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Antike und Abendland
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Antike Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens herausgegeben von
Wolfgang Harms · Werner von Koppenfels Helmut Krasser · Christoph Riedweg · Ernst A. Schmidt Wolf gang Schuller · Rainer Stillers
Band XLV
1999
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Inhaltsverzeichnis Redaktionelle Hinweise
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Verzeichnis der Mitarbeiter des Bandes
VI
Andreas Patzer, München Sokrates als Soldat. Geschichtlichkeit und Fiktion in der Sokratesüberliefenmg . . .
l
Malcolm Davies, Oxford The Three Electras: Strauss, Hofmannsthal, Sophocles, and the Tragic Vision . . . .
36
Erika Simon, Würzburg Amalthea
66
Luth Kappel, Heidelberg Die Paradegma-Inschrift im Tunnel des Eupalinos auf Samos
75
Albrecht Dihle, Köln Antike Überlieferung im Christentum
101
Reinhard Mehring, Berlin Humanismus als «Politicum». Werner Jaegers Problemgeschichte der griechischen «Paideia»
111
Konrad Rahe, Bad Schwartau «Als noch Venus* heitrer Tempel stand». Heidnische Antike und christliches Abendland in Goethes Ballade Die Braut von Connth
129
Wolf gang Schuller, Konstanz De fragmento Vegoiae: Wolfgang Maximilian von Goethe und seine Doktorarbeit
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Register
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Manuskripteinscndungen werden an die folgenden Herausgeber erbeten: Prof, Dr. Wolfgang Harms, Institut für Deutsche Philologie, Universität, Schellmgstraße 3, 80799 München - Prof Dr Werner von Koppenfels, Boberweg 18,81929 München - Prof Dr. Helmut Krasser, Institut für Klassische Philologie, Universität, OttoBehagel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen - Prof. Dr. Christoph Riedweg, Kluseggstr. 18, CH-8032 Zunch - Prof. Dr. Ernst A Schmidt, Philologisches Seminar, Universität, Wilhelmstr. 36,72074 Tübingen- Prof. Dr Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560, 78434 Konstanz - Prof. Dr Rainer Stillers, Lemerstr l, 78462 Konstanz. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof Dr. Helmut Krasser zu richten Die Mitarbeiter erhalten von ihren Beitragen 25 Sonderdrucke kostenlos; weitere Sonderdrucke können vor der Drucklegung des Bandes gegen Berechnung beim Verlag bestellt werden. Buchbesprechungen werden nicht aufgenommen, zugesandte Rezensionsexemplare können nicht zurückgeschickt werden
ISBN 3 U 016305 5 ISSN 0003-5696 Copyright 1999 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller semer Teile ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung m elektronischen Systemen Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck GmbH, Berlin Buchbindensche Verarbeitung- Luderitz & Bauer, Berlin
Mitarbeiter des Bandes Dr. Malcolm Davies, St. John's College, Oxford, OX1 3JP, England Prof. Dr. Albrecht Dihle, Schillingsrotter Platz 7, 50968 Köln 51 PD Dr. Lutz Käppel, Wilhelm-Blum-Str. 6,69120 Heidelberg Prof. Dr. Reinhard Mehring, Institut für Philosophie der Humboldt-Universität, Unter den Linden 6,10099 Berlin Prof. Dr. Andreas Patzer, Aldnngenstr. 7, 80639 München Dr. Konrad Rahe, Schmiedekoppel 114,23611 Bad Schwartau Prof. Dr. Wolf gang Schuller, Philosophische Fakultät der Universität, Universitatsstr. 10, 78434 Konstanz Prof. Dr. Erika Simon, Floraweg 12, 97072 Wurzburg
ANDREAS PATZER Fur Werner Suerbaum zum 65. Geburtstag in Freundschaft und Dankbarkeit
Sokrates als Soldat Geschichtlichkeit und Fiktion in der Sokratesüberlieferung Drei verschiedene Kriegsschauplätze sind es, an denen sich Sokrates, antiker Überlieferung zufolge, als Soldat bewährt haben soll: Potidaia, dessen Belagerung, beginnend im Sommer 432, einer der Hauptanlässe für den Ausbruch des Peloponnesischen Krieges gewesen ist; das Delion, in dessen Nahe das athenische Landheer im Winter 424 eine vernichtende Niederlage gegen die Booter erlitt; schließlich Amphipolis, vor dessen Mauern im Sommer 422 die beiden Hauptkriegsbefürworter Kleon und Brasidas den Tod fanden und so den Weg frei machten für den sogenannten Faulen Frieden des Nikias, der den Archidamischen Krieg beendete. Die historische Darstellung dieser drei Kriegsereignisse verdanken wir Tkukydides. Der allerdings verliert über Sokrates kein Wort. Herodikos (p. 18 sq. During) war der Meinung, sein Schweigen beweise, daß die Überlieferung über Sokrates* Kriegstaten unhistorisch sei. Aber nichts ist unzutreffender als dieser Schluß e sdentio. Die der thukydideischen Historiographie verbietet es nachgerade, die Taten eines einzelnen athenischen Soldaten zu erwähnen - und hieße er selbst Sokrates. Merkwürdiger als das Schweigen des Thukydides ist das der Komödie, die Sokrates ja vor allem während des Archidamischen Krieges verspottet hat. Gleichwohl ist von seinen militärischen Aktivitäten nirgends die Rede. Aber auch von Xanthippe und vom Daimonion ist ja in der Komödie nirgends die Rede — zwei Themen, die zu komischem Spott nicht weniger Anreiz geboten hätten als Sokrates' Kriegstaten. Da die Historiographie schweigt und die Komödie auch, ist die früheste und schließlich auch einzige Quelle, die von Sokrates' Kriegstaten spricht, die Sokratik. Auch hier ist ein merkwürdiger Befund zu konstatieren. Der Sokratiker Xenophon, selbst ein großer Militär und daher eifrig bemüht, Sokrates die eigenen strategischen und namentlich kavalleristischen Kenntnisse zu imputieren (Mem. 3.1-4), verliert über dessen personliche Kriegstaten kein Wort, wiewohl er sogar an einer Stelle (Mem. 3.5.2) die Schlacht beim Delion expressis uerbis erwähnt - ein starkes Beispiel dafür, in welchem Maße er die Gestalt des Sokrates enthistorisiert, um sie desto besser idealisieren zu können. - Anders als Xenophon weiß Platon, der die konkrete Person des Sokrates niemals aus dem Auge verliert, Erhebliches über Sokrates' Militärdienst zu erzählen, und Platons Erzählungen, die als communis opinio in die antiken und die modernen Handbücher der Philosophiegeschichte Eingang gefunden haben, muß man zugrunde legen, wenn man über Sokrates als Soldaten sprechen will. Diese communis opinio allerdings bedarf der Korrektur durch die außerplatonische Überlieferung, die sich
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ihrerseits, mittelbar oder unmittelbar, ebenfalls sokratischen Quellen verdankt. Erst der kritische Überblick über die gesamte Tradition erlaubt womöglich ein Urteil über die Historizität dessen, was die Sokratiker in dem von ihnen neugeschaffenen literarischen genus des von Sokrates' Kriegstaten zu erzählen wußten. Der Platonische Sokrates erinnert sich in der Apologie (p. 28e) der Feldzuge, an denen er teilgenommen hat: Unrecht wäre es gewesen, erklart er den Richtern, wenn er vor Potidaia, vor Amphipolis und beim Delion unter Lebensgefahr die Stellung gehalten hatte, wie die Befehlshaber befahlen, dem Befehl des Gottes jedoch, philosophierend und menschenprüfend zu leben, aus Angst vor dem Tode nicht nachkommen wurde. - Wie man sieht, nennt Platon die Knegsereignisse nicht in zeitlicher Reihenfolge; das war auch unnötig, denn die Leser waren über die chronologischen Verhaltnisse ohnedies informiert, und chronologischer Pedantismus ist Platons Sache nicht - Mit geringerem Recht als Platon gestalten auch spätere Autoren die Aufzahlung der drei Kriegsereignisse nach eigenem Gutdünken: Herodikos (p. 18 sq. During) zitiert zwar Platon, befolgt dann aber die Reihenfolge Amphipolis, Potidaia, Delion, für die sich auch die Suda (s.u. ) entscheidet; Aelian (Var. hist. 3 17) und Aelius Anstides (Or. 46 De IV uirts 262 sq.) bieten die Anordnung Delion, Amphipolis, Potidaia; Diogenes Laertius (2.22) schließlich wählt die Abfolge Amphipolis, Delion, Potidaia. - Bei solcher Inkonstanz der antiken Tradition ist der moderne Interpret frei, die Reihenfolge der Ereignisse nach eigenem Gutdünken zu bestimmen, und es wird die Chronologie sein, der er folgt, auch wenn ihr kein antiker Gewährsmann gefolgt ist.
1. Potidaia Platon äußert sich zweimal ausfuhrlich über Sokrates' Teilnahme an den Kriegsereignissen um Potidaia, einmal im Charmides und einmal im Symposion. Da das Symposion Ereignisse beschreibt, die zeitlich früher liegen als jene, von denen im Charmides die Rede ist, ist es radich, auch hier der Chronologie zu folgen und die Schilderung des Symposions jener des Charmides voranzustellen, auch wenn das Symposion notorisch spater abgefaßt wurde als der Charmides. Am Ende des Platonischen Symposions halt Alkibiades eine enkomiastische Rede auf Sokrates (p. 215a-222a); wiederum am Ende dieser Rede kommt er auf Sokrates' Verhalten im Kriege zu sprechen, genauer: auf das Verhalten, das dieser vor Potidaia und beim Delion an den Tag gelegt hat (p. 219e-221c). - Was nun die Ereignisse vor Potidaia betrifft (p. 219e-220e), so hat Alkibiades diesen Feldzug gemeinsam mit Sokrates unternommen und war im Felde sein Tischgenosse (p 219e). Aufgrund so enger Kameradschaft 1veiß er Bemerkenswertes zu berichten sowohl über Sokrates' Verhalten wahrend der Belagerung (p. 219e-220d) als auch während der Schlacht (p 220de). Das Verhalten wahrend der Belagerung Schilden er zunächst im allgemeinen (p. 219e-220c) und erzahlt sodann ein besonders eindrucksvolles Einzelereignis (p. 220cd). Sokrates' Verhalten im allgemeinen zeichnet sich dadurch aus, daß er die Strapazen des Krieges besser bewältigte als alle anderen (p. 219e). Hierfür führt Alkibiades zwei Beispiele an: Wenn die Soldaten einmal abgeschnitten wurden, wie dies im Kriege vorkommt, so ertrug Sokrates den Hunger weitaus leichter als die anderen (p. 219e). Und zweitens: Im Ertragen der Winterkälte leistete Sokrates Erstaunliches, er trug seine übliche Kleidung und ging barfuß leichter über das Eis
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als die anderen, die Schuhe angezogen hatten (p. 220ab). - Zwischen jene beiden Beispiele schiebt Alkibiades die Bemerkung, da Sokrates auch, wenn gefeiert wurde, als einziger richtig genie en konnte; namentlich wenn er zum Trinken gen tigt wurde, besiegte er, wiewohl dem Trunke eigentlich abhold, alle anderen, ohne da jemand ihn jemals betrunken gesehen hatte (p. 220a). - Soweit das allgemeine Verhalten des Sokrates wahrend der Belagerung, dessen Schilderung Alkibiades mit der Formel êáé ôáýôá ìåí äç ôáýôá abschlie t (ñ. 220c), um mit der Erz hlung einer merkw rdigen Einzelbegebenheit fortzufahren, die sich damals zutrug: Sokrates hatte einen Gedanken gefa t und stand vom Morgen an nachsinnend auf derselben Stelle, und da die Denkarbeit nicht voranging, lie er nicht nach, sondern blieb suchend stehen; gegen Mittag wird die Sache publik; abends schlie lich tragen einige lomer ihre Schlafdecken heraus, um zu beobachten, ob Sokrates auch die Nacht ber stehen bleiben werde; tatsachlich bleibt er unbewegt stehen, bis es Morgen wird; darauf verrichtet er sein Gebet an den Sonnengott und geht davon (p. 220cd). - Es folgt die Schilderung von Sokrates' Verhalten im Kampfe, die Alkibiades durch die Bemerkung åß äå âïýëåóèå êáé åí ìÜ÷áéò (ñ. 220d) eigens ank ndigt und wiederum durch zwei Beispiele illustriert, deren erstes dem Kampf vor Potidaia gilt, w hrend das zweite der Schlacht beim Dehon gewidmet ist (p. 220d—221 c). — ber den Kampf vor Potidaia nun erzahlt Alkibiades folgendes: Sokrates habe ihn in jenem Kampfe, als er verwundet wurde, samt seinen Waffen gerettet; er - Alkibiades - habe damals daf r pl diert, da Sokrates die Kampfauszeichnung erhalten solle; als aber die Strategen in Rucksicht auf seinen politischen Einflu geneigt gewesen seien, ihn selbst vorzuziehen, da habe sich Sokrates noch eifriger daf r verwandt als die Strategen, da er — Alkibiades — den Preis erhalte (p. 220de). Wie das Symposion von den Ereignisssen erzahlt, die wahrend der Belagerung Potidaias vorgefallen sind, so erz hlt der Cbarmides von der Ruckkehr aus Potidaia und den Ereignissen kurz davor. Erz hler ist diesmal der Platonische Sokrates: Am Abend zuvor sei er aus Potidaia vom Heerlager zur ckgekommen und habe nun, nach langer Zeit, die gewohnte T tigkeit an den gewohnten Pl tzen wiederaufgenommen. In der Palaistra des Taureas angekommen, sei Chairephon aus der Mitte der Bekannten aufgesprungen, habe seine Hand gefa t und gefragt, wie er aus dem Kampfe davongekommen sei. Es hatte n mlich kurz vor der Abfahrt vor Potidaia ein Kampf stattgefunden, von dem soeben die Kunde nach Athen gedrungen war. Sokrates antwortet, er sei so davongekommen, wie man sehe Worauf Chairephon bemerkt, es sei nach Athen gemeldet worden, der Kampf sei sehr heftig gewesen und viele namhafte Manner seien gefallen. Ob Sokrates dabeigewesen sei? Sokrates bejaht und erz hlt den Anwesenden die Ereignisse aus dem Heerlager, wonach ihn jeder fragte; jeder aber fragte nach etwas anderem (p. 153ac).
Soweit die Schilderung Platons ber Sokrates* Teilnahme am Feldzug gegen Potidaia, der Grund- und Haupttext der berlieferung. - Die berlieferung wei jedoch auch noch von einem anderen, konkurrierenden Text, der auf den Sokratiker Antisthenes zur ckgeht. Herodikos notiert in seiner antisokratischen Streitschrift Ðñïò ôïí ÖéëïóùêñÜôçí (p. 19 During), da Antisthenes in betreff des Kampfpreises dasselbe erz hle wie Platon: êáé ÁíôéóèÝíçò ä* ü Óùêñáôéêïò ðåñß ôùí áñéóôåßùí ôá áõôÜ ôþé ÐëÜôùíé éóôïñåß. Was Platon sagt, referiert Herodikos wenig sp ter folgenderma en: ü äå ÐëÜô<ïíïò ÓùêñÜôçò åéò Ðïôßäáéáí ëÝãåé ðáñåÀíáé êáé ôùí áñéóôåßùí ¢ëêéâéÜäçé ðáñáêå÷ùñçêÝíáé. Fa t man beide Aussagen zusammen, so liegt der Schlu nahe, da auch Antisthenes erzahlt hat,
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Sokratcs habe Alkibiades vor Potidaia den Kampfpreis berlassen.1 Doch ist hier Vorsicht geboten Derselbe Herodikos (I.e.) referiert nicht nur Platon, sondern zitiert auch w rtlich die einschl gige Stelle des Antisthenes, dem er sein Wissen verdankt, das Bruchst ck eines Gespr chs zwischen Sokrates und einem Fremden: çìåßò äå Üêïýïìåí êáí ôÞé ðñïò Âïéùôïýò ìÜ÷çé ôá ÜñéïôåÀÜ óå ëáâåßí. - åýöÞìåé, þ îÝíå, ¢ëêéâéÜäïõ ôï ãÝñáò, ïõê Ýìüí - óïï ãå äüíôïò, ùò çìåßò Üêïýïìåí. Diesem kostbaren Fragment (von dem spater noch ausfuhrlicher die Rede sein soll) l t sich zun chst zweifelsfrei entnehmen, da Antisthenes die Geschichte von der berlassung des Kampfpreises an Alkibiades im Zusammenhang mit der Schlacht beim Delion erz hlt hat, die umschreibend als «Schlacht gegen die Booter» bezeichnet wird. Wenn es weiter hei t, Sokrates habe «auch» (êáí) in der Schlacht gegen die B oter einen Kampfpreis erhalten, so liegt darin ferner, da Antisthenes voraussetzt, Sokrates habe schon einmal einen Kampfpreis erhalten, und zwar an einem anderen Orte als beim Delion. Dieser Ort aber kann nur Potidaia gewesen sein, wo Platon die berlassung des Kampfpreises an Alkibiades stattfinden l t. Aber wenn Antisthenes voraussetzt, da Sokrates zweimal einen Kampfpreis erhalten habe, vor Potidaia und beim Delion, so folgt daraus nicht, da er auch vorausgesetzt hat, da Sokrates diese Kampfpreise zweimal Alkibiades berlassen habe. Der Text des Antisthenes beweist vielmehr das Gegenteil. Denn allein das Faktum der Verleihung eines Kampfpreises wird durch das Adverbiale êáí ôß|é ðñïò Âïéùôïýò ìÜ÷çé als schon einmal geschehen bezeichnet, nicht aber die folgende Schilderung der Begleitumstande: Indem diese Begleitumstande im Gesprach durchaus als etwas Neues erzahlt werden, ist es nachgerade ausgeschlossen, da Antisthenes die Geschichte von der berlassung des Kampfpreises an Alkibiades als schon einmal an anderem Orte als beim Delion geschehen vorausgesetzt oder gar erzahlt haben kann. - Und doch hat Herodikos (I.e.) recht, wenn er behauptet, Antisthenes erzahle «in Betreff des Kampfpreises» (ðåñß ôùí áñéóôåßùí) dasselbe wie Platon: Wie Platon, so erzahlte auch Antisthenes, da Sokrates vor Potidaia einen Kampfpreis erhalten habe; und wie Platon erz hlte Antisthenes auch davon, da Sokrates einen Kampfpreis Alkibiades berlassen habe. Anders als Platon la t er aber diese Geschichte nicht in Potidaia, sondern beim Delion stattfinden, und so konnte Herodikos, der aus dem Schweigen des Thukydides auf die Unwahrheit beider Geschichten schlo , sehr wohl auch behaupten, da Antisthenes der Platonischen Lugengeschichte noch eine andere hinzugefugt habe: ü ãáñ ÁíôéóèÝíçò êáÀ ðñïóåðÜãåé ôçé øåõäïëïãßáé... Lassen wir den Vorwurf der L genhaftigkeit zun chst auf sich beruhen und fragen statt dessen, was Antisthenes ber Sokrates' Verhalten vor Potidaia erzahlt hat, so l t sich nicht leicht eine Antwort finden. Sicher ist, da Antisthenes vorausgesetzt hat, da Sokrates vor Potidaia einen Kampfpreis erhalten hat. Des weiteren darf als wahrscheinlich gelten, da er auf dieses Faktum nicht nur mit der d rren Konjunktion êáß hinwies, sondern dem Leser genauere Informationen gab, wie er es ja auch im Falle der Schlacht beim Delion getan hat. Was f r Informationen das waren, bleibt indes ungewi ; gewi ist allein, da er nicht erzahlte, da Sokrates vor Potidaia seinen Kampfpreis Alkibiades berlie . Trotzdem· Falls in der spateren anonymen Sokratestradmon Informationen ber Potidaia begegnen, die nicht auf Platon zur ckgehen, so spricht viel daf r, da diese Informationen auf Antisthenes zur ckzuf hren sind; denn da au er Platon und Antisthenes noch ein dritter Sokratiker ber das
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O Gigon, Sokrates, 2. Auf!, Bern - M nchen 1979, S 155.
Sokrates als Soldat
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Thema <Sokrates vor Potidaia> geschrieben h tte, ist wenig glaublich, und wenn es der Fall w re, so k nnten wir es auch nicht erkennen. Der zeitlich n chstliegende Autor, der ber das Thema <Sokrates vor Potidaia> spricht, ist der unbekannte Verfasser des dritten Sokratesbnefes (p. 14 Kohler): ÌíÞóùí (corr. Hercher; ¢íÞóùí codd.) 6' ¢ìùéðïëßôçò åí Ðïôéäáßáé ìïé óõíåóôÜèç. ïýôïò íõí ¢èÞíáæå Ýñ÷åôáé ðñïò ôïí äçìïí, Ýêðåóþí ýðï ôùí ïßêïé, ôá ãáñ åêåß êåêßíçôáé ìåí Þäç, ïýðù ä' åóôß öáíåñÜ, ïúìáé ìÝíôïé ïõ ðïëëïý áõôÜ äçëþóåé í ÷ñüíïõ, ôïýôùé óõëëáâüìåíïò áõôüí ôå Üîéïí ïíôÜ ðïéÞóåéò åõ êáé ôÜò ðüëåéò ÜìöïôÝñáò ùöåëÞóåéò- ôçí ìåí ôùí ¢ìöéðïëéôùí, úíá ìç áðüóôáóá ÜíÞêåóôüí ôé êéíäõíåýóçé ðáÏåÀí, ôçí ä' ÞìåôÝñáí, üðùò ìç êáé ðåñß Ýêåßíçí ðñÜãìáôá Ý÷ïé, ùò íõí ãå ðåñß Ðïôßäáéáò ìéêñïý äåïìÝíçí (corr. Sykutris; äåïìÝíç Þ codd.) ÜðåéñçêÝíáé. - Es ist em Empfehlungsbrief, den Sokrates an einen ungenannten Adressaten aus Potidaia nach Athen sendet: Jener Ungenannte ( ber dessen Identit t sich der Interpret ebenso wenig Gedanken machen sollte wie der Verfasser des Briefes) m ge sich um den Amphipoliten Mneson k mmern, der, aus seiner Vaterstadt vertrieben, Hilfe beim athenischen Volke erbitte. ber das rein Pers nliche hinaus sei die Sache auch von politischer Wichtigkeit: Amphipolis k nne auf diese Weise wom glich vor dem Abfall bewahrt bleiben, so da Athen nicht auch noch mit dieser Stadt hnliche Schwierigkeiten bek me «wie jetzt» (ùò íõí ãå) mit Potidaia. - Die Absicht dieses fiktiven Elaborates liegt auf der Hand: Sokrates soll als Staatsmann gezeigt werden, der selbst im Felde durch seine personlichen Verbindungen daf r Sorge tr gt, da die athenische Polis keinen Schaden erleidet. Um seinen Zweck zu erreichen, hat sich der Verfasser nicht gescheut, Sokrates vor Potidaia warnend auf jene politischen Entwicklungen hinweisen zu lassen, die zehn Jahre sp ter in Amphipolis tats chlich eintraten, — ein Gebrauch des uaticinmm ex euentu, wie er f r fiktionale Literatur dieses genre kennzeichnend ist. - Da das ganze Konstrukt eine unhistorische Erfindung ist, unterliegt keinem Zweifel. Nicht so sicher ist, da auch alle Einzelheiten Erfindung sind.2 Es ist durchaus nicht auszuschlie en, da von einem Zusammentreffen zwischen Sokrates und Mneson vor Potidaia bereits in altsokratischer Literatur die Rede gewesen ist. Da der Verfasser des Sokratesbnefes ein solch konkretes Detail vorgefunden und seinen erz hlerischen Zwecken dienstbar gemacht hat, ist sogar wahrscheinlicher, als da er die Geschichte m toto frei erfunden hat: Pure Erfindung ist in pseudepigraphischer Literatur selten, und namentlich die teilweise sehr erlesenen Eigennamen, die in den Sokratikerbnefen begegnen, verdanken sich in aller Regel nicht eigener Erfindung, sondern gehen schlie lich auf ltere sokratische Quellen zur ck.3 War dies auch hier der Fall, so war es h chstwahrscheinlich Antisthenes, der von einem Zusammentreffen des (anderweitig unbekannten) Mneson mit Sokrates vor Potidaia erz hlte. Woraus dann weiter folgen w rde, da Antisthenes das Thema <Sokrates vor Potidaia> in der Tat nicht stillschweigend vorausgesetzt, sondern erz hlerisch auch ausgestaltet h tte. Als n chster Autor ist Plutarch zu zitieren, der in seiner Alkibiadesbiographie (7.3-5) ber das Thema <Sokrates vor Potidaia> folgendes erz hlt: Ýôé äå ìåéñÜêéïí ùí Ýóôñáôåýóáôï (sc. Alcibiades) ôçí åéò Ðïôßäáéáí óôñáôåßáí êá\ ÓùêñÜôç óýóêçíïí åß÷å êáÀ ðáñáïðÜôçí åí ôïéò Üãþóéí. ßó÷õñáò äå ãåíïìÝíçò ìÜ÷çò Þñßóôåõóáí ìåí áìöüôåñïé, ôïõ ä* ¢ëêéâéÜäïõ ôñáýìáôé ðåñéðåóüíôïò ü ÓùêñÜôçò ðñïÝïôç êáé çìõíå êáé ìÜëéóôá äç ðñïäÞëùò Ýóùóåí áõôüí ìåôÜ ôùí üðëùí, Ýãßíåôï ìåí ïýí ôùé 2
J. Sykutris, Die Briefe des Sokrates und der Sokrattker, Paderbom 1933, S. 27 * Sykutris,ËË O,S. 115 f.
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Andreas Patzer
äéêáéüôáôïé ëüãùé ÓùêñÜôïõò ôï ÜñéóôåÀïí· Ýðå\ ä* ïé óôñáôçãïß äéá ôï áîßùìá ôùé ¢ëêéâéÜäçé óðïõäÜæïíôåò Ýöáßíïíôï ðåñé9åéíáé ôçí äüîáí, 6 ÓùêñÜôçò âïõëüìåíïò áýîåïèáé ôï öéëüôéìïí åí ôïéò êáëïÀò áõôïý, ðñþôïò Ýìáñôýñåé êáÀ ðáñåêÜëåé óôåöáíïõí åêåßíïí êáé äéäüíáé ôçí ðáíïðëßáí. - Vergleicht man die Erz hlung Plutarchs mit jener Platons, so ist zu konstatieren, da Plutarch die Geschichte ah Geschichte konsequenter erz hlt als Platon: da Sokrates und Alkibiades beide im Kampfe als Kameraden H chstleistungen vollbrachten; da Alkibiades im Zuge dieser Kampfleistung verwundet und von Sokrates gerettet wurde; da der Kampfpreis demnach gerechterweise Sokrates geb hrt hatte, da dieser jedoch, als die Strategen den jungen Adligen bevorzugen wollten, aus freien Stucken auf den Preis verzichtete, um im Guten den Ehrgeiz des Junglings zu fordern - alle diese motivischen Details, die f r das rechte Verstandis der Geschichte von Bedeutung sind, erzahlt allein Plutarch; Platon erzahlt sie nicht, sondern spart sie aus, voraussetzend, da der Leser sie sich von sich aus erg nzen wird. - Die Differenzen zwischen Platon und Plutarch mehren sich noch, wenn man das Augenmerk vom Motivischen auf das Konkrete richtet. Auch hier erw hnt Plutarch ausdrucklich zwei Details, die Platon wiederum beim Leser als bekannt voraussetzt: da Alkibiades wahrend des Feldzuges nach Potidaia noch ein ganz junger Mann (ìåéñÜêéïí) gewesen sei und da der Kampfpreis in einem Kranz und in einer vollst ndigen Waffenrustung (ðáíïðëßá) bestanden habe. Rechnet man das motivische und das konkrete Mehr, das Plutarch Platon voraushat, zusammen, so liegt der Schlu nahe, da er nicht Platon, sondern eine andere, wom glich ebenfalls altsokratische Quelle herangezogen haben konnte. Wie denn Plutarch in derselben Alkibiadesbiographie (l 3) nachweislich Antisthenes als Gew hrsmann konsultiert hat. - Die Plausibilitat dieses Schlusses verringert sich indessen, wenn man in Betracht zieht, da Plutarch das konkrete Detail, das er Platon voraushat, nicht einem Sokratiker verdankt, sondern dem Redner Isokrates. Dieser n mlich erw hnt in seiner Rede ber das Gespann (Or. 16.29) exakt jene beiden Fakten, die bei Platon fehlen: ... ôïéïýôïò çí (sc. Alcibiades) åí ôïéò êéíäýíïéò (sc, quos in Thracia subiit), þóôå óðåöáíùèçíáé êáé ðáíïðëßáí ëáâåßí ... åêåßíïò ôïßíõí ôùí ìåí íÝïò ùí Ýôõ÷åí .., Selbst wenn Plutarch in seiner Alkibiadesbiographie (12.3) ebendiese Rede nicht ausdrucklich zitierte, wurde* man nicht daran zweifeln, da er auch die Ajigaben ber Alkibiades' Jugend wahrend des Feldzuges nach Potidaia und ber die Art des Siegespreises (Kranz und Panhoplie) Isokrates verdankt. - Will man also entscheiden, ob Plutarch bei seiner Erz hlung ber Sokrates vor Potidaia Platon oder eine andere sokratische Quelle im Blick gehabt hat, so ist man allein auf das motivische Mehr angewiesen, das Plutarch gegen ber Platon bietet. Die Entscheidung h ngt ma geblich davon ab, wie man Plutarch als Schriftsteller beurteilt. Sieht man in ihm einen mehr oder weniger unselbst ndigen Kompilator fremder Meinungen und Quellen, so wird man einen fragmentarischen Sokratiker als Quelle vermuten.4 Halt man ihn dagegen f r einen Autor, der die vorgegebene Tradition eigenst ndig herangezogen hat, um ein Werk von literarischem Anspruch daraus zu formen, so ist wahrscheinlich, da er Platon im Blick gehabt hat. Das motivische Mehr w re dann nicht fremdes Gut, sondern Plutarchs geistiges Eigentum, das er sich aus Platons andeutender Erz hlung so erg nzt h tte, wie jeder Leser Platons tun mu te, der die Geschichte verstehen wollte.5 Die zweite Alternative ist ungleich wahrscheinlicher als die erste: Plutarch war alles andere als ein unselbst ndiger Kompilator 4 5
H Oittmw, Aischmes von Sphettos, Berlin 1912, S 85. Antisthenes I Dunng (Hrsg u Komm), Herodicus the Cratetean, Stockholm 1941, S. 42 f. -
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fremder Meinungen; namentlich in den Parallelbiographien erweist er sich berall als ein Schriftsteller von Rang, der sich das berlieferte Material souver n aneignet, um es ausdeutend seinen eigenen literarischen und auch philosophischen Interessen dienstbar zu machen.6 Wen diese Argumentation nicht berzeugt, der blicke auf den unmittelbar folgenden Text der Alkibiadesbiographie (7.6): Plutarch erz hlt hier ber Sokrates' Verhalten wahrend der Schlacht beim Delion und folgt hier nachweislich platonischer Tradition. Wie denn auch die Zusammenstellung der Ereignisse vor Potidaia und beim Delion - in dieser Reihenfolge deutlich genug auf das Platonische Symposion als Vorbild hinweist. N chst Plutarch verdient Aldus Gellius (Noct. Att. 2.1-3) n here Betrachtung: inter labores uoluntanos et exercitia corpons ad fortmtas patientiae uices firmandi id quoque accepimus Socratem facere insuemsse: stare solitus Socrates dicitur pertmaci statu perdms atque pemox a summo lucis ortu ad solem alterum mcomuens, immobihs, isdem m uestigns et ore atque ocuhs eundem m locum directis cogitabundus tamquam quodam secessu mentis atque animi facto a corpore, quam rem cum Fauonnus de fortitudme eius um ut pleraque disserens attigisset, ðïëëÜêéò inqmt, åî çëßïõ åéò Þëéïí åßóôÞêåé ÜóôñáâÝóôåñïò ôùí ðñÝìíùí. — Da Gellius, was er hier ber Sokrates berichtet, aus Favorin gesch pft hat, liegt auf der Hand.7 Favorin seinerseits erz hlte in einem seiner h ufigen Exkurse ber Sokrates' Tapferkeit, dieser habe die Angewohnheit gehabt, wenn er ber etwas nachdachte, einen Tag und eine Nacht lang «unersch tterlicher als die (Eichen-)stamme» stehen zu bleiben. Der Kontext der Erz hlung (de fortitudme) sowie die pr zise Zeitbestimmung des erzahlten Vorgangs (åî çëßïõ åéò Þëéïí bzw. perdius atque pernox a summo lucis ortu ad solem alterum orientern) lassen keinen Zweifel, da Favorin (oder seine Quelle) hier auf jene Stelle des Symposions rekurriert, in der Platon Sokrates' Verhalten vor Potidaia schildert. Platon (Symp. p. 220c) sagt dort allerdings nicht mehr, als da Sokrates «irgendwann einmal» (ðïôÝ) in eine so spektakul re Trance gefallen sei; er sagt nicht, was Favorin bzw. Gellius behaupten: da Sokrates dies «oftmals» (ðïëëÜêéò) oder gar «regelm ig» (sohtus est) widerfahren sei. Diesen Aspekt verdankt Favorin (oder seine Quelle) einer anderen Stelle des Platonischen Symposions (p. 175b), an der Aristodemos erkl rt, da Sokrates die Angewohnheit habe, sich bisweilen zu separieren und, wo es sich gerade treffe, stehen zu bleiben: åèïò ãáñ ôé ôïïô' Ý÷åé (sc. Socrates)· åíßïôå ÜðïóôÜò, ïðïß áí ôý÷çé, åóôçêåí. Hier spricht Platon in der Tat von einer «Gewohnheit» (åèïò), fugt jedoch einschr nkend hinzu, da Sokrates dieser Gewohnheit nur «bisweilen» (åíßïôå) nachgegeben habe. Diese einschr nkende Bemerkung mu te man nur mi verstehen oder mi verstehen wollen, wie dies Favorin (der das Adverbiale åíßïôå durch ðïëëÜêéò ersetzt) und Gellius (der das Adverbiale ganz wegl t) getan haben, und aus einem Verhalten, das Sokrates bisweilen (also eher selten als immer) an den Tag legte, wurde eine standige Gewohnheit. Aus diesem Mi verst ndnis ergab sich ein weiteres: Das spektakul re Vorkommnis vor Potidaia wurde nicht mehr, wie von Platon intendiert, als extreme Singularit t interpretiert, sondern als typisches Beispiel. Indem aber das Singul re zur Regel wird, f llt auch die lokale Fixierung dahin, die ihm urspr nglich eigen wan Weder Favorin noch Gellius erw hnen Potidaia im Zusammenhang 6
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K. Ziegler, PJutarchos von Chaironeia, m· RE 21.1 (1951) Sp 895-914; A. Dihle, Studien zur griechischen Biographie, Gottingen 1956, S 88-103. Neuere Untersuchungen in folgenden Sammelbanden P A. Stadter (Hrsg;, Plutarch and the historical tradition, London-New York 1992; B Scardigb (Hrsg), Essays on Plutarch's Lives, Oxford 1995. A Barigazzi (Hrsg u. Komm.), Favonno diArelate, Florenz 1966, S. 525.
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mit Sokrates' spektakul rer Absenz. Damit ist der Weg frei f r ein erneutes Mi verst ndnis: Libamos (Apol Soar. 131) la t den spektakul ren Regelfall statt vor Potidaia vor Amphipolis geschehen - eine irrt mliche Relokalisierung, von der noch die Rede sein wird. Aussagekraftiger als der Text des Gellius, der lediglich ein - allerdings besonders lehrreiches - Beispiel daf r liefert, wie die altsokratische berlieferung durch die sp tere biographische Tradition verf lscht werden kann, ist der Bericht, den Diogenes Laertiits in seiner Sokratesbiographie (2.23) ber das Thema <Sokrates vor Potidaia> gibt: Ýóôñáôåýóáôï (sc. Socrates) äå êáé åéò Ðïôßäáéáí äéá èáëÜôôçò· ðåæçé ãáñ ïõê Ýíçí ôïõ ðïëÝìïõ êùëýóáíôïò äôå êáé ìåÀíáé íõêôüò üëçò åö' åíüò ó÷Þìáôïò áõôüí öáóéí· êáÀ Üñéïôåýóáíôá áõôüèé ðáñá÷ùñçóáé ¢ëêéâéÜäéì ôïõ áñéóôåßïõ. Die Geschichte von der Trance des Sokrates und der berlassung des Kampfpreises an Alkibiades, die Diogenes, wie das gemeinsame uerbttm regens öáóßí anzeigt, ein und derselben Quelle verdankt, geht offenbar schlie lich auf das Platonische Symposion zur ck - auch wenn die gedankliche Absenz des Sokrates bei Diogenes nur eine Nacht dauert, w hrend sie bei Platon einen Tag und eine Nacht w hn. - Anders steht es um die einleitende Bemerkung des Diogenes, da Sokrates auf dem Seewege nach Potidaia gelangt sei, nicht auf dem Landwege, der infolge des Krieges versperrt gewesen sei. Diese Bemerkung, die auch durch oratio recta von dem nachfolgenden Referat abgehoben wird, geht zweifellos auf eine nichtplatonische Tradition zur ck; denn Platon verliert nirgends ein Wort dar ber, wie Sokrates nach Potidaia gelangt sei. - ber die Entstehung dieser berlieferung gibt es eine gelehrte Hypothese: Der pseudoplatonische Dialog Sisyphos, versetze Sokrates ins thessalische Pharsalos; diese Information habe die Sokratesbiographie aufgegriffen und mit Sokrates' Feldzug nach Potidaia in Verbindung gebracht; diese biographische Kontamination sei dann wiederum von spaterer Kritik als unhistorisch widerlegt worden.8 - Ankn pfend hieran greift eine weitere Hypothese auf jene biographische berlieferung zur ck, derzufolge thessalische F rsten Sokrates an ihre Hofe eingeladen hatten; um eine Verbindung mit einem dieser F rsten herstellen zu k nnen, habe ein Sokratiker Sokrates auf dem Landwege nach Potidaia gelangen lassen; dagegen habe ein weiterer Sokratiker polemisiert und Sokrates auf dem Seewege nach Potidaia geschickt, um so die Ablehnung der Einladung zu begr nden und Sokrates vom Verdacht der Tyrannenfreundschaft zu befreien.9 - Beide Hypothesen sind beraus kompliziert und wenig plausibel. Was den pseudoplatonischen Sisyphos betrifft, so ist als Ort des Gespr chs eher Athen als Pharsalos vorauszusetzen; nimmt man hinzu, da als Zeit des Gespr chs das Ende des 5. Jhs. anzusetzen ist, so wird es vollends unwahrscheinlich, da sich die hellenistische Biographie eines so marginalen Textes bem chtigt haben konnte, um Sokrates wider die topographischen und chronologischen Plausibihtaten und Evidenzen auf dem Landwege ber Thessalien nach Potidaia gelangen zu lassen.10 - Was f r die hellenistische Biographie gilt, gilt erst recht f r die Sokratik. Die antike Tradition (Diog Laert. 2.25; Liban. Apol Socr. 165) wei allein davon, da Sokrates die Einladungen des Skopas von Krannon und des Eurylochos von Larissa abgelehnt habe. In der Tat kann man sich auch Sokrates als Gast am Hofe eines thessalischen F rsten ebenso wenig vorstellen wie als Gast des Makedonenkonigs Archelaos, dessen Einladung er ebenfalls abgelehnt haben soll (Arist Rhet. 2 p. 1398a 24 et al). Die Ablehnung solch ehrenvoller Einladungen, 8 9 10
U. von Wilamowitz-Moellendorff, Lesefruchte, m. Hermes 40 (1905) S 146 Gigon,**O,S. 153 C W M ller, Die Kurzdtaloge der Appendix Platomca, M nchen 1975, S 45-50
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die zweifellos auf sokratische Literatur zurückgeht, begründet jedesmal die antimonarchische bzw. prodemokratische und besonders proathenische Gesinnung des Sokrates, die die Sokratiker allesamt herauszuheben nicht müde werden, auch und gerade wenn sie an den realen Zuständen der athenischen Politik Kritik üben. Kaum glaublich, daß ein Sokratiker anders entschied und Sokrates als Gast am Hofe eines thessalischen Magnaten auftreten ließ. Wie denn auch? Der Verfasser hätte ja der einen Enormitat eine weitere folgen lassen müssen, insofern er massiv gegen die Chronologie verstoßen mußte, wenn er Sokrates auf dem Weg nach Potidaia bei einem thessalischen Fürsten einkehren ließ. Eine so spektakuläre Einladung durch einen auswärtigen Herrscher setzt ja voraus, daß es Sokrates bereits zu panhellenischer Berühmtheit gebracht hatte. Davon aber konnte in den spaten dreißiger Jahren des 5. Jhs., als der Feldzug gegen Potidaia begann, durchaus nicht die Rede sein; zu dieser Zeit nimmt nicht einmal die attische Komödie von Sokrates Notiz. Der panhellenische Ruhm des Sokrates datiert vielmehr erst aus dem letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts, und die Einladung des Makedonenkönigs Archelaos, der zu ebendieser Zeit regierte, ist dafür der eindrucksvollste Beleg. Ungefalir um dieselbe Zeit wie Archelaos muß auch Skopas von Krannon geherrscht haben; denn es wird glaubhaft berichtet, daß er mit dem jüngeren Kyros befreundet gewesen sei (Aelian. Var. bist. 12.1). Dementsprechend wird auch die Herrschaft des Eurylochos von Larissa in jene Zeit zu datieren sein, als der Ruhm des Sokrates in Hellas so groß war, daß er das Interesse auswärtiger Potentaten erweckte. Dies alles recht erwogen, wird man von der Vorstellung Abschied nehmen müssen, daß Sokrates während des Feldzugs nach Potidaia bei einem thessalischen Fürsten zu Gast gewesen ist. In einem allerdings hat die zweite Hypothese zweifellos mehr Recht als die erste: daß die Aussage des Diogenes über den Weg des Sokrates nach Potidaia im Kern nicht auf die hellenistische Biographie zurückzuführen ist, sondern auf eine sokratische Quelle. Denn allein, wenn an prominenter Stelle davon die Rede gewesen ist, wie Sokrates nach Potidaia gelangte, wird verständlich, daß die hellenistische Biographie dieses vergleichsweise belanglose Faktum ad notam genommen hat. - Was aber stand in jener sokratischen Quelle, die Diogenes referiert? Das ist nicht leicht zu beantworten. Denn Diogenes referiert ja zwei Aussagen: daß Sokrates zur See nach Potidaia gefahren sei und daß er nicht zu Lande gereist sei, weil der Krieg es verhinderte. Unmöglich ist es nicht, daß beide Aussagen in einer Quelle zu finden waren, dergestalt daß die zweite Aussage die erste erläuternd begründete. Allein man sieht nicht ab, weshalb die antike Biographie ein so belangloses Detail überhaupt zur Kenntnis genommen und auch noch so ausfuhrlich referiert haben soll. Das Referat des Diogenes ist, wie beide Hypothesen richtig gesehen haben, plausibel nur dann, wenn zwei verschiedene Quellen zitiert werden, die einander widersprachen: Erst durch die Widersprüchlichkeit der Überlieferung wird das an und für sich belanglose Thema, wie Sokrates nach Potidaia gelangt sei, für die antike Biographie interessant. Demnach ergeben sich zwei Alternativen: Entweder referiert Diogenes die unterschiedlichen Aussagen zweier Sokratiker, deren einer Sokrates auf dem Landwege nach Potidaia gelangen ließ, wahrend der andere sich für den Seeweg entschied; oder aber ein Sokratiker schickte Sokrates auf dem Landwege nach Potidaia, und spätere grammatische Kritik bestritt diese Aussage mit dem Hinweis, daß wegen der Kriegsereignisse nur der Seeweg in Betracht gezogen werden könne. - Was die erste Alternative betrifft, so ist nicht wohl daran zu denken, daß ein Sokratiker wegen eines so belanglosen Faktums offen gegen einen anderen polemisiert hätte, sondern es dürfte, wie so oft in sokratischer Literatur, Aussage neben Aussage gestanden haben, ohne daß ihre Widersprüchlichkeit polemische Absicht intendierte; die antike
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Biographie hatte diese beiden widersprüchlichen Aussagen dann ad notam genommen und sich für eine der beiden (jene, die den Seeweg empfahl) als die historisch glaubwürdigere entschieden. Indes sieht man nicht ab, weshalb sich die antike Sokratesbiographie, die doch, wie Diogenes Laertius lehrt, noch ganz andere Widersprüche in den Quellen nebeneinander gelten laßt, ausgerechnet diesem unwichtigen Detail so gründlich hätte widmen sollen, daß sie sogar zu einem historisch begründeten kritischen Urteil gefunden hätte. Anders, wenn die zweite Alternative gilt. Wenn man sieht, wie ein Grammatiker wie Herodikos überall bemuht ist, die Glaubwürdigkeit der Sokratiker durch Ruckgriff auf historische Quellen zu erschüttern, so ist dies exakt jene Methode, die auch der Diogenesnotiz zugrundeliegt. Eine solche kritisch aufgearbeitete Notiz konnte dann auch unschwer Eingang in die biographische Literatur finden, die, indem sie das ihr als belangvoll vorgegebene Thema übernahm, zugleich auch seine kritische Aufarbeitung übernahm, zu der sie von sich aus kaum Neigung gefaßt hatte. - Alles recht erwogen, spricht viel dafür, daß die Notiz des Diogenes dahingehend zu deuten ist, daß ein Sokratiker berichtete, Sokrates sei auf dem Landwege nach Potidaia gelangt; dagegen polemisierte ein spaterer Grammatiker, der in Rücksicht auf die historischen Gegebenheiten für den Seeweg plädierte. Will man Namen, so konnte dieser Grammatiker Herodikos gewesen sein; die Exzerpte seiner Streitschrift lassen jedenfalls noch erkennen, daß er auch die Feldzitge des Sokrates historischer Kritik unterzog (p. 18 sq. During). Der Sokratiker dürfte Antisthenes gewesen sein, der einzige Sokratiker außer Platon, von dem wir wissen, daß er Sokrates' Teilnahme am Feldzug gegen Potidaia erwähnt hat. Soweit die kritische Sichtung der antiken Tradition. Sie hat zu Tage gefordert, daß das Thema <Sokrates vor Potidaia> von zwei Sokratikern an drei Stellen behandelt worden ist: Von Platon in den Dialogen Charmides und Symposion und von Antisthenes in einem Dialog, dessen Titel wir nicht kennen. - Wahrend wir Platons Darstellung vollständig überschauen, ist uns, was Antisthenes berichtet, nur bruchstuckhaft bekannt. Sicher ist nur, daß er behauptete, Sokrates habe vor Potidaia einen Kampfpreis erhalten; wahrscheinjich sprach er in diesem Zusammenhang auch davon, daß Sokrates auf dem Landwege nach Potidaia gelangt sei, und erwähnte womöglich auch, daß er dort die Bekanntschaft des Mneson von Amphipolis gemacht habe. - Vergleicht man diese kargen Notizen mit der so viel ausfuhrlicheren Darstellung Platons, so erscheint, was Antisthenes nicht gesagt hat, nachgerade bedeutender als das, was er gesagt hat oder gesagt haben mag: Er erzahlte nicht, daß Sokrates vor Potidaia den Siegespreis an Alkibiades abgetreten habe, sondern ließ dieses Ereignis, das Platon vor Potidaia geschehen laßt, im Zusammenhang mit der Schlacht beim Dehon stattfinden. - Dieser eklatante Widerspruch zwischen Platon und Antisthenes in Betreff eines für die Sokratesbiographie so wichtigen Faktums gibt von dem souveränen Umgang der Sokratiker mit der Historic eine starke Probe und stellt die historische Kritik vor keine kleinen Probleme.
2. DasDelion Auch über Sokrates' Teilnahme an der Schlacht beim Delion äußert sich Platon, dem auch hier die commums opimo der Philosophiegeschichtsschreibung folgt, zweimal ausfuhrlich: einmal im Laches und dann wieder im Symposion.
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In der Einleitung des Laches (p. 176a-181c) stellt der athenische Feldherr Laches den beiden betagten Aristokraten Lysimachos und Melesias Sokrates als einen vortrefflichen Mann vor: Nicht nur seinem Vater mache Sokrates Ehre, sondern auch der Polis; denn bei der Flucht vom Delion sei Sokrates zusammen mit ihm - Laches - zur ckgegangen, und wenn die anderen sich so gehalten h tten wie er, dann stunde die Stadt noch aufrecht und h tte nicht einen so tiefen Fall getan (p. 181b). Ausf hrlicher als der Platonische Laches erz hlt der Platonische Alkibiades dieselbe Geschichte in jener enkomiastischen Rede auf Sokrates am Ende des Symposions (p. 215a— 222a), von der bereits die Rede war: Sehenswert sei Sokrates auch gewesen, als das Heer sich auf der Flucht vom Delion zur ckgezogen habe. Er selbst sei zu Pferde dabeigewesen, Sokrates als Hoplit. Sokrates und Laches hatten sich zur ckgezogen, als sich die anderen bereits zerstreut h tten. Wie er dazugekommen sei, habe er beiden Mut zugesprochen: er werde sie nicht verlassen. Damals habe er Sokrates noch besser beobachten k nnen als vor Potidaia, da er, weil zu Pferde, weniger Furcht gehabt habe: Zuv rderst sei Sokrates viel besonnener gewesen als Laches; sodann habe er sich auf dem Schlachtfeld nicht anders bewegt als in Athen, <stolz sich geb rdend und die Augen seitw rts werfend>, wie der anwesende Aristophanes sage, ruhig umherblickend nach Freund und Feind, so da auch ganz aus der Ferne erkennbar gewesen sei, da , wenn einer diesen Mann anfasse, er sich kraftig wehren werde. Deswegen auch seien er und Laches sicher davongekommen; denn in der Regel lasse man sich im Kriege mit M nnern von solcher Verfassung nicht ein, sondern verfolge die, die kopf ber die Flucht ergreifen (p. 220e-221c).
Soweit Platon, der Grundtext der communis opinio. — Auch zu diesem Text gibt es eine zeitgen ssische Parallel- und Konkurrenzdarstellung, die wiederum auf den Sokratiker Antistkenes zunickgeht. Das einschl gige Zitat, das wir Herodikos (p. 19 During) verdanken, sei noch einmal w rtlich ausgeschrieben: çìåßò äå Üêïýïìåí êáí ôçé ðñïò Âïéùôïýò ìÜ÷çé ôá áñéóôåßá óå ëáâåßí. - åýöÞìåé, þ îÝíå, ¢ëêéâéÜäïõ ôï ãÝñáò, ïõê Ýìüí - óïõ ãå äüíôïò, ùò çìåßò Üêïýïìåí. — Wir wissen nicht, aus welchem Werk des Antisthenes dieses Zitat stammt; auf den Archelaosu oder auf den Alkibiades12 zu raten, fuhrt nicht weiter. Sicher ist hingegen wenigstens so viel, da es aus einem sokratischen Dialog herr hrt, der in dramatischer Erzahlform gehalten war, wie sie auch Platon bevorzugt. - Das Gesprach findet statt zwischen Sokrates und einem Fremden (þ îÝíå). Die Identit t dieses Fremden la t sich nicht mehr feststellen. Aber wenn Sokrates diesen ignotus als Fremdling bezeichnet, so mu das Gespr ch in Athen stattgefunden haben. - Der Fremde spricht von sich in der ersten Person Plural (Üêïýïìåí bis); er kann mit dieser Redeweise entweder seine Polisgemeinschaft im allgemeinen meinen, oder aber - und das ist wahrscheinlicher - er war nicht allein, sondern Teil einer Gruppe von Ausl ndern, die nach Athen gekommen waren und hier ein Gespr ch mit Sokrates f hrten. - Da der Fremde die Kunde von den Ereignissen w hrend der Schlacht beim Delion im Pr sens referiert (Üêïýïìåí bis), kann die fiktive Zeit des Gespr chs nicht sehr viel sp ter gelegen haben als die Ereignisse selbst; der Dialog spielte mithin im letzten Drittel der zwanziger Jahre des 5. Jhs. - Was der Fremde zu erz hlen wei , wei er vom H rensagen (Üêïýïìåí bis): Sokrates habe auch im Kampfe 11 12
R.Hirzd,D*rDi*/og, l Bd., Leipzig 1895, S 125, Anm. Dittmar, a.a.O , S. 88 f.
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gegen die Booter (êáí ôçé ðñïò Âïéùôïýò ìÜ÷çé) einen Kampfpreis erhalten. Da diese u erung voraussetzt, da Sokrates auch vor Potidaia einen Kampfpreis erhalten habe, wurde bereits gesagt. Und auch davon war bereits die Rede, da die folgende Bemerkung des Sokrates, der Karnpfpreis sei nicht ihm, sondern Alkibiades zugesprochen worden, sowie die abschlie ende Erwiderung des Fremden, er sei eine Gabe des Sokrates gewesen, sich nicht auch auf die Ereignisse vor Potidaia beziehen k nnen, sondern, da als Novit ten in die Rede eingef hrt, allein der Schlacht beim Delion gelten k nnen. So da Antisthenes die berlassung des Kampfpreises an Alkibiades, die Platon vor Potidaia geschehen l t, f r die Schlacht beim Delion in Anspruch nimmt. - Wenn dem so ist, so mu der Antisthenische Sokrates, um sich des Kampfpreises als w rdig zu erweisen, im Kampfe eine herausragende Gro tat vollbracht haben; aber auch der Antisthenische Alkibiades mu sich tapfer gehalten haben, wenn anders die berlassung des Kampfpreises an ihn mehr sein sollte als eine blo e Farce. Beide Voraussetzungen zusammengenommen, spricht alles daf r, da Anthisthenes im Rahmen der Schlacht beim Delion auch erzahlte, was Platon als vor Potidaia geschehen erzahlt: da Sokrates den verwundeten Alkibiades aus der Schlacht rettete. Wenn nicht alles tauscht, so hat dieses Motiv, freilich larviert, in der berlieferung noch Spuren hinterlassen; wovon sp ter die Rede sein wird. - Jenes Motiv allerdings, das Sokrates bewog, den Preis Alkibiades zu zedieren, durfte von Antisthenes anders dargestellt worden sein als von Platon; denn wenn er sagt, Sokrates habe Alkibiades den Kampfpreis «gegeben» (äüíôïò), so bezeugt diese Formulierung, da der Antisthenische Sokrates mehr Anteil an der Tat hatte als der Platonische, der ja nur best tigt, was die Strategen aus politischer Rucksicht auf den jungen Aristokraten ohnehin beschlie en wollten. Soweit Antisthenes ber das Thema <Sokrates in der Schlacht beim Delion>. - Es bleibt zu fragen, ob diese erstaunliche und historisch h chst beunruhigende Geschichte, derzufolge beim Delion geschehen sein soll, was Platon als vor Potidaia geschehen erzahlt, in der sp teren berlieferung Spuren hinterlassen hat. Zun chst .'ist hier noch einmal Herodikos (p. 18 During) anzuf hren, der aus Platon referiert, da Sokrates drei Feldzuge mitgemacht habe: nach Potidaia, nach Amphipolis und gegen das Delion. Und weiter hei t es: ìçäåíüò äå ôáïô' ßóôïñçêüôïò áýÀïò (sc. Plato) êáé áñéóôåßùí öçóéí áõôüí (sc. Socratem) ôåôõ÷çêÝíáé ðÜíôùí Áèçíáßùí öõãüíôùí, ðïëëþí äå êáé ÜðïëïìÝíùí. Platon aber hat niemals behauptet, da Sokrates wahrend der Schlacht beim Delion einen Kampfpreis erhalten habe. Herodikos kann aber auch nicht, was Platon von Potidaia erz hlt, irrt mlich auf das Delion bertragen haben, da er wenig sp ter (l c.) und dann noch einmal am Ende (p. 19 During) seiner Ausf hrungen richtig notiert, da der Platonische Sokrates Alkibiades den Kampfpreis vor Pottdaia berlassen habe. Demnach konfundiert Herodikos an der obengenannten Stelle nicht zwei Platonische Erz hlungen, sondern Platon und Antisthenes, der, wie er selbst durch Zitat belegt, Sokrates den Kampfpreis beim Delion gewinnen lie . So bezeugt die Konfusion des Herodikos noch einmal jene erz hlerische Version der Geschichte, die Antisthenes erz hlte. Des weiteren erzahlt Lukian (Var. hist. 2.23), wie tapfer sich Sokrates gehalten habe, als die Unterweltsfrevler die Insel der Seligen angriffen: Þñßóôåõóå äå êá\ ÓùêñÜôçò Ýðé ôþé äåîéþé ôá÷èåßò ðïëý ìÜëëïí Þ ïôå æþí Ýðé Äçëßùé ÝìÜ÷åôï- ðñïóéüíôùí ãáñ ôåôôÜñùí ðïëåìßùí ïõê Ýöõãå êáé ôï ðñüóùðïí Üôñåðôïò çí åö' ïéò·êá\ àóôåñïí ÝîçéñÝèç áýôþé ÜñéóôåÀïí, êáëüò ôå êáé ìÝãáò ðáñÜäåéóïò åí ôþé ðñïáóôåßùé, Ýíèá êáé óõãêáëþí ôïõò åôáßñïõò äéåëÝãåôï Íåêñáêáäçìßáí ôïí ôüðïí ðñïóáãïñåýïáò. Da Lukian hier auf Platon anspielt, liegt auf der Hand; denn Sokrates nennt den Park, den
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er als Kampfpreis f r seine Tapferkeit erhalten hat, «Totenakademie» (Íåêñáêáäçìßá) im Hinblick auf die Platonische Akademie, der er gewisserma en eine Konkurrenzgr ndung im Jenseits gegen berstellt. Zugleich aber spielt Lukian auch auf Antisthenes an: Den Kampfpreis, den Sokrates ihm zufolge nach der Schlacht beim Delion Alkibiades berlie , erh lt er diesmal in eigener Person, und diesmal offenbar mit gr erem Rechte, da keine Flucht stattfand, sondern ein Sieg errungen wurde. - Soweit die literarischen Anspielungen im allgemeinen, denen Lukian - h chst raffiniert - noch zwei Details hinzufugt, die den Text, auf den sie anspielen, jeweils parodisch korrigieren. Denn wenn er erzahlt, Sokrates habe «unbewegten Gesichtes» (ôï ðñüóùðïí Üôñåðôïò) dem Angriff von vier Feinden getrotzt, so hegt darin eine steigernde Korrektur des Platonischen Textes (Symp. p. 221 b), demzufolge Sokrates, «ruhig an Freund und an Feind entlangblickend» (Þñåìá ðáñáóêïðþí êáé ôïõò ößëïõò êáé ôïõò ðïëåìßïõò), derart respekteinfl end gewirkt habe, da kein Feind sich Hand an ihn zu legen getraute. - Aber noch ein parodisches Detail ist im Text versteckt. Lukian erz hlt, Sokrates habe «auf dem rechten Fl gel» (åðß ôùé äåîéùé) gek mpft. Um den Hintersinn dieser Ortsangabe zu verstehen, mu man in Betracht ziehen, da derselbe Lukian (Deparasit. 43) - wie sich zeigen wird, ebenfalls in parodischer Absicht - erzahlt, Sokrates sei auf der Flucht vom Delion «vom Parnes her» (Üðï ôçò ÐÜñíçèïò) nach Athen gekommen. Man mu nun nicht Thukydides (4.96.7) konsultieren, um zu erkennen, da , wenn ein athenisches Heer in der Nahe des Delion Front gegen die Booter machte, diejenigen, f r die die Flucht in Richtung auf den Parnes am n chsten lag, auf dem linken Fl gel gestanden haben m ssen. Nur wenn dieses Detail in sokratischer Literatur expressis uerbis erw hnt wurde, gewinnt die Ortsangabe Lukians Sinn: Beim Delion stand Sokrates auf dem linken Fl gel, jetzt steht er auf dem rechten, und da die linke Seite Ungl ck bringt, ergriff er damals die Flucht, auf der gluckbringenden rechten Seite aber siegt er jetzt im Jenseitskampf. Wo aber stand jene Ortsbestimmung zu lesen, die Lukian parodierend in ihr Gegenteil verkehrt? Bei Platon steht sie nicht; also stand sie bei Antisthenes, auf den die Verleihung des Kampfpreises deutlich genug hinweist. Weniger hintergr ndig, aber auch weniger aussagekr ftig als der Text Lukians sind die u erungen des Maximus Tyrius (Diss. 18.5) und der Lukianscholien (p. 216 Rabe), da Sokrates in der Schlacht beim Delion eine Aristie (áñéóôåßá bzw. Üñéóôåýùí) vollbracht habe. Gleichwohl steht au er Frage, da diese u erungen eher auf Antisthenes zutreffen als auf Platon; denn w hrend Platon Sokrates nur als einen besonders besonnenen und tapferen Soldaten schildert, weist Antisthenes durch die Erw hnung des ÜñéóôåÀïí expressis uerbis darauf hin, da Sokrates in der Schlacht beim Delion eine Aristie gehabt hat. Dies erwogen, l t sich der biographischen Tradition noch eine analoge Anspielung auf Antisthenes abgewinnen. Diogenes Laertius (3.8) referiert in seiner Platonbiographie aus Aristoxenos, da Platon an drei Feldz gen teilgenommen habe: êáé áõôüí (sc. Platonem) öçïéí ¢ñéóôüîåíïò ôñéò Ýóôñáôåàóèáé· Üðáî ìåí åéò ÔáíÜãñáí, äåýôåñïí äå åéò Κόρινθον, ôñßôïí ä' Ýðé Äçëßùé· Ýíèá êáé Üñéóôåõóáé. Dieses Aristoxenosexzerpt, demzufolge Platon in der Schlacht beim Delion eine Aristie vollbracht habe, wird von Diogenes offenbar korrupt berliefert: Die Dreizahl der Feldzuge und die Aristie w hrend der Schlacht beim Delion sind ein fester Bestandteil nicht sowohl der Platon-, als vielmehr der Sokrates berlieferung, der auch Diogenes (2.22) folgt, wenn er in seiner Sokratesbiographie Amphipolis, das Delion und Poodaia als jene drei Orte aufz hlt, an denen sich Sokrates milit risch ausgezeichnet habe. Diese Sokratestradition hat Diogenes in seiner
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Platonbiographie irrtumlich mit einer auf Aristoxenos zur ckgehenden Platontradition konfundiert. La t man die Dreizahl der Feldzuge und die Aristie beim Delion, die zur Sokratestradition geh ren, beiseite, so erhalt man, was bei Aristoxenos stand: da Platon zweimal in den Krieg gezogen ist, einmal nach Tanagra und einmal nach Korinth. Ebendiese beiden Feldzuge Platons aber bezeugt Aelian (Var. hist. 7.14), nachdem er zuvor von den drei Feldz gen des Sokrates gesprochen hat: ÓùêñÜôçò äå Ýóôñóôåýóáôï ôñßò, ÐëÜôùí äå êáé áõôüò åò ÔáíÜãñáí êáé åò Êüñéíèïí. Kein Zweifel: Aelian bietet em unkontammiertes Exzerpt jenes Anstoxenostextes, den Diogenes kontaminiert berliefert.13 Wahrend die vorgenannten Zeugnisse auf Antisthenes hindeuten, insofern sie von einer Aristie des Sokrates w hrend der Schlacht beim Delion berichten, bemerkt Simplikios (Comm. m Epict. Enchir. 24 p. 65 Duebner) expressis uerbis, da Sokrates in der Schlacht beim Delion den Kampfpreis erhalten habe: ÓùêñÜôçò åí ôßì åðß Äçëßùé ìÜ÷çé ôá áñéóôåßá Ýëáâå. Das ist nicht sowohl ein lapsus memoriae als vielmehr eine Reminiszenz aus Antisthenes, dem Simplikios auch verdanken durfte, was er anschlie end ber den Kampfesmut des Sokrates zu berichten wei : êáé äéá ôùí ðïëåìßùí Üíá÷ùñïïíôé ìüíùé - öáóßí - ïõäåßò Ýôüëìçóåí ÝðåëèåÀí ðÜíôùí ôïõ áíäñüò êáôáðëáãÝíôùí ôï öñüíçìá. Im Lichte dieser berlegungen gewinnt schlie lich auch eine Notiz des Philoponos (CAG 15 p. 573 Hayduck) ein eigenes Ansehen: äéü êáé ÓùêñÜôçò åí ôç é åðß Äçëßùé ìÜ÷çé íõ÷èÞìåñïí óôÜò ïõê Þéóèåôï ôçò ïôÜóåùò äéá ôï ÝííïåÀí ôé. Diese Notiz la t sich eher als lapsus memoriae interpretieren als die des Simplikios, weil nirgends sonst berliefert wird, da Sokrates wahrend des Feldzuges gegen das Dehon m eine vierundzwanzigstundige Gedankentrance gefallen sei. Zieht man jedoch in Betracht, da Antisthenes die berlassung des Kampfpreises an Alkibiades, die Platon vor Potidaia geschehen la t, im Zusammenhang mit der Schlacht beim Delion erzahlt, so ist zum mindesten nicht ausgeschlossen, da Antisthenes auch die spektakul re Gedankentrance des Sokrates, die Platon ebenfalls nach Potidaia verlegt, ebenfalls im Zusammenhang mit den Ereignissen beim Delion hatte stattfinden lassen; Philoponos hatte m diesem Fall nicht irrt mlich Platon zitiert, sondern, wie Simplikios, eine konkurrierende Erz hlung des Antisthenes referiert. Indes mahnt das Schweigen der berlieferung in diesem Punkte zu Zur ckhaltung.
