Gefühl des Unbefriedigtseins, das uns bei aller unserer Arbeit an und mit der Bibel befallen kann. Wir wissen nun mit aller Deutlichkeit, daß dies nicht etwas Zufälliges ist, sondern etwas Grundsätzliches, die Last und Not, die in unserm Berufe zu allem, worüber man auch in unserm Berufe seufzen kann, noch hinzukommt. Es ist uns ein Wort zu sagen aufgetragen, das wir von uns aus nicht sagen können, und dieses Wort ist uns bezeugt in den Schriften der Bibel und ist nach der Meinung der biblischen Schriftsteller selber der Sinn der Bibel, ihr eigentlicher Sinn, neben dem der allerei Sinn, den sie sonst noch haben mag, nicht in Betracht kommt. Was soll ich hinzufügen? was darüber hinaus noch sagen? Ich hatte Sie auf diese Not hinzuweisen, und ich habe versucht, Ihnen zu raten, alle Auswege, den liberalen und den orthodoxen, die Sie von dieser Not wegführen möchten, abzulehnen. Ich konnte Sie nur auffordern, dieser Not standzuhalten. Ich würde dies nicht wagen, wenn ich nicht auf Grund der biblischen Offenbarung der Meinung wäre, daß das
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Stehen in dieser Not eine Verheißung hat, die einzige Verheißung, die es für uns als christliche Theologen geben kann. Es ist ja Gott, der uns diese Not bereitet, er bereitet sie uns, um uns in ihr zu begegnen. An dem Tage, an dem die Theologie in diese Not hineintritt, an dem sie es wagt, diese eine Sorge auf sich zu nehmen, die Sorge um das Wort Gottes, das uns in der Bibel bezeugt ist, an diesem Tage wird sie von den vielerlei Sorgen befreit werden, die sie heute bedrängen. Sie wird damit ihr eigentliches Thema und ihre autonome Stellung wieder gefunden haben. Sie wird wirklich wieder sein, was sie als christliche Theologie ihrem Namen nach ist, Theologie der Offenbarung.
OFFENBARUNG IN RELIGIONSGESCHICHTE UND BIBEL Zum Gedächtnis Bernhard Duhms
-I. Das Problem der Offenbarung ist in seiner eigentlichen Gestalt kein allgemeines religiöses Problem, sondern es entsteht an dem konkreten Anstoß, den wir nehmen an der heiligen Schrift, sofern wir sie verstehen als das, was sie sein will, als das Wort Gottes. Wir beginnen mit dem Nächstliegenden, damit nämlich, daß wir fragen, was etwa der einfache Wortsinn des Begriffs Offenbarung sein möchte. Offenbarung bedeutet zweifellos, daß etwas Verborgenes, Verhülltes da ist, aber dies Verborgene, Verhüllte bleibt nicht verborgen, es wird aufgedeckt, es tritt ans Licht, so daß es nun nicht den Blicken entzogen ist, sondern erkannt werden kann. Es ist nicht ohne Wert, daran zu denken, daß das deutsche Wort »Offenbarung" als übersetzung dient für das griechische apokalypsis und das lateinische revelatio, welche beiden Worte stärker als das deutsche Wort dieses Aufdecken und Sichtbarwerden des Verborgenen, Verhüllten, ·als Akt, als Vorgang, als Geschehnis kennzeichnen, geradezu als vehementen, als stürmischen Akt und Vorgang. Apokalypsis - d. h.: eine Decke liegt da, diese Decke wird aufgehoben und weggetan, und was darunter lag, tritt ans Licht. Revelatio - d. h.: eine geschlossene Türe ist da,
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diese Türe aber wird aufgerissen, und was dahinter steht, kommt plötzlich zum Vorschein. Was ist nun der Inhalt der Offenbarung, um die es sich da handelt? Was wird aufgedeckt, was tritt ans Licht? Keine Frage, das Was der Offenbarung ist Gott. Damit treffen wir nun aber bereits eine Bestimmung, die nicht aus dem strengen Wortsinn des Begriffs Offenbarung allein hervorgeht. Denn es könnte sich ja auch um irgend etwas anderes handeln, das da offenbart wird. I Aber es handelt sich bei diesem Worte nun eben nicht um irgend etwas anderes, sondern allein darum, daß Gott offenbart wird. Oder ist es nicht allgemeiner Sprachgebrauch, daß man unter Offenbarung dies Bestimmte, das Offenbarwerden Gottes nämlich versteht? So sehr ist dies Sprachgebrauch, daß dies bestimmte, eigentliche Offenbarwerden, um das es sich im Grunde immer handelt, wo von Offenbarung die Rede ist, auch dort mitschwingt, wo der Begriff Offenbarung auch einmal uneigentlich, allgemein und übertragen gebraucht wird. Es geschieht dies ja: Schönheit offenbart sich, Wahrheit offenbart sich, oder in besonders prägnantem Gegensatz zu dem eigentlichen Sinn des Wortes Offenbarung: die Natur offenbart sich, der Mensch offenbart sich. Kennen wir aber nicht auch das gefährlich Zweideutige, das diesen Aussagen anhaftet? Ist es nicht sofort mehr, unendlich viel mehr, als nur "Schönheit", "Natur", "Mensch", wenn Offenbarung als Prädikat damit verbunden wird? Doch lassen wir das. Was hier einzig gesagt werden soll, ist dieses, daß der Begriff Offenbarung dem allgemeinen Sprachgebrauch längst entzogen und auf das bestimmte Gebiet eingeschränkt worden ist, auf dem es sich in prägnantem Sinne um Gott handelt. D. h. der Begriff Offenbarung ist zum religiösen Begriff geworden. Es ist nun sofort weiter zu sagen: Offenbarung ist der grundlegende, der umfassendste religiöse Begriff, den es gibt. In der Religion handelt es sich um Gott. Wo immer aber Menschen über Gott etwas aussagen, da ist das Erste, das Eine, alles Tragende, das sie aussagen, dieses: daß Gott sich offenbart. Mit Recht sagt Emil Brunnert, es gebe keine Religion, die sich nicht irgendwie auf göttliche Offenbarung begründet wüßte, die nicht Offenbarungsreligion sein möchte. Das bedeutet aber: wenn über den, um den es sich in aller Religion handelt, etwas ausgesagt werden soll, so ist zuerst dieses auszusagen, daß er zunächst immer ein Verborgener, Verhüllter ist, aber er bleibt nicht verborgen, 1
EmU Brunner, "Der Mittler", S. 1 ff. (Tübingen, Mohr).
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verhüllt, er tritt hervor, er wird sichtbar, faßbar, erkennbar. Damit beginnt dann überhaupt erst das, was Religion heißen mag. Religion bedeutet ja vielleicht sogar dem Wortsinn nach "Bindung", Hingabe an ein höheres Wesen. Karl Barth 2 erinnert in seiner Dogmatik in diesen Zusammenhang an das Wort Goethes: "In unseres Busens Reine wogt ein Streben, sich einem Höhern, Rei- I nern, Unbekannten aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben, enträtselnd sich den ewig Ungenannten. Wir heißen's fromm sein." Und er fügt bei: "Diese Definition Goethes ist nicht nur schön, sondern auch so richtig und vollständig, als es sich der Religionswissenschaftler nur immer wünschen kann." Damit aber der Mensch sich an das höhere Wesen hingeben kann, muß dieses erst hervortreten, es muß sich offenbaren. Und nun denken wir an die ganze moderne religionsgeschichtliche Forschung, die diesen Sachverhalt aus einer reichen Fülle konkreter Tatsachenbeobachtung heraus unbestreitbar klar vor uns hingestellt hat. Ich nenne hier in Dankbarkeit insbesondere meinen Lehrer Bernhard Duhm und die Feststellungen, die er in seiner genialen Einfachheit zu diesem primären Vorgang der Entstehung aller Religion gemacht hat. Er hat es3 lange vor Brunner oder Otto ausgesprochen, daß alle echte Religion entstehe aus Vision, d. h. aus einer Begegnung des Menschen mit dem Gotte, und er hat dieses alles begründende geheimnisvolle Ereignis der "Initiierung des Verkehrs durch ein höheres Wesen" meisterhaft dargestellt und analysiert. Er hat sicher recht gesehen. Religion und Offenbarung gehören zu Hauf. Sollte man von einer Religion reden, die nicht irgendwie in ihrem Anfang auf solche Offenbarung zurückginge, die ohne solche Offenbarung auskommen wollte, so wäre es gar keine wirkliche Religion. Duhm schließt z. B. aus diesem Grunde in großer Kühnheit den Buddhismus aus der Reihe der eigentlichen Religionen aus 4 • In Offenbarung ist begründet aller Kultus. Offenbarung ist die Quelle alles religiösen Schrifttums, Offenbarung der Ursprung der ganzen religiösen Gedanken und Erscheinungswelt überhaupt. Offenbarung ja, da hebt sie an, die große Möglichkeit des Menschen, sich selbst, Welt und Leben verankert zu wissen, in einem letzten, tiefsten, tragenden Karl Barth, "Dogmatik I", S. 305. Besonders deutlich in seiner Schrift "Die Gottgeweihten in der alttestamentlichen Religion", die neben seiner andern über: "Das Geheimnis in der Religion" hier vor allem beizuziehen ist (Tübingen, Mohr). 4 "Die Gottgeweihten", S. 5. 2
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Grunde, der eben in diesem Vorgang der Offenbarung hervorgetreten und' anschaubar, und was wichtiger ist, anbetbar geworden wäre. So ist also Offenbarung wirklich, wie behauptet, der allesumfassende Grundbegriff der ganzen Religion. Sofern nun aber das Bedürfnis besteht, diesen Zusammenhang von Religion und Offenbarung im Einzelnen zu klären, ihn aus dem Zustand des bloß I Faktischen oder der gewissen Allgemeinheit, in dem er für den Religionswissenschaftler zunächst stehen muß, herauszuheben, wird Offenbarung zum Problem. Sofern aber wie gezeigt alle Religion, die ihren Namen verdient, sich auf Offenbarung bezieht, ist das Problem der Offenbarung das allgemeinste religiöse Problem, das es gibt. Bis dahin wird sich schwerlich ein Widerspruch gegen das Gesagte erheben. Auch der weitere Weg scheint widerspruchslos gegeben zu sein. Es wird sich ja nun, so scheint es, darum handeln müssen, einzutreten in die nähere Diskussion und gedankliche Durchdringung dieses grundlegenden Begriffes der Offenbarung. Es wird nun von diesem allgemeinen Begriff aus die Religion zu klassifizieren sein, je nach der Reinheit und Kraft, mit der sie auf diesen grundlegenden Begriff der Offenbarung sich bezieht. Es wird Stufen der Religion geben, je nach der Ferne oder Nähe, in der ihre Erscheinungen stehen zu der Offenbarung, die sie alle begründet. Nicht alle Religion bezieht sich mit gleichem Rechte, in gleicher Kraft darauf. Es gibt ursprüngliche, Religion erster Hand. Und es gibt abgeleitete, es gibt Religion zweiter Hand. Und es wird, so hoffen wir, alles ausklingen in dem Nachweis, daß unsere, die christliche Religion, die mächtigste, die gesichertste Begründung in Offenbarung besitze und demgemäß als oberste aller Religionen, ,als Erfüllung, "als die vornehmste Tochter und Königin in der Familie der Religionen"5 (Duhm) dastehe. Aber hier trennt sich nun unser Weg in scharfer Wendung von der Heerstraße der allgemeinen religionsgeschichtlichen Betrachtung, wie sie in der Theologie des letzten Jahrhunderts herrschend gewordeJ? ist. Denn hier geht nun der Strich durch die Rechnung, der in unserer ersten These ausgesprochen ist: das Problem der Offenbarung ist gerade nicht dieses allgemeinste religiöse Problem. Es entsteht vielmehr in seiner wirklichen Gestalt an einem anderen Orte. Es entsteht an dem Anstoß, den wir nehmen an der heiligen Schrift, wenn wir sie verstehen als das, was sie ist, als das Wort Gottes. An der Unklarheit ,an diesem 5
a. a. O. S. 1.
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Punkte und d. h. an der Wurzel der Problemstellung selbst leiden u. E. alle neueren Darstellungen unserer Frage. D. h., sie nehmen von vornherein an, das Christentum falle ohne weiteres mit allen andern Religionen unter einen ihnen allen gemeinsamen Oberbegriff. Dieser Oberbegriff ist dann kein anderer als eben der Begriff "Religion". I Und die Darstellung besteht dann im weitern ganz einfach darin, das Christentum wie angedeutet als die oberste, höchste aller Religionen zu erweisen. Ich nenne die zwei führenden Untersuchungen aus der neueren Theologie: Die klassische Schrift von Ernst Troeltsch: "Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte" und die in ihrer Weise nicht minder klassische von Karl Holl: "Urchristentum und Religionsgeschichte"6. Die nicht zu behebende methodische Schwäche dieser beiden, an sich gewiß glänzenden und scharfsinnigen theologischen Arbeiten liegt darin, daß dieser allgemeine Begriff für Religion widerspruchslos vorausgesetzt erscheint. Ist das aber einmal geschehen, so kann es sich um gar nichts anderes mehr handeln, als um die Auflösung des Absolutheitsanspruches, die in notwendiger Weise nur noch relative Resultate ergebende religionsgeschichtliche Vergleichung. Gewiß, es werden schärfste Distanzen gesehen und gelegt zwischen Christentum und außerbiblischen Religionen, aber nur auf Grund und unter Bestätigung des gemeinsamen Kontinuums, innerhalb dessen sich beide befinden. Nicht anders verhält es sich freilich im Grunde auch bei Duhm. Immerhin ist für ihn zu bemerken, daß er einmal überhaupt auf den religionsgeschichtlichen Vergleich nur ganz am Rande der Darstellung eintritt. Er konzentriert sich fast ausschließlich auf die Darlegung der biblischen, insbesondere der alttestamentlichen "Religion". So daß Religion, religiöses Geschehen und Erleben bei ihm, wenn auch ungewollt, beinahe zusammenfällt mit der biblischen Prophetie. Und er hat überdies die Eigenart der Jahwehreligion und ihre Selbstabgrenzung gegenüber den Baalim, den mancherlei Herren und Göttern der Andern so scharf gesehen, daß es nur noch ein Schritt zu sein scheint, zur Erkenntnis jener hier behaupteten, wirklichen, im strengen Sinne zu vollziehenden Isolierung oder Absolutierung und d. h. Loslösung der biblischen Offenbarung als Wort Gottes gegenüber der ganzen außerbiblischen Religionswelt. Aber was heißt das alles schließlich? Es heißt, daß mit allem bis dahin im Schema und in der Nachfolge der allgemeinen ReligionsG
Nunmehr in den »Gesammelten Aufsätzen" II »D. Osten", Tübingen 1927.
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geschichte über Offenbarung Gesagten noch gar nicht gesagt ist, was wirklich Offenbarung ist. Es heißt, daß das Wort Offenbarung, solange es in der gezeichneten Weise gleichgesetzt wird mit "Religion", solange es also das für die ganze Religionswelt sinn- I gebende Wort ist, seinen ihm im Grunde zugehörigen eigentlichen Sinn gerade nicht besitzt, sondern aufgegeben und verloren hat. Es heißt, daß zwischen allgemeiner Offenbarung und wirklicher Offenbarung aufs strengste geschieden werden muß. Es ist - inhaltlich ausgedrückt - das ungeheuer Weitgreifende ausgesagt, daß jedesmal dann, wenn auf Grund dieses allgemeinen Offenbarungsbegriffes von Gott die Rede ist, eigentlich von Gott, dem wirklichen Gott, dem Gott, der nicht zu verwechseln ist mit einem der vielen Götter noch gar nicht die Rede ist. Es ist gesagt, daß zwischen diesen vielen Göttern der Religionen, aller Religionen, und dem Gott der wirklichen Offenbarung, der dann Gott selber wäre, ein nicht nur stufenmäßiger, sondern ein schlechthin unüberbrückbarer Graben und Gegensatz bestehe. Mag es sich mit diesen vielen Göttern und ihren "Offenbarungen" und dem darauf gegründeten Verkehr mit ihnen verhalten, wie es mag - die Parole Jahweh oder Baal! ist ausgegeben, und wer sie gehört hat, kann dieses "oder" nicht mehr in ein "und" verwandeln. Er kennt diese Götter vielleicht, er spricht ihnen und ihren Offenbarungsakten die ihnen zugehörige metaphysische oder okkulte Realität keineswegs ab, aber sie sind ihm Nicht-Gott, sie sind ihm Dämonen. Es ist nichts weniger als eine völlige Disqualifizierung aller, -auch der höchsten Offenbarungsereignisse, Mysterien und Kulte der Religionsgeschichte ausgesprochen von einer sie alle weit überholenden nicht nur, sondern sie völlig in Schatten versetzenden, ursprünglichen und allein wirklichen Offenbarung aus. Daß diese Disqualifizierung gerade nicht, wie hier immer wieder eingewendet wird, die völlige Sinnentleerung jener Offenbarungsereignisse, Kulte und Mysterien der allgemeinen Religionsgeschichte bedeuten kann, sei hier nur angemerkt. Es könnte sein, nein, es ist so, daß von der ursprünglichen, der wirklichen Offenbarung aus überhaupt erst wirklich Licht fällt auf das weite Feld der allgemeinen Religionsgeschichte, daß von da aus, gerade von da aus, ja, wir sagen: nur von da aus all das auf diesem Felde sich findende, ergreifende "Schauen und Dichten, dieses Tasten und Ahnen, dieses Danken und Preisen, dieses Anbeten und Niedersinken, dieses Ergriffen- und Durchschauert-sein, dieses sich Verantworten und Schuldigfühlen, dieses sich Quälen und Kasteien, sich nach Erlösung und Vergebung sehnen, das vielf.ach in verzückten
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Gesichten und Gebärden, Gesängen und Gebräuchen sich kundgetan hat" (K. v. Greyerz) - wir sagen, daß all das von da aus überhaupt erst seinen I Sinn bekommt. Wie sollte es anders sein? Wie sollte der wahre Gott nicht auch in und hinter den mancherlei Göttern, zu denen die Menschen beten, gemeint und gesucht sein! Aber eben weil er das ist, macht er sie zum Spott, zum Nichts, durch sein wirkliches Hervortreten da und dann, wo es ihm wohlgefällt. Wo aber hat ihm dies wohlgefallen? Anders gefragt: Woher nehmen wir das Recht und die Möglichkeit dieser schneidenden Disqualifizierung - sofern hier überhaupt von Recht und Möglichkeit die Rede sein kann? Denn - darüber kann kein Zweifel bestehen - diese Disqualifizierung wird sich nicht zuletzt auch gegen uns selber richten, gegen unsere eigene "Religion", unsere falschen Götter, falschen religiösen Erlebnisse, "Offenbarungen", Anbetungen, Kulte, Kirchen und Mysterien. Es wird darum wohl am Platze sein, mit unserer ersten These von einem Anstoß zu reden, den auch wir hier nehmen werden, an dem auch wir zu Falle kommen könnten. Wo aber kommt dieser Anstoß her? Er entsteht, sagt unsere These, an der heiligen Schrift. Was aber ist das "die Heilige Schrift"? Ich kann hier zunächst nur antworten mit der Tautologie: Die heilige Schrift ist dieser Anstoß. Sie ist der Ort, von dem diese ungeheure, alles nivellierende Disqualifizierung alles dessen ausgeht, was Religion ist und nichts weiter als Religion ist. Ich könnte - ebenso tautologisch - sagen: Mitten im Felde der allgemeinen Religionsgeschichte liegt diese merkwürdige Sammlung von Schriftdenkmälern, liegt dieses Buch, das den Anspruch erhebt, in betontem Sinne, das Buch zu sein, das Buch, in dem, durch das, mit dem Gott mit den Menschen - nun rede ich mit Duhm - realen Verkehr, ja, den einzigen realen Verkehr aufgenommen hat, den es mit ihm gibt. Ich kann nicht anders, als derart tautologisch antworten. Denn ist das nicht wirklich der Anspruch, der dieses Buch zu dem besondern Buche macht, das es sein will? Ich sage freilich auch nicht mehr als: es erhebt den Anspruch, den Anspruch, das Vehikel zu sein, dessen Gott sich bedient, um mit uns in Verkehr zu treten. Nicht abgeschnitten sei damit die Frage, ob es diesen Anspruch mit Recht erhebt. Sollte es ihn nicht mit Recht erheben, sollte er dahin fallen, dann freilich hätte es auch mit dem speziellen, dem eigentlichen Offenbarungsproblem nichts auf sich, an das wir durch diesen Anspruch herangeführt worden sind. Denn dann gäbe es eben gar keine solche spezielle, wirkliche Offenbarung, dann bliebe es bei der allgemeinen
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Offenbarung, von der wir ausgegangen sind. Dann I wäre das Spezielle, das Besondere der biblischen Offenbarung nur quantitativ, aber nicht qualitativ unterschieden von dem, was auch in der allgemeinen Offenbarung der allgemeinen Religionsgeschichte zutage tritt. Denn wir werden uns doch nicht mit dem fatalen Sophismus abgeben wollen, den ich einmal einen bekannten Theologen der Ritschl'schen Schule in diesem Zusammenhang gebrauchen hörte, daß es quantitative Unterschiede gebe, die so groß seien, daß sie zu qualitativen werden. Wir werden uns freilich auch darüber klar sein, was es bedeutet, diesen Anspruch nicht zu negieren. Wir kennen die Flut von Bedenken, die sich dagegen erheoen, diesem Buche diesen besonderen Anspruch zuzubilligen. Wir brauchen nur das Wort »Kanon" auszusprechen, das diesen Anspruch in besonderer Weise anmeldet, und alsbald stehen sie vor uns auf, alle diese Bedenken, wie die Flut des roten Meeres vor den Kindern Israel. Werden wir es wagen, da hindurchzugehen? Werden wir es nicht nur wagen, werden wir es auch können? Ich unterstreiche damit noch einmal das Wort »Anstoß" in unserer These. Es ist und bleibt anstößig, gezwungen von der heiligen Schrift über die allgemeine Offenbarung hinaus auf eine spezielle, auf qualifizierte, auf eigentliche Offenbarung greifen zu müssen, aber vielleicht müssen wir durch diesen Anstoß hindurch, mitten durch ihn hindurch. Vielleicht kommen wir nicht um ihn herum. Vielleicht müssen wir ihn aufnehmen, und d. h. auf uns nehmen und tragen, tragen, wie man eine Last oder ein Brandmal trägt - und es wird wohl etwas von Beidem dabei sein - und damit erst werden, was wir vielleicht nicht zu sein oft genug wünschen möchten und nun doch wider alles Wünschen einfach sein müssen: Theologen, Theologen in dem bestimmten Sinne des Schriftgelehrten, des auf die Schrift sich verstehenden, die Schrift als seinen einzigen Ausgangspunkt kennenden Theologen. Wir müssen ihn vielleicht aufnehmen, diesen Anstoß. Wir müssen vielleicht diese Theologen und als solche diese gebundenen, an die Schrift gebundenen Leute sein. Wir müssen es sein - warum? Ganz einfach darum, weil dieser Anspruch der Schrift da ist und zurechte besteht und wir ihn als diesen zu Rechte bestehenden wirklichen Anspruch gehört haben könnten. Weil wir gesehen haben könnten, was hier zu sehen ist, wenn uns die Augen dafür geöffnet worden sind, daß dieses Buch tatsächlich nicht nur als eines neben andern, sondern als das eine den andem gegenüber im Felde der Religionsgeschichte liegt. Sollte es so sein, dann hätten wir die Bibel wirklich genommen als das, was sie sein will, I als das Buch nicht nur allgemeiner
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Offenbarung, sondern als das aller allgemeinen Offenbarung gegenüberstehende Wort Gottes, und dann allerdings erhebt sich das Problem der Offenbarung in einem neuen Sinne und mit neuer Dringlichkeit. Ich habe damit meine erste These erläutert. Sie enthält nichts anderes als den Satz von der strengen Bezogenheit von Offenbarung und Schrift. Ich weise noch hin auf das Wörtlein "konkret" - wir nehmen konkreten Anstoß. .. Konkret heißt dieser Anstoß darum, weil er uns wirklich in die Entscheidung hineinstellt. Die Entscheidung besteht in der Frage, ob wir uns den Anspruch der Bibel gefallen lassen oder nicht. Sie besteht in der Frage, ob wir von vornherein diesen Anspruch ablehnen, also davon ausgehen, daß es das nicht geben könne, geben dürfe und geben werde, was dieser Anspruch enthält: Offenbarung in betontem, in exklusivem Sinne. Sollten wir ihn nicht gelten lassen, so würde ein nicht nur allgemeines, so würde das spezielle, das wirkliche Problem der Offenbarung für uns gar nicht existieren. Dann wäre alles weitere Reden sinnlos. Damit soll gesagt sein, daß, worum es sich hier handelt, nur zu verstehen ist, sofern diese Entscheidung als Voraussetzung gesehen und anerkannt ist. D. h., man kann hier nur reden als ein von allem Anfang an an diese Voraussetzung Gebundener, von vornherein von dieser Voraussetzung Herkommender. Ich könnte nun auch sagen: Man kann hier nur reden vom Boden der Kirche aus. Denn da ist Kirche, wo man diese Voraussetzung der Schrift als Wort Gottes vollzogen sein läßt, auf Grund dieser Voraussetzung denkt und redet. Es heißt letztlich, was diese Voraussetzung der Schrift als einziger Offenbarungsquelle selber betrifft, völlig wehrlos denken und reden, d. h. ohne die geringste Absicht, diese Voraussetzung selber unter Beweis stellen zu wollen. Man hätte nichts vom primären Charakter dieser Voraussetzung verstanden, man wüßte nicht wirklidI, was Kirche ist, wollte man im Sinne einer Beweisführung über diese sie begründende Voraussetzung verfügen. Nicht Beweis dieser nicht zu beweisenden, sondern nur Vollzug dieser nur zu vollziehenden Voraussetzung soll darum alles hier Gesagte und noch zu Sagende sein.