Wie unterschiedlich Platon und Antisthenes auch Sokrates' Verhalten wahrend der Schlacht beim Delion geschildert haben, so stimmen sie doch darin uberein, da Sokrates sich damals durch personliche Tapferkeit ausgezeichnet habe. Eine spatere, aber wohlbezeugte Tradition verfolgt demgegen ber eine andere Tendenz: Nicht die pers nliche Tapferkeit des Sokrates bringt Rettung auf der Flucht, sondern das Daimomon. -Diese Tradition, die ihrerseits fraglos auf eine altsokratische Quelle zur ckgeht, liegt uns m drei verschiedenen Brechungen vor. Unser fr hester Gew hrsmann f r diese Tradition ist Cicero, Er l t im ersten Buche seiner Abhandlung De diumatione seinen Bruder Quintus das Daimomon des Sokrates als «g ttliche Vorausahnung» (praesagatio diuina) interpretieren (1.54.i22-124): Als Beweis f r ' die Richtigkeit dieser Interpretation werden zwei Beispiele angef hrt (De diuin. 1.54.123): Kriton habe sich am Auge verletzt, weil er nicht auf die Warnung des Daimomons geh rt habe; umgekehrt habe das Daimonion Sokratesoind den anderen in der Schlacht beim Delion 13
U. von Wilamowitz-Moellendorff, Platon, 2 Bd,4 Aufl, Dublin -Zurieh i 969, S 4.
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das Leben gerettet, weil man ihm vertraut habe: ... Socrates, cum apud Dehum male pugnatum esset Lachetepraetorefugeretque cum ipso Lachete, ut uentum est in triuium, eadem qua ceten fugere nolmt. quaerentibus cur non eadem nia pergeret deterren se a deo dixit, cum qmdem h qm alia mafugerant m bosttum equitatum inciderunt - Diese Erzählung hat mit dem, was Antisthenes erzahlte, gar nichts gemein; mit dem, was Platon erzahlt, stimmt sie nur in der Grundsituation uberein: Sokrates ist nach der Schlacht beim Delion zusammen mit Laches auf der Flucht, und beide werden gerettet. Alles andere ist anders. Nicht nur daß Cicero, anders als Platon, Laches als Strategen (praetor) bezeichnet; anders als bei Platon ist es auch nicht die besonnene Tapferkeit des Sokrates, die Rettung bringt; sondern das Daimonion, das an einer «Wegkreuzung» (triuium) einen anderen Weg einzuschlagen anrät, als die anderen einschlagen, die - wovon Platon ebenfalls nichts weiß - auf die feindliche Reiterei treffen und - so darf man ergänzen — getötet werden. - Daß Cicero diese Geschichte nicht erfunden hat, wurde man aus den Abweichungen gegenüber Platon und mehr noch aus dem konkreten Detail des Erzählten auch dann erschließen, wenn er selber es nicht ausdrücklich versicherte. Quintus (I.e.) nämlich fährt, nachdem er die beiden Beispiele für das Wirken des Sokratischen Daimomons erzählt hat, folgendermaßen fort: permulta conlecta sunt ab Antipatro quae mirabihter a Socrate diumata sunt; quae praetermittam Deutlicher kann Cicero nicht ausdrucken, wem er die Beispiele über das Daimonion des Sokrates verdankt: Quelle ist der Stoiker Anttpater von Tarsos (SVF 3 p. 244-258), der Lehrer des Panaitios, der eine Schrift verfaßte, die Cicero bei der Abfassung von De diumatione (1.3.6, 20.39, 39.84; 2.15.35, 70.144) mehrfach zu Rate gezogen hat. Antipater also gab offenbar in diesem Buche eine reichhaltige Anthologie (permulta conlecta) von Geschichten, durch die das erfolgreiche Wirken des Daimonions dokumentiert wurde. Daraus hat Cicero jene beiden Exempel, die er referiert, exzerpiert, und zwar so, daß die Kritongeschichte (die im übrigen nur hier erwähnt wird) den Schaden demonstriert, den man hatte, wenn man nicht auf das Daimonion horte, die Geschichte von der Schlacht beim Delion dagegen den Nutzen, den man hatte, wenn man ihm folgte. Woher aber hatte Antipater seinerseits diesen Stoff? Aus den Dialogen der Sokratiker — es sei denn, es hatte bereits vor Antipater eine einschlägige Anthologie über das Sokratische Daimonion gegeben, die er zu Rate zog. Aber das ist höchst unwahrscheinlich, und selbst wenn er eine solche ältere Anthologie vor Augen gehabt hätte, so wurde für sie dasselbe gelten, was für seine Anthologie gilt: daß der Stoff, der hier gesammelt vorgelegt wurde, sich schließlich allein den Dialogen der Sokratiker verdankt. Nirgends anders nämlich als dort war so oft und so ausführlich vom Daimonion des Sokrates die Rede, daß daraus eine Blütenlese herzustellen war, die ein überzeugendes Dokument abgeben konnte für die Existenz eines von den Gottern verliehenen Vorauswissens der Zukunft. - Ciceros Erzählung über die Schlacht beim Delion repräsentiert also nichts Geringeres als ein „Stück altsokratischer Literatur, eine eigenständige erzählerische Variante und Konkurrenzgeschichte zu Platon und Antisthenes, verfaßt von einem Zeitgenossen, der ebenfalls Sokratiker gewesen ist. Anders als bei Platon und Antisthenes, aber ähnlich wie bei Cicero wird die Geschichte von Sokrates in der Schlacht beim Delion im ersten Sokratesbnef erzählt. - Sokrates - so fingiert der anonyme Verfasser, der vermutlich in die frühe Kaiserzeit zu datieren ist - schreibt an einen König, der ihn an seinen Hof eingeladen hat (gemeint ist wahrscheinlich Archelaos von Makedonien; cf, Arist. Rbet. 2 p. 1398 a 24). Unter den Gründen für die Ablehnung firmiert auch das Daimonion, über dessen Wirken in der Schlacht beim Delion der fingierte Sokrates folgende Geschichte erzählt (Epist, Socr. 1.9): napfjv yap (corn Orelli;
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codd.) ôçé óôñáôåßáé êáÀ óõíåìá÷üìçí ðáíäçìåé ôçò ðüëåùò Ýîåëçëçèõßáò· åí äå ôçé öõãçé Üìá ðïëëïß ýðáðÞåéìåí, êáé ùò Ýð\ äéáâÜóåùò ôßíïò Ýãåíüìåèá, óõíÝâç ìïé ôï åéùèïò óçìåÀïí. ÝíÝóéçí ïýí êáé åßðïí· Üíäñåò, ïõ ìïé äïêåÀ ôáýôçí ðïñåýåóèáé· ôï ãáñ äáéìüíéüí ìïé Þ öùíÞ ãÝãïíåí. ïß ìåí ïàí ðëåßïõò ðñïò opyrjv êáé þóðåñåé ðáßæïíôïò åìïý ïõê åí åðéôÞäåéïé êáéñïß üñìÞóáíôåò åõèåßáí ÝâÜäéæïí ïëßãïé äå ôé÷'åò Ýðåßóèçóáí êáé ôçí åíáíôßïí Ýìïé óõíáðåôñÜðïíôï· ïúêáäå ðïñåõüìåíïé äéåóþèçìåí. ôïõò ä' Üëëïõò Þêùí ôéò åî áõôþí ðÜíôáò åöç ÜðïëùëÝíáé· åéò ãáñ ôïõò éððÝáò ÝìðåóåÀí ôùí ðïëåìßùí Ýðáíéüíôáò Ýðé ôçò äéþîåùò· ðñïò ïõò ôï ìåí ðñþôïí ìÜ÷åóèáé, ýóôåñïí äå ðåñéêëåéóìÝíïõò õð* áõôþí ðëåéüíùí üíôùí êáé Ýêêëßíáíôáò êáé ðåñéêáôáëÞðôïõò ãåíïìÝíïõò ðÜíôáò ÜðïëÝóèáé. áõôüò äå ü ôáýôá ÜðáããÝëëùí ôñáõìáôßáò ÜöÀêôï ìüíçí ôçí áóðßäá óþéæùí. - Da der anonyme Verfasser des Briefes diesselbe Geschichte im Auge hat wie Cicero, la t sich nicht wohl bezweifeln; denn hier wie dort ist es nicht die pers nliche Tapferkeit des Sokrates, die Rettung bringt, sondern das Daimomon, das den rettenden Fluchtweg weist. Kein Zweifel kann auch sein, da der Brief Schreiber nicht aus Cicero gesch pft haben kann, sondern entweder, wie jener, auf Antipater zur ckgeht oder - und das ist wahrscheinlicher - auf jene altsokratische Quelle, aus der auch Antipater gesch pft hat. -Jedenfalls ist die Erz hlung des Briefes ausf hrlicher als die ciceromsche. Zwar fehlt im Brief, dem es ersichtlich darum zu tun ist, die Gestalt des Sokrates zu enthistonsieren und so zugleich zu idealisieren, der Name des Laches, den Cicero nennt. Aber da die Athener «mit dem ganzen Heerbann» (ðáíäçìåß) ausgezogen sind; da die Soldaten unwillig waren, als sie vom Rat des Daimomons erfuhren; da sie geradeaus gingen, Sokrates aber und die wenigen, die ihm folgten, in die entgegengesetzte Richtung; da ein Verwundeter, der sich als einziger mit blo em Schilde nach Athen retten konnte, erzahlt, wie jene, die einen anderen Weg eingeschlagen hatten als Sokrates, von der feindlichen Reiterei umzingelt und nach l ngerer Gegenwehr get tet wurden, - dies alles steht nicht bei Cicero, sondern ausschlie lich im Sokratesbnef. Nichts aber von dem, was der Brief mehr erz hlt, steht im Widerspruch zu dem, was auch Cicero erz hlt. Auch wo der Brief anders erzahlt als Cicero, liegt kein Widerspruch vor: Wenn der Brief das Daimonion als «das gewohnte Zeichen» (ôï åßùèïò óçìåÀïí) und als «Stimme» (öùíÞ) bezeichnet, Cicero als «Gottheit» (deus), so bedienen sich beide einer Nomenklatur, die den Sokratikern gemeinsam ist; und wenn der Ort, an dem das Daimonion sich vernehmen la t, im Briefe als «Furt» (äéÜâáóéò) bezeichnet wird, von Cicero aber als «Wegkreuzung» (tnuutm), so lassen sich beide Aussagen dahingehend in Einklang bringen, da sich der Weg an einer Furt mit einem anderen kreuzte - ein geographisch besonders hervorgehobener Ort, ber dessen Lage sich die Interpretation Gedanken machen mu . - Alles zusammengenommen kann kein Zweifel sein, da der Sokratesbrief und Cicero gemeinsam, aber unabh ngig voneinander zwei Varianten derselben Geschichte bieten, die man zur Rekonstruktion gleichberechtigt heranziehen darf. Zun chst aber ist noch von einer dritten Variante der Geschichte zu reden. -Plutarch la t in seinem Dialog Ðåñß ôïõ ÓùêñÜôïõò äáéìïíßïõ (c. 11) Polymnis, den Vater des Erz hlers Kaphisias, zwei beispielhafte Geschichten erz hlen, die den hohen Rang und die Glaubw rdigkeit des Daimonions demonstrieren sollen: So habe Sokrates einigen seiner Gef hrten das Debakel des athenischen Flottenunternehmens gegen Sizilien vorhergesagt; und schon vorher habe sich das Daimonion in der Schlacht beim Delion als wirksamer* Mahner erwiesen (De gen. Socr. 11 p. 581de): êáé ðñüôåñïí Ýôé ôïýôùí ÐõñéëÜìðçò ü Áíôéöþíôïò Üëïýò åí ôßì äéþîåé ðåñß ÄÞëéïí ýö' çìþí äïñáôßùé ôåôñùìÝíïò, ùò Þêïõóå ôùí Ýð\ óðïíäÜò ÜöéêïìÝíùí ¢èÞíçèåí, äôé ÓùêñÜôçò ìåô* ¢ëêéâéÜäïõ êá\
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ËÜ÷çôïò (corn Turnebus; ìá÷çôüò siue ðÜ÷çôïò codd.) åðß Ôçãßóôçò (locum corruptum esse perperam suspicati sunt edd. fere omnes) êáôáâÜò ÜðïíåíïóôÞêïé, ðïëëÜ ìåí ôïýôïí áíåêáëÝóáôï, ðïëëÜ äå ößëïõò ôéíÜò êáé ëï÷ßôáò ïÀò óõíÝâç ìåô' áõôïý ðáñÜ ôçí ÐÜñíçèá öåýãïõóéí ýðï ôïí çìåôÝñùí éððÝùí (corr. Duebner; ßððùí codd.) ÜðïèáíåÀí, ùò ôïõ ÓùêñÜôïõò äáéìïíßïõ ðáñáêïýóáíôáò ÝôÝñáí üäïí ïý÷ çí åêåßíïò Þíå ôñåðïìÝíïõò Üðï ôçò ìÜ÷çò. - Es kann nicht der geringste Zweifel sein, da Plutarch hier dieselbe Geschichte erz hlt wie Cicero und der Sokratesbrief: Sokrates wird in der Schlacht beim Delion durch das Daimonion gerettet. Und wie Cicero und der Brief, so geht auch Plutarch eigenst ndig auf seine Quelle zur ck, gleichviel, ob er, wie Cicero, auf Antipater rekurriert, oder ob er, wie es wahrscheinlich der Brief tut, unmittelbar auf jene altsokratische Quelle zur ckgegriffen hat, die auch Antipater benutzt hat. Ersteres ist im brigen wahrscheinlicher, da Plutarch, wie auch Cicero, noch vor der Erz hlung der Rettung aus der Schlacht beim Delion eine andere Daimoniongeschichte erzahlt, die auch im pseudoplatonischen Theages (p. 129d) Spuren hinterlassen hat: da Sokrates das Desaster der sizilischen Expedition vorausgesagt habe (cf. Plut. Vit. Nie. 14.8). - Die Eigenst ndigkeit Plutarchs gegen ber Cicero und dem Sokratesbrief zeigt sich darin, da er mehr erzahlt als die beiden anderen. Vor allem sind hier die Namen der Beteiligten zu nennen, die der Brief ganz verschweigt, wahrend Cicero immerhin Laches erw hnt; Plutarch aber nennt nicht nur diesen, sondern auch Alkibiades und Pynlampes und f gt diesen Personennamen noch zwei topographische nomina propna hinzu, die ebenfalls bei Cicero und im Brief fehlen: das Parnesgebirge und Rhegiste. Dies alles fugt sich so bruchlos zu jenen Varianten der Geschichte, die Cicero und der Sokratesbrief bieten, da man sogleich mit der Rekonstruktion der urspr nglichen Geschichte beginnen konnte — wenn nicht zwischen dem, was Plutarch und der Brief erz hlen, in einem Punkte ein Widerspruch zu konstatieren w re: Der Verwundete - Plutarch nennt ihn Pyrilampes -, der vom Schicksal jener Athener berichtet, die, weil sie dem Daimonion nicht folgten, der bootischen Reiterei in die H nde fielen und umkamen, befindet sich, wenn man der Version des Sokratesbriefes folgt, in Athen, wohin er sich als einziger nur mit seinem Schilde gerettet hat, bei Plutarch dagegen als Gefangener in Theben, wo er von den athenischen Friedensunterh ndlern von der Rettung des Sokrates und seiner Gef hrten Kunde erhalt. Wurde man diese beiden einander widersprechenden Versionen als eigenst ndige Varianten ansehen, so wurde folgen, da die Geschichte, wie Sokrates durch das Daimonion aus der Schlacht beim Delion gerettet wurde, bereits in altsokratischer Tradition zweimal erz hlt worden w re. Aber das ist um so unwahrscheinlicher, als die gesamte Geschichte und namentlich auch der Bericht des Verwundeten, abgesehen vom Ort, an dem er sich befindet, jeweils in v lliger bereinstimmung referiert wird. Der Ortswechsel signalisiert demnach schwerlich eine authentische berlieferung, sondern er wurde von einem der beiden Gew hrsmanner aus erzahltechnischen Gr nden auf eigene Hand vorgenommen. Fa t man aber die verschiedenen Erz hlsituationen n her ins Auge, so hatte der Verfasser des Sokratesbriefes keinen Grund, den Bericht des verwundeten Pyrilampes von Theben nach Athen zu verlegen, wenn die urspr ngliche Geschichte das Ereignis in Theben h tte geschehen lassen; wohl aber mu te Plutarch dieses Ereignis von Athen nach Theben verlegen, wenn er, wie er tut, dem Vater des Kaphisias in Theben authentische Kunde ber das Daimonion des Sokrates in den Mund legen w lke. Plutarch also hat die urspr ngliche Geschichte umgestaltet, um sie seinen erz hlerischen Zwecken dienstbar zu machen; der Brief dagegen gibt die originale Version der Geschichte wieder, an die sich die Rekonstruktion halten mu .
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Zuvor ist jedoch noch von einer einschl gigen Anspielung auf jene Geschichte zu reden, die sich an versteckter Stelle bei Lukian findet. - Lukian (De parasit. 43) l t den Parasiten Simon folgenderma en ber Sokrates* milit rische Aktivit ten urteilen: ìüíïò äå ôïëìÞóáò ÝîåëÏåÀí åéò ôçí åí ôçé ðüëåé ìÜ÷çí (åéò ôçí Ýðé Äçëßùé ìÜ÷çí Palmerius Gesner plenque edd.; åéò ôçí åí ôçé Ðïôéäáßáé ìÜ÷çí Belmus Heindorf Nesselrath; åéò ôçí ¢ìq>éðüëåùò ìÜ÷çí Menagms; åéò ôçí ¢ìößðïëéí Guyet; åéò ôçí åí ôçé ¢ìöéðüëåé ìÜ÷çí malim, sed nihil mutandum) ü óïöüò áõôþí (sc. philosophorum) ÓùêñÜôçò öåýãùí åêåßèåí áðü ôçò ÐÜñíçèïò (Üðï ôçò ÐÜñíçèïò del. Heindorf Hirschig Nesselrath) åéò ôçí ôïõ ÔáõñÝïõ ðáëáßóôñáí êáôÝöõãåí ðïëý ãáñ áýôþé Üóôåéüôåñïí Ýäüêåé ìåôÜ ôùí ìåéñáêõëëßùí êáèåæüìåíïí üáñßæåéí êáé óïöéóìÜôéá ðñïâÜëëåéí ôïéò Ýíôõã÷Üíïõóéí Þ Üíäñé ÓðáñôéÜôçé ìÜ÷åóèáé. - Das Verst ndnis dieses Textes erschlie t sich am ehesten, wenn man ihn gegen die Eingriffe der modernen Konjekturalkritik in Schutz nimmt. Diese geht davon aus, da die berlieferte Ortsbestimmung åí ôçé ðüëåé, da nichtssagend, als korrupt anzusehen sei und daher durch Prazisierung emendiert werden m sse; als Emendationsvorschlage werden drei Ortsbestimmungen vorgeschlagen: Ýðé Äçëßùé, åí ôçé Ðïôéäáßáé und åí ôçé ¢ìöéðüëåé, Die beiden erstgenannten Vorschlage sind nun keine Emendationen, sondern vielmehr Nachdichtungen des Textes, da sie jeder palaographischen Plausibihtat ermangeln und auch den weiteren Kontext nicht geh rig m den Betracht ziehen: Wenn es im zweiten Satz hei t, Sokrates plaudere lieber mit den Knaben im Gymnasion, als mit einem Spartaner zu k mpfen, so mu doch im vorhergehenden Satz, der von Sokrates' Feigheit im Felde handelt, eine Schlacht erw hnt worden sein, m der ein Spartaner die Feinde f hrte. Dies aber war allem vor Amphipolis der Fall, wo der Spartaner Brasidas den Oberbefehl hatte. Sachlich haben also jene Recht, die den Stadtenamen Amphipolis konjektural restituieren wollen. Auch ist diese Konjektur palaographisch plausibel; denn wenn der Text ursprunglich ÅÍÔÇÉÁÌÖÉÐÏËÅÉ lautete, so brauchte ein historisch unkundiger Abschreiber nur das Pr fix Üìöé- als Pr position zu mi deuten, und um den Sinn der Junktur war es geschehen; denn nichts lag nun naher, als die vermeintliche Pr position Üìöß als Dublette zu der unmittelbar vorausgehenden Pr position åí aufzufassen und wegzulassen. - Gleichwohl ist auch ein solcher Konjekturaler Eingriff verfehlt; denn auch er verkennt, da der Witz der Passage darin besteht, da auf alle Feldzuge, an denen Sokrates notorisch teilgenommen hat, verhallt angespielt wird, in der Absicht, das, was einmal geschah, n mlich die Flucht des Sokrates aus der Schlacht, unterschwellig auch f r jene beiden anderen Kriegsereignisse in Anspruch zu nehmen, bei denen von einer Flucht des Sokrates nicht die Rede war. Die Flucht selbst, die gleich zweimal erw hnt wird (öåýãùí u. êáôÝöõãå), spielt auf die Schlacht beim Delion an; das Ziel jener Flucht, das Gymnasion des Taureas, spielt als Platonremmiszenz (Charm p. 153a) auf Sokrates' Ruckkehr aus Potidaia an; und wie es Lukian hier dem Witz und der Bildung des Lesers berla t, die Anspielung selbst zu erkennen, so vertraut er auch darauf, da der Leser es verstehen werde, wenn er Sokrates statt nach Amphi-polis nur in «die» Polis ausrucken la t. Wer diese Anspielung nicht sogleich verstand, dem half der folgende Satz weiter, der durch die (wiederum verh llte) Erw hnung des Brasidas als eines Spartaners ebenso auf Amphipolis hindeutet, wie die Erw hnung von Sokrates' Knabengesprachen noch einmal die Eingangsszene des Platonischen Charmides wiederholt. - Sind diese berlegungen rich- * tig, so mu sich auch hinter jener Ortsbestimmung, die anzeigt, von wo aus die Flucht des Sokrates den Anfang genommen hat, eine literarische Reminiszenz verstecken. Da Sokraies «vom Panics her» (Üðï ôß[ò ÐÜñíçèïò) geflohen sei, steht nun allerdings nicht bei Platon;
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es stand fraglos m jener Geschichte, in der - laut Plutarch - erzahlt wurde, daß jene, die nicht auf das Daimonion horten, «längs des Farnes» ( ) geflohen seien. Wenn die moderne Kritik die Ortsbestimmung als vermeintliche Dublette zum Adverb aus dem überlieferten Text streicht, so streicht sie ein literarisches Signal, das für den gebildeten Leser ebenso deutlich auf die Schlacht beim Delion hinweist wie die Erwähnung des Gymnasions des Taureas auf die Schlacht vor Potidaia. Wie die Erwähnung dieses Gymnasions Platon zitiert, so die Erwähnung des Parnesgebirges jenen Sokratiker, der erzahlte, daß Sokrates auf der Flucht vom Delion durch das Daimonion gerettet worden sei. Wenn Lukian auf diese Geschichte durch ein kurzes literarisches Signal ebenso selbstverständlich hinweisen konnte wie auf den Platonischen Charmides, so muß die Schrift, m der diese Geschichte erzahlt wurde, ebenso bekannt gewesen sein, und der Autor, der sie verfaßte, muß ebenso bekannt gewesen sein wie Platon. Es handelte sich demnach um einen bekannten Dialog eines namhaften Sokratikers Bei der Rekonstruktion der ursprunglichen Geschichte kommt man am besten weg, wenn man die Fassung des ersten Sokratesbriefes als die ausführlichste Darstellung zugrunde legt und suo loco jeweils einfügt, was Cicero und Plutarch darüber hinaus jeweils Neues hinzufügen; auch Lukian ist an einer Stelle ergänzend heranzuziehen. Hiernach ergibt sich folgendes Szenario: Sokrates nimmt teil an dem Feldzug gegen das Delion, für den die Athener den ganzen Heerbann aufgeboten haben; er nimmt teil auch an der folgenden Schlacht, die unter dem Kommando des Laches (Cic.) einen unglücklichen Ausgang nimmt. Auf der Flucht zieht sich eine größere Anzahl von Soldaten gemeinsam allmählich zurück und gelangt zu einer Furt, an der die Wege sich kreuzen (Cic ). Hier widerfährt Sokrates das gewohnte Zeichen. Er bleibt stehen und rat den Mannern, nicht wie bisher weiterzumarschieren. Auf die Frage nach den Gründen antwortet Sokrates, er werde vom Gott abgehalten (Cic.): Das Daimonion, die Stimme, sei ihm zuteil geworden und rate ab. Die Mehrzahl der Soldaten, zornig darüber, daß Sokrates zur Unzeit scherze, geht den Weg geradeaus, der längs des Parnesgebirges fuhrt (Plut.). Einige wenige, unter ihnen Laches (Cic., Plut.) und Alkibiades (Plut.), gehorchen dem Rat des Daimomons und gehen mit Sokrates den entgegengesetzten Weg in Richtung auf die Rhegiste (bzw.: auf der Rhegiste) (Plut.). Während diese kleine Gruppe wohlbehalten vom Parnes her (Luc.) nach Hause gelangt, finden die anderen den Tod: Sie treffen auf die feindliche Reiterei, die im Zuge der Verfolgung zurückgekehrt ist, kämpfen zunächst gegen die Übermacht, werden dann aber zusammengedrückt und gehen allesamt zugrunde, außer Pynlampes (Plut.), der sich, von einer Lanze (Plut.) verwundet, allein mit seinem Schilde nach Athen retten kann und dort vom Schicksal seiner Mitkämpfer erzählt (anders Plut., der Pyrilampes als Gefangenen nach Theben versetzt). Soweit der Inhalt der Geschichte, der sich aufgrund der günstigen Quellenlage mit einiger Sicherheit rekonstruieren kßt. Nicht ganz so zuversichtlich läßt sich über die Form urteilen. Zwar darf ab sicher gelten, was bisher vorausgesetzt wurde: daß die Erzählung im Rahmen eines sokratischen Dialoges erfolgte; wer indes in diesem Dialog als Erzähler auftrat, bleibt unsicher, auch wenn viel dafür spricht, daß es Sokrates selber gewesen ist, der von dem rettenden Eingreifen des Daimonions erzählte. Ob er in diesem Zusammenhang auch wiedererzählte, was Pyrilampes von dem desastrosen Schicksal jener erzählte, die dem Daimonion nicht gehorchten, muß vollends dahingestellt bleiben; ausgeschlossen jedenfalls ist es nicht, daß Pyrilampes (PA 12493; RE 24.1 Sp. 50 f.), der Großonkel und Stiefvater Platons, dessen dieser (Charm. p.!56a; Gorg. p. 481de; P arm. p. 126b) mehrfach gedenkt, in
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eigener Person auftrat und selber von dem schlimmen Los jener erzählte, die zusammen mit ihm geflohen waren. Gleichviel, in welcher Form der Inhalt der Geschichte im einzelnen erzählt wurde, sicher ist, daß als thematischer Mittelpunkt des Erzahlten das erfolgreiche Wirken des Daimonions anzusehen ist; ja, man kann sagen, daß die Geschichte überhaupt nur erzählt wurde, um dem Leser das erfolgreiche Wirken des Daimonions ad oculos zu demonstrieren. Hierin unterscheidet sich der Autor von Platon und Xenophon, die beide das Daimomon nicht eigentlich im Rahmen einer großangelegten Erzählung vorfuhren, sondern eher nur en passant erwähnen. Daß andere Sokratiker in betreff des Daimonions anders verfuhren als Platon und Xenophon, lehrt nicht nur die vorliegende Geschichte, sondern auch der pseudoplatonische Theages (p. 128d-130e), der gleich einen ganzen Strauß von Geschichten über das Daimomon bietet, die so erlesenes Detail enthalten, daß sie der apokryphe Autor unmöglich erfunden haben kann; er verdankt sein Wissen vielmehr altsokratischen Quellen, die er für seine Zwecke ganz ähnlich exzerpiert, wie es der Stoiker Antipater getan hat. Sowohl Antipater aber wie auch der anonyme Verfasser des Theages setzen voraus, daß es in altsokratischer Literatur zahlreiche Geschichten über das Wirken des Daimonions gegeben hat, von denen die hier naher betrachtete über das Wirken des Daimonions in der Schlacht beim Dehon nur eine ist. Eine Analyse der gesamten einschlagigen Überlieferung (die vorzunehmen hier nicht der Ort ist) würde bedeutende Stucke altsokratischer Literatur zu Tage fordern, aus denen sich eine genauere Vorstellung über das Sokratische Daimomon gewinnen ließe, als die kargen Hinweise bei Platon und Xenophon erlauben. Die Personen, an denen der Autor der Geschichte die Wirksamkeit des Daimonions demonstriert, erleiden ein unterschiedliches Schicksal, je nachdem, ob sie der gottlichen Stimme, die Sokrates zuteil wird, gehorchen oder nicht: Die Ungehorsamen, die die Mehrzahl der Fluchtenden bilden, fallen der bootischen Reiterei m die Hände und werden allesamt getötet - bis auf Pynlampes, der sich allein nach Athen retten kann und dort von dem Unglück erzahlt; die wenigen, die der Warnung des Daimonions folgen, von denen außer Sokrates noch der Stratege Laches und Alkibiades genannt werden, erreichen dagegen die Heimat unversehrt. Der Ori, an dem Sokrates die gottliche Stimme vernimmt, wird m der Überlieferung sowohl als (Epist. Soar.) wie als tnumm (Cic.) bezeichnet. Das erstgenannte Substantiv bezeichnet mit Vorliebe den Übergang über einen Fluß, sei es eine Furt oder auch eine Brücke (Thuc. 7.74.2; Xen. Hist Gr. 2.4.19, Exp. Cyr. 1.5.12); das Substantiv tnumm erklart sich selbst als Bezeichnung für einen Ort, an dem ein Weg von einem anderen geschnitten wird, so daß, wer sich an jenem Ort befindet, drei verschiedene Wege zur Auswahl hat. - Die beiden unterschiedlichen Ortsangaben widersprechen nicht einander, sondern erganzen sich offenbar dahingehend, daß sich an der gemeinten Stelle ein Flußubergang befand, bei dem sich zwei Wege kreuzten - eine topographisch offenbar besonders prominente Stelle, deren Kenntnis der Autor der Geschichte beim zeitgenössischen Leser ohne weiteres voraussetzten konnte. Moderne Gelehrsamkeit kann diese Stelle nicht exakt lokalisieren, sondern muß sich mit allgemeinen topographischen Vermutungen zufrieden geben, die sich in der Hauptsache auf jene Angaben stutzen, die Thukydides (4.89-96) von den Ereignissen in betreff der Schlacht beim Delion gegeben hat.14 -" Thukydides (4.96.7) nun berichtet, daß das athenische Heer teils zum Delion hin geflohen " W. K Pntchett, Studies m (invent Greek topography, 2 Bd., Berkeley 1969, S. 24-36.
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sei, teils nach Oropos, teils zum Farnes hin oder in andere Richtungen. Diejenigen, die zum Delion und nach Oropos flohen, standen auf dem rechten Flügel, der, zunächst siegreich, von der bootischen Reiterei überraschend in die Seite gefaßt, mit der Flucht begann und so auch den linken Flügel in Panik versetzte, der von der thebanischen Phalanx ohnehin bereits zum Weichen gebracht worden war; die Soldaten, die hier standen, flohen in der Mehrzahl in Richtung auf den Parnes.15 In der letztgenannten Gruppe befand sich, wenn man dem Autor der Geschichte glauben darf, auch Sokrates; denn von denen, die dem Daimonion nicht folgten, heißt es in der Geschichte, sie hätten «den Parnes entlang» (Epist Socr.) zu fliehen versucht, und Sokrates selber kehrt «vom Parnes her» (Luc.) wohlbehalten nach Athen zurück. Will man aber vom Delion, in dessen Nahe die Schlacht stattfand, in Richtung auf den Parnes nach Athen gelangen, so muß man alsbald den Asopos überschreiten, einen nicht unbeträchtlichen Fluß, besonders im Winter, zu dessen Beginn der Feldzug gegen das Delion laut Thukydides (4.89.1) stattfand.16 Hier am Unterlauf des Asopos erfolgte irgendwo (unklar wo) an einer Furt bzw. Brücke die Warnung des Daimonions. Von hier aus gibt es auch richtig drei Wege, die nach Athen fuhren: Ein Weg führt südöstlich über Aphidnai, ein anderer sudlich über Dekeleia, ein dritter südwestlich über Phyle.17 Die Mehrzahl der fliehenden Soldaten entschied sich offenbar für die südöstliche Route, die über Aphidnai führt; denn nur von dieser Route läßt sich sagen, was die Geschichte sagt: daß sie «am Parnes entlang» (Epist. Soar.) führe. Sokrates und die wenigen, die ihm folgten, müssen demnach entweder die Route über Dekeleia oder die über Phyle genommen haben. Letzteres ist wahrscheinlicher; denn die Geschichte erzählt, Sokrates habe nicht nur «den anderen» (Plut.), sondern «den entgegengesetzten Weg» (Epist. Soar.) eingeschlagen. Entgegengesetzt zur südöstlichen Route über Aphidnai ist aber die südwestliche Route über Phyle eher als die südliche über Dekeleia. Im übrigen ist die Route über Phyle die bei weitem unbequemste Passage nach Athen, da sie weithin über steiles Gelände führt.18 So (und nur so) wird der Zorn der Soldaten verständlich, die diese Marschempfehlung auffaßten, «als treibe Sokrates zur Unzeit Scherz mit ihnen» (Epist. Soar.). Was aber auf den ersten Blick wie ein schlechter Scherz erschien, erwies sich alsbald als rettende Idee: Die Mehrzahl der athenischen Soldaten, die sich vom Asopos «geradeaus» (Epist. Soar.) nach Aphidnai wandten, liefen der bootischen Reiterei in die Arme, die «im Zuge der Verfolgung zurückkehrte» (Epist Soar); Sokrates dagegen, der nicht die südöstliche, sondern die «entgegengesetzte» (Epist. Soar.) südwestliche Route eingeschlagen hatte, lief der feindlichen Reiterei davon und kam so mit wenigen Gefährten wohlbehalten über den Parnes nach Athen. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, daß die Geschichte die Heimkehr des Sokrates durch den Partizipialausdruck ' (Plut.) noch naher präzisiert. Leider profitiert der moderne Leser von dieser geographischen Präzisierung nicht in dem Maße, wie der antike fraglos tat, da ihm die sachliche Bedeutung der Ortsbestimmung ' verschlossen bleibt. Die sachliche Dunkelheit des Textes hat die modernen Herausgeber des Plutarch dazu verführt, auf eine sprachliche Unkorrektheit zu schließen (Pohlenz, Plut. Mor. vol. 3 p. 475 adn.: locus nondum sanatus). Sehr zu Unrecht; denn das nomen loci , wiewohl anderen Ortes nicht bezeugt, dürfte sprachlich tadelfrei gebildet sein: ein 15 16 17 18
Pntchett,.«.AO,S.34f. Pritchett, a a.O.t S. 31 f. J. Ober, Fortress Attica, Leiden 1985, S. 112-117. Ober,**,O,S 116 f
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Superlativ, der nach den Gesetzen der sogen, prim ren Steigerungsformen aus der Wurzel ñçã-, von der sowohl das Verbum ñÞãíõìé wie auch die Substantive ñÞãìá, ñçãìüò, ñçêôÞñ u. ñçãìßí denvieren, ebenso regelrecht gebildet w re wie der Komparativ ñçãßùí, w hrend der zugeh rige Positiv, wie m anderen vergleichbaren F llen nicht selten, sprachlich nicht bezeugt ist.19 Wie der Superlativ hat auch der Komparativ, der offenbar nach Analogie zu den h ufigen nomina loci mit dem Suffix -éüí nach der o-Deklination flektiert, sprachlich nur als Toponymikon berdauert, das zur Bezeichnung einer ganzen Anzahl von Ortlichkeiten gebraucht wird, von denen die Stadt in Unteritahen zmfretum Siculum nur die bekannteste ist. Wie der Komparativ 'ÑÞãéï í eine geographische Erscheinung meint, die durch einen ziemlich gro en oder tiefen Bruch auff llig ist, so bezeichnet der Superlativ Ôçãßóôç eine ebensolche Erscheinung, die durch einen sehr hohen oder sehr tiefen Bruch markiert wird. Leider l t sich diese Erscheinung topographisch nicht exakt bestimmen Das Femimnum des Superlativs la t ebensowenig R ckschl sse zu wie das Neutrum des Komparativs, das nicht nur von Orten, sondern auch von einem Vorgebirge gebraucht wird (REIA l Sp. 486-502). Auch der Kontext schafft keine Klarheit: Die Pr position åðß, verbunden mit dem Genitiv, kann bei den uerba mouendi sowohl ausdrucken, wohin sich die Bewegung richtet, als auch, wo oder worauf sie stattfindet (Belege bei LSJ p. 621). Demnach kann die Junktur êáôïöÜò Ýéßé Ôçãßóôçò entweder besagen, da der Abstieg des Sokrates vom Parnes nach Athen
erfolgte, oder aber
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Hinweis von Klaus Strunk Vgl H Seiler, Die prim ren griechischen Steigerungsformen, Hamburg 1950, S 81-85,127. Hirzel, a a O., S 124, Anm 2, During, a a O, S 44, Gigon, a,a O , S. 153 f '
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sie nicht an jener Stelle erzahlt haben, die die commums opmio in Anspruch nimmt, und da er sie an einem anderen Orte erz hlte, ist weniger wahrscheinlich, als da es ein anderer Sokratiker gewesen ist, der, abweichend von ihm und auch von Platon, erzahlte, da Sokrates seine Rettung aus der Schlacht beim Delion nicht personlicher Tapferkeit, sondern dem Eingreifen des Daimonions verdankte. - Wenn dem so ist, so kommen als Verfasser der Geschichte Aischines, Eukleides oder auch Phaidon m Betracht. Aber auf einen dieser drei Namen zu raten, w re m ig; noch m iger, die Schrift eines der drei zu benennen. Abschlie end sind noch einige Zeugnisse anzuf hren, die sich dadurch zusammenschlie en, da sie von der Teilnahme einzelner Sokratiker an der Schlacht beim Delion berichten. - So erkl rt eine Tradition, die sich in zweifacher Brechung erhalten hat, da Sokrates in der Schlacht beim Delion Xenophon das Leben gerettet habe. - Strabon (9.2.7) merkt unter dem Stichwort ÄÞëéïí an, da die Athener hier von den Bootern in die Flucht geschlagen worden seien, und fahrt fort: åí äå ôçé öõãçé ðåóüíôá áö' ßððïõ Îåíïöþíôá ßäþí êåßìåíïí ôïí Ãñýëëïõ ÓùêñÜôçò ü öéëüóïöïò óôñáôåýùí ðåæüò ôïõ ßððïõ ãåãïíüôïò åêðïäþí áíÝëáâå ôïéò þìïéò áõôüí êáé åóùóåí ðïëëïýò óôáäßïõò, Ýùò Ýðáýóáôï Þ öõãÞ. Dieselbe Geschichte findet sich auch in der Sokratesbiographie des Diogenes Laertms (2.22): êáé Îåíïöþíôá áö' ßððïõ ðåóüíôá åí ôÞé êáôÜ ÄÞëéïí ìÜ÷çé äéÝóùóåí (sc. Socrates) ýðïëáâþí. - Da Diogenes Strabon benutzt hat, darf als ausgeschlossen gelten; Gemeinsamkeiten im Wortlaut beweisen andererseits, da Strabon und Diogenes denselben oder zum mindesten einen hnlichen Text vor Augen gehabt haben. Dieser Text, den Strabon ausfuhrlicher exzerpiert hat als Diogenes, erzahlte von der Flucht der Athener in der Schlacht beim Delion: Sokrates entdeckt Xenophon, der vom Pferde gefallen ist und offenbar verwundet am Boden liegt; da das Pferd verschwunden ist, tragt er den Hilflosen zu Fu mehrere Stadien lang auf den Schultern, bis die Flucht ein Ende hat. - ber Ursprung und Herkunft dieser Geschichte l t sich nicht leicht urteilen: Die einen betrachten sie als spate Kontamination platonischer Motive.21 Andere dagegen sind der Ansicht, die Geschichte k nne aus einer altsokratischen Quelle stammen.22 Die Wahrheit liegt m der Mitte. Auszugehen ist von der Tatsache, da die Erz hlung durchaus keine Spuren von Kontamination aufweist, sondern in sich konsistent ist Man bedenke, was ein spater Kontaminator alles h tte leisten m ssen, wenn er die Geschichte von der Rettung Xenophons in der Schlacht beim Delion aus Platon hatte kompilieren wollen: Die Rettung des Alkibiades durch Sokrates, die Platon vor Potidaia geschehen l t, mu te auf die Schlacht beim Delion verlegt werden; sodann mu te Alkibiades, den Platon in der Schlacht beim Delion als ungef hrdeten Reiter darstellt, im Kampfe vom Pferde fallen; des weiteren mu te erfunden werden, da Sokrates den Hilflosen auf den Schultern aus der Schlacht tr gt; schlie lich mu te das gesamte Szenario von Alkibiades auf Xenophon bertragen werden. Aber so viel produktive Energie und Phantasie, wie hier vonnoten w re, ist einem spaten Kompilator nicht wohl zuzutrauen. Recht betrachtet, erscheint die Geschichte von der Rettung Xenophons weniger als Kompilation oder Kontamination platonischer Erz hlmotive denn als eine in sich koh rente, eigenst ndige Erfindung eines Verfassers, der mit dem vorgegebenen Thema - Sokrates in der Schlacht beim Delion - ebenso souver n 21 22
During, a.a. O., S. 45. Gigon,A*O,S. 156.
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verfahrt wie es Platon, Antisthenes und der unbekannte Autor der Daimonion-Geschichte jeweils getan haben. Und warum sollte dieser Verfasser nicht auch ein Sokratiker gewesen sein? Es wäre dann freilich der vierte, der sich zu diesem Thema geäußert hatte; denn die Geschichte von der Rettung Xenophons ist mit den anderen drei Geschichten nicht kompatibel. Und: Derselbe Sokratiker hätte sich einen enormen Anachronismus zuschulden kommen lassen; denn Xenophon war zu der Zeit, als die Schlacht beim Delion stattfand, eben erst geboren.23 Es wäre der krasseste Anachronismus, von dem die Sokratik weiß, die, auch wenn sie Anachronismen nicht scheut, gleichwohl das Krasse in der Regel meidet, weil es die Fiktion des Realen ad absurdum fuhren wurde. Auch ist es kaum glaublich, daß sich ein Mann wie Herodikos (p.18 sq. During) bei seiner Kritik an den Feldzügen des Sokrates ein so kapitales Beweisstuck hatte entgehen lassen - um so weniger, als derselbe Herodikos (p. 20-24 During) den Anachronismen der Sokratiker ein eigenes umfangreiches Kapitel gewidmet hat, in dem er mit staunenswerter Gelehrsamkeit ungleich harmlosere chronologische Verstoße aufdeckt, als der hierin Frage stehende gewesen wäre. - So fuhrt die Analyse der Überlieferung zu einem doppelten Befund: Die Geschichte ist so kohärent und eigenstandig erzahlt, daß man sie eher einem Sokratiker als einem spateren Kompilator zutraut; die Person aber, der sie gilt, evoziert einen so krassen Anachronismus, wie man ihn eher einem spateren Kompilator zutrauen mochte als einem Sokratiker. Beides in Betracht gezogen, ist die einfachste Auskunft, daß ein spaterer Kompilator die Person, der die Geschichte ursprünglich galt, durch, Xenophon ersetzte; die ursprüngliche Person aber kann, wie ein Blick auf die Überlieferung lehrt, niemand anders gewesen sein als Alkibiades, genauer der Antisthenische Alkibiades, dem Sokrates ja in der Schlacht beim Delion den Kampfpreis zediert haben soll. Daß diese Tat des Sokrates voraussetzt, daß auch Alkibiades sich tapfer gehalten hat, wurde bereits bemerkt. Hier nun fassen wir, wenn nicht alles tauscht, das fehlende Motiv: Alkibiades kämpfte tapfer in der Reiterei, bis er vom Pferde stürzte und Sokrates den Hilflosen aus dem Kampfe trug. Es ist dies nicht dieselbe, aber doch eine ähnliche Geschichte, wie sie Platon über Sokrates und Alkibiades vor Potidaia erzählt, wo Platon ja auch die Überlassung des Kampfpreises lokalisiert. Beide Motive - die Rettung des Alkibiades und die Überlassung des Kampfpreises -, die eng zusammengehören, hat Antisthenes m seiner Erzählung über die Schlacht beim Delion verwandt, und die Parallelität des Motivischen zwischen Antisthenes und Platon ist ein starkes Indiz dafür, daß die Geschichte von der Rettung Xenophons ursprunglich Alkibiades gegolten hat und bei Antisthenes zu finden war. - Im übrigen ist die Übertragung einer Geschichte auf verschiedene Personen, wie sie hier zu beobachten ist, in der spateren biographischen Überlieferung eine nicht ungewöhnliche Sache, von der die sogenannte Wanderanekdote nur ein Extremfall ist. So waltet auch in der Ersetzung des Alkibiades durch Xenophon, wie sie für die vorliegende Geschichte als wahrscheinlich vorauszusetzen ist, eine Tendenz, die man als «Ergebnis conciliatonscher Kritik der panegyrischen Sokratesbiographie» zu deuten versucht hat.24 Indes ist von konziliatonscher Kritik in der Sokratesbiographie des Diogenes Laertius (2.18-47), die uns allein einen Begriff von den älteren Sokratesviten der hellenistischen Zeit zu geben vermag, nicht eben viel zu bemerken; vielmehr stehen die widerstreitendsten Informationen unvermittelt nebeneinander. So waren es wohl eher politische
23 24
H. Breitenbach, Xenophon von Athen; in. REIX A 2 (1966) Sp. 1571 f, Dittmar, a a O., S 86, Anm 63
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Motive, die die Sokratesbiographie veranla t«!, das Personal der Geschichte so zu verandern, da , was Alkibiades zugesto en war, nun als Erlebnis Xenophons erschien: ein Reitunfall in der Schlacht beim Delion und die Rettung durch Sokrates. Die Person des Alkibiades wird ja schon bald politisch verdachtig: Er gilt immer mehr als einer der gro en belt ter, die die alte athenische Demokratie ruiniert haben. Nirgends tritt diese Tendenz deutlicher zu Tage als bei Xenophon, der alles tut, um Alkibiades aus dem Kreise der Sokratiker zu verbannen.25 Gesetzt, da die hellenistische Sokratesbiographie, sofern sie panegyrisch war, dieser Tendenz folgte, so lag es nahe, was Antisthenes ber Alkibiades erz hlt hatte, aus Gr nden der political correctness auf Xenophon zu bertragen, der sich als namhafter Sokratiker und als notorischer Kavallerist besonders gut als Ersatzperson eignete. - Wer diese Hypothese nicht plausibel findet, dem bleibt nur die Wahl zwischen zwei noch unplausibleren Hypothesen: da ein Sokratiker den krassen Anachronismus riskiert hat, Xenophon in der Schlacht beim Delion auftreten zu lassen, oder: da die in sich konsistente und koh rente Geschichte von der Rettung Xenophons durch Sokrates in toto eine Kontamination der sp teren Sokratesbiographie ist. Nicht nur Xenophon, sondern auch Antisthenes soll an der Schlacht beim Delion teilgenommen haben. - Diogenes Laertius bemerkt in seiner Antisthenesbiographie (6.1), Antisthenes habe eine thrakische Mutter gehabt, und kn pft daran folgende Notiz: üèåí êáé åí ÔáíÜãñáé êáôÜ ôçí ìÜ÷çí åýäïêéìÞóáò Ýäùêå (sc. Antisthenes) ëÝãåéí ÓùêñÜôåé, ùò ïõê áí åê äõïÀí 'Áèçíáßùí ïýôù ãåãüíïé ãåííáßïò. - Diese Notiz stellt die Interpretation insofern vor Schwierigkeiten, als im Unklaren bleibt, welche Schlacht bei Tanagra gemeint sei. An die ber hmte Schlacht des Jahres 457, in der die Spartaner die vereinigten Athener und Argeier besiegten (Herod. 9.35; Thuc. 1.107 sq.; Diod. 11.79-81), ist aus chronologischen Gr nden nicht wohl zu denken: Damals war Sokrates ein Knabe und Antisthenes noch nicht einmal geboren. Dagegen k nnte ein Gefecht des Jahres 426, in dem die Athener die verb ndeten Tanagraier und Thebaner besiegten (Thuc. 3.91), chronologisch in Betracht kommen; allein, man sieht nicht ab, wie dieses vergleichsweise marginale Kriegsereignis, von dem au er Thukydides kein Historiker etwas wei , das Interesse der Sokrates berlieferung auf sich gezogen haben sollte. - Wenn aber die ber hmte Schlacht bei Tanagra nicht in Frage kommt und die obskure auch nicht, so mu es die Schlacht beim Delion gewesen sein, w hrend deren die lobende u erung des Sokrates ber Anthisthenes gefallen sein soll. Der Wortgebrauch rechtfertigt eine solche Interpretation vollkommen: Seit Herodot wird die Pr position åí mit Vorliebe von der Gegend gebraucht, in der eine Schlacht stattfindet (Belege bei Pape l S. 665), und da das Delion in der N he Tanagras liegt und Teil der Tanagraia ist, hindert nichts, die Schlacht beim Delion als Schlacht zu bezeichnen.26 - Im brigen ist zu konstatieren, da , was Diogenes notiert, keine Geschichte, sondern eine Anekdote ist. Besser als in der Antisthenesvita hat Diogenes die Form der Anekdote in der Sokratesvita (2.31) bewahrt: åßðüíôïò ãïõí ôßíïò áýôùé, ùò åß'ç ÁíôéóèÝíçò ìçôñüò ÈñÜéôôçò, óï ä' þéïõ, åöç, ïýôùò áí ãåííáÀïí åê äõïÀí Áèçíáßùí ãåíÝóèáé; Diogenes merkt an dieser Stelle auch an, was die Anekdote besagen will: da Sokrates der Meinung gewesen sei, adlige Geburt (åõãÝíåéá) sei kein Gut, sondern ein bel. - Wie Diogenes die Anekdote in der Sokratesbiographie erzahlt, richtet 25 26
Dittmar,**.O,S 121-130. P. Von der M hll, Interpretationen biographischer S. 234-239.
berlieferung; in: Museum Helvettcum 23 (1966)
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sich der Tadel des Sokrates, den das Lob des Antisthenes impliziert, gegen die Athener im allgemeinen, deren verfehlte Hochsch tzung der åõãÝíåéá dann zu Tage tritt, da sie das Burgerrecht nur dem gew hren, der zwei athenische Eltern auf zu weisen hat. Das ist an und f r sich wohl verst ndlich, stimmt jedoch nicht recht mit der konkreten Ortsangabe zusammen, die Diogenes in der Version der Antisthenesbiographie f r die Anekdote voraussetzt: Der konkrete Ort verlangt eine konkrete Person> an die sich die Aussage des Sokrates richtet, die ihrerseits ja auch wiederum einer konkreten Person gilt. Wenn nicht alles tauscht, so la t sich der Name jenes Unbekannten noch eruieren. - Es war bereits davon die Rede, da , wenn man kritisch sichtet, was Diogenes Laertius (3.8) und Aelian (Var hist. 7.14) ber die Feldz ge Platons berichten, sich als Meinung des Aristoxenos (fr. 61 Wehrli) feststellen la t, da Platon zweimal in den Krieg gezogen sei: einmal nach Tanagra und einmal nach Korinth. Was den Feldzug nach Korinth betrifft, so handelt es sich fraglos um die athenische Expedition vom Jahre 394, die zu der Schlacht am Nemea-Bache westlich von Korinth f hrte.27 Da Platon an dieser Militarexpedition teilgenommen hat, ist historisch durchaus glaublich. - Nicht so leicht la t sich ber den Knegszug nach Tanagra urteilen. An irgendein margmales Kriegsereignis des Korinthischen Krieges zu denken, verbietet das Parallelbeispiel der Schlacht bei Korinth. Die einzige namhafte Schlacht in Bootien aber, an der die Athener wahrend des Korinthischen Krieges teilnahmen, fand im Jahre 394 bei Koroneia statt.28 Koroneia indes ist eine selbst ndige bootische Pohs wie Tanagra, weit entfernt von Tanagra und mit Tanagra also unm glich zu verwechseln. - Dies erwogen, bleibt keine andere Auskunft, als den Kriegszug nach Tanagra mit dem Knegszug nach dem Delion zu identifizieren. Man hatte sich demnach Platon ebenso als Teilnehmer an der Schlacht beim Delion zu imagimeren wie Antisthenes. Dies vorausgesetzt, durfte auch er es gewesen sein, an den sich das Diktum des Sokrates ber Antisthenes richtete. Der adelsstolze Platon wird von Sokrates anl lich der Schlacht beim Delion durch einen Hinweis auf die Tapferkeit des unechtburtigen Antisthenes ber den Unwert der åõãÝíåéá belehrt. Die Anekdote gewinnt so nicht nur an Pr gnanz, sie pa t ihrer Tendenz nach auch vortrefflich zu der polemischen, ja recht eigentlich h mischen Tendenz, die der Platonbiographie des Aristoxenos (fr. 61 - 68 Wehrli) eignet.
3. Amphipohs Die Nachrichten ber Sokrates' Teilnahme an der Schlacht bei Amphipohs sind karg. Platon (Apol. p. 28e) konstatiert lediglich das blo e Faktum, und die sp tere Tradition (Herodic. p. 18 During, Lucian. De parasit. 43; Aelian. Var. hist. 3.17; Ael. Aristid. Or. 46 De IV ums 262; Diog Laert. 2.22; Suda s.u. ÓùêñÜôçò n. 829; cf. Epist. Soar. 3) wei dem nichts Neues hinzuzuf gen. - Eine Ausnahme macht allem Libanios (Apol. Soar. 131), bei dem ein ungenannter Verteidiger Sokrates vor Gericht gegen den Vorwurf des M iggangs (der nach Solomschem Recht strafbar war) folgenderma en in Schutz nimmt: ôçò áñãßáò ÓùêñÜ éïýò åßëÞöáôå ðåúñáí, þ Áèçíáßïé, ôïýôï ìåí Ýðé Äçëßùé, ôïýôï ä' áý åí ¢ìöéðüëåé, äôå äç ôÞé ðñïò áðáíôÜ êáñôåñßáé ôïõò óôñáôéþôáò ðñïò áýôïí, ÝðÝïôñåøåí ïìïßùò íýêôùñ êáé ìåß)' ÞìÝñáí. Ýþéêåé ãáñ óéäÞñùé ôéíß ôïóïýôïí êáôåãÝëá ôïõ ðåñß* 27 28
S. Accame, Ricercbe mtorno alia gnena connzia, Neapel 1951, S 65-87. Accame, a a O , S 89-101
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. - Was Libanios hier von der spektakulären Selbstzucht des Sokrates vor Amphipolis erzählt, erinnert in Motivik und Wortwahl entschieden an das, was Platon (Symp. p. 219e-220e) über Sokrates' Verhalten vor Potidaia erzahlt. In einem Punkte allerdings weicht Libanios von Platon ab: Bei jenem ist es die singulare, einen Tag und eine Nacht währende Gedankentrance des Sokrates, die das Interesse der Soldaten auf sich zieht, bei Libanios dagegen ist dieses Interesse gewissermaßen ein Dauerzustand, der «gleichermaßen bei Nacht und am Tage» ( ' ) allen Manifestationen Sokratischer Selbstzucht gilt. - Will man diesen Befund verstehen, so muß man sich noch einmal vergegenwärtigen, daß Aulus Gellius (Noct. Att. 2.1-3), in unmittelbarem Rückgriff auf Favorin, das singulare Tranceerlebnis, das Platon beschreibt, als regelmäßiges Verhalten des Sokrates interpretiert und als Manifestation Sokratischer fortitudo unter die labores uoluntarios und exerdtia corpons eingereiht hat Diese Interpretation greift Libanios auf, indem er das Verallgemeinerte noch einmal verallgemeinert, insofern er das tranceartige Stehen des Sokrates durch einen allgemeinen Hinweis auf die Sokratische Selbstzucht ersetzt. Daß dem so ist, lehrt das Motiv von Tag und Nacht, das Libanios mit Favorin und Gellius gemeinsam ist. Wahrend dieses Motiv bei Favorin und Gellius jedoch, ganz im Sinne der ursprunglichen Erzählung Platons, mit dem tranceartigen Stehen des Sokrates verknüpft ist, fungiert es bei Libanios nur noch als bloße Floskel, die die Dauer des Interesses ausdruckt, das die Umwelt an Sokrates' Selbstzucht im allgemeinen nimmt. Die stehengebliebene Floskel aber verrat noch, daß Libanios hier einer - verfehlten — Platoninterpretation der Sokratesbiographie gefolgt ist, die wir bis auf Favorin zurückverfolgen können. Ob Libanios hierbei unmittelbar auf Favorin zurückgegriffen hat oder auf einen anderen Text ähnlichen Inhalts, ist nicht von Belang. Letzteres ist wahrscheinlicher; denn wahrend Favorin Sokrates mit einem Eichenstamm vergleicht, wählt Libanios den Vergleich mit dem Eisen. — Auch davon war bereits die Rede, daß die Geschichte von der Trance des Sokrates, nachdem sie des singularen Charakters, der ihr bei Platon eignet, beraubt wurde, um nunmehr als Paradigma Sokratischer Kriegstuchtigkeit dienen zu können, ihre lokale Fixierung notwendig verliert: Weder Favorin noch Gellius erwähnen Potidaia, und auch in der mutmaßlichen Quelle des Libanios (die womöglich auch Favorin benutzte) wird der Name dieser Stadt nicht mehr vorgekommen sein. Um so leichter aber war es für Libanios, das lokal nicht mehr fixierte militärische Paradigma statt für Potidaia für Amphipolis in Anspruch zu nehmen, von dem in der Sokratesüberlieferung nur so spärlich die Rede war. - Im Zuge dieser irrigen Relokalisierung des Paradigmatischen unterlief Libanios ein weiterer lapsus: Er spricht von Sokrates' standhaftem Verhalten während des thrakischen Winters. Dieses Motiv wird bei Favorin und Gellius nicht expressis uerbis erwähnt; daß es in der Quelle Favorins vorkam, lehrt der Hinweis des Gellius auf die exercitia corpons des Sokrates, von denen das unverwandte Stehen nur ein Beispiel sei. Wie dieses dürfte auch das Beispiel vom Ertragen der Kälte der Lokalisierung ermangelt haben. Libanios erst hat beide Paradigmata wieder lokalisiert, und die Ironie der Überlieferung will es, daß die Lokalisierung des zweiten Paradigmas wieder richtig zur ursprünglichen Quelle zurückfuhrt, insofern Platon (Symp. 220a) von den furchtbaren Wintern vor Potidaia spricht, die Sokrates so bravourös ertragen habe. Potidaia aber liegt, griechischem Sprachgebrauch zufolge, ebenso in Thrakien wie Amphipolis. Daß Libanios indes hier nur aus Zufall das Richtige getroffen hat, lehrt ein Blick auf Thukydides (5.1.1,12.1), der berichtet, daß die Schlacht vor Amphipolis im Sommer stattgefunden hat. Hätte Libanios dieses Faktum ad notam genommen, so wäre ihm bewußt geworden, daß er sich irrte, wenn er für
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Amphipolis reklamierte, was allem für Potidaia Gültigkeit hatte: Sokrates' spektakuläre Gedankentrance und sein nicht minder spektakuläres Ertragen des thrakischen Winters. - So verschlungen sind die Pfade der biographischen Überlieferung; aber man muß ihnen folgen, wenn man nicht für authentische Kunde ausgeben will, was in Wahrheit spate Erfindung ist, die mißverstanden zitiert wird.
4. Historizität Bei der kritischen Analyse der Überlieferung stellte sich mehrfach die Frage nach der Historizität des Erzahlten. Nicht von ungefähr: Es sind ja historische Personen, die in einem historischen Kontext dargestellt werden, noch dazu von zeitgenossischen Autoren, so daß die Frage doppelt berechtigt ist, inwieweit historischer Wahrheit entspricht, was sie erzählen. - Will man auf die Frage der Historizität eine Antwort, so bieten sich zwei verschiedene Verfahrensweisen an: Einmal kann man die verschiedenen Erzählungen der Sokratiker daraufhin prüfen, ob sie in sich konsistent sind und miteinander kompatibel; falls nicht, wäre zu prüfen, ob sich durch immanente Kritik Konsistenz und Kompatibilität herstellen laßt. Zum anderen läßt sich prüfen, ob das historische Umfeld, in das die Sokratiker Sokrates stellen, in Einklang steht mit der außersokratischen Überlieferung, die vor allem durch die Historiker gewährleistet wird. - Der Zufall will es, daß letztere Methode sich als besonders fruchtbar erweist im Falle der Schlacht vor Potidaia; erstere in betreff der Schlacht beim Delion; je nachdem, wie das Urteil jeweils ausfallt, wird man dann auch über die Schlacht vor Amphipolis urteilen können Die Belagerung Potidaias, die Thukydides (1.118), unser maßgeblicher historischer Gewährsmann, unter die Hauptanlasse des Peloponnesischen Krieges rechnet, war ein langwieriges Knegsunternehmen, das den Athenern außerordentliche Kraftanstrengungen abforderte.29 - Den Beginn des Unternehmens markiert ein Ultimatum, das die Athener im Sommer 433 an die chalkidische Stadt Potidaia richteten, die, wiewohl eine korinthische Kolonie, Mitglied des Seebundes war: Die Potidaiaten sollten die südliche Stadtmauer niederlegen, Geiseln stellen und hinkunftig keine korinthische Epidemiurgen aufnehmen (Thuc. l 56 sq.). Die Verhandlungen über dieses Ultimatum, das die Athener in der Absicht gestellt hatten, ihren politischen Einfluß auf der Chalkidike gegen Konnth zu sichern, zogen sich in die Lange, und so gaben die Athener dem Strategen Archestratos, der zusammen mit einer Anzahl weiterer Kollegen das Kommando über eine Flotte von 30 Schiffen mit 1000 Hopliten erhalten hatte, um gegen Makedonien auszulaufen, Befehl, auch das Ultimatum gegen Potidaia durchzusetzen (Thuc. 1.57). Als Archestratos im Frühjahr 432 an der thrakischen Küste landet, sind die Potidaiaten, die heimlich auch mit Sparta verhandelt hatten, zusammen mit anderen chalkidischen Städten bereits von Athen abgefallen, so daß Archestratos, doppelter Kriegführung nicht gewachsen, sich auf den Krieg gegen Makedonien beschranken muß (Thuc. 1.58 sq.). Beunruhigt durch die militärischen Aktivitäten der Athener im thrakischen Raum, entsenden die Korinther ein Heer von 1600' Hopliten und 400 Leichtbewaffneten unter Aristeus nach Potidaia,,das 40 Tage nach dem
29
J. A Alexander, Polidaea, Athens (USA) 1963, S. 54-81 Zur Chronologie vgl. bes. K J. Bcloch, Griechische Geschichte, 2 Bd, 2, Abt., 2. Aufl, Straßburg 1916, S 217-222.
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Abfall der Stadt eintrifft (Thuc. 1.60). Über diese korinthische Expedition ihrerseits beunruhigt, entsenden die Athener ein Heer von 2000 Hopliten und 30 Schiffen unter dem Kommando des Kallias und vier anderer Strategen, das im Spätsommer oder Frühherbst 432 an der thrakischen Küste landet und sich mit dem Heere des Archestratos bei Pydna vereinigt (Thuc. 1.61 ). Das vereinigte Heer - 3000 athenische und zahlreiche bundesgenossische Hopliten sowie 600 Reiter - marschiert, zur See von der Flotte unterstutzt, gegen Potidaia (Thuc. 1.61). Auf der Landenge nordöstlich von Potidaia gegen Olynth hin kommt es in der zweiten Septemberhälfte zu einer Schlacht zwischen den Athenern und den mit den Korinthern verbündeten Potidaiaten: Die Athener siegen und verlieren 150 Mann, darunter den Strategen Kalhas, wahrend die Potidaiaten und die Korinther knapp 300 Tote zählen (Thuc. 1.62 sq.). Nach dem Sieg beginnen die Athener sofort mit der Belagerung der Stadt, die indes nur von Norden her zerniert wird, weil die Kräfte für eine Einschließung auch von Süden her zu schwach sind (Thuc. 1.64). Daraufhin entsenden die Athener nach einer Weile, wahrscheinlich im Frühjahr 431, den Strategen Phormion mit 1600 Hopliten nach Potidaia, das nun auch von der Halbinsel Pallene her zerniert und von der See aus blockiert wird. Nach erfolgter Blockade führt Phormion Krieg auf der Chalkidike und in der Bottiaia (Thuc. 1.64 sq., 2.29). Im Sommer 430 schließlich entsenden die Athener ein viertes Expeditionsheer von 4000 Hopliten unter dem Befehl der Strategen Hagnon und Kleopompos gegen Potidaia, aber trotz dem Einsatz von Belagerungsmaschinen gelingt es auch jetzt nicht, die Stadt zu erobern: Hagnon und Kleopompos kehren nach 40 Tagen erfolglos nach Athen zurück, nachdem sie 1500 ihrer Manner durch die Pest verloren haben und auch das verbleibende Heer infiziert worden ist (Thuc. 1.58). Im Winter 430/29 kapituliert die Stadt endlich, vom Hunger bezwungen: Die Strategen Xenophon, Hestidoros und Phanomachos gewähren den Potidaiaten freien Abzug, und die Athener besiedeln die nunmehr leere Stadt mit attischen Kleruchen (Thuc. 2.70). — So endete die Belagerung der Stadt nach zweieinhalb Jahren; die Athener kostete der Sieg nicht weniger als 2000 Talente - ein Drittel des gesamten Staatsschatzes an gemünztem Silber, das der Stadt zu Beginn des Krieges insgesamt zur Verfügung stand. Soweit das historische Geschehen nach Thukydides. Diodor (12.34, 37 & 48), der seinerseits aus Ephoros (FGrHist 70 F 196) schöpft, fugt dem nichts grundsatzlich Neues hinzu, wohl aber Isokrates, der in seiner Rede Über das Gespann (or. 16.29 sq.) berichtet, daß Alkibiades als junger Mann Kriegsdienst geleistet habe, als Phormion mit 1000 ausgesuchten Athenern gegen Thrakien gezogen sei: damals habe er wegen tapferen Verhaltens m Gefahren als Kampfpreis vom Feldherrn einen Kranz und eine vollständige Rüstung erhalten. Die Historizität dieser Nachricht (von der in anderem Zusammenhang bereits die Rede war) läßt sich nicht wohl bezweifeln, da sie sich in einer veritablen Gerichtsrede findet, die Isokrates um 395 für den jüngeren Alkibiades geschrieben hat. Daß Isokrates die Zahl der Hopliten um 600 Mann niedriger angibt als Thukydides, will demgegenüber nicht viel besagen: Zahlenangaben werden oft ungenau überliefert, und es mag im übrigen auch sein, daß Thukydides die Gesamtzahl der Truppen angab, während Isokrates nur jene Anzahl der Hopliten notiert, die Phormion persönlich ausgewählt hatte. Die unzweifelhaft historische Nachricht des Isokrates über die Teilnahme des Alkibiades am Feldzug gegen Potidaia ist deswegen von besonderer Wichtigkeit, weil sie erlaubt, die Platonische Erzählung über Sokrates vor Potidaia historisch präzise zu überprüfen; denn im Rahmen des weitläufigen Geschehens um Potidaia, das Thukydides beschreibt, kann es allein die Expedition des Phormion gewesen sein, an der Sokrates teilgenommen hat, wenn
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anders denn als historisch verbürgt gelten soll, was Platon über das Kontubernium zwischen Sokrates und Alkibiades zu berichten weiß. Thukydides (1.64.2) meldet, daß die Athener Phormion nach Potidaia entsandt hatten, nachdem sie erfuhren, daß die Kräfte des siegreichen athenischen Heeres nicht ausreichten, um auch die südliche Mauer zu belagern. Die Schlacht, in der die Athener über die vereinigten Potidaiaten und Kormther siegten, fand statt im sechsten Monat vor dem Beginn des Frühlings 431, als die Thebaner Plataiai überfielen (Thuc. 2.2.1). Die Kunde von der unzureichenden Belagerung Potidaias kann mithin frühestens Ende September 432 nach Athen gekommen sein, und selbst wenn der Volksbeschluß zur Entsendung Phormions alsbald erfolgt wäre, so erforderte die Ausrüstung der Flotte und die Rekrutierung der Hopliten mindestens einen Monat, so daß Phormion frühestens Anfang November 432 hatte auslaufen können. Aber das wäre klimatisch der allerungünstigste Zeitpunkt gewesen: Kein Schiff wagt sich zur Zeit der Herbststurme ohne zwingende Notwendigkeit auf See. In der Tat erfolgte die Entsendung Phormions denn auch gar nicht unmittelbar, nachdem die ungunstige Kunde in Athen eingetroffen war, sondern, wie Thukydides (1.64.2) ausdrücklich vermerkt, «eine Zeit spater» ( ). Woraus vollends erhellt, daß Phormion mit seinen 1600 Hopliten nicht schon im Winter 432/31, sondern erst im Frühjahr 431 ausgelaufen ist. Nachdem er in Aphytis gelandet war, zog er verwüstend durch die Pallene bis vor Potidaia, das er durch eine Sperrmauer auch im Süden zernierte, so daß die Einschließung der Stadt jetzt vollendet war (Thuc. I.e.). Danach verließ Phormion mit seinen Truppen Potidaia und kämpft im Sommer 431, unterstutzt von dem Makedonenkomg Perdikkas, gegen die Chalkidier und Bottiaier (Thuc. 1.65.2; 2.29.6). Von dort wird er im Herbst 431, spätestens aber im Frühjahr 430 abberufen; denn als im Sommer 430 eine athenische Expeditionsflotte unter Hagnon vor Potidaia erscheint, befindet er sich mit seinen Truppen nicht mehr auf der Chalkidike (Thuc. 2.58.2). Im Winter 430/29, als Potidaia kapituliert, fuhrt Phormion bereits ein neues Kommando: Er sperrt von Naupaktos aus den Korinthischen Meerbusen (Thuc. 2.69.1). - Versucht man in dieses Szenario einzufügen, was Platon erzahlt, so erlebt man eine Überraschung· Fast nirgends laßt sich, was Platon an konkretem Detail in seine Erzählung verwoben hat, mit der historischen Überlieferung in Einklang bringen, wie sie sich aus Thukydides und Isokrates vergleichsweise präzise rekonstruieren laßt. Es beginnt damit, daß Platon (Symp. p. 220a-d) erzählt, Sokrates und Alkibiades hatten einen Winter und einen Sommer lang vor Potidaia gelegen. Aber wenn es richtig ist, daß Phormion erst im Frühjahr 431 nach Potidaia auslief und die Stadt bereits im Sommer desselben Jahres wieder verließ, so kann der historische Alkibiades, der an dieser Expedition nachweislich teilnahm, keinen Winter vor Potidaia verbracht haben, und der Platonische Sokrates als sein Zeitgenosse auch nicht. - Des weiteren erzahlt der Platonische Alkibiades (Symp. p. 220de) gleich viermal, hätten ihm auf Zureden des Sokrates hm den Kampfpreis verliehen, nachdem er in der Schlacht verwundet und von Sokrates samt seinen Waffen gerettet worden sei. Der gehäufte Gebrauch des Plurals erweckt entschieden den Eindruck, als habe das Heer, in dem Alkibiades und Sokrates kämpften, unter dem Kommando mehrerer Strategen gestanden. Aber auch dieser Eindruck ist irrig.' Thukydides (1.57.6,61.7; 2 58.1,70.1) notiert (da politisch von Belang) jeweils sehr genau die Namen oder doch wenigstens die Anzahl der Strategen, die wahrend der Belagerung Potidaias das Kommando hatten. Wenn derselbe Thukydides (1.64) im Falle der Expedition des Phormion eine solche Notiz unterlaßt, so folgt daraus, daß Phormion das Kommando über seine Truppen allein führte. Dementsprechend verwendet denn auch Isokrates (or.
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16.29) nicht den Plural, sondern den Singular, wenn er - historisch korrekt - vermerkt, Alkibiades habe den Kampfpreis «vom Strategen» (ðáñÜ ôïõ óôñáôçãïý) erhalten. - Der Platonische Sokrates (Charm, p. 153bc) erz hlt, da es in der Gegend von Potidaia zu einer heftigen Schlacht gekommen sei, aus der er unversehrt entkommen sei, wahrend viele namhafte Manner dort den Tod gefunden h tten. Das ist fraglos dieselbe Schlacht, von der auch der Platonische Alkibiades (Symp. p. 220de) spricht. Eine solche Schlacht aber hat es wahrend der Expedition des Phormion nicht gegeben. Thukydides (1.64.2) wei davon nicht das Geringste und h tte doch eine so enorme Tatsache unm glich verschwiegen. Wie denn auch Isokrates (16.29) - wiederum historisch korrekter als Platon - bemerkt, da Alkibiades den Kampfpreis erhalten habe wegen tapferen Verhaltens nicht in einer Schlacht, sondern «in Gefahrensituationen» (åí ôïéò êéíäýíïéò). - Wahrend der zweiemhalbjahrigen Belagerung Potidaias fand berhaupt nur eine einzige veritable Schlacht statt, auf die zutrifft, was Platon erz hlt: jene Schlacht auf der Landenge nord stlich von Potidaia, in der die Athener die vereinigten Potidaiaten und Korinther besiegten; damals fielen 150 Athener und der Stratege Kallias (Thuc. 1.62 sq.). Falls Platon diese Schlacht im Auge hatte (und eine andere kann er nicht im Auge gehabt haben, denn es gab keine), so wurde verst ndlich, weshalb der Platonische Alkibiades (Symp. p. 220de) von mehreren Strategen spricht: Kallias hatte in der Tat noch vier weitere Strategen neben sich (Thuc. 1.61.1). Indes fand jene Schlacht im September 432 statt, und die Expedition des Phormion im Fr hjahr 431 war ihre Folge, so da der historische Alkibiades an dieser Schlacht nicht teilgenommen haben kann und auch nicht der Platonische Sokrates. — Der Platonische Sokrates (Charm, p. 153b) erzahlt des weiteren, da jene gro e Schlacht vor Potidaia «kurz vor der Abreise» (ïëßãïí .., ðñéí çìÜò ÜðéÝíáé) nach Athen erfolgt sei. Diese Aussage nun stimmt historisch weder zur Expedition des Kallias noch zu jener des Phormion, so da der Gedanke, Platon habe die beiden Ereignisse wom glich irrt mlich konfundiert, gar nicht aufkommen kann: Das Heer des Kallias n mlich verlie Potidaia nach der siegreichen Schlacht im September 432 durchaus nicht, sondern blieb als Belagerungsarmee vor der Stadt liegen, bis diese im Winter 430/29 kapitulierte; das Heer des Phormion aber, das im brigen vor Potidaia gar keine Schlacht schlug, fuhr ebenfalls nicht sogleich nach vollendeter Belagerung von Potidaia ab, sondern k mpfte zum mindesten noch den ganzen Sommer 431 ber auf der thrakischen Chersonnes. — Derselbe Widerspruch findet sich schlie lich noch einmal, wenn der Platonische Sokrates (Charm, p. 153a) sagt, er sei «aus Potidaia vom Heerlager her» (åê Ðïôßäáéáò áðü ôïõ óôñáôïðÝäïõ) nach Athen gelangt. Diese Aussage setzt voraus, da die Belagerung nach Sokrates' R ckkehr noch anhielt: Sokrates kann demnach nicht zum Heer des Kallias geh rt haben, das ja bis zum Ende der Belagerung vor Potidaia stationiert war; er kann aber auch nicht an der Expedition des Phormion teilgenommen haben, da diese nicht aus Potidaia, sondern aus der Chersonnes heimkehrte. -JEs kann nach alledem nicht die geringste Rede davon sein, da wir, was Platon erz hlt, f r wahr halten m ssen.™ Vielmehr zeigt sich bei genauerem Hinsehen berall, da das konkrete Detail, das Platon in seine Erz hlung ber Sokrates vor Potidaia hineingewoben hat, mit der historischen berlieferung nicht in Einklang steht; es ist nur d nner Firnis und schwaches Kolorit, geeignet allenfalls, beim sp teren Leser, dem das historische Geschehen nicht mehr unmittelbar gegenw rtig war, den Eindruck von Historizit t k nstlich oder besser: k nstlerisch hervorzubringen. M
U. von Wilamowitz-Moellendorff, Platon, l. Bd., 5. Aufl., Berlin 1959, S. 294, Anm, l.
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In noch fragwürdigerem Lichte erscheint die Historizität dessen, was Platon erzählt, wenn man den Blick auf Antisthenes richtet. - So geringfügig die Spuren auch sind, die die Antisthemsche Erzählung über Sokrates vor Potidaia m der Überlieferung hinterlassen hat, so steht doch immerhin fest, daß er vorausgesetzt hat, daß Sokrates damals den Kampfpreis m persona erhalten hat. Über das Wann, Wie und Wo dieses Ereignisses erfahren wir nichts; aber soviel ist gewiß, daß, wenn Sokrates den Kampfpreis selbst erhielt, von einem Kontubermum mit Alkibiades nicht die Rede sein kann. Das Kontubernium hat ja die Zedierung des Kampfpreises an Alkibiades zur Folge, und diese erzahlte Antisthenes nicht im Zusammenhang mit Potidaia, sondern verlegte sie in die Schlacht beim Delion. - Die communis opmio, die Platon stets das größte Vertrauen entgegenbringt, sollte es sich gesagt sein lassen, daß unter dem Gesichtspunkt der Historizität die Version des Antisthenes viel glaubwürdiger ist als die Platonische: daß Sokrates vor Potidaia als Lohn für tapferes Verhalten einen Kampfpreis bekommen habe, laßt sich historisch jedenfalls nicht widerlegen. Es laßt sich, da die historische Überlieferung schweigt, andererseits auch nicht beweisen. So daß keine andere Auskunft bleibt, als daß es zum mindesten glaublich ist, daß Sokrates vor Potidaia einen Kampfpreis erhalten hat. - Im übrigen kann auch die Erzählung des Antisthenes historisch nicht auf festen Fußen gestanden haben. Denn wenn es richtig ist, daß es Antisthenes war, der Sokrates auf dem Landwege nach Potidaia gelangen ließ, so waltet auch hier ein historischer Irrtum: Die Expeditionen des Archestratos (Thuc. 1.57.6), des Kallias (Thuc. l 61.1), des Phormion (Thuc. 1.64.2) und des Hagnon (Thuc. 2.58.1) erfolgten ausnahmslos zur See, und der anonyme Kritiker (womöglich Herodikos), den Diogenes Laertius (2 23) zitiert, hatte ganz Recht, die gegenteilige Meinung als unhistorisch zu verwerfen.