11. Offenbarung in ihrem eigentlichen Gehalte besagt nichts anderes, als daß Gott wirklich Gott ist. I Daß die heilige Schrift diesen wirklichen Gott bezeugt, macht sie zur Stätte der Offenbarung.
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Hiezu ist Folgendes zu erwägen: Der Offenbarungsbegriff, wie ihn die allgemeine Religionsgeschichte gebraucht, verbindet den Menschen mit Gott in der Weise, daß Gott zunächst als ein nicht in des Menschen Hand gegebener erscheint. Er ist verborgen, er ist an entlegenem, unzugänglichem Orte. Man "hat" Gott nicht, wie man andere Dinge hat. Er ist nicht ·einfach eine religiöse Idee, die wir uns ausdenken. Er ist nicht von vornherein die Stimme des Gewissens in unserer eigenen Brust. Er ist durchaus etwas Eigenes, etwas für sich, das, wenn wir es mit ihm zu tun bekommen sollen, immer erst in Erscheinung treten muß. Ich erinnere noch einmal an die Feststellungen Duhms. Aber und das ist nun zu bedenken - Gott ist allerdings auch nach diesem Begriff von Offenbarung nicht von Anfang an in der Hand des Menschen. Und das heißt, er ist wirklich Gott, und das heißt, er ist ein dem Menschen Überlegener, ein ihm sich Entziehender. Offenbarung heißt ja nichts anderes als dieses: damit der Mensch mit seinem Gott in Umgang treten kann, muß sein Gott sich ihm erst zeigen. Aber eben: er muß sich ihm zeigen. Ein Gott, der sich ihm etwa nicht zeigen, nicht offenbaren, oder richtiger ausgedrückt, der sich ihm nur offenbaren wollte, um sich ihm zu verhüllen, ein Gott, der etwa zum Menschen träte, um ihm zu sagen, daß er ganz und gar nichts von ihm wissen, sich endgültig und unwiderruflich von ihm abwenden wolle, ein Gott also, der sich dem Menschen grundsätzlich und für immer entzöge, ein solcher Gott existiert nicht, er wäre ein Nonsens. Das bedeutet aber nichts anderes als: ein Zwang zur Offenbarung besteht und zwar ein Zwang für Gott selbst, der, wenn er überhaupt will, daß von ihm geredet werde, unter diesen Zwang fällt. Damit ist aber gesagt, daß die Verborgenheit Gottes dem Menschen gegenüber nur eine relative, eine sozusagen dialektische Verborgenheit ist, keine wirkliche, keine endgültige, keine völlige Verborgenheit. Es besteht vielmehr vor aller Verborgenheit eine ursprüngliche, eine nicht grundsätzlich gestörte, sondern nur unterbrochene Beziehung zwischen Gott und Mensch. Sollte der Gott sich dem Menschen wirklich absolut entziehen, endgültig verbergen, so würde er, der Gott, selber aufhören zu existieren. Eine Beziehung, die etwa nur in Abkehr, nur in Verhüllung bestünde, bei der der Mensch endgültig der Gottheit als einer ihn ablehnenden, ihm sich nicht offenbarenden, sondern auch in der Offenbarung sich verhüllenden I ausgeliefert wäre, eine solche Beziehung ist - zwar nicht in der Bibel aber - in der allgemeinen Religionswelt außerhalb der Bibel religiös undenkbar, fällt außerhalb jeder Möglichkeit. Damit ist
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aber positiv gesagt, daß in der Religionswelt - nicht in der Bibel zwar Gott den Menschen in der Hand hat, aber nicht weniger der Mensch seinen Gott in der Hand hat. Damit ist aber das wirkliche Gottsein Gottes eingeschränkt und darum aufgehoben. Konkret christlich gesprochen müßte man sagen: in der allgemeinen Religionswelt gibt es das nicht, was die Bibel "Zorn Gottes" nennt. Zorn Gottes freilich so verstanden, wie die Propheten dieses Wort verstanden haben: nicht nur eine Laune des Gottes, der auch wieder andere Launen haben kann, nicht nur eine relative, sondern die endgültige, die absolute Abkehr Gottes von seinem Volke, so daß nichts anderes mehr übrig bleibt, keine Möglichkeit der Sühne, des Sich-Wiedemndens. Ich erinnere wieder an Duhm, der in seinem "Geheimnis in der Religion" sagt: "Trotzdem wirkt das klare Wort jener Männer auf die Zeitgenossen wie ein Geheimnis, und selbst die gläubigen und willigen Leser einer späteren Generation haben es durchweg nicht völlig verstanden. Das kurze Wort lautet: "Ende Israels!" Der Gott Israels will sein eigenes Volk vernichten. Die alten Propheten sprechen von einer unbedingten Absicht Gottes, ihre späteren Leser haben sie -als eine bedingte mißverstanden oder umgedeutet, ihre Zeitgenossen verstanden das Wort überhaupt nicht"7. Und Duhm unterstreicht das Neue dieser biblischen Offenbarung noch weiter: "So gänzlich blind waren sie, daß Jesaja einmal behauptet, seine Bemühungen, das Volk sehen und hören zu lassen, haben geradezu den Zweck, es blind und taub und dumm zu machen, und daß er ein andermal annimmt, Gott selbst habe durch einen Tiefschlaf, der doch sonst das geheimnisvolle Hellsehen bewirkt, dem Volke und besonders den Weisen im Volke das Verständnis geraubt"8. Was anderes wird hier festgestellt als das Auftreten einer "Offenbarung", die lauter Verhüllung ist? Emil Brunner hat darauf hingewiesen, wie das Wiederaufhrechen dieser biblischen Anschauung vom Zorne Gottes, vom deus absconditus das entscheidende Echtheitszeichen in der Theologie Luthers ist9• Und nichts ande1"es ist gemeint in der Lehre von der doppelten Prädestination bei Calvin. Auf I der anderen Seite aber ist das Nichtvorhandensein dieses "Zornes Gottes" in der außerbiblischen Religionswelt ebenso das sichere Anzeichen dafür, daß dort von einem wirklichen Gottsein Gottes nicht gesprochen werden kann. Für diese Feststellung steht übrigens eine reiche Fülle von Belegen aus der allge7 8
a. a. O. S.22. a. a. O. S. 22.
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ZZ,
Jg.
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meinen Religionsgeschichte selber zur Verfügung. Es wäre wohl wieder bei Duhm nachzulesen, wie er die Gegner der prophetisch-biblischen Offenbarung beschreibt als solche, die sich auf künstliche Weise ihres Gottes durch Magie bemächtigen. Es ist weiter zu denken an alle die Belege, die dafür aufzubringen wären, wie im Heidentum der Gott wahrhaftig deutlich genug in die Hände seiner Anbeter gegeben erscheint. Ist das nicht geradezu das eine, entscheidende Merkmal dessen, was man "Heidentum" nennen kann? Es ist aber auch dar an zu denken, wie es selbst auf den höchsten Stufen der Religion sich im Grunde nicht anders verhält. Es sei an den bekannten Gedanken der Mystik erinnert, daß Gott den Menschen ebensosehr brauche, wie der Mensch Gott braucht: " Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben. Werd ich zu Nicht, er muß von Not den Geist aufgeben" (Angelus Silesius). Wenn es sich aber so verhält, können wir da überhaupt noch von "Offenbarung" reden? Hat es uns nicht eben jetzt in eine gewisse Verwirrung gebracht, daß fortwährend von Offenbarung geredet wurde, und dabei kam doch zum Schlusse heraus, daß der sich hier "offenbarende" Gott gar nicht wirklich Gott sei? Was aber ist damit anderes ausgesprochen als noch einmal die schon erwähnte Disqualifizierung des allgemeinen Religionsbegriffs der allgemeinen Religionsgeschichte von der heiligen Schrift aus? Aber trotzdem es sich so verhält, trotzdem es klar ist, grundsätzlich und tatsächlich, daß wirklich Gott selber, der Gott, der unter keinem Offenbarungszwang steht, der sich wahrhaftig auch verhüllen und entziehen kann, und der darum, wenn er sich nicht verhüllt, wenn er sich wirklich offenbart, dies nicht tut, um dadurch überhaupt erst zur Existenz zu kommen, sondern aus reiner Gnade, der Gott, dessen Offenbarung eben deshalb wirklich Offenbarung ist, weil auch seine Verhüllung wirklich Verhüllung ist, der Gott, dessen Verkehr mit den Menschen ganz und gar in seinen eigenen Händen liegt, der Gott, dessen der Mensch nie und nimmer mächtig wird, trotzdem es klar ist, daß dieser Gott nichts zu tun hat mit den mancherlei Numina und Baalim, die die Gottheiten der allgemeinen Reli-I gionsgeschichte sind, trotzdem, sage ich, soll diese Feststellung nicht verstanden werden als ein Beweis für das tatsächliche Dasein und Wirklichsein der Offenbarung dieses Gottes. Wir reden hier im besten Falle von deren Möglichkeit, über ihre Wirklichkeit verfügen wir nicht, diese kann sich nur wirklich ereignen, und dann mögen wir von ihr zeugen.
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Aber rückt nicht von da aus das, was wir nun im Unterschiede zur wirklichen Offenbarungswirklichkeit bloße Religion nennen können, in ein neues Licht? Disqualifiziert sei sie, haben wir erkannt, durch die Erkenntnis, daß es sich in ihr um ein wirkliches Gottsein Gottes nicht handeln könne. Das wird so sein. Aber ist diese Disqualifizierung nicht im Grunde leicht zu ertragen? Ist diese allerdings nie ganz ernst zu nehmende, nie wirklich scharf geladene Sphäre der bloßen Rt;ligion nicht eigentlich der wirklichen Offenbarung des wirklichen Gottes geradezu vorzuziehen? Kann der Mensch sich das nicht wirklich Gottsein Gottes nicht gerne gefallen lassen? Ist das denn etwas so Anstößiges? Sicher ist das Eine: das Heidentum weiß darum, es ist sich klar genug über den nur relativen Charakter seiner "Offenbarungen", seines ganzen Gottesverhältnisses überhaupt, aber es nimmt nicht wirklichen Anstoß daran. Wir sollen doch nicht glauben, in Afrika oder China sei man blind und verfinstert genug, um nicht zu sehen, was Götter im besten Falle sein können. überdies fehlt es auch im Heidentum nicht an Sophisten und hat nie daran gefehlt, die die Fragwürdigkeit des Gottesverhältnisses der eigenen Religion aufzudecken sich bemühen. Aber allerdings: ist jemals die Volksreligion durch solche Sophismen wirklich in ihrem Bestande bedroht und erschüttert worden? Der Animist prügelt vielleicht einmal seinen Fetisch, aber das hindert ihn nicht, ihn nachher wieder anzurufen. Und ceteris imparibus vollzieht sich auf den oberen Stufen der Frömmigkeit immer wieder der gleiche Vorgang, daß der Gott dem Menschen Rechenschaft schuldet, und doch bleibt er sein Gott. Ja, dieses nicht wirklich Gottsein Gottes in der Welt der Religion - ist es nicht geradezu das, was dieser Sphäre, der Sphäre der Religiosität ihre Geltung, ihre Bedeutung, ja ihren ihr eigenen Glanz und Zauber verleiht? Denn dieses nicht wirklich Gottsein Gottes, es bedeutet ein Positivum für den Menschen. Es bedeutet: daß von einem wirklichen, bedrohenden Wirklichsein Gottes uns gegenüber nicht die Rede sein kann. Es bedeutet wohl allerdings auch, daß wir Menschen mit unseren Göttern trotz allem und allem nicht wirklich I versorgt und versehen sind. Schicksal, Leid, Tod bleiben unser irdisch, menschlich Teil bis zum Letzten. Keine Religion hilft darüber wirklich hinaus. Aber ist dies nicht leichter auszuhalten als die furchtbare Möglichkeit, daß hinter Schicksal, Leid und Tod jener Zorn, jenes Sichabgewendet-haben des wirklichen Gottes stehen könnte, der endgültig nichts von uns wissen will, der uns wirklich nicht braucht und doch existiert, ja der gerade in seinem uns Nichtbrauchen seine Existenz
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dartut? Ist der relative Friede des Heidentums, der in dem Nichtwissen um einen wirklichen Zorn Gottes besteht, nicht doch eine ganz respektable Sache? Müßte nicht das ins Gesichtsfeld-Rücken, das in Erscheinung-Treten einer wirklichen Offenbarung, das heißt einer Offenbarung, die ebensosehr Verhüllung wie Offenbarung wäre, weil sie die Ent-hüllung des ganz freien, ganz majestätischen, uns ganz und gar nicht brauchenden, uns, wenn er sich naht, nur in seiner Gnade, in unendlicher Herablassung sich nahenden Gottes wäre, müßte das nicht bedeuten, daß zunächst einmal dieser relative Friede des Heidentums, dieses sein Nichtwissen um den Zorn, und d. h. um die Majestät und die Herrlichkeit Gottes gründlich zerschlagen würde? Weil doch auf alle Fälle die Wirklichkeit des sich wirklich und völlig offenbarenden Gottes darin bestehen wird, daß er in keiner Weise in unseren Händen ist, sondern wir Menschen ganz und gar in seinen Händen sind? Und dann - wer sagt uns, wer garantiert uns dafür, daß wir in diesen seinen Händen Rettung finden und Heil vor Leid, Schicksal und Tod nicht nur, sondern vor allem vor seinem Zorn? So spricht alles dafür, daß es etwa mit einer Selbstaufhebung der Religion, mit einem entwicklungsmäßig gedachten Übergang von ihrer Sphäre zur wirklichen Offenbarung gute Weile hat. Die menschliche Religiosität denkt nicht daran, sich selber aufzuheben. Richtiger: der Mensch denkt nicht daran, sie aufzugeben. Im Gegenteil, er wehrt sich dafür, er weiß warum, daß er fort und fort zu seinen Göttern beten darf. Wenn es doch zu solch einer Aufhebung kommt, dann sicher nur darum, weil der wirkliche Gott im Geheimnis seiner, der wahren, der wirklichen Offenbarung sich wirklich erschlossen hat. Wir stehen wiederum vor der Heiligen Schrift und ihrem Anspruch, nicht nur allgemeine religiöse Bedürfnisse mit einer allgemeinen Offenbarung zu befriedigen, sondern Zeugnis zu sein von der Wirklichkeit des lebendigen Gottes. Das ist ihr einer, einziger Inhalt, daß Gott wirklich Gott sei und nicht einer der vielen Herren und Götter, die doch nicht wirkliche I Herren sind. Noch einmal und wiederum: ich führe keinen Beweis für die Wirklichkeit der Offenbarung in der heiligen Schrift, aber ich wüßte nicht, woher sie käme diese tatsächlich vorhandene Entthronung der Gottheiten, diese tatsächliche Bedrohung des falschen Friedens des Heidentums, dieses tatsächliche Wissen des Menschen um wirkliche Offenbarung, wenn nicht wirklich Offenbarung stattgefunden hätte. Und ich wüßte nicht, woher ich von dieser wirklichen Offenbarung wüßte, wenn nicht aus der heiligen Schrift.