Auch die Schlacht beim Delion kennen wir in der Hauptsache aus Thukydides (4.76 & 89-101), dem Diodor (12.69 sq.) wiederum nur wenig Neues hinzuzufügen weiß. - Wenn man die Darstellung des Thukydides (die hier nicht in extenso wiedergegeben werden soll) mit den Erzählungen der Sokratiker kontrastiert, so erlebt man eine Überraschung: Ließ sich m betreff Potidaias kaum ein konkretes Detail m den Erzahlversionen Platons und des Antisthenes mit der historischen Überlieferung in Einklang bringen, so findet sich m den Erzahlversionen, die Platon, Antisthenes und der sokratische Anonymus von der Schlacht beim Delion geben, nur ein einziges Detail, das stricto sensu mit der historischen Überlieferung m Widerspruch steht: die Behauptung des Anonymus, daß Laches in der Schlacht beim Delion als «Stratege» (praetor) fungiert habe. Das geht historisch nicht wohl an. Thukydides wurde es, nach seiner Art, vermerkt haben, wenn Laches neben Hippokrates als Stratege fungiert hatte; er nennt aber ausschließlich Hippokrates. Diesem Befund entspricht auch, was wir von den politischen Schicksalen des Laches vor und nach der Schlacht beim Delion etwa noch wissen (PA 9020, RE 12.1 Sp. 336-338): Nachdem er in den Jahren 427/26 als Stratege erfolgreich in Sizilien Krieg geführt hatte, wurde er nach seiner Ruckkehr im Winter 426/25 von Kleon wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder angeklagt. Wiewohl freigespro- ^ chen, scheint er sich in den folgenden Jahren politisch zurückgehalten zu haben: Das nächste, was wir hören, ist, daß er im Frühjahr 423 in der Volksversammlung einen Antrag auf einen einjährigen Waffenstillstand mit Sparta einbrachte. Ware er zwischen diesen beiden Ereignissen zum Strategen gewählt worden, wußten wir es. Von der Strategie des Laches abgesehen, sind alle konkreten Details, die die Sokratiker über Sokrates' Teilnahme an der Schlacht beim Delion erzählen, mit der historischen Über-
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lieferung in Einklang zu bringen. Woraus freilich durchaus nicht folgt, daß alles, was erzahlt wird, auch historisch glaubwürdig wäre. Im Gegenteil: War es im Falle Potidaias der Dissens mit der historischen Überlieferung, der das, was die Sokratiker erzählten, in historisch fragwürdigem Lichte erscheinen ließ, so ist es hier der Dissens der Sokratiker untereinander: Über Sokrates' Teilnahme an der Schlacht beim Delion erzählen die drei Sokratiker Platon, Antisthenes und der Anonymus drei unterschiedliche Geschichten, so unterschiedliche, daß sie auch die diplomatischste Kritik nicht miteinander in Einklang zu bringen vermag. - Platon und Antisthenes stimmen wenigstens noch dann uberein, daß es die persönliche Tapferkeit des Sokrates gewesen sei, die die Rettung auf der Flucht bewirkt habe. Alles andere aber erzahlt der eine anders als der andere: Platon stellt es so dar, daß Alkibiades, beritten und also nicht unmittelbar gefährdet, beobachtet, wie sich Sokrates und Laches, beide Hopliten, auf der Flucht verhalten, wobei die tapfere Besonnenheit des Sokrates eindrucksvoller wirkt als das Verhalten des Laches. Wie anders Antisthenes! Laches fehlt in seiner Version der Geschichte; er wurde auch gar nicht in die Szenerie passen, wenn es denn richtig ist, daß Antisthenes erzählte, wie Sokrates Alkibiades, der, vom Pferde gefallen, m hilfloser Lage, also wohl verwundet war, auf den Schultern eine lange Strecke weit trug, bis er außer Gefahr war, und sodann auf den Kampfpreis, der ihm gebührt hatte, zugunsten des Alkibiades verzichtete. Nicht genug damit, daß diese beiden Geschichten nichts miteinander gemein haben: Die Geschichte des Antisthenes erinnert auch noch - aber nur von ungefähr - an jene Geschichte, die Platon über Sokrates und Alkibiades vor Potidaia erzählt; so daß man den bestimmten Eindruck gewinnt, daß das historische Detail, gleichsam als literarisches Versatzstuck, willkürlich von hier nach dort verschoben werden kann, ohne daß sich sagen ließe, wo es seinen ursprunglichen Ort gehabt habe; denn daß so etwas wie berichtigende Polemik zwischen den beiden Versionen der Geschichte walte, davon findet sich nicht die geringste Spur. - Wenn schon die großen Divergenzen zwischen Platon und Antisthenes die Historizität des Erzählten in fragwürdigem Lichte erscheinen lassen, so gerät das Historische vollends in einen Abgrund, wenn man auch noch jene Version der Geschichte in Betracht zieht, die der anonyme Sokratiker erzahlt hat. Die Grundtendenz dieser Geschichte ist eine völlig andere als jene, die Platon und Antisthenes gemeinsam war: Nicht die persönliche Tapferkeit des Sokrates bringt die Rettung, sondern das Sokratische Daimonion, das am rechten Ort den rechten Weg anzeigt, den die meisten für den falschen halten, so daß alle — ausgenommen Pyrilampes — zugrunde gehen, während Sokrates und die wenigen, die ihm folgen - unter ihnen Alkibiades und Laches - auf schwieriger Route wohlbehalten nachhause zurückkehren. Sokrates fungiert in dieser Geschichte als Retter, insofern nur er über die göttliche Stimme verfugt; Pyrikmpes ist Berichterstatter über jenes Geschehen, das Sokrates und seine Gefährten nicht erlebt haben: daß die bootische Reiterei die Athener auf der Flucht nach tapferem »Widerstand tötete. Demgegenüber bleibt unklar, welche Rolle Alkibiades und Laches zukam. Sicher aber ist, daß sie eine andere gewesen sein muß, als Platon und Antisthenes beiden jeweils zuweisen: Weder kann Laches als Folie für die Tapferkeit des Sokrates gedient (wie bei Platon) noch kann Sokrates den hilflosen Alkibiades gerettet (wie wahrscheinlich bei Antisthenes) oder ihm den Kampfpreis zediert haben (wie sicher bei Antisthenes); denn alle diese Erzählmotivc gründen in der persönlichen Tapferkeit des Sokrates, die mit der rettenden Wirkung des Daimonions nicht kompatibel ist. Auch als unbeteiligter Zuschauer (wie bei Platon) kann Alkibiades nicht fungiert haben; denn die Geschichte des Anonymus setzt voraus, daß Alkibiades wie alle anderen Gefährten des Sokrates über steiles Gelände nachhause kam. Welche Rolle der A no-
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nymus Laches und Alkibiades zuwies, laßt sich nicht einmal erraten; aber daß es eine andeic war, als bei Platon und Antisthenes ersichtlich, stellt außer Zweifel, daß er, wie in der Gesamttendenz, so auch im konkreten Detail, von Platon und Antisthenes nicht weniger abgewichen ist als jene beiden voneinander. - Alles in allem ist zu konstatieren, daß die Sokratiker die Geschichte von Sokrates' Teilnahme an der Schlacht beim Delion so unterschiedlich erzählen, daß immanente Kritik ihr Recht verloren hat: Durch konziliatorisches Vergleichen aus dem Widersprüchlichen die <wahre> Geschichte zu rekonstruieren, wäre vergebliche Muhe: Was Sokrates in der Schlacht beim Delion wirklich erlebt hat, bleibt uns historisch ebenso verschlossen wie seine tatsächlichen Erlebnisse wahrend der Belagerung Potidaias.
Platon allein verdanken wir die Nachricht, daß Sokrates auch an der Schlacht vor Ampbipohs teilgenommen habe, die, wie Thukydides (5.6-11) berichtet, im Sommer 422 stattfand und mit einer schweren Niederlage der Athener endete. - Die Frage nach der Historizität dieses Ereignisses laßt sich keineswegs so einfach beantworten, wie man geglaubt hat.31 Die Tatsache nämlich, daß die Sokratiker darauf verzichtet zu haben scheinen, die Teilnahme des Sokrates an der Schlacht vor Amphipohs m ahnlicher Weise literarisch auszugestalten, wie sie es in betreff der Feldzuge nach Potidaia und zum Delion getan haben, verbürgt noch nicht die Historizität der Nachricht. Wie umgekehrt die Tatsache, daß die Geschichten, die die Sokratiker über Sokrates' Verhalten vor Potidaia und beim Delion erzählen, historischer Kritik nicht standhalten, nicht beweist, daß Sokrates' Teilnahme an diesen beiden Kriegsereignissen unhistorisch gewesen ist. - Die Nachricht von Sokrates' Teilnahme an der Schlacht vor Amphipohs gibt Anlaß, das Problem der Historizität noch einmal m toto zu überdenken.
Auf zweierlei Wegen ließ sich erweisen, daß historischer Kritik nicht standhalt, was die Sokratiker über Sokrates' Verhalten vor Potidaia und beim Delion erzählen: einmal (im FaDe Potidaia) durch Vergleichen der sokratischen Erzählungen mit der historischen Überlieferung; zum anderen (im Falle Delion) durch Vergleichen der sokratischen Erzählungen untereinander Daß beide Wege zu demselben Ziele führten, gibt Gewißheit, daß die Untersuchung nicht m die Irre gegangen ist. Vielmehr darf als bewiesen gelten, daß die Geschichten der Sokratiker über Potidaia und das Delion nicht als historisch glaubwürdig gelten können. Mehr noch: Die Sokratiker gehen mit dem historischen Detail so unbedenklich um, daß es historischer Kritik hier nicht gelingt, was sie anderswo erfolgreich zu leisten vermag, die <wahre> Geschichte zu ergrunden, die sich hinter unterschiedlichen literarischen Versionen jeweils verbirgt. Nun bedeutet der Verzicht auf die Rekonstruktion der wahren Geschichte nicht den Verlust der Historizität schlechthin. Wer anders schließt (wie bereits Herodikos getan hat), muß sich die Konsequenzen vergegenwärtigen: Sokrates' Teilnahme an den Feldzügen gegen Potidaia und zum Delion und auch seine Teilnahme an der Schlacht vor Amphipohs mußte als unhistorisch verworfen werden. Dies zugestanden, liegt dann der Schluß nicht mehr "
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W M Caldcr, Socrates at Amphipohs, m. Phroneus 6 (1961) S 83-85.
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ferne, daß alle historischen Daten, die die Sokratiker nennen, als historisch unglaubwürdig zu gelten hätten - die Existenz des Sokrates womöglich eingeschlossen. Wer aber so urteilt, muß sich entgegnen lassen, daß der Schluß vom Wie auf das Daß keineswegs zwingend ist; oder anders: Wenn auf literarischer Erfindung beruht, wie die Sokratiker das Verhalten des Sokrates im Kriege beschreiben, so folgt daraus nicht, daß Sokrates überhaupt keinen Kriegsdienst getan hat: Pure Erfindung nämlich ist nicht recht eigentliche Sache der Literatur, namentlich nicht der griechischen Literatur, die stets und überall Reste konkreter Lebenswirklichkeit festhalt. Worüber mehr noch als der sokratische Dialog die Komödie Auskunft geben könnte, die das Maximum an erfindendem Erzahlen darstellt, das die Griechen der Klassischen Zeit sich gestattet haben.32 Will man den historischen Rest bestimmen, der den Erzählungen der Sokratiker über Sokrates' Kriegsdienst zugrunde liegt, so bleibt keine andere Auskunft, als das Wie preiszugeben, am Daß jedoch festzuhalten. Will sagen: Alles, was zur erzahlten Geschichte gehört, steht eo ipso im Verdacht, sich literarischer Erfindung zu verdanken; was hingegen nicht zur erzahlten Geschichte gehört, sondern den Anlaß und die Voraussetzung der Geschichte bildet, darf als historisch glaubwürdig gelten. Dies vorausgesetzt, werden wir nie erfahren, wie sich Sokrates während der Feldzuge nach Potidaia und zum Delion verhalten hat - vom Feldzug nach Amphipolis ganz zu schweigen: Auch wer nur behauptet, daß sich Sokrates überall tapfer gehalten habe, behauptet schon zuviel. Aber daß Sokrates an diesen drei Feldzugen teilgenommen hat, dürfen wir unbedenklich als historisch verbürgtes Faktum der Sokratesbiographie buchen Alles andere ist Literatur und also historischer Wahrheitsfindung verschlossen: Man kann davon glauben oder nicht glauben, was man will.
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P. von Mollendorff, Grundlagen einer Ästhetik der Komödiet Tubingen 1995, S, 110-266.
MALCOLM DAVIES The Three Electras: Strauss, Hofmannsthal, Sophocles, and the Tragic Vision"" I have given my article the above title partly to distinguish it more clearly from the most substantial treatment so far in English1 of its theme, partly to emphasise my conviction that it is the combination of Hofmannsthars words and Strauss's music2 that creates the twentieth * This article aims to complement and continue (rather than reduplicate or replace) the earlier contribution by Lloyd-Jones mentioned below (n 1), to whose lucid summaries of the action of Aeschylus* LibationBearers (from the Orcsteian trilogy) and of Sophocles' as well as Hofmannsthal's Elektra the reader requiring such orientation is referred In what follows, passages from Hofmannsthal are generally taken from the new edition (Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe) Elektra is printed in volume VII. Dramen 5, pp. 61 ff (play) and 111 ff (libretto), ed Mathias Mayer The English translation of the libretto to Strauss's opera is that produced by G M. Holland and K Chalmers for the notable Decca recording, while the translation of Hofmannsthal's original drama (i e those few portions I have quoted from those parts of the text that Strauss eliminated) is that of Alfred Schwarz in Michael Hamburger; Selected Plays and Libretti of Hugo von Hofmannsthal (London 1963). Translations from the Electra and other plays of Sophocles are taken from the new Loeb text by Lloyd-Jones (2 vols, 1994). The useful introduction to Hamburger's volume (mentioned above and reprinted in Hofmannsthal Three Essays (Princeton 1972)) and the studies by Lloyd-Jones (note 1 below) and Gilliam (note 2 below) are mentioned by author's name alone below I do not attempt a complete bibliography, further references may be found in the notes of articles mentioned below. 1 H Lloyd-Jones, «The Two Electras Hofmannsthal's Elektra as a Goethean drama,» Publications of the English Goethe Society 59 (1989) 16 ff. = Greek m a Cold Climate (1991) 155 ff In p. 18 n. 9 = p 157 n 8 the author modestly defines his article as «little more than an attempt to remind students of Hofmannsthal» of the earlier contnbution by H,-J Newiger, «Hofmannsthal's Elektra und die griechische Tragödie,» Arcadia 4 (1969) 138 ff. 2 For the fullest musical analysis of the Strauss-Hoffmannsthal opera see Bryan Gilliam, Richard Strauss's Elektra (Oxford 1991) Note also the Cambridge opera handbook (ed. D Puffett, 1989). Of this book's various contributors, it is Karen Forsyth in Chapter 2 («Hofmannsthal's Elektra'. from Sophocles to Strauss » pp 17-32) who provides material most relevant to the present article She has perceptive comments on both Sophocles and Hofmannsthal Her main defect is failure to take into account (cf. LloydJones as quoted in the previous note) the article by Newiger mentioned above This apart, I agree with her observation (p 20) that too «few critics have actually troubled to read and compare Hofmannsthal with the Greek sources,» and hope that the present enterprise, following on Lloyd-Jones' treatment, will remedy the situation Michael Ewans, «Elektra. Sophokles, von Hofmannsthal, Strauss,» Ramtts 13 (1984) 135-54, cited by Forsyth, though not by Lloyd-Jones, does move some way m the right direction. But although he is right to stress (e.g. p. 142 f ) that Hofmannsthal's treatment was much closer to Sophocles than is usually recognised, I feel he is wrong to detect in Sophocles' treatment (and Strauss', for that matter see n. 19 below) a «sexual obsession with her father» on Electra's part (p 145), or to talk (pp. 146 ff.) of «sadism» in the temporary deceptions of Electra by Orestes (see p. 44), and of Aegisthus by the same hero Similarly, his view (p. 151) that Sophocles' Electra is «corrupted, by her desire for vengeance, to a level of savagery» equivalent to that of Aegisthus and Clytemnestra, and that she «deteriorates (like Euripides' Hecuba) into a raging and savage avenger by the end of the recognition scene» (p 148) takes in a wrong and crude direction the undeniably ferocious aspects of Elcctra's character. (Euripides' Hecuba should be cited in terms of contrast, not comparison.)
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century's best reconstitution of Greek tragedy's emotional impact, «not merely the ability to move, but an actual shattering of the emotions, the Tragic shattering, which also bears within itself the possibility of exaltation.»3 And it is this unique twentieth century collaboration with Sophocles, I feel, which makes the significant difference. After all, Strauss and Hofmannsthal were to produce together other works exploiting Greek myth (Ariadne on Naxos, Helen m Egypt) but never again with the same impact or force as here. Of course one should not exaggerate the influence of Sophocles. Some details of the Strauss-Hofmannsthal treatment do, after all, seem blatantly, almost aggressively, «modern.» This is nowhere more provocatively the case than in the scene where, Orestes' death having been falsely reported, Electra (to quote Gilliam4) «tries to seduce Chrysothemis into taking part in the murders ... The most sensual language of the play is contained in this quasiincestuous scene, as Electra flatters her sister with words praising her beauty and strength.» In the last decade of the twentieth century, Channel Four's soap opera Brookstde on British television has employed first the motif of lesbianism and then that of incest to keep its audience; but it was Strauss and Hofmannsthal in the first decade who put a scene of wouldbe lesbian incest on the stage. It cannot be denied that the effect as such is deeply unSophoclean. But neither can it be denied that the scene has at least its roots in the equivalent scene of Sophocles' Electra. There the heroine tells her sister (w. 951 ff.) that so long as Orestes was known to be living all her hopes reposed upon him: But now that he is no more, I look to you, not to be afraid to kill with me your sister the author of our father's murder, Aegisthus ... To what hope that still stands upright can you look? You can lament at being cheated of the possession of your father's wealth, and you can grieve at growing older to this point in time without a wedding and without a marriage. And think no longer that you will ever get these things. Aegisthus is not so stupid a man as to allow your children or mine to come into being, bringing obvious trouble for
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The (translated) words of Wolfgang Schadewaldt, «Richard Wagner und die Griechen,» Hellas und Hespenen 2 (Zürich/Stuttgart 1970) (a reprinting of articles originally published in the programmes of the Bayreuth festival) p. 405 It is important to observe (a) that Schadewaldt is here comparing the effect of Greek tragedy with that of Wagner's music-dramas (for the influence of Wagner's music upon Strauss's Electra see Gilliam's Index s v. «Wagner»); (b) that Schadewaldt thought that, of the three great Attic tragedians, the one most fully embodying his definition of Greek tragedy's impact was Sophocles (see his study of Sophokles und das Leid (below n. 14)). Classicists may be gratified to note in passing what one of his grandsons said of Strauss's general attitude to the humanities. «A cultivated European must know Latin and Greek, or else he's not a fully qualified human being, he must read philosophy, he must have Goethe on his bedside table, Herder, Wieland, Homer and Sophocles in the original; he must study, get a good education, concentrate, not waste time.» (The younger Richard Strauss ap Kurt Wilhelm, Richard Strauss Persönlich (Munich 1984) p. 197 ^ Richard Strauss, an Intimate Portrait (London 1989) p 197) P. 41. Compare Robertson's description («. The Heroine's Failure in HofmannsthaTs Elektra,» Orbis Litterarum 41 (1986) 321) of the equivalent scene in Hofmannsthal's original play: Electra «fondles and embraces her sister ... and promises, in sensuous, almost voyeuristic language, to prepare her for her wedding night.» The effect Hofmannsthal's elimination of the chorus has on scenes such as this is well conveyed by Forsyth (as cited above n. 2)· «the chorus is .. the institution of rational dialogue, ensuring at least a level of rational contact between the protagonists.» Compare Ewans (as cited above n. 2) p. 144 on the way in which Hofmannsthal «rejects the delight m words» of Sophocles' Electra, and, indeed, much 5th century Attic literature (cf. his p. 153 n. 42 on the «anti-rhetorical style» of Hofmannsthal's play). Cf. Sämtliche Werke VII: Dramen 5 p. 368.
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Malcolm Davies himself. But if you fall in with my counsels... you will obtain a worthy marriage; for what is excellent draws the eyes of all.
The prospect of marriage here held out to Chrysothemis is the reason, or at least the excuse, for Electra's appeal to her sister in HofmannsthaPs treatment. The Greek tragedian's characters express themselves in a more obviously structured and rational manner: it is typical, for example, that Chrysothemis rejects Electra's proposal in a formal speech initially addressed to the chorus and only turning directly to her sister in its fourth line (w. 992 ff.: «Before giving tongue, women, she would have preserved caution, if she had good sense, but she does not preserve it! Why, with what aim in view, do you arm yourself with such rashness and call on me to second you>» etc). Compare this with what Gilliam calls4 «one large monologue for Electra with short outbursts by Chrysothemis» (such as «lass mich!» or «Ich kann nicht!») in the scene which Strauss has cut down from Hofmannsthal's original text But the contrast in formality of presentation is largely to be explained in terms of HofmannsthaPs elimination of the chorus The Sophoclean Chrysothemis and Electra converse semi-pubhcally in the presence (and hearing) of a chorus of local young girls (see below p. 45) The encounter of the equivalent figures in the Strauss-Hofmannsthal version is inevitably more intimate and less formalised. The theme of marriage is resumed negatively in this latter version at a point within die recognition scene between Electra and Orestes, and in a manner which has no parallel in the Sophoclean original. Electra tells her brother that, for her father's sake, she has had to sacrifice all her natural feelings: «the dead are jealous; and he [i.e. Agamemnon] sent me hate, hollow-eyed hate, as a bridegroom. So I became a prophetess evermore, and have brought forth nothing out of myself and my body except curses and despair.» There is nothing directly comparable to this devastating passage in Sophocles' play. But we should remember that he and his audience will have been familiar with an artificial but effective etymologising of the name Elektra as älektra (beginning with the privative Greek alpha familiar from words such as apathy or atypical) i.e. the «w-marned girl.5 We should also note that, in a famous passage from Antigone, the Sophoclean heroine who most closely resembles Electra complains, as she is led off to her death, «I shall be the bride of Acheron» (v. 816), in effect the god of death.6
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The etymology is attributed to a little-known lyric poet called Xanthus, who lived before the three Attic tragedians (see fragment 700 m D L Page's Poetae Mehci Graeci (Oxford 1962)). None of his works have survived The motif is adapted by Euripides m his Electra, where the heroine occupies an uneasy grey area between the states of marriage and non-marriage she has been given for a husband (in order to reduce her potential danger value) a poor farmer living in a hovel. He, however, nobly refuses to sleep with her, so that she is still a virgin (v 43 f.). Perhaps this was the inspiration for Chrysothenus' contrasting wish m Strauss and Hofmannsthal's treatment that she could have a child even if its father were a peasant («Kinder will ich haben, bevor mein Leib verwelkt, /und war's ein Bauer, dem sie mich geben, /Kinder will ich ihm gebaren und mit meinem Leib /sie warmen in kalten Nachten, /wenn der Sturm die Hütte zusammenschuttelt1»). But Hofmannsthal may not have known Euripides' play see n 33 below The Antigone may be relevant for an understanding of Strauss and Hofmannsthal's treatment in another way The issue of marriage and children m their version is a way of distinguishing the normal' Chrysothemis from the heroic, intransigent Elccfra, who has sacrificed such bourgeois concerns for vengeance's sake (sec below n 54) That aspect of the contrast does not appear in Sophocles' original (where Electra's appeal to Chrysothemis' continued unmarried existence is part of * formalised rhetorical persuasion) At v 572 of Antigone, however, the heroine's sister Ismene reveals her position by showing an every-
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I The critical reception of Hofmarmsthal's play has been summarised and analysed by Hugh Lloyd-Jones, that of Strauss' opera by Bryan Gilliam.7 Among much in the way of adverse comments perhaps the most striking and repeated refrain is that Sophocles' original had been grievously perverted and distorted. To quote but one example, Ernest Newman, writing in the year of the opera's British premiere (1910), expressed himself in the following terms:8 If it were not for this strain of coarseness and thoughtlessness in him, [Strauss] would never have taken up so crude a perversion of the old Greek story as that of Hugo von Hofmannsthal... To make a play a study of human madness, and then to lay such excessive stress upon the merely physical concomitants of madness, is to ask us to tune our notions of dramatic terror and horror down to too low a pitch. A few weeks later he returned to this theme, finding in the opera «a most unpleasant specimen of that crudity and physical violence that a certain school of modern German artists mistakes for intellectual and emotional power. In setting this violence to music, Strauss tries to outHerod Herod.» And some time later he still professed to discover «a good deal that is crude and melodramatic in von Hofmannsthal's play. He is not content, for example, with having Aegisthus slaughtered at one window, but must needs have the poor man chased to another window and the agony prolonged there — for all the world, as one American critic puts it, like a bullock in a Chicago stock-yard.»9
day, non-heroic concern for marriage and the continuities of life to which the remorseless Antigone is completely indifferent see my remarks in Prometheus 12 (1986) 19 ff (where I also discuss the general Sophoclean use of «foil-figures» like Ismene) 7 Pp. 16-17 = 155-7 (Lloyd-Jones) and pp 6 ff. (Gilliam). Cf Sämtliche Werke VII. Dramen 5p 310 n 18, pp. 381 ff. An amusingly extreme after-echo of these original controversies comes from W N Bates, Sophocles Poet and Dramatist (New York 1940) p. 133 «The shrieking mad woman of Strauss has nothing in common with the heroine of Sophocles.» This is not so very different from, e g, J L Styan, Max Reinhardt (Cambridge 1982) p 26. «Sophocles' controlled and dignified heroine, in [the first production of Hofmannsthal's play] became a woman consumed by the passions of a pnma donna« (cf n 14 below for an uncontrolled and undignified aspect of Sophocles' Electra) In Hofmannsthars first scene, the absent Electra is admittedly said (by the distinctly unsympathetic maids) to groan, shriek, scream, howl (and spit like a cat) Her Sophoclean equivalent is not so described. But Sophocles' Heracles (in Women of Trachis) and his Philoctetes do, under pressure of physical anguish, groan, roar and utter animal-like sounds, all on stage (cf. n. 42) * Newman's critique (together with the delightful «yell of remonstrance» which it provoked from G B Shaw) may most conveniently be consulted in volume iii of the Bodley Head Bernard Shaw, Shaw's Music, pp. 594 ff The first quotation in the text above is from 597, the second from 611, the third from 615 L 9 The scene thus contradicts the ban in Greek tragedy upon showing murder on stage, a ban epitomised by Horace's famous injunction ne pueros coram populo Medea truadet (from Ars Poetica, v. 185): see C. O. Brink's commentary ad loc. (Horace on Poetry: the Ars Poetica (Cambridge 1971) p. 244 f). It is sinking (though Newman could not have known this) that while Strauss was well into work on the opera, Hofmannsthal actually suggested the elimination of Aegisthus' role. It was Strauss (in his reply 22nd December 1907) who thought differently «we can't leave out Aegisthus altogether. He is definitely part of the plot and must be killed with the rest, preferably before the eyes of the audience » See Sämtliche Werke VII: Dramen 5 p 430 = Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal Briefwechsel (ed Willi Schuh) p 33 =* The Correspondence between Richard Strauss and Hugo von Hofmannsthal p 12 Of the three Attic tragedians, Euripides alone dispensed with Aegisthus' direct presence
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There is certainly much that is perverse about Newman's critique (he prophesied,10 it will be remembered, only «a few short years of life for» the opera) but he is not untypical of critical reaction in his assumption that the Greek original has-been sadly traduced. No written criticism, however, can match, in the vigour and simplicity of its viewpoint, the famous cartoon which showed Strauss and Hofmannsthal doing to the hapless Sophocles what they themselves had just represented Orestes and his tutor as doing to Aegisthus (see p. 65). This wide-spread view has, in fact, far less basis in the actual surviving works of Sophocles than one might initially suspect. Rather, it seems to rely ultimately on the second-hand, idealised, picture of the perfectly-balanced «classical» Sophocles that received its most famous English encapsulation in Matthew Arnold's once famous sonnet: whose even-balanced soul, From first youth tested up to extreme old age, Business could not make dull, nor passion wild; Who saw life steadily, and saw it whole; The mellow glory of the Attic stage, Singer of sweet Colonus, and its child. These plaster-of-pans banalities actually derive not from the original texts of Sophocles' dramas but from the ancient (and distinctly unreliable) biographical tradition about Sophocles, which consistently represents him as possessing an irresistibly charming and admirable personal character. Since this tradition is, at least in part, an artificial and schematic construct designed to contrast him with his contemporary (but far less successful) tragic rival Euripides - who, by a similar schematism is portrayed as an unsociable misanthrope it must be treated with extreme caution. If we turn instead to an examination of those relatively few (seven) actual plays by Sophocles that have survived, we may be surprised to find a greater interest in what Newman calls «physical violence» than we might have expected. For instance, the Women of Trachis, probably one of the earliest of the surviving Sophoclean tragedies, brings on stage in its final scene the great Greek hero Heracles, his body ravaged by the effects of the famous poisoned robe of Nessus. No detail is spared of the physical effects of the poison as Heracles, maddened with pain, raves in delirium, demanding that the wife who sent him this deadly shirt (and who, unbeknown to Heracles, has since killed herself in remorse) be placed in his hands for instant revenge.12 10 11
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P 600. For his later recantation see Gilliam p 16 f. For the biographical tradition of the charming, refined (and pious) Sophocles (what W S Ferguson, Harvard Theological Review 37 (1944) 90, summed up as «the idol of the Athenians ... a genial, serene, dignified greybeard,»), see, for instance Mary Lefkowitz, Lives of the Greek Poets (London 1981) p 79 if For the artificial and schematic contrast with Euripides see P. T. Stevens, Journal of Hellenic Studies 56 (1956) 89. These considerations are overlooked by Ewans (as cited n. 2 above) p. 141, who consequently oversimplifies the issue when he derives the «idealisation» of Sophocles entirely from Aristophanes* Frogs (esp v. 82) and Aristotle's Poetics. Cf. R G A Buxton, Sophocles (Greece and Rome New Surveys m the Classics 16 (1984)) p. 32, on how, in the late twentieth century, «we seem now to be more receptive to. the violent emotions which lurk beneath and sometimes burst out from this work,» with its «uneasy tension between the barbarous and the. * civilised, the wild outside and the sheltered inside.» Interestingly enough, just as the critical views of August Wilhelm Schlegel (see n 13) impeded until quite recently a proper understanding of Sophocles' Electra, so they made an understanding of the Women ofTrachis more difficult: see the Introduction to my commentary on this work (Oxford 1991) ñ, ÷íý.
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In the probably later, and certainly more famous, Oedipus Tyrannus, a messenger speech relates in detail Oedipus' act of self-blinding (the sequel to his discovering that he has killed his father and married his mother). Immediately afterwards, the self-mutilated Oedipus himself appears on stage, all but shattered by his physical and emotional sufferings. Or again, the late drama called Philoctetes (first produced in 409 B.C.) tells the story of the Greek hero of that name who has been bitten in the foot by a poisonous snake and been abandoned on a deserted island. The stench and suppuration from his wound are vividly described in the text. Half-way through the play, Philoctetes is struck down on stage in full view of the audience by a fresh spasm of pain and his cries of physical agony leave little to the imagination. Though we only possess seven extant tragedies by Sophocles, it nevertheless seems unlikely that the Electra would be an exception to this general trend. The main reason why a view of this play incompatible with Hofmannsthars approach prevailed at the start of the twentieth century was the highly influential (and highly idealising) interpretation offered by August Wilhelm Schlegel, the character of which is aptly conveyed by the following extract: What more especially characterizes the tragedy of Sophocles, is the heavenly serenity beside a subject so terrific, the fresh air of life and youth which breathes through the whole. The bright divinity of Apollo, who enjoined the deed, seems to shed his influence over it; even the break of day, in the opening scene, is significant. The grave and the world of shadows, are kept in the background ... The disposition to avoid everything dark and ominous, is remarkable even in the very first speech of Orestes, where he says he feels no concern at being thought dead, so long as he knows himself to be alive, and in the full enjoyment of health and strength. While this verdict13 (which has been epigrammatically boiled down to a view of the work as a «mixture of matricide and good spirits») was the prevalent view of the play, it is hardly surprising that HofmannsthaFs, and then Strauss and Hofmannsthars, treatments seemed a crude and violent betrayal of a beautiful and poised original. But, in fact, SchlegePs idealisation is no more acceptable than any of the others outlined above. It is perfectly clear that it too derives from the ancient biographical tradition (note, for instance, his own remarks on the life and character of Sophocles: «beauty of person and of mind, and the uninterrupted enjoyment of both in the utmost perfection, to the extreme term of human existence ... the sweet bloom of youth, and the ripe fruit of age» etc.) and that it too, in full keeping with this derivation, is designed to form a contrasting foil to the artistic personality of Euripides, whom Schlegel had little time for. («The Electra is perhaps the very worst of Euripides' pieces ... But what compelled him ... to write an Electra at all?») Recent decades have seen a waning of the Schlegel-inspired view of the play as one in which Orestes' killing of his 13
Quoted from «A Course of Lectures on Dramatic Art and Literature by A. W. Schlegel» (translated by John Black, London 1846) p. 132 (for the original German Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur see the critical edition by G, V. Amoretti (Bonn and Leipzig 1923)), part of a comparison between the Libation-Bearers of Aeschylus and the Electras of Sophocles and Euripides. Note the (unacceptable) comment of A. J. A Waldock, Sophocles the Dramatist (Cambridge 1951) p. 174 n. 1. «
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mother is thrust very much into the background and his pursuit by the Erinyes or Furies therefore «omitted.» If «the disposition to avoid everything dark and ominous is remarkable,» that is seen as truer of Schlegel's interpretation and its followers than of Sophocles' actual treatment. In its place we find a greater readiness14 to grasp the play's tragic dilemmas and the formidable aspects of Electra's (and Clytemnestra's) characters. Hofmannsthal*s general tragic vision in Electro, is therefore a good deal closer to Sophocles than its original critics were prepared to concede. In his «Szenische Vorschriften zu Elektra» of 1903, the poet specifically warned against «antikisierende Banalitäten» and «falsches Antikisieren» m matters of staging and costume respectively,15 and we must be on our guard against allowing similar false banalities concerning a perfectly-balanced and impossibly ideal Sophocles to conceal the fact that in other areas too Hofmannsthal and Strauss came close to the Sophoclean original. Let us consider first the question of dramatic structure
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Gilliam16 well stresses the dramatic economy of HofmannsthaTs adaptation: «the play is remarkably concise; its concentration of action and structural clarity ... make for a powerful stage work.» Concision is one of the traits generally (and rightly) supposed to distinguish Greek tragedy from e.g the Shakespearian variety17 or many modern examples of tragedy. 14
See in particular the remarks of Newiger (pp 144 ff.) and of Lloyd-Jones (p 26 f. = p 164 f. with literature) An intelligent attempt to reconcile the biographical tradition of a blithe and pious Sophocles with the grim, indeed shattering intensity of the actual seven surviving plays was made by Wolfgang Schadewaldt in Sophocles und das Leid (Potsdamer Vorhage 4 (1947) = Hellas und Hespenen 1. 385 f f ) We should be careful to keep the right balance in estimating Electra's character. Robertson (cited m n. 4 above) p 319 thinks it «gratuitously savage» of her «not to be content with Aegisthus* death but to demand that his corpse should be treated with contempt» (w 1487 if.) The original audience may have been more tolerant of the consequences of revenge, see, for instance, G W Bond's commentary (Oxford 1933) on Euripides' Heracles 562-82, 571 and 604 f, and D. Hester, Antichthon 15 (1981) 23 (cf. ib 7 (1973) p 12 n 12) But the problem is a complex one (contrast eg G. H. Gellie, Sophocles A Reading (Melbourne 1972) p 128 («Greek sensitivities about burial would find it ugly») and n 25, Ewans (cited m n. 2 above) p. 147) 15 See Sämtliche Werke VII Dramen 5 pp. 379 and 381 Hofmannsthal himself (Aufzeichnungen und Tagebucher aus dem Nachlass (m. Aufzeich?iungenf ed Steiner, p 131)) observed that he always wished his Electra to be totally different from Goethe's adaptation of a Greek tragedy, Iphigenia, whose own author confessed that it was «damnably human» («verteufelt human») Various names have been invoked as responsible for Hofmannsthal's escape from earlier, excessively idealised, views of Greek literature and culture· Hermann Bahr (Briefe der Freundschaft (1953) 50 f = Hofmannsthal, Briefe (ed Steiner 2 168 f ) mentions Nietzsche, with Jacob Burckhardt (who published their Briefwechsel in 1957 (S. Fischer Verlag)); Hamburger p xxxv = p. 7 adds Bachofen and Erwin Rohde For Nietzsche sec further Ewans (cited above n 2) p 139 f , Lorna Martens (cited below, n. 31) p 47; cf in general H Jürgen Meyer-Wendt, Der frühe Hofmannsthal und die Gedankenwelt Nietzsches (Heidelberg 1973) For Rohde cf. Robertson (as cited tn n 4) pp. 312 f and pp 315 f Cf. Ekkehard Stark, Hermann Nitschs Orgien Mysterien Theater> und die «Hysterie der Griechen». Quellen und Traditionen im Wiener Antikebild seit 1900, Munich 1987, Index s. v. Hofmannsthal » 16 P 24 Cf pp 26 f , 35 f. 17 The difference is epigramatically summed-up by Eduard Fraenkel (see Due Semmari Romani di Ed. Fraenkel (Sussidi Eruditi 28 (Rome 1977) p 31)). «our taste is formed on Shakespeare, where there aie many characters and much movement. Greek art is one of essentials, and it eliminates anything that docs not contribute to the dramatic conflict» (my translation of the original Italian)
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But there is a complication in the case of Sophocles: the three latest extant dramas (Electra, Pbiloctetes, Oedipus at Colonus) are, in at least one sense, generally less economic than their four predecessors. A crude line-count is not altogether misleading: A)ax 1420, Women of Trachis 1278, Antigone 1353, Oedipus Tyrannus 1530; as opposed to Electra 1510, Philoctetes 1471, Oedipus at Colonus 1779. In certain parts of his later plays, indeed, Sophocles sometimes seems to be using length for emphasis: the sufferings and endurance of his mam characters are brought out by long lyric scenes of lament shared between the chorus and the actor, which do not strictly advance the action but rather reprise earlier themes and seem designed to prevent any superficial verdict that the plays have a «happy ending» merely because they do not conclude with the death of the central figure. Thus in the case of Electra, the heroine's lengthy lament over what she wrongly assumes to be an urn containing her brother Orestes' ashes serves this purpose, as, in his play, does Philoctetes' lament at seemingly being abandoned, once more, this time for ever, on his desert isle. HofmannsthaPs approach was different, and, as Gilliam observes,18 Strauss «sought to make» his already taut drama «even more concise with some cuts of his own» (amounting to approximately one third of the text).19 HofmannsthaPs play fell into seven symmetrically balanced episodes:20 1. 2. 3. 4. 5. 6 7
Introduction: serving-maids' conversation Electra *s monologue Electra - Chrysothemis dialogue Electra - Clytemnestra dialogue (Cook - Servants scene) Electra - Chrysothemis dialogue Recognition scene between Electra and Orestes (Electra - Aegisthus dialogue) Final scene. Electra's triumph and dance of death.
In Sophocles' Electra, the play opens with a long speech addressed to Orestes by his paedagogas or tutor, which sets the scene and reminds Orestes of his duty. At w. 660 ff. the paedagogus will re-enter and deliver the false news of Orestes' death, professing to confirm the fact in a speech so lengthy, detailed and convincing (680 ff.), that more than one
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P. 35. HofmannsthaPs original drama was approximately the length of Sophocles* Electra (just over 1500 lines)· after Strauss's cuts (and additions) the libretto reaches c. 825 lines For details of these cuts see Chapter 2 of Gilliam's monograph («From Play to Libretto»), pp. 18-48. Strauss also required a few additional passages, from Hofmannsthal for purely musical reasons. These «Texterweiterungen im Opernbuch» are clearly laid out m Sämtliche Werke Vll· Dramen 5 pp. 347 ff.; cf. Newiger (cited above n. 1) pp. 157 ff. Interestingly, the cuts sometimes have the (doubtless unintended) effect of rendering the text more «Sophoclean,» by omitting some of the more self-consciously «modern» aspects. Gilliam (p. 41) has observed, for instance, Strauss's elimination of many sexual elements and images (on which cf. Robertson (as cited in n. 4) pp. 319 ff.) And the cutting down of the first scene between Electra and Chrysothemis by about 50 per cent (GilJiam p. 37) and the second by about 20 (Gilliam p. 40) largely restores to Chrysothemis her purely secondary status as a «foil figure» (see above n. 6) intended to illuminate by contrast the central heroism of her sister, instead of the more independent and autonomous figure Hofmannsthal may have intended (see below p.56). For a more detailed breakdown of the seven scenes' contents see Gilliam p. 75 f. The similarity of this schema to that of Sophocles* play is diagrammatically illustrated by Ewans (as cited in n 2) p. 138.
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scholar21 has concluded (implausibly to my mind) that the audience must be temporarily persuaded of its truth, in spite of the evidence of their own eyes at the play's beginning. Finally, after the recognition scene between Electra and her brother, thcfaedagogus enters for a third time to cut short their untimely loquacity and hurry them into action (1326 if.). The authoritative, if not imperious, language he uses on this last occasion («You utter fools, you senseless people, do you take no heed any longer for your lives, or have you no inborn sense, that you fail to see that you are not merely close to but are in the midst of the greatest dangers» etc.) is a powerful reminder that, although he is technically a slave, this old man is an impressive figure, crucial for the success of the plot against Clytemnestra and Aegisthus His entire role, however, is compressed by Hofmannsthal into barely more than five lines, which convey the import of his third and final appearance in Sophocles («Are you out of your minds, not to restrain your speech when a breath, a sound, a mere nothing can destroy us and our work? She [i e. Clytemnestra] is waiting inside, her maids are looking for you. There is not a man in the house, Orestes!» This last sentence is equivalent to 1368 f. of Sophocles' play: «Now is the time to act: now Clytemnestra is alone, now none of the men is inside»). As we have just seen, Sophocles begins the drama with Orestes and his old slave on stage before Electra has appeared. Aeschylus in his Libation-Bearers had already done something comparable, with more obvious justification, since this play is the second of a connected trilogy dealing with the successive suffenngs, generation by generation, of the house of Agamemnon, and the poet is more interested in Orestes' role (both as avenger and next victim in the chain of suffering) than he is in Electra (a merely secondary figure in his treatment) In having Orestes on stage at the start, Sophocles is not merely paying homage to Aeschylus, or emphasising some of the differences in his own treatment (for instance, in Aeschylus the brother remains to eavesdrop on his sister's lamentation, whereas in Sophocles a greater sense of urgency impels Orestes to leave the stage before Electra enters). He is also setting up the opportunity for a number of profoundly ironic effects later on in the play, effects that include uiepaedagogiis' lying speech on Orestes' death and Electra's lament over the urn supposedly containing her brother's ashes. In strongest conceivable contrast, Hofmannsthal elected to delay Orestes' entry until the latest possible moment. (We know, indeed, from a letter he wrote to a friend on 6th October 190422 that he even contemplated the total omission of Orestes, or at least conceded that his version of the drama might have been purer without that figure). Yet even here, Hofmannsthal's changes have the effect of taking further a process already begun by Sophocles. As was implied above, Sophocles was more concerned with the character of Electra than Aeschylus had been, and without Orestes as a competing centre for its interests, the audience is able to concentrate on the heroine still more completely. Indeed, if they do not know their Greek tragedy, until the recognition scene they may be as convinced as Strauss and Hofmannsthal's Electra that Orestes really is dead. 21
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E.g. Tycho von Wilamowitz, Die dramatische Technik des Sophocles (Berlin 1917) p. 191 Cf Lloyd-Jones, p 23 = p 161* «listening to this, it is hard even for an audience that has seen this man in the company of Orestes not to be carried away and for the moment to believe it» Against see, e.g. A. J. A. Waldock, Sophocles the Dramatist (Cambridge 1951) p. 184. Sämtliche Werke VII, Dramen 5 p. 403 = Hugo von Hofmannsthal· Briefe 1900-09 (Vienna 1937) p 170 (the letter is to Eberhard Freiherrn von Bodenhausen-Degener) = H. v. H -Eberhard von Bodenhausen, Briefe der Freundschaft, Cologne 1953, p 51.
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There is a further point. Perhaps the most significant feature of Sophoclean heroes (and Sophoclean heroines like Antigone and Electra) is their isolation, their solitariness and alienation from society. In Electra, Sophocles mitigates this standard feature to a degree by his choice of chorus: young women, like Electra herself, they are able to console and advise her (note, for instance, their tone at w. 233-5: «I speak as a well-wisher, like a mother in whom you can have trust»). Their support, together with the play's opening reminder that Orestes is not only still alive but has already returned to his native land and is actively pursuing the revenge that his sister yearns for, ensures that Electra does not appear quite so isolated and abandoned in her struggle as, for instance, Antigone. Now Hofmannsthal, as is well known, eliminated the chorus, or rather replaced them by a vestigial quintet of serving-maids, fourfifths of whom, as appears from the first scene, are extremely unsympathetic and hostile to Electra. This, as well as the drastically postponed entry of Orestes, exacerbates the isolation of his heroine. No wonder that her very first words are «Allein! Weh, ganz allein,» a phrase opening HofmannsthaPs episode 2, which is symmetrically picked up by «Nun denn, allein!» at the start of episode 6. Following the latter words, Electra, as HofmannsthaFs stage-direction puts it, «begins to dig by the wall of the palace, silently, like an animal, looking round from time to time.» She is searching for the axe, originally used to kill Agamemnon, which she had buried ready for Orestes to wield: as Chrysothemis has refused to collaborate with her sister, Electra intends to wield it on her own. There is no exact equivalent to this vivid scenic activity in Sophocles' play, but here too what initially seems a bold departure by Hofmannsthal again transpires to be a following-through of a motif Sophocles had already sketched out. For he also makes Electra, once she is convinced that her brother has been killed, try to persuade her weaker sister to join her in a murder attempt: «now that he [i.e. Orestes] is no more, I look to you, not to be afraid to kill with me your sister the author of our father's murder, Aegisthus» (w. 954-957). It is true that some classical scholars have been perplexed at this detail. Eduard Fraenkel, for instance,23 protested that «Sophocles gives no indication as to how the two of them could carry out this plan,» and others have thought Electra's suggestion unrealistic and impractical, or have noted its failure to reappear in the ensuing events. It is also striking that Electra implies but does not mention the murder of Clytemnestra when proposing to her sister the murder of Aegisthus. Recent scholars24 have dispelled most of these difficulties: for instance, since Electra is endeavouring to encourage the timid Chrysothemis into action, it would hardly be helpful for her case to add the prospect of matricide, inevitable though it might be if the death of Aegisthus were ever to be carried out. The proposal is obviously made in order to emphasise the extreme heroic determination of Electra, by showing that she can bring herself even to kill Aegisthus and her own mother, now that she believes Orestes is dead. Sophocles wishes to show her as capable of killing Aegisthus and her mother, even though the mythical tradition did not represent her as so doing, and has hit on a highly effective and economical way of conveying this point about Electra's character. When Hofmannsthal and Strauss have 23
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Quoted ap Lloyd-Jones, «Tycho von Wllamowitz-Moellendorf on the Dramatic Technique of Sophocles» in Classical Quarterly 22 (1972) p. 224 f.n. 3 = Academic Papers [1] p. 413 f. * Blood for the Ghosts p. 232 n. 36 Similar objections had already been raised by Tycho von Wilamowitz (as cited above in n. 21) pp. 195 ff. E.g. Holger Friis Johansen, Classica et Medtaevalia 25 (1964) 21 f., and Lloyd-Jones as cited in the preceding note.
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their heroine frankly and fearlessly confess to Chrysotherms the need for the death of Clytemnestra as well as Aegisthus («Nun müssen du und ich/hingehn und das Weib und ihren Mann/erschlagen»), they are again taking further an idea whose potentiality Sophocles had already sketched.
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Even in Sophocles' Electra, the encounter between Clytemnestra and her daughter has a climactic effect, one that is achieved in a way that is highly characteristic of this playwright. Classical scholars have come to talk in terms of the «Sophoclean doublet,»26 an apparently primitive, but actually most effective, dramatic technique, whereby two parallel scenes are juxtaposed (usually separated by a choral interlude), and the second scene is in the nature of a climax. So, for instance, in the Antigone the heroine has to defy Creon's edict by burying her brother's corpse on two successive occasions (the burial having been detected and undone in the intervening passage of time) and the second occasion is climactic because Antigone is discovered and arrested while repeating the act. So m Electra, the heroine undergoes two successive encounters with members of her family who are critical of her attitude. The first encounter, which involves the weaker sister Chrysotherms (w. 328 -471), ends with Electra easily triumphing and changing Chrysothemis* mind as to her course of action. But the second encounter (w. 516-659), with the far more formidable Clytemnestra, seems to reverse the situation, since it is followed by the paedagogus' report of Orestes' death and thus by Clytemnestra's apparent triumph. Hofmannsthal's economy and concision in dramatic structure achieves a comparable effect through different means. By the radical excisions and reductions considered above, he makes the scene of Electra's encounter with her mother quite literally central as well as climactic. As Gilliam27 says, «the scene is ... the keystone to Hofmannsthal's and Strauss's arch-like structure,» and «the steadily increasing dramatic intensity of this scene is without equal in the opera.» It is well-known that «Strauss himself decided to renumber rehearsal cues (i.e: reh. la, 2a, etc.) with scene 5,» a symbol of how strongly the composer too felt that «the end of scene 4 marks the turning point of the opera.»28 Among all the figures in Hofmannsthal's reworking of the Electra theme, it is Clytemnestra whom many scholars have found to be least indebted to the Sophoclean 25
The closest we get to this is m Euripides' Electra, where (at v, 1224 f ) Electra retrospectively admits to having «touched the sword» wielded by Orestes, as well as having urged him on. A parallel to the technique used in his Electra by Sophocles for conveying his central figure's heroic intransigence is afforded by the famous «double-ending» of the same playwright's Phtloctetes (another late play, significantly enough see above p 43) Here he sets himself a task analogous but potentially even more difficult to show that Philoctetes is capable, in his heroic self-will, of abandoning the Greek expedition and even his newlywon friend Neoptolemus, and refusing to set sail for Troy, when the unanimous voice of tradition insists, that he did sail to Troy and help in its sack In the case of this play it is only by the divine intervention of Heracles as deus ex macbma that the two apparently irreconcilable demands (of tradition and of characterisation) are reconciled and Philoctetes' capacity for going to extremes in his hatred of the enemies who left him on the desert island fully brought out. 26 See, for instance, my commentary on Sophocles' Trachintae (Oxford 1991) p 87 27 P 8 8 f . C f . p 77 28 Gilhamp.92
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original. So, to quote Gilliam again,29 «if any one character of Hofmannsthal's play best exemplifies the difference between the worlds of Sophocles and Hofmannsthal» it is surely her, «a decadent despot, covered with talismans, haunted by nightmares and hallucinations, and unable to come to terms with» her murder of Agamemnon. By contrast, he finds that «Clytemnestra's dream, in Sophocles' treatment, plays a comparatively minor role in the play. She neither wears talismans nor makes daily sacrifices to purge herself of nightmares. Sophocles' Clytemnestra feels justified in her action, which, after all, was to avenge the death of her first daughter, Iphigenia, by Agamemnon's hand - an element of the story missing in HofmannsthaPs version. Furthermore, Sophocles' Clytemnestra is a character not tormented by dreams of Orestes and was truly saddened by the news of his death. The hysterical, hollow-eyed Clytemnestra of HofmannsthaPs play, on the other hand, seems a fit subject for one of Freud's famous case studies.» On the whole, this is well said. One may, however, object to the statement tout court that Sophocles' Clytemnestra is truly «saddened by the news of» her son's death. For as Hugh Lloyd-Jones30 has observed, «as in Aeschylus [Libation-Bearers w. 707 ff.] Clytemnestra's reaction [at w. 766 ff. of Sophocles' play] is complicated. Shall she account this fortunate, she asks, or terrible but advantageous? It is painful if she preserves her life through disasters to herself... But when the tutor, like Orestes himself in the Libation-Bearers, wonders whether he has brought bad news after all, Clytemnestra is quick to reassure him; this son of hers distanced himself from her, and by the threats he offered made it impossible for her to sleep soundly.» This latter reference to w. 780 ff. of Sophocles' play («neither by night nor day would sweet sleep cover me, but from one moment to another I lived like one about to die») further reminds us that it may be a little misleading to state that for Sophocles Clytemnestra's dream «plays a comparatively minor role,» or that his queen «is not tormented by dreams of Orestes.» (The other reference to these dreams, implied by Gilliam, is at w. 645 ff., where Clytemnestra prays to Apollo «that if the visions in two dreams that I saw last night are favourable, they may be accomplished, but if they are inimical, send them back upon my enemies!»). It is rather that she is too proud to admit the devastating effect of these dreams before she believes that, Orestes being dead, their grim import will not in fact be fulfilled. This is a fine detail of characterisation. Clytemnestra's nightmare about Orestes certainly looms large at the start of Aeschylus' the Libation-Bearers (which Hofmannsthal knew: see Appendix One) and a two-line fragment from a narrative Oresteia by the preAeschylean lyric poet Stesichorus shows just how early (and deeply) this detail was embedded in the i>tory.31 29
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P. 30 Cf. Norman del Mar, Richard Strauss, a critical commentary on his life and works 1 (London 1962) p. 308: «there is nothing in the whole text (sic) of Greek literature to prepare one for Hofmannsthal's re-creation of the figure of Clytemnestra,» etc P. 23 = p. 161 f. Fn 219 of this poet in my Poetarum Melicorum Graecorum Fragmenta vol. 1 (Oxford 1991), p 211. In this, Clytemnestra dreams of a snake from which emerges either (the text is ambiguous) Agamemnon or Orestes. Aeschylus' Clytemnestra (Libation-Bearers w. 527 ff.) dreams she suckles a snake. Lorna Marten, «The Theme of the Repressed Memory in Hofmannsthal's Elektra,» German Quarterly 60 (1987) 43, as part of her thesis that in the figure of Clytemnestra «Hofmannsthal plainly wished to portray a hysteric,» observes that his Clytemnestra «hallucinates a snake» (v. 417) and adds that one of the «most persistent and dramatic hallucinations of Anna O.» («Breuer's and Freud's most dramatic patient») «was of a snake.» The failure here to adduce the relevant sources for Clytemnestra's snake in Greek literature, especially
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It is undeniably true that Sophocles' Clytemnestra does not wear talismans. LloydJones32 observes that «Hofmannsthal's description of Clytemnestra's appearance» (she is at first seen leaning on a confidante and on an ivory staff, her train carried by an Egyptian slave, her body bedecked with precious stones and amulets) «recalls Wilde's Herodias» in Salome. However, in the wider context of Greek tragedy's influence, it may be worth observing that when Clytemnestra appears in Euripides' Electra (w. 988 if.) she makes a «showy entrance in a carnage attended by Trojan slaves» which can be interpreted «as evidence of a desire for luxury, but with equal justification it can be defended as the acceptable pomp of royalty.»33 Electra herself in that play has already referred carpingly to Clytemnestra's addiction to luxury in the form of carriages and clothing (966) and at 1071 she mentions her mirrors and coiffure. Perhaps the most important divergence from the Sophoclean original, and one which crucially affects the encounter between Electra and her mother, is Hofmannsthal's elimination of any mention34 of Iphigenia, the daughter of Agamemnon and Clytemnestra whom the former was obliged to sacrifice at Aulis before the Greek expedition could set sail for Troy. Each of the three main Atüc tragedians exploits Clytemnestra's resentment at her daughter's death to motivate, at least in part, her murder of her husband. The greatest part of the Sophoclean Clytemnestra's self-defence to Electra is taken up by this theme (w. 530-48): Why, that father of yours, whom you are always lamenting, alone among the Greeks brought himself to sacrifice your sister to the gods, though he felt less pain when he begot her than I did when I bore her. So, explain this! For whose sake did he sacrifice her? Will you say for that of the Argives? But they had no right to kill her, who was mine. But if they killed her who was mine for his brother Menelaus, was he not to pay the penalty to me? Had not Menelaus two children, who ought to have died in preference to her, since it was for the sake of their father and mother that the voyage took place? Had Hades a desire to feast on my children rather than hers? Or did your accursed father feel sorrow for the
Tragedy, raises an important point of principle, especially since (see Newiger (as cited above n. 1) p 138 f ) much hostile criticism of Hofmannsthal's drama supposed that he had betrayed the spirit of Greek tragedy in favour of ideas imported from contemporary psychopathology But the crude antithesis «either Sophoclean or Freudian» can surely now be dispensed with I would accept the balanced formulation of Robertson (cited above n 4) p 315 Hofmannsthal's work is «an adaptation of a classical play in which the motives disclosed by Freud were woven into the text» (cf. p. 318 «adapting Sophocles in the light of Freud»), while bearing in mind the reminder of Forsyth (cited above n. 2) p. 20 that «the originality of the ideas current in Vienna at the turn of the century should not be overestimated, and few people were less likely to make this mistake than Hofmannsthal.» For a poised consideration of the extent to which Hofmannsthal's Electra or (much more plausibly) Clytemnestra were influenced by contemporary psychoanalytic theory cf Robertson pp 321 ff. and see further Bernd Urban, Hofmannsthal, Freud und die Psychoanalyse Quellenkundliche Untersuchungen (Frankfurt 1978) 32 P 2 8 = p 165 33 W G Arnott, Greece and Rome 28 (1981) 184 = Greek Tragedy (Greece and Rome Studies 2 (1993)) 209 . That Hofmannsthal was directly acquainted with Euripides' tragedy when he wrote his play seems unlikely see Newiger (as cited in n. 1) p. 140 f (but cf. his p. 152 n. 75). 34 Though note that in her futile attempt to guess the identity of the sacrificial victim required to end her dreams (see below 51) Hofmannsthal's Clytemnestra lists both a child and a virgin («em Kind? ein jungfräuliches Weib?») and this may have been inspired by the motif of Iphigenia Christopher Wintle, writing in Salome/Elektra Opera Guide 37 (London 1988) p 76 f. suggests that'£/ecfr
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children of Menelaus, but none for mine? Is that not like a father who was foolish and lacked judgement? She who dies would say so, if she could acquire a voice. The reason Sophocles thus allows Clytemnestra to appeal to the killing of Iphigenia was not because he wanted to give her an irrefutable case. Electra in her reply rejects much of her mother's argumentation (w. 563-83: it was the goddess Artemis who commanded an unwilling Agamemnon to sacrifice his daughter; and even if the action was done for Menelaus' sake, the principle of a life for a life will have damaging repercussions for Clytemnestra herself). But he did want to give her a case, a case which requires some sort of response, rather than presenting an over-simplified schema with Electra manifestly in the right, and her mother manifestly in the wrong. The preference for a morally «grey» area over black and white simplifications is characteristic of Sophoclean (some would say Greek) tragedy. It is most notably exemplified by Antigone: Hegel went too far35 when he suggested that this play represents the conflict of two equally justified and justifiable positions; but Creon is given a sufficiently strong case, and Antigone is represented as sufficiently fallible in her extremes of emotion, for the dramatic conflict between the two to be complex, unpredictable, and therefore interesting. Likewise in the Ajax, the debate over whether the titular hero deserves normal burial is not treated one-sidedly. He was indeed a great hero, but he behaved extremely, and in particular his assault on the joint leaders of his own army was criminal folly, however unattractive the personalities of those two leaders are shown to be. Why Hofmannsthal rejected this more complex presentation of opposed sides it is not altogether easy to say. Perhaps one should assimilate this issue with that move towards concentration and economy in matters of dramatic structure which we considered above (p. 43). Certainly the simplified presentation was a gift to Strauss the composer, who would not have welcomed the complications of an «Iphigenia motif» in addition to (and competition with) the «Agamemnon motif.» And, more importantly, a «grey» or balanced presentation of moral issues does not fit musical so well as spoken drama: for the former, strong and clearly defined and distinguished personalities are demanded and Strauss (as Gilliam remarks) was clearly «fascinated by Clytemnestra and composed some of the most complex music of the score for this scene» between mother and daughter.36 Complexities ironed out from one level re-enter on another, then.
IV
The climax of the encounter between mother and daughter exhibits a devastating example of dramatic irony, which will handily take us on to our next topic. Although all three Attic 35 36
Sec, for instance, George Steiner, Antigones (Oxford 1984) pp. 27-42 and Index of Proper Names s v. «Hegel... and Sophocles* Antigone.» P. 30. Lorna Martens (cited above n. 51) claims that «the interdependence of the Electra and Clytemnestra figures» in HofmannsthaTs treatment is «not present in the Greek source» (p 42) But Lloyd-Jones rightly notes (p. 23 = p. 161) that «the resemblance between mother and daughter, something that was not lost on Hofmannsthal, is clearly brought out» by Sophocles Robertson (as cited in n. 4 above) pp. 324 ff. suggests that Hofmannsthal went further in hinting at an unconscious identification by Electra with her mother, which leads to «inhibition» and «paralysis of the will» and ultimately her forgetting and failure to hand the prepared axe to Orestes at the climactic moment. Cf. W. E. Yatcs, Schnitzler, Hofmannstbal and the Austrian Theatre (London 1992) p. 146
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tragedians made frequent and effective use of dramatic irony, the device is particularly (and rightly) associated with Sophocles, most notably in his Oedipus Tyrannus, but in his other six plays too. For instance, at the end of her interview with Electra (w. 634 ff.), Sophocles' Clytemnestra prays to Apollo that she may live a life free from harm and unbeset by hostile offspring. As soon as the prayer is finished (w. 660 ff.), the paedagogus enters with (false) news of Orestes' death. The prayer, it would seem, has been fulfilled. The reality, of course, is quite different, but ironies of this sort abound in Sophoclean drama. An unusually effective specimen is provided by the exchange between Electra and Aegisthus near the end of the play (v. 1450 ff). The latter asks questions based on the premise that strangers have arrived bringing news of Orestes' death. The former gives answers that indeed fit such a premise, but fit still better her knowledge that Orestes and his allies have arrived and have already killed Clytemnestra: Aeg. El. Aeg. El Aeg. El. Aeg. El
Then where are the strangers? Tell me! Inside; they have found a kindly hostess Did they in truth announce that he was dead? No,, they even proved it, not by word only. So can we even see with our own eyes? We can, and it is a most unenviable sight. Your words have given me much pleasure, not a usual thing. You may feel pleasure, if this truly pleases you.
The whole exchange ends with the supreme irony of Electra's feigned modesty (w. 1464-5):37 «see, what is required from me is being accomplished' In time I have learned sense, so as to be in accord with those more powerful.» The general tone and content of this scene is conveyed with remarkable closeness by Hofmannsthal, who confines himself merely to slight expansion or clarification of the irony Aeg. El. Aeg. El
Where shall I find the strangers who brought the message about Orestes? Inside They have met with a charming hostess, and are enjoying themselves in her company. And do they really report that he is dead, and tell it so that there is no doubt? Oh sir, they tell it not only with words, no, but with lively gestures, which leave no room for doubt.
When Aegisthus asks Electra why she is staggering about with her lighted torch she replies, again in close correspondence with her Sophoclean model: «All that has happened is that at last I have grown wise and am on the side of the strongest.» A similar sort of mystification had already been employed by Electra against her mother in the Strauss-Hofmannsthal climax to their encounter mentioned above at the start of the present account of dramatic irony (p. 49), In this particular case there is no direct model in Sophocles' Electra, but the effect is not merely Sophoclean by virtue of its irony, but is distinctly Greek in other aspects too. Plagued by dreams, Clytemnestra jumps at the opportunity to end them which Electra apparently offers: «when the appointed victim falls under 37
The ancient Greek for this type of feigned modesty (one particularly associated with Socrates cf. D. Hester, Prudentut 27 (1995) 14 f.) was etroneta, which gives us the English word «uony.» It has been defined as the minimising of one's own potentialities (Ed. Fracnkcl, Horace '(Oxford 1957) p 434). For dramatic irony in Sophocles in general see Hester as cited pp 14 ff
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the axe, then you will dream no longer.» The audience soon realises that the victim whose death will end Clytemnestra's dreams is Clytemnestra herself, but the infatuated queen is led on by Electra's riddling language to ask a variety of questions as to the victim's identity («How is it to be killed? Who shall kill it? Whose blood is to flow?»). The riddles are abruptly cut short when Electra substitutes the plain language of revelation: «What blood must flow? Blood from your own neck, when the hunter has caught you!» The irony here has several aspects. But whatever form it takes, - whether that of the would-be hunter who becomes the hunted; the would-be sacrificer who becomes the sacrificial victim, or the initially misunderstood riddle followed by its disconcerting solution - all are intensely characteristic of Greek tragedy.38 Of the misread riddle, an early and comparatively unrefined specimen occurs in the Women ofTrachis, where we learn that the hero Heracles was told by an oracle that at a specific moment in time he was fated either to die or to live thenceforward free from pain (w. 165-8). An optimistic interpretation of the latter alternative is excluded when enlightenment comes later in the play (828-30): Heracles is certainly fated to die, for who but the dead are free from pain? As he himself observes (1170-73): «it said that at the time that is now alive and present my release from the labours that stood over me should be accomplished; and I thought I should be happy, but it meant no more than that I should die; for the dead do not have to labour.»39 A comparable, though considerably more subtle, type of irony has been detected in the Antigone's fourth choral ode (w. 1115 ff.), especially the appeal to Dionysus at w. 1131 ff. («the ivy-covered slopes of the hills of Nysa and the green coast with many grapes send you here, while voices divine cry <euhoe> as you visit the streets of Thebes»). Sophocles often uses the chorus in this way to provide a «false dawn» to underline all the more strongly the actual tragedy (here the deaths of Antigone and her fiance Haemon, followed by that of the latter *s mother). One classical scholar has interpreted the sequence as follows:40 «What the messenger relates is an outbreak of pathological violence which it would be vain to hope that Dionysus would cure, since it springs from mad emotion. That is the epiphany, that is the dispensation» I myself have elsewhere41 argued that something similar may be detected in the Oedipus Tyrannus where first of all Oedipus himself (v. 1080 f.) and then the chorus (1097 ff.) engage in «over-excited speculation» as to the hero's identity: Oedipus identifies himself as the child of Fate and the year's months as his sisters. «The sequel, of course, shows all too clearly who the parents of Oedipus actually are,» and who his sisters (or rather the 38
For the tragic motif of the would-be hunter who himself becomes the hunted animal, one thinks most obviously and literally of Pentheus in Euripides' Bacchae, who sets out to track down and vanquish the female worshippers of Dionysus, but is detected and torn to pieces by the very women he sought to overcome. On a more metaphysical level there is Sophocles' own Oedipus in the Oedipus Tyrannus, a hero who searches for the polluted wretch that has brought plague upon Thebes only to discover he himself is that wretch. This cannot be entirely distinguished from the related motif of the sacnficer sacrificed (the fate, for instance, of Aegisthus in Euripides' treatment of the Electra theme) and classical scholars have become interested within recent decades in Greek tragedy's use of sacrificial language and ideas. (See, to quote merely one interesting and recent study, R. Seaford, «Homeric and Tragic Sacrifice», Transactions of the American Philological Association, 119 (1989) 87 ff, and also various remarks in his Reciprocity and Ritual (Oxford 1994), e g pp. 281 ff.). 3V See funhtr my remarks in my commentary on this play (Oxford 1991) pp. 254 and 268 f ^ R. P Winnington-lngram, Sophocles, An Interpretation (Cambridge 1980) p. 115 f. 41 Prometheus 17(1991) 11 f.
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unfortunate children who are simultaneously his sisters and his daughters), and that «grim and ghastly truth has no room for such conceits and fancies as those offered earlier by the chorus,» when they named Pan or Apollo, Hermes or Dionysus as possible candidates. Hofmannsthal seems to me to have adapted this profounder, more metaphysical version of Sophoclean irony in a manner one can almost envisage Sophocles himself as approving. The context of this tour deforce is Electra's longed-for dance of revenge, which turns out to be a veritable dance of death for the heroine herself. There are various explanations underlying this concept (including the interpretation of Greek tragedy as a union of speech, song and dance*2, and the influence of Wilde's Salome). But a particularly helpful tool for comprehension is, I believe, offered by the concept of irony. As is clear from Electra's initial monologue, she has been envisaging for herself, for Orestes and Chrysothemis, a dance of triumph when Agamemnon is finally avenged: we, we, Your flesh and blood, your son Orestes and your daughters, We three, when all this has been performed, And when the fumes of the blood, drawn up By the sun, hang in the air like purple pavilions, Then we, your blood, will dance around your grave: And over the bodies, step by step, I will raise my knees high, and they who see me Dancing thus, even if from afar They see only my shadow dancing, They will say: for a great king A magnificent feast has been arranged By his flesh and blood, and he is a happy man Who has children to dance round his grave Such royal dances of triumph!
The idea of such a dance occurs nowhere in Sophocles' Electra, of course, but that play has provided Hofmannsthal with the kernel of the monologue's climax, for when, at a much later stage, Sophocles' heroine is trying to persuade Chrysothemis to join with her m killing Aegisthus, she uses the device of imagining what other people will say if the enterprise succeeds (w. 970-85):
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Wagner's Gesamtkunstwerk (itself derived from Greek tragedy's combination of speech, music and dance) for whose influence upon Hofmannsthal see, e.g Harms Hammelmann, Hofmannsthal (Studies in Modern European Literature and Thought (London 1957)) p. 22. See further, stressing the relevance of Salome, L. Dieckmann, «The Dancing Electra,* Texas Studies in Lit. and Lang. 2 (1960) I ff. For the particular significance of dance in HofmannsthaTs work in general see Michael Hamburger pp, xxv ff = p. 20 and in particular W Rasch's essay «Tanz als Lebenssymbol m Drama um 1900» in his Zur Deutschen Lit. seit der. Jahrhundertwende (Stuttgart 1967) pp. 67 ff. As Robertson points out (as cited in n. 4) p 313 f., Electra's dance is more prominent in the opera than in the play, and Ewans (cited in n. 2) p 150 convincingly argues that Electra's dance, with its expression of enthousiasmos and ecstasy, presents the heroine as «at once both super- and sub-human » This is important (in a, way that Ewans does not bring out) since the Sophoclean hero (and heroine) is characteristically a blend of the super- and sub-human (think, for instance, of Heracles (in the Women ofTrachis) or Philoctetes, who utter animal-like cries of pain on stage, yet possess the capacity to benefit humanity). On the dance see further Sämtliche Werke VII: Dramen 5 p 493.
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As to fame on the lips of men, do you not see how much you will add to you and me if you obey me? Which of the citizens or strangers when he sees us will not greet us with praise? «Look on these sisters, friends, who preserved their father's house, who when their enemies were firmly based took no thought of their lives, but stood forth to avenge murder! All should love them, all should reverence them; all should honour them at feasts and among the assembled citizens for their courage!» Such things will be said of us by all men, so that in life and death our fame will never die. Hofmannsthal totally transforms this motif by taking it in the direction of the characteristically Sophoclean irony outlined above. The dance on the occasion of Orestes' return, which Electra envisages so eagerly in anticipation, is a dance of joy and triumph. Shortly before it begins in the opera, Electra observes (in lines Hofmannsthal added to his original drama) «I was a blackened corpse among the living, and in this /hour I am the fire of life, /and my flame is burning up /the darkness of the world.» But the dance which actually materialises is not one of life-giving joy but of death and destruction. «Who can live without love?» asks the innocent Cnrysothemis, shortly before her sister's dance begins. Electra has grown wiser at the end, and knows that «Love kills, but no one dies without having known love!»
This discussion of Electra's dance of death inevitably leads us to the last and most important question of all: why does the Strauss-Hofmannsthal heroine die? Why does she die, unlike her Sophoclean (or for that matter her Aeschylean and Euripidean) counterpart? It is a question that conveniently raises a number of central issues (one recalls, for instance, the similar dilemma concerning the death of Cordelia (again contrary to the story's source) in Shakespeare's King Lear.44 How crucial, for example, to tragedy and its definition is the death of the given drama's central figure?45 Such an issue is particularly relevant to the seven surviving plays of Sophocles. Although the dating of most of these is quite uncertain, many scholars would accept as a likely hypothesis the notion that Ajax and the Women of Trachis are perhaps the earliest, followed, possibly, by Antigone.46 However that may be, it is striking that these plays abound in suicides, of the central figures and of others beside. So in 43
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«Electra, the first of HofmannsthaTs works to be set to music by Strauss, was written, published, and performed as a play several years before Strauss started work on the composition But for this fact, which is sometimes overlooked, it might well seem as though Hofmannsthal had deliberately set out to provide Strauss with the kind of text best fitted to succeed Wilde's Salome* (Hamburger p xxxi f = p 4) On Hofmannsthal's abortive plans for a dance-libretto on Salome see Rasch (cited n. 42) p 67 f. See, for instance, Kenneth Muir's Introduction to his Arden edition of this play p Iviii f. («But Cordelia dies To some critics ... it would have been better if Shakespeare had allowed the miseries of Lear to be concluded in the reconciliation scene» etc.). The most famous protest against the death of Cordelia is, of course, Dr. Johnson's (Notes on Shakespeare: Yale edition (ed A. Sherbo) 8.704 f.) on which see the sensitive remarks of Mary Lascelles, Notions and Facts· collected criticism and research (Oxford 1972) pp. 72 ff Cf, G. F. Pttkerjohnson's Shakespeare (Oxford 1989) p. 176 f. Cf. J. L. Styan, Max Reinhardt (Cambridge 1982) p. 26: «[the actress in the first production of Hofmannsthal's play] executed a savage dance of triumph and then collapsed - an effect unimaginable in Greek tragedy.» On the difficulties of dating Sophocles' plays see, for instance, Wmnington - Ingram (as cited above n. 40) pp. 34! ff.
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Ajax the titular hero kills himself; in the Women ofTrachis Deianneira commits suicide after having unintentionally sent her husband Heracles a poisoned shirt to wear, and Heracles himself commits suicide by burning himself to death on Mount Oet . Antigone positively pullulates with this form of death: its heroine hangs herself rather than face a lingering death by solitary imprisonment; her fiance Haemon stabs himself when he learns of Antigone's act; and his mother then commits suicide in grief. Sophocles' most famous play, Oedipus Tyrannus, is subtly different: Jocasta admittedly kills herself on hearing that, unintentionally, she has married her own son; but that son, Oedipus himself, though self-blinded in guilt, chooses to go on living and suffering, as if he has rejected the easier way out that suicide would represent. And it must be said that, in the remaining three tragedies, which can, on stylistic and other grounds, be grouped together as «late,» no central (or, indeed, any other) figure commits suicide. Apart from Electro, itself, there is Pbiloctetes (dateable to 409 B.C), in which the hero of that name, ravaged by the disgusting pain of a wounded and suppurating foot, has survived for almost ten years on a deserted and uninhabited island without succumbing to the temptation of suicide. Finally there is Sophocles' last play, Oedipus at Colonus> produced posthumously in 401: this shows us the continuing misfortunes and the ultimate mysterious disappearance of die aged Oedipus, whose life of sorrows has not led him to suicide. The above seven dramas represent a tiny proportion of the almost one hundred plays which Sophocles originally produced; we had better stoically resist, therefore, the temptations offered by facile schematism. In our present limited state of knowledge, it may seem attractive to detect a pattern of development, in which the Sophoclean concept of heroism evolves from an intransigence that cannot endure a life lived on any terms but its own, to a profounder view of the heroic, one where endurance and survival are the true marks of greatness. Whether or not the relevant surviving play opened or closed its trilogy may also have been important But the lost plays of Sophocles, could we but know them, might complicate and distort this simple picture. Nevertheless, it is surely striking that the three final surviving tragedies of this playwright contain no suicides, indeed no deaths «at all for the central figure. Sophocles, however, seems (as we saw above (p. 43)) to have gone out of his way to avoid the impression of a «happy ending» for them. In Electra, the heroine's long and poignant lament over the urn which she supposes to contain her brother's ashes forestalls any excessively optimistic colouring for the play's conclusion. Similarly, towards the end of Philoctetes, that hero delivers himself of a prolonged and passionate lament at the renewed prospect of his continued detention on the desolate island of Lemnos. So anxious is Sophocles to dispel die flavour of a happy ending that he even lias Philoctetes end the episode in question with language distinctly suggestive of his impending death.47 Nevertheless, Philoctetes does not die, nor does Sophocles' Electra; but the heroine of Strauss and Hofmannsthal does. Why? Hofmannsthal himself supplied an answer post factum:** 47 48
See Ï Taphn, Greek, Roman and Byzantine Studies 12 (1971) ñ 39 ç. 29 I quote the translation given by Gilliam p. 233, who prints (p. 233 ç 19) the original Geiman as from* «Zwei bisher unver ffentlichte Aufzeichnungen von Hugo von Hofmannsthal,» Programmheft 2' Salome und Elektra (Frankfurter Oper: 1974), 28. But see also S mtliche Werke VII Dramen 5 p 416 We should note the salutary warning of Robertson (as cited above n 4) p 314 about'Such pronouncements from Hofmannsthal, his «own remarks were made at different times and are not wholly consistent,» and his
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in Electra the individual is dissolved in the empirical way, in which the content of her life explodes outwards from inside like water that becomes ice in an earthen jug Electra is no more Electra, because she has devoted herself entirely to being only Electra The individual can only remain to endure where a compromise has been struck between the community and the individual. Sophocles would probably have found the first sentence here incomprehensible.49 The second and third, however, find a ready echo in his tragic vision, with the important difference that they reflect the world of his earlier plays. Of both Ajax and Antigone, for instance, it could be said with considerable justice that they cease to exist because they have devoted themselves entirely to being Ajax and Antigone, and their inability to compromise with the community is crucial in their destruction. (Ajax is threatened with communal stoning because he has tried to kill the two leaders of the Greek army that is besieging Troy; and an important part of Antigone's tragedy has been thought to lie in her elevation of family values over those of the city orpohs).50 «Compromise ... between the community and the individual,» however, is successfully achieved in the two final surviving plays of Sophocles. Philoctetes, the most literally isolated and lonely of all Sophoclean heroes, is finally reintegrated into society51 at the end of his play, when he consents to rejoin the Greek army that originally abandoned him on his desert island. Oedipus' alienation from human society (as parricide and incestuous husband) in the Colonus drama is more metaphorical and metaphysical, but none the less real or poignant for that. Yet even he is finally re-mtegrated with humanity: not, admittedly, during the course of his life on this earth; but it is anticipated (w. 607 ff.), that, after his mysterious disappearance beneath the ground, he will be a potent and beneficial force of support for the Athenians (who received him as a wandering and suppliant beggar) and against his - and their - enemies the Thebans. Electra's death, then, and her failure to achieve a compromise with society, might be seen as a regression to the world of earlier Sophoclean tragedy. But building upon HofmannsthaTs own gloss, Bryan Gilliam has arrived at a reading which, if correct, would produce an interpretation quite at odds with anything Sophocles could ever have envisaged. According to this,52 «With Electra's dissolution, Hofmannsthal endorses Chrysothemis, for ultimately «interpretations after the fact.. have a quite different status from remarks made during the composition of the play» (thus lacking any «unchallengeable authority») Furthermore «his later self-interpretations belong more to the study than the stage» (a crucial distinction). 49 For the probable meaning of «the empirical way» («der empirischen Weise») in this first sentence see Hamburger p xxxv = p. 9. A more intelligible metaphor was used on another occasion by Hofmannsthal to explain his heroine's death (Sämtliche Werke VII· Dramen 5 p. 304. 17th July 1904) Electra must die like the drone who dies when he has fulfilled his function of impregnating the queen In this context Hofmannsthal also observed that the idea of his Electra first came to him after he had read Shakespeare's Richard III and Sophocles' Electra A strange juxtaposition, perhaps, yet one recalls that Schiller, writing to Goethe 28th November 1797 (Briefe No. 365 (Weimar ed 29. 162)), said of Shakespeare's play that no other drama by this author «has so much reminded me of Greek tragedy.» Cf. A. Hammond's Arden edition of Richard /// (London 1981) p. 97. *° See, for instance, Christiane Sourvinou-Inwood,/o«r»*/ of Hellenic Studies 109 (1989) 138 ff 51 For this reading of the pky see e.g. P. Vidal-Nacquet, Mythe et tragedie en Crece Anaenne (Pans 1973) p. 179 » Myth and Tragedy in Ancient Greece p. 167. 52 P. 233, following Lorna Martens, cited above (n. 31) p. 48. That Chrysothemis in the Strauss-Hofmannsthal treatment is «the representative of normal, life-affirming sexuality, with a desire to live, marry, and have children,» was already asserted by Ewans (as cited above n. 2) p. 148. For Rasch (cited above n 42) p. 72
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the play's values - and those of nearly every play or libretto of Hofmannsthal - are anchored in vitalism. His concern - indeed preoccupation - with the continuity of life is evident in Chrysothemis' monologue in scene 3» (a reference to w. 374 ff. follows). This transformation of the original Chrysothemis, from a merely secondary and negative «foil figure» to a positive advocate of «the continuity of life,» the new drama's main theme, would be radically unSophoclean (which does not, in itself, of course, constitute a refutation of this reading). It may, however, be possible to offer an alternative, and more Sophoclean, interpretation of Electra's death which is itself grounded in a comment by Hofmannsthal (for whose outlook die term and notion of «vitalism» seems decidedly crude). In his famous letter of 1911 to Strauss,53 expounding and justifying «the underlying idea or meaning of Ariadne aufNaxos,» Hofmannsthal expressed himself as follows: What it is about is one of the straightforward and stupendous problems of life: fidelity; whether to hold fast to that which is lost, to cling to it even unto death - or to live, to live on, to get over it, to transform oneself, to sacrifice the integrity of the soul and yet in this transmutation to preserve one's essence, to remain a human being and not to sink to the level of the beast, which is without recollection. It is the fundamental theme of Electra, the voice of Electra opposed to the voice of Chrysothemis, the heroic voice against the human. He proceeds to explain the contrast between Ariadne and Zerbinetta along similar lines (the uncompromising heroine who «could be the wife or mistress of one man only» set against «the frivolous ... [and] earth-bound» nature of Zerbinetta: «these two spiritual worlds are in the end ironically brought together in the only way in which they can be brought together: in non-comprehension»). But a juxtaposition that in the world of a comedy like Ariadne auf Naxos can be treated with light-hearted irony and crowned with a happy ending through a dem ex macbina has a very different effect in the genre of tragedy.54 The attempt to detect in Chrysothemis a source of positive values must depend of course not merely on the final scene of the Strauss-Hofmannsthal drama, but upon the impression made by Chrysothemis in her two earlier appearances. And it may not be irrelevant to note that the effect produced by her music m the first of these scenes in particular was a fertile source of dispute in the controversies that greeted the earliest performances of Electra. Thus Ernest Newman55 was of the opinion that «the first solo of Chrysothemis ... is merely agreeable commonplace ... friendly and accommodating ..., in parts ... fit for musical
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it is Electra's dance that is a «Lebenssymbol,» as dance certainly was in much drama around the start of the twentieth century But can a dance that leads to death be symbolic of hfei Sämtliche Werke VII· Dramen 5 p. 451 = ib XXIV. Operndichtungen 2 p 172 f = Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal: Briefwechsel pp 132 ff. » The Correspondence between Richard Strauss and Hugo von Hofmannsthal pp 93 ff. (the quotanon is from p 130 =* p 94) I find the same point (more or less) already made by Michael Hamburger p. xxxvi f. = p 7 «Whereas in the comedies [of Hofmannsthal] marriage is presented as the state in which men and women establish the , necessary continuity, and the adventurer or libertine stands for the opposite way, Electra's fixation on her murdered father assumes the kind of significance that marriage has in circumstances less extreme, and in fact makes the very idea of marriage impossible and loathsome to her. It is Chrysothemis who corresponds" to the adventurers and libertines of the comedies in her failure to establish a higher continuity. To entertain human hopes in these particular circumstances, Electra suggests, is to be bestial » Cf Newiger (as cited above n. l)pp. 154ff. As cited above (n 8),pp 598 f., 612, and 617 f.
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comedy or the music-halls.» I myself have never seen any reason to dissent from this part of Newman's critique. Only, in view of Chrysothemis' original Sophoclean role as «foil-figure,» the banality could well have been a deliberate ploy on Strauss' part to distinguish the earth-bound sister from the more heroic Electra. Hofmannsthal certainly thought, as he put it to Helene Nostitz,56 that Strauss was «unbelievably successful in contrasting the figures of Electra and her gentler sister.» If one likewise considers the music given to these two at the close of the entire drama, it is surely rather difficult to identify the helpless figure hammering at the closed door and pathetically calling for «Orest» with Gilliam's representative of «vitalism.» (Difficult too to see where is the «social harmony» being «restored»).57 Gilliam's own fascinating analysis of Strauss's sketches for this part of the opera suggests to him that the composer originally misunderstood «the meaning of Electra's death (and, more generally, of her role in the play) in the early stages of the opera's genesis,»58 but finally came round to the idea that he should «interpret Electra's death in a more positive way.»59 Her death «allows for a restoration of harmony, and the final, emphatic cadence on C major is as much a reflection of that sense of restoration as it is a symbol of triumph.» One may agree in general while questioning what it is that has triumphed and what it is that has been restored. Gilliam is absolutely right to state60 that the final «blatant alternation between the quiet, static E-flat-minor chord and the vociferous C-minor Agamemnon motive is one of the most gripping juxtapositions in the score;» but when he goes on to allege that «the powerful cadence on C major celebrates the avengement of Agamemnon's death and the preservation of the status quo,» a classical scholar with no musical training may perhaps be allowed to protest that no treatment of the Orestes' story could ever end by celebrating «the status quo,» since the very logic of the myth would not allow it. Electra's death symbolises a triumph, but hardly that of the values supposedly represented by Chrysothemis. The final transformation of Agamemnon's C-minor motive into C-major surely conveys the triumph of Agamemnon's spirit (in which Electra has a share).
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S mtliche Werke VII: Dramen 5 p. 427 = Hugo von Hofmannstbal - Helene von Nostitz. Briefwechsel (ed O. Nostitz) p 29. 57 Gilliam pp. 235 and 231 ff. Likewise I am quite unable to accept Robertson's notion (as cited above n 4) p. 326 f. that «the lines Hofmannsthal added to the opera text in 1908 imply a much more positive conclusion Orestes' return envelops the household in an atmosphere of love and joy, releasing Chrysothemis to a normal emotional life, but giving Electra a mystical ecstasy so intense that she perishes of it» [shades ofSalomel]. «This is quite different from, and inferior to, Hofmannsthal's original conception, it is a sentimental attempt to supply an up-beat ending » It would be such a betrayal were it not that Electra dies and Chrysothemis is left distraught and banging on a closed door, calling out to an Orestes who does not reply. ÉÝ not the preceding «atmosphere of love and joy» mere «foil» to emphasise all the more the grim ending (a rather Sophoclean device: see above p. 51) 58 P. 231. 59 P. 234. The question whether in Hofmannsthal's play the heroine's death is to be viewed as triumph or failure, affirmation or defeat, is considered by Robertson (cited above n. 4), pp 312 ff. But perhaps the antithesis is meaningless in this context and the heroine's death is above or beyond triumph or defeat Lloyd-Jones' paradox «in her triumph lies her death, and in her death her triumph» (p. 34 = p. 170) brings this out well. *° P. 235
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In Aeschylus' treatment of the story, when Orestes has infiltrated the palace in disguise - by pretending to bring news of his own death - and has then killed Aegisthus, a frighted servant announces, with significant irony, that «the dead are killing the living» (LibationBearers v. 886). The same motif is adapted by Sophocles: at w. 1341-2 of his play he has Orestes say to the paedagogus «You have reported, it seems, that I am dead,» which elicits the response «Know that here you are one of those in Hades.» More significantly, when Clytemnestra's final death-cry has been heard off stage, the chorus sing (w. 1417 ff.), m words that would alone serve to refute SchlegePs view of the play's «heavenly serenity»: «The curses are at work! Those who lie beneath the ground are living, for the blood of the killers flows in turn, drained by those who perished long ago1» In Aeschylus' treatment «the living» killed are Aegisthus (to be followed by Clytemnestra), «the dead» primarily Orestes. But the central part of the Libation-Bearers has been taken up by a massive appeal from Orestes, Electra and the chorus to the tomb (and ghost) of Agamemnon aimed at ensuring that his dead spirit supports their enterprise, so Agamemnon may be included with his supposedly dead son. And the phrasing of the words used by Sophocles' chorus seems even more precisely calculated to suggest Agamemnon among the dead who are now doing the killing. When Strauss and Hofmannsthal ended their drama with the death of Electra it is hard not to feel they were taking this concept61 one stage further to its logical conclusion Agamemnon among the dead is killing the living· Clytemnestra, Aegisthus, but also Electra (who knows (see above p 53) that «the dead are jealous of the living»). As she herself has just said (or sung) in lines Hofmannsthal added for the libretto, «Love kills, but no-one dies without having known love!»62 When the living Chrysothemis vainly calls out the name of the living Orestes, Strauss' music barks back, as if in triumph, the motif of the dead Agamemnon.
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At the end of her drama, the heroine of Strauss and Hofmannsthal twice enjoins the onlookers to be silent and dance («schweigen und tanzen»). Hofmannsthal's final stage direction, after Chrysothemis' despairing cry «Orest! Orest!» and before the curtain, is
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Which actually had its place in HofmannsthaPs play (it was cut by Strauss), though disguised by its new comic context At the end of the young manservant's boisterous encounter with the cook, the former, before rushing off, says «Well, m a word: the young fellow Orestes, the son of the house, who was always away from home, and therefore as good as dead, m short, this fellow, who after all has, so to speak, been always dead, is now, so to speak, really dead1» Ewans (as cited m n 2 above) p. 143 rightly observes that Strauss's music for Orestes associates him with Agamemnon and his motif, and that Clytemnestra's dream at vv 419 ff of Sophocles' play is suggestive of Orestes as a «returned Agamemnon.» , Cf Sämtliche Werke VII. Dramen 5 p 494 I cannot follow Forsyth (as cited m n. 2) p. 31, who finds these lines «the weakest m the libretto » They may seem, on superficial viewing, a mere repetition of the 'motif from the end of Salome's final monologue But they have been (e.g Robertson (cited m n 4) p 312 f.) associated with Rohde's quotation (Psyche 2 27 cf. Engl. tr p. 266) of the Persian Sufis' «mystical doctrine». «Who knows the power of the Dance dwells in God: for he knows how Love kills,» a quotation that lodged in Hofmannsthal's mind deeply enough for him to recur to it at the^nd of his 1905 essay on Oicar Wilde («Sebastian Melmoth»)
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«Silence.»63 Gesture and action replace words in a manner congenial to the Austrian poet's preoccupations but also highly compatible with Sophoclean drama.64 Hofmannsthal once quoted from Lucian's treatise peri orcheseos (which, appropriately in this context, means On Dance) the following passage:65 When every spectator becomes one with what happens on the stage, when everyone recognises in the performance, as in a mirror, the reflection of his own true impulses, then, but not until then, success has been achieved. Such a dumb spectacle is at the same time nothing less than the fulfilment of the Delphic maxim «Know thyself,» and those who return from the theatre have experienced what was truly an experience. These words seem to me to convey more accurately than any others the unique achievement of Strauss and Hofmannsthal in their opera Elektra, the recovery of that shattering emotional impact, «bearing within itself the possibility of exaltation» which is the benchmark of Greek, and especially Sophoclean, tragedy.66
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Given the context, it is hard not to think also of Hamlet's «the rest is silence,» Flamimo's «I am i' th' way to study a long silence» (at the end of Webster's The White Devif) and similar passages «Hamlet is arguably the most important <secondary> source» for HofmannsthaPs Electra after Sophocles (so Forsyth as cited n. 2, p 20) See, for instance, Schadewaldt, «Shakespeare und die griechische Tragödie· Sophokles Elektra und Hamlet,» Jhb d. Deutsch Sh Gesellsch 96 (1960) 7 ff = Hellas und Hespenen 2 7 ff., Robertson (cited n 4 above) pp. 323 f f , Forsyth p 24 f SeeGilhampp 22 f f , 219, etc and Rasch (as cited m n 42) pp 68—70 It is noteworthy that Schadewaldt, whose remarks on the «shattering» emotional impact of Greek tragedy I quoted at the start of this study, found the most profound comment on Sophocles' tragic emotion in a sentence by Wmckelmann «Sophokles rührt das Herz durch innere Empfindungen, die nicht durch Worte, sondern durch empfindliche Bilder bis zur Seele dringen» («Empfindlich meint in Winckelmanns Sprache das, was unsere Empfindung bewegt, was eindringt»)· Sophokles und das Leid (cited above n 14) p 26—) Hellas und Hespenen 1. 398 For the original Greek text see M. D. Macleod, Oxford text of Lucian vol m 313 ff. I quote the translation given by Hans Hammelmann, Hofmannsthal (Studies in Modern European Literature and Thought (London 1957)) p 35, though I cannot accept his negative gloss that «with his adaptations from Sophocles, Hofmannsthal had discovered that Greek tragedy, owing to its specific conventions and limitations, can no longer create such a direct collective experience for a modern audience.» Or rather, though this may be true of such works as Qdipus und die Sphinx (1905) or his 1906 adaptation of Oedipus Tyrannus, it does not apply to the unique collaboration with Strauss and Sophocles which this article has examined. Note George Steiner's recent claim (in Tragedy and the Tragic (ed. M S Silk, Oxford 1996) p 543 that «it is twentieth century opera which comes closest to the absolute tragedies which I have cited. And it does so in returning to some of those very texts' as in . . Strauss's Elektra » I prefer this view to that of Robertson (cited above n. 4) p. 329, according to which HofmannsthaPs «Electra suffers from the narrow focus characteristic of modern versions of classical drama The deed that in Sophocles' Electra was intended to punfy the household ... has been reduced to the resolution of a domestic quarrel » I seem to detect here distant echoes of the contemporary criticisms directed against Hofmannsthal's original production (see above p. 39) and perhaps even of Schlegcl's excessively idealised approach (above p. 41) to Sophocles I doubt that the Greek playwright really intended to suggest Clytemnestra and Aegisthus' murders had the simple effect of «purifying the household» (see the studies referred to in n. 14 above, for instance), and whatever one thinks of «domestic quarrel» as a summary of Hofmannsthal's adaptation, I see (cf. n. 57 above) no indication of a resolution; «the fact that [the play] makes no attempt to provide answers to the problems ir poses, but instead describes the sensational effects of concealed causes, lays bare its aesthetic aims. What is celebrated here is the mystery of the dark workings of the mind, and their relation to the awesomely destructive and sdf-destrucnvc energies of nature» (Christopher Winde (cited above n. 34) P 77;
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APPENDIX ONE Hofmannsthal and Aeschylus' Oresteian trilogy Newiger followed by Lloyd-Jones67 suggests that HofmannsthaPs Electra «has been invested», in the scene where she confronts Clytemnestra, «with much of the prophetic power, as much of the passionate nature, of the Cassandra of Aeschylus' Agamemnon.» LloydJones further suggests68 that when Hofmannsthal's Orestes says «that he must take care not to look his mother in the eyes» as he kills her (a remark eliminated by Strauss) «Hofmannsthal remembers how the chorus of the Libation-Bearers exhorts Orestes to behave like Perseus, who looked away from the Gorgon even as he struck her.» These would not be the only reminiscence of the Oresteian trilogy in HofmannsthaPs text. What Gilliam69 has called «the recurring allusions to animals, in stage directions and the dramatic language itself ... the recurring animal imagery», has no particular counterpart in Sophocles' Electra. In the Oresteian trilogy, by contrast, animal imagery binds together the three component parts of the work and has a complex and unifying effect.70 The same is true of other aspects of «the dramatic language» of Hofmannsthal's text touched upon by Gilliam, for instance «the fundamental role in the drama» of the word and image of blood. Gilliam notes71 that the word «Blut» occurs «no less than eight times in Electra's monologue alone ... where it serves a threefold purpose - as a reference to Agamemnon's violent death, to the sacrificial blood that will avenge that death, and to the blood relation between Agamemnon and his children.» The image of blood in the Oresteian trilogy serves a similarly complex purpose,72 most notably, perhaps, in the climactic scene in the Agamemnon, where the king enters his palace by trampling over precious purple-coloured tapestries, as if he were wading through blood. Gilliam73 further comments on the imagery of darkness and light in HofmannsthaPs treatment, whereby, for instance, «Agamemnon's murder took place in the dark palace,» and both Clytemnestra and Aegisthus call for light in the form of torches «Darkness,» he says, «no doubt symbolises the realm of the subconscious.» No doubt, indeed. But we should also remember the symbolic importance of the movement from darkness to light in Aeschylus' trilogy,74 where the first play (the Agamemnon) opens in the dark-
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Pp 141-3 and p 29 = p. 166 Robertson (as cited m n 4) p 323 suggests the specific influence of Rohde's Psyche (see above n. 15)'with its vivid description (2 68 f. « Engl. tr p 293) of Aeschylus' Cassandra, «a true picture of the primitive Sibyl » 68 P 31= p 168 69 P 26 f with examples That Hofmannsthal was acquainted with Aeschylus' Oresteian trilogy is shown as likely by Newiger (cited above n 1) p 141 f,, with reference to matters of stagecraft, 70 Classical scholars during the last two decades or so have produced several studies of imagery in the Oresteian trilogy I confine myself here to noticing Anne Lebeck's pioneering The Oresteia- a study m Language and Structure (Harvard 1971) (on animal imagery cf. Index s.v «Birds,» «Dog,» «Hounds,» «Lion cub parable,» «Serpent,» etc.) 71 P. 27 72 See Lebeck, Index s v «blood.» The relevance of the Oresteian trilogy here is observed by Forsyth (cited above n 2) p. 27 f 73 Pp 28 ff 74 See Lebeck, Index s.v «Movement from obscurity to clarity,» D Bremer, Licht und Dunkel m derfruhgnechischen Dichtung' Interpretationen zur Vorgeschichte der Lichtmetaphysik (Bonn 1976) pp. 341 ff., T. N Gantz, «The Fires of the Ore*teta>» Journal of Hellenic Studies 97 (1977) 28 ff, etc. Lorna Martens
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ness before dawn, and the last (the Eumenides) closes with a torch-light procession. As we have seen (above p. 53), shortly before her dance, the Electra of Strauss and Hofmannsthal proclaims herself the fire of life whose flame is burning up the world's darkness. There are other analogies which might be drawn, but I confine myself to one final instance which could easily be overlooked. One of the most obvious divergences between Hofmannsthars treatment and that of Sophocles is the short comic scene which elapses between Chrysothemis' return onstage with the apparent news of Orestes' death; and Electra's unsuccessful attempt to persuade her sister to participate in the murder of Aegisthus and Clytemnestra. In between these two scenes of maximum tragic stress and tension, the comic interlude of cook and servants has a deliberately jarring effect, almost reminiscent of the famous Porter's Scene in Shakespeare's Macbeth. This effect is underlined by the way in which the Cook-Servants scene, like the later encounter (also comic, in a darker, more sinister sense) between Electra and Aegisthus, is both «short and extraneous to the fundamental structure of the play,»75 the overarching division into seven segments which was mentioned above (p. 43). In this comic scene, reduced in length, but by no means eliminated, by Strauss (whose musical treatment actually emphasises the comedy),76 a young servant hurrying out of the palace stumbles over a prone form lying at the threshold, and, while his horse is being saddled, conveys to a startled cook the news of Orestes' death. He then speeds off on horseback to convey this good news to Aegisthus. There is, as indicated above, absolutely no correspondence between this scene and anything in Sophocles' Electra. There is, however, something analogous in effect and positioning, within Aeschylus' Libation-Bearers. There, after the false news of Orestes' death has been conveyed to Clytemnestra by the disguised Orestes himself, a scene that ostensibly lowers the tension ensues. Orestes' aged nurse enters, in tears at the news she has heard, and on her way to convey it to Aegisthus. Ironically, this innocent old woman, with her garrulous prattle about Orestes' nappy-wetting as a baby, becomes the instrument for facilitating the grown-up Orestes' revenge, since the chorus persuade her to change the terms of the
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(cited above n. 31) p. 51 n 23 states that in the speech where Hofmannsthal's heroine anticipates the vengeance that awaits her mother «the motifs of the torch and the chase were added by Hofmannsthal.» They were probably added from Aeschylus' Oresteian trilogy Gilliam p. 76. On the comic effect of the Aegisthus - Electra scene one might further observe that though there is nothing stnctly like it in Sophocles' original, the final scene of that play, in particular the dialogue between Aegisthus and Orestes at v. 1502 f («Lead the way!» - «You must go first!» - «In case I should escape?») i* disconcerting to say the least. (It has been dubbed «knockabout tragedy» by one unsympathetic scholar (R. D. Dawe, Studies on the text of Sophocles ß (Leiden 1973 ), ñ 204). Immediately after Aegisthus and Orestes exit, the play ends, with a brief choral address to Electra (on which see Newiger (as cited above n. 1) p. 145). Robertson (cited above n. 4) ñ 329 finds fault with the «extreme intensity» and «abrupt, unsatisfying ending» of Hofmannsthars adaptation, but the Sophoclean original has an equally abrupt close. (Waldock (as cited above n. 13) ñ 190 goes so far as to say «The drama is cut off short - the theme, in this sense, is truncated»») Indeed Ewans (as cited in n. 2) p. 150 argues that the ending provided by Strauss's music (especially the reversion to the «Agamemnon motif,» but now in the major key) has a «real feeling of finality» in contrast to Sophocles' play. (On p. 147 the same scholar suggests that the ending of the Strauss-Hofmannsthal drama is actually more noble and tragic as regards the figure of Electra than Sophocles' original) «A mixture of Viennese humour and Shakespeare's comic servants,» according to Forsyth (as cited above n. 2) p. 29, who thus misses the Aeschylean aspect.
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message to Aegisthus, so that he returns to the palace without a bodyguard and is the more easily killed. That element of underlying serious irony does not recur in the scene from Hofmannsthars Electra under consideration. But there are similarities: in particular, the use of a character of low social standing, who is being dispatched to Aegisthus with news of Orestes' death, to introduce an element of apparent comedy that clashes with the surrounding tragic tension. We have other evidence that Aeschylus' treatment influenced Hofmannsthal, and I should be surprised were that not the case here too.
APPENDIX TWO Lovis Corinth and the death of Agamemnon (seep. 64) When first published, the cover of the vocal score of Strauss and Hofmannithal's opera was adorned, as it still is, with an illustration by the German Expressionist painter Lovis Corinth (1858-1925.)77 Norman del Mar78 has pointed out an oddity in this: it depicts «the scene of Agamemnon's death, an event which took place many years before the action of the opera. This device is rendered additionally obscure by the fact that Corinth gives an oddly false state of affairs. Agamemnon is shown asleep and Clytemnestra is drawing back the hanging of the bedchamber while encouraging Aegisthus on his way in to commit the crime, axe in hand. Throughout Greek mythology it is made plain that Agamemnon was slain on his way out of the bath ... Hofmannsthal adheres to this account in broad outline, as is apparent from Electra's great soliloquy [cf. «Sie schlugen dich im Bade tot, dein Blut/ rann über deine Augen, und das Bad/ dampfte von deinem Blut» ()]. So gross a discrepancy between illustration and text supposedly illustrated is surely worth trying to explain (and in terms rather less negative than Vladimir Nabokov's disillusioned o&servation79: «I have noticed long ago that for some reason illustrators do not read the books they illustrate»). A possible solution lies to hand in a fact overlooked by del Mar: although the vast majority of sources, both literary and visual, do indeed presuppose that Agamemnon was cut down as he emerged from the bath that regularly greeted Greek heroes when they returned home from war, there is an alternative tradition, and that of great antiquity. Homer's Odyssey, perhaps because its author found the bath version too frightening or unheroic, perhaps because he wanted to create a parallel with his own poem's climax, where the returned Odysseus kills the suitors as they banquet in his halls, represents Agamemnon as being slain at the side of his warriors by an ambush while he was feasting.80 Sophocles' Electra, as it happens, also presupposes this much rarer version: at w. 193 ff. the chorus sing to Electra «piteous was the cry at his return, piteous as your father lay there, 77
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For a recent monograph on this artist see Horst Uhr, Lovis Corinth (Berkeley/Los Angeles/Oxford, 1990), cf. the study with the same title edited by Schuster, Vitali and Butts (Munidh/New York 1997) Corinth also designed the costumes for Hofmannsthars 1903 Electra (cf Uhr p. 167) Cited above (n 29) p 297 n 5 Vladimir Nabokov Selected Letter* 1940-1977 (ta D Nabokov and M. J Bruccoh, 1989) p 191. For a survey of the relevant literary and artistic evidence see the article in Lexicon Iconographicwn Mythologiae Classicae s.v
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when the blow of the brazen axe came straight upon him». The phrase «as your father lay there» is a reasonable rendering of the Greek original which itself reflects the fact that Athenians of Sophocles' day «lay» or «reclined» on couches while they dined, a practice that their poets often read back into the times of heroic myth. But, in spite of Jebb's observation in his commentary ad loc, that the Greek phrase «implies merely reclining, and does not necessarily involve the notion of sleeping»,81 it is also easy to see how a translation like «as your father lay there» could give rise to the misapprehension that Agamemnon was killed while lying asleep in bed. And one wonders whether Corinth arrived at his vivid visual scheme not so much because, to recall Nabokov's words, he had failed to read HofmannsthaPs text, as because he was already under the influence of what he took to be Sophocles* text (which was, after all, the original which Hofmannsthal was «freely adapting»). What one is looking for, therefore, is a nineteenth century German translation, or mistranslation, of Sophocles which renders w. 193 ff. of Electra in such a way as to have misled Corinth into thinking in terms of an Agamemnon killed while asleep. One does not have to look very far: «Im Ahnherrnruhbett» is S. Thudicum's rendering of the relevant phrase in his translation (Darmstadt 1855), while H. Viehoff has «auf heimischem Ruhebett» (Hildburghausen, 1866).82 It would be an exaggeration to talk of proof positive, but I find it hard not to think that some such texts he at the root of Corinth's iconographic autoschediasm, though other factors, such as cross-influence from depictions of the story of Judith and Holofernes, may also have played their pan.83
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Cambridge 1894, p. 35 Several influential dictionaries (e. g. Ellendt-Genthe, Lexicon Sophocleum (1872) s v. kozte) took the phrase to mean 'marriage bed*. Incidentally, Thudicum's translation was used by HofmannstkaL see Sämtliche Werke: VII; Dramen 5 p. 304 f. and n. 3. I am grateful to my St. John's colleague Ritchie Robertson for reading an earlier draft of this article and providing helpful comments and information.
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ERIKA SIMON Viktor Poschl in memonam
AMALTHEA Bei einem Gesprach zwischen Viktor Poschl und der Verfasserin im Sommer 1996 in Wien standen die Mutter großer Persönlichkeiten - Goethes, der Gebruder Humboldt - im Mittelpunkt. Wir ahnten nicht, daß es unser letztes Gespräch war Dieser Beitrag zu seinem Gedenken handelt nicht von der Mutter, sondern von der Amme des höchsten griechischen und romischen Gottes; aber Ammen waren in der Antike, besonders bei den Griechen, ungleich angesehener als in der Neuzeit. Wie heute üblich, geht die Studie von dem neuen «Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae» aus, dessen Entwicklung Viktor Poschl von selten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit Sympathie und Nachdruck unterstutzt hat. Der Artikel «Amaltheia» befindet sich im ersten Band und stammt von einem britischen Gelehrten1. Aber auch m dem soeben erschienenen achten und letzten Band figuriert innerhalb des von einem italienischen Kollegen verfaßten Artikels «Zeus/Iuppiter» dessen Amme2 Die an beiden Stellen gesammelten Darstellungen, meist auf Münzen und Gemmen3, daneben auf architektonischen Tonrehefs und Lampen4, werden hier durch zwei bisher nicht in diesen Zusammenhang gezogene Werke vermehrt. Sie gehören anderen Gattungen an, dem vornehmen Tafelsilber (I) und der marmornen Bauplastik (II). L
Vor wenigen Jahren konnte man - in Saarbrücken und in München - archäologische Funde aus dem Gebiet des Kaukasos bewundern, von denen die meisten im Staatlichen Museum Georgiens in Tbilissi (Tiflis) aufbewahrt werden5 Darunter befand sich eine prachtvolle Silberschale von fast einem Viertelmeter Durchmesser mit dem figürlichen Emblem einer teilweise vergoldeten Büste, deren Kopf nahezu vollplastisch ist (Abb. l)6 Sie wird in dem 1 2 3
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Hemg(1981)Nr 1-19 Canciani (1997) Nr 283-299 Münzen Hemg(1981)Nr 3 4 12-19, Canciani (1997) Nr 292-297 -Gemmen Hemg (1981) Nr 7-10, Canciani (1997) Nr 298 299 Die beiden Denkmalerreihen sind zum Teil identisch Lampen Hemg (1981) Nr 11, Canciani (1997) Nr 289-291 - Architektonische Tonrehefs () Hemg (1981) Nr 2, Canciani (1997) Nr 285-287 Kat Georgien (l 995) Kat Georgien (1995) 312 Nr 323 Abb 185 (S 180) Tbilissi, Staatliches Museum Georgiens 18-5585 H 4,7cm, Dm 24,4 cm, des Emblems 11 cm - Zur Datierung s unten Anm 16 Die hier entwickelte Deutung wurde von der Verf. kurz im Archäologischen Kalender 1998, Blatt März/April publiziert Für Auskünfte über den Katalog hinaus und für die Photovorlage danke ich Herrn Kollegen O Lordkipamdse/Tbilissi und seiner Tochter Nino
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Abb 1 zur Ausstellung erschienenen Katalog «Unterwegs zum Goldenen Vlies» als Schicksalsgottm Fortuna gedeutet7 Zu dieser Benennung kam man durch das (ursprünglich goldene) Füllhorn, das die langhaarige Schone in der linken Armbeuge halt Ihm wendet sie den Kopf mit dem sinnendem Ausdruck zu, wodurch es mehr als Attribute sonst betont wird Seine gedrehte Spitze kommt zwischen Daumen und Zeigefinger ihrer Linken zum Vorschein, sonst schmiegt sich daTHorn in den runden Emblemrahmen Seine Quernllen und Knorpel sind dem Gehörn einer Ziege nachgebildet Es handelt sich also wirklich um das «Hörn der Amalthea» wie dieses Wunderhorn, das cornu copiae, m der Antike sprichwortlich hieß8 Unser fruhester Zeuge dafür ist Anakreon (frg 361 PMG) Im Mythos war es das Hörn der Ziege, die das auf Kreta geborene Zeuskind mit ihrer Milch genährt hatte Ihr oder einer Nymphe als der Besitzerin jener Ziege, die spater durch Zeus als Aix oder Capra an den Sternenhimmel gelangte9, kam der Name Amalthea zu Im Grunde gehorte er zu beiden, da
Kat Georgien (1995) 312 Dazu LIMC VIII (1997) Addenda 551-552 s v Cornu Copiae (K Bemmann), weiteres C Weiss (unten Anm 29) Dazu Röscher, ML VI (1924/37) 915-919 s v Fuhrmann (F Boll / H Gundel) An antiken Quellen seien dafür Eratosthenes, Arat, Ovid und Hygm genannt, Zitate bei Hemg (1981) 582
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der Götterkonig «von einer Nymphe wo nicht gar von einer Ziege genährt worden» wie Goethe im Anschluß an Hederichs Lexikon schreibt10. Die Füllhorngottin im Emblem der Schale tragt über der linken Brust ein Vlies, von dem zwei Füße über der Schulter verknotet sind. Seine langen Zotteln und die Form der (vergoldeten) Hufe weisen wiederum auf eine Ziege. Das Fell ist die einzige Bekleidung der Gottin, ihre rechte Brust ist nackt11. Dieses nymphenhafte Auftreten paßt nicht zu Fortuna, der strengen Herrin des Schicksals. Außerdem tragt sie nur ein vergoldetes Band im Haar, nicht die Mauerkrone, eines der Hauptattnbute der Tyche/Fortuna vom Hellenismus an12. Die Bezeichnung Manade, die man in der Munchener Ausstellung neben der georgischen Silberschale las, kam dem Wesen der Figur sicher näher. Die ursprunglichen Manaden waren nämlich Nymphen und zugleich Ammen des Dionysos. Das Füllhorn ist freilich kein Manadenattribut, wohl aber paßt es zur Amalthea, der Amme des Zeus. Damit haben wir wohl den Namen der Gottin gefunden. Amalthea war nicht nur die Nahrenn, sondern auch die Schützerin des künftigen Gotterkonigs, denn das Kind mußte vor den Nachstellungen seines Vaters Kronos/Saturnus verborgen werden. Das Wissen um diese Gefahr prägt das Antlitz der Nymphe, die als schönste unter den uns erhaltenen antiken Darstellungen der Amalthea gelten darf. An Wurde und Anmut ist sie den beiden Amalthea-Gestalten des Nicolas Poussin, besonders in der Berliner Fassung, ebenbürtig13. Ihr ernster, sinnender Blick fallt auf die Fruchte, darunter Granatapfel und Trauben, die aus ihrem Füllhorn quellen. Dessen Entstehung schildert Ovid in den Fasti (5,115 ff.) auf die ihm eigene, anschaulich-beredte Weise14: Denn Amalthea, bekannt auf dem Kretischen Ida, verbarg dort, Wie uns die Sage erzahlt, Jupiter sicher im Wald Ihr gehört eine Ziege, die Zwillmgsbockchen geworfen; Unter den Herden am Berg Diktes die schönste bestimmt. Hoch ragt das Hornerpaar auf und biegt sich zurück bis zum Nacken, Schwer ist das Euter und laßt Jupiters Amme sie sein. So gab dem Gott sie die Milch Doch brach sie em Horn sich am Baume, * daß sie die Hälfte der Zier durch die Verstümmlung verlor. Schnell nahm die Nymphe es auf und mit frischen Krautern umwunden, Hob sie gefüllt es mit Obst darauf zu Jupiters Mund. Die Silberschale mit dem vergoldeten Amalthea-Emblem wurde m einem reichen Grab bei Mzcheta gefunden, der Hauptstadt des antiken Königreiches Kartli, das in griechischen und romischen Texten Iberien heißt15. Mzcheta liegt nicht weit von Tbilissi entfernt, der heutigen georgischen Hauptstadt. Durch Beifunde von Münzen aus der Zeit des Commodus, des 10
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In dem Aufsatz «Myrons Kuh» von 1818. Gedenkausgabe des Artemis-Verlags XIII (Hrsg E. Beutler) 643, E. Grumach, Goethe und die Antike II (Potsdam 1949) 697. - Über Amalthea las Goethe im Mythologischen Lexikon von Benjamin Hederich s v nach, worauf mich E A Schmidt hinweist. Daneben endet ihr nackter Oberarm protomenartig; s unten Anm 17. Ein «elemento distmtivo» wie E Rausa schreibt. LIMC VIII (1997) 140 s v. Tyche/Fortuna Ch Wright, Poussin, Gemälde Ein kritisches Werksverzeichnis (Landshut 1989) Nr. 89 S. 60 Abb 41 (London, Dulwich Picture Gallery); Nr. 114 S. 79 Abb. 58 (Berlin) Übersetzung von W. Gerlach in der Heimeran-Ausgabe (München 1960) 263 Zu diesem georgischen Königreich: Kat Georgien (1995) 157-184 Es ist für die heidnische Antike besonders durch Grabungen bekannt, für die christliche Zeit dann auch durch Chroniken; s G. Patsch (Hrsg), Das Leben Karths Eine Chronik aus Georgien 300-1200 (Leipzig 1985)
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Sohnes Mark Aureis, laßt sich jenes Grab in das spate 2. Jahrhundert n. Chr. datieren16. Die Form der Emblemschale freilich ist älter, findet sich bereits im Hildesheimer Silberfund aus der frühen Kaiserzeit. Man denke an das Schalenpaar mit den Büsten von Kybele und Attis, die allerdings um ein Viertel kleiner sind und gegenüber unserer Amalthea provinziell wirken17. Ihre rechten Schultern sehen wie verstümmelt aus, während der Meister der Amalthea deren Decollete elegant beherrscht. Naher in Große und Qualität, freilich nicht im Thema, kommt die Schale mit der Protome des Herakliskos aus demselben Hildesheimer Schatz18. Die Amalthea-Schale durfte aus einer hervorragenden toreutischen Werkstatt stammen, die Vorbilder aus der frühen Kaiserzeit verwendete. Für die Verbreitung von Gipsabgüssen nach Werken der Silberkunst gibt es genügend Beispiele, auch für deren Dauer über mehrere Generationen hin19. Vielleicht gelingt es, durch künftige Grabungen und Forschungen jene Werkstatt naher zu lokalisieren. II.
Auch das zweite Beispiel für eine bisher unbekannte Amalthea stammt aus dem Osten, aus Diokaisareia im «Rauhen Kilikien». Der 1200 m hoch gelegene Ort - heute Uzuncaburc hieß nach Zeus und Kaiser Domitian, wie aus einer dort gefundenen Inschrift hervorgeht20, aber er war älter, wenn wir auch nicht den früheren Namen wissen. Der Nachbarort hieß Olbe, aber der erstaunlich gut erhaltene Tempel des Zeus Olbios aus hellenistischer Zeit liegt in Diokaisareia. Sem Heiligtum war der Sitz von Priesterkömgen, die sich Teukriden nannten, da sie sich von Teukros, dem Halbbruder des salaminischen Aias, herleiteten21. Dieser hatte Salamis auf Zypern gegründet, einer Insel, die vor der kilikischen Küste liegt22. Die Herrschaft der Teukriden bestand bis ins 1. Jahrhundert n. Chr, doch die Stadt entwickelte sich durch die Gunst römischer Kaiser weiter, wie der neue Name, die Münzprägung und eine rege Bautätigkeit zeigen. Zu letzterer gehört ein Marmorfries mit Akanthusranken (Abb. 2), in denen die Protomen verschiedener Tiere erscheinen23. Sie haben das Maul geöffnet, als gäben sie Laute 16
Es ist das Grab 6 von Mzcheta (Schida Kartli) Armasis'chewi, s Kat.Georgien 311 -312. Aus dem gleichen Grab stammen goldene Beigaben wie Haisreifen (Nr. 319), Ohrringe mit Beryll (Nr 320), Beinringe (Nr. 321) und Armreifen (Nr 322), so daß es sich um das Grab einer reichen Frau handeln durfte. Amalthea paßt gut in diesen weiblichen Zusammenhang. 17 U. Gehng. Antikenmuseum Berlin. Der Hildesheimer Silberschatz (Berlin 1980) 16-17 Nr 13.14, M. Boetzkes / H. Stein (Hrsg.), Ausstellungskat Der Hildesheimer Silberfund. Original und Nachbildung (Hddesheim 1997) 37-40 Nr. 3. 4. Die Büsten .sind etwas kleiner, vergleichbar ist die Protomenform des rechten Armes. J * Gehrig ibidem 14 Taf. Ill, Boetzkes/Stein ibidem 8.36-37 Nr. 2. 19 H. Froning, Jdl 95, 1980, 327-341; zuletzt M. Menninger, Untersuchungen zu den Gläsern und Gipsabgüssen aus dem Fund von Begram/Afghanistan (Wurzburg 1997). 20 RE XVII2 (1937) 2399-2403,s. v. Olbe (W. Rüge); Kl Pauly 4 (1979) 272-263 s. v Olbe (E Olshausen) 21 RE V A l (1934) 1130 s. v Teukros (F. Schwenn). 22 Deshalb hatte schon W. Oldfather angenommen, daß die kilikischen Teukriden von den zyprischen herstammtcn: RE XIII l (1926) 1172 s. v. Lokris. 23 Zur Damellungsart: J M. C. Toynbee / J. B. Ward Perkins, Peopled Scrolls. A Hellenistic Motif in Imperial Art. BSR 18,1950, l ff. Mein Dank gilt Hildegard Poschet/Wurzburg, die bei einem gemeinsamen Besuch den Fries für mich photographiertc.
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von sich, und erheben das eine Vorderbein wie in schnellem Lauf. Der wiedergegebene Ausschnitt zeigt (von rechts nach links) ein Pferd, einen Widder und eine Ziege. Da letztere zu unserem Thema gehört, sei sie noch einmal im Detail wiederholt (Abb. 3). Das dahinjagende Tier ist wirklich eine Ziege, wie aus dem hervorgeht. Aber wo sind die Homer? Das Relief des rechten Hornes ist zum Teil beschädigt und verschwindet im Schatten des Akanthusbogens. Das linke Hörn überschneidet den Hals des Tieres und ist mit Fruchten gefüllt. Sie reichen bis zu dem Blattkranz, der alle Tierprotomen umgibt. Es handelt sich um das abgebrochene Hörn der Ziege Amalthea, das zum Füllhorn wurde, wie es Ovid in den oben zitierten Versen schildert. Mit der Ziegenprotome ist also die Nährenn des Zeus gemeint. Ihre Darstellung ist im Heiligtum des Gottes, der den Namen Olbios trug - der Segensreiche - sinnvoll. Für die Datierung des Frieses wurde Volker Michael Strocka, einer der besten Kenner kleinasiatischer Ornamentik, befragt. «Wegen der Form des Eierstabs, der Achskorrespondenz mit dem Zahnschnitt und der Blattbildung des noch nicht angeschnittenen Rankenfrieses» schlägt er das zweite Viertel des 2. Jahrhunderts n. Chr. vor, also die frühantoninische Zeit24. Wo der monumentale Fries mit den Protomen saß, ist noch nicht genügend erforscht. Vielleicht lassen sich auch die anderen Tiere, ähnlich wie die Ziege Amalthea, mit Zeus verbinden. Aber nur bei ihr ist dieser Bezug durch das Attribut des Füllhorns völlig klar.
III. Die beiden hier neu vorgelegten Amalthea-Darstellungen — einmal als Nymphe, einmal als Ziege — gehören beide der antoninischen Zeit an, einer Epoche, in der musische Bildung ein hohes Ideal war. Davon zeugen unter anderem die mythologischen Sarkophage, deren Blute damals lag25. Typisch für jene Zeit waren auch Schriften wie das Lehrbuch der attischen Sprache, das der Rhetor Polydeukes, lulius Pollux, fur den Kronprinzen Commodus verfaßte26. Ihm können wir freilich entnehmen, daß der Ursprung des Amalthea-Mythos nicht attisch war. In Athen galt nicht die Aix sondern die Arktos, das Sternbild der Großen Bann, als verstirnte Amme des Zeus, während er als Kind mit der Kleinen Bärin gespielt haben soll (Pollux 5, 81). Im ionischen Osten dagegen war das Wunderhorn der Amalthea schon in archaischer Zeit sprichwörtlich bekannt, wie aus dem eingangs erwähnten Anakreongedicht hervorgeht. Beliebt wurde der damit verbundene Mythos in der alexandrmischen Poesie. Kaüimachos spricht in seinem Zeushymnos von dem fetten Euter der Ziege Amaltheie (48 f.), an dem der künftige Götterkönig saugte. Zwei Umstände öffneten dem Tier den Weg in die alexandrinische Dichtung: Es gehörte einerseits in das bukolische, andererseits in das astrologische Ambiente, da es zugleich die Aix oder Capra der nördlichen Hemisphäre war27. Aus beiden Bereichen gelangte es in Ovids oben zitierte Fasti. Zum Schluß ein Problem. In Amalthea-Artikeln alter und neuer Lexika erscheint als
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Brief vom 24.11. 1997, den ich mit herzlichem Dank hier zitiere G Koch / H. Sichtermann, Romische Sarkophage (München 1982) 127-190 RE X l (1918) 713-719 s. v lulius (Pollux) Nr 398; zum Onomastiken 778 f. S oben Anm. 9.
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Abb 4 (Relief Foto) Hauptbeispiel ein Marmoi relief mit lebensgroßen Figuren (Abb. 4), heute im vatikanischen Museo Gregonano Profano, früher im Lateran28 Da es nach seinem Stil in antonmischer Zeit entstanden ist wie die beiden hier neu eingeführten Werke, verlangt es in unserem Zusammenhang nach einem Kommentar Da neigt sich eine schräg vom Rucken gesehene Nymphe sorgsam zu einem kleinen, vor einer Felsengrotte sitzenden Knaben. Sie bietet ihm ein großes Hörn zum Trinken an, das zugleich als Brunnenmundung dient Das Kind hat ein spitzes Ohr, in einer Replik ist auch ein Satyrschwanzchen zu erkennen29. Daher handelt es sich nicht um den kleinen Zeus, den viele in ihm sehen wollten, sondern um ein Satyrkind 28
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Genannt seien Röscher, ML I (1884/86) 263-254 s v Amalthea, EAA I (Rom 1958) 296 Abb 427, Hemg (1981) Nr l, der es am jetzigen Standort nennt. Er spricht S 583 von einem Meisterwerk, das wegen des Adlers die Kindheit des Zeus darstellen müsse Der Adler sitzt jedoch oberhalb der Hohle rechts und trißt · einen Hasen In dem Baum daneben kriecht eine Schlange auf ein Vogelnest mit Jungen zu, wahrend die Vogelcltern entsetzt in den Zweigen sitzen Die beiden Tierszencn sind Omina, die auf die Bedrohtheit jungen Lebens hinweisen, vgl auch C Weiss m der folgenden Anm Dazu H v Steuben m Helbig4 I (Tubingen 1963) 726 zu Nr 1012, C Weiss in G Erath / M Lehncr / G Schwarz (Hrsg), Komos, Festschrift für Thun Lorenz (Wien 1997) 161 f Taf 31 Abb 91 Weiss lehnt die Argumente von Hemg für das Zeuskind überzeugend ab Ebendort neue Beobachtungen zum Füllhorn im Hellenismus und m der frühen Kaiser/eit
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Abb. 4 (Relief Zeichnung) Sein Spielgefährte ist der junge bocksfüßige Pan mit der Syrinx, der hinter ihm in der Grotte erscheint. Durch den Paniskos wird die Szene zugleich nach Arkadien entrückt, ins Land der Bukolik30. Dennoch braucht die alte Deutung der Nymphe auf Amalthea meines Erachtens nicht aufgegeben zu werden. Weist nicht das wunderbare Hörn auf sie? Weiter: wie hatte sie den Beruf einer Amme ausüben können, wenn sie ohne eigenen Nachwuchs war? Und Sohne von Nymphen, die sich im Homerischen Aphroditehymnos (5, 262 f.) und in vielen Bildwerken mit Silenen paaren, sind natürlich kleine Satyrn31. Das lateranische Relief zeigt
Die Personifikation der Arkadia selbst wird in dem Fresko aus Herculaneum durch einen jungen Pan definiert. LIMC H (1984) 608 s v. Arkadia Nr. l (E. Simon).
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also Amalthea in einer . Der kleine Gotterkonig fehlt wie auf der georgischen Silberschale. Diese mag aber wie üblich ein Pendant mit Zeus und der Ziege besessen haben32. Entsprechendes gilt für das Marmorrelief, denn Zierbrunnen pflegten aus zwei oder mehr Mundungen Wasser zu speien33. So konnten auf einer weiteren Marmorplatte die Ziege und das Zeuskind dargestellt gewesen sein34. Darf man sich dazu ein weiteres Hörn mit einer entsprechenden Mundung denken? In antiken Kommentaren zu dem oben zitierten Hymnos des Kallimachos heißt es nämlich, die Ziege Amalthea habe zwei Wunderhorner besessen35. Das eine habe Nektar, das andere Ambrosia gespendet Nektar und Ambrosia glaubten die Benutzer wohl auch aus dem antoninischen zu trinken. Die Abkürzungen entsprechen der Bibliographie des Jahrbuchs des Deutschen Archäologischen Instituts. Zusatzlich erscheinen hier: Canciani (1997) Hemg (1981) Kat.Georgien (1995)
LIMC VIII (1997) 445-446 s. v. Zeus/Iuppiter (F. Canciani) LIMC I (1981) 582-584 s. v. Amaltheta (M. Henig) Ausstellungskatalog Saarbrücken/München: «Unterwegs zum goldenen Vlies». Archäologische Funde aus Georgien (Saarbrücken
1995)
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In Horn Hymn 5,262 f sagt Aphrodite von den Nymphen (m der neuen Übersetzung von K A. Pfeiff) Ihnen gesellen sich gern der spähende Toter des Argos Und die Silene zur Liebe im Innern der lockenden Hohlen Nymphen/Manaden als Mutter von Satyrkindern LÜMC VIII (1997) 790 s v Mainades Nr. 92-94 und ibidem 1111 s. v SilenoiNr 3 32 Silbergefaße dieser Art können ein Paar bilden - man denke an Kybele und Attis aus dem Hildesheimer JFund (oben Anm 17) 33 So etwa bei den Brunnenreliefs Gnmam in Wien. V M Strocka, Antike Plastik IV (1965) 87 ff, dazu Gegenstuck in Praeneste E Simon, Augustus Kunst und Leben in Rom um die Zeitenwende (München 1986) 126 f Abb. 161-164, mit Literatur. 34 Man konnte auch an die tanzenden Korybanten denken, zumal diese mit Amalthea verbunden auftreten, z B Hemg (1981) Nr 2 = Canciani (1997) Nr 286 = Simon, ibidem 128 Abb. 170 (dort als Rhca gedeutet, doch ist Amalthea wahrscheinlicher), s LIMC VIII (1997) 738-739 s v Kouretes/Korybantes Nr 23 (R Lindner) «Kourotrophos des Zeuskindes» Zu der arkadischen Stimmung, die über dem Relief Abb 4 hegt, wurden freilich lärmende Krieger einen starken Gegensatz bilden Auch gehören sie mehr an den kretischen Schauplatz der Geburt, wahrend die Platte, wie oben erwähnt, Arkadien meint, ebenfalls ein Kindheitsland des Zeus (s. Pausanias 8,31,4), - Die pränestiner Reliefs (oben Anm. 33) sind zu dreien, was analog für unseren antoninischen gelten konnte, doch waren für ihn auch nur zwei Platten denkbar Auf jeden Fall hatte das erhaltene Relief (Abb. 4) wegen seiner Komposition den linken Flügel gebildet, auf dem Gegenstuck (rechts oder Mitte) wäre das Zeuskmd zu sehen gewesen 35 Abgedruckt m der Ausgabe von R Pfeiffer, Callimachus (Oxford 1951) II44 zu Vers 49 «So (Amaltheie) hieß die Ziege, die den Zeus nährte Es wird erzahlt, daß aus ihrem einen Hörn Ambrosia floß, aus dem anderen Nektar» Die beiden Horner der Wunderziege sind in dieser Überlieferung eher Rhyta als Füllhörner Entsprechendes gilt für den hier rekonstruierten . Die Überlieferung stammt aus dem ptolemaischen Ägypten, wo das Rhyton auch sonst das Füllhorn ersetzen» konnte, besonders als Attribut des Nilgottes; s. G Platz-Horster, Nil und Euthenia. 133. BWPr (Berlin 1992); H Altrichter (Hrsg), Bilder erzählen Geschichte (Freiburg 1995) 19 (E Simon). Das Vorbild des antoninischen Brunnens, zu dem das Relief Abb. 4 gehört, dürfte also, wie schon irrl letzten Jahrhundert angenommen wurde, alexandrimsch gewesen sein.
LUTZ KAPPEL Die Paradegma-Inschrift im Tunnel des Eupalinos auf Samos1 Herodot begr ndet im dritten Buch der Historien seine langen Ausf hrungen ber die samische Geschichte mit folgenden Worten: Έμήκυνα δε περί Σαμίων μάλλον, οτι σφι τρία εστί μέγιστα απάντων Ελλήνων έξεργασμένα, ορεός τε υψηλού ες πεντήκοντα και εκατόν όργυιάς, τούτου όρυγμα κάτωθεν αρξάμενον, άμφίστομον. το μεν μήκος του ορύγματος επτά στάδιοί εισι, το δε υψος και εύρος οκτώ έκάτερον πόδες, δια παντός δε αυτού άλλο όρυγμα εικοσίπηχυ βάθος όρώρυκται, τρίπουν δε το εύρος, δι* ου το ύδωρ όχετευόμενον δια σωλήνων παραγίνεται ες την πόλιν άγόμενον από μεγάλης πηγής αρχιτέκτων δε του ορύγματος τούτου έγένετο Μεγαρεύς Ευπαλίνος Ναυστρόφου. «Ich habe ber die Samier ausfuhrlicher berichtet, weil sie drei der gr ten Bauwerke aller Griechen haben: Erstens haben sie einen gegrabenen Stollen (όρυγμα), der durch einen Berg von 150 Klaftern Hohe getrieben ist; er beginnt am Fu des Berges und hat zu beiden Seiten M ndungen. Die L nge dieses Tunnels betragt sieben Stadien, seine Hohe und Breite jeweils acht Fu . Durch seine gesamte Lange ist ein zweites όρυγμα gegraben, das 20 Ellen tief und 3 Fu breit ist. Durch diesen Kanal wird das Wasser in Rohren geleitet und gelangt so von der gro en Quelle m die Stadt. Der Architekt dieses Bauwerks war Eupalinos von Megara, der Sohn des Naustrophos. Dies ist das eine von den drei Bauwerken ... (Es folgen als zweites und drittes die Hafen-Mole und der Hera-Tempel von Samos) »2 Der Grund f r Herodots hohe Bewunderung f r den Tunnel des Eupalinos scheint prima faae - wie bei den beiden anderen Bauwerken - seine enorme Gr e zu sein. Doch schon 1
2
Der folgende Aufsatz stellt eine erweiterte Fassung des Vertrags im Rahmen meines Habihtationscolloquiums am 9. Dezember 1997 vor den Mitgliedern des Habilitationsausschusses der Fakult t f r Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universitat T bingen dar. Eine spatere Version ist im Dezember 1998 im Rahmen einer Vorlesungsreihe des Instituts f r Alte Geschichte an der Universit t Bielefeld vorgestellt worden. - F r sachliche Hinweise (zum Jerusalemer Wassertunnel) danke ich dem Direktor der Ausgrabungen am Tempelberg, Jerusalem, Dr Ronny Reich, f r die Erlaubnis zur vollst ndigen Begehung des Tunnels des Eupalinos sowie die bereitwillige bermittlung der unten in Kap V verwendeten Me daten dem stellv. Direktor des Deutschen Arch ologischen Instituts Athen, Dr. Hermann J. Kienast F r technische und sonstige Hilfe danke ich au erdem Ins Banholzer, Dr. Hanswulf Blocdhorn, Dr AJbrecht Locher und Dr. Johanna Loehr. - Abbildungsverzeichnis: Abb. 1: nach K(ienast) 1977 (s. Anm 6, ebenso f r die folgenden Quellenangaben) 109; Abb. 2A: nach K. 1986/7, 221; Abb 2B: nach K. 1995, Plan l (Ausschnitt); Abb 3ABC: nach K. 1986/7,225/Abb. 29 und 230/Abb. 32; Abb 4AC: nach K 1995, Plan l (Ausschnitt) mit Erg nzungen des Verf.; Abb. 4B nach K. 1995, 168/Abb 46a; Abb 5A: nach K 1995, Plan l (Ausschnitt) mit Erg nzungen des Verf.; Abb. 5B: nach K. 1995,194/Abb. 49, Abb. 5C: nach K 1995, Plan 3a (Ausschnitt); Abb. 6: nach K. 1995, Plan l (Ausschnitt) mit Erg nzungen des Verf; Abb 7: nach K. 1995, Plan 3a (Ausschnitt); Abb 8- nach K 1995,153/Abb. 40, Abb. 9· nach K. 1995,154/Abb 41; Abb. 10: nach K. 1995,169/Abb. 46b; Abb. 11: nach K. 1995, Plan3a (Ausschnitt) mit Erg nzungen des Verf., Tafel l A: Foto des Verf, Tafel l B: nach K. 1995, Taf. 40, l (mit freundlicher Genehmigung von H. Kicnast) Herodot, Historien 111 60.
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die Art, in der er die Ausmaίe des Tunnels beschreibt, verrat eine ganz spezifische Bewunderung des Historikers. Denn allein bei diesem samischen Bauwerk beschreibt er Details der Konstruktion: Ein Tunnel durchfa'hrt einen Berg an dessen Fuί; in ihm verlauft ein Kanal, in dem ein Rohr verlegt ist, das Wasser von einer Quelle - die offenbar jenseits des Berges liegt - durch den Berg hindurch m die Stadt fόhrt: alles beschrieben mit exakten Maίangaben - von der Hφhe des Berges bis hin zur Breite und Tiefe des Kanals. Er gibt praktisch eine technische Baubeschreibung in Kurzform, der man die Faszination des Forschungsreisenden bei der Besichtigung und seine detaillierten Nachfragen bei sachkundigen Einheimischen noch anhφrt. Herodots faszinierte Beschreibung des Tunnels auf Samos aus der 2. Hδlfte des 5. Jhs v. Chr. blieb sonderbarerweise der einzige Reflex von der Existenz dieses Bauwerks in der gesamten antiken Literatur. Auch das Mittelalter schweigt όber einen Tunnel auf Samos. Vom spaten 17. Jh. an machten sich dann zwar immer wieder Reisende und Gelehrte auf die gezielte Suche nach dem von Herodot beschriebenen Tunnel, doch es dauerte bis zum Frόhling des Jahres 1882, bis der Abt des samischen Klosters Hagia Trias namens Kyrillos am Sudhang des Kastrohόgels nordlich der antiken Stadt Samos, des heutigen Pythagorion, auf das Mundloch eines Stollens stieί und damit den Tunnel des Eupalinos wiederentdeckte3. Seitdem ist der Tunnel vielfach besichtigt, beschrieben und besprochen worden4. Erst Anfang der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts begann die systematische Ausgrabung und Erforschung durch das Deutsche Archδologische Institut, namentlich Ulf Jantzen und Hermann Kienast5 Letzterer legte 1995 schlieίlich mit dem Band «Samos XIX» die abschlieίende und von nun an maίgebliche Publikation der Anlage vor6. Alle Aussagen, die
3
Die erste wissenschaftliche Beschreibung des Tunnels bietet E. Fabncius, Alterthumer auf der Insel Samos, Athen Mitt 9 (1884) 165-192 (mit Tafel VII und VIII). Zur frόhen Entdeckungs- und Erforschungsgeschichte insgesamt s. jetzt Kienast 1986/7 (s Anm 6) 182 ff. und Kienast 1995 (s. Anm. 6) l -10 4 Aus der unuberschaubaren Fόlle der erschienenen Literatur seien hier nur die fόr die Erforschung der technischen Realisierung des Tunnels nach wie vor einschlagigen Titel genannt W. Kastenbein, Untersuchungen am Stollen des Eupalinos auf Samos, Archaolog. Anz. 1960, 178-198 (mit Plan I und II), ders, Markscheidensche Vermessung im Dienste archδologischer Forschung, Mitt. aus dem Markscheidewesen 73 (1966) 26-36, J Goodfield, The Tunnel of Eupalinus, Scientific American 210/6 (1964) 104-112, J. Goodfield & St Toulmm, How was the Tunnel of Eupalinos Aligned5, Isis 56 (1965) 46-55; A Burns, The Tunnel of Eupalinos and the Tunnel Problem of Hero of Alexandria, Isis 62 (1971) 172 -185; K Grewe, Zur Geschichte des Wasserleitungstunnels, Antike Welt, 2 Sonder-Nr. Antiker Wasserbau (1986) 65-76 5 Vgl die drei Grabungsberichte: U. Jantzen, R C, S Felsch, W. Hoepfner &D Willers, Samos 1971 Die Wasserleitung des Eupalinos, Archaolog AJIZ 1973, 72-89; U Jantzen, R. C. S Felsch Kienast, Samos 1972- Die Wasserleitung des Eupalinos, Archaolog Anz 1973, 401-414, diess., Samos 1973 Die Wasserleitung des Eupalinos, Archaolog. Anz 1975,19-35. 6 H J. Kienast, Die Wasserleitung des Eupalinos auf Samos, mit einem Beitrag von B. Meissner, SAMOS XIX (DAI) (1995) - Die komprimierte Darstellung basiert (neben den o g Grabungsbenchten) auf einer Fόlle von Vorarbeiten, u. a · ders,, Der Tunnel des Eupalinos von Samos, Architectura 7 (l 977) 97-116; ders, Der» Wasserleitungsstollen des E auf Samos, Mitt. d. Leichtweiss-Instituts fόr Wasserbau der TU Braunschweig 64 (1979) 21 S +10 Abb, ders, Bauelemente griechischer Wasserversorgungsanlagen, Mitt. LeichtweissInst der TU Braunschweig 71 (1981) 43-68, ders., in· Wasser und Boden 35 (1983) 361-365; ders, DeV Hezekiah-Tunnel und der Eupalmos-Tunnel auf Samos - ein Vergleich, in· Mitt d. Leichtweiss-Inst. der TU Braunschw 82 (1984) 15 ff; ders., Planung und Ausfόhrung des Tunnels des Eupalinos, in Bauplanung und Bautheone der Antike, Diskussionen zur Archδologischen Bauforschung (DiskAB) 4 (1984) 104-110, ders, Der Tunnel des E. auf Samos, Mannheimer Forum 1986/7, 179-241; ders., Samos, m Die
Die Paradegma-Inschnft im Tunnel des Eupahnos auf Samos
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ich im folgenden zur Beschreibung, zu den Maίen und zur Baugeschichte der Wasserleitung mache, folgen Kienasts autoritativen Angaben.