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Als der, der wirklich nicht in unserer Hand liegt, als der, über den wir in keinem Sinne verfügen, als der, der uns in seiner Hand hat, als der, der ganz und gar über uns verfügt, so steht Gott vor uns auf schon in den Schriften des Alten Testamentes. Das ist der Gott der Propheten. Das ist durch sie wahrlich auch der Gott des ganzen rätselhaften Volkes, in dem diese Propheten reden müssen, ohne gehört zu werden. Ist auch nur ein einziger Zug im Bilde dieser Propheten verständlich anders als von daher, daß sie in die Hand dieses Gottes geraten sind und nun nicht nur mit Worten, sondern mit ihrer ganzen Existenz bezeugen müssen, daß dieser Gott ist und kein anderer neben ihm Gott heißen kann und darf? Ein Beispiel10 : Im zwanzigsten Kapitel des Buches Jesaja findet sich die Stelle, wo erzählt wird, daß der Prophet einmal drei Jahre lang barfuß und nackt im Lande herumgelaufen sei. Er trug diese Schmach, weil er mußte. Und er mußte, weil er in die Hände Gottes gefallen war. Gott hieß ihn tun, was er tat. Warum? Weil sein Volk anders als der Prophet seinen Händen entlaufen war und statt bei seinem Gotte im Bündnis mit Asdod und Ägypten gegen Assur Hilfe gesucht hatte. Und nun sollte es im Anblick seines nackt gehenden Propheten vor Augen haben, was der Abtrünnigen wartet: nämlich so wie der Prophet jetzt einherging "barfuß und entblößten Gesässes" - so steht es bei Jesaja (vergl. Duhm zur Stelle) - in die Verbannung zu wandern (Jes 20, 1-6)11. "Ob Jesaja wirklich drei Jahre nackt ging oder nicht, das darf man gar nicht fragen" (Duhm). Drei Jahre lang ging er so in Selbstverleugnung, Bedrängnis und Schmach, aber von Gott in Eisen gelegt, bis Asdod fiel und sich das ihm verheißene Geschick an ihm vollzog. Noch einmal: wer hieß Jesaja solches tun? Gott hieß es I ihn, antwortet er selbst. Und indem er das sagt und das Befohlene tut, erklärt er selber das Wort "Gott" so, daß bei uns die Frage entsteht: Was muß das für ein Herr sein, dem man so gehorchen muß, dem man so ganz verfällt, der einen so in seinen Dienst nimmt, so völlig, so rätselhaft, so bis zum Letzten? Eines ist klar: Dieser Gott ist ganz und gar unseren Händen entnommen. Er ist gerade da, wo er sich offenbart, der uns völlig überlegene, den wir nicht ergreifen und ergründen werden, der auch mit dem Worte "Offenbarung" nicht zu binden ist, der sich, gerade indem er sich offenbart, uns völlig entzieht. Doch das ist nur ein Beispiel. Aber kann man denn 10 Ich verdanke den Hinweis auf diese Stelle einem Aufsatz von Pfr. E. Burri über die Bibel als Wort Gottes in den bern. Blättern für Schulreform, Jg. 1928. 11 Vgl. B. Duhm, Jesaja, übersetzt und erklärt, 2. Aufl., S. 119 f.
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das ganze Geschehen, aus dem dieses Beispiel herausbricht, kann man das ganze Handeln und Wandeln des merkwürdigen Volkes verstehen, dem diese Propheten dienen, ohne daß es zu einer einzigen zeigenden Hand würde, die, wenn wir ihr folgen, uns nicht dies und das zeigt, sondern eben das Eine zeigt: Gott den Herrn? Kann man vor allem den Einen und seine Geschichte, in dem die Geschichte dieses Volkes ihren Abschluß, soll man sagen: ihre Krönung, oder muß man sagen: ihren Untergang findet, kann man Jesus Christus anders verstehen als so, daß er, was im Handeln und Wandeln seines Volkes vorgebildet war, zur alles andere ausschließenden, einen und endgültigen »Offenbarung" gebracht hat? Ist das nicht das Verfallensein an Gott, der Gehorsam bis zum Letzten das entscheidende Stichwort, unter dem das Neue Testament selber seinen Wandel und sein Handeln begreift und bezeichnet? Und ist nicht diese Beugung, dieser Gehorsam vor dem Herrn seines Lebens so völlig, daß hier die Frage nach dem Herrsein, dem Reiche, der Kraft und der Herrlichkeit dieses Gottes erst völlig unausweichlich wird, weil sie so völlig eindeutig und unausweichlich beantwortet erscheint? - Es sei, was hierüber noch zu sagen ist, in einer abschließenden, dritten These zusammengefaßt.
111. Die heilige Schrift bezeugt Gott als den Herrn dadurch, daß sie ihn im Unterschied zu allen Göttern der Heiden bezeugt als den, der ganz und gar nicht an sein Volk gebunden ist, und ihn zugleich bezeugt als den, der sich dennoch, aber einzig und allein darum, weil es ihm so wohlgefällt, ganz und gar an sein Volk bindet. Das heißt, sie bezeugt ihn I als den Gott, der verwirft und erwählt, wen er will, nach seinem Wohlgefallen. Daß ein Prophet, ein isch ha elohim seinem Gotte verfällt und ihm dienen muß in einem Gehorsam, der bis zum Martyrium führen kann, das wird auch in der außerbiblischen Religionswelt vorkommen. Die allgemeine Religionsgeschichte bietet reichlich Belege dafür. Solch ein Verfallensein des Mannes Gottes an seinen Gott ist sogar geradezu das entscheidende Kennzeichen des Geweihten, des Geheiligten, des Sadhu, dessen, der um Religion erster Hand weiß, wie er sich beispielsweise auch bei Indem und Chinesen finden wird. Das eigentlich Kritische und Unterscheidende beginnt erst da, wo es klar wird, daß dieser
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Gott seinerseits ganz und gar nicht verfallen und gebunden ist an seine ihm verfallenen Propheten und das durch sie angeredete Volk. Gott kann es auch ohne Israel machen. Er braucht Israel nicht. Er kann über Israel weg schreiten. Israel und das ganze Werk, das er durch die Propheten an und mit Israel begonnen hat, mag versinken und vergehen. Es diente zu nichts anderem als dazu, die Souveränität und Majestät dieses Gottes zu erweisen, vor dem alle Völker nur wie Tropfen sind am Eimer. Es ist die große Entschränkung Gottes, der aus dem Gotte eines einzelnen Volkes zum Gotte der ganzen Menschheit wird. Bernhard Duhm hat diesen Zug der prophetischen Predigt mit besonderem Nachdruck hervorgehoben. Man hat auf Grund davon schon vom Durchbruch einer höheren, sittlichen Religionsstufe bei den Propheten gesprochen im Unterschied zu einer bloß naturhaft gebundenen Volksreligion. Aber damit ist das Wesentliche dieser Entschränkung Gottes nicht getroffen, sondern im Gegenteil wieder verhüllt. Eben nicht um eine neue, höhere Religionsstufe handelt es sich dabei, sondern um das völlige Zerbrechen des religiösen Verhältnisses des Einzelnen und des Volkes zu seinem Gotte. Gott offenbart sich als der, der allen Ansprüchen frei und bindungslos gegenübersteht. Der Gedanke der Menschheit tritt ohnehin im alten Testament gar nicht auf. Für den biblischen Menschen gibt es nur Völker und deren Götter. Gerade darum ist der Gedanke, daß Gott an kein Volk gebunden sei, sondern sein Volk verwerfen und zur Ausübung seines Gerichtes sogar fremder "heidnischer" Völker sich bedienen könne, wie er bei den großen Propheten Israels auftritt, im Grunde nichts anderes als die Offenbarung der völligen Verborgenheit, des völligen Sichentziehens Gottes, die Offenbarung seines Zor- I nes, nicht aber die Proklamierung einer möglichen und denkbaren höheren Religionsstufe, zu der man sich allenfalls, erzogen durch die Propheten, erheben könnte. Verkündigt der Prophet diesen Gott, den freien, den sein Volk in Gericht und Verwerfung ziehenden Gott, so nimmt er damit seinem Volke seinen Gott. Was hilft aller Kultus, was helfen alle Opfer, was hilft es, Gott in Bethel, Dan und Berseba aufzusuchen, wenn Gott dadurch doch nicht zu versöhnen ist? Aber dies ist nun tatsächlich der eine entscheidende Inhalt der prophetischen Verkündigung. Es ist die Gerichtspredigt vom "Ende Israels", die in nicht mehr zu übertreffender Schärfe durch das alttestamentliche Offenbarungszeugnis hindurchhallt. "Israel, das einst so kräftige Volk, von Jahweh zu Sieg und Herrlichkeit geführt, wird in den Mahlstrom der beginnenden Weltgeschichte hineingerissen werden und sein Ende
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darin finden. Und Jahweh ist es, der das wirkt" (Duhm)12. Jahweh ist, wie Jesaja in einem hochgespannten Augenblicke zu sagen wagt, selber der Verschwörer, der sein Volk verrät. (Jes 8, 13. Ich folge hier einer genialen Konjektur Duhms, die diese Stelle erst wirklich aufhellt13 .) Gott ist eben so 'sehr Herr, daß er es machen kann ohne sein Volk. Was das konkret, für das religiöse Leben der Zeit bedeutet hat, das können wir kaum mehr ahnen. Wir ersehen es nur von feme. Etwa so wie man hinter geschlossenen Fenstern, ohne selber etwas davon zu verspüren, am Aufgewirbeltsein von Staub und Blättern, am Fliehen von Menschen und Tieren die Gewalt eines hereinbrechenden Sturmes ermessen kann, so können wir die Gewalt dieses über die Volksreligion hereinbrechenden Gerichtssturmes durch das Wort der Propheten ermessen an dem rasenden Kampfe, ip. den sie alsbald verwickelt erscheinen gegen die Baalim, die lokalen Numina, die Gottheiten in Wald und Flur, die doch offenbar für das Bewußtsein des Volkes darum Platz und Geltung neben Jahweh haben konnten, weil Jahweh selber nur als einer unter ihnen, wenn auch als der Höchste, vor ihm stand, aber diesen andern Göttern darin jedenfalls nicht ungleich, daß auch er ein an sein ihn verehrendes Volk gebundener Gott war. Das ersehen wir weiter aus ihrem nicht minder schweren Kampf gegen die Kultstätten und Altäre Jahwehs selber, auf deren Heilighaltung das Volk soviel hielt, weil es seine eigene Existenz in Frage gestellt gesehen hätte, I wenn sein Gott nicht mehr sein Gott sein sollte. Nichts weniger als eben diese Infragestellung der Existenz des Volkes selber in seiner Gottheit war es, was durch die Propheten erfolgte. Was aber dieser Gerichtspredigt erst ihre volle Schärfe, ihren letzten Radikalismus gibt, das ist dieses, daß auch die Propheten selber erbarmungslos mitsamt dem Volke unter das Gericht fallen. Keine Rede davon, daß sie etwa in ihrer Rolle als homines religiosi davon ausgenommen wären. Jahweh kann es nicht nur machen ohne sein Volk, er kann es auch machen ohne seine Propheten. Sie sind wahrlich nichts anderes als seine Werkzeuge, deren er sich bedient, die aber in keinem Sinne deshalb etwa ihres Gottes irgendwie mächtig wären. Gott ist wirklich allein Gott. Er braucht den Propheten, um das Gericht anzukündigen, nicht anders als einer die Trompete braucht, um Feuerlärm 12 13
B. Duhm, Israels Propheten, S. 114. B. Duhm, Jesaja, übersetzt und erklärt, 2. Aufl., S. 58.
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zu blasen. So Amos. Von daher der ganz besonders erbitterte Kampf der Propheten gegen ihre falschen, ihnen zum Verwechseln ähnlichen und doch durch einen Abgrund von ihnen geschiedenen Mitpropheten und Nebenbuhler: die Nebijm und bene ha nebijm. Ich bin kein Prophet und keines Propheten Sohn, sagt an der entscheidenden Stelle seiner Rechenschaftsablage wiederum Amos. Er ist kein homo religiosus, dem sich die Gottheit offenbart hätte in gewöhnlichem, ich möchte sagen religionsgeschichtlichem Verstande des Wortes. Ihm hat sich Gott wirklich offenbart. Und worin zeigt sich diese wirkliche Offenbarung? Nicht darin, daß Amos nicht auch Visionen und Auditionen gehabt hätte wie die andern, aber darin, daß er seines Gottes und der Gesichte, die ihm dieser sein Gott zeigt, nicht mächtig ist wie der homo religiosus gewöhnlicher Ordnung. Darin, daß er wirklich Gericht, nur Gericht anzukündigen hat, volle, souveräne Verwerfung des Volkes und seiner Frommen durch den Gott, dessen sie sich in so falscher Weise rühmen. Darin, könnte ich nun auch sagen, daß der Prophet selber, der wirkliche Prophet in ihn selber furchtbar treffender Solidarität steht mit dem Volke, dem er das Gericht zu verkündigen hat. Er ist niemals und nirgends der Moralprediger, der dem Volke gegenübersteht als der überlegene, der Idealist, der Besserwisser, der Pharisäer. Denn es handelt sich nicht um Moral, nicht um Idee, nicht um Besserwissen; Gericht Gottes ist nicht Pharisäismus. Die wahren Vorgänger der Pharisäer sind nicht die Propheten, viel eher die Nebijm, denen ihr lebenslanger Kampf galt. Neben diesem Kampf gegen die Baale, gegen den Kultus und gegen die falschen Propheten ist aber vor I allem noch zu achten auf die Darstellung der Volks geschichte als Ganzes, wie sie in dem von den Propheten inspirierten Pentateuch und den Geschichtsbüchern uns gegeben ist. Ist die ganze Gesetzgebung und Ethik des Volkes Israel, wie sie in diesen Büchern vor uns erscheint, anders zu verstehen denn als eine einzige große Illustration zum ersten Gebote: Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine andern Götter neben mir haben? Gott schafft sich sein Volk, und so sieht das Volk aus, das diesem Herrn entspricht! Eine Erklärung Gottes wiederum die ganze Geschichtsdarstellung, die uns der Jahwist, der Elohist und alle die andern Geschichtsdarsteller geben. Und wird dies nicht vor allem auch wieder da am deutlichsten, wo Gott im Laufe der Geschichte sein Volk zerbrechen und verwerfen muß, weil es ihm eben nicht entspricht? Man weist gelegentlich hin auf die hohe Humanität, die in der unter dem Namen Mose gehenden Gesetzgebung Altisraels zu finden sei.
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Keine Frage, daß hier wirklich von Humanität zu reden ist. Aber nirgends ist sie um ihrer selbst willen da. Immer ist sie nur da als Organ für Gott. Immer ist das Befolgen aller, auch der banalsten Gebote nur von Wert, weil es Akt des Gehorsams ist gegen den Herrn dieses Volkes. Und weiter: wird nicht immer wieder alles, was dieses Volk zum Volk machen soll im nationalen Sinne zerbrochen, zerschlagen, so daß die ganze Gesetzgebung und Geschichte dieses Volkes eine Zertrümmerung dieses Volkes als Nation darstellt. Nicht eine Nation soll entstehen, sondern ein Gottesvolk, eine Gemeinde. Und das ist etwas anderes. Und weil das nicht entsteht, erfolgt das Gericht. Das Gericht aber ist das völlige Aufhören des Volkes, es ist wirklich das "Ende Israels". Man versteht die Propheten nicht, wenn man sie versteht als solche, die das Gerichtswort etwa nur in sozialpädagogischer Absicht ins Volk geworfen hätten. Sie sind nicht Politiker, sind - wie wieder Duhm sagt - "nichts weniger als Staatsmänner, könnten wohl auch keine Propheten sein, wenn sie das wären"14. Sie haben wohl ein Bild vor Augen eines Volkes, wie es sein könnte, wenn es seinem Gotte gehorchen würde. Aber nun gehorcht es ihm eben nicht, und darum wird es verworfen, und jenes Bild dient nur zur Verdeutlichung und Begründung dieses Verwerfungswortes 15 . Das ist das Eine. I Das andere Wort aber, das aus derselben Quelle der absoluten Souveränität Gottes hervorbricht und ebenfalls nichts anderes zum Zwecke hat, als die Verkündigung dieser Souveränität Gottes, dieses andere Wort ist das Wort der Gnade, des Erbarmens. Gott ist nicht an sein Volk gebunden, aber er bindet sich, ohne es zu müssen, aus derselben grundlosen Freiheit heraus, aus der er es verw·erfen kann, ebenso ganz und gar an sein Volk. Gott kann es ohne Israel machen, aber er macht es nicht ohne Israel. Hier bedarf es keiner besondern Belege. Genügt nicht das Anführen des einen Hosea und des 2. Jesaja, um alles zu sagen, was da zu sagen ist? "Tröstet, tröstet mein Volk, redet mit Jerusalem freundlich!" Warum? Darum! Darum, weil es sein Volk ist B. Duhm, Israels Propheten, S. 141. Duhm bemerkt einmal: "Wenn Hosea sagt, das Volk solle wieder in Zelten wohnen, so ist das eine Drohung, keine Lösung" (Israels Propheten S. 114). Wir denken etwa an moderne Volksführer und Sozialreformer wie den Inder Gandhi, 14
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bei dem es sich gerade umgekehrt verhalten wird, wenn er sein Volk wieder zur Kultur der vorindustriellen Zeit zurückruft und davon eben eine Lösung erwartet. Damit soll nichts gegen Gandhi gesagt sein, aber es soll verdeutlicht werden, daß die soziale Predigt der Propheten auf einer grundsätzlich andern als der modernen Linie liegt.
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und bleibt, das Volk des Gottes, der, obgleich die Sünde blutrot ist, alle Treulosigkeit bedecken und sich seines geschlagenen Volkes annehmen, wie eine Mutter mit ihm reden will. Es ist eine neue, unerhörte, zweite Offenbarung, ein neues, das Gerichtswort überbietendes letztes Wort, das da hervorbricht, das Wort vom "Reste, der bleibt", von der Wurzel, die wieder ausschlagen wird, auch wenn der Stamm abgehauen ist, und in seiner gewaltigsten Gestalt von dem Hinwegtragen der Schuld des Volkes durch den Knecht Gottes. Indem dieses Wort h~rvorbricht, wird erst klar, daß a~ch die Gerichtspredigt ein Handeln Gottes ist an dem Volke, das er wohl aufgeben könnte, an das er nicht gebunden ist, an das er sich aber bindet, in freiem Erbarmen. Und dies nicht etwa deshalb, weil das Volk sich bessert, weil es der Gerichtspredigt gehorchend neue, bessere Wege einschlüge. Davon ist keine Rede. Die Gerichtspredigt wird nicht nachträglich zur bloßen Strafpredigt oder Erziehungspredigt umgedeutet. Sondern einzig deshalb, weil hinter dem Gericht unbegreifliche1;'weise auftaucht die große, neue Möglichkeit der Vergebung, in der das Gericht völlig unerwarteter Weise, völlig paradoxer Weise a\lsmündet. Diese Vergebung ist also wahrhaftig nicht etwas, das von vornherein vorgesehen war, sondern es ist das aus der großen Freiheit Gottes hervorbrechende neue Wort, das Aufleuchten eines völlig neuen Horizontes, dem Propheten' selber unverhofft, von ihm selber mit Staunen und Anbetung wahrgenommen, die Enthüllung des letzten Geheimnisses der königlichen Macht Gottes. Man beachte, wie ganz unvermittelt dieser Ausblick auf die Zeit der Vergebung und des Heiles etwa bei den kleinen Propheten am Schlusse ihrer Gerichtsrede erscheint, so daß die Kritik vielfach diese Schlußworte als unecht glaubte erklären zu müssen. Nur wenn man diese völlig neu auftauchende Möglichkeit der Vergebung, dieses ganz unerhört und unerwartet einsetzende Erklingen des Trostwortes (man denke an Jes 40!) in seiner ganzen Paradoxie und Unableitbarkeit gesehen hat, wird man davor bewahrt, aus der Gerichtspredigt der Propheten eine bloße Besserungspredigt werden zu lassen und das Vergebungswort selber seiner göttlichen Legitimität zu entkleiden. Nur dann verfällt man nicht in den Fehler, nun in der Milde der Vergebungspredigt einen letzten krönenden Abschluß der in den Propheten erreichten sog. sittlichen Religionsstufe zu finden, die sie keinesfalls darstellen wollen. Noch einmal: Was die Vergebungspredigt darstellen will, das ist die Größe und Majestät des Gottes, der eben im väterlichen Vergeben sein ganzes königliches Sein und Wesen offenbaren will.