L Die Wasserleitung des Eupahnos: Die Gestalt der Anlage Bereits urn 550 v. Chr. erbaut7, bildete der Tunnel das Herzstόck einer grφίeren Wasserleitung, die aus drei Teilen bestand (Abb. 1):
Abb. 1: Der EupalmosTunnel auf der Insel Samos
7
Wasserversorgung antiker Stδdte, Geschichte der Wasserversorgung, hg. v. der Frontmus-Gesellschaft, Bd. 2(1987)214-217. Die communis opmio datierte den Tunnel bislang in die Zeit des Polykrates, also nach 538 bzw. 532 v. Chr. (so u. su F Kolb, Die Stadt im Altertum [1984] 65). Die neuesten archδologischen Befunde weisen dagegen in die Mitre des 6. Jhs. v Chr., die sog. , also die Zeit, «in der im samischen Heraion der erste Dipteros der griechischen Welt entstand» (Kienast 1995 [s. Anm. 6] 177-182, Zitat: 180 Anm, 283 mit Archaolog. Anz. 1973,403. 406 ff. 410 mit Abb. 10),
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Lutz Kappel
Ihr erster Teil beginnt an der noch heute vorhandenen Quelle in dem Dorf Ajades nφrdlich des Kastro-Hugels (obere Linie: von der Quelle bis zum Nordeingang). Er ist insgesamt 895 m lang, zum Teil als offener und anschlieίend wieder abgedeckter Kanal ausgehoben, zum Teil in Qanat-Bauweise vorgetrieben, (d. h. in kurzer Folge wurden senkrechte Schachte abgetauft, die dann unterirdisch verbunden wurden: ein Verfahren, das die oberirdische Kontrolle όber den Stollenverlauf sicherte)8. Es folgt der von Herodot beschriebene Tunnel (mittlere Linie). Er durchfahrt den Kastro-Hugel mit einer Lange von 1036 Metern, also nicht - wie Herodot sagt - in 7, sondern m knapp 6 Stadien9. Die Wasserleitung fuhrt im Tunnel durch einen Graben, der teils in offener, teils in QanatBauweise an der Ostwand entlanggefόhrt ist. Zu diesem Tunnel spδter mehr. Der dritte Teil der Leitung fuhrt von der Tunnelmόndung am Sudhang des Hόgels όber 620 m in die Stadt. Die Bautechnik dieser Stadtleitung entspricht der des letzten Abschnitts der Zuleitung: Wiederum sind Schachte in dichter Folge abgetauft, die dann unterirdisch leicht durch kurze Stollen verbunden werden konnten (Qanat-Bauweise) (untere Linie)10. Die ingenieurtechnische Pointe des Tunnels hegt bekanntlich dann, daί er - wie die Bergingenieure sagen - ist, d. h. daί man von beiden Seiten zugleich gegraben hat, mit dem Ziel, sich in der Mitte zu treffen. Dieses Verfahren reduziert zwar erheblich die Bauzeit - was bei einer durchschnittlichen Vortriebsleistung von 15 cm pro Tag immerhin eine beachtliche Zeitersparnis von 8 -10 Jahren ergibt11 - doch birgt es das handgreifliche Risiko, daί sich die beiden Stollen im Berg verfehlen. Bei der Mδchtigkeit des in Samos zu durchfahrenden Berges wurde eine Abweichung in der Vortriebsrichtung um nur 1° bewirken, daί sich die Stollen um immerhin etwa neun Meter verfehlen12. Das Erstaunliche an diesem Tunnel ist also nicht nur, daί sich die beiden Stollen tatsachlich in der Mitte getroffen haben, sondern mindestens ebensosehr, daί man όberhaupt ein so kόhnes Projekt in Angriff genommen hat. Die Entscheidung zu einem solchen Bau setzt ein ungeheures technisches und intellektuelles Selbstbewuίtsein voraus13. Bevor wir auf das eigentliche Thema, die sog. -Inschrift im Tunnel, zu sprechen kommen, sei vorab kurz ein Abriί der elementaren Schritte bei der Planung und Durchfόhrung des Baus gegeben. Wir konzentrieren uns dabei ganz auf den Tunnel selbst (Abb. 2). War durch eine exakte Nivellierungsmessung erst einmal die gleiche Hohe der Mundlocher bestimmt14, begann das eigentliche Problem des Tunnelbaus: die Festlegung der 8
9 10 11 12 13
14
Kienast 1995 (s. Anm 6) 18-37. 99-101 -Zur Qanat-Bauweise allgemein s R Tolle-Kastenbem, Antike Wasserkultur, Mόnchen 1990,39-42 Zur genauen Interpretation der Maίangaben Herodots s. Kienast 1995 (s Anro 6) 172-174. Kienast 1995 (s Anm 6)68-83.103-105 Kienast 1995 (s Anm 6) 94-97 Kienast 1995 (s, Anm 6) 140. Die nahehegende Frage, weshalb man sich όberhaupt entschlossen hat, ein so aufwendiges Projekt wie einen Tunnel m Angriff zu nehmen (und nicht eine Leitung nach dem Muster der von der Quelle zun> Tunnel oder der <Stadtleitung> vom Tunnel m die Stadt um den Berg herumzufόhren, was technisch wesentlich einfacher gewesen wδre), ist schwer zu beantworten Kienast 1995 (s Anm', 6) 15· «Welche Grunde ausschlaggebend waren fόr eine Durchquerung des Berges, lδίt sich nur erahnen Eine Leitung um den Berg herum wδre durchaus zu realisieren gewesen.. Daί die Leitung auf dem gewδhlten Wege kurzer und auch sicherer wurde, ist nicht zu bezweifeln, ihr Bau wurde aber auch langwieriger und risikoreicher » Zu den Kriterien fόr die Wahl der Mundlφcher und zur Methode ihrer Nivelherung s Kienast 1995 (s Anm 6)92-94 129-133
Die Paradegma-Inschrift im Tunnel des Eupalinos auf Samos
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Schnitt durch oen Stadtmauerberg
B
.. \ - (
\
Abb. 2: A: Schnitt durch den Stadtmauerberg B: Tunneltrasse Trasse und ihre άbertragung in den Berg. Als die natόrlichste Verbindung zwischen geplantem Ein- und Austritt des Tunnels erscheint die Gerade. Das Auffinden, Festlegen und Festhalten dieser Geraden im Berg war essentiell fόr den Erfolg des gesamten Projekts. Daί es tatsachlich Eupalinos' Absicht war, den Tunnel auf einer Geraden durch den Berg zu treiben, macht schon ein flόchtiger Blick auf den Plan der Tunneltrasse im unteren Teil von Abb. 2 klar: Die ersten 380 m des Sόdstollens (also der rechte Teil der Trasse) und die ersten 260 m des Nordstollens (also der linke Teil der Trasse) sind eindeutig auf der Verbindungsgeraden zwischen Nord- und Sόdeingang angelegt. Die Methode, mit der Eupalinos diese Trasse festgelegt und in den Berg όbertragen hat, gehφrt seit der Entdeckung des Tunnels zu den umstrittensten Problemen der einschlagigen Forschung όberhaupt. Ich halte die Losung von Kienast, die zugleich auch die einfachste ist, fόr die plausibelste (Abb. 3)15: Laut Kienast hat man die geplante Trasse mit sog. Fluchtstangen von Mundloch zu Mundloch όber den Berg ausgesteckt und durch Visur von einer Stange zur όbernδchsten bzw. όberόbernδchsten sukzessive die Reihe der Fluchtstangen in eine exakte Gerade gebracht (Abb. 3A). Dann hat man diese gerade Reihe von Fluchtstangen όber die Mundlφcher hinaus verlδngert und όber diese όberstehenden Fluchtstangenreihen in den Tunnel hineinvisiert (Abb. 3B)16. Bei entsprechend exakter Arbeit werden auf diese Weise die Geraden, die jeden der beiden Hδnge hinablaufen, als entsprechende Geraden von jeder Seite in den Berg hineingefόhrt. Die Fluchtstangenmethode bot zudem den Vorteil, daί man zugleich mit dem Ausstecken durch das Abmessen der horizontalen Abstδnde der Stangen voneinander auch die exakte Tunnellδnge ermitteln konnte (Abb. 3C). Durch Nachmessen wδhrend des Vortriebs im Berg lieί sich so stets genau ermitteln, wo im Berg man sich
J5 16
Das folgende nach Kienast 1995 (s Anm. 6) 133-139. Eine <Stabdisierung» der Geraden erfolgte am sόdlichen Mundloch zusδtzlich durch die Abtaufung emes Visurschachtes ca 15 m tunneleinwarts: eine ausfόhrliche Diskussion seiner Funktion bietet Kienast 1995 (s. Anm. 6) 136 mit Anm. 223 und 224.
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Lutz Kδppel
A
Querschnitt
B
Grundriί
L
\
I
I
Projektion
Abb. 3: Abstecken der Trasse nach der Fluchtstangenmethode
jeweils gerade befand: Jeder Punkt auf der Oberflδche des Berges war durch einfache Abstandsmessung direkt in die Vortriebsstrecke projizierbar. Einzig der Bergkamm bot bei dieser Methode ein Problem. Er barg, da, von wo man auch peilt, immer nur wenige Fluchtstangen des anderen Hanges sichtbar sind, die Gefahr, daί die* Trassen der beiden Hδnge schrδg aufeinander zulaufen. Denn man kann ja direkt nur bis zum Berggipfel, nicht όber den Gipfel hinweg peilen. Genau diese Gefahr ist offenbar der Grund dafόr, daί der Treffpunkt der beiden Stollen nicht in der Mitte des Tunnels, sondern unter der Kammlinie des Berges liegt (Abb. 4B). Selbst wenn nun beide Stollen in einem leichten Winkel aufeinander zulaufen, ist ihr Zusammentreffen Bei dieser Wahl des Treffpunktes gleichwohl gesichert. Eine zusδtzliche Treffsicherung bildet schlieίlich die
Die Paradegma-Inschrift im Tunnel des Eupalinos auf Samos
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Konstruktion eines sog. Fangstollens (Abb. 4A: im Kreis), auf dessen Funktionsweise hier nicht eingegangen werden muί17. Damit wδre der Tunnel eigentlich perfekt: Schnurgerade mit Fangstollen am Treffpunkt. So wie in Abb. 4B vorgestellt, dόrfte Eupalinos den Tunnel geplant haben. Der Erfolg hangt dabei weniger von der Genialitδt des Entwurfs (denn der ist pragmatisch und simpel), sondern einzig von der Exaktheit der Messungen ab. Wie aber nun jedem Betrachter des tatsδchlichen Verlaufs des Tunnels sofort auffδllt, folgt der Tunnel in seiner endgόltigen Form keineswegs der geraden Ideallinie in allen seinen Abschnitten (Abb. 4C). Nur der Sόdstollen hδlt diese ein. Der Nordstollen dagegen knickt nach ca. 260 Metern scharf nach Westen ab, lδuft ca. 130 m bis zu einem Scheitelpunkt, biegt dann zurόck und schwenkt nach weiteren 130 Metern wieder in die Richtung der Idealtrasse ein, so daί quasi ein gleichschenkliges Dreieck mit einer Schenkellδnge von je ca. 130 Metern
B
Abb. 4: Die Tunneltrasse. A: Fangstollen, B· Treffpunkt, C: Dreiecksumgehung 17
Dazu s. ausfuhrlich Kienast 1995 (s. Anm. 6) 139-148.
82
L tfc K ppel
entsteht (Abb. 4C: durch verst rkte Linie markiert). Die Funktion dieser Abweichung von der Ideallinic wird jedem sofort klar, der den Tunnel selbst begeht: Fast der gesamte Nordstollen ist mit einem st tzenden Ausbau versehen, der offenbar schon aus der unmittelbaren Bauzeit des Tunnels stammt. Schon beim Bau des Tunnels bestand also Einsturzgefahr. Zudem trifft die Idealtrasse kurz vor dem abschwenkenden Dreieck auf eine wasserf hrende Erdschicht Diese beiden Faktoren - zunehmende Einsturzgefahr und Wassereinbruch18 - sind offenbar der Grund gewesen, weshalb Eupalinos sich entschlo , von der Idealtrasse abzuweichen und mit einem riesigen Dreieck die Problemzone zu umfahren. Mit diesem Entschlu geriet das ursprunglich so berschaubare Projekt zu einem technischen und intellektuellen Abenteuer ersten Ranges. Denn die Hauer, die sich bislang nur penibel an der exakten Visur zum n rdlichen Mundloch hin zu orientieren hatten, standen nun - mitten im Berg - im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln. Mit dem Verlassen der Geraden gab Eupalinos gleichsam die Sicherheitslinie auf, an der er und seine Arbeiter sich durch das Dunkel des Berges hmdurch- konnten. Von jetzt an reichte keine blo e geradlinige Peilung der Richtung mehr, von jetzt an mu te auf dem Rei brett gezeichnet, gerechnet, gemessen und in den Berg bertragen werden. Mit der Entscheidung zur Umfahrung der Problemzone bekam das Tunnelbauprojekt eine neue Qualit t: Nicht mehr die Peilung und damit der standige direkte optische, d. h. empirische, Kontakt zur Au enwelt gab die Richtung vor, sondern allein die geometrische, d h. die rein theoretische, Konstruktion des Architekten auf 4em Rei brett19.
//. Die ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ-Inschnft
im archaischen Ausbau
Im Stutzausbau des Nordstollens, 172,50 m vom nordlichen Mundloch entfernt, kurz vor dem Beginn des Umgehungsdreiecks, ist mit roter Farbe eine prachtige Inschrift - oder man sollte besser sagen: ein Graffito - auf die Westwand aufgemalt (zur Position der Inschrift im Tunnel vgl. Abb. 5A). Ihre Gesamtlange betragt mehr als 5 Meter, sie ist ungef hr in Hufthohe aufgetragen (also ca 70-80 cm bis zur Unterkante der Buchstaben), die Buchstaben selbst sind ca. 30 cm hoch. Sie enthalt nur ein einziges Wort: ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ. (Faksimile in Abb. 5B, ein Foto bietet Tafel l A: dort an der linken Wand zu lesen: ΑΔΕ)20. Es handelt sich um das Wort, das wir gemeinhin als παράδειγμα kennen, nur in einer Variante des ionischen Dialekts21. Die Buchstabenforrn als solche weist ins 6. Jh. v. Chr. und entspricht der zahlreicher Markierungsbuchstaben aus der Bauzeit des Tunnels, von denen sich noch heute ber 100 in hervorragendem Erhaltungszustand an den Tunnel wanden finden22. Man darf also annehmen, da auch sie aus der Bauzeit des Tunnels stammt, freilich erst 18 19
20 21
22
Vgl Kienast 1995 (s Anm 6)45 52 f mit Taf. 16-20.1. Zu antiken Rei brettkonstruktionen s. vor allem J. Sellenriek, Zirkel und Lineal Kulturgeschichte des konstruktiven Zeichnens, M nchen 1987,20-81 und J. P Heisel, Antike Bauzeichnungen, Darmstadt 1993 Ed. pr. Archaolog Anz 1973,403 Vgl z. B. die ionische Form δέκνυμι bei Hdt und m ionischen Inschriften'(s. LSJ. s. v. δείκνυμι init.t F Bechtel, Die griechischen Dialekte III, Berlin 1924,180) F r das Substantiv ist dies der einzige Beleg in ionischer Vokahsierung Im Tunnel kommt die ionische Form E statt EI mehrfach in Namensinschnftcn vor s Archaolog Anz. 1973,403 Anm 2 408 Zu den brigen Markierungen und Inschriften, die ber den gesamten Tunnel hin «auf die rauhe, unprapanerte Felswand mit roter Farbe aufgemalt» sind, ausf hrlich Kicnast 1995 (s Anm 6) 148-160.193
Die Paradegma-Inschnft im Tunnel des Eupalinos auf Samos
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A
B
PA
EL
A
Abb. 5: Die Paradegma-Inschrift. A: Position im Tunnel, B: Faksimile (1:70), O Ausschnitt des Tunnelabschnitts LM 160 - LM 260 (Markierungen· Fett; Ausbau: schraffiert; nackter Fels: unschraffiert) aus der allerletzten Phase, da sie nicht auf den nackten Fels, also wδhrend des Vortriebs, sondern auf die Westwand des (archaischen) Stόtzausbaus23 aufgetragen worden ist, mit dem die Arbeiten am Tunnel nach der vollstδndigen Durchfahrung des Berges abgeschlossen worden sein durften24. Kienast erklδrt zu der Inschrift: «Die Bedeutung der Inschrift an dieser Stelle bleibt rδtselhaft. Das Wort ist m. W. in der Literatur zum ersten Mal belegt bei Herodot V 62 und dort im Sinn von «Modell, Muster» verwendet. Eine δhnliche Bedeutung mφchte man auch im vorgegebenen Fall annehmen, ein όberzeugender Zusammenhang ist aber nicht zu sehen: Der betreffende Abschnitt des Ausbaus ist weder erkennbar mustergόltig errichtet, noch kann er als Beispiel fόr die weitere Arbeit hingestellt worden sein, da er keineswegs als erster gebaut wurde. So bleibt als Resόmee nur, daί die Inschrift bemerkenswert sorgfδltig aufgetragen ist und daί das Wort im Tunnel des Eupalinos zum ersten Mal in geschriebener Form auftaucht. Was der Schreiber mit dieser mδchtigen Inschrift aber bezwecken wollte, bleibt unbekannt.»25 23 24 25
S. o. S. 82. Kienast 1995 (s. Anm. 6) l f. Kicnast 1995 (s. Anm. 6) 194.
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Kienasts Aporie resultiert ganz offensichtlich daraus, da die vermeintliche Bedeutung des Wortes παράδειγμα «Beispiel», «musterg ltiges Vorbild» nicht zu der Stelle zu passen scheint, an der es im Tunnel auftaucht: Der Tunnelabschnitt - bzw. der St tzausbau des betreffenden Abschnitts - ist einfach nicht vorbildlich26. Das Ziel dieses Aufsatzes soll nun im folgenden sein, diese vertrackte Aporie zu l sen. Dazu sollen zun chst die beiden Hauptkomponenten der Problematik isoliert in den Blick genommen werden: (a) Die Bedeutung des Wortes παράδειγμα im allgemeinen und an dieser Stelle, und (b) der m gliche Bezugspunkt der Inschrift: In welchem Kontext steht die Inschrift? Sind Beziehungen zu anderen Inschriften im Tunnel denkbar? Nach einer Aufarbeitung dieser beiden Teile der Gesamtproblematik soll dann schlie lich in einem letzten Schritt die zentrale Frage beantwortet werden: Was und wo ist das παράδειγμα, auf das die Inschrift verweist, wenn es der Stutzausbau selbst aus arch ologischen Gr nden nicht sein kann? Eine Antwort auf diese Frage w re dann zugleich die Losung der von Kienast angezeigten Aporie.
///. Die Bedeutung des Wortes παράδειγμα Die fruhesten Belege f r das Wort παράδειγμα sind nach unserer Inschrift, die mit ca. 550 v. Chr. den ltesten Beleg liefert, zwei Erw hnungen des Wortes bei Herodot. Im zweiten Buch der Histonen hei t es im Kapitel 86 zur Praxis des Einbalsamierens von Leichnamen m gypten: ούτοι, έπεάν σφι κομισθη νεκρός, δεικνύουσι τοισι κομίσασι παραδείγματα νεκρών ξύλινα,... «Diese (n mlich die professionellen Embalsamierer) zeigen, jedesmal wenn ihnen ein Leichnam gebracht wird, denen, die ihn gebracht haben, παραδείγματα von Leichnamen aus Holz..» Im folgenden werden dann Mumientypen verschiedener Preiskategorien vorgestellt; von diesen k nnen sich die Angeh rigen schlie lich eine f r ihren Verstorbenen aussuchen. Soweit ich sehe, hat nie ein Herodot-Erkl rer mit dem Gedanken gespielt, es konnte sich bei den παραδείγματα um Beispiele in dem Sinne handeln, da verschiedene Mumien beispielhaft vorgef hrt wurden. Es hei t ja auch explizit: die Paradeigmata waren aus Holz; sie waren also selbst keine Mumien, sondern nur Holzmodelle27. Schon die Betrachtung der 26
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In der Edttto pnnceps der Inschrift waren die Ausgr ber m der Deutung der Inschrift noch sehr viel zuversichtlicher gewesen' «Sie kann nur bedeuten, da dieses Wandst ck f r den ganzen weiteren Ausbau, der naturgem von innen nach au en vorgenommen wurde, das Muster abzugeben hatte Zu fragen ist· Wer anders als die Erbauer hatte eine solche Inschrift anbringen k nnen? Damit haben wir zugleich den ltesten Beleg eines Begriffes, f r den bisher Herodot (V 62) die fruheste berlieferung bot. Seme hiei gesicherte Bedeutung vermag vielleicht auch zur Diskussion ber den Inhalt des Begriffs παράδειγμα in der Fruhzeit' kl rend beitragen» (Arch olog. Anz. 1973,403). Dieser Deutung sind bisher alle Spateren bis auf Kienabt a a O gefolgt: s. z B Tolle-Kastenbem 1990 (s Anm 8) 61 Vgl A B Lloyd, Herodotus Book II, Commentary 1-98, Et ΡΓέΙιηι. aux Religions Orientales dans PEmpire Romain 43 (1976) 356 (z. St) «We certainly have many examples of shabti-figures which are mumrm-form and equipped with coffins . Such figures could . very easily illustrate different styles of bandaging... or indeed external make-up generally (e. g. coffins, masks etc) and perhaps it is to this that H is referring » Und zu den Figuren im Einzelnen ebenda 336 f: «There exist many examples of little figurines
Die Paradegma-Inschrift im Tunnel des Eupalinos auf Samos
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ersten Textstelle hat uns somit sensibel gemacht f r eine fundamentale Grundunterscheidung, die wir bei der Deutung des Wortes παράδειγμα in den Blick nehmen m ssen: Ist der mit <Paradeigma> bezeichnete Gegenstand ein Beispiel in dem Sinne, da er selbst ein Repr sentant der Gruppe ist, f r die er beispielhaft steht (kurz gesagt: ein Beispiel f r einen Stuhl ist selbst ein Stuhl) oder aber handelt es sich um ein wie auch immer geartetes <Modell>, ein <Muster>, einen : Denn ein Modell eines Stuhls ist selbst kein Stuhl. Der zweite Beleg stammt ebenfalls aus Herodot: Es ist die bereits von den editores pnncipes und Kienast angef hrte Stelle aus Buch 5, Kapitel 62. Dort hei t es von den Alkmeoniden, jener ber hmten athenischen Adelsfamilie: παρ' Άμφικτυόνων τον νηρν μισθοϋνται τον εν Δελφοΐσι, τον νυν έόντα, τότε δε οϋκω, τούτον έξοικοδομησαι. οία δε χρημάτων ευ ήκοντες και έόντες άνδρες δόκιμοι ανέκαθεν έτι, τον τε νηρν έξεργάσαντο του παραδείγματος κάλλιον, τα τε άλλα και συγκειμένου σφι πώρινου λίθου ποιέειν τον νηόν, Πάριου τα εμπροσθε αυτού έξεποίησαν. «Sie lie en sich von den Amphiktyonen (d. h. dem ber Delphi wachenden Verwaltungsgremium) gegen eine Geldzahlung den Bau des Tempels in Delphi, und zwar des heutigen, der damals noch nicht stand, bertragen. Da sie finanziell gut gestellte und angesehene Leute waren, schon von alters her, f hrten sie beim Bau den Tempel sch ner aus als das Paradeigma und neben anderen Ma nahmen haben sie insbesondere, obwohl unter den Vertragspartnern zum Bau des Tempels Porosstein vereinbart worden war, seine Vorderseite in parischem Marmor ausgef hrt.» Es liegt vollkommen nahe, Paradeigma auch hier als <Modell> zu fassen. Zwei Vereinbarungen wurden getroffen: eine ber die Gestalt und eine ber das Material des Tempels28. Beides wurde offenbar durch ein <Modell>, m glicherweise auch durch einen , vorab dargestellt. In beiderlei Hinsicht haben die Alkmeoniden den Vertrag bererf llt. Diese Deutung des Wortes παράδειγμα als <Modell>, wird vollst ndig gedeckt durch eine F lle von Bauinschriften, die Planungs-, Bezahlungs- und Baumodalitaten regeln29.
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of wood kid in small coffins, often very carefully painted... and carved .. and, in some cases, actually swathed in bandages... It could well be, therefore, that. (they) are m some cases earlier examples of H.'s \ εκροι ξύλινοι» (Datierungen und Nachweise i. E. ebenda) Zu Planung und Bau des sog. in Delphi (Ende des 6 Jhs. v. Chr) zusammenfassend. M. Maass, Das antike Delphi. Orakel, Schatze und Monumente, Darmstadt 1993,104-109 Etwa zeitgleich mit Herodot ist der nach der Tunnelmschrift fr heste mschnfthche Beleg f r das Wort παράδειγμα SEG XXV No 21,9 (Attika: 434/3 v Chr.)- συνε]πιοτατόντ[ο]ν δ[έ τδι ερ]γ[ο]ι [ο]ί ταμίαι και [κελευοαντον παράδειγ]μα τον αρχιτέκτονα ποι]εν [δ]σπερ τδμ Προ[πυλαίον. Wenn richtig erg nzt ist, soll dem Architekten hier aufgetragen werden, f r einen (nicht mehr ermittelbaren) Gebaudekomplex ein «Paradeigma» anzufertigen «wie f r die Propyl en» Hier k nnen nur (verkleinerte) <Modelle> gemeint sein, nicht «Prototypen». - Vgl auch IG I3 476 fr XVII col II 258-265 (Attika. 408/7 v. Chr.) ber aus Wachs geformte Paradeigmata f r das Gie en von Bronzebeschlagen (zur Technik des Bronzegusses mit Wachs-Modellen s. P. J. Bol, Antike Bronzetechnik. Kunst und Handwerk antiker Erzbildner, M nchen 1985, 125-127); ebenda 342 ( ber ein nicht benutztes Paradeigma, das trotzdem bezahlt wurde); FD III 5 No. 19,106 (Delphi: 361 -343 v Chr.), IG II2 1668 (Araka: 347/6 v Chr.), bes Z 85-97: ποιήσει δε και κιβωτούς τοις ίοτίοις και τοΤς τιαραρρύμασιν τοις λευκοΐς, αριθμόν εκατόν τριάκοντα τέτταρας, προς to παράδειγμα ποιήοας . . ταοτα απαντά έξεργάσονται οι μισθωοάμενοι κατά τάς ουγγραφάς και προς τα μέτρα και προς ιό παράδειγμα, δ αν ψράζηι ό άρχιιέκτων, κα\ εν τοΤς χρόνοις άποδώσουσιν, οίς αν μισθώοΌνται έκαστα ιών έ*ργων. Es wird also ausdr cklich zwischen schriftlichen Vereinbarungen (συγγραφαί), Ma en (μέτρα) und dem <Paradeigma> als dem
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Lutz Kappel
Die Durchsicht s mtlicher fr her Belege des Wortes παράδειγμα ergibt schlie lich, da παράδειγμα grunds tzlich im Kontext von Architektur und Bauwesen™ <Modell> bzw. < Entwurfsplan> bedeutet. Eine letzte Stelle soll dies abschlie end belegen: ber den AltPythagoreer Hippasos von Metapont und die pythagoreische Philosophengruppe der Akusmatiker berichtet lambhch (Nie. arith. 10,20 P. = 18 F 11 D.-K.6): oi δε περί "Ιππαοον άκουσματικοι αριθμόν εΐπον παράδειγμα πρώτον κοσμοποιίας και πάλιν κριτικόν κοο|ΐουργοο θεού όργανον «Hippasos und die Akusmatiker um ihn sagten, da die Zahl das erste <Paradeigma> der Erschaffung der Welt sei und wiederum, da sie das κρνηκον όργανον, das Beurteilungswerkzeug, des die Welt erschaffenden Gottes sei.» Es ist ganz offenbar, da hier die pythagoreische Lehre31 von der Bedeutung der Zahl als des zentralen Strukturmoments des Kosmos m eine Baustellenmetapher gekleidet ist: Gott hat bei der Erschaffung der Welt die Zahl benutzt wie ein Baumeister ein Paradeigma: Dieses zeigt ihm (δείγμα), wie er die Welt bauen mu , an ihm entlang (παρά) hat er sie gebaut, schlie lich hat er es als Werkzeug (όργανον) benutzt, um die Korrektheit des Geschaffenen zu berpr fen (κριτικόν). Dieser Beleg durfte endg ltig klargemacht haben, da ein παράδειγμα im Kontext des Bauwesens nicht ein Vorbild oder Prototyp von derselben Qualit t wie das diesem nachzubildende Bauwerk ist - denn die Zahl ist keine erste Welt, der die unsnge, jetzige nachgebildet w re -, sondern eben das <Modell>, der Konstruktionsplan32.
unterschieden, welches die Gestalt des Endproduktes angibt (und offenbar nicht im Ma stab l l gebaut war, da sonst die Angabe der Ma e berflussig w re), IG II21675,20-26 (Attika· 337/6 v Chr), IG IF 1627 col I b, 300-304 (Attika 330/29 v Chr.) von einer Form f r Dachziegel (die selbst kein Dachziegel ist, vgl. oben das Wachsmodell f r den Bronzegu ), ebenda 325-329 und IG II21628 col d, 508-511 (Attika 326/5 v Chr), IG II2 1629 col. e, 983-986 (Attika 325/4 v Chr), IG II2 1631 col. b, 219-221 (Attika 323/2 v^Chr) παράδειγμα ξύλινο v ifjq τριγλύφου ιϊ]ς εν καύσεως , also cm Paradeigma aus Holz (fur die Tnglyphen, die aus Stein sein sollen), vgl ferner IG IP 1678aA, 10-13 (2x) (Attika: vor 315 v Chr), ID 7, 104 (4)aA, 10 ff (Delos 360-350 v Chr), ID 2 No 504B, 7 (Delos. ca 280 v Chr.), IG XI2 No. 161 A, 43 (Delos), ebenda No. 199B, 90 (Delos: 273 v Chr), ID 3 No 1417A col I 32 (Delos: 155/4 v Chr) Insgesamt vgl. W. Muller-Wiener, Griechisches Bauwesen m der Antike, M nchen 1988, 34-36, bes 35 f und Heisel 1993 (s Anm. 19) 164 f 30 Neben Herodot bieten aus dem 5 Jh v. Chr nur drei Autoren Belege f r das Wort Dabei lassen sich zwei Stellen unter die Rubrik <Specimen> einordnen Soph. lehn. F 314, 76-78 (70-72) Radt vom goldenen Kranz (V 50 f.), der von Apollon als Fmderlohn f r die gestohlenen Rinder ausgesetzt ist. άρίζηλα χρυσοϋ πα[ρ]αδείγμ«ια ( bers Lloyd-Jones· «glittering samples of gold»), Anstoph Pax 65 τδ γαρ παράδειγμα των μανιών άκούετε (ein Beispiel von wahnsinnigem Verhalten) Eur El 1084-1085: παράδειγμα ιοΐς έσΟλυΐσιν εΐσοψιν t έχει (das Schlechte als Folie f r das Gute) Alle drei Belege entstammen nicht dem Bauwesen Dasselbe gilt fur Soph OR1193 31 Wenn die Nachricht, da Hippasos keine Schriften hinterlassen hat (Diog Laert. VIII84), richtig ist, durfte das Fragment wohl der Tradition, die umdic TzOT /os-Kommenuerung herum entstanden ist, zuzuweisen sein* so W Burkert, Lore and Science in Ancient Pythagoreanism, Cambridge Mass 1972, 248 f mit Anm 50 275 Anm. 176 (freundlicher Hinweis von Chr. Ricdweg) F r unseren Zusammenhang, die Illustration der Bedeutung des Wortes παράδειγμα in Baukontextcn im weitesten Sinne, spielt es jedoch, keine Rolle ob das Fragment authentisch (also aus dem 5 Jh v Chr.) oder nachplatonisch ist Die Inschr.ift im Tunnel ist und bleibt der fruheste - und daher nicht aus fr herem Material erkl rbare - Beleg. 32 Analog bezeichnet auch Platon die Ideen als <Paradeigmata> der Gegenstande der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Plat. Euthyphr 6 e 5, Parm. 132 d 2; Rep. 529 d 7; Tim 31 a 4, vgl. auch Rep 472 d 5, d 9; 484 c 8, 500e3;540a9,559a8,561 e6;592 b2,Tim 28a7, b2;c6,29b4,37c8,38 b 8,c I,39e7,48 e5,49a l
Die Paradegma-Inschrift im Tunnel des Eupalinos auf Samos
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IV. Die Methode der erfolgreichen Grabung des Umgehungsdreiecks Kehren wir zur ck zur Inschrift im Eupalinos-Tunnel. Im Lichte der soeben skizzierten Verwendung des Wortes in Bau-Kontexten dr ngt sich f rmlich der Gedanke auf, es auch in diesem Fall einmal hypothetisch mit der Bedeutung <Modell>, als κρνηκον όργανον des Baumeisters zu versuchen. Dies wurde bedeuten, da nicht dieser Tunnelabschnitt als Vorbild f r den Rest des Tunnels oder seines Ausbaus bezeichnet w re was er ja handgreiflich auch nicht ist —, sondern da die Inschrift auf etwas vom Tunnel selbst Unterschiedenes hinweist, eben auf so etwas wie ein Modell, einen Plan, eine Zeichnung. Gest tzt wird diese Hypothese dadurch, da das Wort - obwohl es so prachtvoll gleichsam als Schmuckstuck gemalt ist - nicht etwa in Augen- oder wenigstens Brusthohe, sondern merkw rdigerweise in Hufthohe aufgetragen ist. Dies n hrt zusatzlich den Verdacht, da nicht der Tunnel oder sein Ausbau gemeint ist. Wonach also sollen wir suchen? Wir erinnern uns: Die Inschrift steht an einer Stelle, die nicht weit von dem Punkt entfernt ist, von dem an der direkte Peilkontakt zur Idealtrasse verlorengeht (siehe Abb. 5 A). Im Umgehungsdreieck brauchte man daher bei der Arbeit ein wie auch immer geartetes <Paradeigma>. Doch wo ist es? Eine Planzeichnung von der Art, wie man sie z. B. an den Wanden des Apollontempels von Didyma gefunden hat33, sucht man im Tunnel vergebens34. Wenden wir uns daher schlie lich der zweiten von mir vorgeschlagenen Problemlosungsstrategie zu: der n heren Eingrenzung des m glichen Bezugspunktes eines vermeintlich doch vorhandenen Paradeigmas. Dazu ist ein abermaliger Blick auf das Konstruktionsprinzip des Tunnels, insbesondere des Umgehungsdreiecks, n tig. Die W nde des Tunnels sind bers t mit hervorragend erhaltenen, roten Me strichen und Markierungsbuchstaben, die allesamt aus der Bauzeit des Tunnels stammen. Tafel l B zeigt als Beispiel einen senkrechten Me strich mit einem links angefugten Kappa. Hermann Kienast hat sieben verschiedene Markierungssysteme identifizieren k nnen: Sechs an der Ostwand (die hier nicht weiter interessieren), nur eines an der Westwand, eben jener Wand, die auch die Paradeigma-Inschrift tr gt35. Dieses System an der Westwand gibt, wie Kienast berzeugend gezeigt hat, das Ma des Tunnelvortriebs an: Ein Z hlbuchstabe - begleitet von einem senkrechten Strich (vgl. Tafel l B mit einem Kappa) - gibt die Lange der Strecke an, die der Tunnel bis zu dem jeweiligen Strich in den Berg hineingetrieben ist. Es wird jeweils von den Mundlochern nach innen gezahlt. Benutzt ist das milesische Zahlsystem, wobei
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Auch Aristoteles spricht im Kontext der Ideenlehre von <Paradeigraata> Met. A p 991 a 21; 27, 30, 31; Ap.l013a27;Zp 1034 a 2, M p. 1079 b 25,31; 33,35, besonders Physik B p 194b26-Vgl auchdievon der Suda an erster Stelle genannte Bedeutung (aus rhetorischem Kontext): ΙΙαράδειγμα. είκών, fj χαρακιήρ ενχοιαν έχων αίσθηιοϋ πράγματος (Suda π 322) Planzeichnungen hat es in der Antike seit fr hester Zeit m allen Kulturen gegeben, eine vollst ndige Aufarbeitung des Materials bietet Heisel 1993 (s. Anm. 19) (Mesopotamien, gypten, Griechenland, Rom) Zu Modellen und Planzcichnungen in der ^ntwurfsphase von Bauwerken s ebenda 164 f. und W. MullerWiener, Griechisches Bauwesen in der Antike, M nchen 1988, 34-36. Auch nach einer insgesamt 5-stundigen Inspektion der Inschrift und ihrer Umgebung, die der Verf. zusammen mit J Loehr dank der freundlichen Erlaubnis von Dr. H. J. Kienast vom Deutschen Arch ologischen Institut Athen am 11. und 12. September 1997 vor Ort vornehmen durfte, konnte keine Pian/.elchnung m dem vermuteten Sinne entdeckt werden Kienast 1995 (s. Anm. 6) 148-164.
88 Tabelle 1: Zahl
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 10 20 30 40 50 60 70 80 90 200 10 20 30 40 50 6070 80 90 300
Lutz Kappel bersicht ber die Markierungen von Me system l (Nordstollen) Markierung _
I K Λ M N S O
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I K Λ M N » O Π
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I K Λ M N Ξ 0 Π ? T
LM _
_— _ — _
_ 236,80 (239,80) 278,0 298,25 319,05 339,05 360,0 380,60 400,40 441,80 462,10 503,40 524,10 544,80 565,50 -
immer Zehnereinheiten markiert sind: Also Jota =10, Kappa = 20 usw. Die Tabelle l zeigt die erhaltenen Markierungen des Nordstollens im Anschlu an Kienast36. Abb. 6 zeigt den Nordstollen mit den vorhandenen Markierungen an der Westwand und ihren Bedeutungen. Die Markierungen haben - wie aus den Werten von Tabelle l, Spalte 3 errechenbar ist - Abst nde von 2 χ 20,6 m; 20,25 m; 20,8 m; 20,0 m; 20,95 m; 20,6 m; 19,8 m; 2 χ 20,7 m; 20,3 m; 2 χ 20,65 m; 20,7 m; 20,7 m; 20,7 m.37 Zusammengenommen mit den 36
37
Kienast 1995 (s Anm. 6) 151 Tab 1. Die linke Spalte enthalt die jeweilige Me zahl m (unseren) arabischen Ziffern, die mittlere das entsprechende griechische Symbol, in der rechten Spalte markiert der Querstrich, da die Markierung nicht verifiziert werden konnte (in der Regel, weil der entsprechende Tunnelabschnitt mit Stutzmauern ausgebaut ist), die Zahl bezeichnet die Position im Tunnel (LM = Laufma in Metern, gemessen von einem bestimmten Punkt an der n rdlichen Mundung), an der die entsprechende Markierung steht. Von Λ =130 (bei LM 239,80) sehen wir hier zun chst ab. Dazu s u S. 89.
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89
?
Abb. 6: Nordstollen
Abstδnden der entsprechenden Meίmarken im Sόdstollen38 ergibt dies einen Durchschnittswert von 20,59 m als Abstand der 10er Meίmarken voneinander. Dieses Markierungssystem diente also beim Auffahren des Tunnels der Messung und Dokumentation der Vortriebsstrecke in den Berg: Man wuίte stets, wie weit man in den Berg eingedrungen war, ohne die Strecke vom Mundloch aus jedesmal neu abmessen zu mόssen39. An der Westwand der Anfangsstrecke des Nordstollens sind keine Meίmarken mehr sichtbar, da dieser Teil - wie oben bereits gesagt - mit wenigen Lόcken zur Abstutzung des Tunnels ausgebaut worden ist (s. Abb. 7), so daί die Meίmarken, die wahrend des Vortriebs des Tunnels direkt auf den nackten Fels gepinselt wurden, mit einer Ausnahme alle hinter dem Mauerwerk des Ausbaus verschwunden sind40. Nur gleichsam per Zufall gibt eine Lόcke im Ausbau zwischen LM 235 und LM 243,50 die Marken Kappa und Lambda frei. Das Kappa bereitet keine Probleme. Rechnet man vom N (= 150) aus jeweils das Raster von 20,59 m pro lOer-Einheit zurόck, so landet man fόr 140 = M kurz vor dem Ende des Ausbaus (s. Abb. 7)41 und fόr 120 = K dort, wo das Kappa tatsδchlich erscheint. Was nicht ins Konzept paίt, ist das Lambda 3 Meter sόdlich des Kappa (s. Abb. 6 u. 7). = 130 muίte im vorgegebenen Raster eigentlich ca. 171/2 Meter weiter sudlich (tunneleinwδrts) unter dem letzten Stόck des Ausbaus liegen (also kurz vor LM 263,76: s. Abb. 7). Diese scheinbare Anomalie hat Kienast mit einer genialen Theorie erklaren kφnnen. Verlδngert man nδmlich das gefundene Raster von 20,59 m fόr jede lOer-Einheit bis zum Nullpunkt, so landet man, wenn man es όber das System K, N, usw. legt, an einem ganz unspezifischen Punkt irgendwo auίerhalb des Tunnels (Abb. 8: Raster , ', ' usw.: «Neues System»), wenn man es hingegen als System όber das einsame Lambda legt, auf dem Schnittpunkt zwischen Tunnelsohle und Hanglinie (Abb. 8: Raster , , usw.: «Startpunkt»). Es handelt sich also um zwei Meίvorgδnge: einen, von dem allein das noch sichtbar ist, und dessen Nullpunkt am Einstich des Tunnels in den Berg liegt (Abb. 8:1, , usw.) und einen zweiten, der um 38 39 40
Hl
Nach Kienast 1995 (s. Anm. 6) 151, Tab. l, Spalte 2:3 19,9 m, 21,0 m; 20,75 m, 19,45 m; 21,85 m; 20,45 m; 20,7 m; 20,7 m; 20,25 m; 20,65 m; 20,5 m; 21,20 m. Dies schbeίt freilich nicht aus, daί von Zeit zu Zeit Kontrollmessungen von den Mundlochern aus vorgenommen werden konnten. An Abb 7 bezeichnen m der Darstellung der Tunnelwand die gestrichelten Linien die Bereiche, in denen die nackte Felswand durch den archaischen Ausbau zugemauert ist, die durchgezogenen Linien die Bereiche, in denen der nackte Fels sichtbar ist. Dementsprechend sind K, , sichtbar (nach LM 235,20 und vor LM 300), M (das kurz vor LM 263,76 liegen dόrfte) dagegen nicht (s Anm 41). D. h. das M = 140 dόrfte -durch den Ausbau verdeckt - hinter diesem auf der Felswand stehen.
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Lutz Kappcl
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263,76
Abb. 8· Der errechnete Nullpunkt der Tunnelvermessung (nordliches Mundloch)
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Abb. 9. Der Nordstollen mit verschobenen Markierungen (idealplan Kienast)
Abb 7: Ausschnitt des Tunnelabschnitts LM 160 -LM 310
Abb. 10: Konstruktion des Umgehungsdreiecks auf dem Rei brett
Die Paradegma-Inschnft im Tunnel des Eupahnos auf Samos
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ca. «17 */2 m» nach innen verschoben ist: Zu diesem gehφren alle anderen Meίmarken (also in Abb. 8: , ', ' usw. = Tabelle l, Spalte 3). Die richtige Deutung dieser Verschiebung des Meίsystems nach innen liegt nun - wie Kienast όberzeugend dargelegt hat42 — zweifellos darin, daί Eupalinos mit ihr versucht hat, die Orientierung in der Umgehung zu behalten (Abb. 9). Die erste Messung, von der nur das erhalten ist, war die ursprόngliche Messung des Tunnelvortriebs (Abb. 9. 1. Plan). Mit ihr sollte gemessen und dokumentiert werden, wie weit der Vortrieb in den Berg gediehen war. Dann trat das Problem mit der Einsturzgefahr und dem Wasser auf. Da entschloί sich Eupalinos zur Umfahrung der Problemzone ungefδhr ab M = 140. Diese Umfahrung konstruierte er zunδchst auf dem Reiίbrett, und zwar offenbar als gleichschenkliges Dreieck mit einem Winkel a, der durch das Tangensverhaltms 2:5 definiert ist (Abb. 10), und mit einer Schenkellδnge von je 7 10 Einheiten (s. Abb. 9: 2. Plan): also von M = 140 (« * = 130) zum Scheitelpunkt ' = 200 und zurόck zur Ausgangstrasse O' = 270. Um nun weiterhin — also trotz der Dreiecksumfahrung — kontrollieren zu kφnnen, wie weit man in den Berg eingedrungen war, stellte Eupalinos zunδchst fest, um wie viel durch die Dreiecksumfahrung die Tunnelstrecke gegenόber dem 1. Plan, nach dem der Tunnel geradlinig in den Berg getrieben werden sollte (Abb. 9, Plan 1), langer werden wurde. Diese konnte er auf seiner Planzeichnung nach dem in Abb. 10 sichtbaren Verfahren leicht mit Zirkel und Lineal ermitteln. Dann verschob er das komplette Meίsystem ( , , ...) des 1. Plans um eben diese nach innen in den Tunnel hinein. Damit war gesichert, daί nach 2x7 lOer-Einheiten der entsprechende neue Meίpunkt O' = 270 auf dem alten Meίpunkt O liegen wόrde, da an diesem Punkt die Verlangerungsstrecke, die durch die Verschiebung des Meίsystems nach innen wurde, gewissermaίen war, so daί ab O' = O = 270 das neue System nahtlos in das ursprόngliche System όberging43. Fόr den konkreten Vortrieb des Tunnels bedeutete dies, daί man durch die Verschiebung des Meίsystems nach innen nur den ersten Schenkel bis treiben, dort die Richtung δndern und bis O weiterfahren muίte, um zu wissen, wann man wieder auf der ursprunglichen Idealtrasse war. Gemessen werden muίten nur noch die drei Winkel zu Beginn der Abknickung, am Scheitelpunkt und am Ende (was durch das einfache Kathetenverhδitnis 2:5 leicht war). Ansonsten hieί die Devise: erst geradeaus bis , dann zurόck bis O und die Idealtrasse ist wieder erreicht. Gleichsam die dieses Planes war die x. Kienast gibt die Lδnge dieser Strecke teils mit «17,59 m»44, teils mit «wenigstens 17,50 m»45, teils mit «17,60 m»46 an. Dieser Wert darf allerdings nicht als von Kienast tatsδchlich gemessene Groίe aufgefaίt werden. Denn er ist lediglich ein errechneter Wert, und zwar aus dem (bereits seinerseits errechneten) Mittelwert aller Entfernungen zwischen den
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Kienast 1995 (s. Arnn 6)150-155 166-170. Kienast 1995 (s. Anm. 6) 152 mit Anm. 235.
Kienast 1995 (s. Anm 6) 153 Abb. 40.154 Abb 41 (implizit). Kienast 1995 (s Anm.6) 152 bezogen auf die Lage des Schnittpunktes zwischen Tunnelsohle und Hanglinie relativ zum Nullpunkt des (neuen) Systems , \ * usw.
Kienau 1995 (s. Anm 6) 167.
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Meίmarken des neuen Systems (= 20,59 m)47 und dem Abstand zwischen K' und also einem konkret gemessenen Einzelwert·.
(= 3 m),
20,59 m (Mittelwert aller gemessenen Abstδnde der 10er Marken) - 3,00 m (konkreter Abstand von K* und ) = 17,59 m (Verschiebungsstrecke x) In Anbetracht der groίen Schwankungsbreite der konkret gemessenen Abstandswerte im neuen System der 10er Marken scheint es hφchst riskant - und im Grunde auch irrefόhrend - die Verrechnung eines (auf zwei Stellen hinter dem Komma ausgeschnebenen) theoretischen Mittelwertes mit einem konkret gemessenen Einzelwert (der sich seinerseits auf extrem schwankende Meίmarken stόtzt)48 mit einer (Schein-)Genauigkeit von zwei Stellen hinter dem Komma zu beziffern. Dies verbietet im Grunde nicht nur die Natur dieses Wertes (<Mittelwert> minus <Meίwert>), sondern auch das Schwankungsmaί der Meίwerte selbst. Man sollte daher - um der rein Natur des Wertes der Verschiebungsstrecke Rechnung zu tragen - m. E. eher davon sprechen, daί es sich um <17 bis 18 m>, bestenfalls um <etwa 17Va m> handelt. Diese methodische Mahnung zur Vorsicht betrifft freilich nicht im Geringsten den Kern der Kienastschen Rekonstruktion der konstruktiven und technischen Bewδltigung der schwierigen Aufgabe der Durchfahrung des Berges auf einer nicht-geraden Strecke: Die Reorganisation des Meίsystems beim Vortrieb des Tunnels durch Verschiebung um ca. 17Va m nach innen scheint Eupalinos' geniale mathematisch-technische Idee gewesen zu sein, die es ermφglichte, die Problemzone im Berg mittels eines gleichschenkligen Umgehungsdreiecks zu umfahren, ohne die Orientierung zu verlieren. Soweit die όberzeugende Rekonstruktion Kienasts49.
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Die Entfernungen zwischen den Meίmarken des neuen Systems schwanken zwischen 19*45 m und 21,85 m (s o S. 88 f und Anm. 38) Auch Kienast selbst warnt wiederholt davor, diesen Wert als gemessenen Betrag miίzuverstehen, er kφnne «nur als theoretischer Wert angeschen werden» (Kienast 1995 [s. Anm 6] 155 Anm 236 mit 150 Anm 233a) Aus dieser Ungenauigkeit in der Rekonstruktion der Maίeinheiten rόhren z T auch gewisse andere Differenzen zwischen (idealem) Rekonstruktionsplan und tatsachlich gemessenen Werten. So differiert z B. der (nach der Rekonstruktion) theoretisch beabsichtigte Schluίpunkt des Vortriebs des Nordstollens bei T = 300 um 0,52 m vom tatsδchlich gemessenen Wert (Kienast 1995 [s Anm. 6] 155 Anm 236). In Anbetracht der groίen Schwankungen der o. g..Abstδnde der realen Meίmarken (von immerhin 2,40 m, also 11,7 %') darf eine solche Abweichung nicht als Argument gegen die Rekonstruktion gewandt werden - Zur Kienastschen Mittelwertbildung s. jetzt auch K. Grewe 1998 (s Anm. 64) 60 mit Anm 115. Siehe vorige Anmerkung, - Wie groί die Schwankungen sind, illustriert zusatzlich die Differenz zwischen dem nach dem genannten Verfahren bestimmten Wen von (ca) 17,60 m fόr die Vortriebsvcrlangerung und dem eigentlich geforderten Werf «Die Zusatzlange, die sich bei einem Dreieck von 2 5 und mit einer Gesamtlange der beiden Schenkel von 270 m errechnet, ist dagegen 19,20 m Die Differenz beider Werte vort l ,60 m betragt 8 % und ist damit relativ groί, spielte aber bei dieser Distanz kaum eine Rolle» (Kienast 1995 [s Anm 6] 167) Kienasts Erklδrung, der kφnne beim U beitragen-vom verkleinerten Maίstab der Planzeichnung in die Ongmalmaίe des Tunnels entstanden sein, scheint plausibel (ebenda). Ich folge damit Kienasts jόngster, von ihm selbst nun endgόltig autorisierter Deutung: alle frόheren Hypothesen (insbesondere diejenigen, die den Winkel des Dreiecks aus der Hangneigung ableiten wollte Kienast 1984 b und 1986/7 [s Anm 6]) sind als «όberholt» zu betrachten: s Kienast 1995 (s Anm 6) 166 Anm 245.
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V. Die Bedeutung der ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ-Inschrift im Kontext der Planung und Ausf hrung des Tunnels Zur ck zur ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ-Inschrift: Auch sie steht - wie das Me system fcur Messung des Tunnelvortriebs — an der Westseite des Tunnels. Betont werden sollte noch, da die Westseite allein dem Vortriebsme system vorbehalten war: alle brigen Systeme stehen an der Ostwand50. Bei n herer Betrachtung der Inschrift und ihrer n heren Umgebung fallen zwei senkrechte rote Striche auf. Sie befinden sich jeweils ca. 6 m vor und 6 m hinter dem Wort ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ. Ihr Typus entspricht dem der Me marken des Systems zur Messung der Vortriebsstrecke. Kienast hatte diese Striche zwar gesehen und entsprechend auf seinen Pl nen dokumentiert (s. Abb. 7), doch er hatte sie im brigen vollkommen unber cksichtigt gelassen, weil er sie nicht in das Raster irgendeines Me systems einordnen und auch sonst keinen Sinn in ihnen sehen konnte51. An diesen Strichen und ihrem lokalen Kontext fallen folgende Merkmale auf: 1. Das Wort ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ und die zwei Markierungsstriche sind die einzigen Zeichen, die in roter Farbe auf die Westwand des Ausbaus gepinselt sind. Ansonsten ist der Ausbau frei von derartigen Zeichen. 2. Das Wort ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ steht (fast) genau in der Mitte zwischen diesen Markierungsstrichen.· Wahrend das Wort bei LM 172,50 endet und bei LM 178 beginnt52, steht der nordliche Strich etwa bei LM 166,10, der s dliche etwa bei LM 183,3053 (s. Abb. 7). Diese Mittelstellung des Wortes zwischen den Strichen legt eine Beziehung zwischen den beiden Strichen und dem Wort durchaus nahe: Das Ensemble «Strich - ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ - Strich» k nnte allein schon aufgrund der (nahezu) symmetrischen Anordnung eine Einheit bilden. 3. Der Abstand der Striche voneinander betr gt nach den verfugbaren Daten 17,20 m (= LM 183,30 - LM 166,10). Die Lange dieser Strecke kommt betr chtlich in die N he der L nge einer Strecke, die wir vom Me system der Westwand bereits kennen: Sie liegt - mit 50
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Kienast 1995 (s. Anm. 6) 150· «Von den insgesamt sieben verschiedenen Ma systemen sind sechs an der Ostwand aufgetragen, an der Westwand dagegen nur eines. Da diese Separierung kein Zufall ist, hat die Auswertung der Markierungen erbracht. Die Me marken an der Westwand dokumentieren die Vermessung des Tunnels selbst, die an der Ostwand betreffen dagegen den Kanal mit der Wasserleitung» Eine Besprechung der Systeme der Ostwand ebenda 155-160 (System 2-7), vgl Plan 3ab ebenda in der hinteren Einstecktasche. Kienast 1995 (s. Anm. 6) 150: «Die folgende Darstellung beschrankt sich auf die Markierungen, die einem System zugeordnet werden konnten. Kleinere Me striche und Punkte, deren Zusammenhang nicht erkannt wurde, sind zwar gewissenhaft auf dem Plan eingetragen, bleiben hier aber unber cksichtigt.» Zur Gruppe der unber cksichtigten Me striche geh ren auch die Striche links und rechts der ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ-Inschrift (Abb. 7). Die Inschrift ist \on links nach rechts geschrieben, also von S den nach Norden, die L ngenzahlung (LM) erfolgt jedoch von Norden nach S den, so da das Ende des Wortes scheinbar «vor» seinem Anfang steht s. Abb 7. Die Positionsangaben nach Kienast 1995 (s. Anm. 6) 47 mit 194 sowie Archaolog. Anz. 1973,403. Diese (bislang unpublizierten) Daten teilt mir brieflich H J. Kienast mit. Die «damals rechnensch ermittelten Daten* sind seinerzeit (d. h. Ende der 70er Jahre, s. Kienast 1995 [s Anm. 6] 9) in Pl ne bertragen und nun von Kienast erneut graphisch aus diesen Pl nen abgelesen worden. Er schreibt: «Da meine Unterlage . im Ma stab l :200 ist, denke ich, da die Genauigkeit f r Ihre berlegungen ausreichend ist. Die beiden Linien n rdlich und s dlich des geschriebenen Wortes sind demnach bei LM 166,10 bzw. bei LM 183,30» (Brief vom 18. 12. 1997). Ich danke nochmals f r die freundliche bermittlung der Daten
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einer gewissen Toleranz54 - verdδchtig im Bereich der Lange jener Strecke, die als Verschiebungsstrecke «x» von I7l/i m gleichsam die «Zauberformel» fόr die Gestalt des Tunnels nach der Reorganisation des Planes gebildet hatte. Die Lange dieser Strecke barg gewissermaίen in nuce die Idee der in die ursprunglich gerade Trasse hineinkonstruierten Dreiecksumgehung. Denn sie bildete den mathematischen nucleus der Umsetzung des alten Vortnebsmeίsystems in das neue. Diese drei Merkmale scheinen nun hinreichende Indizien, um fόr die Deutung der -Inschnft folgende Hypothese zu wagen: Die beiden Meίstnche links und rechts der -Inschnft markieren das Paradeigma fόr die Dreiecksumgehung Das Gesamtensemble symbolisiert somit die des Tunnelentwurfs (d. h. des m die Gerade hineinkonstruierten Dreiecks) als <Paradeigma>: als , im Sinne der oben in Kap. III entwickelten Bedeutung des Wortes. Eine solche Deutung der Inschrift unter Einbeziehung der beiden Meίstriche lost einige der Rδtsel, die sie bislang aufgegeben hatte, schafft aber auch ein neues Problem, das es zu lφsen gilt. Beiden Komponenten mochte ich mich nun zum Abschluί zuwenden. Zunδchst zum neugeschaffenen Problem: Die Inschrift und die Meίstnche stehen nicht auf der nackten Felswand wie das gesamte Vortriebsmeίsystem (alt und neu), sondern auf dem Ausbau, der nachweislich als allerletzte Bauphase nach der vollstδndigen Durchfahrung des Berges ausgefόhrt wurde55. Eine praktische Funktion dieser Inschrift fόr die Durchfahrung des Berges scheint also —da sie auf dem Ausbau angebracht ist - auszufallen. Auch alle όbrigen Meίmarken sind ja hinter dem Ausbau verschwunden, waren also auf den nackten Fels gemalt und wurden nach dem Abschluί des Projektes nicht mehr benφtigt und zugemauert (s. Abb 7) Dieser Umstand hatte die bisherigen Interpreten dazu gefόhrt, so insistierend nach der Funktion der Inschrift fόr den Ausbau zu fragen und sich entweder mit der Antwort zufriedenzugeben, der entsprechende Abschnitt des Ausbaus diene als fόr den όbrigen Ausbau56, oder - da eine solche Vorbildhchkeit nicht existiert - die Antwort offen zu lassen57. Wenn man sich nun jedoch im Lichte dieser Diskussion und der Aporie, mit der sie endete, entschlieίt, die Suche nach einer Beziehung zwischen Ausbau und Inschrift aufzugeben und mit der in Architektur- und Baukontexten naheliegenden Bedeutung des Wortes (<Modell>, ) zu operieren, gleichzeitig jedoch den archδologischen Befund ernst nimmt, daί die Inschrift erst nach der Fertigstellung des Ausbaus aufgetragen wurde, also erst ganz am Ende sδmtlicher Bauarbeiten, dann ergibt sich als erstes Ergebnis, daί die Funktion der Inschrift neu zu bestimmen ist: Nach Abschluί aller Arbeiten am Tunnel kann eine solche Inschrift eigentlich nur Dokumentations- und Reprδsentationszwecken dienen. Denn jede denkbare Inschrift, die nach Abschluί eines Baus auf das fertige Produkt aufgetragen wird, kann in diesem Kontext kaum Funktionen fόr die Errichtung des Baus haben. Mein Vorschlag fόr die -Inschnft samt den beiden Markierungsstrichen auf der Westwand des Ausbaus des Tunnels wδre daher, daί 54
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In Anbetracht der groίen Schwankungen der antiken Meίmarken (s Anm. 47 und 48) scheint es legitim, den Wert von ca 17,20 m als im Bereich der m Kap IV erlδuterten Toleranzbreite um den Wert « 17 1 /> m zu betrachten Kienast 1995 (s Anm 6) 111 f So z B. Archaolog. Anz. 1973,403 «Sie (sc die Inschrift) kann nur bedeuten, daί dieses Wandstuck fόr den ganzen weiteren Ausbau . das Muster abzugeben hatte»; Tolle-Kastenbein 1990 (Anm 8) 61 «Musterstrecke». Kienast 1995 (s. Anm 6) 194 (s o S 83)
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wir es hier mit einer Sekundδrfunktion zu tun haben: Es handelt sich um eine Schauinschrift, die das <Paradeigma> des Tunnels in seiner endgόltigen (d. h. seiner ) Form dokumentiert. Schon Kienast hatte verwundert όber die prachtvolle Inschrift berichtet, sie sei «mit beachtlichen Lettern an die Wand gemalt», und spricht von einer «machtigen Inschrift»58. Der Schaucharakter der Inschrift drδngt sich jedem Betrachter vor Ort ganz verstδrkt auf (vgl. Tafel l A und Abb. 5B). Wenn diese Inschrift nun aber die Planungsidee des Eupalinos dokumentieren soll, weshalb wurde sie dann nicht irgendwo auίen gut sichtbar fόr jeden Betrachter angebracht, sondern im dunklen Tunnel, όber 170 m tief im Berg? Die Beantwortung dieser Frage soll nunmehr das letzte Geheimnis um diese Inschrift enthόllen. Sie fόhrt unweigerlich auf die Primarfunktion des <Paradeigmas> als eines Planmodells zur technischen Bewδltigung des schwierigen Tunnelbaus. Weshalb also steht die Inschrift samt den zu ihr gehφrigen Markierungszeichen genau dort, wo sie steht? Schaut man sich einmal die Position im Gesamtkontext des Tunnels an, so fallt auf, daί sie nicht weit vor der Abknickung zum Umgehungsdreieck steht (Abb. 5A und C), genaugenommen an der letzten wirklich geradlinig verlaufenden Tunnelstrecke, die Platz fόr eine so ausgreifende zusammenhangende Inschrift bot (s. Abb. 5 und 7). Denn von da an wurde es kurvig (s. ebenda). Openeren wir daher einmal probehalber mit der Hypothese, daί die Inschrift genau an der Stelle steht, an der sie durchaus ursprunglich ihre Funktion als ein wie auch immer geartetes <Paradeigma> fόr den Tunnelbau gehabt haben konnte. Dies wurde bedeuten, daί dieses <Paradeigma> ursprόnglich — wie alle Meίmarkierungen der Westwand — auf dem nackten Fels gestanden hδtte und an seinem Platz als die erhaltens- und dokumentierenswerte des Tunnels auf die Ausbaumauern όbertragen wurde, um es nicht der Ubermauerung zum Opfer fallen zu lassen. Wie aber sδhe die praktische Verwendung des <Paradeigmas> aus, wenn es Teil der Meί- und Planungsvorgδnge bei der Reorganisation des Baus von der bloίen zur gewesen ist? Das vorige Kapitel hat gezeigt, daί die Grundidee der technischen Realisation des Umgehungsdreiecks in der Verschiebung des gesamten Meίsystems um = 17*/2 m in den Tunnel hinein besteht. Eine solche Verschiebung lieίe sich praktisch gewiί auf vielerlei Weise durchfόhren: Man kφnnte z. B. den gesamten Tunnel vom Mundloch an komplett neu vermessen, indem man vom neu bestimmten Nullpunkt an die neuen Messungen durchfuhrt und an der Wand auftrδgt. Man kφnnte auch die festgesetzte Strecke mittels der im Bauwesen όblichen Schnur59 in den Tunnel hineintragen und schlicht an die letzte vorhandene Markierung des alten Systems anlegen, um so diese in die entsprechende Markierung des neuen Systems zu όberfuhren (M-»M'). Die zweite Methode wδre in Anbetracht der groίen Ungenauigkeiten der Einzelmessungen mit einem enormen Risiko behaftet gewesen, da ja die konkrete letzte Messung extrem fehlerhaft sein kφnnte. Sie ist auch nachweislich nicht angewandt worden. Denn wie Abb. 7 zeigt, haben im Bereich von K* = 120* und = 130 das alte und das neue System ineinander, d. h. gleichzeitig existiert: Bereits vor dem des alten Systems hat mit K' das neue System begonnen. Das bedeutet: Man hat das neue System in das alte hinein geschrieben. Andererseits scheint auch die erste Methode - die im Prinzip Kienast 1995 (i. Anra. 6) 194 (s. o S. 83) Siehe z B Lexikon der Alten Welt (1965) s. v. «Meίwerkzeuge»; vgl. AT, Ezech. 40, 3 ff., Amos 7, 17; Sach. 2,5 ff.
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nicht auszuschlieίen ist, da der gesamte nordliche Tunnel teil so ausgebaut ist, daί die Markierungen nicht mehr sichtbar sind60 - keineswegs die zweckmδίigste gewesen zu sein. Denn man hatte die komplette Vermessung des Tunnels von Anfang an mόhsam wiederholen mόssen. Am sinnvollsten scheint eine Methode, die sich einerseits der bereits geleisteten Vermessung nach dem alten System bedient, andererseits aber auch hinreichend zuverlδssig an dieses alte System anschlieίt. Dazu muίte man die Verschiebungsstrecke = \7l/2 m genόgend weit in den Tunnel bringen, um sie von dort immer wieder abnehmen zu kφnnen. Ein idealer Ort, diese Strecke zur wiederholten Abnahme bereitzustellen, war in der Tat genau die Stelle, an der sich das <Paradeigma> mit den beiden Markierungsstrichen heute befindet. Wenn dieses <Paradeigma> tatsδchlich ursprόnglich hinter dem Ausbau angebracht war, dann ist seine primδre Funktion unmittelbar einsichtig. Abb. 11 zeigt meine Rekonstruktion des άberganges vom alten zum neuen Meίsystem. An die Wand im Bereich der Marke P = 100 (alt) wurde das Paradeigma gezeichnet. Diese Stelle war nicht nur wegen der Zahl ein geeigneter Platz, sondern auch weil hier die letzte Mφglichkeit vor der Abzweigung war, όber die Breite von knapp 20 m eine vollkommen ebene Meίflδche zu finden - eine fόr die Abnahme und άbertragung von Maίen mit einer Meίschnur vitale Voraussetzung. Von hier an konnte die Verschiebung jeder Meίmarke nach der Maίgabe des <Paradeigmas>, d. h. der Verschiebungsstrecke = 17 lh m, erfolgen, und zwar fόr die ganze Reihe der bereits bestehenden alten Marken von P an: P-»P', -> , -»K*, -> ', usw. Gleichzeitig konnten nach dem Raster der lOer-Marken (20,59 m) - d. h. praktisch gesprochen: mit der alten 20,59-m-Meίschnur - die Abstδnde P'-» , -»K*, K'->A', A'-»M', usw. nachgemessen werden. Dies ermφglichte eine doppelte Messung fόr eine άberlappungsphase von vier bis fόnf Stationen, wobei die beiden Meίvorgange voneinander vollkommen unabhδngig sind. Spδtestens von N' = 150* an, also vom Umgehungsdreieck an, existiert dann nur noch das neue System. Die primδre Funktion des <Paradeigmas> dόrfte also - wenn die vorgeschlagene Hypothese richtig ist - dann gelegen haben, die Verschiebungsstrecke = 17 Va m als zuverAusbau
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Siehe Kienast 1995 (s. Anm. 6) Plan 3b m der hinteren Einstecktasche.
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lδssige, konstant verfόgbare Groίe an einen geeigneten Ort vor die geplante Abknickungsstelle (M) in den Tunnel hineinzubringen, um sie dort immer wieder abgreifbar zu halten61 und dann das neue System anzuschlieίen, und zwar mit einer sinnvollen Stabilisierungsόberlappung, in der sich zwei unabhδngige Meίvorgange gegenseitig stόtzen und ggf. korrigieren kφnnen, ohne daί der Architekt standig fast 200 m zum Mundloch des Tunnels zurόcklaufen muί, um jedesmal neu vom Nullpunkt der Messung auszugehen. Abgesehen von der idealen praktischen Zweckmδίigkeit der Position des <Paradeigmas> dokumentiert die Wahl dieser Stelle bei P = 100 auch jenen gewissen Sinn fόr mathematische Δsthetik, die wir auch an anderen Planungsentscheidungen des Eupalinos beobachten kφnnen: Bei T = 300 liegt der geplante Treffpunkt, das Umgehungsdreieck ist so in die ursprungliche Gerade hineinkonstruiert, daί sein Scheitelpunkt exakt bei = 200 liegt62: Sollte es da ein Zufall sein, wenn das <Paradeigma> bei P = 100 liegt, um von dort das neue Meίsystem beginnen zu lassen? Mit dieser ursprunglichen, primδren Funktion des <Paradeigmas> erklδrt sich nun auch die eingangs erwδhnte sonderbare Hόfthφhe der gesamten Inschrift: Es ist genau die Hohe, bei der ein nach unten ausgestreckter Arm endet (vgl. Tafel 1A). So kann mittels einer Schnur am ausgestreckten Arm genau waagerecht die verhδltnismδίig lange Strecke von 17 1 /2 m mit ziemlich groίer Prδzision abgenommen werden. Wie zweckmδίig die Hufthohe in diesem Fall ist, macht sich leicht klar, wer eine so lange Strecke an einer Wand in Brusthohe abzunehmen versucht62*.