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Nicht zu übersehen ist dabei auch dieses: Die Vergebung, das Heil, das Erbarmen kommt nicht dem Volke als solchem zugute, sondern dem Volke, das wirklich Volk Gottes ist, das eben dadurch Volk Gottes wird, daß ihm dies Erbarmen zugute kommt. Nicht weil das Volk sittliche Leistungen aufzuweisen hätte, sondern weil er sich erbarmt, wessen er sich erbarmt, darum ist Gericht nicht das letzte Wort. Es kommt nun der gewaltige Gedanke nicht zwar einer Menschheitsreligion, aber einer Gemeinde, die er aus allen Völkern sich erwählt zu seiner Gemeinde. Der Rest, nur der Rest Israels gehört dazu, aber darüber hinaus auch die Menge der Heiden, die erst die Endzeit völlig als sein Volk offenbar machen wird. Das heißt noch einmal: Gott bindet sich auch in seinem Erbarmen, gerade in seinem Erbarmen nicht an irgend welche Ansprüche seines Volkes, sonst wäre es ja gar nicht mehr Erbarmen. Es ist darin Erbarmen, daß es das Volk seiner Wahl ist, das er sich sammelt. Und das zweite, das damit zusammenhängt: der Prophet, der dieses letzte, das Gnadenwort aussprechen darf, ist wohl dadurch bevorzugt und auserlesen, er ist der Knecht Gottes, der Gottes größtes Tun ausrichtet, aber dieser Vorzug ist zugleich und vor allem schwere Last. Gottes Güte verkündigen heißt die Krankheit des von Gott erwählten Volkes auf sich nehmen und tragen. I Wiederum erscheint der wahre, der zum Knechte Gottes gewordene Prophet in seiner Solidarität mit dem Volke, für das, mit dem auch er nur des Erbarmens seines Gottes harren kann. Sind wir, indem wir diese Gedanken des Alten Testamentes wiedergeben, nicht weit entfernt von allem, was sich sonst im Felde der Religionsgeschichte abspielt, obgleich auch dies prophetische Reden inmitten dieses Feldes sich abgespielt hat? Gibt es auch anderswo ein Religionsbuch, dessen wesentlicher Gehalt eine solche Durchbrechung aller menschlich religiösen Möglichkeiten bedeutet, wie es hier tatsächlich der Fall ist? Wir stehen damit aber an der Schwelle des Neuen Testamentes. Darüber noch ein paar Worte. Es braucht ihrer nicht viele. Denn ist das Alte Testament richtig gesehen, so ist das Neue Testament damit geöffnet. Oder umgekehrt: es wäre nicht möglich, das Alte Testament richtig zu sehen, wenn es nicht immer schon vom Neuen Testament her gesehen wäre. "Suchet in der Schrift, sie ists, die von mir zeugt!" Von wem denn? Von Jesus dem Christus. Was im Alten Testament als prophetische Verkündigung aufbricht, das erscheint im Neuen Testament in menschlicher Wirklichkeit und Erfüllung. Denn wer ist Jesus Christus? Nicht zufällig antwortet das Neue Testament auf diese Frage
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mit dem einhelligen Verweis auf die prophetische Verheißung Altisraels. Jesus Christus ist das Beides, was das Alte Testament ankündigt. Er ist das Gericht über die Sünde des Volkes und er ist das Erbarmen über dieses selbe Volk. Er ist der sein Volk richtende und er ist der ihm vergebende, er ist der seine Gemeinde auf Erden sammelnde Gott selber. Wir haben von den Propheten ausgesagt das Doppelte: Einmal sie verkündigen die völlige Souveränität Gottes. Gott löst sich von seinem Volke im Gericht. In Jesus Christus geschieht das wirklich. Und das andere - Gott bindet sich an sein Volk. Er vergibt ihm seine Schuld. In Jesus Christus geschieht das wirklich. Und sofern das bei des auch schon bei den Propheten wirklich geschehen ist, ist es doch auch dort schon, wie die neutestamentlichen Zeugen sagen, "in ihm" geschehen, das heißt: es ist die Morgenröte, die der aufgehenden Sonne vorausgeht. Diese Morgenröte am Horizonte des Alten Testamentes wäre null und nichtig, sie wäre ein bloßer Trug, eine Täuschung irrer Phantasten, wenn die Sonne nicht wirklich aufgegangen wäre. Die Propheten wären versunken und vergessen, wenn sie nicht in Jesus Christus weiterlebten. Jesus Christus ist der wahre Prophet, der Verwirklicher I des Alten Bundes nach seinen zwei Seiten: der königlich richtenden und der priesterlich vergebenden. Damit ist aber in ihm zugleich der schärfste Gegensatz da gegen alles, was wir unter dem Namen des homo religiosus zusammengefaßt haben. Der homo religiosus hat das doppelte Kennzeichen: er ist seines Gottes mächtig, und er steht darum in der Einsamkeit seiner Idealität als ein Ausgesonderter seinem Volke immer irgendwie gegenüber. Er ist nicht solidarisch mit ihm. Er hat keinen Nächsten, für den er eintritt. Er ist darum letztlich unfruchtbar. Jesus Christus ist das Ende dieser, der bloßen religiösen Möglichkeiten schlechthin. Er ist ganz Werkzeug, er ist das Werkzeug Gottes, das Gott ganz gehört, er ist Gottes eigenstes Werkzeug, er ist Gottes Hand selber, mit der Gott an uns handelt. Und er ist darum, weil er seines Gottes nicht mächtig ist, weil Gott in ihm mächtig ist, ganz und gar nicht der sich selber Absondernde, sein Eigenes Suchende. Er ist der ganz und gar mit uns Verbundene. Er ist der, der schlechthin eins geworden ist mit uns, wie er schlechthin eins ist mit Gott, und darum ist sein Kommen zu uns, sei es in Gericht oder in Gnade, ja, man ist versucht zu sagen: vor Gericht und Gnade, das Kommen Gottes zum Menschen schlechthin, das in Gericht und Gnade geschehende eine, unteilbare Werk des sich uns zuwendenden Gottes. Dieses Werk der
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Zuwendung ist das eigentliche Werk Jesu Christi, nur wer das sieht, hat ihn wirklich gesehen. Das sehen heißt glauben. Es heißt konkret ausgedrückt: sich nicht mehr allein sehen, sondern sich sehen als mit ihm, mit Jesus Christus zusammen, der ja nichts anderes ist, als der für uns zu uns Gekommene. Es heißt darum: sich auch unter den Menschen nicht mehr -allein sehen, sondern zusammengerufen zu seinem Volke. Es heißt sich sehen als Glied der Gemeinde, der Kirche. "Seines Volkes sein", das ist ja schon in der alttestamentlichen Botschaft der Inbegriff für Versöhnung. Vermögen wird das? Wir werden, wenn wir gut beraten sind, antworten mit der Bitte: ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben! Denn Glauben das ist nicht unser Werk. Sollte es sich bei uns wirklich um dieses neue Sehen handeln, so hat Gott an uns gehandelt. Das Zeugnis der Schrift von Christus ist uns dann durch Gottes Gnade aus einer dunklen Urkunde zum klaren und hellen Worte Gottes geworden. Das steht nicht in unseren Händen. Denn noch einmal: die Bibel ist ja die Erklärung des Endes aller Menschenmacht. Sie hebt sich damit selber auf in dem Sinne, daß auch sie nicht als Buch Gott in sich eingeschlossen I trüge. Sie weist mächtig auch über sich selber hinaus, ja, gerade daß sie das tut, unterscheidet sie von jedem .anderen Religionsbuch. Sie weist hin auf Gott den Geist, der allein auch ihre Worte auferwecken kann, daß sie Geist und Leben werden. In dieser ihrer Selbstaufhebung kann sie zum Orte werden, an dem wir Jesus Christus wirklich begegnen.
AUSKLANG
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PAUL SCHEMPP: RAND GLOSSEN ZUM BARTHIANISMUS
Auch bei noch so genauer Literaturkenntnis ist der Versuch vergeblich, die Höhe zu erreichen, von der aus es möglich wäre, den Streit für und wider Barth so zu übersehen, daß ein Wort zur Lage weder die Gestalt eines langen Zensurherichts über die wichtigsten der viel zu vielen literarischen Ein- und Ausfälle rund um Barths Theologie und deshalb einer bloßen Verlängerung der ebenso interessanten wie müßigen Debatteschreiberei noch die einer sich durch Belesenheit, Toleranz und Kürze auszeichnenden theologischen Rundschau im Stile Kattenbuschs, also eines allgemein orientierenden und resümierenden Lexikonartikels annehmen müßte. Daß aber ein solches Wort auch weder eine Rechtfertigung der Barthschen Theologie, noch ein Zeichen siegestrunkenen Aufräumungseifers werden dürfte, ist klar, gerade weil Barth leider bis heute noch keinen wirklich gefährlichen Gegner gefunden hat und deshalb das Richten nicht schwer wäre. Es ist wohl ein Fluch der heutigen Theologie, daß sie weder Gemeinschaft noch echte Entzweiung kennt und dieser Fluch macht einsam. Er zwingt in die Neutralität oder aber in den Versuch, allein den Kampf aufzunehmen gegen alle. Es scheint, daß Barth heute noch gen au so einsam ist wie vor zehn Jahren trotz der großen Erfolge seiner Theologie und daß fast die gesamte Literatur über Barth entweder gar nicht von der Sache redet, um die es Barth geht oder aber von anderen sachbezogenen Voraussetzungen her von ihr redet als Barth, was in der Theologie, da ein Widerstreit zwischen Wort Gottes und Geist Gottes nicht behauptet werden kann, nur Zeugnis ist vom Unterschied im Verständnis und in der Aneignung der Sache, gleichgültig, ob nun Barth oder die Barthianer oder die Antibarthianer richtig von ihr reden. Es handelt sich hier nirgends nur um solche Unterschiede im Reden, die dem Unterschied der synoptischen, paulinischen und johanneischen Tradition analog wären, also um die immer variable, persönliche Disposition und Intention der Zeugen, die nicht das geringste Hindernis für die I Einigkeit im Geiste bildet, vielmehr nur die im Dienste Christi herr-
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schende Freiheit beweist, sondern um deutliche Zeugnisse dafür, daß diese Einigkeit im Geist - gleichgültig, wo nun Gottes- und wo Menschengeist redet - eben nicht vorhanden ist. Es könnte Theologen geben, deren Dogmatik sehr viel anders aussieht als die Barths und die doch mit ihm in der gleichen Kirche stünden und das gleiche Evangelium glaubten, aber das Reden, das in der gesamten Barthliteratur für oder wider Barth laut wird, zeugt nicht von solcher Gemeinschaft. Barth und Barthliteratur schließen sich aus, natürlich nicht grundsätzlich - es kann Schriften und Worte geben, die durchaus die geistige Gemeinschaft mit Barth beweisen - das Urteil, ob damit auch Gemeinschaft mit Christus, ist hier nicht zu fällen; es ist ein Glaubensurteil, das die Rechtfertigung durch Gott allein zur Voraussetzung und als Inhalt der Hoffnung hat. Dieser Satz ist also lediglich ein Erfahrungssatz und bedeutet deshalb keine Parteinahme für Barth oder gar eine Kanonisierung Barths, die von vorneherein eine Blasphemie wäre. Barths Dogmatik ist keine Bekenntnisschrift der christlichen Kirche, sondern Bekenntnis von Barths Besinnung über den Glauben an diese Kirche, eine Besinnung, die falsch sein kann, auch wenn irgend eine empirische Kirche so töricht wäre, sich barthianisieren zu lassen. Barth soll nicht herrschen, so wenig. wie eine Kirche. Stellt man Barths Schrifttum und das über Barth Geschriebene oder Phantasierte einander gegenüber, so kann man neben den Mißverständnissen wohl zahlreiche Einflüsse, auch da und dort eine völlig korrekte Wiedergabe von Barths theologischer Position (z. B. Metzger) feststellen, und doch wird meines Wissens überall Barth zuerst in mehr oder weniger glücklicher Photographie eingerahmt, dann gelobt oder getadelt, korrigiert, verbessert oder verschlimmert - ein theologisch durchaus berechtigtes Vorverfahren; aber hier, in der Diskussion über Barths Theologie bleibt man stecken, als ob Theologie ein so harmloses und friedfertiges Unternehmen wäre wie die Aufstellung der Jahresbilanz eines gut fundierten Geschäfts. Barth floriert, seine Bücher gehen und die Konkurrenz strengt sich an. Aber dies hindert nicht, daß der gesamte Produktionszweig, Kirche und Theologie, nur unter die Luxusindustrie zu rechnen ist; sie muß schon sehr interessante Artikel liefern, wenn das Publikum noch kaufen soll. Nicht die Ware, der Verkäufer, die Aufmachung, die Reklame und vor allem das Ansehen der I Firma geben den Ausschlag. Der Erfolg: ein paar bedeutende Theologen, die Aufrechterhaltung des Betriebs mit staatlichen Mitteln, die Erhaltung der Absatzgebiete, die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse des Mit-
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telstandes, die langsame Modernisierung; innerhalb der Wissenschaft, Bildung, Mentalität und Religiosität des 20. Jahrhunderts behaupten Theologie und Kirche ihr traditionelles Plätzchen, die Konjunktur schwankt, aber das Unternehmen ist gesicherter als der Friede Europas. Das alles wird gerechtfertigt durch die Theologie selber, nicht so plump und unglaubwürdig, daß das als Werk und Wille Gottes ausgegeben wird, nein, viel feiner und imponierender dadurch, daß der Zorn Gottes über all das gelegt wird, daß geschmettert und getobt wird wider die Gottlosigkeit der Kirche und die Unfruchtbarkeit und den Mangel an Geist in der Theologie. Im Modus der Selbstanklage wird heute viel wirksamer das Bestehende gestützt als durch die schlichte Pietät und den Sinn für fromme Tradition. Barth macht Schule, weil seine Theologie der heutigen Geisteslage mehr entspricht als andere Theologieen, weil das sacrificium intellectus für solche, die hier wenig zu opfern haben, ein Vergnügen ist, weil die Paradoxie tiefsinnig erscheint, weil die Kritik am Morbiden für Schwächlinge schon eine Kraftleistung ist, weil durch ihn Theologie wieder interessant, problematisch, existenzberechtigt, ein Asyl für Zweifler und Gläubige und die ganze Schar der religiösen Zwischenstufen geworden ist. überall, und so auch in Beziehung auf die Theologie selber, wird allzu rasch von der Anklage zur Rechtfertigung fortgeschritten und auf der ganzen Linie ist statt Krieg Diplomatie, statt Scheidung Ausgleich, statt Ja oder Nein des Glaubens das Ja und Nein der theologischen Spekulation herrschend geworden und bei dem großen Radius, den BarthsTheologie besitzt, wäre es ein Wunder, wenn nicht fast jeder Theologe einige Punkte aufzählen könnte, bei denen er triumphierend sagen kann: das habe ich auch schon längst" vertreten" - so glaubt sich z. B. Wobbermin im Kampf gegen den Psychologismus Barth um einige Jahre voraus oder: Barth hat vollkommen Recht, wenn er usw. Ein Wunder wäre es auch, wenn nicht jeder auch seinen eigenen Feind in Barth hineinlesen könnte, und ein Wunder, wenn nicht überall der Versuch auftauchen würde, Barth zu beweisen, daß er nach der einen oder anderen Seite noch nicht konsequent genug sei, daß er gut daran täte, sich noch etwas weiter zu entwickeln, oder umgekehrt ihm zu raten, einige Radikalismen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren I oder einige Atavismen abzubauen. Man könnte fast sagen, die Diskussion um Barth beginnt allmählich so langweilig und gemütvoll zu werden wie eine theologische Freizeit. Ein paar Abwehrmaßregeln und ein paar Umstellungen im Gedankenapparat und Barth ist kirchen-, fakultäts- und salonfähig
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geworden. Man kann über ihn so prächtig reden, alles einwenden, alles verteidigen und sich etwas ärgern darüber, daß das Chamäleon noch dauernd die Farbe wechselt. Ein paar systemlos ausgewählte Beispiele mögen zeigen, wie der neue Stern auf der theologischen Bühne Deutschlands von den Zuschauern aufgenommen wurde. Messer hat es sich nicht nehmen lassen, Barths Theologie kantisch und fichtisch zu deuten und sie unter Ausschaltung der Frage nach Gott als anerkennenswerte Leistung der "Religion der Abkehr" ethisch zu würdigen mit dem humanen Wunsch, daß sie sich bald vom Bolschewismus erhole und mit der "Religion der Weihe" vor dem Standesamt einer brauchbaren Wertphilosophie eine harmonische Ehe schließen werde. Wenn auch weder Barth noch Messer daran schuldig sein werden, manche Barthianer werden voraussichtlich diesen Wunsch erfüllen, um der Konkurrenz der katholischen Philosophie das Wasser abzugraben. Oepke hat durch Stammbaumforschung festgestellt, daß Barth radikaler Mystiker ist und Oepke zitiert nicht falsch. Halb ist Barth zwar nach Oepke auch Glaubenstheologe. Er hat seine Sendung, ist leidenschaftlicher Erwecker wie alle großen Mystiker, man muß ihm dankbar sein, weitergehen und den alten Kampf zwischen Evangelium und Asien auch gegen ihn selber weiterkämpfen. über die Strategie bei diesem Kampf mag sich Oepke mit W. Bruhn verständigen. - Doch Barth soll ja auch in extremer Weise die ausschließliche Transzendenz Gottes behaupten. Dörries protestiert sogar im Namen Gottes gegen Barth, daß er im Diesseits nur die Abwesenheit des Jenseits sähe, und verkündigt im nationalen Pathos eines preußischen Lutheraners den nahen Gott der Liebe, man möchte fast sagen, das prächtigste, brauchbarste und liebenswürdigste Exemplar eines Gottes, der "nichts Vollkommenes schafft" und mit der Welt in denkbar bester Arbeitsteilung lebt, ein Evangelium, das horribile dictu zugleich Gesetz ist, eine Liebe, die einfach drauflosliebt, einen reflexionsfeindlichen Optimismus, der so ziemlich alles verwechselt, was es in der Theologie zu verweChseln gibt, und der noch paradoxer und dialektischer sein will als der angeblich so pessimistische Barth. Man kann Dörries nur I beneiden und möchte ihn davor warnen, Luther zu lesen, damit er nicht vom Haß und von der Lästerung gegen Gott, die nach Luther, wie die ganze Schrift bezeuge, in einem heiligen Manne stark seien, überfallen und ihm die angebliche Verwandtschaft des Menschen mit Gott nicht fraglich werde.
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Nach Harnack ist Barth Verächter der wissenschaftlichen"Theologie und es wurde auch schon behauptet, Barth sei recht für die Kanzel, aber nicht für die Theologie. Wäre es da nicht zu empfehlen, Barth und Dörries nacheinander predigen zu lassen? Das düstere Nein würde dem seligen Ja in dialektischer Spannung vorangehen; "große Gedanken" würden, wie Dörries will, ins Volk hineingetragen - Dörries sollte zwar wissen, wie gefährlich fürs Volk große Gedanken sind und Salz und Licht wären sachgemäß verteilt. Die Pfarrer könnten sich das Studieren schenken, denn auf der Kanzel ist alles erlaubt. Karlstadt mag den Doktorhut ablegen, der heilige Geist hat auch unter einer Kappe Raum. Theologie ist nur für solche, die schon eine haben, ehe sie studieren, oder die keine brauchen. Entweder versteht auch das Fleisch schon Gottes Wort - der Glaube ist ja nach Dörries da, ehe er weiß, woran er glaubt - oder wirkt der Geist "senkrecht von oben" und Bewußtsein und Besinnung kann man von vornherein entbehren. (Trotzdem, "an die Arbeit, ihr Theologen!" ruft Dörries, verschweigt aber an welche - etwa an die der Richtigstellung seiner eigenen Bibelzitate?) Ist Barth Spiritualist, Schwärmer oder Idealist? Immer wieder, nicht bloß bei Heinzelmann, liest man den Vorwurf, Barth habe kein religiöses Subjekt mehr. Die Verherrlichung Gottes geschehe immer nur durch die Tötung des Menschen, das Reich Gottes sei die Vernichtung der Welt mit ihrer frommen und gottlosen Kultur. Deshalb habe Barth auch keine Ethik. Bloße Kritik, Pessimismus, Leichengeruch an statt Einsicht in die reale Verbindung und Umwandlung des Menschlichen mit und durch Gott. Gott in uns und Gott über uns! Beides müsse an statt der Ausschließlichkeit, mit der Barth nur das Eine sage, festgehalten werden. An dieser Stelle ließen sich ganz auffallende übereinstimmungen katholischer Kritiken (Przywara und Adam) mit solchen von liberaler und von pietistischer Seite aufweisen. Das eine Mal wird die Göttlichkeit der Schöpfung, das andere Mal die innerweltliche und innermenschliche Wirklichkeit der Erlösung ins Feld geführt; aber es steht dahinter, ausdrücklich oder unbewußt, die Lehre von der I analogia entis, durch die Gott als Objekt zum natürlichen oder zum bekehrten Menschen in Relation gesetzt wird. Zu welch naiver Erfahrungstheologie und falscher Kritik dies führt, wenn nicht eine feste Kirchenlehre oder ein robuster Biblizismus die Konsequenzen aufhält, mag man bei Wobbermin nachlesen in seiner neuesten Interpretation von Luthers "Gott und der Glaube gehören zu Haufe" und in seinem
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Meißener Vortrag über die dialektische Theologie, bei denen man die Berufung auf Luther Luther zulieb gern vermissen würde. Nachdem Traub in konsequentem Festhalten an der Unmöglichkeit des logischen Widerspruchs innerhalb der Theologie, also in der reinlichen Scheidung von Denken und Sein das christologische Problem durch Deutung von Gewissenseindrucken, die zu Vertrauens urteilen drängen, gelöst hat, muß ihm Barth als theologischer Wirrkopf erscheinen, der ständig nur die Kste absägt, auf die er sich gerne setzen möchte, um schließlich hilflos beim bloßen assensus fidei, beim orthodoxen Autoritätsglauben zu enden, hartnäckig die Frage nach einem inhaltlichen Maßstab für die Dogmatik ignorierend. Barth ist ferner Rationalist, er vermengt dauernd seine philosophischen, aus der Marburger Schule bezogenen Voraussetzungen mit den Sachgehalten der Schrift, er ist heimlicher Gefangener seines Todfeindes, des Idealismus, außerdem ist er Scholastiker und schließlich endet seine Theologie nach o. Ritschl beim Averroismus, beim Satz von der doppelten Wahrheit. Es ist kein erfreuliches Zeichen, daß die Einwände gegen Barth fast durchweg schon vorauszusagen sind, wenn man den Namen oder die Richtung des Theologen kennt, der über ihn berichtet, ehe man nur dessen Schrift liest. Was sollte auch in "Licht und Leben" anderes stehen als der Hinweis auf den Mangel an Erkenntnis der Liebe Gottes, am Festhalten der historischen Heilstatsachen eben als historischer Gegebenheiten, an Einsicht in das positive Heiligungsleben des Christen, an sieghafter Heilsgewißheit? Was kann Gustav Krüger abstoßen, wenn nicht der Biblizismus Barths und seine Ignorierung der Offenbarungswelt der Religionsgeschichte? So könnte man lange fortfahren und schließlich alle Einwände so konfrontieren, daß sie sich gegenseitig aufheben. Aber das wäre Apologetik für Barths Theologie und deshalb unsachlich. Die Freunde Barths sorgen schon dafür, daß der Barthianismus in Gemeindeleben und Theologie sich behauptet und weiterschreitet, I und man möchte dringend wünschen, daß ihre Schriften (z. B. Strauch, Burckhardt, Haitjema) weniger Empfehlungscharakter trügen, weil das wuchtige Reden von Gericht und Gnade doch allmählich so wohltuend und beruhigend wirkt. Man sollte bedenken, daß o. Ritschl, der an dogmengeschichtlichem Wissen und in der Verankerung seiner Theologie im 19. Jahrhundert Barth weit überragt, bei der Feststellung, in Barths Theologie sei die Gesprächigkeit eine Haupteigenschaft Gottes, Barth und den Barthianismus zwar mit Gott
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verwechselt, aber daß die Möglichkeit solcher Verwechslung Vorsicht gebietet, wenn sich auch Ritschl besser in diesem Punkt an die Kirchen gewandt hätte, mit der Bitte um Einschränkung der amtlichen Gesprächigkeit. Es ist zu sagen, daß die Literatur für Barth fast durchweg (Ausnahmen: Metzger und mit der durch den Popularisierungsversuch bedingten Einschränkung Kolfhaus) nicht besser ist als die gegen Barth. Noch deutlicher als die Literatur beweisen das die vielen Vorträge, die dem Interesse für Barth entgegenkommen wollen. Entweder Jaund Aber-Theologie im schlechten Sinn oder Schülertum, das oft an jünglinghafte Nietzschebegeisterung erinnert. Aber wie steht es mit Barth und den andern Dialektikern? Sind nicht Brunner, Gogarten und Bultmann Vertreter der gleichen »Richtung", Mitkämpfer Barths? Und hört man nicht bei Althaus und Heim manche dialektische Klänge? Ja gibt es noch ein systematisches Kolleg und Seminar, in dem nicht ernste Auseinandersetzung mit der Dialektik stattfindet? Ja. Es gibt eine Front der Dialektiker und der Student begegnet ihr auf jeder Hochschule direkt oder indirekt. Barth hat der theologischen Arbeit neue Richtungen und Fragen gegeben, hat in die Studierstuben Kämpfe von ehrfurchtgebietendem Ernst gebracht. Aber trotzdem kämpft jeder auf eigene Faust mit Büchern und Papier und jedem werden die Abgrenzungen gegen den andern immer wichtiger. Einsam steht Theologie neben Theologie, Dozent neben Dozent; Individualismus und Virtuosentum beginnen zu herrschen bei aller gegenseitigen Auseinandersetzung und Befruchtung. Der Student ist das Opfer der Lehrfreiheit der Akademiker geworden. Er muß Schüler eines Meisters werden oder er geht nur mit einem Schulsack voll kunterbunten Wissens ins Amt. Er predigt dann eine bestimmte Theologie und die Gemeinde bleibt hungrig, oder er paßt sich der Gemeinde an und diese bleibt satt. Muß der Student, der alle Disziplinen durchlaufen hat, nicht ratlos seufzen über die vielen I Teile, denen das geistige Band fehlt? Ist ihm geholfen, wenn er die Systeme von 10 Meistern im Gedächtnis hat? Und ist er nicht noch ärmer, wenn er eingeschworen ist auf Einen? Wenn unter den Lehrern nur die Bücher die Gedanken vermitteln und jeder nur in spekulativer Synthese oder in spekulativer Diastase zum andern seinen theologischen Bau erstellt, jeder objektiv, jeder kirchlich, jeder schriftgemäß, jeder auch in persönlicher Treue zu sich selber, jeder aus der Souveränität und Geborgenheit seines akademischen Amtes heraus Buchstaben in Geist und Geist in Buchstaben verwandelt, wenn das Wissen und Vielwiss,en höchstens noch durch Speku-
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lation überboten wird und sich die Bewegung des Denkens nur vom Sein des Denkers entfernt - auch Leben und Lehre müssen, so sehr sie nach Luther wie Erde und Himmel zu scheiden sind, in der Person· des Lehrers zusammenstoßen -, dann kann zwar die Wissenschaft blühen und die Bibliotheken können wachsen, aber wie die reiche und tiefe katholische Wissenschaft heute keinen einzigen Weihwasserkessel umwirft, so ist die protestantische Theologie auf der Fehlhalde der bloß gedanklichen Interpretation der Schrift und der Reformation, während eine entschlossene Wendung zum Stehen in der biblischen Freiheit und zur Beugung unter das göttliche Gesetz eine wirkliche Krisis in die Theologie bringen müßte, die zunächst an den Universitäten große Umschichtungen im Gefolge hätte (Fakultät und Professor, Fakultät und Fakultäten, Fakultät und Kirche, Fakultät und Staat, Fakultät und Fachschaft, Fakultät und Examen, überall Paragraphen zur Verteilung von Rechten und Pflichten, während der Primat der nach Luther heilsnotwendigen Theologie immer mehr preisgegeben wird und die Gemeinschaft der Kirchenlehrer und Kirchendiener vielfach fast nur aus Wahl, Zufall und Examensbedingungen resultiert; zu wenig Gesetzesstrenge: wie wenig weiß heute der Student, was er studieren soll; und zu wenig evangelische Souveränität: wie abhängig ist die Theologie von den Satzungen dieser Welt, vor allem von dem repräsentativen "man" I). - Schon die zeitgenössisch-exegetischen Urteile über Barth beweisen ja, daß Verständigung, ob sie durch Zustimmung oder durch Widerspruch erfolgt, immer auch Vergewaltigung ist, Vergewaltigung des Exegenden an dessen Wort oder Geist und Vergewaltigung des Exegeten durch Verdeckung des eigenen Wortes oder des eigenen Geistes mit der Maske des Mit- oder Gegenspielers. Das Problem der Verständigung ist das Problem von Glaube und Wissen. Die Verständigung von außen her, I also auf dem Weg der Wissenschaft, muß unerbittlich versucht und weitergeführt werden bis zu dem Punkt, an dem die Erkenntnis auftaucht, daß Gemeinschaft und Entzweiung nur echt sein können, wenn sie nicht nur in mehr oder weniger wissenschaftlich gegründeten Thesen und Antithesen ihren Grund haben, sondern in der Haltung beider Gesprächspartner vor Gott, die selber wieder nur Antwort sein kann auf die Haltung Gottes zu ihnen, die ohne Zwischenstufen nur die des Zorns oder der Gnade ist. Das Gesetz der Wissenschaftlichkeit darf nicht durchbrochen werden, aber theologice, vor Gott, nicht humana ratione führt dieses Gesetz zur Heuchelei, zu erheuchelter Gemeinschaft wie zu unechter Ent-
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zweiung; das Halten der Einigkeit im Geiste und die Scheidung der Geister ist Gesetz, das nicht erfüllt werden kann durch theologische Arbeit. Und diese Unerfüllbarkeit der Forderung ganzer Gemeinschaft vor Gott oder ganzer Trennung vor Gott wird deutlich in der Diskussion um Barth. Bald voreiliger Friedensschluß, als ob man Theologie treiben könnte wie einen Warentausch und ohne in sich den Todfeind aller Theologie entdecken zu müssen (Luther: Qui dicit se legem diligere mentitur et nescit, quid dicat) und bald voreilige Angriffe, als ob nicht auch der Gegner nur durch das Hangen an Christus und nicht durch seine theologische Position gerechtfertigt sei. Das Wissen ist Gesetz, das Glauben Evangelium. Beide, Gesetz und Evangelium, sind nach Luther re ipsa diversissima, longissime distincta, plus quam contraria, alterum infernus, alterum coelum, aber in corde, in affectu sind sie conjungenda und conjunctissima. "Speculative conjunguntur facillime, sed practice ea conjungere est omnium dificillimum" und unmöglich ohne experientia und tentatio. Dieser Kampf zwischen Himmel und Hölle, der nur durch den "quotidianus adventus Christi" entschieden wird, ist in der theologischen Diskussion der Gegenwart durch eine stetige Verwechslung von christlicher und stoischer Liebe zurückgehalten. Das Gesetz des wissenschaftlichen Forschens erfüllen wollen müßte zu einer Gemeinschaft in der Schuld führen, die jeden persönlichen Ehrgeiz, alles Rechthabenwollen restlos ausschließt, und der Glaube, die Auslieferung von Denken und Sein an ihr volles Gerechtfertigtsein durch Christus müßte zu einem Kampf führen, in dem sich eine Scheidung bis in die Familien-, nicht bloß bis in die Standeszusammengehörigkeit hinein bahnbrechen müßte, gefährlicher, tiefer, umwälzender als aller Bolschewismus, reicher, fruchtbarer, befreiender -als alle allgemeine Rechtfertigung der Schöp- I fung durch theologische Durchschau und Hoffnung. Es gibt nichts in allen sozialen Verhältnissen der Gegenwart und allen Bestrebungen, die zu bessern, das nicht auf eine tätige erneuernde Antwort durch die Kirche bisher vergeblich wartet. Die Pfarrer wollen helfen, aber durch ihre theologische Bildung gehemmt, versuchen es alle mit dem V:fjOEV &.ya,v mit der Vermittlung und Aussöhnung und Vertröstung; es setzt sich die Halbheit in der Entzweiung und die Halbheit in der Gemeinschaft, die für die Theologie bezeichnend ist, ins Amt fort und alle Seufzer der jungen Theologen gehen in der mit Glauben verwechselten Resignation unter. Der Laie hat ein Recht, den Theologen zu fragen: Worauf gründe _ ich mein Handeln und Denken und Sein so, daß es in Gott zu Gottes
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Ehre geschieht und ist? und der Student, der hier später Rede stehen soll, hat die Pflicht, auf dieser Frage an seine Lehrer rücksichtslos zu bestehen, bis diese, allein oder gemeinsam, aber nicht allgemein in einer Synthese des gegenwärtigen Standes der theologischen Wissenschaft, nicht durch wohlwollende Abgrenzung und Bescheidung, sondern mit der Maßlosigkeit der ihnen durch ihr Amt zugemuteten göttlichen Autorität Antwort geben, die verbindet oder trennt, aber nicht in Neutralität läßt. Sonst wäre es besser, wenn die Theologen den naivehrlichen Humor aufbrächten, den ein Bauer .auf die ketzermordende Predigt seines Pfarrers hin in dem Wort an seinen Nachbar bewies: "i müeßt aber lache, wenn jetzt mir (= wir) da falsche Glaube hättet". Aber vielleicht wäre es doch ratsamer, noch radikaler Theologie zu treiben, bis es ohne Seligpreisungen und ohne Weherufe nicht mehr geht, aber bei beidem gegen sich und den Nächsten ohne Ansehen der Person. Man würde dann weniger Kamele verschlucken und weniger Mücken seihen und man käme von den Theologien einen Schritt weiter in der Richtung auf die Theologie, von den Kirchen einen Schritt weiter in der Richtung auf die Kirche, die mitten unter ihren Feinden durch Gott bei seinem Wort erhalten wird, durchs Gesetz dem Gesetz, durch die Theologie der Theologie gestorben.
Literatur: W. Metzger: Der Angriff Kar! Barths als Kampf um die Sache, Monatsschrift für Pastoraltheologie 1925, 1-3. A. Messer in Gemmer-Messer: Sören Kierkegaard und Kar! Barth, Stuttgart 1925. A. Oepke: Kar! Barth und die Mystik, Leipzig 1928. W. Bruhn: Vom Gott im Menschen, 1926; vgl. Zwischen den Zeiten, 1927, S. 33. B. Dörries: Der ferne und der nahe Gott, Gotha 1927. Heinzelmann: Das Prinzip der Dialektik in der Theologie Kar! Barths. NKZ XXXV, 12, S. 532-556. Schmidt-Japing: Die christologischen Anschauungen der dialektischen Theologie, Apologetisches Jahrbuch 1925. E. Przywara: Gott in uns oder Gott über uns, StZ, 53./11. 1923, S. 343-362. K. Adam: Die Theologie der Krisis, Hochland, 23. Jg. 9, S. 271-286. Wobbermin: Der Kampf um die dialektische Theologie, ChW 1928, Nr. 3/4. - Gott und der Glaube gehören zu Haufe. ZThK 1928, H.l, S. 51 ff. (vg1.1927, 4, 251 ff.). Fr. Traub: Kar! Barths Dogmatik, MPTh 1928. W. Knappe:, Kar! Barth und der Pietismus. Licht und Leben, 39. Jg., Nr. 30-34.
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Gustav Krüger: The Theology of Crisis, HThR 1926. Strauch: Die Theologie Kar! Barths, München. P. Burckhardt: Was sagt uns die Theologie Kar! Barths und seiner Freunde? Basel 1927. Th. L. Haitjema: Karl Barths "kritische" Theologie, Wageningen 1926. O. RitschI: ThLZ 53, 10 (12. V. 1928). W. Kolfhaus: Die Botschaft des Karl Barth, 1927. RGG., 2. Aufl., Bd. I, Sp. 1914 (dort auch Literaturangaben). Kar! Heim: Glaube und Leben, Berlin, Furche, 2. Aufl., Vorwort. F. Kattenbusch: Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher.5 Gießen 1926.
ABSCHIED VON "ZWISCHEN DEN ZEITEN" K.BARTH
Als wir im Herbst 1922 "Zwischen den Zeiten" begründeten: Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen und ich mit Georg Merz als Schriftleiter, da waren wir uns, wie wir meinten, leidlich einig in dem, was wir wollten: im Gegensatz zu der positiv-liberalen oder liberal-positiven Theologie des Neuprotestantismus des Jahrhundertanfangs mit dem Menschgott, den wir als deren Heiligtum erkannt zu haben meinten, eine Theologie des Wortes Gottes, wie sie sich uns als jungen Pfarrern von der Bibel her allmählich als geboten aufgedrängt hatte und wie wir sie bei den Reformatoren vorbildlich gepflegt fanden. (Der Name "dialektische Theologie" ist uns noch im selben Jahr von irgend einem Zuschauer angehängt worden.) Es konnte nun schon nach der Vollendung weniger Jahrgänge unserer Zeitschrift keinem Kundigen verborgen bleiben, daß das Verständnis jenes stillschweigend vorausgesetzten Programms insbesondere bei Gogarten und mir ein nicht unerheblich verschiedenes war. Aber man konnte sich eine gute Weile dabei beruhigen und sogar daran erfreuen, daß es wohl ein Zeichen von Bewegung und Reichtum in unserem Kreise sein möchte, wenn man den Einen fast dauernd mit den philosophischen bzw. ethischen Grenzfr.agen der angeblich gemeinsamen Aufgabe, den Anderen fast ebenso dauernd mit Theologiegeschichte und Dogmatik beschäftigt sah. Schwebte nicht schon in der allerersten Zeit die Frage in der Luft: Warum versäumst du die notwendige Bereinigung der Voraussetzungen? Und die Gegenfrage: Wann wirst du endlich, endlich zur Sache
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kommen? Doch warum sollte es nicht ganz interessant und nützlich sein, sich gegenseitig so zu fragen und fragen zu lassen? Und wenn man mit den vorrückenden Jahren immer öfter so etwas wie gelegentliche implizite oder auch explizite Polemik herüber und hinüber wahr.zunehmen bekam, wenn die anthropologische Richtung des Einen mit der Zeit so unverkennbar wurde wie die theologische des Andern wenn dann scheinbar oder wirklich unabhängig von diesem Gegensatz, oder auch in bewußter Anteilnahme an der einen oder anderen Seite, Dritte und Vierte und Fünfte hinzutraten und, vermeintlich immer auf dem gemeinsamen Grundton, ihr besonderes Lied mehr oder weniger vortrefflich, erbaulich und lehrreich I dazwischen sangen - nun, dann konnte und durfte das Alles in all diesen geistig bewegten aber nicht eben zu Entscheidungen herausfordernden Jahren wohl so sein. Die vor fünf Jahren einmal gefallene Behauptung eines jüngeren Frechlings: daß die Führer der dialektischen Theologie unter sich so uneins seien wie die chinesischen Revolutionsgenerale, konnte als nicht übler Witz belacht und beiseite gelegt werden. Die vorhandenen und uns nicht unbewußten Spannungen wurden ertragen, weil sie nicht unerträglich waren und sie wurden von manchen Lesern offenbar nicht nur ertragen, sondern wegen des mannigfaltigen und gerade so anregenden Inhalts, den die Zeitschrift von daher zu bekommen schien, hochgeschätzt. Georg Merz aber, durch Natur und Gnade in gleicher Weise gerade zu solchem Amt ausgerüstet, hat in oft mühsamer und immer entsagungsvoller Arbeit, ermunternd und ausgleichend, wo es Not tat und auch aus seinem Eigenen aufs glücklichste ergänzend, die entstandende Gruppe in immer neuen Formationen aufgestellt und vorgeführt. Und auch unser Herr Verleger konnte von seinem besonderen Ort aus mit dem Gang der Ereignisse gewiß nur zufrieden sein. Es hätte vielleicht noch lange so weitergehen können. Die Frage, ob es in Ehren so weitergehen dürfe, hat mich in akuter Weise zum ersten Mal jetzt vor einem Jahr und dann den ganzen letzten Winter hindurch beschäftigt. Die Leser des ersten Ha:lbbandes meiner Dogmatik wissen um die Frage, die ich dort an Gogarten richten zu müssen meinte - der Text S. 128 f. stammt schon aus dem Sommer 1931 und ist Gogarten damals sofort mitgeteilt worden - die Frage: inwiefern sich seine anthropologische Unterbauung der Theologie nun eigentlich von der natürlichen Theologie des Katholizismus und des Neuprotestantismus noch unterscheiden möchte? Eine Antwort darauf habe ich nie erhalten. Es erschienen aber auf dem Hintergrund der