VI. Ergebnis Auf der Grundlage dieser Indizien mφchte ich also folgende neue Hypothese zur Erklδrung der Paradegma-Inschrift im Tunnel des Eupalinos auf Samos vorschlagen: Die Inschrift (d. h. « » mit den beiden Markierungsstrichen rechts und links) im Ausbau des Tunnels stellt die nachtrδgliche άbertragung einer Inschrift an der Felswand aus der Zeit des Tunnelvortriebs dar, die fόr die Ausfόhrung des Tunnels, insbesondere die erfolgreiche Dreiecksumgehung von zentraler praktischer Bedeutung war. Zugleich dokumentierte sie gewissermaίen die fόr die Gestalt des Tunnels. Sie war der zur Zahl abstrahierte Plan - und insofern das <Paradeigma> - fόr das Hineinkonstruieren des Dreiecks in die 61
Es ist durchaus wichtig gewesen, die Strecke nicht nur durch ein oder zwei Meίschnure verfugbar zu halten, sondern eine konstante Vergleichsstrecke zu haben. Denn Meίschnόre sind extrem inkonstante Instrumente: durch Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen (drinnen/drauίen) sowie durch Ausleiern beim Spannen wahrend der Benutzung kann sich die Lange der Schnόre bereits binnen kόrzester Zeit erheblich verδndern (freundlicher Hinweis von A. Locher). 62 Vgl. Kienast 1995 (s. Anm. 6) 167: «. .die Tatsache, daί der Wendepunkt beim festgelegt wurde, zeigt aber, daί nicht nur auf die Beschaffenheit des Gesteins reagiert, sondern daί auch in dieser Situation gestalterisch geplant wurde.» Vgl. ebenda 154: «Verstandlich wird nun auch das Faktum, daί die runde Zahl = 200 just am Scheitelpunkt der Dreiecksumgehung aufgetragen ist Das Dilemma, daί ein solches Zusammentreffen eine Absicht voraussetzt, daί aber das Dreieck doch nur der Not gehorchend gezogen wurde und nicht zur ursprόnglichen Planung gehφrt, lφst sich auf denkbar einfache Weise auf insofern, als das Dreieck tatsδchlich erzwungen ist, seine Ausmaίe abei nach dem - neuen - Meίsystem ausgelegt wurden^ *2* Zum Abnehmen des Maίes in Hόfthφhe vgl. die Vermessungsszene in der δgyptischen Grabkammer des Menena um 1400 v. Chr.; vgl. Sellennek (s. Anm. 19) 26 Abb. 14
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Gerade und damit fόr die geniale Idee, die schlieίlich zu dem sensationellen Erfolg, daί sich die beiden Stollen am Ende tatsδchlich unter dem Scheitelpunkt des Berges getroffen haben, gefuhrt hat. Als solches schien es dem Architekten offenbar fόr die Nachwelt erhaltenswert, so daί er es in den Ausbau όbertragen lieί, und zwar an genau die Stelle, an der es ursprunglich gestanden hatte. Mag nach der Fertigstellung der Wasserleitung auch der praktische Nutzen der Anlage das Verhδltnis der Burger von Samos zu Tunnel bestimmt haben, so ist es doch vornehmlich die ingenieurtechnische Leistung des Eupahnos, die sie offenbar bis ins spate 5 Jh. mit Stolz erfόllt hat. Davon zeugt die eingangs zitierte bewundernde Beschreibung des Tunnels durch Herodot. Offenbar hat man ihn wie einen Touristen zum Tunnel als der Hauptsehenswurdigkeit der Insel gefuhrt und zudem mit den technischen Daten dieses Wunderwerkes όberschόttet63. Nicht die Funktionalitδt und Nόtzlichkeit sind es, die die Bewunderung hervorrufen, sondern die technische Leistung als einer Leistung des reinen menschlichen Intellekts. Dessen sind sich ganz gewiί auch Eupalinos und seine Zeitgenossen bewuίt gewesen. So hinterlieίen sie gleichsam als <Signatur> den Nachgeborenen, die wie Herodot dereinst den Tunnel besichtigen und begehen wόrden, ihre , jene Zahl, die den Hauern den Weg durch den Berg gewiesen hatte: das <Paradeigma>. Eupalinos dόrfte klar gewesen sein, welch eine epochale Leistung er vollbracht hat. Wasserleitungen gab es viele. Qanate in Mesopotamien, ein stattlicher Tunnel in Jerusalem, Wasserrohre in Mykene64 - doch nie zuvor hatten-sich Menschen so ausschlieίlich und so blind im wahrsten Sinne des Wortes auf ihre reine theoretische Vernunft verlassen. An die (theoretische) Stimmigkcit einer einzigen Zahl hatte man das Gelingen eines gewaltigen, mindestens 10-15jahngen Projektes gehangt! Der Tunnel des Eupalinos auf Samos und sein gehφren damit zu den herausragendsten Dokumenten eines erwachten theoretischen Bewuίtseins, wie es allenthalben im lonien des 6. Jhs. v. Chr. zu beobachten ist. Das entscheidende Moment dieses Bewuίtseins ist die Gewiίheit, daί der mathematisch-theoretische Entwurf und die physische Realitδt kompatible Strukturen aufweisen, so daί Realitδt in Mathematik und daί diese damit geeignet ist, jene zu begreifen und zu gestalten. Erst die ionische Naturphilosophie und das intellektuelle Selbstbewuίtsein dieser Zeit scheinen ein so kόhnes Projekt wie das einer zweiseitigen Tunnelgrabung dieses Ausmaίes auf der Grundlage reiner Theorie mφglich gemacht zu haben Wenn es richtig ist, daί Pythagoras um 570 v. Chr. auf Samos geboren wurde, dann hat er die Planung und den Beginn des Baus, mφglicherweise sogar den sensationellen Moment des Tunneldurchbruchs in der Mitte des Berges persφnlich miterlebt. Vielleicht offenbarte sich ihm in dieser Einlφsung eines mathemanschen Planes durch die Realitδt zum ersten Mal seme Einsicht, die auch heute noch unser technisch-naturwissenschaftliches Weltbild wesentlich bestimmt: «Alles ist Zahl».
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Die Daten, die Herodot nennt, beziehen sich grφίtenteils auf den Sudstollen, fόr eine detaillierte Diskussion der Maίangaben bei Herodot, insbesondere zu ihrer Genauigkeit s. Kienast 1995 (s Anm .6) 172-174 Zu Herodots Samosaufenthalt insgesamt s. R. Tolle-Kastcnbem, Herodot und Samos, Bochum 1976 Zur antiken Hydrotechnik insgesamt vgl. Toelle-Kastcnbem 1990 (s Anm 8) sowie G Garbrecht, Meisterwerke antiker Hydrotechnik, Stuttgart-Leipzig 1995, zum antiken Tunnelbau K. Grcwe, Licht am Ende des Tunnels Planung und Trassierung im antiken Tunnelbau, Mainz 1998. *
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is&gpsm ! H,^; ;$i-y» Tafel 1A Tunnel im Bereich der ΠΑΡΑΔΕΓΜΑ-Inschrift. Links sichtbar. ΑΔΕ
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Tafel l B mit Markicrungsstnch an der Westwand bei LM 797,70
ALBRECHT DIHLE Antike Überlieferung im Christentum"" Johannes Reuchlin, unter dessen Patronat wir hier versammelt sind, war ein wichtiger Repräsentant des Humanismus, jener Bewegung, die, von Italien ausgehend, ganz Europa erfaßte und sein Geistesleben für die Folgezeit nachhaltig gestaltete. Wir haben uns zu sehr daran gewöhnt, im Humanismus des Zeitalters der Renaissance nur eine Phase im Sakularisierungsprozeß der europäischen Kultur zu sehen. In der Tat ist es begründet, die neue Erschließung und Bewertung der antiken Quellen und das daraus entstehende Menschenbild mit einer Emanzipation aus geistlicher Bevormundung in Zusammenhang zu bringen. Indessen wird bei dieser Betrachtungsweise leicht übersehen, daß sehr viele Humanisten Kleriker oder theologisch produktive Laien waren. Die meisten unter ihnen sahen keinen ernstlichen Widerspruch zwischen dem christlichen Glauben und einem durchaus weltlich orientierten Rückgriff auf die vorchristliche Antike. Dieses Phänomen ist deshalb nachdenkenswert, weil man, vor allem unter Theologen, bis heute immer wieder die Meinung vertreten hat, es bestehe eine Art von Unversöhnlichkeit zwischen christlichem Glauben und griechisch-römischer Welt- und Lebensauffassung, und die angebliche «Hellenisierung» des Christentums sei ein Sundenfall gewesen. Indessen kam die Selbstverständlichkeit, mit der man jahrhundertelang beides ineins zu sehen vermochte, nicht von ungefähr. Sie hat weit in die Vergangenheit zurückreichende Grunde und bezeichnet ein entscheidendes Merkmal unserer Kultur. Es lohnt sich deshalb, diesem Sachverhalt nachzugehen. Lassen Sie mich, um das zu erläutern, mit einem merkwürdigen Vorgang der orientalischen Kirchengeschichte beginnen. Am Ende des 15. Jh. gelangten die Portugiesen an die Malabarküste, in das heutige Kerala, und trafen dort auf indische Christen, die den Apostel Thomas als ihren Glaubensboten verehrten. Sie betrachteten sich als Nestorianer, pflegten das Syrische als Sakralsprache, und der Katholikos im heutigen Irak war ihr geistliches Oberhaupt. Von dort erhielten sie immer wieder Unterstützung, z. B. durch die Entsendung von Klerikern. Im Bestreben, die Thomas-Christen zu einer Union mit der jrömischen Kirche zu bewegen, unterbanden die Portugiesen diese Beziehungen mit dem Einsatz ihrer Flotte. Als es dann indischen Delegierten im späten 16. Jh. doch einmal gelang, bis Bagdad vorzudringen, fanden die ihre Nestorianer in Schwierigkeiten verstrickt und außerstande, ihnen zu helfen. Da wandten sie sich an die andere dort residierende orientalische Kirche, die Monophysiten, und zu ihnen rechnen sich die Thomas-Christen, soweit sie nicht eine Union mit Rom eingegangen sind, bis heute. Die nestorianische und die verschiedenen monophysitischen Kirchen des Orientes, die dort in meist islamischer Umgebung überlebt haben, entstanden im Anschluß an eine theo* Vortrag am 7. Juli 1997 in Pforzheim anläßlich der Verleihung des Rcuchlin-Preises.
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logische Kontroverse, welche die griechisch-lateinische Kirche des römischen Reiches im 5 Jh. n. Chr. beschäftigt hatte. Es ging dabei um die Frage, wie man das Wesen des als Gott und Mensch verehrten Christus eindeutig beschreiben könne. Die Nestorianer beantworteten sie - vereinfacht ausgedrückt - dahingehend, daß der Mensch Jesus von Nazareth nachtraglich mit Göttlichkeit ausgestattet worden sei. Die Monophysiten vertraten die entgegengesetzte Position: Im Wesen des Herrn sei mit der Inkarnation gottliche und menschliche Natur zu einer einzigartigen, untrennbaren Einheit verschmolzen. Beide Lehren wurden von Konzilien der Kirche des Romerreiches verworfen, die erste in Ephesos 431, die zweite m Chalkedon 451, und bis heute gilt bei allen Christen, die in der Tradition dieser Konzilien stehen, das Bekenntnis zur wahren und unverbundenen Menschheit und Gottheit Christi als rechtgläubig. Die theologisch geschulten Verfechter aller drei Antworten auf diese Frage konnten sich auf Bibelstellen berufen, und niemand unter ihnen kam auf den Gedanken, die Menschwerdung Gottes anders denn als Mysterium zu betrachten, das sich jeder vernunftgemäßen Erklärung entzieht. Aber zugleich waren sie von der Denkweise griechischer Philosophie geprägt und darum bemuht, die Frage nach Sein und Wesen des dreieinigen Gottes, an den sie glaubten, so genau wie möglich zu stellen und sich darüber in eindeutigen Begriffen zu verstandigen. Die dabei verwendeten Termini wie Natur, Substanz, Sein, Hypostase, Person u.a.m., mit denen die Theologie dabei operierte, hatten ihren Ursprung in der Philosophie, genauer in der philosophischen Ontologie, die nach Wesen und Struktur des Seins und des einzelnen Seienden fragt. Wir sind heute leicht geneigt, im Streben nach immer größerer Genauigkeit in der Formulierung eines Dogmas ein Gutteil Spitzfindigkeit zu sehen. Die rebgiose Substanz des kirchlichen Glaubens, der sich auf ein Mysterium richtet und eher nach dem Handeln als nach dem Sein Gottes fragt, scheint uns hier aus dem Blick zu geraten Wir sollten aber Respekt haben vor dem Willen zur eindeutigen Verständigung über das, was damals allen Beteiligten das Wichtigste war, nämlich die Teilhabe am verheißenen Heu. Für den Historiker gilt es, die intellektuelle Energie zu begreifen, die dabei investiert wurde, und zu verstehen, daß diese Kontroversen um Sein und Wesen der Gottheit aus dem Geist griechischer Philosophie geführt wurden. Sie trugen ihrerseits viel zur Erweiterung des philosophischen Horizontes bei. Naturlich war die Masse der schlichten Glaubigen, denen es um die Gewißheit einer Kommunikation mit der Gottheit ging, damals so wenig wie heute in der Lage, alle philosophischen Implikationen des Streites um die richtige Glaubensformel zu verstehen. Daß sie sich trotzdem und oft mit Fanatismus dieser oder jener Richtung anschlössen, konnte viele, keineswegs immer religiöse Grunde haben. Bedingt jedoch waren solche Entscheidungen, genau so wie die intellektuellen Anstrengungen gebildeter Theologen, durch eine Eigentümlichkeit, die Schriftrehgionen von Kultreligionen unterscheidet. In christlicher Tradition kann die Kulthandlung, für sich genommen, die erstrebte Kommunikation mit dem Heiligen und seiner Segenskraft nicht vermitteln. Gefordert ist hier vornehmlich das Bekenntnis zu sehr bestimmten Auffassungen vom Wesen und Wirken der Gottheit und zu ihren Geboten für die Lebensführung des Gläubigen. Das alles gilt als Inhalt göttlicher Offenbarung, und darin muß der Glaubens- oder Kultgenosse zuvor unter-*" wiesen sein. Diese Konzeption war, wie vielen anderen Religionen, auch denjenigen der klassischen Antike ganzlich fremd. Dort kam es nur auf den korrekten und kontinuierlichen Vollzug des Kultes an. Auf ihn hatte die Gottheit Anspruch und vergalt ihn, so die Erwartung der Kultgenossen, mit ihrem Segen. Die den Kult begleitenden Mythen, auch
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theologische Erklärungen, konnten vielfaltig und variabel, ja sogar widerspruchlich sein, ohne daß es Anstoß erregte. Die Kommunikation mit der Gottheit vollzog sich eben in dieser Vorstellungswelt allein durch den kultischen Akt unter Einschluß seiner gesprochenen Formeln. Mochte auch ein verfeinertes moralisches Empfinden vom Opfernden nicht nur rituell gereinigte Ha*nde, sondern auch ein reines Herz erwarten, an definierte Auffassungen vom Wesen der Gottheit oder distinkte sozialethische Gebote waren Sinn und Wirksamkeit einer Kulthandlung deshalb nicht geknüpft. Wir haben uns daran gewohnt, Religiosität vor allem mit Glauben gleichzusetzen und sie darum in enger Verbindung zur Ethik zu sehen. So ist uns jene auf der Erde sehr verbreitete, nur um den Kult zentrierte Form der Religion fremd geworden. Man kann sie sich an einer Anekdote klar machen, die von einem berühmten Physiker erzählt wird. Auf die Frage, er glaube doch wohl nicht an die Segenskraft des Hufeisens, das über dem Eingang zu seinem Laboratorium hing, soll er geantwortet haben: Natürlich nicht, aber es hilft vielleicht, auch wenn man nicht daran glaubt. Entkleidet man diese Antwort ihrer Ironie, beschreibt sie ziemlich genau das Wesen reiner Kultfrommigkeit. Wir brauchen nicht orientalische Kirchengeschichte zu rekapitulieren, doch muß einiges zu den weiteren Schicksalen der Nestorianer und Monophysiten gesagt werden, mit denen jene indischen Christen zu tun hatten. Ihre Abspaltung hatten, wie geschildert, theologische Kontroversen um die Glaubensformel eingeleitet. Die Verfestigung dieser Gruppen zu Kirchen mit eigener Organisation hatte indessen vornehmlich politische und sprachlichethnische Grunde. Die Nestorianer wurden nach Osten, in das persische Reich abgedrängt, wo es schon früher Christengemeinden gegeben hatte, die der griechisch-philosophischen Tradition fernerstanden. Dort, mit dem Zentrum im heutigen Irak, formierte sich im 5. und 6. Jh. eine nestorianische Kirche. Sie trennte sich vom Westen und entfaltete eine bis nach China reichende Missionstätigkeit. Die Monophysiten hatten ihren Ruckhalt in Syrien und Ägypten, also auf dem Boden des Römerreiches, vor allem aber unter der syrisch bzw. koptisch sprechenden Bevölkerung. Bis ins 6. Jh. gab es Bemühungen, sie der Reichskirche zurückzugewinnen. Die islamische Eroberung dieser Gebiete besiegelte aber im 7. Jh. ihren Status als selbständige, von den Christen der griechisch-lateinischen Welt getrennte Kirchen. Bei diesen Christen außerhalb des griechisch-lateinischen Kulturraumes trat im Verlauf ihrer weiteren Geschichte der Ursprung ihrer Selbständigkeit in den theologischen Debatten mehr und mehr in den Hintergrund. Daran änderten auch liturgische Formeln nichts, die daran erinnerten. Diese Kirchen entwickelten sich zu statischen Kultgememschaften, die ihre Identität in der Sprache, der liturgischen und hagiographischen Überlieferung sowie in einer ihrer Umwelt angepaßten Sozial- und Verwaltungsstruktur gefunden hatten. Die fortgesetzte, immer neue Fragen aufwerfende theologische Diskussion, welche die Kirchen des Abendlandes charakterisiert und sie zu ejnem dynamischen Element unserer Geschichte werden ließ, erlosch im christlichen Orient. Über die religiöse Substanz, die Frömmigkeit, die diese Kirchen bewahrten, ist damit gewiß nichts gesagt. Wohl aber wird daraus die Entfremdung zwischen ihnen und den Christen Europas verständlich, und man versteht auch, warum die indischen Christen problemlos von den Nestorianern zu den Monophysiten überwechselten, in eine Gemeinschaft also, die ursprünglich die theologische Gegenposition vertreten hatte. Wenn es zutrifft, daß nichts die Selbstwahrnehmung so erleichtert wie die aufmerksame Betrachtung des Fremden, so bezeichnet dieses Beispiel einen guten Weg zum Verständnis unserer eigenen christlichen Tradition. Es ergibt sich aus diesem Vergleich nämlich die Frage,
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wo die Grunde für jene Dynamik und Wandlungsfähigkeit liegen, die das europaische Christentum bis in die neuere Zeit hinein auszeichneten. Es vermochte auf politische, soziale und mentale Entwicklungen nicht nur zu reagieren, sondern diese meist sogar selbst herbeizufuhren und gestaltete auf diese Weise die Geschicke der Volker Europas. Der Preis dafür war allerdings, daß es sich in eine lange Kette von Konflikten und Spaltungen verwickelte. Wiederholt mußten wir im Vorangehenden darauf hinweisen, daß die dogmatischen Auseinandersetzungen, die gerade die ersten Jahrhunderte der Kirchengeschichte erfüllten, mit Hilfe der Philosophie gefuhrt wurden, also mit philosophisch geprägten Begriffen und in Kategorien philosophischer Fragestellungen. Das ist eine Binsenweisheit, die man meistens in dem Sinn versteht, daß die christlichen Theologen von der Zeit an, da es philosophisch gebildete Einzelne unter ihnen gab, sich einfach eines bereithegenden Werkzeuges bedienten, um ihren Glauben zu definieren Das ist gewiß nicht verkehrt, jedoch wohl nur die halbe Wahrheit, denn zwischen der griechischen Philosophie der ersten nachchristlichen Jahrhunderte und der judisch-christlichen Tradition derselben Zeit bestand eine überraschende Affinitat. Die griechische Philosophie war etwas sehr anderes als das, was wir uns heute unter dem Wort vorstellen. Philosophieren bedeutete zuallererst, eine bestimmte Lebensweise zu praktizieren. Zweck der Lehre, die der Philosoph in Wort, Schrift und Vorbild weitergab, war die Begründung dieser Lebenskunst aus der vernunftgemäßen Einsicht in Aufbau und Wirken der Natur, und darüber galt es sich in widerspruchsfreier, logisch kontrollierter Rede zu verstandigen. Aus dieser Zweckbestimmung stammen die drei klassischen Disziplinen der Philosophie, Logik oder Dialektik, Physik und Ethik. Der Wettbewerb der Schulen und Richtungen führte dann über die Jahrhunderte zu immer neuen Theorien sowie zur Berücksichtigung fachwissenschaftlicher und literarischer Fragen in der philosophischen Diskussion. Aber bei allem Streit über den einzuschlagenden Weg, also den Inhalt der Lehre, waren sich alle in der Zielsetzung einig: Es ging um nichts als die rechte, zur natürlichen Bestimmung des Menschen leitende Lebensführung. Eben dieses allgemein anerkannte Ziel begründete die ungewöhnliche Breitenwirkung der Philosophie in der sogenannten nachklassischen Kultur der Antike. Die hier beschriebene Konzeption der Philosophie wurde im 1. Jh. v. Chr. um ein weiteres Element bereichert. Im Zusammenhang eines damals auch sonst beginnenden Klassizismus, also einer Orientierung an vergangener Große, erhielten die philosophischen Klassiker, vor allem Platon und Aristoteles, erhöhtes Gewicht Die Überzeugung, daß sie alles Wesentliche bereits gesagt hätten, inspirierte viele Kommentare zu ihren Werken Auch philosophische Traktate, in denen wir heute sehr originelle Gedanken entdecken, sollten oft lediglich der Interpretation der Klassiker dienen. Philosophische Grundgedanken suchte man aber auch aus den alten Mythen und Dichtungen in kunstvoller, zuweilen weit hergeholter Auslegung zu ermitteln, und dasselbe galt für Texte, die wirklich oder vermeintlich Weisheit aus Ägypten oder Persien enthielten. Textinterpretation wurde so zum Kernstück philosophischer Unterweisung. Im Judentum vollzog sich etwa gleichzeitig der Übergang von einer Kult- m eine Buchrehgion Das hatte im babylonischen Exil begonnen, betraf dann vor allem die Diaspora-Juden, im Mittelmeer-Raum mit durchweg griechischer Muttersprache, und wurde besiegelt durch den Verlust des Tempels von Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. Dieser war in langer priesterlicher und prophetischer Tradition zur einzigen von Jahwe sanktionierten Kultstatte geworden. Durch die Befolgung des offenbarten göttlichen Gesetzes sollte das
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Volk Israel als Eigentum seines Gottes geheiligt werden, damit er ihm im Tempelkult nahe kommen konnte. Nun mußten, nachdem der Kult für viele Juden unerreichbar geworden und schließlich ganz erloschen war, nicht nur die moralischen Gebote des Gesetzes, sondern auch sein für den Kult bestimmter Teil auf die ganze Lebensführung bezogen werden Das verlangte eine ständige, sachkundige Auslegung für die wechselnden Erfordernisse des individuellen und sozialen Lebens durch dazu befähigte Gelehrte. Schon früh entdeckte man darum auf griechischer Seite die Gemeinsamkeiten des Judentums mit der Philosophie: Beide hatten eine Lehre, die das ganze Leben regeln sollte, und auf beiden Seiten erschien derjenige am besten zur Menschenfuhrung geeignet, der sich auf die Auslegung der Texte verstand, welche diese Lehre enthielten. Der Leiter der Gemeinde, die wir aus den Funden von Qumran kennengelernt haben, hieß «Tora-Interpret». So ist es nicht überraschend, daß die Juden m griechischer Umgebung ihre Religion, die in der Synagoge, der Gebets- und Unterrichtsstatte, ihr Zentrum hatte, als Philosophie verstanden und bezeichneten. Ein jüdischer Autor des 1. Jh. n. Chr. etwa erläutert den Unterschied zwischen den Sekten des damaligen Judentums an den Auffassungen, die sie über das Verhältnis zwischen Vorbestimmung und Willensfreiheit vertraten, und bezeichnet sie darum folgerichtig als Philosophenschulen. Wo aber Juden das volle Maß der literarischen und philosophischen Bildung ihrer griechischen Mitwelt erworben hatten - und dafür gibt es sehr frühe Beispiele - lag es nahe, daß sie philosophische Begriffe und Methoden auf die Auslegung ihrer Heiligen Schrift anwandten, die sie damals in griechischer Übersetzung lasen. Die Schriften des Alexandriners Philon, eines Zeitgenossen des Apostels Paulus, geben uns Einblick in diese «Philosophie nach Moses». Obgleich sich Philon etlicher grundsätzlicher Unterschiede durchaus bewußt blieb, glaubte er doch auch viele inhaltliche Übereinstimmungen der Bibel mit philosophischen Lehren zu entdecken. Diese dienten ihm darum als Hilfe bei der Bibelinterpretation. So erläutert er z. B. die Aussagen der Bibel über die Verborgenheit Jahwes mit der sogenannten negativen Theologie, einer philosophischen Lehre, nach der man über Gott, den das begrenzte menschliche Erkenntnisvermögen nicht zu erfassen vermag, nur negative Aussagen machen kann. Wenn das Buch Exodus erzahlt, Gott habe mit seinem Diener Moses «wie mit einem Freunde» geredet, so bedeutete das für Philon, daß Moses die intelligiblen Urbilder der Sinneswelt, der Ideen Platons, schauen durfte. Im Platomsmus jener Zeit deutete man nämlich die platonischen Ideen als Gedanken Gottes. Die Erzählungen von den Patriarchen erklärte Philon als Allegorien der Tugenden, wie sie die philosophische Ethik klassifizierte. Dabei bediente er sich derselben Interpretationsmethode, mit der die Philosophen ethische und kosmologische Einsichten ihrer Schule in der alten griechischen Dichtung wiederfanden. Diese Beispiele genügen wohl, um die nicht nur methodische, sondern auch inhaltliche Nähe griechisch-jüdischer Schriftgelehrsamkeit zur Philosophie zu illustrieren, insbesondere aber ihre übereinstimmende Zielsetzung, die Anweisung zum rechten Leben. Die frühe christliche Mission hielt sich ganz im Rahmen der Synagoge. Sie vermittelte zunächst nichts weiter als die Neuinterpretation biblischer Texte im Licht der Ereignisse um die Person Jesu Die Geschichte vom Gang der Junger nach Emmaus am Ende des LukasEvangeliums veranschaulicht das in stilisierter Form, auch andere Stellen des NT und am deutlichsten die Geschichte von der Bekehrung des Eunuchen der Äthiopenkonigin im ersten Teil der Apostelgeschichte. Dieser, als ein dem Judentum Zugewandter aber nicht Übergetretener geschildert, sitzt auf seinem Reisewagen und liest während der Fahrt - laut, wie es in der Antike üblich war - im Buch Jesaja. Der Apostel Philippus, zufällig auf dem-
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selben Weg, hört es und fragt ihn, ob er denn den Text verstehe. Auf die Bitte des Äthiopiers, ihm eine Stelle zu erklären, deutet Philippus sie auf den Tod Jesu, und als sie an einen Bach kommen, bittet der so Belehrte um die Taufe. Die Bindung des religiösen Verhaltens an eine distinkte Glaubenslehre, in Geboten für den Lebensvollzug und Berichten über das gottliche Handeln schriftlich überliefert und stets der Auslegung bedürftig, begleitet den Betrachter durch die ganze Geschichte des europaischen Christentums. Das war ein Erbe der Synagoge, und es blieb unverkürzt erhalten, auch als die Kirche sich vom Judentum getrennt und seit dem 2. Jh. nach dem Vorbild ihrer heidnischen Umwelt einen eigenen, sakramental verstandenen Kult entwickelt hatte. Dieser vermittelte zwar mit der sinnfälligen Vergegenwartigung des Heiligen in der sakralen Handlung einen Anteil am Heil. Er blieb aber, ganz anders als m den übrigen Kultreligionen der Antike, untrennbar mit der schriftlichen Überlieferung und ihren ethischen Forderungen verknüpft. Dieses Erbe judischer Schnftrekgion verlangte nach der Unterweisung des Christen in der Glaubenslehre und nach Lehrern, die zur rechten Auslegung der Schrift für alle Lebenslagen befähigt waren. Freilich, auch der fortdauernde Streit um das rechte Verständnis der heiligen Texte erwies sich damit als unausweichlich. Es sind so die zwei Voraussetzungen bezeichnet, unter denen das Christentum das Erbe der griechisch-romischen Kultur antrat. Sein Kult, der sich immer weiter verfeinerte und Märtyrer, Reliquien, Heilige und vieles andere einbezog, ermöglichte die erstaunliche Kontinuität der religiösen Praxis im Rahmen der spatantiken Gesellschaft. Das Fest des Sonnengottes wurde zum Geburtstag Jesu, der aufgehenden Sonne der Gerechtigkeit, von welcher der Prophet gesprochen hatte. Der Heilgott Asklepios konnte an semen Kult- und Wallfahrtsorten durch Christus oder auch die heiligen Ärzte Kosmas und Damian ersetzt werden, und der alte Ritus an einem Heroengrab galt jetzt einem Märtyrer. Viele Beispiele ließen sich hier anfügen, und christliche Autoren jener Zeit haben darauf ausdrucklich hingewiesen. _Die andere Voraussetzung, die aus dem Judentum stammende buch- oder schriftreligiose Tradition, ist in unserem Zusammenhang die wichtigere. Wie vor ihnen die Juden übernahmen auch die Christen die Denk- und Argumentationsformen der griechischen Philosophie, sobald es die hinlängliche Zahl von Gemeindegliedern gab, die im Besitz der literarisch-philosophischen Bildung ihrer Mitwelt waren. Wie die Juden reklamierten auch sie den Titel der Philosophie für ihre Religion und glaubten, bei den griechischen Philosophen Parallelen oder auch Plagiate aus der Bibel zu finden. Genau wie die Philosophie sollte auch die christliche Religion das ganze Leben dessen bestimmen, der sich zu ihr bekannte. Auch darin, daß sich das nicht nur auf das rechte Leben m dieser Welt bezog, waren sich die Christen mit den damals dominierenden Platonikern einig, denn diese verhießen als Ziel des philosophisch geführten Lebens die Soteria, die Bewahrung des menschlichen Wesenskernes über den physischen Tod hinaus. Und wie unter den Philosophen entfaltete sich auch bei den Christen eine aus vielen Quellen gespeiste asketische Bewegung. Mit KontemplaEion verbundene asketische Praxis galt auf beiden Seiten als Mittel, den Menschen von den Zwangen'' der Körperlichkeit zu befreien, sein Erkenntnisvermögen zu steigern und ihn der Freiheit eines reinen Geistwesens naher zu bringen. Die Verwandtschaft zwischen Christentum und Philosophie bestand also in mehr als der Übernahme philosophischer Methoden. Doch erwies es sich bei dieser Übernahme als besonders zukunftstrachtig, daß sich die Christen damit auch große Teile der antiken Bildungstradition aneignen konnten. Sprachlich-literarische und formal-mathematische Unterwei-
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sung bildeten im griechisch-römischen Erziehungswesen nämlich den Unterbau der Philosophie. Schon im 2. Jh. begannen die Christen, daran Anteil zu gewinnen. Diese frühe Entwicklung ist erstaunlich angesichts der Verhaltnisse in einer Zeit, da das Christentum gerade bei Gebildeten weitgehend auf Ablehnung stieß. Wahrend man nämlich das hohe Alter des Judentums respektierte, galt die neue christliche Religion anfangs als unzivilisiert. Ihren Monotheismus, der die Verehrung jedes anderen Gottes ausschloß, wollte man nicht akzeptieren. Er entsprach der philosophischen Auffassung, daß das Ganze der Gottheit der begrenzten Erkenntnis des Menschen unfaßbar sei und sie darum in den vielen Landern des Imperiums mit Recht unter jeweils anderer Gestalt verehrt werde. Erst die Gesamtheit dieser Kulte aber garantiere den göttlichen Schutz der politischen Ordnung, welche die zivilisierte Menschheit umfasse. So etwa argumentierte der Platomker Kelsos in seiner Schrift gegen die Christen. Es gab durchaus christliche Autoren, die darauf mit der grundsätzlichen Ablehnung der antiken Kultur reagierten und in ihren Errungenschaften nur das Blendwerk der Dämonen sahen. Einer der radikalsten unter ihnen, der Syrer Tatian, betrachtete sich deshalb als Anwalt der wahren, christlichen Philosophie im Kampf gegen die falsche, heidnische. Daneben aber mehrten sich die christlichen Stimmen derer, welche die Rechts- und Friedensordnung des großen Imperiums begrüßten und sich seiner Kultur zugehörig fühlten. Sie sahen darin die von der göttlichen Vorsehung geschaffene Voraussetzung der ungehinderten Ausbreitung des Evangeliums. Auch Grundsatze des römischen Rechtes beeinflußten darum früh die Vorstellungen, nach denen die Christen ihr gemeindliches Leben verstanden und ordneten. Solche Anschauungen boten eine Grundlage, auf der nicht nur einfache Christen guten Gewissens in den Dienst des Kaisers, etwa als Soldaten, eintreten konnten. Den Wortführern der Christen erleichterte sie die Identifikation mit der antiken Bildungstradition oder doch vielen ihrer Teile, nicht zuletzt mit der Philosophie. Schon in der zweiten Hälfte des 2. Jh. vertrat ein Christ die Auffassung, daß das Gesetz vom Sinai, die griechische Philosophie und die Lehre Christi Stufen einer fortschreitenden Offenbarung des göttlichen Willens seien. Der wohl für judische Ohren bestimmten Äußerung eines platonischen Philosophen, der Platon einen «attisch sprechenden Moses» nannte, konnte jeder Christ zustimmen, denn Übereinstimmungen der «platonischen mit der hebräischen Philosophie» stellten eben auch christliche Theologen fest. Schon im frühen 3. Jh., als die Christen noch eine vergleichsweise kleine Minderheit darstellten, fehlte es unter ihnen nicht an Männern, die auf der Hohe der Bildung und Wissenschaft ihrer Zeit standen und von ihren nichtchristlichen Zeitgenossen entsprechend gewürdigt wurden. Zwar erklärte ein Platoniker, beim Christentum handele es sich um eine recht primitive Philosophie. Aber eine Kaiserin dieser Periode ließ sich von Origenes, dem damals bedeutendsten christlichen Theologen, Vorträge halten. In Origenes' theologischem Lehrprogramm hatten griechische Literatur und Philosophie ihren festen Platz. Auch die großen, in der Mitte des 3. Jh. einsetzenden Verfolgungen änderten nichts an dieser Stellung der Christen im Geistesleben der Zeit. Als dann im frühen 4. Jh. das Christentum anerkannt und schließlich zur Staatsreligion erhoben wurde, war also längst der Rahmen gesetzt, in dem Christen die geistige Führung der spätantiken Gesellschaft übernehmen konnten. Wenn auch die professionellen Lehrer an den alten Pflegestätten der Wissenschaft, Rhetorik und Philosophie noch für mehr als zwei Jahrhunderte vorwiegend Heiden blieben, zählten sie doch Christen unter ihre Kollegen und Studenten und standen im Austausch mit den Theologen, die damals den produktivsten Teil
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der geistig Tätigen ausmachten. Darum lassen sich auch Rückwirkungen der christlichen Theologie auf die Philosophie, ihre Lehrmeisterin, erkennen. Dahin gehört z, B. der Versuch, aus den griechischen Mythen durch entsprechende Deutung im Sinn platonischer Philosophie eine in sich geschlossene Lehre zu bilden. Sie sollte den fortdauernden heidnischen Kult nach dem Muster des christlichen begleiten und ihm einen moralischen Akzent geben. Wir besitzen noch ein Buch nach Art eines Katechismus, das von diesen Bestrebungen zeugt. Die reiche Briefliteratur, die aus dem 4. und 5 Jh. erhalten ist, beleuchtet die religionsubergreifende Kommunikation im geistig tatigen Teil der Gesellschaft. Aus der lateinischen und griechischen Poesie jener Zeit, die sich der alten Mythen bedient, laßt sich die Religion der Verfasser oft nicht erschließen, weil Christen und Heiden denselben literarischen Konventionen folgten, und Gedichte christlichen Inhaltes wurden in Sprache, Vers und Metaphonk nach der traditionellen Technik abgefaßt. Christliche Predigten verraten die - zuweilen auch ausdrucklich bezeugte - Ausbildung ihrer Verfasser in der traditionellen Rhetorik. In der Mitte des 4. Jh versuchte Kaiser Julian wahrend seiner kurzen Regierung, dem Heidentum seinen alten Platz zurückzugeben und die Christen aus dem Unterrichtswesen zu verdrangen Sein jüdisch-christlichen Vorstellungen entlehntes Argument war dabei, daß die alte Dichtung, das Medium des elementaren Schulunterrichtes, wegen ihres mythologischen Inhaltes religiöse Literatur sei und nur von Glaubigen behandelt werden dürfe. Die Maßnahme traf auf die Mißbilligung heidnischer Intellektueller, und ein christlicher Theologe dichtete in kürzester Zeit umfangreiche Paraphrasen biblischer Texte in homerischen Versen. Sie sollten statt Ilias und Odyssee die christlichen Schulkinder mit der Sprache und Formenwelt der alten Dichtung vertraut machen. Der frühe Tod Julians machte ihren Gebrauch überflüssig. Diese wechselseitige Durchdringung von Christentum und antiker Kultur war an die Sprachen, an das Griechische und Lateinische, gebunden. Auch deshalb verlor sie sich in den orientalischen Kirchen mehr und mehr. Für Europa aber hatte diese Verschwisterung größte Bedeutung. Christliche Mission wurde seither zur Übermittlung einer Zivilisation, die ihren Anspruch auf Weltgeltung gerade auch nach ihrer Christianisierung aufrecht erhielt. Dieser Kulturstolz ist ein Erbstuck, welches das christliche Abendland aus der Spatantike übernahm Nicht nur zur Abgrenzung gegenüber fremder Eigenart führte dieser Stolz, er bedeutete auch steten Ansporn zu neuen Leistungen, und eines wird bei dem modern gewordenen negativen Urteil über den sogenannten Eurozentrismus geflissentlich übersehen. Es war zuerst die in griechischer Tradition gepflegte Wissenschaft, die uns Europaer mehr als Angehörige anderer Zivilisationen zu Verständnis und Würdigung fremder Kulturen befähigte. Bis auf den heutigen Tag zeichnet sich das europaische Geistesleben durch eine tief in Politik und Alltag hineinwirkende Dynamik und Wandlungsfähigkeit aus. Der unserer kulturellen Wesensart eigene Drang, nach Neuem nicht nur zu suchen, sondern es möglichst^ auch herbei zufuhren, hat zu erstaunlichen Einsichten und großen Leistungen geführt, ist aber auch Ursache vieler leidvoller Konflikte, die unsere Geschichte kennzeichnen. Das gilt uneingeschränkt auch für die Theologie, bis an die Schwelle der Neuzeit die führende Geistesmacht, und zwar unerachtet der allem religiösen Leben innewohnenden Kräfte der Bewahrung. Die Theologie hatte, wie wir sahen, das Erbe antiker Wissenschaft und Philosophie in sich aufgenommen und brachte es auf die verschiedenste Weise zur Wirkung. Am Gegenbild der Kirchen des Orientes, in denen die Nachwirkung des antiken Erbes all-
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mählich erlosch, kann man sich den Gang unserer eigenen Geschichte besonders deutlich machen. Schließlich, und damit kehren wir zum Eingang unserer Betrachtung zurück, hielt unsere christliche Tradition noch eine besondere Option bereit. Das in ihr aufgehobene Erbe eröffnete dem, der es in der eigenen Vorstellungswelt wahrzunehmen verstand, den Weg zu den antiken Quellen. Er wurde immer wieder beschritten, und darum gab es in der europäischen Geschichte, das griechische Ostrom eingeschlossen, viele Renaissancen, bewußte Anknüpfungen an nie verschüttete antike Vorbilder. Jedesmal bewies dieses Erbe seine Vitalität, indem ein neues Verständnis seiner Überlieferungen auch die Erschließung neuer Felder geistiger Tätigkeit möglich machte. Die kulturellen Schöpfungen, die daraus entstanden, erwiesen sich dabei stets in dem Sinn als selbständig, als sie ihre antiken Vorbilder hinter sich ließen. In den letzten Jahrhunderten war es dann weniger die Theologie, die antikes Erbe vermittelte. Wissenschaft und Philosophie, ebenso wie Literatur und Bildende Kunst, die sich aus der geistlichen Aufsicht emanzipierten, traten in die Vermittlerrolle ein und haben sie mit Erfolg gespielt. Das bezeugen z. B. die reiche Entfaltung der Wissenschaft in den von den Griechen gewiesenen Bahnen und die Erschließung des Romischen Rechtes für den neuzeitlichen Staat. Der Weg zur Neuentdeckung antiken Erbes ist auch heute nicht verschlossen. Ob er aber beschritten wird und daraus neue Kreativität erwächst wie so oft in der Vergangenheit, kann niemand voraussagen. Spiritus ubi vult spirat. Aber wir können versuchen, das Erbe, so gut es uns gelingen will, gegenwärtig zu halten. Und das ist wohl auch der Grund dafür, daß der Preis, den ich heute dankbar entgegennehmen durfte, mit dem Namen des großen Sohnes dieser Stadt geschmückt ist.
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REINHARD MEHRING Humanismus als «Politicum» Werner Jaegers Problemgeschichte der griechischen «Paideia» Werner Jaeger war Nachfolger von Wilamowitz-Moellendorff in Berlin, entwickelte in den 20er Jahren eine humanistische Programmatik und führte diese dann mit seinem dreibändigen Werk «Paideia» durch 1936 emigrierte er zunächst nach Chicago und wechselte später nach Harvard: So etwa liest sich Jaegers glanzvolle akademische Biographie auf den ersten Blick. Genauer betrachtet sind einige Korrekturen notig: Als nationalkonservativer Gelehrter stand Jaeger der Weimarer Republik reserviert gegenüber und erhoffte sich vom Nationalsozialismus 1933 kurzfristig die bildungspolitische Durchsetzung seines humanistischen Programms. Der pädagogisch-politische Anspruch gefährdete die wissenschaftliche Methode und den Ertrag von Jaegers Werk insgesamt. Es gibt eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der zeitgenossischen Wertschätzung und den heutigen Vorbehalten gegenüber seinem Werk. Es wird heute von altertumswissenschaftlicher Seite meist skeptisch beurteilt. Bruno Snell meldete direkt Vorbehalte an.1 Uvo Holscher bemerkte 1965 mit kollegialer Konzilianz: «Man wird Jaeger nicht für den Überschwang verantwortlich finden, mit dem sich einen Augenblick lang der mit dem verwechselte».2 Johannes Irmscher sprach 1980 von einem «bildungspolitischen ».3 In den letzten Jahren wurden einige Untersuchungen mit dieser politischen Perspektive auf Jaeger veröffentlicht. Manfred Landfester bemerkte zur Programmatik: «Ohne ausdrucklich widerlegt oder durch einen besseren Klassikbegriff außer Kraft gesetzt worden zu sein, hat der Jaegersche Begriff im wesentlichen durch den Sundenfall von 1933 verspielt. Indem der Paideia-Begriff, der seinem Wesen und seiner Funktion nach auch ein kritischer Utopiebegriff war, ungetarnt zur Affirmation des nationalsozialistischen Staates eingesetzt wurde, hat er nicht nur für die damalige Situation seine ursprüngliche Funktion, sondern auch seine moralische Überzeugungs1
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So in einer Besprechung von 1935, Wiederabdruck in ders, Gesammelte Schriften, Gottingen 1966, 32-54; vgl. ders., Politischer Humanismus, in ders., Die alten Griechen und wir, Gottingen 1962,26-33, ders, Die Entdeckung des Geistes, Hamburg 2. Aufl. 1948,245 ff. Uvo Hölscher, Selbstgespräch über den Humanismus, in: ders., Die Chance des Unbehagens Zur Situation der klassischen Studien, Göttingen 1965, hier: 75; vgl. ders., Angestrengtes Griechentum, in FAZ, v. 30 7. 1988 Die klassische Altertumswissenschaft in der faschistischen Wissenschaftspolitik, in: Altertumswissenschaft und ideologischer Klassenkampf, Halle 1980, 79; vgl ders, Werner Jaeger zum 100 Geburtstag. Zwei Vorträge, Berlin 1991; vgl. auch Gisela Müller, Die Kulturprogrammatik des dritten Humanismus als Teil imperialistischer Ideologie in Deutschland zwischen erstem Weltkrieg und Faschismus, Diss. Berlin (Ost) 1978, Müllers Dissertation komextualisiert Jaeger im damaligen bildungspohtischcn Diskurs, arbeitet die bildungspoliuschen Zielsetzungen heraus, ohne sie zu denunzieren, und macht, von einer Kritik an Jaegers Holderiinbild ausgehend, kunstphilosophische Einwände gegen Jaegers Konzept des Klassizismus. Sie kritisiert Jaegers Klassizismus als ästhetische Theorie.
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kraft verloren».4 Dagegen schreibt Beat Naf: «Zutiefst war Jaeger das Aufkommen des Nationalsozialismus gleichgültig. Ihm kam es nur auf die Verankerung der Antike in der Kultur, faktisch primär der Altertumswissenschaften und des altsprachlichen Gymnasiums, in Gesellschaft und Staat an»5. Heute scheint ein gewisser Konsens darüber zu bestehen, daß Jaegers bildungspohtische Programmatik den wissenschaftlichen Ertrag seines Werkes belastete. William M. Calder II., der die Diskussion in den letzten Jahren neu initiierte, resümiert in diesem Sinne negativ: «Jaegers mehr populärwissenschaftliche Leistung ist vergessen [...] Nur durch ihre Konjekturen gewinnen die Philologen Unsterblichkeit».6 Dieses Urteil ignoriert Jaegers Absichten. Und es erklart das zeitgenossische Ansehen nicht. Selbstverständlich wollte Jaeger ein korrektes Gesamtbild des klassisch-antiken Bildungsdenkens geben. Er zielte aber darüber hinaus wissenschaftspolitisch auf eine Relevanzbehauptung der Altertumswissenschaft durch Vergegenwartigung der Antike. Jaeger sah die Gefahr einer Marginahsierung des Faches an der Universität und in den Schulen und empfahl die Altertumswissenschaft als bildungstheoretische Onentierungsdisziplin für die akademisch sich gerade von der Philosophie emanzipierende Pädagogik. Es gelang ihm dabei, eine Humanismusdiskussion zu initiieren, m der die Altertumswissenschaft eine Meinungsfuhrerschaft wiedergewann. Die folgende Studie hat drei Ziele. Sie situiert Jaegers Programm eines «dritten Humanismus», unter Embezug bisher unbekannter Berliner Quellen und Diskussionskontexte, als «staatsethische» Antwort in die Weimarer Zeit; sie deutet, zweitens, das Werk «Paideia» als problemgeschichtliche7 Durchführung der humanistischen Programmatik; und sie diskutiert diese, drittens, in ihren kontraintentionalen Resultaten. /. Jaegers «staatsethische» Programmatik im Weimarer Kontext Jaeger (1888-1961) habilitierte sich 1913 in Berlin. Seine Lehrer waren Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff8 Philosophisch war Jaeger von Alois Riehl9 beson4
Manfred Landfester, Die Naumburger Tagung (1930) Der Klassikbegriff Werner Jaegers· seme Voraussetzung und seme Wirkung, m Altertumswissenschaft m den 20er Jahren, hrsgg H Flashar, Stuttgart 1995, -40, hier 40, vgl. Donald O White, Werner Jaeger's
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ders beeindruckt. 1914 wechselte er nach Basel, 1915 nach Kiel. Zum Wintersemester 1921 kehrte er als Nachfolger von Wilamowitz nach Berlin zunick.10 In den 20er Jahren formulierte er seine Programmatik, die er 1937, vor Abschluß von «Paideia», mit seiner Sammlung «Humanistische Reden und Vorträge» bundig publizierte. Neben kürzeren Würdigungen seiner Lehrer Diels und Wilamowitz, bildungspolitischen Beiträgen zur Gegenwart («Humanismus und Jugendbildung», «Stellung und Aufgabe der Universität in der Gegenwart», «Die Antike im wissenschaftlichen Austausch der Nationen») und knappen Expositionen seiner humanistischen Programmatik («Der Humanismus als Tradition und Erlebnis», «Antike und Humanismus», «Die geistige Gegenwart der Antike») publizierte er dort vor allem zwei größere Beiträge zur Durchfuhrungsrichtung seiner Programmatik: «Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato», eine Berliner Universitatsrede von 1924, und «Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung» von 1927. Demnach verband Jaeger seinen humanistischen Vergegenwärtigungsanspruch eng mit der Bildungstheorie Platons; und er betrachtete diese politisch im Zusammenhang der griechischen Staatsethik. Jaegers «dritter Humanismus» war, anders als der ästhetische Neuhumanismus der Goethezeit, ein «politischer Humanismus» (B. Snell). Jaeger situierte seine Altertumswissenschaft in der bildungspolitischen Problematik und Lage der Weimarer Zeit.11 Mit dem humanistischen Gymnasium sah er Voraussetzungen seines Faches bedroht. Wie eine Stimme aus versunkener Welt klingt heute seine Problemsicht: «Es wird der Tag kommen, wo wir Universitatsprofessoren von unseren Kathedern hinuntersteigen und mit den Studenten wieder lateinisch und griechisch sprechen und schreiben werden, weil ohne diese Voraussetzung all unsere höhere Wissenschaft ins Bodenlose gesäet wird».12 Griff Jaeger mit seinem Vergegenwärtigungsanspruch auch in zeitgenossische Debatten und institutionelle Fragen der damaligen Bildungspolitik ein, so sah er seinen Anspruch doch im geschichtsphilosophischen Zusammenhang des Historismusproblems. Der Historismus artikulierte das zeitgenössische politische Problem des ethischen Relativismus und Pluralismus der Weltanschauungen. Berlin war damals noch eine Hochburg des Historismus.13 Meinecke lehrte bei den Historikern. Dilthey war noch nicht lange verstorben und sein Einfluß allenthalben präsent. Dilthey hatte mit seiner Weltanschauungstypologie und LebensphiJosophie den Versuch gemacht, das Relativismusproblem des Historismus zu ent-
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führte seine «Wendung zur griechischen Philosophie» auf den Einfluß der Platonforschungen des Marburger Neukantianismus Cohens und Natorps zurück: «Unter seinem Einfluß vollzog sich in mir die Wendung zur griechischen Philosophie. Es war eine Wendung zur Philosophie überhaupt, so schien es, und ich habe ihr Jahre intensiver Beschäftigung gewidmet» (Autobiographische Einführung, Scripta minor a, XIII); vgL auch Jaegers Nachruf auf J. Stenzel, in: Gnomon 12 (1936), 108-112 Zur Berufungsgeschichte vgl. William M. Calder III· 12. March 1921: The Berlin Appointment, in Werner Jaeger Reconsidered, aaO 1-24; Wilamowitz vertrat den beurlaubten Jaeger übrigens im Sommersemester 1929 einmal: Universitats-Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätskurator Personalakte Werner Jaeger, im folgenden abgekürzt* UAHUB UK PA J 13 Bd. I, Bl. 38. Zeitgenossischer Überblick bei Hermann Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland, in: ders u. L. Paliat (Hrsg.), Handbuch der Pädagogik. Erster Band: Die Theone und die Entwicklung des Bildungswesens, Berlin 1933,302-373. Humanismus und Jugendbüdung (1921), in: Humanistische Reden und Vortrage, Berlin 1937,54 f Zur besonderen Bedeutung der Berliner Universität für die Entwicklung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert vgl. E. Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tubingen 2. Aufl. 1930.
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scharfen, indem er die «Anarchie» der «Systeme» durch vergleichende Typologisierung auf wenige mögliche letzte Gegenstande reduzierte und lebensphilosophisch auf die «Vieldeutigkeit» des «Lebensratsels» zurückführte.14 Unter den Berliner Philosophen führten u a. die Ordinarien Ernst Troeltsch15 und Eduard Spranger16 Diltheys Ansatz weiter. Auch Jaegers Revindizierung klassischer Maßstabe abendlandischer Humanität steht im Problemzusammenhang dieser zeitgenossischen Versuche zur «Überwindung» des Historismus.17 In seinem grundlegenden Vortrag «Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung» bezieht Jaeger sich 1927 ausdrucklich auf die Historismuskritik des 1923 verstorbenen Troeltsch' «Die Frage nach dem Wert der Geschichte fuhrt zurück auf die Tatsache der Geschichtlichkeit der Werte Den besonderen Wert der Alten brauchen wir dann nicht aus abstrakten Prinzipien zweifelhafter Herkunft philosophisch abzuleiten, sondern wir werden seiner unmittelbar mne dadurch, daß durch die geschichtliche Erkenntnis der Alten unsere eigenen Werte auf die ursprünglichste Art in uns lebendig werden und wir jene als konstituierenden Teil unsres eigenen Wesens begreifen».18 Die Anknüpfung an Troeltsch ist oberflächlich Denn Jaeger eskamortiert mit seiner Rede von der intuitiven Gewißheit des besonderen Bildungswertes der Antike gerade das Problem, das er beantworten mochte: daß das Vergangene nicht selbstverständlich als Tradition präsent ist und das Relativismusproblem des Historismus dann besteht, wie die Andersartigkeit historischer Individuen verstanden werden kann. Vielmehr formuliert Jaeger das eigene Anliegen, die «Bildungsgeschichte des Altertums selbst als Geschichte der Grundformen» der abendlandischen Kultur zu betrachten. Gerade weil Jaeger die geschichtsphilosophische Problematik seines Vergegenwartigungsanspruchs nicht voll erfaßt, kann er das Problem politisch auffassen und an die Bildungspolitik delegieren. «Der Humanismus ist unbedingt ein Politicum», meint Jaeger.19 Dieses Politikum humanistischer «Bildung des Menschen zum Menschen»20 habe Platon aus dem Erlebnis des Sokrates begriffen. In skeptischer Reserve gegenüber dem modernen «Individualismus» empfiehlt Jaeger der bedrängten Nation damals eine Orientierung am klassisch-griechischen Vorrang der «Staatsethik» vor der Individualethik:
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Vgl nur ders, Die Typen der "Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen, in: ders, Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie, Gesammelte Schriften Bd VIII, 75-120 Der Historismus und seine Probleme, Tubingen 1922; Der Historismus und seine Überwindung Fünf Vortrage, hrsgg. H Baron, Berlin 1924 Dazu vgl. ruckschauend nur E. Spranger, Das Histonsmusproblem an der Berliner Universität seit 1900, m· ders, Berliner Geist, Tubingen 1966,147 ff, vgl F. Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, in ders, Staat und Persönlichkeit, Berlin 1933,54 - 64. Ohne Verweis auf den zeitgenossischen Kontext wurde dies unlängst fur Leo Strauss* Ruckgang auf die , Antike gezeigt (H Meier, Die Denkbewegung von Leo Strauss Die Geschichte der Philosophie und die Intention des Philosophen, Stuttgart 1996) Strauss arbeitete in den 20er Jahren der Berliner Universität benachbart an der Akademie für die Wissenschaft des Judentums und lehnte Jaegers Antwort ab Platos Stellung im Aufbau der griechischen Bildung (1927), m. Humanistische Reden und Vorträge, 125-168, hier 133 Die geistige Gegenwart der Antike (1929), m. Humanistische Reden und Vortrage, 173.
Humamsmusdehmtionen Antike und Humanismus, in Humanistische Reden und Vortrage, bes 114f, Paideia Bd 1,13 £f, 380 ff, Bd. II, 360, Bd III, 86 ff.
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«Uns aber möge es vergönnt sein, mit Ernst um einen Staat zu ringen, der seines Namens würdig ist. Wir sind gleich ferne von dem dämonischen Machtsinn der Griechen und von der überschwenglichen Schau ihrer reinen Idee, aber auch für unser geschichtserfulltes und vom Gedanken der Nation getragenes staatliches Leben bleibt es höchstes Ziel, was der große deutsche Staatsdenker Hegel vor 100 Jahren zum erstenmal wieder von den Griechen lernte: Staatsmacht und Staatsethos in wahrhaften Einklang zu setzen.21 Jene Macht wünschen wir dem. Staat, die fähig ist, ihn zu verteidigen gegen Willkür draußen und drinnen. Ein wehrloser Staat, mußte Hegel in einer der unsern ähnlichen Lage Deutschlands erkennen, ist kein Staat im vollen Sinn, weil er nicht die Kraft hat, seinen idealen Wesensgehalt zu verwirklichen».22 Die Weimarer Republik erscheint Jaeger demnach 1924 nicht «im vollen Sinn» als ein Staat. Die Bildungsgeschichte Griechenlands wird ihm zum Spiegel der Erörterung aktueller politischer Probleme. Eine Ausformulierung seiner staatsethischen Überlegungen gibt Jaeger 1932 in seinem Vortrag «Staat und Kultur». Dort skizziert er eingangs die Geschichte der liberalen Forderung einer «Kulturnation» seit dem Neuhumanismus und konstatiert die aktuelle Notwendigkeit einer «Rückwendung des Geistes zum Staat»: «Die Entwicklung der Kultur von den rein vom Individuum aus gedachten Menschenrechten von 1789 zu der erneuten Einordnung des Einzelnen in das ubenndividuelle Gefuge des Staates, wie sie dann in der Staatsphilosophie Hegels theoretisch begründet wird, bedeutet die Rückkehr von der spatantiken Stufe des kosmopolitischen aufgeklarten Individualismus zum echten Staatsgeist der klassischen Periode des Griechentums. Er schwebte Hegel von Anfang an als Vorbild vor Augen».23 «Die Bedeutung des griechischen Lösungsversuches liegt nicht in seiner direkten Übertragbarkeit, sondern in seiner zwingenden Typik und in der Reinheit und Scharfe, mit der die Frage hier erfaßt ist»24 Jaeger präsentiert seine Fragestellung 1932, kurz vor Erscheinen des ersten Bandes von «Paideia», also als aktuell lehrreiche Problemgeschichte des Verhältnisses von Staat und Kultur. Angesichts einer «Antinomie» fordert er «Staatsgesinnung» nach antikem Muster. Er parallelisiert sein «staatsethisches» Anliegen mit Hegels politischer Antikerezeption. Vor allem in seinem Buch über «Demosthenes» sowie philosophisch vertiefend in «Paideia» erörtert Jaeger aktuelle nationalpolitische und «staatsethische» Probleme im Spiegel griechi21
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Die Formulierungen konnten direkt von Jaegers Berliner Kollegen Friedrich Meinecke aufgenommen sein Dessen gleichzeitig 1924 erschienene «Idee der Staatsräson» formulierte einleitend eine Spannung von «Kratos und Ethos» und eröffnete damit die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die «Dämonie der Macht» Die Parallelisierung der politischen Gegcnwartslage mit Hegels Verfassungsdiagnose war damals verbreitet und findet sich vielfach etwa bei den konservativen Staatslehrern C. Schmitt und E. R Huber. Zur zeitgenössischen Rede von «Staatsethik» vgl. z. B. Carl Schmitt, Staatsethik und pluralistischer Staat, in: Kantstudien 35 (1930), 28-42. Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Plato (l 924), 93 -109, hier. 109 Staat und Kultur, in* Humanistische Reden und Vortrage. Zweite erweiterte Auflage, Berlin 1960,195-214, hien 198; zuerst in: Die Antike 8 (1932) 71 -89; über die Gründe, weshalb Jaeger diesen aufschlußreichen Vortrag nicht in die Sammlung von 1937 aufgenommen hat, die doch das Programm von «Paideia» dokumentieren sollte, kann hier nur spekuliert werden. Ein sachliches Motiv konnte sein, daß die Durchführung an die Stelle der Skizze treten sollte. Politisch betrachtet bieten sich zwei Motive an Für den deutschen Leserkreis war die Problemlage nach 1932 grundlegend gewandelt Bei der Emigration in die USA schien eine Dokumentation des nationalpolitischen Aktualisierungsanspruchs wenig opportun. Ebd. 208
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scher Geschichte: Laßt sich das Pohtikum des Individualismus auf dem Wege der Staatserziehung verantwortlich losen? Ist die Nation überhaupt noch die geschichtlich gegebene Bezugsgroße politischer Erziehung? Kann sie sich im Prozeß fortschreitender politischer Globalisierung als maßgebende politische Einheit behaupten? Politisch konkret gefragt: Hatte ein wahrer Staatsmann die Macht, die politische Einheit der Nation zu retten? Jaeger redet von der Nation, vom Staat und vom Staatsmann. Er redet nicht von der Republik. Nation und Staat sind ihm eng verbunden, ohne daß er beide Kategonen hinreichend klar unterschiede. Und er spricht die politische Fuhrung der Nation primär nicht den republikanischen Burgern, sondern einem außenpolitisch agierenden Staatsmann zu. Damit resultiert Jaegers Problemperspektive einer parteipolitisch hier nicht naher zu identifizierenden nationalkonservativen Sicht der Problemlage Weimars. Jaeger sieht die politischen Probleme der Antike nicht unkritisch mit den Augen Weimars, sondern betrachtet die Antike ganz bewußt in der politischen Parallele zu Weimar und im Hinblick auf dessen Lage. Eine solche Spiegelung der Gegenwart in der antiken Geschichte war für die Altertumswissenschaft nicht ungewöhnlich So faßte J. G. Droysen die «Geschichte des Hellenismus» als historisches Modell nationaler Einigung auf und trat dabei der verbreiteten «Parteilichkeit» für Athen entgegen. «Ware man sich nur im entferntesten bewußt, worauf es in der Geschichte Griechenlands ankommt, man wurde aufhören, dieselbe für Athen zu monopolisieren oder gar für Sparta» 25 Droysen ergriff für Philipp von Makedonien gegen Demosthenes und den Selbstbehauptungskampf Athens Partei. Jaeger richtet sich bewußt gegen Droysens Wertung des Hellenismus.26 In unserem Zusammenhang ist interessant, daß eine verwandte nationalpolitische Spiegelung der Gegenwart m der Antike im Abstand von einem Jahrhundert zu unterschiedlichen Wertungen kommt. Rechtfertigt Droysen die Hellenisierung der Poliswelt als geschichtliches Modell für den deutschen Einigungsprozeß, so sieht Jaeger die deutsche Einheit in Weimar durch neue politische Globalisierungsprozesse gefährdet und erhebt den Selbstbehauptungskampf Athens und der klassischen Polisverfassung zum staatsethischen Leitbild für die Gegenwart. Der Aktualitatsanspruch der griechischen Büdungsgeschichte erhalt seine Brisanz durch diese nationalpohtische Kontextuahsierung und Parallehsierung der Problemsicht. Athen ist Weimar, scheint Jaeger anzunehmen oder zur Relevanzbehauptung der eigenen Problemgeschichte nahezulegen. Betrachtet er den Humanismus ausdrucklich als Politikum, so liegt das Politikum seiner Untersuchung in dieser Parallelisierung von Athen mit Weimar Jaegers Fragestellung resultiert aus keiner Oppositionshaltung gegenüber dem Nationalsozialismus, sondern aus einer konservativen Sicht der nationalpolitischen Situation der Weimarer Republik. Um keine Mißverständnisse zu wecken: Weder steht Jaegers Werk in deutlicher Antistellung zur Weimarer Republik noch affirmiert es den Nationalsozialismus ideologisch. Es steht vielmehr beiden Systemen mit einer historisch abgeklärten Distanz gegenüber. Damit ist es ein repräsentatives Werk nationalkonservativer Zwischenstcllung eines bürgerlichen Gelehrten zwischen Republik und Diktatur. Jaegers «dritter Humanismus» war damals m Berlin nicht unumstritten. Sachliche Berührungspunkte gab es insbesondere mit Eduard Spranger, derh Dilthey-Schüler und 25 26
Vorwort zum dritten Band der Geschichte des Hellenismus. Geschichte der Epigonen, hrsgg. Ench Bayer, Geschichte des Hellenismus. Dritter Teil (l 843), Tubingen 1953, XXI f Sachliche Bedenken gegen diesen Idealtyp bei Remhold Bichler, «Hellenismus». Geschichte und Problematik eines» Epochenbegnffs, Darmstadt 1983.
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Pädagogen in der Philosophie. Doch obwohl Spranger die Formel vom «dritten Humanismus» prägte, orientierte er sich nicht primär an der Antike.27 Und auch der 1931 nach Berlin wechselnde Extraordinarius Ottomar Wichmann, der von Kant und Platon ausging, rezipierte Jaeger nicht grundlegend. Unter den Philosophen verfaßte Kurt Hildebrandt28, aus dem George-Kreis kommend und damals nach Intervention des Kultusministers C. H. Becker für einige Jahre in Berlin lehrend, eine scharfe Absage an Jaeger und dessen philologische Methode. Der junge Privatdozent Helmut Kühn sprach 1929 auf Jaegers Tagung über «Das Problem des Klassischen» kritisch vom Klassischen als «historischem Begriff» und problematisierte den normativen «Geltungsanspruch» dieser Rede.29 1934 publizierte er eine Besprechung des ersten Bandes von «Paideia», die sich auch im Ton scharf von Jaegers Programm distanzierte: «Unsere Existenzfrage zu stellen, werden wir immer wieder von den Griechen und ihrer Philosophie lernen müssen - ihre Losung aber können wir nicht mehr in der Weise des Neuhumanismus von einem noch so groß geschauten Griechenbild ablesen».30 Kühn kritisierte namentlich Jaegers «Hinblick auf Platon» und suchte seinen Zugang m der Auseinandersetzung mit Sokrates zu gewinnen. Sein «Sokrates»31 folgte Jaegers - spater ausgeführter - Annäherung Platons an Sokrates nicht, sondern unterschied die «sokratische Frage» scharf von der ontologischen «Antwort» Platons. Aus der Heidegger-Schule stand auch Gadamer32 damals in Distanz zu Jaegers humanistischem Programm. Einen Vermittlungsversuch unternahm Ende der 30er Jahre Ernesto Grassi33, der 1938 nach Berlin 27
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Dazuvgl die Briefe Sprangers vom 17 2.1917 an Jaeger und vom 25. 8 1957 an Th Haermg, vgl. Sprangers positive Aufnahme des Anstotelesbuches, Brief v 6 8. 1923 an Jaeger, sowie die Briefe v 3 8 1938 und 7. 2 1939, in. Eduard Spranger, Bnefe 1901-1963, Gesammelte Schriften Bd VII, Tübingen 1978, 1957 publizierte Jaeger in der Spranger-Festschrift einen Beitrag über das Verhältnis des Neuhumanismus zur griechischen Klassik. Friedrich Holderhns Idee der griechischen Bildung, in Humanistische Reden und Vortrage Zweite erweiterte Auflage, Berlin 1960,240-249. Das neue Platon-Bild Bemerkungen zur neuen Literatur, in· Blatter für deutsche Philosophie 4 (1930/31), 180-192; vgl. ders., Platon Der Kampf des Geistes um die Macht, Berlin 1933, dazu vgl Gadamers positive Besprechung, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. V; vgl. die autobiographischen Bemerkungen von Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1965,188 ff, eingehender zu Hildebrandt, Kühn und zur damaligen Berliner Philosophie· V Gerhardt, R Mehrmg u J Rindert, Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946, Berlin 1999 < Klassisch» als historischer Begriff, in: W. Jaeger (Hrsg), Das Problem des Klassischen, Leipzig 1931, 109-128; Kühn halte 1926 einen Artikel «Das Altertum und die moderne Geschichtsphilosophie» m Jaegers Zeitschrift «Die Antike» veröffentlicht. Die an Jaegers Programm anschließende Debatte um den Humanismus ist dokumentiert durch Hans Oppermann (Hrsg), Humanismus Wege der Forschung XVII, Darmstadt 1970. Humanismus in der Gegenwart. Zu Werner Jaegers Paideia, in: Kantstudien 39 (1934), 328-338, hier: 338 Sokrates. Ein Versuch über den Ursprung der Metaphysik, Berlin 1934 VgL dessen Erinnerungsbericht an die Naumburger Tagung, in- Philosophische Lehrjahre, Frankfurt 1977, 47 ff; Gadamer hatte sich früh kritisch mit dem entwicklungsgeschichtlichen Ansatz von Jaegers Aristoteles-Buch auseinandergesetzt: dazu vgl. H.-G Gadamer, Gesammelte Werke Bd V, S. 286 ff, 164 ff, vgL auch Gadamers frühe Aufsatze «Plato und die Dichter» und «Die neue Plantonforschung», ebd. 187 ff, 212 ff, bes. Nachtrag 229, dann Gadamers Ausführungen zum «Beispiel des Klassischen» m. ders., Wahrheit und Methode, Tübingen 4. Aufl. 1975,269 ff. Beziehungen zwischen deutscher und italienischer Philosophie, in: DVjs 17 (1939), 26-53; Der Vorrang des Logos. Das Problem der Antike in der Auseinandersetzung zwischen italienischer und deutscher Philosophie, München 1939.
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wechselte und dort 1940 Extraordinarius wurde. Von der italienischen Hegelrezeption ausgehend forderte er eine philosophische Aneignung von Jaegers Neuhumanismus, die er in Auseinandersetzung mit Heidegger und Hegel auszutragen suchte. Gadamer34 und Heidegger35 wiesen diesen Versuch zurück. Auf Grassis Einladung hin hielt Karl Reinhardt 1941 einen Vortrag «Die klassische Philologie und das Klassische», der sich von Jaegers Vergegenwartigungsanspruch distanzierte. Reinhardt unterschied zwischen dem «Klassischen als Tradition und dem Klassischen als Epiphanie»36 und wollte die Epiphame des Klassischen durch motivgeschichtliche Vergleiche literaturwissenschaftlich deutlich machen. Philosophische und philologische Kritik an Jaegers Programmatik wurde also schon vor Abschluß der Durchführung formuliert Das abgeschlossene Werk «Paideia» traf dann auf eine veränderte Rezeptionslage. Wenn Jaegers ausgearbeitete Forderung einer «theozentrischeri» Auslegung des Humanismus nach 1945 auch der christlichen Selbstbesinnung und Atmosphäre der Restauration eines «klassischen» Naturrechts entgegenkam, so war die Zeit einer pädagogisch-politischen Rezeption der Antike doch nicht gunstig.