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inzwischen veröffentlichten "Politischen Ethik" in ZZ 1932 die Aufsätze "Staat und Kirche" und "Schöpfung und Volkstum", die mich im Lichte jener unbeantworteten Frage mit einer nicht mehr zu unterdrückenden Bekümmerung erfüllten. Wohin, wohin ging die Entwicklung, die, mit den Untersuchungen über den echten Begriff der Geschichte begonnen, über die Lehre vom Du und Ich. zu dem immer massiver werdenden Dogma von den Ordnungen geführt hatte? In welcher Meinung wohl, so fragte ich mich jetzt schon rückblickend, hatte Gogarten bereits seiner "Religiösen Entscheidung" von 1921 das Thomaswort: Gratia non tollit naturam sed perficit vorangestellt? I Es kam dazu, daß ich in und außerhalb unserer Zeitschrift den ebenfalls zu unserer Gruppe gerechneten Emil Brunner eine Theologie treiben sah, die ich immer mehr nur noch als eine unter neuen Fahnen vollzogene Rückkehr zu den - so wie ich unseren gemeinsamen Ausgang verstanden hatte - mit Ernst verlassenen Fleischtöpfen des Landes Agypten, nämlich zu dem neuprotestantischen, bzw. katholischen Schema" Vernunft und Offenbarung", wie es im Protestantismus zum ersten Mal von der sog. "vernünftigen Orthodoxie" an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert offen proklamiert worden ist, beurteilen konnte. Ich sah aber auch mit Befremden, daß die Schar unseres engeren und weiteren Leserkreises und nicht zuletzt unser Schriftleiter sich durch den immer offenkundiger werdenden Zwiespalt durchaus nicht zu einer Entscheidung aufgerufen zu fühlen, ja, daß sie den Zwiespalt überhaupt nicht so sehr zu empfinden schienen, sondern daß sie sich immer wieder ebenso gern gefallen ließen, durch meine Manifeste so faßte man es ja wohl auf - im Sinn des zweiten und dritten Artikels aufgerufen zu werden, wie durch die von Gogarten im Sinn des ersten Artikels eine Art Rückversicherung zu erhalten. In der vor einigen Jahren in den Verlag Chr. Kaiser übernommenen mehr volkstümlichen Zeitschrift "Christentum und Wirklichkeit" sah ich es erst recht anschaulich zum Vorschein kommen, in welcher Dosierung und Mixtur man in Franken und in anderen mittleren Gegenden die vor 10 Jahren viel zu laut gepriesene Neuentdeckung "biblisch-reformatorischer Einsicht" zu verstehen und an den Mann zu bringen gedachte. Ich fragte mich in gewissen Stunden des letzten Winters fast verzweifelt, ob denn die so entstehende Limonade nun wirklich der Arbeit und der Kämpfe wert sein möchte, die wir an die Aufgabe einer Erneuerung des theologischen Denkens und der kirchlichen Verkündigung seit nahezu 20 Jahren gewendet zu haben meinten. Es war mir ein Trost zugleich und
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eine Beunruhigung, von dem einen Eduard Thurneysen immer wieder bestätigt zu hören, daß er meine Sorge teile und daß jedenfalls wir zwei es ursprünglich anders gemeint hatten als so. Ich dachte aber noch immer, nach einer zu Beginn des laufenden Jahrgangs eingeführten leisen Veränderung in der äußeren Aufmachung der Zeitschrift könnte ich mit gutem Gewissen, nämlich in der immerhin nicht unmöglichen Hoffnung auf neue Entwicklungen innerhalb des ganzen Kreises in diesem Kreis insofern mit drinstehen, als ich meine Arbeiten nach wie vor, in der Erwartung, mindestens auch gehört zu werden, in diese nun einmal I aufmarschierte Reihe stellte. Es war eben doch noch immer Friedenszeit, in welcher es als erlaubt oder sogar geboten erscheinen konnte, in solchen Fragen der Taktik fünf gerade sein zu lassen. Aber die letzten Monate dieser Friedenszeit sind für mich wahrhaftig nicht mehr schön gewesen. Irgendeinmal im Lauf dieses Sommers las man dann im "Deutschen Volkstum" das Bekenntnis Gogartens zu dem Stapelschen Theologumenon, daß das Gesetz Gottes für uns identisch sei mit dem Nomos des deutschen Volkes. Daß Gogarten sich wenig später mitsamt seiner Umgebung auch kirchenpolitisch an die Seite von Ludwig Müller und Joachim Hossenfelder stellte, war und ist mir verhältnismäßig nebensächlich neben der Tatsache jenes von ihm in der Schrift "Einheit von Evangelium und Volkstum?" S. 18 und 23 in aller Form wiederholten Bekenntnisses. Gogarten hat sich mit diesem Satz die entscheidende These der Deutschen Christen zu eigen gemacht. Es ist hier nicht der Ort, diese These zu diskutieren. Ich anerkenne ohne weiteres, daß Gogartens ganzer Weg ihn in höchster Folgerichtigkeit dazu führen mußte, sie gutzuheißen. Sie und sein Beitritt zu der "Glaubensbewegung" ist nur der unzweideutige Ausdruck dessen, was er immer gemeint und gewollt hat. Post eventum kann und muß man wirklich sagen: es ist nichts selbstverständlicher als dies, daß es mit ihm dahin kommen mußte. Es ist nun "aus dem Faß", wie Luther zu sagen pflegte. Ebenso folgerichtig ist aber auch von meiner Seite die glatte, zornige Ablehnung jener These. Ich habe bei dem, was wir damals am Anfang der zwanziger Jahre gemeinsam zu bekämpfen schienen, immer gerade auf das gezielt, was jetzt in der Lehre, in der Mentalität und Haltung der Deutschen Christen in geballter Form auf dem Plane steht. Ich kann in den Deutschen Christen nichts, aber auch gar nichts anderes sehen als die letzte, vollendetste und schlimmste Ausgeburt des neuprotestantischen Wesens, das die evangelische Kirche, wenn es nicht zu
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überwinden ist, romreif machen muß und wird. Ich halte den Stapelschen Satz über das Gesetz Gottes für den vollzogenen Verrat am Evangelium. Ich meine, daß dieser Satz nun doch wieder und viel schlimmer, weil viel grundsätzlicher und viel konkreter als in der Ara Harnack-Troeltsch, die Aufrichtung des Menschgottes des 18. und 19. Jahrhunderts bedeute. Gogarten wird sich über mich so wenig wundern wie ich mich über ihn wundere. Die Sonne hat es ja bei mir wie bei ihm nur an den Tag gebracht. Wir sind jetzt beide klüger als wir vor dreizehn I Jahren oder noch vor einem Jahr waren. Das muß aber heißen: wir sind nun geschiedene Leute. Es hätte keinen Sinn mehr, sondern es könnte die theologische und kirchliche öffentlichkeit nur noch irreführen und verwirren, wenn wir fernerhin nach außen eine Gruppe und Front darstellen wollten. Gogarten steht dort, wo E. Hirsch, wo Wobbermin, wo H. M. Müller, wo Fezer und Schumann, wo sie alle, alle stehen. Wer aber dort steht, mit dem kann und will ich nicht einmal scheinbar in einer Gruppe zusammenstehen und zusammenarbeiten. So wenig wie der Apostel Johannes, wenn die Nachricht stimmt, mit Kerinth zusammen in einer Badeanstalt sein wollte. Trotz oder gerade wegen seines: "Kindlein, liebet euch untereinander!" Das ist meine Entscheidung hinsichtlich Gogartens und der Deutschen Christen. Ich nehme an, daß Gogarten selbst sie wenigstens formal verstehen und billigen wird. Sie ist aber nicht die Entscheidung des Schriftleiters und des Verlegers und sie ist, wenn nicht alles täuscht, auch nicht die Entscheidung des größeren Teiles der Leserschaft von ZZ. Ihre Entscheidung geht dahin, daß die kirchliche Krise dieses Jahres für ZZ keine Entscheidung notwendig mache, daß die Sonne in unserem Kreise nichts an den Tag gebracht habe, daß theologische Aufsätze auf der Basis jenes Stapelschen Satzes fernerhin ruhig neben einem Aufsatz wie etwa dem von mir über das erste Gebot in ZZ stehen und gelesen werden könnten, kurz, daß, als wäre nichts geschehen, in ZZ alles so weitergehen könne wie bisher. Das klassische Dokument dieser Entscheidung für die Nicht-Entscheidung war das Heft 4 dieses Jahrgangs. Auf Grund dieser Entscheidung muß ich meine Mitarbeiterschaft an ZZ als abgeschlossen ansehen. In einer Zeit wie der jetzigen, wo das Feld der Theologie und Kirche aus einem bloßen Manöverfeld zum Kriegsschauplatz geworden ist wie in den Zeiten, um die wir bis jetzt vorwiegend aus den Büchern wußten - in einer solchen Zeit müßte ich für den theologisch-kirchlichen Inhalt einer Zeitschrift, für die ich mich als Mitbegründer dem Inland und Ausland gegenüber haftbar
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fühle, die Verantwortung voll mitübernehmen können. Das kann ich aber nicht, wenn auch nur ein einziger von den Deutschen Christen oder den ihnen Nahestehenden fernerhin ebenfalls an dieser Zeitschrift mitarbeitet, wenn die Schriftleitung keinen Sinn dafür hat, daß es mit der Gemütlichkeit und Duldsamkeit nun für einmal vorbei sein muß, wenn ich also befürchten muß, im nächsten Heft z. B. irgend eine sanft-kluge Verteidigung des I Arierparagraphen auf Grund der Schöpfungsordnungen als einen immerhin auch möglichen Beitrag zur "biblisch reformatorischen Einsicht" zu lesen zu bekommen. Weil ich das nicht kann und weil Schriftleitung und Verlag ihrerseits auch nicht anders können, darum muß ich von ZZ Abschied nehmen. Georg Merz will, wenn ich ihn recht verstehe, in der Gestaltung von ZZ im Kleinen die Situation wiederholen, die wir nun in der deutschen evangelischen Kirche im Großen vor uns haben: das interessante Nebeneinander von Ja und Nein. Ich meine, daß ZZ dies der "Christlichen Welt", der "Zeitwende" oder ähnlichen Organen hätte überlassen dürfen. Ich meine, daß der Ort, von dem aus man solche Synthese für möglich hält, ein geschichtsphilosophischer und kein theologischer ist. Ich meine, wahrhaft kirchlich hätte unsere Zeitschrift in der heutigen Zeit nur dann sein können, wenn sie sich als ein bescheidener aber nicht zu durchbrechender Damm gegen die deutsch-christliche überschwemmung bewährt hätte. Da das nicht möglich ist, kann ich, so leid es mir tut, nichts mehr mit ZZ zu tun haben. Ich will lieber gar nicht mehr gehört werden, als der Meinung Vorschub leisten, daß man fernerhin gemächlich mit dem einen Ohr mich und mit dem anderen Gogarten hören könne. Wer das will, der soll heute lieber gleich ganz und gar nur Gogarten hören. - Die Gründung und der Bestand von ZZ war ein Mißverständnis. Ein produktives Mißverständnis, so viel kann und darf man trotz allem schon heute sagen. Könnte man die Wege der Vorsehung einsehen, so dürften wir vielleicht sogar sagen: ein notwendiges Mißverständnis. Aber auf alle Fälle - der unversöhnliche Gegensatz zwischen Gogartens und meiner Arbeit, wie er nun am Tage ist, und noch mehr das Nichtverstehen zwischen Georg Merz und mir hinsichtlich des Ernstes jenes Gegensatzes beweist es - ein Mißverständnis.Mißverständnisse sind dazu da, um beseitigt zu werden. ZZ wird kein Mißverständnis mehr sein, nachdem ich mich davon zurückgezogen habe. Erklärungen wie die hier abgegebenen pflegen nachher allerlei Deutungen ausgesetzt zu sein, mit denen man sich die Stellungnahme dazu
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vereinfachen zu können meint. Und wer kann sich wehren gegen Deutungen? Ich darf aber den Deutern - es ist selbstverständlich, daß ich hier weder an Gagarten noch an Georg Merz denke - einige Warnun. gen mit auf den Weg geben. Es werden etliche Lust haben, meinen Rücktritt von ZZ wie meine ganze Stellung zu der gegenwärtigen kirchlichen Krise auf I den Gegensatz meines reformierten zum lutherischen Bekenntnis zurückzuführen. Ich warne. Selbstverständlich bin ich reformiert. Aber der in der "Glaubensbewegung Deutsche Christen" kulminierende Neuprotestantismus zerstört das lutherische ebensowohl wie das reformierte Bekenntnis. Ein in seiner Weise so guter Lutheraner wie A. F. C. Vilmar hat einst in nicht ganz unähnlicher Lage ebensowenig mit sich markten lassen, wie dies mir jetzt möglich ist. Gute Lutheraner stehen heute nicht bei den Deutschen Christen, nicht bei den Vermittlern zwischen diesen und uns Anderen, sondern entschlossen bei uns Anderen! Und schlechte Reformierte genug stehen ganz oder halb bei den Deutschen Christen. Wenn irgend einmal der Augenblick zur Union zwischen den guten Lutheranern und den guten Reformierten (ich weiß, wie spärlich beide heute gesät sind) nämlich zur Union in einem neuen Kampfbekenntnis gegen die neueste Gestalt des altbösen Feindes, gekommen sein sollte, dann heute. Die ernsthaften F.ronten laufen heute wirklich durch die Grenzen der beiden überkommenen Bekenntnisse quer hindurch. Es werden etliche Lust haben, bei diesem Anlaß wieder und wieder Betrachtungen des Inhalts anzustellen, daß hinter meinem theologischkirchlichen Urteil entscheidend doch nur mein politisches Denken über die Vorgänge dieses Jahres stehe. Ich warne. Selbstverständlich habe ich darüber meine eigenen Gedanken. Aber wenn ich wirklich von daher zu interpretieren wäre, dann hätte ich wohl schwerlich den deutschen Religiös-Sozialen so gründlich das Konzept verdorben, wie dies schon 1919 nach dem unverdächtigen Zeugnis von Leonhard Ragaz geschehen ist, dann hätte meine theologisch-kirchliche Affinität zum Marxismus, Liberalismus etc. doch auch in den berüchtigten 14 Jahren irgendwie sichtbar werden müssen, dann müßten in dieser Zeit, und ich füge hinzu: auch in diesem Jahr 1933 meine politisch überwiegend ganz anders als ich eingestellten Zuhörer irgendetwas von diesem bösen kausalen Zusammenhang meiner Theologie gemerkt und sich entsprechend verhalten haben. Man beweise mir diesen Zusammenhang aus meinen Büchern, Aufsätzen und Predigten oder man frage, wenn man
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will, in Göttingen, Münster und Bonn nach, was ich in all den Jahren getan und nicht getan habe und dann - aber erst dann, setze man, wenn man kann und mag, das Reden über meine politischen Hintergründe fort. Bis dahin werde ich es für ein unter Männern unwürdiges Gerede halten. I Und es werden etliche Lust haben, bei diesem Anlaß nochmals und nochmals darauf hinzuweisen, daß ich eben ein Schweizer und nicht, wie Hirsch so schön schrieb, "von der Wurzel bis zum Wipfel" ein Deutscher sei. Ich warne. Selbstverständlich bin ich ein Schweizer, nicht nur halb, sondern ganz, genau so wie ich nun ebenfalls nicht halb, sondern ganz zwölf Jahre lang mein Leben in Deutschland gelebt, meine Arbeit in Deutschland getan habe. Aber es gibt doch auch Schweizer, und zwar in der Schweiz lebende Schweizer, die nicht höher als auf Gogarten schwören und andererseits gute Deutsche, und zwar in Deutschland lebende Deutsche, die gar nicht daran denken, dies zu tun. Seit wann ist es üblich, den Heimatschein eines Menschen zum Argument in einer sachlichen Auseinandersetzung zu machen? Was gedenkt man eigentlich in der Sache, um die es heute in Theologie und Kirche geht, mit diesem Argument zu beweisen? Will man etwa mir und so und so viel geborenen Deutschen mit mir einreden, das echte Deutschtum fange erst mit dem Arianismus und mit dem Bekenntnis zur natürlichen Theologie an? Ein ernstes verantwortliches Mittragen des deutschen Schicksals müsse sich ausgerechnet in der Kniebeugung vor den Mysterien der Deutschen Christen oder doch in der Respektierung ihres angeblich berechtigten "Anliegens" erweisen? Ich weiß wohl, in welchem Stück ich ein Schweizer bin und mitten in der deutschen Theologie und Kirche auch total und unentwegt bleiben will - in dem nämlich, was bei dem sehr profanen Gottfried Keller zu lesen steht: Heil uns, noch ist bei Freien üblich Ein leidenschaftlich freies Wort!
Und ich meine allerdings, daß ich - wenn denn von meinem Heimatschein durchaus die Rede sein soll- meine Liebe zu Deutschland,meine Zugehörigkeit zu ihm nicht wohl besser beweisen kann als indem ich in diesem Sinn mitten in Deutschland aber im Unterschied zu vielen Deutschen ein - Schweizer bin. Man zeige mir, mit welchem Recht man mich deshalb erledigen will! Dies an die Adresse der Leichtfertigen! - Ich weiß, daß auch Ernsthafte, auch Menschen, die sich der erwähnten, törichten Argumenta-
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tionen enthalten werden, Menschen, die sich auch sachlich, auch gegenüber den Deutschen Christen, auch gegenüber den Vermittlern weithin mit mir eins wissen, über meine schroffe Haltung in der gegenwärtigen kirchlichen Lage und nun auch über diese meine besondere Absage den Kopf schütteln werden. Ich gebe zu, I daß es auch im gegenwärtigen Augenblick angesichts der Verschiedenheit der Temperamente und Lebensführungen nicht ohne weiteres Jedermanns Sache sein kann, so scharf zu sein, wie ich es offenbar bin. Wenn man mir nur umgekehrt zeigen könnte, mit welchem inneren Recht man heute weniger scharf sein darf! Bis dahin möge man mir glauben, daß ich nicht nur der Sache, um die es uns allen gehen muß, sondern auch und gerade allen denen, denen es mit dieser Sache Ernst ist, ob sie mich in diesem Augenblick verstehen oder nicht, gerade damit Treue zu halten meine, daß ich jetzt scharf bin und also z. B., da ich ZZ nicht scharf machen kann, von ZZ Abschied nehme. Ich bin der Meinung, daß ich mit dieser Tat manchem deutlicher sagen kann, was ich sagen möchte, als wenn ich in ZZ im bisherigen Rahmen weitere Worte machen würde. Und ich bin der Hoffnung, daß dieser Schritt einmal auch denen als sinnvoll einleuchten wird, deren letzter Eindruck jetzt doch bloß der sein sollte, daß ich reichlich - eigensinnig sei. Meine künftigen Veröffentlichungen werden bis auf weiteres in einer zwanglos erscheinenden Schriftenreihe unter dem Titel "Theologische Existenz heute" im Verlag ehr. Kaiser München erscheinen, die Eduard Thurneysen und ich herauszugeben schon begonnen haben.
Bann, 18. Oktober 1933
E. THURNEYSEN Ich sehe mich genötigt, meinem Aufsatz im vorliegenden Heft ein persönliches Wort beizufügen. Ich muß erklären, daß ich mit diesem Aufsatz meine direkte Mitarbeiterschaft an "Zwischen den Zeiten" niederlege. Es vollzieht sich damit ein Auszug aus einem Hause, das ich selber gemeinsam mit Karl Barth und Friedrich Gagarten und Georg Merz einst gebaut, und in dem wir uns mit manchem anderen unserer theologischen Freunde nun durch mehr als 10 Jahre hindurch zusammengefunden haben. Ich fasse diesen Auszug als ein Zeichen auf, das zu
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errichten ich mich .aufgerufen fühle. Die Stunde solcher Zeichen ist nicht immer gegeben, auch schlägt sie in gleicher Weise durchaus nicht für jeden anderen Bewohner dieses Hauses "Zwischen den Zeiten". Aber mir hat sie geschlagen und hat sie heute und jetzt geschlagen. Ich möchte kurz sagen, wie ich das verstehe. Ich habe die Gewißheit, es sei derselbe Geist, der uns einst dieses Haus bauen hieß, der mich jetzt aus ihm herausgehen heißt. Oder I war es nicht auch ganz einfach ein Auszug, ein Auszug aus Vaterland und Freundschaft und aus dem Hause unserer Väter, der uns vor 11 Jahren unsere als eine Art Notbau und Zufluchtshütte gedachte Zeitschrift errichten ließ? Ja, der uns längst vorher, schon in all den furchtbaren und großen Jahren, die mit dem Weltkrieg angebrochen waren, diesseits und jenseits der Grenzen den Aufbruch wagen ließ, den wir mit unserer ganzen theologischen Arbeit zum mindesten im Sinne trugen? Wir sahen uns auf dem Boden und im Haus der Kirche unserer Väter selbst, in der wir aufgewachsen waren, umklammert von der Macht des Geistes der Zeit, des Geistes des Jahrhunderts, von dem wir herkamen. Das "Philister über dir, Simson!" gellte uns damals in den Ohren. Wir mußten aufstehen und uns zum Auszug rüsten. Nicht daß ich mir einbilde, wir seien selber der Simson gewesen, der sich der Macht der Philister zu ,erwehren hatte. Um im biblischen Bilde zu bleiben: der Simson, der umklammert war, das war ganz einfach die Kirche oder besser noch Gottes Wort selbst, das in der Umklammerung des Historismus und der Geschichtsphilosophie seiner Theologen gefangen lag. Und wir waren sicher nie etwas anderes als ein paar Leute, denen darüber die Augen aufgetan waren. Und was wir tun konnten, das ist nie etwas anderes gewesen, als daß wir aus all unseren Kräften, die gering genug waren, ein wenig Lärm schlagen konnten und auf die Straße laufen und schreien gleich solchen, die gemerkt haben, daß es brennt, und die nun nicht mehr länger im brennenden Hause um den Tisch sitzen wollen, als ob nichts geschehen wäre, wie wir es rings um uns herum die Theologen der Kirche tun sahen. Was dann in solchen Lagen wirklich und tatsächlich geschehen muß an Rat und Hilfe und Lösung, dazu braucht es wohl viel menschliches Hinsitzen und Arbeiten und Suchen und Anklopfen und Bitten. Aber wenn es geschieht, daß wirklich wieder das Wasser der göttlichen Worte aufrauscht, dann ist ein Wunder geschehen, das nicht aus uns heraus kommt. Gottes Wort befreit sich selbst, oder es ist nicht Gottes Wort. Etwas davon ist in diesen Jahren geschehen an unserer Kirche.
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Damals, aus Anlag dieses Aufbruches ist "Zwischen den Zeiten" gegründet worden nicht als ein sicheres, steinernes Haus, sondern wie schon gesagt als eine Art Nothütte, eine Herberge am Wege, den es zu gehen galt, zu keinem anderen Zwecke als eben dem, diesen Aufbruch zu betreiben, den Aufbruch der Theologie und damit der Kirche dem Worte entgegen, eine Jägerhütte, könnte ich auch sagen, I dazu dienlich, dag wir miteinander auf der Spur blieben. Ich jedenfalls habe unser Tun in "Zwischen den Zeiten" für mich selber nie anders verstanden. Ich war Pfarrer und bin Pfarrer geblieben und war hier dabei, weil ich aus der Bedrängnis meines Frontdaseins auf der Kanzel heraus die Notwendigkeit der Errichtung einer solchen Stätte der Sammlung und der Bereitschaft als dringend empfand. Und ich habe mich an dieser Stätte wohl befunden immer nur, weil und solange ich in den Arbeiten meiner Freunde, und da denke ich unterschiedslos an Kar! Barth wie an Friedrich Gogarten, wie an Georg Merz, wie an Emil Brunner, wie an Wilhelm Vischer, um nur diese zu nennen, etwas von diesem Aufbruch wahrnehmen durfte, um mich selber darin zu bestärken. Man hat uns in steigendem Mage "Scholastik" und "Dialektik" vorgeworfen; mir ging es nie darum, oder vielmehr, ich habe auch und gerade in der Scholastik und Dialektik, das heigt in der schulgerechten, streng begrifflichen theologischen Arbeit, die in "Zwischen den Zeiten" allerdings geleistet worden ist, immer nur diesen Aufbruch gesehen, diese eine Bewegung oder vielmehr dieses strenge und immer mehr gebundene Mitgehen mit der Bewegung, die von Gottes Wort her wieder in das theologische Denken der Kirche unserer Zeit hereingekommen ist. Um dieses einen Anliegens willen aber mug ich heute aus "Zwischen den Zeiten" ausziehen. Denn es ist mir klar geworden, dag wir in "Zwischen den Zeiten" wohl immer noch an diesem Aufbruch stehen möchten. Aber unsere Wege trennen sich mit grundsätzlicher Schärfe an der Frage, wo denn in der uns heute auferlegten Lage der Kirche dieser Aufbruch, diese Bewegung nach vorwärts sich weiter und weiter vollziehe, um was es dabei gehen mug, an welcher Stelle der ganze Einsatz zu leisten sei. Ich sehe heute, in unserer Stunde die Umklammerung, aus der wir uns einst miteinander zu befreien versucht haben, aufs neue gewaltig drohend vor mir an der Stelle, wo die politische Bewegung der Zeit sich mit der Bewegung in der Kirche begegnet. Der "Aufbruch der Nation" - er vollzieht sich ja heute wahrhaftig nicht nur in Deutschland, sondern ein wenig überall, diesseits und jen-
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seits aller Grenzen. Käme es darauf an, sich darüber zu verständigen, also das politische Gespräch zu führen, so wäre es in unserem Kreise sicher nicht ganz unmöglich, sich zu verstehen und zusammenzubleiben. Auch uns im Auslande ist ja im besonderen die Einsicht nicht verschlossen in die Schwere der Lage, in die das deutsche Volk durch die sogenannten Friedens- I verträge und durch den unerhörten Druck der Nachkriegsjahre gekommen ist, so wenig wie die daraus entspringende weitere Einsicht, daß es aus dieser Lage sich mit allen Kräften befreien muß. Aber darum geht es hier nicht. Unser Gegensatz ist keinesfalls ein Gegensatz des politischen Ressentiments des Ausländers gegenüber dem deutschen Geschehen. Aber darum geht es, ob der politische Aufbruch den ganz anderen Aufbruch dem Worte Gottes entgegen, zu dem wir in der Kirche (wahrhaftig auch durch das Geschehen der Zeit!) gerufen sind, in sich aufnehmen, in sich hinein verschlingen darf und kann oder nicht. Darum geht es nicht nur in Deutschland, sondern darum geht es heute drängend genug im ganzen Raum des europäischen Protestantismus überhaupt. Denn nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa strömt heute mit derselben Wucht, mit der einst in der französischen Revolution der liberale Gedanke eingeströmt war, die Idee des autoritären Staates über die Völker herein. Ob uns das gefällt oder nicht - darüber sind wir hier nicht gefragt, aber darnach sind wir gefragt: darf es sein und geschehen, unwidersprochen, daß die Kirchen des Protestantismus und ihr beginnender Aufbruch zum Worte Gottes von diesem politischen Geschehen nun einfach in Dienst und Gebrauch genommen werden? Darf es sein und geschehen, daß unter theologisch gemeinter Berufung darauf (wie es bei den repräsentativen Wortführern der "Deutschen Christen", bei Wilhelm Stapel, bei dem besonders verheerenden J. B. Schairer, bei Emanuel Hirsch, bei Pastor Tügel in immer neuen Wendungen zu lesen ist): daß Gottes Stimme nicht nur in seinem Worte, sondern auch und vor allem in dem Geschehen der Geschichte zu hören sei - ich frage: darf es geschehen, daß mit dieser Berufung die Kraft und Wahrheit dessen, was unser Gott uns in seinem Worte sagt und nur dort sagt, ergänzt, flankiert und damit verdunkelt, ja verdorben wird durch Erkenntnisse und Urteile, die ganz und gar aus dem Raume des politisch-geschichtlichen Geschehens der Gegenwart herausfließen? Als ob das geschichtliche Geschehen als solches eine Quelle der Offenbarung des göttlichen Willens und Reiches wäre neben der Quelle, die das allein ist, der Quelle des Wortes. Allerdings "redet" Gott, wenn man
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das denn ein "Reden" nennen will, durch das Geschehen der Gegenwart zu uns. So hat er schon im alten Bunde zu seinem Volke "geredet" nicht nur durch die Propheten, sondern wahrlich auch durch Kgypten und Assur, durch Cyrus und Nebukadnezar, durch die Stürme und Erschütterungen, durch die er in Gericht I und Gnade sein Volk hindurchführte. Aber wer hat dies sein" Wort" verstanden? Wer hat dieser seiner "Predigt" geglaubt? Die "Kirche" seines Volkes auf alle Fälle nicht! Und warum nicht? Weil sie nur zuviel auf die Stimmen hinhörte, die im Geschehen drin laut wurden! Weil sie nur zuviel auf ihren geistlichen Wegen mitschwingen wollte mit dem, was draußen im politischen Raume geschah. Sie hätte etwas ganz anderes tun müssen: sie hätte hinhören müssen auf die Stelle, wo Gott wirklich geredet hat, auf sein eigentliches Wort, auf das Wort eben jener Propheten, die sie verlacht hat. Dann hätte sie wahrlich auch die Stimme Gottes in der Zeit und ihrem Geschehen vernommen. Denn dort, im Geschehen der Zeit, "redet" Gott hörbar nur für den, der ihn zuerst und zuletzt in seinem wirklich geredeten Worte und immer wieder nur dort vernommen hat und vernehmen will. Eben auf daß die Stimme Gottes im Geschehen der Gegenwart drin wirklich gehört werde, eben dazu braucht es jene Kirche, die mit einem Worte Martin Luthers zu reden (Herr Pastor Tügel!) "einsam wie ein Vogel auf dem Dache" Wache hält beim Worte Gottes, die mit der ganzen zähen Unerbittlichkeit der Väter zu diesem Worte hindurchfinden will immer wieder. Was hätte für das Volk des Alten Bundes in seiner Zeit drin eine solche "Kirche" bedeutet, die mit ihren Propheten statt gegen sie in dieser Wacht drin ausgehalten hätte! Was würde heute, heute eine solche Kirche mitten im Umbruch der Zeit drin dem eigenen Volke bedeuten mitsamt seinem Staate! Wohl unseren evangelischen Kirchen diesseits und jenseits aller Grenzen, wenn sie nur ein paar wenige noch so armselige und bedrängte Pfarrer haben, die sich auf diese Wache stellen lassen, die bei ihrer Bibel ausha.lten und so "als ob nichts geschehen wäre" das Wort ausrichten in ihre Zeit hinein mit letzter Treue! Es ist auch "nichts geschehen" und wird nichts geschehen, das zu diesem Worte etwas hinzutun oder das etwas davon abbrechen könnte! Da wo das erkannt und gelebt wird, da ist Kirche, da lebt Kirche. Es ist Unsinn zu sagen, obgleich es hageldicht gegen unsereinen geschleudert wird, eine solche Kirche stehe wie in einem leeren Raume da, ohne jede blutvolle Beziehung zu ihrem Volk und ihrer Zeit. Das Gegenteil ist wahr: da, gerade da wird dem Volke gedient, da wird es gespeist
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und getränkt und stark gemacht, seinen Weg zu gehen, wahrhaftig auch den ihm gewiesenen politischen Weg. Da wird es getröstet und ermahnt und zurechtgerichtet. Und eben damit das geschehe, dazu braucht es dann gleichsam als das I Rückgrat dieser Kirche eine rechte Theologie, und das heißt eine Theologie, die um ihrer Kirche und ihres Dienstes willen in jenem Aufbruch begriffen, nicht nur zum Staate, sondern zum Worte hin wäre, um den es uns (und glücklicherweise nicht nur uns und nicht erst uns!) einst und bis heute gegangen ist. Eine Theologie, die in der gleichen geschichtlichen Stunde, da der Staat sich so offensichtlich auf sein Wesen besinnt, sich zu nichts anderem gerufen weiß, als endlich, endlich ebenfalls aus aller Zerstreuung zur eigenen Sache zu kommen! Ich darf vielleicht beifügen, daß in dieser Sache wirklich etwas aus der Geschichte zu hören und zu lernen wäre. In den schweizerischen Kirchen des 19. Jahrhunderts ist der Versuch einer geistigen "Gleichschaltung" der Kirche mit der politischen Macht bereits zweimal vor sich gegangen. Das erste Mal, als der aufsteigende religiöse Liberalismus mit dem bereits aufgestiegenen und zur Macht gelangten politischen Liberalismus sich vereinigt hat. Das zweite Mal, als der Bund mit dem Sozialismus unter dem Stichwort "religiös-sozial" geschlossen wurde. Wir haben also wirklich einige, wenn auch bescheidene, so doch deutliche Erfahrungen hinter uns. Und ich käme mir meinen deutschen Freunden gegenüber einfach treulos vor, wenn ich verschweigen würde, daß diese Erfahrungen vor allem mich dazu drängen, das Halt! auszurufen, als das dieses Abschiedswort, als das mein ganzer Abschied von "Zwischen den Zeiten" überhaupt gemeint ist. Aufs Grundsätzliche gesehen scheint mir bei immer neuem überlegen das, was die "Deutschen Christen" heute tun, genau dasselbe nach rechts hin zu sein, was bei den Religiössozialeneinst nach links hin geschah. Der gerade und gute Weg der Kirche aber ist eines wie das andere nicht. Was da geschieht, mag beim Einzelnen aus menschlich guten Absichten heraus geschehen, aber am Ende wird die bittere Erkenntnis stehen, daß die Kirche wieder einmal mehr ihr Erstgeburtsrecht um ein Linsengericht verkauft hat. Sie fährt nur dann gut, wenn sie sich blind und einfältig an das Wort ihres Herrn hält. Das ,aber lautet in dieser Sache unzweideutig genug: sie gebe dem Staate, was des Staates ist, und dies ohne Abstrich und Hinterhalt - dann aber Gott, was Gottes ist! Und nun "Zwischen den Zeiten"! Die Dinge so sehen, wie ich sie hier sehen muß, das heißt aufs neue in der Lage eines Mannes sein,
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der Alarm schlagen muß. Denn es geht heute in neuer und verschärfter Weise gegen denselben Feind, den wir schon vor 11 I Jahren bei der Gründung von "Zwischen den Zeiten" die Kirche umklammern und bedrohen sahen. Es geht mit letztem Ernst um die innere Freiheit der Kirche. Das aber heißt: von "Zwischen den Zeiten" fordern, daß hier aufs neue die Stätte sei, wo aufgebrochen und marschiert wird, einmütig und eindeutig marschiert wird gegen die neue Gestalt der alten Umklammerung. Und nun hat "Zwischen den Zeiten" sicher durch alle die Jahre eine Aufgabe gehabt und einen Dienst getan und tut ihn noch. Aber das eine kann nicht gesagt werden: daß heute hier Waffenplatz sei und Stätte dieses Aufbruchs. Denn dieser Aufbruch geschieht ja nur dann wirklich, wenn er - nun eben einmütig und eindeutig, und das heißt, wenn er in Gemeinsamkeit erfolgt und wenn er in schärfster Abgrenzung dem Gegner gegenüber erfolgt. Diese Gemeinsamkeit aber und diese Abgrenzung sind heute in "Zwischen den Zeiten" nicht mehr gegeben. Wir sind an den zwei Punkten, auf die für solch gemeinsamen Aufbruch alles ankäme, heute untereinander nicht einig: Wir sind es nicht in unserer kirchenpolitischen Haltung nach außen, und wir sind es dort darum nicht, weil wir heimlich und schon nicht mehr nur heimlich nicht eins sind in bestimmten letzten theologischen Voraussetzungen. Ich schelte Niemand. Es liegt mir nichts am Geltendmachen von Antithesen. Gerade unsere theologischen Gegensätze müssen nun getragen und ausgetragen werden. Das ist von ernster Wichtigkeit weit über "Zwischen den Zeiten" und sein Schicksal hinaus. Sie sind durch die Verschärfung der ganzen geistigen Lage erst an den Tag gekommen und warten wirklicher Abklärung. Es sind gewisse Fragen gestellt, aber die Auseinandersetzung hat kaum erst begonnen. Auch weiß ich genug darüber, daß auf beiden Seiten die schweren Dinge, die uns hier auferlegt sind, schwer genug genommen werden. Ich weiß um die grimmige Last der Isolierung und Härte des Kampfes, in der drin Karl Barth stehen muß. Ich weiß aber auch aus persönlichem Kontakt um den Ernst der Verantwortung, in der Friedrich Gogarten auf seinen uns nicht mehr verstehbaren Wegen um die Erkenntnis dessen ringt, was er heute für das Rechte halten muß. Ich weiß um die Not des Schriftleiters, der die hier auseinanderbrechenden Wege nicht mehr zusammenzuhalten vermochte. Wer anders hätte das vermocht? Klar ist mir aber das Eine: mit dem gemeinsamen Aufbruch in "Zwischen den Zeiten" ist es zu Ende. Und klar ist mir das Andere: auf welche Seite ich mich zu stellen habe. Des zum Zeichen dieser Abschied. I
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Für uns alle um "Zwischen den Zeiten" ist diese Stunde eine Bilanzstunde, vielleicht müssen wir deutlicher sagen: eine Stunde, wo etwas von Gericht über uns sichtbar wird, wie es ja in Bilanzzeiten sein muß. Offenbar war die Gemeinsamkeit der Bewegung zwischen uns, so sehr sie vorhanden war und bleibt, nicht stark genug, um uns über die Krisis dieser Stunde hinwegzutragen. Daran ist die unheimliche Wucht dieser Krisis selber schuld. Wären nicht wirklich diese ,,] ahre der Entscheidung" über uns hereingebrochen, wir wären wie so manche andere Wandergruppe in der gewissen Einhelligkeit weiter zusammen gegangen, die - mit Kar! Barth zu reden - für "Friedenszeiten" ausreichen mag. Daran ist aber sicher auch das Andere, Größere schuld, daß wir immerhin weit genug und zwar miteinander gekommen sind, um der feurigen Mitte ansichtig zu werden, die in der Tiefe wirklicher christlicher Theologie verborgen liegt. Wie aber wollte man sich gerade da, wo es im Ernst um die letzten, die brennenden Anliegen und Dinge des Glaubens und der Kirche geht, leicht miteinander verstehen können! Halbtheologen und Zuschauer haben es stets einfach gehabt, tolerant und einig zu bleiben! Daß es immer auch irgendwie eigene Schuld ist, mangelndes wirkliches Einandersuchen, wenn die Dinge so gehen, wie sie hier nun gehen müssen, das sei freilich mit dem allem nicht bestritten, sondern im Gegenteil zugegeben. Wir brechen ab, und wir brechen auf. Und wir vergessen nicht, daß es bei der ganzen Bewegung dieses Abbrechens und Aufbrechens, dieses Miteinander und Gegeneinander um das Suchen des "Landes" geht, "das Ich dir zeigen will". Das heißt, daß trotz aller Schwere alles nicht ohne Verheißung geschieht. Unser Zeichen, das Zeichen des Abschiedes, das Kar! Barth und ich hier errichten müssen, möchte jedenfalls nicht anders verstanden werden.
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Mit diesem Hefte beschließen wir uns,ere Schriftenreihe "Zwischen den Zeiten". Was wir gewollt haben, wissen unsere Leser. Kar! Barth und Eduard Thurneysen fassen es zudem nochmals zusammen und sagen zugleich, warum sie Abschied nehmen müssen. Friedrich Gogarten und mir war dies zunächst nicht einleuchtend. Mir schon deshalb nicht, weil ich Eduard Thurneysen theologisch näher zu stehen glaube, als
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ich Friedrich Gogarten stehe, und weil wir beide nicht mit Kar! Barth hinter ihm einen "Thomisten" I witterten. Zudem wollte Gogarten selber den Kreis erhalten wissen und in ihm bleiben. Er schrieb mir: " ... Deine Nachricht, daß die Zeitschrift eventuell eingehen soll, erschreckt mich ganz außerordentlich. Denn gerade jetzt ist sie nötig. Ich nehme an, daß Du darin mit mir einig bist, daß wir Theologen nicht in vornehmer Indifferenz gegenüber den politischen Geschehnissen verharren dürfen, sondern daß wir allerwichtigste Aufgaben haben. Schweigen können wir jetzt auf keinen Fall. Gerade wir nicht, d. h. der Kreis, dessen Organ ZZ ist. Du weißt ja wohl, daß ich der Meinung bin, daß gerade wir, die wir von den Reformatoren theologisch gelernt haben, heute nicht nur negative, protestierende Aufgaben haben, sondern positive. Den Ansprüchen des Staates und Volkes gegenüber, sie mögen in sich und in ihrer Theorie so verworren sein, wie sie wollen, ist etwas anderes zu sagen als gegenüber den irrealen Ansprüchen eines Kulturprotestantismus. Das ist der Grund, warum ich mit einer kleinen Gruppe von schlesischen Pfarrern und Kirchenleuten meinen Beitritt zu den "Deutschen Christen" erklärt habe. Denn dort ist der geschichtliche Ort, an dem sich entscheiden wird, was an unseren Kirchen ist. Dort wird auch die entscheidende theologische Auseinandersetzung erfolgen. Man muß Staat und Volk, die, ich will mich vorsichtig ausdrücken, mit Gesetz zu tun haben und Gesetz in irgendeiner Weise handhaben und repräsentieren, ernst genommen haben, um sich im Namen des Evangeliums gegen sie wenden zu dürfen, wenn sie ihre Grenzen überschreiten. Aber ich brauche Dir das ja nicht auseinanderzusetzen. Ich sage diese Dinge ja auch nicht erst seit einem halben Jahre. Ich weiß, daß Du Bedenken gegen meine Arbeit hast. Aber ich meine auch zu wissen, daß Deine Bedenken sich mehr auf den Grad der Betonung dieser oder jener Dinge richten, als gegen die ganze Richtung der Arbeit. Soweit ich an ZZ beteiligt bin und an der ganzen theologischen Arbeit, die durch die Zeitschrift repräsentiert ist, sehe ich keinen Grund, die Zeitschrift eingehen zu lassen. Daß Barth nichts mehr mit ihr zu tun haben will, tut mir leid. Verstehen kann ich es nicht ganz. Denn es ist von Anfang an ja so gewesen, daß jeder die Verantwortung für seine Arbeit allein trug. Und jeder, der sehen wollte, konnte es sehen, daß Barth und ich seit langem verschiedene Wege gehen. Ich meinerseits habe immer genug des Gemeinsamen gesehen, um die Belastung, die Barths Nachbarschaft für mich bedeutete, gerne zu tragen."