II. Problemgeschichthche Durchführung der humanistischen Programmatik Seme Ausführung erhielt Jaegers Programm zwischen 1934 und 1947 durch das dreibändige große Werk «Paideia». In der Einleitung des Oktober 1933 abgeschlossenen ersten Bandes schreibt Jaeger «Der kommende dritte Humanismus ist wesentlich an der Grundtatsache alles griechischen Erziehertums orientiert, daß die Humanität, das <Menschsein>, von den Griechen stets wesenhaft an die Eigenschaft des Menschen als politisches Wesen geknüpft worden ist».37 Und er bezieht seinen politischen Humanismus auf die Gegenwart: «Doch in dem gegenwartigen Augenblick, wo unsere gesamte Kultur aufgerüttelt durch ein ungeheures eignes Erleben der Geschichte in eine neue Prüfung ihrer Grundlagen eingetreten ist, wird der Altertumsforschung als letztes und ihr eigenes Schicksal entscheidendes Problem die Frage nach dem erziehenschen Gehalt der Antike von neuem vorgelegt»3» Im ersten Band finden sich leichte Anklänge39 an ein rassisch interpretiertes Theorem der Verwandtschaft von Griechentum und Germanentum, wenn Jaeger den Rassegedanken auch als Standesideologie des bedrängten Adels (bei Theogms und Pmdar) ablehnt.40. Der Band
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Deutsche Literaturzeitung 61 (1940), 893-899. Platons Lehre von der Wahrheit, m E. Grassi (Hrsg), Geistige Überlieferung Das zweite Jahrbuch, Berlin 1942,96-124 36 Die klassische Philologie und das Klassische, m. ders, Die Krise des Helden und andere Beitrage zur^ Literatur und Geistesgeschichte, München 1962,115-143, hier: 143, 37 Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. I, Berlin 1934,16; Bd H,Berhnl944,Bd III, Berlin 1947. 38 T Paideia 1,19 f 39 Vgl z B Paideia 1,4 («Nahegefuhl rassischer Verwandtschaft», 1,88, II, 324 ff <° Paideia I, 270 f
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schließt mit einer Aktualisierung von Thukydides' Versuch einer politischen Losung der Krise des Polissystems auf dem Boden der Sophistik: «Es wird das Ziel des modernen Führerstaates sein müssen, diesen neuen Weg zu finden, der zwischen der demokratisch unterbauten Fuhrerstellung des Penldes und der rein militärisch gestützten Alleinherrschaft des Dionysios hindurchfuhrt».41 Diese Thesen prüfte Jaeger damals im Wintersemester 1933/34 in Berlin auch in einer Veranstaltung über «Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike». Er publizierte in der Zeitschrift «Volk im Werden» einen gleichnamigen kurzen Aufsatz und empfahl42 die Antike darin als «formende Kraft» für die gegenwartige Aufgabe der «Formung des politischen Menschen». 1934 veröffentlichte Jaeger in der «Antike» kommentarlos einen unveränderten Wiederabdruck seiner programmatischen Umversitatsrede zur Reichsgrundungsfeier 1924 über «Die griechische Staatsethik im Zeitalter des Platon». Diese Kontinuitatsbehauptung seiner staatsethischen Anschauungen konnte als Erfüllung einer Sehnsucht verstanden werden. Jaeger übersetzte seine bildungspolitischen Vorstellungen damals auch in ein Lehrprogramm für die Latein- und Griechischlehre und wirkte so an der Politisierung der Bildungsaufgaben der altsprachlichen Fächer im Nationalsozialismus mit. Er verhielt sich dem Nationalsozialismus gegenüber korrekt und vorsichtig, ja. loyal. Seinen Diensteid auf Hitler legte er, damals Gastprofessor in Berkeley, am 23.11.1934 beim Deutschen Generalkonsulat in San Francisco ab.43 Eine Ehrenpromotion im Rahmen der 300-Jahrfeier der Harvard-University wurde bewilligt.44 Auf eigenen Antrag schied Jaeger Ende September 1936 aus dem Staatsdienst aus, um einen Ruf nach Chicago annehmen zu können.45 Die Personalakten geben keinen Hinweis darauf, daß Jaeger besondere politische Schwierigkeiten hatte. Nach einer ersten Anfrage aus Chicago schreibt er am 13. 12. 1935 vorsichtig an den Dekan der Philosophischen Fakultät, er habe «nach reiflicher Überlegung mit aufrichtigem Dank geantwortet, dass ich mich ausserstande sähe, die schwere Frage zu bejahen, weil ich mich nicht entschliessen könne, mich von meinem Vaterland zu trennen und meinen Posten zu verlassen».46 Tatsächlich wurde Jaegers Wechsel in die USA von einigen als Verrat an «Führer, Staat und Volk» empfunden.47 Ein starkes Motiv zur Emigration war, daß Jaeger 1931 in zweiter Ehe eine jüdische Studentin geheiratet hatte. Bei seinem vorsichtigen Vorgehen ging es ihm auch um den Erhalt seines Einflusses in der Fakultät. «Als letzte Amtshandlung»48 verfaßte er einen ausfuhrlichen «Vorschlag zur Wie-
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Paideia 1,511. Die Erziehung des politischen Menschen und die Antike, in. Volk im Werden l (1933), 43-49, diesen Artikel für das Ganze nehmend. Teresa Orozco, Die Platon-Rezeption in Deutschland um 1933, in Ilse Korotin (Hrsg.), «Die besten Geister der Nation». Philosophie im Nationalsozialismus, Wien 1994, 141-185. 43 UKPAJ13,Bd.II,Bl 16. 44 Ebd. Bl. 25-29; vgl Jaegers Vortrag· The Problem of Authority and the Crisis of the Greek Spirit, Cambridge (Harvard University Press) 1937. 45 Schreiben des Ministeriums vom 12 6 1936 an den Universitatskurator, P J 13, Bd I, Bl 94; zu Jaegers Wirkung in den USA Alessandra Bertini Malganni, Werner Jaeger in the United States: One Among Many Others, in: Werner Jaeger Reconsidered aaO 107-123. 4< - UK P J 13, Bd. Ill, Bl. 3. 47 So Wilhelm Weber in seinem Gutachten zur Nachfolge Jaegers: UK PA J 13, Bd. III, Bl. 29. 48 Schreiben vom 22 6 1936 an den Dekan, Bd. III, Bl. 27. 42
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derbesetzung»49 seines Lehrstuhls, dem sich die Fakultät50 weitgehend wortlich anschloß. An erster Stelle nannte er mit Abstand seinen Studienfreund51 Karl Reinhardt, der im Mai 1933 um seine Entlassung gebeten hatte und somit für das Ministerium ernsthaft nicht in Betracht kam,52 an zweiter Stelle «pari passu» in alphabetischer Reihenfolge Christian Jensen, Rudolf Pfeiffer und - mit vorbehaltlichen Formulierungen - seinen Schüler Wolfgang Schadewaldt. Obwohl Jensen zunächst aus gesundheitlichen Rucksichten absagte, wurde er Jaegers Nachfolger. Erst nach Jensens Tod folgte 1941 Schadewaldt. Jaeger war inzwischen 1939 nach Harvard gewechselt Seme Bücher konnten weiterhin m Deutschland erscheinen. Von seiner Herausgeberschaft der «Antike» trat er zurück.53 Nachdem 1937 seine Sammlung «Humanistische Reden und Vortrage» die «fortgesetzten Bemühungen um die Erneuerung des humanistischen Geistes auf Universität und Schule wie im Leben der Nation nach dem ersten Weltkriege»54 verdeutlicht hatte, folgte 1944 mit dem zweiten Band von «Paideia» die platonisch-politische Interpretation der sokratischen Bildungsidee. Eine knappe Relekture von «Paideia» ist nötig, um die politische Perspektwik der Problemgeschichte zu verdeutlichen. Der erste Band schildert die Umsetzung der alten Adels-Arete auf den Boden der Pohswelt. Homer bildete die alte Adelsethik m seinen Helden ab; seine dichterische Bearbeitung des Mythos war «auf die Schaffung heroischer Vorbilder gerichtet».55 Neben Homer wurde Hesiod zum Erzieher des klassischen Griechenland, der die Arbeitswelt des Bauern zum unverbrüchlichen Rechtsverhältnis verklarte56 und den Rechtsgedanken in die griechische Bildungsgeschichte einführte. Die «Polis als Bildungsform» entstand in Sparta. Mit Sparta wurde das homerische Ideal der heroischen Arete «zum Heroismus der Vaterlandsliebe»57 umgeschmolzen und der staatspohtische Erziehungsanspruch für die Polis konstitutiv. Als «Rechtsstaat» wurde dieses Bürgerideal jedoch erst mit Solon und spater Platon58 begriffen. Athen war fortan das Zentrum aller bewußten politischen Bildung. Der Rechtsstaat59 der Polis war der Boden lyrischer Entdeckung des Individuums wie der Naturphilosophie, die 49 50 51
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UKPAJ13,Bd III, B1. 10-12 Liste vom 27 8 1936,ebd Bl 38-43 Dazu vgl Jaegers Nachruf. Ein Geist von universaler Weite Karl Reinhardt zum Gedächtnis, in Frankfurter Allgemeine Zeitung v 24 9 1958, Nr. 221, ders, Von Affen und wahren Christen, in. Vana Variorum Festgabe für Karl Reinhardt, Munster 1952,161-168 Dazu vgl K. Reinhardt, Akademisches aus zwei Epochen, in. ders, Die Krise des Helden, 144-166, hier 153 ff Dazu vgl. das Geleitwort der neuen Herausgeber W Schadewaldt, B Schweitzer und J Stroux, in. Die Antike 13 (1937), 77-78, es enthalt sich jeder Bemerkung zu Jaegers Motiven Schadewaldt blieb nach 1945 noch langer in Berlin, bis er 1950 nach Tubingen wechselte, und Stroux war nach der Entlassung Sprangers 1946/47 der erste Nachknegsrektor der Berliner Universität Humanistische Reden und Vortrage, Vorrede zur zweiten Auflage, Berlin 1960, V Paideia 1,73, vgl 68 ff Vgl. Paideia I> 95 ff. Paideia 1,129. Vgl Paideia 1,149 ff, 187 ff; vgl Praise of Law The Origin of Legal Philosophy and the Greeks, in: Scripta Mmora II, 319-351 Daß Jaeger 1934 emphatisch von der Polis als Rechtsstaat spricht, hatte damals keinen kritischen Akzent Jaeger spricht vom Rechtsstaat nicht im Sinne des modernen, positiv-rechtlich integrierten Verfassungsstaats, sondern im Sinne einer religiös empfundenen politischen Ordnung. Ähnlich reklamierte auch der Nationalsozialismus den Titel des Rechtsstaats· dazu vgl z B Carl Schirmt, Was bedeutet der Streit um den «Rechtsstaat^, in ZgStW 95 (1935), 189-201
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die Natur nach der Analogie zur Polisordnung als harmonischen Kosmos deutete.60 Zwar gab es eine Opposition des alten Adels, die sich namentlich bei Theogms und Pindar lyrisch artikulierte. Eine Restitution der Adelsherrschaft war auf dem Boden der Polis jedoch unmöglich. Statt dessen kam es durch die «Kulturpolitik der Tyrannen» zu einer kulturellen Blüte. Der zweite Teil des ersten Bandes, «Höhe und Krisis des attischen Geistes» überschrieben, erörtert, wie die religiösen Grundlagen der frühen, als Rechtsstaat erfahrenen Polis schon in der Schicksalstragodie des Aischylos61 thematisiert und dann bei Sophokles fragwürdig wurden. Die «Antinomie» von Staat und Kultur zeigt sich hier darin, daß die kulturelle Blute mit ihrer Thematisierung der Ordnung politisch in die Krise führte. Sophokles initiierte die «anthropozentrische Wendung des attischen Geistes»,62 indem er mit dem «tragischen Menschen» das klassische Humanitätsideal der Griechen gestaltete. Die Sophisten thematisierten diesen Humanismus dann explizit. Protagoras63 formulierte eine anthropozentrische Bildungstheorie, die die religiösen Grundlagen der klassischen Rechtserfahrung bestritt. Schon im ersten Band nennt Jaeger seine «tbeistische» Gegentbese, daß der sophistische Humanismus einer «tieferen Grundlegung durch die Philosophie und Religion» namentlich Platons bedurfte. «Im Grunde ist es der religiöse Geist der alteren griechischen Erziehung von Homer bis zur Tragödie, der sich in Platos Philosophie eine neue Gestalt gibt. Plato geht über die Bildungsidee der Sophisten hinaus, indem er hinter sie zurückgeht».64 Innerhalb der Sophistik wurde namentlich bei Kallikles sogleich explizit, daß die sophistische Erziehungslehre in die Staatskrisis führte65. Während Euripides die Menschen seiner Zeit ohne eigenen humanistischen Gegenstandpunkt auf die Bühne brachte66, rang Aristophanes durch die satirische Darstellung seiner Komödien hindurch um die erneute Befestigung eines Menschenbildes. Thukydides suchte das Bild eines rettenden Staatsmanns dann in der sophistischen Perspektive des Machtpragmas zu entwickeln.67 Penkles war jedoch kein möglicher Retter, meint Jaeger.68 Der erste Band endet also mit einem Bild der «Krisis des attischen Geistes» im Sinne der Unmöglichkeit seiner politischen Stabilisierung auf dem Boden der sophistischen Anthropozentrik. Am Ende des dritten Bandes fuhrt Jaeger aus, daß allenfalls Demosthenes der berufene Staatsmann war, Athen und das Polissystem zu retten. Erst in den 40er Jahren erschienen die beiden abschließenden Bande mit ihrer PlatonInterpretation als Antwort auf die bildungsgeschichtliche Problematik. Wichtige Vorarbeiten waren Bücher über den Arzt Diokles von Karsystos69 und den Staatsmann Demosthe60
Vgl Paideia I, 219 f, Deutung als religiöse Bewegung dagegen in. ders, Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953. Paideia 1,326 ff, 358. 62 Paideia 1,357, vgl. 349 ff. 45 Paideia 1,372 ff, 380 ff, 390 ff. 64 Paideia I, 383, vgl 380 ff, 34,149 ff. * Vgl Paideia 1,405 ff. 66 Paideia 1,445 f. 67 Paideia 1,486 ff, 506 ff. 68 Vgl. Paideia 1,406 ff. ** Diokles von Karsystos. Die griechische Medizin und die Schule des Aristoteles, Berlin 1938. M
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nes70. Der zweite Band von «Paideia» beginnt mit einem Abschnitt über «Die griechische Medizin als Paideia». Schon im ersten Band hatte Jaeger die Auffassung vertreten, daß die ionische Naturphilosophie die politische Erfahrung der Rechtsidee auf die Erfahrung der Natur als «Kosmos» übertrug Von der ionischen Naturphilosophie auf den Weg gebracht,71 emanzipierte sich die Medizin als wirkliche Erfahrungswissenschaft und Kunst von der naturphilosophischen Spekulation. Das arztliche Selbstverstandms und Vorbild der Medizin wurde auch für die Philosophen leitend.72 Sokrates begriff den Philosophen als «Arzt» der «Seele». «Nur Plato hat athenisch und politisch genug gefühlt, um Sokrates vpll zu verstehen»73 «So gelangte er durch sein Erlebnis von Sokrates' Zusammenstoß mit dem Staat schon früh zu dem Grundgedanken seines Lebens: daß es mit den Staaten und dem Leben der menschlichen Gemeinschaft nicht eher besser werden könne, ehe nicht die Philosophen zu Herrschern oder die Herrscher zu Philosophen wurden.»74 Jaeger führt seine Annäherung von Sokrates und Platon im Zeichen einer politischen Auffassung der sokratischen Bddungsidee durch eine Gesamtinterpretation Platons in zwei Banden umfassend aus Er kommentiert dabei vor allem die beiden großen politischen Dialoge «Politeia» und «Nomoi» als Platons «Hauptwerke»75 und erörtert die anderen Dialoge nur relativ knapp auf die politische Gesamtinterpretation orientiert. «Die Entdecke des platonischen <Staates> ist in den frühen Dialogen bereits mit voller Deutlichkeit faßbar»76, meint Jaeger. Insbesondere der «Gorgias» sei für eine entwicklungsgeschichtliche Gesamtinterpretation - die Jaeger, anders als in seinem Aristoteles^Buch,77 nur in einigen Umrissen beabsichtigt - zentral· «Der bringt die erste vollständige Enthüllung des [...] Programms der sokratischen Paideia, ihres Ethos und ihres metaphysischen ».78 Nach der entwicklungsgeschichtlichen Vorbereitung beginnt Jaeger seine Interpretation der platonischen Hauptwerke. Er fuhrt sie nicht in einem Zug durch, sondern schließt den zweiten Band mit Platons Entwurf der philosophischen Existenz in deren Verhältnis zum Staat. Der dritte Band setzt dann mit Platons «theologischer» Begründung der philosophischen Existenz ein und schiebt zwischen die Interpretation der beiden politischen Hauptwerke weitläufige Ausführungen zur Pragmatisierung des Ideals der Philosophenherrschaft durch Furstenerziehung. Endet der zweite Band mit der Erörterung des Spannungsverhaltnisses philosophischer Existenz zur politischen Verfassung,79 so erörtert der dritte das Scheitern des Traumes von der Philosophenherrschaft auch in der pragmatischen Variante der Furstenerziehung. Dieses Scheitern besiegelte die Unmöglichkeit staatsmannischer Bewahrung des
70 71 72 73 74 75 76 77 78 79
Demosthenes Der Staatsmann und sein Werden, Berlin 1939 Paideia II, 13 ff. Vgl Paideia II, 32 ff, 81 f, III, 48 ff Paideia , 125, vgl bes 137 E Paideia II, 155, vgl. 151 ff Paideia II, 137. Paideia II, 152. Aristoteles Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung, Berlin 1923* Paideia , 221, vgl 225,273. Paideia U, 354 ff
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griechischen Polissystems und das historische Schicksal des Untergangs des klassischen Griechenland in den Hellenismus. Der dritte Band setzt mit Platons «Theologie» des Guten ein80 und erörtert die «Paideia der Herrscher» unter der These vom Vorrang des humanistischen Interesses vor der Staatstheorie. Hatte die ionische Naturphilosophie die Natur, so Jaeger, nach dem Muster des wohlgeordneten Staates gedeutet, so war der Staat im sokratischen System der Paideia nur ein Muster der Humanität, die der Philosoph als Typus des Gerechten verkörpert.81 Nach der Interpretation der «Politeia» geht Jaeger zunächst etwas überraschend zu Isokrates und Xenophon über, bevor er auf Platon zurückkommt. Er will damit zeigen, daß Platons pragmatische Abschwächung seines Ideals von der Philosophenherrschaft unter dem Eindruck von Isokrates' und Xenophons Ideal der Furstenerziehung82 entstand, das den politischen Bezugspunkt auf die Einheit der hellenischen Nation ausweitete.83 Das griechische Modell der Staatserziehung in seiner philosophischen Läuterung durch das Modell des platonischen Erziehungsstaats war in der Krise der Polisverfassung allenfalls auf dem Weg der Fürstenerziehung realisierbar. Jaeger deutet Platons Scheitern in Sizilien nicht als Widerlegung des platonischen Ideals von der Philosophenherrschaft: «Zwischen seinem besten Staat und der politischen Wirklichkeit besteht eine abgrundtiefe, grundsatzliche Kluft [...] Das Scheitern des Versuchs in Sizilien, den er mit so starken Bedenken unternahm, mußte ihn zwar an der Möglichkeit, sein Ideal zu seinen Lebzeiten oder überhaupt je verwirklicht zu sehen, verzweifeln lassen. Allem das änderte nichts daran, daß es das Ideal und der absolute Maßstab für ihn war».84 Weil die konkrete Aufgabe einer Furstenerziehung seinem Ideal der Philosophenherrschaft nicht entsprach, mußte Platon sich auch nicht widerlegt finden. Dennoch antwortete er auf seine praktischen Erfahrungen mit einer Ergänzung des Ideals vom Gerechtigkeitsstaat um den Gesetzesstaat der «Nomoi». In seinem Spätwerk band Platon die Staatsgründung detaillierter an die «göttliche Norm» zurück. Der sophistischen Anthropozentrik stellte er eine theozentrische Staatsbegrundung entgegen. «Platos Erziehungs- und Staatsidee beruht auf der Umkehrung des Satzes des Protagoras: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Er setzt Gott an die Stelle des Menschen und sagt: Das Maß aller Dinge ist Gott [...] Letzten Endes stellt Plato damit nur das Verhältnis von
83
Paideia III, l ff " Paideia II, 338 ff, vgl. III, 79 ff, 99 ff «2 Vgl Paideia III, 145 ff, 231 ff. 83 Paideia III, 112 ff, vgl. II, 328 ff (Platon). Daneben gibt es auch eine Problemgeschichte der Konkurrenz von Dichtung und Philosophie als Bildungsmacht: Handelt der erste Band nahezu ausschließlich von der klassischen Dichtung, so erörtert der zweite Band den «Sieg der Prosa über die Dichtung» in (II, 8, vgl. I, 375 ff) fachmedizinischer Prosa und Philosophie Der dritte Band zeigt nun, daß Platons Aufnahme des sophistischen Bildungsideales der Fürstenerziehung auch eine Revision des Verhältnisses zur Rhetorik folgte (II 267 ff). Ohne seine philosophischen Wahrheitsanspruche abzuschwächen, akzeptierte Platon literarische Techniken der Rhetorik und übernahm seinerseits die alte Erziehungsfunktion der Dichtung bis hin zur offenen Forderung der gesetzlichen «Einfuhrung von Platons eigenen Werken an Stelle der alteren Poesie als Gegenstand des Unterrichts» (III, 337, vgl. H, 291). Dem Sieg der Prosa über die Dichtung folgt also der Sieg der Philosophie über die Rhetorik, M Pajdeia III, 286.
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Reinhard Mehnng Pohs, Nomos und Gottheit wieder her, wie es der früheren griechischen Auffassung entsprach».85
Im Rahmen seiner historischen Untersuchung erörtert Jaeger nicht, inwieweit Platon damit die politische Perspektive des Gesetzgebers und die pädagogische Perspektive des Erziehers in Frage stellte. Er erorten zuletzt nur, daß Platons philosophischer Forderung einer theozentrischen Orientierung des Humanismus keine politische Lösung folgte. Problematisiert Jaeger am Ende des ersten Bandes die sophistische Idealisierung des Perikles durch Thukydides, so zeigt er zuletzt den Staatsmann Demosthenes auf verlorenem Posten. Demosthenes hatte die Notwendigkeit einer panhellenischen Politik Athens begriffen: «Dem Kampf um die Seele Athens folgt der Kampf um die Seele von ganz Hellas».86 «Nur einmal, in dem Endkampf des Demosthenes um die Unabhängigkeit, ist es zum Aufwallen eines griechischen Nationalgefuhls gekommen, das sich in dem gemeinsamen Widerstand gegen den äußeren Feind in politische Wirklichkeit umsetzte»,87 schreibt Jaeger. Doch die «Grundtatsache der griechischen Geschichte m den Jahrhunderten von Homer bis auf Alexander»88, die Pohs, war nicht mehr zu retten. Jaegers historische Untersuchung schließt im dritten Band deshalb mit der impliziten Feststellung, daß die politischen Grundlagen des griechischen Bildungsideals entfallen sind. Diese politische Betrachtung des Untergangs des klassischen Griechenland in den Hellenismus hatte Jaeger zuvor aus der Perspektive des Demosthenes beschrieben. Jaeger ergreift dort Partei fur Demosthenes als einem großen Staatsmann und politischen Erzieher,89 der die «demokratische Ideologie»90 souverän in den Dienst der Mobilisierung des attischen Volkes91 zur «Selbstbehauptung»92 gegenüber Philipp II. von Makedonien stellte, den Kairos93 des Krieges gegen Makedonien ergriff und heroisch unterlag. Explizit zieht Jaeger hier Parallelen zum modernen nationalstaatlichen Denken und bekennt seine Parteinahme für den Selbstbehauptungskampf Athens und der Pohsverfassung überhaupt.94 Im Erscheinungsjahr 1939 konnte diese engagierte Bejahung des attischen Selbstbehauptungskrieges gegenüber der Alternative eines Unterwerfungsfriedens - und auch das Lob des Staatsmanns als politischer Erzieher (statt des «Politikers am grünen Tisch», des «Parlamentariers») - leicht mißverstanden werden. Im Vorwort stellt Jaeger deshalb heraus, daß seine «Gedanken über Demosthenes [...] im Jahre 1932-1933 ihre vorliegende Form erhalten haben» und auf das erste Basler Semester 1914/15 zurückgehen. Damit ist die nationalkonservative Perspektive für den zeitgenossischen Leser deutlich benannt. «Paideia» antwortet in seinem politischen Erkenntnisinteresse primär nicht auf die politische Erfahrung des Nationalsozialismus, sondern auf die nationalpolitische Lage vor 1933.
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Paideia III, 321, vgl Humanismus und Theologie, Heidelberg 1960, bes 66 ff Paideia III, 367 Paideia III, 373, vgl Demosthenes, 176 («Das Moment des Erwachens der Griechen zur Nation fallt zusam* men mit ihrem Untergang als Nation») Paideja III, 347 Vgl Demosthenes, 134,144. Ebd 92 Vgl ebd 136 ff Ebd 171 Vgl. 130 ff Vgl 188 f
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Es braucht deshalb kaum erwähnt zu werden, daß Jaegers Wiederaufnahme der politischen Analyse seines «Demosthenes» in den dritten Band von «Paideia» und die abschließenden Bezugnahmen auf den Staatsmann in keinem affirmativen Bezug zum «modernen Führerstaat» des Nationalsozialismus stehen. So akzeptiert Jaeger die Erziehungsdiktatur des Philosophenkönigtums auch nicht unkritisch, sondern problematisiert Platons Demokratiekritik: «Plato fühlt sich im Besitz der allein wahren Philosophie, wie sollte er bereit sein, dem Irrtum gleiche Rechte einzuräumen? Obgleich die Methode seiner Dialektik von der Unterredung ihren Namen tragt, ist ihm doch nichts so zuwider wie die zu nichts verpflichtende , die sich am Ende stets dabei beruhigt: . Hier gerat der Erzieher, der sich in einer solchen Atmosphäre der Unverbmdlichkeit wie der Fisch auf dem trockenen Lande fühlt, in Konflikt mit der politischen Toleranz, die lieber eine törichte Ansicht sich aussprechen laßt, als sie gewaltsam zu unterdrücken».95 Jaeger nähert sich mit dieser beiläufigen, doch grundsatzlichen Bemerkung zum demokratischen Ethos der «Toleranz» dem demokratietheoretischen Standpunkt etwa des Staatsrechtlers Hans Kelsen, der die demokratische Option als Konsequenz einer «relativistischen» Weltanschauung in scharfer Kritik an Platon einforderte.96 Allerdings formuliert er keine grundsätzliche Absage an Wahrheitsanspruche in der Politik. Denn dann wurde seine Forderung nach einer «theozentrischen» Auslegung des Humanismus erneut fragwürdig. Das Problem der Politikbegründung hat Jaeger in seiner Platondeutung nicht grundsätzlich diskutiert. Die leitende politische Perspektwik seines Werkes ist die nationalpohtiscbe Aktualisierung der Bildungsidee.
III. Ausblick und Ertrag Jaegers Problemgeschichte der griechischen «Paideia» hatte eine theistische Auslegung des Humanismus zum Resultat. Interpretierte Jaeger Platons Theismus auch als Ruckgang auf die griechische Fruhzeit, so begriff er Platons theologische Konsequenz doch als Notwendigkeit eines Übergangs zur christlichen Theologie. Von Aristoteles her hatte er diese Brücke zum Christentum früh gesehen. Sein Nachkriegswerk fundiert den «eigentlichen» Humanismus programmatisch in der christlichen Theologie.97 Die anfangs vorbehaltene «Einbeziehung Roms und der christlichen Antike»98 fuhrt Jaeger allerdings nur in Grundzügen aus. Er betrachtet die Christianisierung dabei als «Hellenisierung der christlichen Religion»:99 Durch die alexandrimsche Theologie wurde eine echte «Synthese von Griechentum und Christentum»100 geschaffen. Jaeger betont vor allem die Rolle von Origenes 95 % 97 98 99 100
Paideia III, 66. Dazu vgL Hans KeJsen, Vom Wesen und Wert der Demokraue, 2. Aufl Tübingen 1929; Staat und Naturrecht. Aufsatze zur Ideologiekritik, hrsgg. E. Topitsch, München 2. Aufl 1989. Abschließend: Humanismus und Theologie, Heidelberg 1960. Paideia Bd. I, Vorwort; vgl. Die geistige Gegenwart der Antike, in: Humanistische Reden und Vortrage, 169 ff. Das frühe Christentum und die griechische Bildung, Berlin 1963,3. £bd 28.
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und Gregor von Nyssa101 bei der gnostischen Auffassung des Christentums als «wahre Paideia»;102 er publiziert kein Gesamtbild des christlichen Humanismus mehr, sondern veröffentlicht nur noch einzelne zusammenfassende Studien zur Annäherung von «philosophischem Lebensideal» und «Paideia Christi»103. War Jaegers historische Darstellung geeignet, das Programm eines «dritten Humanismus» zu begründen? Jaeger ging von der griechischen Frühzeit und der anfänglichen Formulierung der griechischen Adelsethik durch Dichtung aus. Die sophistische Entdeckung der Pädagogik betrachtete er als Moment der «Knsis des attischen Geistes». Der sokratische Versuch einer philosophischen Begründung eines humanistischen Bildungsideals führte nicht zur Stabilisierung der Polis, sondern - so das Zwischenresultat des zweiten Bandes zur Verschärfung der Spannung von Philosophie und Politik. Die - im dritten Band erörterten - Versuche pragmatischer Bewältigung verschärften die Spannung durch eine theologische Fundamentierung der Differenz. Am Ende erscheint das Bildungsideal des «ersten Humanismus» als ein politisches Krisenphanomen, das durch Philosophie allein nicht stabilisiert werden kann. Der Problematisierung des Bildungswerts der Politik folgt die Problematisierung der Bildungsmacht der Philosophie. Damit wurde Jaegers programmatische Erwartung enttauscht, daß eine philosophisch begründete politische Bildung die Spannung von Staatsethik und Individualethik versöhnen könne. Die problemgeschichthche Durchführung entdeckt die bildungstheoretische Selbstthematisierung einer Erziehungspraxis als politisch destabihsierendes Krisenphanomen. Das Politikern des Humanismus hegt, so Jaegers Resultat, im Effekt nicht m der politisch stabilisierenden Versöhnung der Spannung von Individualethik und Staatsethik, sondern in der ethischen Infragestellung der politischen Ordnung. Diese Selbstdiskreditierung der staatsethischen Funktion des Humanismus kommt m der «theozentnschen» Wendung zum Abschluß Jaeger verdeckt die kontraintentionalen Ergebnisse seiner Untersuchung durch die Behauptung, daß die theozentrische Wendung des Humanismus eine Rückkehr zur alten Ordnung sei; das Politikum kritischer Selbstthematisierung einer politischenOrdnung hebe sich bei Einsicht in ihren metapolitischen religiösen Grund selbst auf Mit dieser These negiert Jaeger das offenkundige Ergebnis seiner Untersuchung, daß Platons Theologie, die seine These tragen soll, die religiöse Ordnung der griechischen Fruhzeit radikal verabschiedete, nicht minder radikal wie Isokrates* politisches Denken die Pohsverfassung. Die theozentrische Wendung des griechischen Humanismus war nicht geeignet, das Politikum zu kaschieren, daß die Selbstthematisierung einer Ordnung die Krise verschärft.104 Die Forderung einer religiösen Grundlegung ist keine praktikable Antwort auf das Politikum der Kritik, sondern vielmehr der verschärfte Ausdruck des Problems. Daß Jaeger die Verschiebung seiner Fragestellung von der bddungstheoretischen Grundlegung auf den geschicht101
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Vgl ders, Two Rediscovered Works of Ancient Christian Literature Gregory of Nyssa and Macarius, Leiden 1965, Gregor von Nyssa's Lehre vom heiligen Geist, Aus dem Nachlaß herausgegeben vort H Domes, Leiden 1966 Ebd 46, vgl Paideia Christi, m Humanistische Reden und Vortrage Zweite erweiterte Auflage, Berlin 1960,250-267. Dazu vgl Die Griechen und das philosophische Bildungsideal, Paideia Christi, Die asketisch-mystische Theologie des Gregor von Nyssa, The Greek Ideas of Immortality; Humanism and Theologie, in. Humanistische Reden und Vortrage Zweite erweiterte Auflage, Berlin 1960,222-334 Dieses Problem ist aus der neueren staatstheoretischen Diskussion bekannt, vgl nur R Koselleck, Kritik und Krise Ein Bei nag zur Pathogenese der modernen Welt, Freiburg 1959.
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liehen Kontinuitätsbeweis und die damit verbundene Abschwachung seiner programmatischen Erwartungen nicht explizit formuliert, ist eine grundsätzliche Schwäche seiner großen Arbeit. Der einleitende Befund einer Diskrepanz zwischen zeitgenossischer Wertschätzung und heutigen Vorbehalten und Bedenken gegenüber Jaegers Werk laßt sich nun differenzierter erläutern: Jaegers bildungspolitische Programmatik antwortete auf die Problemlage der Weimarer Zeit. Ihre philosophische Problematik ist das Relativismusproblem des Historismus. Jaegers Antwort wurde schon bei den Berliner Philosophen nicht zustimmend aufgenommen. In der Altertumswissenschaft dagegen wurde der politische Aktualisierungsanspruch damals noch weithin nicht als kompetenzüberschreitende Abirrung von den eigenen philologischen Aufgaben verpönt. Die bildungspolitische Programmatik explizierte Jaeger «staatsethisch»; er erhob die Bildungsgeschichte Athens dabei zum kritischen Modell der nationalpolitischen Lage Weimars und exponierte sich damit nationalkonservativ. Diese historische Parallelisierung ist die politische Provokation des Werkes. Dagegen ist die kurzfristige Anlehnung an den Nationalsozialismus sekundär. Jaegers Leben und Werk ist zwar nicht verklärend als humanistischer Widerstand zu deuten: Weder Jaegers Emigration in die USA noch sein Werk «Paideia» ist eine direkte Antwort auf den Nationalsozialismus. Als problemgeschichtliche Durchführung der staatsethischen Problematik stellt «Paideia» aber im Ergebnis die leitende Programmatik des politischen Humanismus m Frage. Das Werk problematisiert den staatslotalitären Erziehungsanspruch und ist damit eine Absage an die anfänglich leitenden bildungspolitischen Hoffnungen auf Nation und Staat. Es gehört zum Rang des Werkes, daß die programmatischen Erwartungen die Durchführung nicht korrumpierten. Allerdings formuliert Jaeger die problemgeschichthchen Erträge eher implizit. So bleibt die «staatsethische» Perspektive, die Parallelisierung der politischen Lage von Athen mit Weimar, im Resultat ebenso unausdrucklich wie, grundsätzlich wichtiger noch, die Kritik an der «anthropozentrischen» Bildungstheorie und die Forderung einer anderen «theozentnschen» Grundlegung. Eine solche religiose Forderung kann Philosophie nicht erfüllen wollen. Jaeger hat sie in seinem Nachkriegswerk auch dahin abgeschwächt, einen geschichtlichen Kontinuitatserweis der «Synthese von Griechentum und Christentum» an die Stelle zu setzen. Die «geistige Gegenwart der Antike» reicht demnach, so Jaegers spate Antwort, soweit wie das Christentum oder die Christlichkeit des modernen Humanitätsdenkens. Die Vorbehalte der heutigen Fachwissenschaft betreffen die Exzentrizität dieses Erkenntnisinteresses. Hat Altphilologie als Altertumswissenschaft noch die Aufgabe und Kompetenz, aktuelle politische, philosophische und theologische Fragen zu bearbeiten? Ist der Versuch, der Gefahr einer universitären Marginalisierung des Faches durch solche Aktualitatsansprüche begegnen zu wollen, wissenschaftlich und universitätspolitisch aussichtsreich? Die heutige altphilologische Diskussion von Jaegers Werk kann zu solchen Selbstverständigungsdebatten führen. In jedem Falle aber sollte sie sich hüten, Jaegers Werk vom Standpunkt heutiger Methodenideale pauschal abzuqualifizieren und dessen Erkenntnisinteressen nicht wissenschaftshistorisch zu würdigen. Durch sein weites Fachverständnis und seine Erkenntnisinteressen vermag «Paideia» heute noch in die Nachbardisziplinen zu wirken. Damit erreicht es nach über 50 Jahren noch seine universitäre Zielsetzung. In den letzten Jahren wurden nach der sog. «Rehabilitierung» der praktischen und politischen Philosophie verstärkt wieder Autoren diskutiert, die eine Aktualisierung der antiken
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politischen Philosophie anstrebten. Enc Voegelin, Leo Strauss, Hannah Arendt und andere stehen im Zentrum gegenwartiger Diskussionen. Auch in der Kommunitarismusdiskussion wurde erneut auf antike Argumentationen zurückgegriffen. Die Beisetzung der nach 1945 wiederaufgelebten «klassischen Lehre von der Politik», die Jürgen Habermas105 früh vornahm, wurde aber nicht ernsthaft widerrufen. Da lohnt es erneut einen Autor zu studieren, der das Problem auf höchstem altertumswissenschafthchen Niveau politisch durchdachte. Die Relekture erinnert an die Einsicht, daß die Spannung von Individualethik und Staatsethik nicht einseitig von Seiten der politischen Erziehung gelost werden kann. Das Politikum individueller Freiheitsanspruche bleibt der Politik aufgegeben. Sie hat die Staatsformen so einzurichten, daß sie mit den Individuen als politischen Subjekten rechnet. Jaegers Hoffnung auf eine platonische Versöhnung wurde über die Durchführung enttauscht. Daß Jaeger diese Einsicht gegen seine programmatischen Erwartungen gewann, indiziert einen Perspektivenwechsel der Erwartungen. Niemand wird heute die Antike noch unter der Erwartung studieren, Probleme der gegenwartigen Staatsethik dort gelost zu finden. Gerne orientierte sich Jaeger an Hegel Dessen Diktum, daß Platon «die Natur der griechischen Sittlichkeit»106 aufgefaßt habe, findet seine Ergänzung durch die Distanzierung, Platon habe das «Prinzip der subjektiven Freiheit»107 verletzt. Dieses Diktum trifft auch Jaegers staatsethischen Aktualisierungsanspruch.
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Die klassische Lehre von der Politik in ihrem Verhältnis zur Sozialphilosophie, in ders, Theorie und Praxis. Sozialphilosoptosche Studien, Neuwied, 1963,13-51. Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, in· Theorie-Werkausgabe VIT, 24. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, XDC
KONRAD RAHE «Als noch Venus' heitrer Tempel stand» Heidnische Antike und christliches Abendland in Goethes Ballade Die Braut von Corinth Zu Goethes 250. Geburtstag* Goethes Ballade Die Braut von Corinth1 handelt von einer Zeitwende: dem Wechsel von heidnischer Antike zu christlichem Abendland.2 Nirgends hat Goethe den Konflikt zwischen antiker Sinnenfreude und christlicher Sinnenverneinung so wuchtig gestaltet wie in diesem Gedicht Völlig zu Recht ist diese Ballade schon seit langem im Sinne dieses Gegensatzes verstanden worden.3 Was in der Forschung jedoch noch immer fehlt, ist eine Darstellung der Quellen dieses Balladen-Sujets. Eine solche Übersicht über die Quellen hat Auswirkungen auf die Interpretation, denn der Gehalt dieser Ideen-Ballade ergibt sich weitgehend aus dem Gehalt der Quellen, aus denen Goethe geschöpft hat. I
Die Handlung der Ballade ist bekannt: Zwei Väter - der eine ist Heide, ist Vater eines Sohnes und wohnt in Athen, der andere ist (zumindest spater) Christ, ist Vater von Töchtern und wohnt in Korinth - beschließen, offenbar als der Sohn bzw. die älteste Tochter noch klein sind, diese später miteinander zu verheiraten. Zu dieser vereinbarten Heirat kommt es * Gewidmet den Altphilologen unter meinen Lehrern auf dem Hansa-Gymnasium in Hamburg-Bergedorf den Jahren 1964 bis 1972. Dr. Reinhard Schwenn, Dr. Lothar Reich, Dr. Klaus Daur, Dr Heinz Muller, Klaus Lubberger, Adolf Norden t und Joachim Meyer f. — Herrn Dr. Reich danke ich überdies für seine Proklos-Ubersetzung, aus der ich im folgenden zitiere. 1 Goethes Werke werden zitiert nach der Weimarer Ausgabe (WA), der Frankfurter Ausgabe (FA) der Münchner Ausgabe (MA) und der Hamburger Ausgabe (HA). - Die Bibel wird zitiert, sofern nichts anderes vermerkt ist, in der Luther-Übersetzung in der Revision von 1912 2 Walter Müller-Seidel· Johann Wolfgang Goethe: Die Braut von Korinth, in. Walter Hinck (Hg ). Geschichte im Gedicht. Texte und Interpretationen (Protestlied, Bänkelsang, Ballade, Chronik), Frankfurt/Main 1979, S. 79-86, hier S. 80 f.; vgl. Ludwig Heilbrunn: «Die Braut von Korinth». Vortrag gehalten in der Frankfurter Gesellschaft der Goethe-Freunde am 14. Februar 1926, Frankfurt/Main 1926, S 8; Hermann August Korff: Die Braut von Korinth, in: ders: Goethe im Bildwandel seiner Lyrik, Bd. 2, Hanau 1958, S.59-7C,hierS.64. 3 So war am 3. Mai 1819 in der in Dresden erscheinenden Abendzeitung (Nr. 105) in dem Artikel «Der Vampyr. Eine Erzählung von Lord Byron» über Die Braut von Connth folgendes zu lesen «Nervenschwache überlief bei diesem dämonischen Geisterspuk ein kleiner Fieberschauer; chnstlichgesinnte Rechtgläubige schüttelten den Kopf und fanden darin einen neuen Beweiß von Gothe's lauterkiartem Heidenthum».
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jedoch nicht, da die Tochter, so will es scheinen, in ein Kloster gesteckt wird: Die christliche Mutter will auf diese Weise Dank abstatten für ihre eigene Genesung von schwerer Krankheit. Die Tochter jedoch geht an ihrem Aufenthalt im Kloster zugrunde. Als, vom Tode der ihm zugesagten Braut nichts wissend, der Sohn aus Athen nach Kormth kommt, übernachtet er bei der Familie seiner einst pranunzierten Braut; wahrend der Nacht kommt diese verstorbene Tochter als Wiedergangenn zu ihm ms Zimmer, und die beiden verbringen eine Liebesnacht miteinander - wobei die Braut sich als Vampirin erweist. Als die Mutter des Morgens das Zimmer der Liebenden betritt, bekommt sie von ihrer Tochter eine leidenschaftlich-zornige Rede zu hören, weil die Tochter sich um «Jugend und Natur» gebracht sieht Da die vampinsche Braut ihren Bräutigam beim Liebesspiel gebissen hat, bewirkt sie so den baldigen Tod des Geliebten. Es ist der erklarte Wille der Braut, gemeinsam mit dem Geliebten verbrannt zu werden und «den alten Gottern» zuzueilen.
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Die Ballade Die Braut von Cormth verdankt Entscheidendes dem Roman La Rehgieuse von Denis Diderot (1713-1784).4 Heldin in jenem Roman ist Suzanne Simonin, die, als ungeliebtes außereheliches Kind ihrer gutter in reicher Familie aufwachsend, von ihrer Mutter und ihrem Ziehvater gezwungen wird, Nonne zu werden. In ihrem ersten Kloster weigert sich Suzanne standhaft, die Gelübde abzulegen, und beschwort damit einen Skandal herauf. In ihrem zweiten Kloster gerat sie an eine intrigante, sadistische Oberin, deretwegen sie Entbehrungen, Mißhandlungen und Kerkerhaft erleidet. Unter äußerstem Zwang legt Suzanne nunmehr ihre Gelübde ab; den Prozeß, den sie später - wegen der Erzwungenheit der Eidesleistung - unter Muhen führen laßt, verliert sie. In ihrem dritten Kloster verliebt sich die dortige Äbtissin m die ahnungslose Suzanne, die diese Liebe nicht erwidert und die überdies in große Gewissensnote stürzt. Schließlich gelingt ihr die Flucht aus'dem Kloster. Angesichts dieses Lebensweges der Suzanne ist mit Recht die Frage gestellt worden: Ist der Roman La Rehgieuse «anti-rehgieux, weil sein Autor es ist? Oder ist er es nicht, weil sein Erzähler, die glaubige Suzanne Simonm, es nicht ist?»5 Diderot selbst hat seinen Roman als die «grausamste Satire» bezeichnet, «die je auf Kloster geschrieben worden ist».6 Den Kunstgriff, den der Romancier anwandte, hat er selbst genau beschrieben: «Die junge Nonne war von einer engelhaften Frömmigkeit und hegte in ihrem einfaltigen, zärtlichen Herzen die aufrichtigste Ehrerbietung gegen alles, was man sie als heilig zu betrachten gelehrt hatte» 7 Dieser Fähigkeit der Heldin zur Ehrerbietung entspricht in diesem Roman aber nur allzu wenig, was der Ehrerbietung würdig wäre. «Ist ein Werk», so fragt Robert Mauzi,8 «das zwar die Echtheit des religiösen Lebens anerkennt, aber den reinsten Stil der Religiosität,
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Arthur Brandeis Die Braut von Kormth und Diderots Roman «La Religieuse [sie]», in* ChrWGV 4 (1890), S 50-53. 5 Klaus Dirscherl Ist Diderots Religiöse ein antireligiöser Roman* Zur Figurenkonzeption und Normaktuahsierung im aufklärerischen Roman, m ZfrzSp 88 (1978), S. 1-27, Zitat S l 6 Diderot Nachgestelltes Vorwort [zuerst gedruckt 1770 in der Correspondance htteraire\y in Denis Diderot Die Nonne, Frankfurt/Main 1973 (= insel taschenbuch 31), S. 251 -286, Zitat S 254 7 Ebd 8 Robert Mauzr Nachwort [zu. Diderot Die Nonne (wie Anm. 6)], S 289-326, Zitat S 321.
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den das Christentum hervorgebracht hat», nämlich das Mönch- und Nonnentum, «mit der Begründung ablehnt, er schade dem Menschen - ist ein solches Werk nicht schlichtweg antichristlich?» Diesen Roman als antichristhchen zu verstehen ist, wenn auch nicht zwingend, so doch zumindest möglich. Dem Roman liegt eine historische Begebenheit zugrunde: Im Jahre 1758 hatte eine junge Nonne aus Longchamp namens Marguerite Delamarre vor Gericht geklagt und die Forderung erhoben, aus dem Kloster entlassen zu werden, in das ihre Eltern sie gesteckt hatten; ersichtlich war sie «ein Opfer der Geldgier geworden, die Klostern und Familien gleichermaßen eigen war: Wie viele Vermögen konnten durch eine hochwillkommene Berufung vor der Erbteilung bewahrt werden [,..]!»9 Die Nonne, kein illegitimes Kind wie ihr Pendant im Roman, verlor ihren Prozeß und verblieb bis zu ihrem Tode, insgesamt 55 Jahre lang, zwangsweise im Kloster. Diderot war von diesem Fall so angerührt, daß er darüber anfänglich literarische Briefe schrieb und wenig später, nämlich 1760, ein Romanfragment verfaßte, das er dann aber 20 Jahre lang liegenließ und erst 1780 vollendete. La Religieuse. Abschnittweise erschien dieser Roman vom Oktober 1780 bis März 1782 in der von dem Baron Friedrich Melchior von Grimm in Paris herausgegebenen Correspondence litteraire, philosophique et critique™ einer nur handschriftlich verbreiteten Zeitschrift, die Grimm an — schätzungsweise zwölf11 - europaische Hofe verschickte und durch die Goethe offensichtlich auf diesen Roman aufmerksam geworden war. Rückblickend hat Goethe, der mit Grimm seit 1777 persönlich bekannt war,12 im Jahre 1820 die Correspondance litteraire folgendermaßen gewürdigt: «Als vor vierzig Jahren Herr von Grimm sich in der damals ausgezeichneten geist- und talentvollen Pariser Gesellschaft einen ehrenvollen Zutritt gewonnen und für ein Mitglied eines so außerordentlichen Vereins [der Enzyklopädisten] wirklich anerkannt wurde, beschloß er ein Tageblatt, ein Bulletin literarischen und weltgefalligen Inhaltes schriftlich zu versenden an fürstliche und reiche Personen in Deutschland, um sie gegen bedeutende Vergeltung von dem eigensten Leben der Pariser Cirkel zu unterhalten, nach deren Zuständen man äußerst neugierig war, weil man Paris als den Mittelpunkt der gebildeten Welt wirklich ansehen konnte. Diese Tagesblatter sollten nicht nur Nachrichten enthalten, sondern es wurden die herrlichsten Arbeiten Diderots: die Klosterfrau, Jakob der Fatalist u. s. w. nach und nach in so kleinen Portionen zugetheilt, daß Neugierde, Aufmerksamkeit und jedes gierige Bestreben von Sendung zu Sendung lebendig bleiben mußte» (WA I, 41.1, S. 145). Zwar ist die Zeitangabe «vor vierzig Jahren» für die Grimmscnen Anfänge grob ungenau, denn Grimm hatte schon bald nach seiner Übersiedlung nach Paris 1749 sich Zutritt zur «talentvollen Pariser Gesellschaft», namentlich den Enzyklopädisten, verschafft, und die Correspondance litteraire wurde auch keineswegs nur an Abonnenten «in Deutschland» geliefert, sondern zum Beispiel auch an
* Ebd., S. 297, vgl. S. 313. Roland Monier: Diderot er» Allemagne (1750 - 1850), Paris 1954, S 222 11 Ernst Fedor Hoffmann. Die Geschichte der Sängerin Antonelh in Goethes «Unterhaltungen» und ihre Quelle ir der * Correspondance litteraire*, in- GJb 102 (1985), S. 105 - 143, hier S. 115 12 WA ill, l, S. 50 (8. Oktober 1777) (sehr distanziert, offenbar auf antibofischcn Ressentiments beruhend1), WA IV, 5, S. 198 (1. Oktober 1781) (bewundernd), WA l, 33, S. 202 l, S. 364 (November 1792), WA l, 35, S 113; WA III, 3, S. 33 (August 1801) Als 1812 bis 1814 Auszuge der Correspondance litteraire in Paris gedruckt werden, verlieft sich Goethe sofort in die Lektüre (WA IV, 23, S. 113) (17. 10. 1812), WA III, 4, S. 330-333 (10 - 21 10. 1812); zu Grimm vgl. auch WA 1,28, S. 53; WA 1,29, S. 168. JC
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Zarin Katharina II Aber - und insofern erinnert sich Goethe völlig zutreffend - seine eigene Diderot-Lektüre «vor vierzig Jahren» ist nachweisbar: Goethe bittet nämlich am 8. März 1781 Friedrich Justin Bertuch: «Haben Sie die Gute, Religieuse par Diderot ein Manuscript im Nahmen Serenissimi von Durchl der Herzoginn Mutter abhohlen zu lassen» (WA IV, 5, S. 69). Und am gleichen Tage schreibt er Frau von Stein: «Morgen geht ein Husar um die Rehgieiise zu hohlen» (ebd.). Anderthalb Jahrzehnte spater, am 29. November 1795, fragt Friedrich Schiller bei Goethe an (MA 8.1, S. 132): «Konnten wir nicht durch diesen Prinzen» - gemeint ist der Literaturfreund Prinz August von Sachsen-Gotha, der die Correspondance htteraire im Abonnement hielt - «Vergünstigung erhalten, die Diderotsche Erzählung La rehgieuse, die sich in dem geschriebenen Journale [Correspondance htteraire] befindet, und, soviel ich weiß, noch nicht übersetzt ist, für die Hören zu übersetzen?» Jetzt, nach Diderots Tode und nach der Revolution (mitsamt der Auflosung der Orden im Februar 1790), schien der Zeitpunkt sowohl für den Druck dieses Werkes als auch für dessen Übersetzung gekommen zu sein. Goethe geht am 15. Dezember 1795 auf Schillers Anregung ein: «Es wäre sehr gut wenn man von der Rehgieuse für die Hören Gebrauch machen konnte. Sie konnten dazu die Erlaubnis durch Herdern am besten erhalten» (MA 8.1, S. 137). Er selbst wolle sich da heraushalten was er gewiß deshalb wollte, weil ihm sehr wohl bewußt gewesen sein muß, daß aus der (ja handschriftlich vervielfältigten) Correspondance htteraire nichts gedruckt werden durfte und daß er erst kürzlich im Grundsatz gegen dieses Verbot verstoßen hatte.13 Stattdessen verweist er zurück auf Herder. Der Weimarer Generalsuperintendent, von Schiller am 22. Dezember 1795 angegangen - Schillers Brief ist nicht erhalten -, rat am 23.12.1795 von einer Übersetzung ab: «Die Rehgieuse von Diderot kenne ich von alten Zeiten; sie ist mit vieler Kunst geschrieben, ich habe sie aber [...] wegen ihrer mit zu großer Ueppigkeit beschriebnen Scenen weiblicher, äußerst unnatürlicher Bulereien selbst im Original nicht aushaken können Einzelne Scenen mögen für die Hören gut seyn; gewiß aber nicht das Ga"nze. Neulich hat man mir gesagt, daß sie schon übersetzt sei, wie ich derih gewiß weiß, daß andre Erzählungen von Diderot künftige Ostermeße übersetzt erscheinen Sie sehen, hochgeschätzter Freund, daß ich mich nicht wohl mit der Nonne abgeben kann. Der H. Geheime Rat Gothe kann sie leicht verschaffen».14 Herder will den Ball also wieder zu Goethe zurückspielen. Die moralischen Bedenken, die Herder äußert, haben ihren Grund dann, daß Diderot in seinem Roman ja an ein Tabu15 gerührt hatte: Die (oben erwähnte) Schilderung der homoerotischen Liebe der Äbtissin zur Nonne Suzanne hatte Herders nachhaltigen Widerwillen erregt, weshalb er für eine nur auszugsweise Übersetzung plädiert. Diesen moralischen Einwand Herders unterschlägt seinerseits Schiller in seiner noch am selben Tage verfaßten Antwort an Goethe: «Mit der Rehgieuse weist Herder mich an Sie zurück; auch er meint, daß sie entweder schon übersetzt sei, oder mit ändern Erzählungen
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Zur Übernahme der Clairon-Erzahlung (als Antonelh-Novelle) m die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten s. Hoffmann (wie Anm 11), S 123. Johann Gottfried Herder Briefe Gesamtausgabe 1763-1803, Bd 7. Januar 1793 - Dezember 1798, hearb v Wilhelm Dobbek und Gunter Arnold, Weimar 1982, S 204 (Nr. 203) Im mchtbelletristischen Bereich wird erst jetzt an diesem Tabu gerührt. Rosemary Curb, Nancy Manahan (Hgg). Die ungehorsamen Braute Christi Lesbische Nonnen brechen das Schweigen, München 1986 (zuerst USA 1985), Monika Barz, Herta Leistner, Ute Wild (Hgg.)· Hattest du gedacht, daß wir so viele sind5 Lesbische Frauen in der Kirche, Stuttgart 1987.
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von Diderot künftige Ostern erscheinen werde. Es scheint demnach für uns keine sichere Entreprise zu sein» (MA 8.1, S. 140). Mit seiner Behauptung, der Roman werde bald publiziert werden, behielt Herder recht: Tatsächlich ist das Werk 1796 in franzosischer Sprache gedruckt worden; und drei deutschsprachige Ausgaben folgten im Jahre darauf.16 Wenn Goethe wenige Wochen nach der Leipziger Oster-Buchmesse, nämlich zu Pfingsten 1797, über dasselbe Sujet eine Ballade geschrieben hat, so ist die Vermutung nahezu zwingend, daß just das Erscheinen dieses Diderotschen Romans ihn dazu angeregt hat. Historisch darf dabei etwas Wichtiges nicht übersehen werden: Indem Goethe den Sachverhalt des erzwungenen Klosteraufenthalts aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts in die Spatantike verlegt, flicht er in seine Ballade einen Anachronismus ein; denn daran haben (und lassen) die Kirchenhistoriker keinen Zweifel, daß der Status der gottgeweihten Jungfrau in der Spätantike ein freiwilliger war.17 Nach der Definition des Basilius (*328, 1379) ist die gottgeweihte Jungfrau eine solche, die «freiwillig [ ] sich dem Herrn zum Opfer gebracht, auf die Ehe verzichtet und dafür den Stand eines nach Heiligkeit strebenden Lebens erwählt hat».18 Die gottgeweihten Jungfrauen konnten ihre Virgimtät durchaus als Suhnopfer für die Familie verstehen, aber, dies sei betont, als ein freiwilliges. Diderots Nonne versteht ihr Opfer zwar durchaus als ein Suhnopfer (für den Fehltritt der Mutter), aber gewiß nicht als ein freiwilliges. Ideell fließt aus diesem Roman zweierlei in Goethes Gedicht ein. Erstens: Durch die Enzyklopädisten Grimm und Diderot kommt in dieses Gedicht, das doch, wie zu zeigen sein wird, archaisch-mythische Elemente enthalt, ein kraftiger Zug neuzeitlicher Aufklärung. Zweitens: Das Beurteilungsproblem, ob La Rehgieuse eine antichristliche oder lediglich eine antimonastische Tendenz habe, stellt sich genauso auch für Goethes Braut von Corinth. Ill
Daß Goethe die Erzählung von Demostratos und Charito und deren Tochter Philinnion aus der Schrift (Mirabdia) des Publius Aelius Phlegon aus Tralleis,19 eines Zeitgenossen Kaiser Hadrians, als Quelle genutzt und damit einen Beitrag zum Nachleben 16
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Die Nonne. Ein Nachlaß von Diderot. Aus d. franzos. ubersezt [sie], Basel: Samuel Flick, 1797; Die Nonne Aus dein Franzos des Herrn Diderot, Zürich. Orell, Füssli u Co , 1797, Die Nonne. Aus d Franzos. von Carl Friedrich Cramer, Riga: J. F. Hartknoch, 1797. Joseph Wilperr Die gottgeweihten Jungfrauen in den ersten Jahrhunderten der Kirche. Nach patristischen Quellen und Grabdenkmälern dargestellt, Freiburg/Breisgau 1892, S. 5; Iniga Feusi: Das Institut der gottgeweihten Jungfrauen. Sein Fortleben im Mittelalter, Diss. Fnbourg/Schweiz 1917, S 13, S. 201 und passim; Ruth Albrcchr Das Leben der heiligen Makrina auf dem Hintergrund der Thekla-Traditionen Studien zu den Ursprüngen des weiblichen Mönch turn:» im 4. Jahrundcrt in Kleinasien, Gottingen 1986 (= FKDG 38), S. 155. Basilius Ep. 199 (MPG 32, Sp. 720), zitiert nach: Wilpert (wie Anm 17), S 3. Der Ten ist mehrfach ediert worden, Antonini Liberalis Transformationum congeries. Phlegontis Tralliam de Mirabilibus & longaevis Libellus. [...] Graece Latineq; omnia, GuiL Xylandro August mterprete* cum Annotatiombus & Indice, Basileae 1568, S. 55-60. (Mir nicht zugänglich. Ich danke deshalb Herrn Hartleitner, Hofbibliothek Aschaffenburg, für seine freundlich erteilte Auskunft.). - Phlegontis Tralharü, quae exstant, opuscula. loannes Meursius recensuit, & notas addidit, Lugduni Batavorum 1620, S 2 ff
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der Griechen geleistet hat, ist, bald nachdem die Ballade 1798 in Schillers Musen-Almanacb erschienen war, gesehen und ausgesprochen worden.20 In lediglich einer einzigen Handschrift (dem ber hmten Heidelberger Codex Palatmus Graecus 398) sind die Mirabilia berliefert. Der Text ist verderbt,21 der Anfang dieser Geschichte, die m der Fr hen Neuzeit eine staunenswerte, bisher nicht gew rdigte Wirkungsgeschichte gehabt hat,22 ist nicht
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(griech -lat) - Phlegontis Tralliam De rebus mirabilibus liber Accedit eiusdem De Langaevis bellus. Cum mterpretauone latina Guilielmi Xylandn, ac recensione notisque Joannis Meursii, m· Jacobus Gronovms (Hg). Thesaurus Graecarum Antiquitatum, Bd 8, Lugdum Batavorum 1699, Sp 2688-2735, hier Sp. 2693-2697 - Phlegontis Tralham Opuscula graece et latine e recensione Johannis Meucsii. Accesserunt eiusdem et Guiljelnu Xylandn ammadversiones atque Johannis Meibomii de longaevis epistola Iterum edidit, ammadversiones indicesque adiecit Éï Georg Fnd Franzius, Halae-Magdeburgicae 1775, S 2 ff Phlegontis Iraluani opuscula graece et latine E recensione loanms Meursii cum eiusdem et Guihelmi Xylandn animadversiombus edidit Annotationes et indices adiecit M Éï Georg Fr Franz Editio secunda emendatior et Fridenci Jac Bastn observatiombus aucta, Halle 1822, S 2-21 - Antomus Westermann (Hg) ÐÁÑÁÄÏÎÏÃÑÁÖÏÉ Sciptores rerum mirabihum Graeci, Braunschweig 1839, S. 117-121 - Karl Muller (Hg) FHG IV, Paris 1849, S 911 ff - Otto Keller (Hg). Rerum naturalium scnptores Graeci minores, Bd l· Paradoxographi Antigonus, Apollomus, Phlegon, anonymus Vaticanus, Leipzig 1877, S 57 ff Felix Jacoby (Hg) Fr Gr Hist II B, S. 1169-1171 (Nr. 257) (fr 36) - Alexander Giannmi (Hg.) Paradoxographorum Graecorum Reliquiae, Mailand 1966, S 170 ff (Nr 15) (griech.-lat) Dt bersetzungen* Friedrich Adelung. Pausilippe (Mit Bewilligung der Kaiserlichen Zensur), St Petersburg 1801, S 243-255 - Maximilian Wilhelm Gotzinger Deutsche Dichter, Erster Theil· Erzahlende Dichter, Leipzig und Z rich 1831, S 313-315 - Erz hlungen der Antike, ausgew. und gro enteils neu ubertr v. Horst Gasse, eingel u erl von J rgen Werner, Bremen 1966 (= Sammlung Dieterich 304), S 98-102 -Dieter Sturm /Klaus Volker (Hgg) Von denen Vampiren oder Menschensaugern Dichtungen und Dokumente, Frankfurt/Main 1994 (= suhrkamp taschenbuch 2281) [zuvor M nchen Hanser 1968] (= Phantas sche Bibliothek 306), S. 7 - 13 ( bers H Gasse) 1801 erklart Friedrich Adelung, Goethe habe Phlegons Erz hlung, und zwar «mit allem ihm eigenthumhchen Zauber des h chsten Dichter-Genies, benutzt» (wie Anm 19, S 242) Die Zeitungjur die elegante Welt druckt am 15. Juni 1802 (Sp. 565-569) Adelungs bersetzung (mit ge nderter Orthographie und Interpunktion) ab - unter der (Adelung entlehnten) berschrift «Gespenstergeschichte aus der alten Welt» - und vermerkt in einer Fu note «Den Lesern dieser Blatter wird die Bemerkung nicht entgehen, da Gothe's Braut von Korinth gro e hnlichkeit mit dieser Erz hlung hat» (Sp. 565 f ) Zu den textkritischen Problemen s Carl Ludwig Struve. Zwei Balladen von Gothe verglichen mit den griechischen Quellen woraus sie gesch pft sind Eine am 7ten Julius 1825 in der Komgl Deutschen Gesellschaft zu K nigsberg gehaltene Vorlesung, Leipzig 1826, S. 53-56, Adolf Empeuus (Rez.) ÐÁÑÁÄÏÎÏÃÑÁÖÏÉ Sciptores rerum mirabilium Graeci, m ders Opuscula philologica et histonca, hrsg v F G Schneidewm, Gottmgen 1847, S 226-236 [zuvor 1839] - Theodor Bergk. Lucian und Phlegon. ntpl ìáêñüâéùí, m ZAW 7 (l 849), Sp. 11 —24. - August Nauck. Zu den Fragmenta historicorum Graecorumed C Mullerus,vol Ð.ÉÉÉ,éç Philologus5(1850),S 674-709,hierS 704-708;ders Kritische Bemerkungen, m Bull Acad imp Seien Petrob 17 (1872), Sp 180-276, hier Sp. 229 ff.- C G. Cober Novae lectiones quibus continentur observationes criticae m scnptores graecos, Lugdum-Batavorum 1858, S 274 -Joj,ef Klein: Epigraphisch-antiquansche Analekten, in RliM 33 (1878), S 128-137, hier S. 132 ff. ^ - A Eberhard (Rez )· Rerum naturalium scnptores Graeci minores, Bd l, in JLz 5 (1878), S. 643-645. Arthur Ludwich Zu Phlegon Mirab c 3, in. RhM 41 (1886), S 627-628, ders· Ammadversiones criticae m Phlegontis Oracula Sibyllma, m· Index Lectionum in Regia. Academia Albertina habendarum Regimontii 1890/91, S 46-52, Willy Morel. Zum Text des Phlegon von Tralles, m· PhW 54 (1934), Sp. 171-176 -Karl Gerth Phlegon von Tralles, m Bursjb 272 (1941), S 235 f. (Nr 232). Martin Delrius Disquisitionum magicarum hbri sex, in tres tomos partiti Auctore Martmo Delrio, Societatis lesu Presbytero. Tomus primus, L wen 1599, S 347 f (Liber II, Cap XXVIII, Sccao I) (geraffte lateinische Wiedergabe). - Caspar Schott S J . Physica curiosa sive mirabdia, naturae et artis, 12 Bucher, 3. Auflage, Herbipoli 1697 [l Aufl 1622, 2 Aufl 1667] (hier Liber U: Mirabilia Spectrorum, Caput
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erhalten. Deshalb war auch nicht klar, wo die Geschichte stattgefunden haben soll; der Einfachheit halber vermutete man: in Tralleis. Wie Erwin Rohde 1877 nachgewiesen hat, ist diese Annahme falsch. Denn Phlegons Erz hlung hegt noch in einer Paralleluberlieferung bei dem Neuplatoniker Proklos (* 8. Februar 412,117. April 485) vor.23 Proklos seinerseits bezieht sich dabei auf einen Gew hrsmann, der wiederum aus derselben Quelle gesch pft hat wie Phlegon, und diese Quelle wird von Proklos auch benannt: êáé ôáýôá äçëïõí ÝðéóôïëÜò ôÜò ìåí ðáñÜ ºððáñ÷ïõ, ôÜò äå ðáñÜ ¢ññéäáßïõ ãñáöåßóáò ôïõ [ò] ôá ðñÜãìáôá ôçò Áìöéðüëåùò Ýãêå÷åéñéóìÝíïõ[ò] ðñïò Ößëéððïí («und dies offenbarten Briefe, die einerseits von Hipparchos, andererseits von Arrhidaios geschrieben worden w ren, die berliefert seien hinsichtlich der Ereignisse von Amphipolis an Philipp)» ( bers.
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XXXII: Discutmntur conditiones corporum, m quibus Spectra apparent, § ÉÃ De cadavenbus humams, ac fenms), S. 284 (knappe lateinische Zusammenfassung nach Delnus) - Pierre Le Loyer [= Petrus Lojerus] Discours et histoires des spectres, visions et apparitions des esprits, anges, demons et ames, se montrans visibles aux hommes. Divisez en 8 livres, Pans 1605, S 246-249 (= Liv III, Chap XI) -Johannes Praetonus Anthropodemus Plutonicus. Das ist / eine Neue Weitbeschreibung Von allerley Wunderbahren Menschen, Magdeburg 1666, S 278-284 —Johann Quirsfelds Historisches Rosengebusche / Oder ferne Fortsetzung der so genannten ACERRAE PHILOLOGICAE Laurembergu, Bestehend m Drey Lehr- und LustGangen / Deren jeder hundert auserlesene / alte und neue Histonen [. ] m sich halt [ . ] N rnberg 1685, S. 66-71 (= Erstes Hundert, Capitel 24. Das buhlende Gespenst) (nach Lojerus). - Historischer WunderBaum Merckwurdiger Cunositaten / So sich m 200 Au - und Inl ndischen / Alt- und Neuen Historischen Aesten au breitet, Dessen Zweige Au den Edelsten Wunder-Garten der furtrefflichst- und ber hmtesten Scribenten abgebrochen / und der curiosen Welt commumciret sind, Franckfurt und Leipzig [1690], S 162-166 (= Nr 59: Der vom Teufel besessene Todten-Corper) (nach Lojerus) - Historischer WeltSpiegel / welcher allerhand Lehrreiche Freuden- Trauer- und Wundergeschichte / sambt vielen merckwurdigen und raren Sachen / die so wohl in Europaeischen als ndern Landern zu finden / aus den glaubw rdigsten Scribenten sowohl zur nutzbaren als erg tzenden Nachricht zeiget / zum Dienste der Wohlgesinnten auffgestellet von Talandern [d. i August Bode], Leipzig 1699, S. 971-978 (= Cent II, Cap 75 Die verhebte Tod[t]e) (nach Lojerus). - Historic / Oder. Wunderliche Erzehlung Der seltsamen Einbildungen / Welche Monsieur Oufle Au Lesung solcher Bucher bekommen / die von der Zauberey / Beschworungen / Besessenen / Zauberern / Wohr-Wolffen / Incubis, Succubis, Sabath der Hexen, weissen Frauen / wilden M nnern / Poker-Geistern / Gespenstern / nach dem Tod wieder erscheinenden Seelen [. .] und ndern Abergl ubischen Dingen handeln. [.. ] Au dem Frantzosischen bersetzet, Dantzig 1712, S. 132-134 (nach Lojerus). - Der Persianische Robinson oder die Reisen und gantz sonderbahrc Begebenheiten dreyer Printzen von Sarendip, wegen ihrer Anmuthigkeit, aus dem Persiamschen in die Frantz sische und aus dieser in die Teutsche Sprache bersetzet Mit Kupffern, Leipzig 1723, S 136 ff. (Inhaltsangabe) Erwin Rohde: Zu den Mirabilia des Phlegon, in: RhM 32 (1877), S. 329-339 - Den Anfang des PhlegonTextes hat Wendland nach Proklos rekonstruiert und einf hlsam so nach-erzahlf «Zur Zeit des K nigs Philippos lebte in Amphipolis Philmmon, die Tochter des Demostratos und der Chanto, und sie hebte den Machatas, den Sohn eines Gastfreundes aus Pella. Die Eltern aber zwangen sie, Krateros zu heiraten. Sie konnte aber ihre Liebe nicht vergessen und starb vor Gram bald nach der Hochzeit. Und auch im Tode konnte sie keine Ruhe finden, ihr Geist irrte um die Statten, wo sie einst gelebt hatte, trachtend die Bestimmung und das Liebesgluck zu finden, um das grausame Willkur der Menschen sie betrogen hatte. Mehr als f nf Monde waren seit ihrem Tode vergangen, da war Machatas bei Demostratos zu Gast Er hatte seine Kammer aufgesucht, sich zur Ruhe zu begeben. Da erschien Philinnion, setzte sich zu ihm und klagte ihm ihr bitteres Liebesweh. Und zur selben Stunde erschien sie auch in der folgenden Nacht. Die Magd aber [. .]» (Paul Wendland Antike Geister- und Gespenstergeschichten, in. Festschrift zur Jahrhundertfeier der Universit t zu Breslau. Im Namen der SchJesischen Gesellschaft f r Volkskunde, hrsg v. Theodor Siebs, Breslau 1911, S. 33-55, Zitat 34 f.).
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L. Reich).24 Obwohl Philipp von Makedonien und Arrhidaios (und der dort ebenfalls erw hnte Krateros) historische Pers nlichkeiten sind, sind die Briefe, auf die Phlegon und der Gew hrsmann des Proklos rekurrieren, dennoch nicht als historische Quellen anzusehen; sondern sie waren von Anfang an literarische Texte, Fiktion, Produkte einer «Falschmunzerwerkstatte» aus vermutlich sp thellenistischer Zeit.25 «Unversch mteste Schwindelliteratur», so Hermann Diels, habe dem Phlegon zu Gebote gestanden, ohne da er selbst den Schwindel durchschaut hatte.26 Der von Proklos mitgeteilte Text ist erstmals 1661 publiziert worden, und zwar von dem englischen Theologen Alexander More,27 der damit die Historizit t der Auferweckung des Lazarus (Joh. 11,17-44, bes. 11,39) und des Leerseins des Grabes Jesu erweisen wollte28 - eine Absicht, die v llig begreiflich ist, wenn man bedenkt, da dieser scheinbare Brief (also der Text in der Phlegon-Fassung) noch im 19 Jahrhundert allen Ernstes als ein «Aktenst ck»,29 ja als ein «Archivstuck»30 angesehen worden ist. Die Fabel ist folgende·31 In - wie man irrtumlich meinte - Tralleis, Syrien, lebt Demostratos mit seiner Gattin Charito Letztere wird eines Nachts von der Amme geweckt mit der ganz unglaublichen Nachricht, die verstorbene Tochter, Philinnion, befinde sich bei dem Gast im Fremdenzimmer Die Mutter befragt am anderen Morgen den Gast (namens Machates), und dieser gesteht, da in der Tat Philinnion bei ihm gewesen sei, und erklart, 24
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Rohde· ôïõò åãêå÷åéñéóìÝíïõò, Kroll· ôïõ åãêå÷åéñéóìÝíïõ. - Rohde (wie Anm 23), S 333 f , hat aufgewiesen, da Proklos hier ungenau formuliert hat Der erste Brief d rfte von Hipparch an Arrhidaios, der zweite von Arrhidaios an Konig Philipp von Makedonien gerichtet sein. Phlegon, so vermutet Rohde, habe den Brief des Hipparch an Arrhidaios - von Beamten zu Beamten - gegeben, und zwar aus gutem Grund, denn der zweite Brief hatte dar ber hinaus nichts Neues bieten k nnen Rohde (wie Anm 23), S 339 Hermann Diels Sibylhmsche Blatter, Berlin 1890, S 20 Alexander Morus Notae ad quaedam loca Novi foedens [zu Joh. 11,39], [im Anhang zu ] Commentaria et disputationes in epistolam D Pauli ad Hebraeos auctore Lud Tena, Londmi 1661 Weitere Drucke· A M.. Notae ad quaedam loca Novi foedens, Paris 1668. - Joan Cameroms Myrothecium evangelicum etc, Salmuni 1677, S 339-341 - Observationes selectae m Varia Loca Novi Testamenti, ed J. A Fabricms, Hamburg 1712 - Rudolf Schoell (Hg.). Proch commentanorum in rempubhcam Platoms partes meditae, Berlin 1886 (= Rudolf Schoell, Wilhelm Studemund (Hgg.). Anecdota vana graeca et latina, Bd 2), S 64, Wilhelm Kroll. Proch Diadochi in Platonis Rem pubhcara Commentara, Bd. 2, Leipzig 1901, S 116 «Ac, ut scias haec omma aemulanti daemom adscnbenda, vacuum ejus, ut Christi scilicet, sepulchrum narratur inventum» (Observationes selectae, ed Fabncius [wie Anm 27], S 79) Es folgt das Proklos-Zitat Wilhelm Ernst Weber: Die Geschichte der Braut von Connth, aus einem antiken Actenstucke [Vortrag im Museum zu Frankfurt am Main am 23. April 1824], in. ders.: Vorlesungen zur Aesthetik, vornehmlich m Bezug auf Gothe und Schiller, Hannover 1831, S 193-201, hier S 193 ff Ebd, S 195, ahnlich auch Eva Frank Art «ÖëÝãùí (P. Aehus)», m- RE 39, Sp 261-264, hier Sp 261. Der Text habe «die Form eines officiellen Berichtes des Vorsitzers einer untern Beh rde an einen Statthalter gehabt, der m dieser Gespenstergeschichte ein b ses Omen nicht blos f r die Familie sondern f r Kaiser ( und Reich erblickte» (Struve [wie Anm. 21], S 20). Struve hat seine Arbeit, zusammen mit einem respektvoll gehaltenen Brief vom 29 12.1825 (GSA 28/117), Goethe zugesandt, m Weimar wurde sie am 5 Januar 1826 in Goethes Bucher-Vermehrungsliste eingetragen (WA III, 10, S. 300) und ist noch heute m Goethes Bibliothek vorhanden (Hans Ruppert [Bearb ] Goethes Bibliothek Katalog, Weimar 1958, Nr 1952); vgl Goethes positive Reaktion in seinem Brief an Zelter vom 15. \. 1826 (WA IV, 40, S 250). Inhaltsangaben bei Otto Immisch Die Braut von Kormth, m: BLU1892/2,^.39, S. 609 -611, hier S 609, Josef Mesk ber Phlegons Mtrabtlia É-ÐÉ, m Philologus 80 (1925), S 298-311, hier S 299-301; Max Jacobi. Die sagengeschichthchen Grundlagen in Goethes Braut von Konntb, m. ZvLg 20 (1904), S 346-351, hier S 347 f.