Ich konnte, wie meine im entgegengesetzten Sinne erfolgte Entscheidung zeigt, Gogartens Eintritt in die "Glaubensbewegung der Deutschen Christen" nicht gutheißen. Ich verstehe auch nicht seine Billigung der Stapel'schen These, die mir nach wie vor (vgl. ZZ 1932 S. 474 f.) als unbiblisch und unlutherisch erscheint. Ich kann nur annehmen, daß er seine in diesem Sinne vorgetragenen Sätze in einer Weise näher bestimmt, die seinen deutlichen Abstand von Stapel zeigt. Vorläufig halte ich nach wie vor daran fest, daß er zu "Zwischen den Zeiten" gehört und daß seine Begegnung mit Karl Barth kein Mißverständnis war. Oder täusche ich mich, wenn ich I hinter seinen Sätzen - sie mögen
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ander·e noch so grundsätzlich anmuten - genau den gleichen eschatologischen Schrecken von der Bedrohtheit der Welt sehe wie in den Reden und Aufsätzen, durch die er uns vor 13 Jahren aufrief? Ebenso sehe ich seine "Politische Ethik" von der gleichen christologisch begründeten Theologie getragen wie seine früheren Schriften. Darauf aber kommt es in "Zwischen den Zeiten" an. Es wäre mir ,darum lieb gewesen, wenn die Auseinandersetzung über diese Dinge in ZZ geführt worden wäre. Nach meiner festen überzeugung hätte davon nicht nur unser Kreis, sondern auch die ganze Kirche und ihre Theologie Gewinn gehabt. Karl Barth hat nun erklärt, warum ihm dies nicht möglich ist. Bei der Art, wie wir ZZ gründeten und wie wir elf Jahre miteinander arbeiteten, ist es unmöglich, daß Karl Barth und Eduard Thurneysen in solcher Weise Abschied nehmen und wir weiterfahren, als wenn nichts gewesen wäre. Ebensowenig könnte ich Friedrich Gogarten bitten, nicht mehr mitzuarbeiten, um Karl Barth das Ärgernis zu nehmen. Eine solche Regelung, die dann doch der freudigen Zustimmung aller entbehren müßte, widerspräche in gleicher Weise der "Geschichte" unseres Blattes. Zudem habe ich an dem Einspruch, mit dem Karl Barth meinem Eintreten für eine bischöflich geordnete lutherische Kirche Deutschlands begegnete, und noch mehr an der Leidenschaft, mit der er meinen Eifer für den Auftrag Bodelschwinghs verurteilte, gemerkt, daß unser übereinstimmen nicht so eindeutig klar ist, um eine Entscheidung von solch ausgeprägter Schärfe gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Darum sehe ich, nachdem Eduard Thurneysen meiner Bitte, die Schriftleitung zu übernehmen, nicht willfahren konnte, keine andere Möglichkeit, als daß wir aufhören - trotz der äußeren Blüte, der sich unsere Hefte erfreuen, und entgegen dem Wunsche der meisten Mitarbeiter, die sich übrigens in der kirchenpolitischen Frage fast insgesamt so wie ich, nicht wie Gogarten, entschieden haben. Friedrich Gogarten schrieb vor 13 Jahren (CW. 1920, S. 377) in jenem merkwürdigen Aufsatz, von dem "Zwischen den Zeiten" seinen Namen erhielt, die Sätze: "Der Raum wurde frei für die Frage nach Gott. Endlich. Die Zeiten fielen auseinander und nun steht die Zeit still. Einen Augenblick? Eine Ewigkeit? Müssen wir nun nicht Gottes Wort hören können? Müssen wir nun nicht seine Hand bei seinem Werke sehen können? I Darum können wir nicht, dürfen wir noch nicht von der einen Zeit zur anderen gehen. So sehr es uns auch zieht. Erst muß hier die Entscheidung gefallen sein. Vorher können wir nichts mit ganzem Herzen
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tun. Solange stehen wir zwischen den Zeiten. Das ist eine furchtbare menschliche Not. Denn da zerbricht alles Menschliche und wird zuschanden, alles was war und alles was sein wird. Aber darum können wir, begreifen wir nur die Not bis zum Letzten, nach Gott fragen. Dann verstrickt sich nicht die Frage im Menschlichen und bringt falsche Antwort aus ihm, falsche, weil es eine menschliche und keine göttliche Antwort ist, und mögen wir mit dem besten Willen gefragt haben. Es gilt kein guter Wille, auch nicht der beste, in göttlichen Dingen." Diese Sätze mögen unsere Begegnung "zwischen den Zeiten" beschließen.
F.GOGARTEN: EINLEITUNG ZU "GERICHT ODER SKEPSIS" Streitschrift gegen Kar! Barth. 1937 Im Herbst 1922 begründeten Barth, Merz, Thurneysen und ich die theologische Zeitschrift "Zwischen den Zeiten". Es ging uns um die gemeinsame Besinnung auf das eigentliche theologische Thema, das Wort Gottes. Und zwar so wie diese Besinnung uns in unserem Pfarramt überfallen hatte. Das war keine sogenannte "akademische" Angelegenheit, zu deren Erörterung uns unsere ländlichen Pfarrämter die nötige Muße ließen. Es war vielmehr die außerordentlich beunruhigende Frage danach, was wir denn als Pfarrer eigentlich tun sollen, und ob und wie wir das, was wir sollen, nämlich Gottes Wort predigen, überhaupt können, und daß wir es trotz allem Fragen, ob wir es können, tun müssen. Wir sind durch diese Frage immer tiefer in die theologische Arbeit hineingeführt worden. Aus der "Randbemerkung" zu den verschiedenen Theologien, die das nach dem Ausdruck Kar! Barths zuerst lediglich sein sollte, ist mit der Zeit eben doch eine Theologie geworden, nämlich die Arbeit an dem großen Zusammenhang von Fragen, in den man notwendigerweise geführt wird, sobald man anfängt, an irgend einer Stelle über das theologische Thema nachzudenken. Wir, insbesondere Barth und ich, sind dabei von Anfang an verschiedene Wege gegangen. Barth beschäftigten, je länger um so ausschließlicher, spezielle theologische Fragen. Er ließ sich seine Fragen stellen und suchte Antwort auf sie zu geben, indem er sich mit Theologiegeschichte und Dogmatik beschäftigte. Mich nahm dagegen die Auseinandersetzung mit der Moderne in Anspruch. Mit dem an Luther
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geschärften Blick für das Eigentümliche des christlichen Glaubens habe ich nach den letzten Voraussetzungen des modernen Denkens gefragt und nach seinem Recht, sich offen oder heimlich zum Meister des christlichen Glaubens zu machen. Das führte mich immer tiefer in die großen politisch-ethischen Fragen, die die Gegenwart bewegten und die zu konkreten Entscheidungen zwangen. Von diesem ganz auf die Gegenwart bezoge- I nen Denken aus sah ich bei Barth die Gefahr einer zeitlosen, sich selbst genügenden Theologie drohen, die trotz aller Betonung ihrer Kirchlichkeit doch die Beziehung zu dem kirchlichen Leben verlor, das nach unserer gemeinsamen Erkenntnis nicht das Leben einer eindeutig dem Weltleben entnommenen Gemeinschaft sein kann, sondern trotzdem und gerade, weil es ein Leben im Glauben ist, das irdische Leben menschlicher Geschichte sein muß. Von seiner Seite aus sah Barth bei mir die Gefahr drohen, daß ich nicht zur theologischen Sache käme. Nach mancher ausgesprochenen und unausgesprochenen Polemik gegen mich hat er dann in dem im letzten Jahrgang von "Zwischen den Zeiten" erschienenen Aufsatz "Das Erste Gebot als theologisches Axiom" gemeint, direkt und offen fragen zu müssen, ob ich nicht die theologische Sache für eine Abart des protestantischen Modernismus oder eine dürftige Variante des Thomismus preisgegeben hätte. Ich selbst hatte schon früher in einer ausführlichen Besprechung seiner 1927 erschienenen Dogmatik meine Bedenken dagegen zum Ausdruck gebracht, wie Barth seine theologische Arbeit tat i . Schließlich in dem "Abschied" von "Zwischen den Zeiten" hat dann Barth mich mit dürren Worten des "vollzogenen Verrats am Evangelium" beschuldigt. Der Grund für diese Beschuldigung ist nach Barths eigener Aussage nicht so sehr die äußere Tatsache, daß ich mich im Spätsommer 1933 kirchenpolitisch auf die Seite der "Deutschen Christen" stellte, als vielmehr meine Zustimmung zu dem Stapelschen Satz, daß das Gesetz Gottes uns in unserm Volkstum gegeben sei. Denn mit diesem Satz hätte ich mir, so meint Barth, die entscheidende These der "Deutschen Christen" zu eigen gemacht. Barth anerkennt, daß mein ganzer Weg mich in höchster Folgerichtigkeit dazu führen mußte, sie gutzuheißen. Es habe in der Tat mit mir "dahin kommen" müssen2 • Wenn ich mich damals für die "Deutschen Christen" erklärte, so geschah es allerdings gerade und allein um dieser entscheidenden These willen, die der Kirche die Offen1 2
ThR, NF, 1. Jg. 1929, S. 60ff. ZZ 1933, S. 539; wieder abgedruckt in ThEx, H. 7, S. 31 ff.
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heit gegenüber der Welt und ihrem geschichtlichen Leben wahrte, und weil ich die kirchliche Opposition schon damals auf I eine "Selbständigkeit" der Kirche zutreiben sah, die diese in dem geistigen Habitus des bürgerlichen Individualismus aus dem 19. Jahrhundert, mit und ohne repristrinierte Rechtgläubigkeit, verfestigte und sie in sich selbst verschloß und damit gegenüber dem geschichtlichen Leben unseres Volkes isolierte. Diese Gefahr schien mir größer zu sein als die, die von den "Deutschen Christen" her drohte, für die ich wahrhaftig nicht blind gewesen bin. Daß ich nicht von ferne daran dachte, für das theologisch undurchdachte und unreife Zeug, das von vielen der "Deutschen Christen" zum Besten gegeben wurde, meine Theologie preiszugeben, das meinte ich, sei für jeden anständigen Zeitgenossen, der nur ein wenig von mir wußte, selbstverständlich gewesen. Aber gerade wenn ich meine bisherige theologische Arbeit nicht preisgeben wollte und wenn ich mich, aus was für Gründen auch immer, zwischen den damals bestehenden kirchenpolitischen Fronten meinte entscheiden zu müssen, so konnte ich nicht gut anders handeln, als ich gehandelt habe. Barth seinerseits handelte ebenfalls in der Konsequenz seines theologischen Denkens, wenn er sich auf die Seite der Bekenntnisfront stellte. Denn hier meint man, nicht ohne den starken Einfluß von Barths Theologie, die Kirche nur um den Preis ihrem Auftrag und Wesen treu erhalten zu können, daß man sie in ihrem innersten Leben vom geschichtlichen Leben des Volkes abschließt. Jede Bezogenheit der kirchlichen Verkündigung auf den geschichtlichen Augenblick wird darum kurzerhand auf Grund des Theologumenons abgetan, daß "aus diesem ,geschichtlichen Augenblick' eine zweite Offenbarungsquelle und ein zweiter Offenbarungsgegenstand gemacht und als eigenmächtig geformtes und gegossenes Gottesbild in der Kirche aufgerichtet" wird 3 • Wenn Barth und ich, jeder in der Konsequenz seines theologischen Denkens, zu so entgegengesetzten Stellungnahmen geführt worden sind, dann kann es allerdings kaum anders sein, als daß die Gründung von "Zwischen den Zeiten" und die Gemeinsamkeit unserer theologischen Arbeit von allem Anfang an ein Mißverständnis gewesen ist, wie Barth das denn auch schon in jenem "Abschied" gesagt hat. Die Frage ist dann nur, an welcher Stelle unsere Wege auseinandergehen. Denn wenn der Gegensatz zwi- I schen unser beider Arbeit auch erst 3 Kar! Barth und Gerhard Kittel, Ein theologischer Briefwechsel, Stuttgart 1934, S.7.
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jetzt in seiner ganzen Tiefe zum Vorschein gekommen ist, so muß er, wenn keiner von uns seinen ursprünglichen Weg verlassen hat, schon sehr viel früher vorhanden gewesen sein. Und zwar eben dort, wo nach unserer und anderer Ansicht Übereinstimmung zwischen unserer Arbeit bestand. Wir sind zwar, wie ich schon sagte, bereits im Anfang unserer Arbeit von verschiedenen Seiten her an das theologische Thema herangegangen, aber darin allein kann der Gegensatz noch nicht begründet sein. Ich meine vielmehr, daß ein von vornherein vorhandener Gegensatz der Grund dafür ist, daß wir nicht von der gleichen Seite her an das theologische Thema herangingen. Es wird kaum jemand leugnen können, daß es in unserer theologischen Arbeit Gemeinsames gibt. Und gewiß nicht nur in Fragen, die am Rande liegen. Eine ausführliche Auseinandersetzung zwischen uns, die, wie die Dinge heute geworden sind, nicht mehr gut umgangen werden kann, würde es sich darum zu leicht machen, wenn sie nicht dieses Gemeinsame in Betracht zöge. Nicht um es unbesehen hinzunehmen, sondern um zu sehen, wo in ihm und trotz ihm der Gegensatz steckt. Gemeinsamkeiten, bei denen sich später herausstellt, daß sie einen Gegensatz in sich tragen, der sie eines Tages wieder zerreißen muß, pflegen dadurch zustandezukommen, daß man einen oder mehrere gemeinsame Gegner hat. Die gemeinsame Gegnerschaft ist es denn auch gewesen, die Barth und mich zusammengeführt hat. Wir kämpften beide nicht nur gegen eine, sondern gegen zwei Fronten. Auf der einen Seite standen wir gegen die, die den Gegensatz zwischen Glauben und Wissen, Vernunft und Offenbarung, Welt und Kirche, Kultur und Christentum möglichst mit einer Harmonisierung beider zu überwinden suchten. Auf der anderen Seite wendeten wir uns gegen die, die Kirche, Christentum, Glaube, Frömmigkeit als einen abgesonderten Bezirk in der Welt behaupten wollten, in dem man sich durch gewisse anzueignende und wahrnehmbare Eigenschaften als christlich, fromm und kirchlich charakterisiert und von den andern, die ebenso feststellbar und eindeutig als ungläubig und nicht christlich galten, unterschieden und geschieden wußte. Es war damals für gewöhnlich so, daß die Erklärung gegen I eine dieser bei den Seiten ganz selbstverständlich als Erklärung für die andere galt. Wer dem theologischen Liberalismus, dem Kultur- oder Neuprotestantismus oder wie die Bezeichnungen sonst lauten, den Kampf ansagte, gewann damit ohne weiteres die Bundesgenossenschaft der kirchlich "Positiven" und umgekehrt. Wir nahmen weder von der
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einen noch von der anderen Seite die Bundesgenossenschaft an, so oft man sie uns auch antrug. Denn was wir wollten, lag weder auf der Linie der einen noch der der anderen. Man hat unsere Theologie oder, wie ich lieber sagen möchte, unsere theologische Arbeit sehr bald mit allerhand Namen kennzeichnen wollen in der Annahme, es ginge uns um eine besondere Methode, etwa die dialektische, oder wir wollten ein besonderes Thema in das Zentrum der Theologie stellen, etwa die Krisis der Kultur oder die schlechthinnige Oberweltlichkeit Gottes. Aber worum es uns ging, war lediglich, dem, was einzig und allein das Thema einer rechtschaffenen Theologie sein kann, nämlich dem Worte Gottes die ihm gebührende Stellung zurückzugeben und sie ihm in der Durchführung der theologischen Arbeit zu lassen. Dabei galt es gegenüber denen auf der Linken, unnachgiebig daran festzuhalten, daß die Offenbarung auf keine Weise eine Erkenntnis der Vernunft oder eine Affizierung des Gefühls ist, daß sie keinem religiösen "Vermögen" des Menschen, wie immer man es fassen mag, entspricht, sondern daß Gottes Offenbarung, wenn anders sie Gottes Offenbarung ist, sich allein aus sich selbst bezeugt; daß es keine andere Offenbarungs"quelle" und kein anderes Offenbarungszeugnis gibt, als die Bibel, nämlich das in ihr auf uns gekommene Zeugnis der Apostel und Propheten. Gegenüber dem aus der überzeugung von der Immanenz des Göttlichen im menschlichen Geist notwendig sich ergebenden Versuch, christlichen Glauben und Kirche zu einem Teil, wenn denn auch zum feinsten und innerlichsten der Kultur zu machen, war zu zeigen, daß sie beide, statt wie diese ihren Ursprung im menschlichen Schöpfertum zu haben, vielmehr aus der souveränen Offenbarungstat Gottes stammen, und daß man sie nicht als das Werk Gottes erkennt, der durch sie die Welt erneuert, wenn man nicht begreift, wie in ihnen das göttliche Gericht über den Menschen offenbar wird. I Gegen die auf der Rechten, die den Liberalen gegenüber den Offenbarungs- und prophetischen und apostolischen Zeugnischarakter der Schrift und die Objektivität der Heilswahrheiten und die Positivität des Glaubens und die Eigenständigkeit des Christentums gegenüber der Kultur und dem menschlichen Geistesleben verteidigten, galtes darauf hinzuweisen, daß christlicher Glaube nicht so etwas ist, wie eine christliche oder biblische Weltanschauung; daß die Heilige Schrift und die in ihr bezeugte Wahrheit keine Direktheit des Zugriffs und des Besitzes dulden, wie wenn sie nach einem Worte Kierkegaards etwas Schrift-
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liches wären, daß der "liebe Gott" von sich gegeben hätte, und daß es den christlichen Glauben nicht so in der Welt "gibt", wie es sonst geistige Größen und Gebilde gibt, die, vom Menschen geschaffen, auch ohne weiteres von ihm anzueignen und zu identifizieren sind. Christlicher Glaube ist zwar der Glaube des Menschen und wie nichts sonst auf der Erde die Offenbarung und das Zu-sich-selbst-kömmen des Menschen. Aber er ist das nicht aus menschlicher Kraft, sondern ganz allein aus der des Wortes Gottes. Und nur solange der Glaube sich nicht ver'"" wechselt mit einer Gläubigkeit, die allerdings ein Erzeugnis der seelischen und geistigen Natur und Kraft des Menschen ist, nur solange der Glaube von des Menschen Seite bettelarm, also schlechtweg nichts als Glaube ist, ist er echter, wahrer GI~ube, in dem nicht mehr ich, sondern Christus in mir lebt (Gal 2, 20). Die rücksichtslose und durch nichts eingeschränkte Behauptung der Tatsache, daß der Mensch, und zwar der fromme nicht weniger als der unfromme, vor Gott mit leeren Händen steht, hat uns in Gegensatz gebracht zu fast allem, was es damals an Theologie gab. Denn uns galt diese Behauptung nicht nur für den Menschen, insofern er im Gericht vor Gott steht, sondern ebenso für den Menschen, der die Gnade Gottes erfährt. Solange wir in diesem Leben sind, bis zum Jüngsten Gericht, erfahren wir die Gnade Gottes nicht anders als im Gericht. Gottes Ja zu uns ist, nach dem schönen Wort Luthers, immer "das tiefe heimliche Ja unter und über dem Nein". Nur indem wir "Gott recht geben in seinem Urteil über uns, haben wir gewonnen und ihn gefangen in seinen eigenen Worten". Dann wissen wir, "wie tief Gott für uns seine Gnade verberge, und wie wir nicht nach unserm Fühlen und I Denken von ihm halten sollen, sondern stracks nach seinem Wort"4. Was uns also fast gegen alle anderen damaligen Theologen mitein,ander verband, war mit einem Wort der Radikalismus, mit dem wir das theologische Thema durchzudenken versuchten. Nämlich das Thema von dem Worte Gottes, das nicht nur hier und da etwas ausbessert, nicht nur etwas Neues zu dem bisherigen Leben hinzubringt, sondern das nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift "neue Schöpfung" (2. Kor 5, 7) schafft, das" von neuem geboren werden läßt" (Joh 3, 7) und das sein Werk an uns nicht anders tun kann, als indem es alles vor sich "vergehen" läßt. Für dieses radikale Denken waren die Gedankengänge der damals das ganze theologische Denken beherrschenden "Apolo4
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getik" faule Künste. Denn es wäre ein verhängnisvolles Mißverständnis des Wortes Gottes, wenn man es, das den Menschen auf Tod und Leben angreift, und vor dem nichts Menschliches" bleiben" kann, mit menschlichen Künsten "verteidigen" wollte. Dieses radikale Denken brachte uns in gefährliche Nähe zu der allgemeinen Krise, die durch Kriegs- und Nachkriegszeit das menschliche Leben bis in den Grund erschütterte, und zu der Stimmung der Ausweglosigkeit und des Am-Ende-seins, die damals über viele Menschen gekommen war. Es ist kein Zweifel, daß diese allgemeine Krise nicht ohne Einfluß auf den Radikalismus unseres Denkens gewesen ist. Aber darin, wie wir sie verstanden, liegt der tiefe Gegensatz, der von allem Anfang an in dem war, was uns miteinander verband, und der ganz folgerichtig in dem Augenblick offen zutage treten mußte, als es galt, angesichts des Versuches, diese Krise zu überwinden, sich zu entscheiden.
SCHRIFTEN FüR UND WIDER DIE "DIALEKTISCHE THEOLOGIE"
Vorbemerkung: Diese Bibliographie führt vornehmlich Schriften aus der Zeit von 1920 bis 1933 an. Die Literatur, die sich nach 19'33 mit politischen und kirchlichen Fragen auseinandersetzt, wurde fortgelassen. Vollständigkeit konnte namentlich in der ausländischen Literatur nicht erreicht werden. Adam, A., Ansatz und Absicht der dialektischen Theologie. Neue kinn!. Zeitschr. 1932/1.
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