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«und wie gro ihre Leidenschaft gewesen sei» (êáé ôçí Ýðéèõìßáí áõôÞò ÝäÞëùóåí üóç åúç); zum Beweis f r ihre Anwesenheit zeigt er den goldenen Fingerring und die Brustbinde — Gegenstande, die Philinnion zur ckgelassen hatte. Machates will nicht glauben, da es eine Tote gewesen sei, mit der er verkehrt hatte, und la t — nach Erscheinen der Geliebten in der folgenden Nacht - deren Eltern rufen. Ihrer Eltern ansichtig, erklart Philinnion: «Liebe Mutter und lieber Vater, wie unrecht ist es, da ihr mir mi g nnt, drei Tage mit dem Fremden im vaterlichen Hause zusammen zu sein, wo ich niemandem etwas zuleide tue; so mu t ihr denn mit der Totenklage von neuem beginnen infolge eurer Neugier. Doch ich gehe wieder zu dem mir bestimmten Ort; denn nicht wider den Willen der Gotter bin ich hierher gekommen» ( bers. H. Gasse). Nach diesen Worten ist sie auf der Stelle tot, und ihr Korper liegt vor den Augen der Eltern hingestreckt auf dem Bett. Es entsteht noch in derselben Nacht aufgrund der lauten Klage der Eltern ein Volksauflauf vor dem Hause des Demostratos, und am n chsten Morgen wird, um Klarheit zu schaffen, auf einer Versammlung im Theater beschlossen, die Grabkammer zu offnen, in der Philmnion knapp ein halbes Jahr zuvor bestattet worden war. Das geschieht; man findet dort aber nicht den Leichnam, sondern lediglich einen eisernen Ring und einen goldenen Becher, den Machates seiner Geliebten geschenkt hatte. Die Suchenden begeben sich daraufhin in das Haus des Demostratos, wo in der Tat der Leichnam, am Boden liegend, gefunden wird. Der Skandal ist perfekt. Es entsteht nun, so hei t es in diesem fingierten brieflichen Bericht, «ein lebhafter Tumult, und kaum einer konnte die Vorgange deuten. Da erhob sich als erster Hyllos, der bei uns nicht nur als der beste Seher, sondern auch als gewitzter Vogelschauer gilt und auch sonst Proben seiner Kunst abgelegt hat, und riet, das Madchen au erhalb der Stadtmark zu verbrennen (denn es sei nicht gut, sie innerhalb des Stadtgebietes zu begraben), den chthonischen Hermes und die Eumeniden durch S hnopfer fernzuhalten und so alle von der Befleckung zu reinigen, au erdem die Heiligtumer zu ents hnen» ( bers. Gasse). So geschieht es. Machates aber nimmt sich aus Verzweiflung das Leben. Man sieht: Dies ist eine Geschichte zum Gruseln, eine «unheimliche Geschichte»,32 ja ein St ck phantastischer Literatur;33 es ist aber auch eine Liebesgeschichte34 (vergleichbar35 Decamerone X, 4). Da bei der hier geschilderten Begebenheit der Teufel seine Hand im Spiel gehabt haben m sse, war f r Phlegons Nacherzahler in der Barockzeit eine ausgemachte Sache.36 Phlegons Erz hlung ist als «Sage» gedeutet worden, die von «Hollengeistern» handle, weil die Braut wieder aus dem Grabe steige und dem Geliebten den Tod
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Rohdc (wie Anm. 23), S. 334. Deshalb ist die Erz hlung zu Recht in die Reihe Phantastische Bibliothek (Bd 306) aufgenommen worden (vgl. Arun. 19) Mesk (wie Anm. 31), S. 299. Stefan Hock: Die Vampyrsagen und ihre Verwertung in der deutschen Litteratur, Berlin 1900 (= FNDLG 17), S 14. «Unlaugbar [sie] ist es / da der Teuffei / au Zulassung Gottes / m die Todten-Corpcr fahre. Solche mit gehen / stehen / sitzen und ligen / dergestalt bewegen / und au denselben reden kan / da die Leichtglaubige / wol schw ren d rffen / der Abgestorbene w re warhafft wieder lebendig worden» (Historischer Wunder-Baum (wie Anm. 22), S. 162; hnlich auch Johann Quirsfeld: «Der b se Geist hat unter diesen Leuten / als blinden Heiden / sein Gaukelspiel gehabt / und als ein unreiner Geist den Jungling zur Hurerey verleitet / durch den toden Corper / den er regieret / als ob er lebendig gewesen» (wie Anm. 22), S 71; hnlich auch Zeiller (wie Anm. 22), S. 1135.
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bringe.37 Man hat sie aber auch dem Typus der Erlosungssage zugeordnet (mit dem Verbot der Frage nach der Herkunft der Toten und - als Strafe - dem raschen Tod des unzuverl ssigen Erl sers),38 ja man hat sie als eine Erz hlung gedeutet, die eine bestimmte Entwicklung der griechischen Religionsgeschichte deutlich mache: «An Stelle der namenlosen Scharen mordender und buhlender Seelen» des altgriechischen Volksglaubens «treten einzelne Damonengruppen [...]> die oft nur die Befehle eines H heren vollziehen. Auch die erotischen Neigungen wurden allm hlich, oft als Strafe-, auf bestimmte Heroen, D monen und jungfraulich Verstorbene beschrankt, die in str flicher Selbst berhebung die G ben der Aphrodite verschm ht hatten und nun unter dem Fluche der beleidigten G ttin als Gespenster den einst verschm hten Freuden nachgehen mu ten».39 In der Tat betont Philinmon ja, «nicht wider den Willen der Gotter» zur ckgekehrt zu sein.40 Psychologisch steckt hinter der Gespensterfurcht die Angst der Lebenden vor den Verstorbenen.41 Phlegons - in ihrer literarischen Qualit t allzu oft verkannte42 - Erz hlung ist nicht ohne poetischen Reiz43 Auch Goethe durfte den Reiz dieser Geschichte von Philinmon und Machates empfunden haben - obwohl er den originalen Text nicht gekannt hat. Denn er hat (am 6 Juni 1824) zu Kanzler Friedrich von Muller gesagt, er habe das Sujet «nicht aus Phlegons Traktat von Wunderdingen, sondern woanders her [...] genommen».44 Zumeist wird - allzu sicher - behauptet,45 er habe den Stoff aus dem *WerkAnthropodemus Plutomcus 37
Ludwig Radermacher Das Jenseits im Mythos der Hellenen Untersuchungen ber antiken Jenseitsglauben, Bonn 1903, S 117. 38 Hock (wie Anm 35), S 13-15 39 Georg Weicker Der Seelenvogel in der alten Litteratur und Kunst Eine mythologisch-arch ologische Untersuchung, Leipzig 1902, S 4f (vgl ebd,S 5 Anm l), so schon zuvor OttoCrusius DieEpiphame der Sirenen, m Philologus 50 (1891), S 93-107,hierS 99 40 Auch m der Paralleluberheferung bei Proklos handelt die junge Frau auf Befehl h herer Machte êáé öùñáÏåÉïáí áýèéò ÜðïèáíåÀí, çñïåéðïûóá\ êáôÜ âïýëçáéí ôùí Ýðé÷èïíßù÷ äáéìüíùí áýôç ôáýôá ðåðñá÷èáé (««Und als sie ertappt worden sei, sei sie wieder gestorben, nachdem sie verk ndet hatte, nach dem Willen der auf Erden befindlichen D monen habe sie dies vollbracht») -( bers Reich) 41 Die Angst, da Verstorbene nicht verwesen, sondern wiederkehren, ist weit verbreitet (Hock [wie Anm. 35], S Iff.) 42 Passow, der seit 1805 mit Goethe pers nlich bekannt ist (dazu K R. Mandelkow, m HA-Br 3, S 583), spricht von einer «unertr glich breiten Erz hlung», die Goethe «aus einem der armseligsten Bucher zu Tage gefordert (hat), die je in griechischer Zunge geschrieben seyn m gen» (Franz Passow. Ueber die romantische Bearbeitung Hellenischer Sagen, in Philomathie von Freunden der Wissenschaft und Kunst, hrsg v Ludwig Wachler, Bd. 2, Frankfurt/Main 1820, S 103-130, Zitate S 126 f ) Struye (wie Anm. 21) spricht von «einer erb rmlichen Sammlung von Wundergeschichten» und von «kraft- und saftlosen Erz hlungen und Andeutungen von Erz hlungen» (S 11 f). Diels (wie Anm 25) nennt Phlegons Werk umstandslos ein «abgeschmacktes Wunderbuch» (S 1) hnlich kritisch ist Zieglers Urteil· In Phlegons Erz hlungen komme eine Weltsicht zum Vorschein, die «m die wundersuchtige und sensationsl sterne Allesglaubigkeit versunken» sei (Konrat Ziegler Art. «Paradoxographoi», in. RE XVIII/3, Sp. 1137-1166, Zitat Sp 1158) f 43 Otto Immisch (wie Anm 31), S. 609, Mesk (wie Annv31), S 299 - Friedrich Adelung (wie Anm 19), der' das erste Phlegontische Mirabue m seinem Buch Pausihppe bersetzt abdruckt, erklart im Vorwort, sein Buch solle «dem gebildeten Leser Erholung in Augenblicken der Mu e» gewahren (Vorw. [S 2]) 44 Goethes Gespr che Auf Grund dei Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann erg nzt und herausgegeben von Wolfgang Herwig (im folgenden zitiert Biedermann/Herwig, Goethes Gespr che), Bd III/l: 1817-1825, Zunch-Stuttgart 1971, S 696 f. (Nr 54?9) (zu Kanzler Friedrich von Muller [6 Juni 1824]) 45 Erich Schmidt. Quellen Goethescher Balladen, m GJb 9 (l 888), S. 229-236, hier S 230, Albert Leitzmann Die Quellen von Goethes und Schillers Balladen, Bonn 1911 (= ÊÃà 73), S 34 ff; Renate Grumach (Hg)
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von Johannes Praetorius [d. i. Hans Schultze (1630-1680)],46 einem Buch, das sich angeblich in Goethes Besitz befunden habe47 und das in der Tat diese Erzählung enthalt. Es muß betont werden, daß die Bewertung des Eros in Phlegons Erzählung eine positive ist; zumindest aber ist der Eros etwas Notwendiges, das man nicht zu umgehen oder zu vermeiden suchen sollte! Wer sich gegen Aphrodites Versuchungen wehrt und der Liebe widersteht, wird bestraft, Revenant sein zu müssen. Zu den spatantiken Tendenzen der Hochschätzung der Virginität steht die Moral dieser Geschichte in diametralem Gegensatz!48 IV
Um 1755 geisterten Vampirgeschichten durch Deutschland;49 der Knabe Johann Wolfgang Goethe, so hat man vermutet,50 werde von ihnen gehört haben, und derartige Erzählungen hätten diesen begabten Knaben mit der so lebhaften Einbildungskraft nachhaltig beeindruckt. Wenn Goethe 1822 in seinem Aufsatz Bedeutende Forderniß durch ein einziges geistreiches Wort sagt: «Mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Überliefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt» (WA II, 2, S. 60) und er als Beispiel für diese Prägung Die Braut von Corinth angibt,51 dann dürfte er damit das Vampir-Motiv gemeint haben und nicht, wie
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Kanzler Friedrich von Müller Unterhaltungen mit Goethe, München 1982, S. 306 f.; Christian Freitag Ballade. Themen, Texte, Interpretationen, Bamberg 1986, S. 159 f., Reiner Wild, in MA 4 l, S 1220 f f , Karl Eibl,in:FAl,S 1234 Praetorius (wie Anm 22), S. 278 - 284. Daß Goethe aus dem Praetonus geschöpft habe, gilt seit 1888 (dazu Schmidt [wie Anm 45]) weithin als geklart Aber zu Unrecht1 Denn für die Datierung des FaustParalipomenons Nr 28 mit der eigenhändigen Notiz Goethes, er wolle nun nach dem Anthropodemus Plutonicus auch «Praetorii ubnge Werke» anschauen (WA 1,14, S 300 Nr 28 = FA 7 l, S. 561 P 28), ist als terminus post quern der Winter des Jahres 1800 anzusehen (so Schone, in. FA 7.2, S. 943) - da aber lag Die Braut von Connth schon seit zwei Jahren gedruckt vor1 Schone folgt mit dieser Datierung dem Vorschlag von Bohnenkamp, die zu Goethes Praetorius-Lektüre meint «mit einiger Wahrscheinlichkeit zu den Vorarbeiten [.. ] ab Winter 1800 zu rechnen» (Anne Bohnenkamp
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Erich Schmidt annimmt,52 Phlegons Erzählung von Machates und Philinnion.55 Denn in seinem Tagebuch bezeichnet Goethe an drei aufeinanderfolgenden Tagen (4./S./6. Juni 1797) seine Ballade jeweils als sein «Vampynsches Gedicht» (WA III, 2, S. 72) - was beweist, wie wichtig ihm das Vampir-Motiv gewesen ist. Goethe kannte nachweislich54 die Lamien-Überlieferungen des altgriechischen Volksglaubens.55 In Benjamin Hederichs gründlichem mythologischen Lexicon konnte Goethe (m dem Artikel «Lamia») lesen: «Man giebt solche für Gespenster aus, die nach Menschenfleische und Blute sehr begierig gewesen und daher junge Leute durch allerhand Reizungen an sich zu locken gesuchet Zu dem Ende nahmen sie denn wohl die Gestalt schöner junger Frauenspersonen an, die den Vorbeygehenden ihren weißen Busen sehen ließen».56 Der Glaube an die Existenz der Lärmen ist von Georg Weicker vorzüglich erklärt worden: Die gedankliche Voraussetzung dieses Glaubens ist die Überzeugung, daß die Seele des Verstorbenen zu ihrer Fortexistenz Blut brauche. Erst durch den Genuß des Blutes gewinnt die Seele Sprache und Besinnung wieder. Wenn aber der Seele der Blutgenuß versagt wird, «so sinkt sie in ein wesenloses Schattendasein [...]. Denn das Blut ist nach weitverbreiteter Anschauung der Sitz der Seele [...]. Und mithin wird auch die Seele, die gesamte Lebenskraft des Menschen, von dem blutschlurfenden Gespenste eingesogen und geht in dasselbe über». Es ist also die Seele des ausgesogenen Menschen, die dem Gespenst «neue Lebensfähigkeit verleiht; auf dieser Grundlage allein beruht der Glaube an den Vampynsmus». Ohne daß Weicker sich überhaupt auf dieses neuzeitliche Gedicht bezogen hatte, sind seine Ausführungen dennoch der beste Kommentar, der je zum Vampir-Motiv in der Braut von Connth geschrieben worden ist. Deshalb sei Weicker hier ausführlich zitiert: «Erhalt die Seele nicht freiwillig diese zu ihrer Fortexistenz notwendigen Spenden, so ist sie gezwungen aus dem Grabe aufzusteigen, um als blutsaugendes und buhlendes Gespenst sich den ihr gebührenden Tribut selbst zu holen. Der Vampyrismus ist also nach ursprünglichem Glauben, der m solchen Dingen mit unheimlicher Konsequenz vorgeht, eine gewissermaßen angeborene, auf zwingender Naturnotwendigkeit beruhende Eigenschaft aller Seelen, ganz unabhängig von ihrem im Leben bewiesenen Charakter. Er findet seine weitere Begründung in der allen Naturvolkern eigenen Anschauung, daß die abgeschiedene, nun aller Freuden und Genüsse des Lebens beraubte Seele das ganz naturgemäße Bestreben hat, sich wegen der ihr widerfahrenen Benachteiligung an jenen zu rächen, die glücklicher als sie sich noch des schonen Lebens freuen können. Sie sucht sie daher in dasselbe traurige, freudenleere Schattendasein zu entreißen». Denn: «Jede Seele hat das Bestreben andere nach sich zu ziehen».57 52 53 54 55 56
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Schmidt (wie Anm 45), S 230 Ebd. - Man braucht also keineswegs mit Erich Schmidt Goethe eine «etwas unklare Erinnerung» zu. attestieren Faust //, 7235,7695 ff; 7720 f., 7726 f , 7734 f., 7752 ff; 7772,7785 ff; WA 1,15 2, S 209, S. 215 Z. 10, ebd, Z 16 Vgi Stoll· Art.· «Lamia», m Myth Lex. Röscher /2, Sp 1818-1821. Art «Lamia», m Benjamin Hedenchs grundliches mythologisches Lexicon [ .], sorgfaltigst durchgesehen, ansehnlich vermehret und verbessert von Johann Joachim Schwaben, Leipzig 1770 (Reprint Darmstadt 1996), Sp 1424 f Ausdrücklich verweist Hederich auf «Philostr[atus] vita Apollon[u] l IVc.25» Die Lamien setzt er den Empusen, Mormolycien und Strigen gleich. Weicker (wit Anm 39), S. 3
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Komplement dieses Blutdurstes, so Weicker, ist die sexuelle Gier: «Ein ebenso unerl liches und leichtverst ndliches Lebenselement der abgeschiedenen Seele wie Blut ist der Liebesgenti »?* Offenbar war Goethe dies bewu t, da das Motiv des erotischen Entbehrens und das Vampir-Motiv engstens zusammengeh ren!59 Eine derartige «Vereinigung von Blutgier und Wollust»60 findet sich literarisch ganz besonders bei Flavius Philostratus, Vita Apollon IV, 25 ausgepr gt,61 einer ebenso «schauerlichen als lebendigen Erz hlung»,62 auf die Hederich in seinem Lamia-Amkel ausdr cklich verweist und die Goethe bei seiner Philostrat-Lekture 1776/77 kennengelernt63 haben durfte: Der neupythagoreische Philosoph und Wundert ter Apollonius von Tyana entlarvt, so erz hlt es Flavius Philostratus in seinem von Kaiserin Julia Domna (f 217 n. Chr.) angeregten Werk ber den Bios des Apollomus, die Geliebte seines Schulers Menippus, der von ihrer «gespenstigen Natur»64 nichts geahnt hatte (ïýðù îýíåéò ôïõ öÜóìáôïò), bei Beginn der Hochzeitsfeier mit den Worten: Þ ÷ñçóôÞ íýìöç ìßá ôùí Ýìðïõóþí åóôßí, áò ëÜìéáò ôå êáé ìïñìïëõêßáò ïé ðïëëïß çãïýíôáé, Ýñùóé ä' áýôáé, êáé áöñïäéóßùí ìåí, óáñêþí äå ìÜëéóôá áíèñþðåéùí Ýñþóé êáé ðáëåýïõóé ôïéò Üöñïäéóßïéò, ïõò áí ÝèÝëùóé äáßóáóèáé. («Die edle Braut hier ist eine der Empusen, die man Lamien und Graungestalten nennt. Sie trachten nicht sowohl nach Liebesgenu , als nach Fleisch, vornehmlich nach dem Fleische der Menschen; und sie locken Diejenigen, die sie verzehren wollen, durch Liebeslust an»65). Nach einigem Leugnen gesteht 58
Ebd,S.2 Noch j ngst hatte das Vampir-Motiv einen Interpreten ratlos gelassen (Wolfgang Schemme. Goethe Die Braut von Konnth. Von der literarischen Dignitat des Vampirs, in WW 36 [1986], S 335 - 346) 60 Weicker (wie Anm. 39), S. 2 Anm. 4 61 Auf Philostrat, Vita Apollonn IV, 25 wies 1841 erstmals Goethes Editor und einstiger Mitarbeiter hin, der Altphilologe Riemer (Friedrich Wilhelm Riemer: Mittheilungen ber Goethe. Aus m ndlichen und schriftlichen, gedruckten und ungedruckten Quellen, Bd. 2, Berlin 1841, S. 531). Ihm folgt Friedrich Strehlke: Goethe's Werke. Nach den vorzuglichsten Quellen revidierte Ausgabe. Erster Theil Gedichte, hrsg u mit Anm. begi. v. Fr. Strehlke, Bd. l, Berlin o J., S. 267. - Dagegen hat Riekhoff die Hypothese aufgestellt, da Goethe nicht unmittelbar aus Philostrat gesch pft habe, sondern aus der Robinsonade Der Persianische Robinson (wie Anm. 22) (Th. von Riekhoff: Zu Goethes «Braut von Korinth», in Arch Litg 15 (1887), S 109-112). Riekhoffs Vermutung wirkt deshalb so verf hrerisch, weil in jenem Persiamscben Robinson unmittelbar auf die Nacherz hlung der Philostrat-Episode eine Zusammenfassung des ersten PhlegonMirabile folgt! Die thematische Nahe beider Texte sieht der Herausgeber des Persiamscben Robinson darin begr ndet, da «die Geister, Gespenster, Daemones [...] in der That etwas reelles und wahrhaftiges sind» (zit. nach Riekhoff, S. 110). Auch wenn der Persianische Robinson Goethe als Knaben die erste Anregung gegeben haben sollte, so ist doch anzunehmen, da er spater die Episoden im Original gelesen hat, denn im Persiamscben Robinson ist lediglich von einer «Hexe» die Rede, deren Absicht es gewesen sei, den Menippus «zu verschlingen und zu verderben» (zit. nach Riekhoff, S. 112) Zudem wird dort etwas sehr Wesentliches verschwiegen, n mlich der Ort der Handlung· Konnth1 62 Friedrich Ludwig Ferdinand von Dobeneck: Des deutschen Mittelalters Volksglauben und Heroensagen, Berlin 1815, S. 32. « WAIII,l,S.15(l.Juhl776)undWAIII,l,S 50 (8. Oktober 1777) m Verbindung mit WA III, 15. l, S 137 (Register); vgl. Heinrich D mzer: ber Goethes Ballade «Die Braut von Konnth», m. MLIA 58 (1889), S. 246-250, S. 262-265, hier S. 264. 64 Flavius Philostratus, des Aeltercn Werke, Drittes Bandchen. Philostratus. Leben des Apollonius von Tyana Drittes und viertes Buch, Stuttgart 1830, bers, v. Fnedrich Jakobs (= Gnechische Prosaiker in neuen bersetzungen 36), S. 380. 65 Ebd., S. 381 - «Beide urspr nglich vereinige Momente» des Blutdurstes und des Liebesdurstes seien «in der u erung des Apollonius von Tyana zugleich auseinandergehalten und verkn pft: unter dem Schein der Liebessehnsucht stillt die Empusa ihren Hunger» (Ludwig Laistncn Das R tsel der Sphinx, Bd. l, Berlin 1889, S. 61). 59
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die Braut, «eine Empuse zu seyn, und da sie den Menippus mit Wollust n hre, um ihn aufzuzehren. Denn sie pflege schone und junge Leiber zu speisen, weil ihr Blut rein und unvermischt sey».66 (ÝìðïõóÜ ôå åßíáé Ý*öç êáé ðéáßíåéí ÞäïíáÀò ôïí ÌÝíéððïí åò âñþóéí ßïõ óþìáôïò, ôá ãáñ êáëÜ ôùí óùìÜôùí êáÀ í£á óéôåúóèáé Ýíüìéæåí, åðåéäÞ áêñáéöíÝò áýôïÀò ôï áßìá.) H chst bemerkenswert ist, da diese Episode mit dieser vampinschen Braut in Korinth spielt!67 Es kann kein vernunftiger Zweifel daran bestehen, da Goethe diese Episode aus dem Leben des Apollonms im Blick hatte, als er beschlo , die Braut m Korinth zur Vampirin werden zu lassen. Der Titel der Ballade Die Braut von Corinth verdankt sich Philostrat. Ilse Graham, wahrlich eine begnadete Goethe-Interpretin, hat sich gekrankt gef hlt durch die Tatsache, da es in dieser Ballade eine Frau ist, die als Vampinn dem Manne das Lebensblut - und damit sei, so Graham, auch gemeint: die geistige Potenz - entzieht.68 Aber bei genauem Hinsehen erweist sich diese Sicht als unberechtigt - aus mehreren Gr nden Erstens sind im Altertum die L rmen weiblich, und daran hat Goethe sich gehalten; erst im Verlauf der Geschichte des Christentums begann man, die Vampire f r mannlich zu halten.69 Zweitens: Goethe gestaltet - indem es hier die Frau ist, die t tet - psychologisch eine Ausnahme.70 Drittens: Es geht in diesem Gedicht nicht um subhmierte, also geistige Potenz, sondern es geht um Sexualit t. Und damit hangt - viertens - zusammen: Es handelt sich um eine Frau, die um ihr Recht auf Sexualit t71 betrogen und an dem Drang zur erotischen «Verschmelzung»72 gehindert worden war. Dieses Gedicht beweist keineswegs Misogynie, sondern es zieht gegen die Leibfeindhchkeit, an der Mann und Frau leiden, zu Felde F r Goethe ist der Liebestrieb Teil des gesamten Lebenswillens, und dessen Unterdr ckung ist «Unnatur und f hrt zur Unnatur»,73 und genau diese Unnatur wird - und zwar als Vampirismus - in dieser Ballade ad oculos demonstriert.74 Diderot hat dieselbe Erkenntnis 66 Philostrat (wie Anm. 64), S 382. *7- Diesen Umstand teilt Philostrat bereits im ersten Satz dieses Kapitels mit, und im letzten Satz wird dieser Sachverhalt bekr ftigt, n mlich da Apollonms «zu Korinth eine L rme entdeckt habe» (ebd, S. 382). Zudem wird das am stlichen Meerbusen von Konnth gelegene Cenchrea erw hnt 68 Ilse Graham Die Theologie tanzt Goethes Balladen Die Braut von Konnth und Der Gott der Bajadere, in dies · Goethe Schauen und Glauben, Berlin-New York 1988, S 253-284, hiei S. 269, hnlich auch Silvia Volckmann «Gieng saugt sie seines Mundes Flammen» Anmerkungen zum Funktionswandel des weiblichen Vampirs in der Literatur des 19 Jahrhunderts, in. Renate Berger/Inge Stephan (Hgg) Weiblichkeit und Tod m der Literatur, K ln-Wien 1987, S 155-176, hier S. 162. 69 Dazu Volckmann (wie Anm. 68), S 156 70 «Wenn der Sadismus ausnahmsweise Fi auen erfa t, so nimmt er, dem weiblichen Zug zur Verschmelzung folgend, gew hnlich die Form des mystischen Sadismus an, etwa in den blutsaugenden Weibern, die - wie Goethes Braut von Korinth - das Herzblut des Geliebten zu schlurfen trachten, um sich mit ihm eins zu f hlen» (Walter Schubarf Religion und Eros, M nchen 1966, S. 187) (Hervorhebung von mir, K. R.). 71 «Zum ersten Male war das Agens alles Organischen, der Trieb der Frau und die Sehnsucht des Mannes [,] ohne alle Frivolit t m antik naiver Gestaltung in die Dichtung eingef hrt» (Heilbrunn [wie Anm 2], S 9)^ 72 Zur «Verschmelzung» - psychologisch und religi s --s Schubart (wie Anm 70), S 139 ff 73 Eugen Wolf Griechentum und Christentum in Goethes klassischem Bildungiideal, m NJWJ 4 (1928), S 61-73, Zitat S 62. 74 Die Vampirgestalt ist jungst psychoanalytisch gedeutet worden Das im Sexualakt bestehende Ineinanderwirken der beiden von Freud angenommenen Grundtriebe Libido und Todestrieb sei «auch an u eren Details wie z B dem der langen, spitzen Zahne belegbar. [ ] Speziell,der blutsaugende Mund mit den scharfen Zahnen wiederum spielt wahrend der erotisch-aggressiven Aktivit ten des Vampirs die entscheidende Rolle» (Susanne Putz· Vampire und ihre Opfer Der Blutsauger als literarische Figur, Bielefeld 1994, S 173 Anm 84)
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in La Rehgieuse so formuliert: «Wenn man sich dem allgemeinen Trieb der Natur widersetzt, so verleitet sie dieser Zwang zu ungeordneten Neigungen [.. .]».75 Bei Diderot äußert sich die Folge der Unterdrückung der Natur als lesbische Liebe im Kloster; Goethe dagegen gestaltet hier die Folgen der Unterdrückung als Vampirismus. In dieser Ballade wird das Recht der Frau auf sexuelle Erfüllung eingeklagt. Misogyn ist der Gehalt dieses Kunstwerks gewiß nicht - im Gegenteil.
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Bei Phlegon heißt es, daß Philinnion mit Machates «aß und trank» - was die beiden verzehrten, wird nicht erzählt. Goethe dagegen teilt mit, daß der Bräutigam «Weizenbrot» aß, während die Braut das Brot ablehnte. Daß Goethe den lebenden Menschen Brot essen laßt, zeigt, wie genau der Weimarer seinen Homer kannte. Das Menschengeschlecht besteht bei dem Griechen aus den «Sterblichen», die (in der Voß'schen Übersetzung) «die Frucht des Halmes genießen» (Od. VIII, 222; IX, 89; X, 101), bzw. aus denen, die «der Halm ernährt» (Od. IX, 191), oder aus denjenigen, die «genährt [sind] von Fruchten des Feldes» (II. VI, 142), bzw. aus denen, die «die Frucht der Erde» genießen (II. XXI, 465). Einerlei, ob Homer von («Frucht») oder («Getreide») spricht: er meint «Brot». , sind bei Homer diejenigen, , diejenigen, .76 Die Braut dagegen beschrankt sich «beim stillen Mahle» (V. 101) darauf, «dunkel blutgefärbten Wein» zu trinken (V. 95); später verliert der Bräutigam «seines Herzens Blut» (V. 179) an die Geliebte. Auch hier hat sich Goethe an Homer orientiert, denn die Nekyia77 das 11. Buch der Odyssee, läßt die Vorstellung, Blut sei die Lebenskraft des Menschen,78 besonders anschaulich werden — erst durch den Genuß von Blut gelangen in der Nekyia die Toten wieder zu Leben. — Odysseus erzahlt: Und nachdem ich flehend die Schar der Toten gesuhnet Nahm ich die Schaf, und zerschnitt die Gurgeln über der Grube; Schwarz entströmte das Blut: und aus dem Erebos kamen Viele Seelen heraus der abgeschiedenen Toten. Jüngling* und Braute kamen, und kummerbeladene Greise, Und aufblühende Madchen, im jungen Grame verloren (Od. XI, 34 ff.; Übers. Voß). Die toten Seelen verspuren weniger Blutdurst als vielmehr Blutgier. Odysseus mußte «das geschliffene Schwert von der Hüfte» ziehen (XI, 48), um die Toten am Blutgenuß zu hindern, und nur dank dieser Androhung von Gewalt gelingt es ihm zu erreichen, daß «die 75 76
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Diderot (wie Anm. 6), S 231. Ich danke Herrn Dr. William Bcck, Universität Hamburg (Forschungsstelle «Thesaurus Linguae Graecae Hamburgensis. Lexikon des frühgriechischen Epos»), für seine freundlichen Hinweise (Brief vom 8. April 1998) Zum folgenden s. Struve (wie Anm. 21), S 20, der die Beziehungen zwischen der Nekyia und der Braut von Connth völlig überzeugend aufgewiesen hat Vgl Soph. El 785 f.; Am 531 f. ( * ); Aristoph. nub. 712; Timokles fr. 35,1 K; Verg Aen. IX 349 (nach: Albrecht Schnaufen Frühgriechischer Totenglaube. Untersuchungen zum Totenglauben der mykeruschen und homerischen Zeit, Hildesheim-New York, 1970 [= Spud 20], S 91 Anm. 283).
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Luftgebilde der Toten / Sich dem Blute nicht nahn» (XI, 49 f.). Während des gesamten Gesprächs mit Elpenor halt Odysseus «über dem Blute das Schwert» (XI, 82). Selbst seiner Mutter verbietet er, so erzahlt es der Laertide, «obgleich mit inniger Wehrnut, / sich dem Blute zu nahn, bevor ich Teiresias fragte» (XI, 88 f.). Nachdem dann Teiresias den Odysseus aufgefordert hat, das Schwert von der Grube zu wenden, kann der Seher als erster von dem Blut trinken (XI, 95 ff.) und am Schluß dem Sohn des Laertes sagen: Wem du jetzo erlaubst der abgeschiedenen Toten, Sich dem Blute zu nahn, der wird dir Wahres erzählen; Wem du es aber wehrst, der wird stillschweigend zuruckgehn. (XI, 147 ff.) Durch Blutgenuß (XI, 153 f.) gelangt nun die Mutter des Odysseus so weit, daß sie mit ihrem Sohn sprechen kann (XI, 155-225) Danach drangen viele Psychen von Frauen heran, nämlich Alle Gemahlinnen einst und Tochter der edelsten Helden. Diese versammelten sich um das schwarze Blut in der Grube. (XI, 227 f.) Odysseus - so erzahlt er - zieht, um die vielen von Blutgier getriebenen, ohne Ordnung drangenden Psychen der Frauen abzuhalten, das Schwert Und verwehrte den Seelen, zugleich des Blutes zu trinken Also nahten sie nacheinander; jede besonders Meldete mir ihr Geschlecht; und so befragt' ich sie alle» (XI, 232 ff.). Dieser 11. Gesang der Odyssee muß dem Homerkenner und -Verehrer Goethe79 gezeigt haben· Nur Blutgenuß erweckt die Toten aus ihrem Schattendasein; die Blutgier laßt sich gar nicht übersehen.80 Von Homer laßt sich also eine gedankliche Linie ziehen zu Philostrat. Aber das nicht allein! Goethe konnte bei Philostrat selbst einen ausdrücklichen Hinweis auf die Nekyia finden, denn Apollonius fragt (Vita Apollomi IV, 25), unmittelbar bevor er die Braut m Konnth als Lamia enttarnt: «Habt ihr, sagte Apollomus, die Gärten des Tantalus gesehn, welche sind und nicht sind? - Ja, im Homer, antworteten sie: denn in den Hades sind wir nicht hinabgestiegen» (Übers. Jakobs) - womit Philostrat, für den Weimarer sofort erkennbar, auf Od. XI, 582 ff. anspielt.
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Goethe hat das Werk Homers geliebt und verehrt wie kaum ein zweiter (s Ernst Maaß: Goethe und die Antike, Berlin-Stuttgart-Leipzig 1912, S 78-139, Humphrey Trevelyan. Goethe und die Griechen, Hamburg 1949, S. 384 f (Register), Joachim Wohlleben. Die Sonne Homers Zehn Kapitel deutscher HomerBegeisterung Von Winckelmann bis Schhemann, Gottingen 1990, S 45-53). Daß Goethe diesen l J Gesang der Odyssee m engstem Zusammenhang mit der vampinschen Existenz» gesehen hat, zeigt sich auch an Faust //, denn es heißfdort CHORETIDE 5 Mit was ernährst du so gepflegte Magerkeit? PHORKYAS Mit Blute nicht, wonach du allzu lustern bist. CHORETIDE 6 Begierig du auf Leichen, ekle Leiche selbst! (8820 f f ) Diese Verse kommentiert Schone (m· FA 7.2, S 599) knapp und treffend so· «Erst wenn sie aus der Blutgrube getrunken hatten, vermochten die Schatten der Unterwelt zu sprechen (Odyssee, XI, 24 ff)» Auch zwei andere Verse aus Faust //, nämlich V. 8999 f , beziehen sich auf die Nekyia, und zwar auf Öd XI, 15; wie sehr die Nekyia anregend wirkte, zeigt auch Schillers Zyklus vom Besuch der Xenten in der Unterwelt (FA l, S 550 [Nr <463> - <522>])
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Daß es noch eine weitere Beziehung zwischen der Nekyia und der Braut von Conntb gebe, hat 1825 Carl Ludwig Struve behauptet. Struve macht auf die Verse aufmerksam: Hierum gössen wir rings Sühnopfer für alle Toten: Erst von Honig und Milch, von süßem Weine das zweite, Und das dritte von Wasser, mit weißem Mehle bestreuet. (Öd XI, 26 ff.) Zwar nicht im ersten Phlegontischen Mirabiley wohl aber in Goethes Braut von Corinth trinkt «das gespenstige Wesen [...] Wein». Bei dem Sühnopfer des Odysseus handelt es sich ja nicht um Blut allem, sondern um «eine Libation, worunter Wein (Odyss. XI, 27) [...] eingemischt (wird)».81 Struve fahrt fort: «Dieses Bluttrinken konnte Gothe offenbar nicht gebrauchen». Aber eine «Andeutung griechischer Sitte findet sich in Gothes Versen: Gierig schlürfte sie mit blassem Munde Nun den dunkeln blutgefarbten Wein, wo sonst eben so gut hätte stehen können».82 So weit Struves Beobachtung, allerdings übersieht er hier, daß Goethe das Motiv des Bluttrinkens sehr wohl gebrauchen konnte, weil die Braut ja zur Vampirin wird, und er übersieht, daß sich, wie Karl Eibl aufgewiesen hat, das Blut- bzw. Wein-Trinken in diesem Gedicht als Teil einer «AbendmahlsKontrafaktur»83 verstehen läßt - was dann besser erkennbar wird, wenn man sich die Bedeutung vergegenwärtigt, die der Erste Konnth erbrief für diese Ballade hat.
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Nirgendwo hat Paulus seine sexualethischen Überzeugungen so War dargelegt wie im 6. und 7. Kapitel des Ersten Konntherbnefs. In Goethes eigenem Bibelexemplar84 ist das 6. Kapitel 81
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Struve (wie Anm. 21), S 20; ungenau Steigen «Die Toten aber, die sich um Odysseus drangen, schlurfen Wein» (Emil Staiger: Goethe, Bd. 2: 1786-1814, 3. Aufl, Zürich 1962, S 309), vgl Karl Kircher Die sakrale Bedeutung des Weines im Altertum, Gießen 1910 (= RW 9,2), S. 77 f Struve (wie Anm, 21), S. 20ß. Eibl, in. FA l, S. 1236. — «However unwillingly, the maiden had become a celibate Christian in life and had presumably drunk often of the blood of Christ, who was her spiritual bridegroom. She had entered into his body and he into hers. Upon returning as a ghost, she again partakes of the wine before gulping the blood of her mortal bridegroom whose death she thereby brings about. Her participation of this sacrament anticipates and makes possible her eventual communion in death with the bridegroom whom she <wcds> and her reunion with the gods to whom she would return. The sexual union with a lover is symbolic of, and instrumental to, union with the divine» (R Ellis Dye: Goethe's «Die Braut von Corinth»: Anti-Chnstian Polemic or Hymn of Love and Death, in: GYb 4 £1988], S. 83-98, Zitat S 89). - Boyd verweist völlig zu Recht auf den Terenz-Vers «Sine Cerere et Libero fnget Venus» (Eun. 732) und dessen Verdeutschung «Ohne Wein und Brot / leid't Venus Not» (James Boyd. Notes to Goethe's Poems, Bd. 2: 1786-1836, Oxford 1949, S. 89). BIBLIA, Das ist: Die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes, Nach der deutschen Uebersetzung D. Martin Luthers, mit vorgesetztem kurzen Inhalt eines jeden Capitels, wie auch mit richtigen Summarien und vielen Schrift-Stellen auf das allersorgfaltigste versehen, nach den bewährtesten und neuesten Editionen mit grossem Fleissc ausgefertiget. Samt einer Vorrede von Hieronymo Burckhardt, der Heil. Schrift Doctor. BASEL, Bey Johann Rudolf Im-Hof und Sohn, 1772. - Ich danke dem Goethe- und Schiller-Archiv dafür, mir den Text I. Kor. 6.7 aus Goethes eigenem Lutherbibel-Exemplar zuganglich gemacht zu haben, nach dem ich oben zitiere.
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dieser Epistel so überschrieben: «Straffe des unbefugten gerichtlichen zanckens und der hurerey». Und die Inhaltsangabe des 7. Kapitels lautet dort: «Bescheid auf mancherley fragen vom ehelichen, ledigen und wittwen-stande». Paulus vermahnt 1. Kor. 6,12-20 die Gemeindeglieder m Konnth, sich nicht auf Hurerei einzulassen; diese Paränese beendet er mit der Begründung: «Denn ihr seyd theuer erkaufft. Darum so preiset Gott an eurem leibe, und in eurem geist, welche sind Gottes» (V. 20). Und wortgleich wiederholt Paulus diesen Satz im nächsten Kapitel: «Ihr seyd theuer erkaufft» (1. Kor. 7,23). Höchst bedeutsam ist, daß Paulus, bevor er dieses Wort ein zweites Mal aufgreift, sich grundsätzlich über das Problem der religionsverschiedenen Ehen jeweils zwischen christlichen und heidnischen Ehegatten äußert (1. Kor. 7,8-16). «Ihr seid teuer erkauft» sagt Paulus im Blick auf den Suhnetod Christi, ein Wort, das Goethe in der 2. Strophe seiner Ballade adaptiert, in der es über den Bräutigam heißt: Aber wird er auch willkommen scheinen, Wenn er theuer nicht die Gunst erkauft* Er ist noch ein Heide mit den Semen, Und sie sind schon Christen und getauft Diese von Goethe vorgenommene Bibeladaption ist schlechthin bewunderungswürdig, denn das 6. und 7. Kapitel des Ersten Konnth erbrief s galten - oder gelten noch immer - als die «Magna Charta»85 der christlichen Sexualaskese. Die bedeutet für den Bräutigam, für die Braut durch den Übertritt vom polytheistischen Heidentum zum monotheistischen Christentum einen Preis zahlen zu müssen, den er eigentlich nicht zu zahlen bereit ist. Zwar ist die gegen die Leibfeindhchkeit des Christentums gerichtete Tendenz dieser Ballade durchaus gesehen worden, aber es hat doch fast zwei Jahrhunderte gedauert, bis hier Goethes Bibelfestigkeit endlich ernstgenommen und erkannt wurde, daß sich Goethe in dieser Ballade - bis hm zum Zitat - mit der paulimschen Sexualethik im Ersten KonnthfTcbnef auseinandersetzt und daß Goethe auch (!) aus diesem Grunde die ihm vorhegende Gespenstergeschichte nach Konnth verlegt hat. Dabei hat im Jahre 1877 kein geringerer als Erwin Rohde darauf hingewiesen, daß «Kormth als Sitz einer der ältesten Christengemeinden besonders geeignet (schien), um den von ihm [Goethe] in die Sage hineingelegten Gegensatz der neuen und der alten Religion deutlicher hervortreten zu lassen».86 Dieser scharfsinnige Hinweis ist fast völlig unbeachtet geblieben.87 Ein Jahrhundert nach Rohdes Phlegon-Aufsatz zitiert Winfried Freund 1978 in seiner Interpretation der Braut von Konnth m aller Unschuld aus dem Ersten Konntherbneff* ohne dabei zu bemerken, daß
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So die prägnante Formulierung von Walter Schubart (wie Anra 70), S 238 Rohde (wie Anm 22), S. 329, vgl. Iramisch (wie Anm. 31), S. 610 Ohne Rohde zu nennen, erwähnt 1961 Ernst Feise, daß es sich bei der Stadt Korinth um diejenige Stadt handle, in der der Apostel Paulus missioniert habe (Ernst Feise Die Gestaltung von Goethes «Braut von Korinth», in MLN 76 [1961], S. 150-154, hier S 151) - Der Aufenthalt des Paulus m Konnth laßt sich ziemlich genau datieren Ei fallt m die Statthalterschaft des L Junius Galho Annaeanus (vgl Apg 18,12),* eines Bruders Senecas, die durch eine Inschrift m Delphi (Dittenberger: Syll II 801 D) auf 51/52 (weniger wahrscheinlich auf 52/53) n. Chr. festgelegt ist. Der Erste Konntberbnef ist in einem Frühjahr (vgl. l Kor 16,8) der Jahre 54-56 verfaßt Winfried Freund· Johann Wolfgang Goethe· Die Braut von Konnth, in: ders.t Die deutsche Ballade Theorie, Analysen, Didaktik, Paderborn 1978, S 35-42, hier S 36 Wie weit die Säkularisierung des Abendlandes inzwischen gediehen ist, kann man daran erkennen, daß dieser Tnilologe die Bibel nicht,
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Goethe bereits im Titel auf eben diese Epistel anspielt. Erst 1988 hat dann Ilse Graham dasjenige Ma an Bibelfestigkeit bewiesen, das Goethe selbst f r sich in Anspruch genommen hatte,89 indem sie den Titel dieser Ballade auf den Ersten Konntherbnef bezog und nachwies, da Goethe, wie gezeigt, in dieser Ideenballade sogar aus dieser paulinischen Epistel zitiert.90 Bei der Braut von Konnth haben wir es mit einem hochinteressanten Stuck Wirkungsgeschichte des Ersten Konntherbnefs zu tun. F r das Verh ltnis von Antike und Abendland ist diese Epistel sogar von ganz herausragender Bedeutung. Denn im gesamten (hinsichtlich des antiken Heidentums so schweigsamen) urchristlichen Schrifttum stellt - neben der Apostelgeschichte (vgl. Apg. 14,11 ff.; 15,20.29; 17,16 ff.; 21,25) und dem Romerbnef (vgl. Rom. 1,23 ff.; 7,5 f.) - der Erste Konntherbnef noch die expliziteste Auseinandersetzung mit dem Heidentum dar (vgl. 1. Kor. 8,5; 12,1-3), und in diesem Paulusbrief wird diese Auseinandersetzung gefuhrt anhand des Problems des Umgangs mit den alten G ttern, n mlich was die Frage des Verzehrs von G tzenopferfleisch betrifft (1. Kor. 8-10) und anhand des Problems des ethisch richtigen sexuellen Verhaltens (1. Kor. 6-7).91 Beim Verfassen seiner Ballade hat Goethe sich vom Neuen Testament, im besonderen aber vom Ersten Konntherbnef in einem staunenswerten Ausma anregen lassen: 1. Der Br utigam kommt genau von dorther nach Korinth, von woher auch Paulus kam, als er bei den Korinthern missionieren wollte: aus Athen (vgl. Apg. 18,1). 2. Der heidnische Br utigam verzehrt Brot und Wein - in bereinstimmung mit dem paulinischen Diktum ôá âñþìáôá -crj êïëßá êáé Þ êïëßá ôïéò âñþìáóéí («die Speise dem Bauche, und der Bauch der Speise») (1. Kor. 6,13a). Die Anregung aber, hier eine «Abendmahls-Kontrafaktur» (Eibl) zu gestalten - der Heide reicht der Christin das Brot -, wird Goethe den ber hmten, unz hlige Male im christlichen Gottesdienst zitierten Versen aus dem 11. Kapitel des Ersten Konntherbnefs entnommen haben: «Denn der Herr Jesus Christus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot, dankte und brachs [...]. Desselbigengleichen [nahm er] auch den Kelch nach dem Abendmahl und sprach: Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut [...]» (1. Kor. 11,23b-25). Die Braut dagegen nimmt kein Brot zu sich, sondern trinkt heidnisch nur dunklen Wein als Totentrank. 3. Was die (einst getaufte, christliche) Braut und der Br utigam - er «noch ein Heide» treiben, ist der Vollzug einer gespenstischen Mischehe, von Goethe schauervoll-nekrophil gestaltet. Bei Paulus hei t es: «Und so ein Weib einen ungl ubigen Mann hat, und er la t es sich gefallen, bei ihr zu wohnen, die scheide sich nicht von ihm» (1. Kor. 7,13) - woran sich die Braut auch h lt, denn sie scheidet sich nicht von ihm, sondern nimmt ihren Br utigam mit ins Totenreich. 4. Die paulinische paradoxe Rede von denen, «die sich freuen, als freuten sie sich nicht» (1. Kor. 7,30a), wird von Goethe sehr genau durchgef hrt: Der Br utigam fordert die Braut wie seit Jahrhunderten blich, nach Buch, Kapitel und Vers zitiert, sondern allen Ernstes nach der Seitenzahl der von ihm benutzten Ausgabe. Deshalb sei nun nachgetragen: Freund zitiert l Kor. 7,38 89 WA l, 7, S. 129, vgl. WA 1,27, S. 193, Z. 18; zu Goethes stupender Bibelkenntnis s Konrad Rahe: Caghostro und Christus. Zu den biblischen Anspielungen m Goethes Kom die «Der Gro -Cophta», Hamburg 1994, S. 35 ff. *· Graham (wie Anm. 68), S. 262. vl Vgl. Hans Conzeiraann: Korinth und die Madchen der Aphrodite, in. ders.. Theologie als Schnftauslegung. Aufsatze zum Neuen Testament, M nchen 1974 (= BEvTh 65), S 152-261, hier S 152 f.
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zum Liebesspiel auf mit den Worten: «La uns sehn wie froh die G tter sind»! Die tote Braut freut sich dann des Liebesspiels mit dem Br utigam, obwohl sie zuvor ausdr cklich sagt: «Ich geh re nicht den Freuden an». 5. Und als der Hahn erwacht und die Mutter das Schlo ffnet und das Paar berrascht, um die Liebesnacht von Braut und Br utigam zu beenden, gilt f r die beiden Liebenden der Satz, mit dem Paulus von der bevorstehenden Parusie spricht· «.Die Zeit ist kurz» (1. Kor. 7,29). 6. Der J ngling f hlt sich im Umgang mit der Braut «von der Liebe Jugendkraft durchmannt» (V. 114) und hofft seine jungfrauliche Braut zu erw rmen, wohingegen Paulus rat Luther hat hier schwieriges Griechisch m schwieriges Deutsch bertragen: «So aber jemand sich la t d nken, es wolle sich nicht schicken mit seiner Jungfrau, weil sie eben wohl mannb&r ist, und es will nicht anders sein, so tue er, was er will; er s ndigt nicht, er lasse sie freien» (Ei äå ôéò Üó÷çìïíåÀí åðß ôçí ðáñèÝíïí áõôïý íïìßæåé, åÜí fj ýðÝñáêìïò êáé ïýôùò ïöåßëåé ãßíåóèáé, ä èÝëåé ðïéåßôù, ïý÷ ÜìáñôÜíåé, ãáìåßôùóáí) (1. Kor. 7,36).92 Die Schlu folgerung - «so tue er, was er will; er sundigt nicht, er lasse sie freien» - war von der Mutter allerdings gerade nicht gezogen worden: Paulus setzt die Natur also bedeutend mehr ins Recht als die die «Jugend und Natur» opfernde Mutter!93 7. In der Braut von Conntb ist von «Auferstehung» - man vergleiche im beraus wichtigen Auferstehungskapitel 1. Kor. 15 den ber hmten Bericht des Paulus ber die (das Christentum recht eigentlich konstituierenden) Christophanjen (V. 5-8) - keine Rede. Zum urchnstlichen Bekenntnis, das Paulus bereits als feste Formel kennenlernte, als er wenige Jahre nach dem Tode Jesu zum Christentum konvertierte, geh rt der Topos 1. Kor. 15,4: Christus «ist begraben worden» (åôÜöç). Das Judentum hat die Feuerbestattung stets abgelehnt, und im Christentum galt - wegen des Begr bnisses Jesu - von Anfang an die Erdbestattung als die alleinige den Christen angemessene Form der Bestattung.94 Wenn Goethe die Braut f r den Br utigam und sich selbst den Feuertod fordern la t,*dann verfahrt Goethe objektiv anachronistisch, denn in der Sp tantike war die Feuerbestattung fast g nzlich au er Gebrauch gekommen.95 Zudem verklart Goethe das Motiv des Leichenverbrennens, indem er es zu einem Wunsch der Braut macht. Denn bei Phlegon ist die Leichenverbrennung eindeutig Ausdruck der Angst der Lebenden vor den Toten, wenn der Seher rat, «das M dchen au erhalb der Stadtmark zu verbrennen (denn es sei nicht gut, sie wieder innerhalb des Stadtgebiets zu begraben)» ( bers. Gasse) (ÝêÝëåõåí ôçí ìåí Üíèñùðïí êáôáêáßåéí Ýêôïò ïñßùí· ïõ ãáñ óõìöÝñåéí Ýôé ôáýôçí Ýíôïò ïñßùí ôåèçíáé åéò yfjv). Der Homer-Leser Goethe wird vor allem an die Leichenverbrennungen bei den Bestattungen des Patroklos, Achilleus, Antilochos, Hektor und anderer Helden des home-
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Hervorhebungen von mir, K R. - Da hier eine Paulus-Adaption vorliegt, ist offenbar schon am Anfang dieses Jahrhunderts gesehen worden Denn in seiner - inzwischen wohl einhellig als falsch angesehenen Auslegung von l Kor 7, 36-38 schreibt Achelis, der diese Verse auf ehe Syneisakten bezogen wissen will, v llig unvermittelt «Goethe's geht auch von einer falschen Auffassung der Konntherstelle [1. Kor 7,36 f.] aus* (Hans Achelis: Virgmes submtroductae. Ein Beitrag zum VII Kapitel des l Kormtherbnefs, Leipzig 1902, S 28Anm 3) So mit Recht Graham (wie Anm 68), S 264. Friedemann Merkel: Art.· «Bestattung IV Historisch», in. TRE 5, S 743-749, hier S. 743 f Ebd., S. 744. .
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rischen Zeitalters gedacht haben, deren Zweck, so Rohdes Vermutung, «die gänzliche Verbannung der Psyche in den Hades» gewesen sein dürfte.96 Der Glaube der Braut, dank der Verbrennung den alten Göttern zueilen zu können, klingt dagegen unvergleichlich optimistisch: Von der Angst der Lebenden vor den Toten ist hier nichts zu spüren; ja Goethe verkehrt hier etwas (bei Phlegon) Schreckenerregendes - die Vernichtung eines Leichnams aus Angst und Aberglauben - in etwas vom toten Menschen selbst Gewünschtes! 8. Im sechsten und siebten Kapitel des Ersten Korintherbnefs ist auffallend oft vom «Geist» oder vom «heiligen Geist» die Rede (1. Kor. 6,11.17.19 f.; 7,34.40), und diesen Terminus aufgreifend, läßt Goethe - der diese Ballade 1797 genau an Pfingsten (4./5. Juni) schrieb, dem Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes - die Braut sich erheben, um anschließend in der Kraft und Vollmacht des Geistes der Mutter eine Strafpredigt zu halten, «in der die Sprache Goethes einen ihrer höchsten Gipfel erreicht».97 Die Allusion ist nicht zu übersehen: Wie mit Geists Gewalt Hebet die Gestalt Lang und langsam sich im Bett* empor. (V. 152 ff.) 9. Asketisches Fasten zeitgleich mit der Unterbrechung der Sexualgemeinschaft von Mann und Frau, wie Paulus sie gelten laßt (vgl. 1. Kor. 7,5), kommt für den Jüngling nicht in Betracht, denn: Liebe fordert er bei'm stillen Male (V. 101). 10. Wenn die Braut sich beklagt, sie sei um «Jugend und Natur» gebracht worden, so meint sie mit dem Wort «Natur» die Triebnatur des Menschen. Sie erklart dem Jüngling: Ferne bleib', o Jüngling1 bleibe stehen; Ich gehöre nicht den Freuden an. Schon der letzte Schritt ist ach! geschehen, Durch der guten Mutter kranken Wahn, Die genesend schwur: Jugend und Natur Sei dem Himmel künftig unterthan Und der alten Götter bunt Gewimmel Hat sogleich das stille Haus geleert. Unsichtbar wird Einer nur im Himmel, Und ein Heiland wird am Kreuz verehrt; Opfer fallen hier, Weder Lamm noch Stiei; Aber Menschenopfer unerhört. (V. 50-63) Dies sind die Worte der Braut, mit denen sie dem Bräutigam gegenüber ihr Schicksal erklärt und bewertet. Der «letzte1 Schritt», von dem die Braut spricht, ist der lebensfeindliche Schritt in die sexuelle Askese, ein Schritt, der die Folge eines «kranken Wahnes» sei und der der von Goethe so perzipierten — «gesunden» heidnischen Erotik widerspricht. Diesem formel% V7
Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkciisgiaubc der Griechen, 9. u. 10. Aufl., Bd. l, Tubingen 1925, S 30; vgl. II. XXIII, 75 f., Od. XI, 218 - 222. Staiger (wie Anm. 81), S 310.
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Jen bertritt m die permanente Enthaltsamkeit - Paulus rat den Jungfrauen zur Kontinenz (1. Kor. 7,25 f.) - entspricht die Konversion der Familie zum Christentum, die ex event ja: postmortal - von der Braut scharf verurteilt wird. Denn auf den Polytheismus folgt nun ein freudloser Monotheismus. Durch den Auszug der alten Gotter ist das Haus ein «stilles Haus» geworden.98 Der Unsinnlichkeit des neuen Gottes, den man nicht sehen kann, entspricht die Unsinnlichkeit der Liebe. Wenn Goethe dem Monotheismus Sinnenfeindhchkeit und Monogamie zuordnet und dem Polytheismus die gr ere sexuelle Freiheit zuweist - gewi analog den Freiheiten, die die olympischen Gotter f r sich beanspruchten -, so ist das genuin biblische Logik. Paulus hat «Polytheismus» in engem Zusammenhang gesehen mit «Hurerei», und er hat diesen Konnex im ersten Kapitel des (in Korinth geschriebenen) Romerbnefs so ausgedruckt: Die Heiden «haben verwandelt die Herrlichkeit in ein Bild [åí üìïéþìáôé åéêüíïò] gleich dem [des] verg nglichen Menschen und der Vogel und der vierf igen und kriechenden Tiere. Darum hat sie auch Gott dahingegeben m ihrer Herzen Gel ste, in Unreimgkeit [åí ôáÀò Ýðéèõìßáéò ôùí êáñäéþí áõôþí åéò Üêáñèáïôáí], zu sch nden ihre eigenen Leiber an sich selbst» (Rom. 1,23 f., vgl V. 26 f.). Diese gedankliche Verbindung zwischen Polytheismus und Unzucht hat Paulus jedoch nicht selbst geschaffen, sondern er hat sie bereits im Buch der Weisheit Salomonis vorgefunden, in dem es hei t (Weish. 14,12a; vgl. 13,13) «Denn G tzen aufrichten ist der Hurerei Anfang» (Áñ÷Þ ãáñ ðïñíåßáò Ýðßíïéá åéäþëùí (LXX).)99 Diese Logik - dem Polytheismus ist die Sinnenfreude zugeordnet, dem Monotheismus die Sittenstrenge - greift Goethe auf, nur da er v llig anders wertet als Paulus und hier dem Polytheismus den Vorzug gibt! 11. Seit der Opferung Christi als «Osterlamm» (1. Kor. 5,7) ist es unn tig, wie etwa von Homer erzahlt, «Lamm» und «Stier» zu opfern. Die Hekatomben von Opfern entfallen nun, da «ein (') Heiland [...] am Kreuz verehrt» wird. Mit der Kreuzigung Jesu, dem «Menschenopfer unerh rt», sind Tieropfer im Christentum nicht mehr erforderlich.100 Die Pointe in der Rede der Tochter ist nun, da - im Gegensatz zu dem Jesus-Logion Ý'ëåïò èÝëù êáé ïõ èõïßáí () (Mt 9,13) und trotz der Tatsache, da Paulus den Tod Jesu als das Suhnopfer schlechthin (ßëáóôÞñéïí [Rom. 3,25]) gedeutet hatte - das Christentum doch wieder zu einer Opferreligion geworden ist und also weiterhin Opfer dargebracht werden und, wie es (im Wissen darum, da Isaak eben nicht von Abraham geopfert wurde!) in un berbietbarer polemischer berspitzung hei t, sogar «Menschenopfer unerh rt» vollzogen wurden - womit die Braut doch wohl sich selbst meint,101 die, so Karl Eibl, «in der Nachfolge Christi - so m ssen wir wohl erg nzen - den asketischen bungen erliegt».102 Die Opferung des Menschen Jesus von Nazareth als v8 99 100 101
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Dazu Hans-G nther Thalhcim Goethes Ballade «Die Braut von Korinth», m Goethe 20 (1958), S 28-44, hier S 43 Sowohl im AT (Hos. 2,14-21, Jer 2,2-6) als auch im NT (Offb. 14,8; 17,2.4,18,3 9; 19,2) kann «Hurerei» einen symbolischen Ausdruck f r den Abfall von Gott darstellen Dazu Ulrich Wilckens Der Brief an die Romer, Tlbd 1. Rom 1-5, Zunch-Einsiedeln-Koln und Neukirchen-Vluyn 1978 (= EKK VI/1), S 239 f Saupe versteht unter den «Menschenopfern» die Feier des Abendmahls: Die Braut bezeichne «den Genu des Leibes Christi im Abendmahl, wie alle heidnischen Gegner des Chnstenthums, als ein unerh rtes Menschenopfer» (Ernst Julius Saupe· Goethe's und Schiller's Balladen und Romanzen, Leipzig 1853, S 67 Anm. 10) - In La Religieuse wird Suzanne (ohne Ironie) als «Unschuldslamm» bezeichnet Eibl, m FA l, S.· 1236 (Komm z. St)
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«Osterlamm» hat durchaus weitere Opfer zur Folge, wie im vorliegenden Gedicht die Opferung der Braut, deren Liebe und Liebeslust dargebracht werden. Denn Askese ist Opfer.103 Ja, die Braut geht sogar an der Askese zugrunde. 12. Dieses Zugrundegehen der Braut erscheint auch deshalb folgerichtig, weil es sich religionsgeschichtlich so verhalte: Keimt ein Glaube neu, Wird oft Lieb' und Treu' Wie ein b ses Unkraut ausgerauft. Da Ehen in Korinth durch das Aufkommen des neuen Glaubens auseinanderbrachen, wenn sich nur einer der beiden Ehepartner zu ihm bekannte, war, wie erw hnt, Paulus sehr wohl bewu t (1. Kor. 7,12-16); und in der Deutung (Mt. 13,36b-43), die Matthaus - derjenige Evangelist, dessen Evangelium am allerwenigsten sine ira et studio geschrieben ist — von dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt. 13,24-30) gibt und die Goethe hier im Wortlaut adaptiert, hei t es vom Unkraut, das nicht zur Unzeit ausgej tet werden d rfe (Mt. 13,27 f.): «Das Unkraut sind die Kinder der Bosheit» (Mt. 13,38b).104 Goethe hat hier zwei neutestamendiche Bibelstellen kontaminiert. 13. Paulus fordere, so haben ihn fast zwei Jahrtausende lang die Bibelleser (und mithin auch Goethe) mi verstanden, prinzipiell die Askese. In seiner eigenen Lutherbibel konnte Goethe lesen: «Von dem ihr aber mir geschrieben habt, antworte ich: Es ist dem menschen gut, da er kein weib ber hre» (Ðåñß äå ùí ÝãñÜøáôå, êáëüí Üíèñþðù ãõíáéêüò ìç Üðôåóèáé) (1. Kor. 7,1). Mit dieser Formulierung hat Paulus ein Mi verst ndnis heraufbeschworen, das fast zweitausend Jahre lang in Geltung war. Erst die j ngere Bibel-Exegese105 hat mit berzeugenden Gr nden herausgearbeitet, da der gesamte Vers 1. Kor. 7,1 die von Paulus referierte Auffassung eines Teils der korinthischen Gemeinde ist. Demgem w re dieser Bibelvers etwa so zu bertragen: «Bezuglich dessen, was ihr geschrieben habt: es sei gut f r den Menschen, eine Frau nicht anzufassen [, dazu meine ich:]»106 Das traditionelle Verst ndnis von 1. Kor. 7,1 kann deshalb schwerlich paulinisch sein, weil Paulus ausdrucklich einr umt, da nicht jeder die Gnadengabe der Enthaltsamkeit habe (1. Kor. 7,7). Zudem ergaben sich logische Spannungen zu 1. Kor. 7,28.36.38 f. Diese neuere, hier referierte Auffassung der Mehrzahl der neueren Exegeten ist zwar objektiv apologetisch,107 weil sie Paulus vor dem Verdikt allzu starr ausgepr gter Sexualfeindschaft in Schutz nimmt; aber zutreffend ist sie trotzdem. Paulus fordert Askese nicht prinzipiell, denn er lehrt, «es ist besser freien denn Brunst leiden». Offensichtlich hat Goethe «das heilige Original» (Faust 7, 1222) des Neuen Testamentes gekannt, denn im griechischen Text hei t es f r «Brunst 103
Schubart (wie Anm. 70), S 208 f. 104 HcnrOrhcbungen von mir, K. R.; zu Mt 13,24ff.vgl WA IV, 5, S 180 Z 16 105 bersicht bei. John Coohdge Hurd. The Origin of I Corinthians, London 1965, S. 68. 106 VgL Helmut Merklein. «Es ist gut f r den Menschen, eine Frau nicht anzufassen». Paulus und die Sexualit t nach 1. Kor. 7, in: Gerhard Dautzenberg u. a. (Hgg) Die Frau im Urchristentum, FreiburgBasel-Wien 1983 (= QD 95), S. 225-254, hier S. 225 und S 229 ff; Wolfgang Schr ge: Die Frontstellung der paulmischen Ehebewertung in 1. Kor. 7,1 -7, m: ZNW 67 (1976), S. 214-234, hier S 215 ff.; Friedrich Lang: Die Briefe an die Konnther, G ttingen 1986 (= NTD 7), S. 89 (Komm z. St.) und S. 106. ^ So mit Recht Kurt Nicderwimmcr Askese und Mysterium ber Ehe, Ehescheidung und Eheverzicht in den Anfangen des christlichen Glaubens, Gottingen 1975 (- FRLANT 113), S 81 Anm. 3; Niederwimmer halt an der herk mmlichen Paulus-Exegese im Sinne einer prinzipiellen Sexuaifemdschaft fest.
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leiden» ðõñïïóèáé («brennen»). Auch hier hat Goethe eine Paulus-Adaption vorgenommen, denn er la t den J ngling die Braut fragen: «Brennst du nicht und f hlest mich entbrannt?» 14. Ein Stuck objektiver Wirkungsgeschichte des Ersten Konntherbnefs ist darin zu sehen, da die Braut das Gemach «mit wei em Schleier und Gewand» (V. 30) betritt. ist ein Synonym geworden f r .108 Im Korinth des Jahres 53 gab es offensichtlich Christinnen, die im Gottesdienst unverschleiert sowohl beteten als auch prophetisch redeten, denn Paulus schreibt: ðáóÜ äå ãõíÞ ðñïóåõ÷ïìÝíç Þ ðñïöçôåýïõóá Üêáôáêáëýðôñ) ôç êåöáëÞ êáôáéó÷ýíåé ôçí êåöáëÞí áõôÞò («Ein Weib aber, das da betet oder weissagt mit unbedecktem Haupt, die sch ndet ihr Haupt») (1. Kor. ll,5a). Die Frau solle sich verh llen: êáôáêáëõðôÝóèù (1. Kor. 11,6). Die Verschleierung der Frau war in der griechisch-r mischen Welt keineswegs durchgangig Pflicht.109 Man kann daher sagen: Paulus hat «auf griechischem Boden eine Sitte einzuf hren versucht, die zwar nicht griechischem, wohl aber orientalischem und speziell judischem Anstandsempfinden entsprach».110 Es ist nicht zuviel gewagt, zu behaupten, da es Paulus mit seiner Stellungnahme 1. Kor. 11 gelungen ist, jedenfalls zu geistlichen Zwecken die Sitte der Bedeckung des Kopfes durch die Frau aus dem Orient, die Antike berspringend, in das Abendland hin bergerettet zu haben. Tertullian hat in seiner Schrift De virgmibus velandis111 (cap. 4 ff.) alles daran gesetzt, um unter Berufung auf dieses Paulus-Kapitel f r die Jungfrauen - und zwar f r alle112 - den Schleierzwang durchzusetzen: «Propnum iam negotium passus meae opinioms Latine quoque ostendam virgines nostras velari oportere, ex quo transitum aetatis suae fecerint» ll3 Das Ziel, da sich im Abendland alle Jungfrauen verschleiern m ssen, hat Tertullian zwar nicht erreicht, aber seit der Sp tantike ist der Schleier obligatorischer Bestandteil der Nonnentracht, also Spezifikum der gottgeweihten Jungfrauen.114 Als die Klostergrundenn Makrina (wohl im Jahre 380) starb, hinterlie sie (nach dem Bericht Gregors von Nyssa) als Besitz, den sie an sich trug, Mantel, Schleier und Sandalen (ôï ßìÜôéïí, ôçò êåöáëÞò Þ êáëýðôñá, ôá ôåôñéììÝíá ôùí ðïäþí õðïäÞìáôá).115
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DWb [Nachdruck M nchen 1984] (=dtv 5945), Bd 15, Sp 579 f â Belege bei Gerhard Dellmg· Paulus* Stellung zu Frau und Ehe, Stuttgart 1931 (= B WANT 56), S. 96-105, Aibrecht Oepke Art êáôáêáëýðôù, m ThWNT 3, S. 563-565 Zur Wirkungsgeschichte von l Kor 1,2-16 s Wolfgang Schr ge Der erste Brief an die Korincher, Tlbd 2. 6,12-11,16, Solothurn-Dusseldorf und Neukirchen-Vluyn 1994 (=EKKVII/2), S. 525-541, hier bes S 527. Eva Schulz-Fl gel (Hg.) Quinti Septimi Florentis Tertulhani De mrgimbus velandis. Einleitung, Text, deutsche bersetzung, theologischer und philologischer Kommentar (Diss theol Gottmgen 1977) Das betont mit Recht Hugo Koch Virgmes Chnsru Die Gel bde der gottgeweihten Jungfrauen in den ersten drei Jahrhunderten, m TU 31, H 2, Leipzig 1907, S 59-112, hier S. 66 Tertullian· De wrgm/te velandis 1,1 (wie Anm 111), S 93. Vgl PS -Ambrosius (MPJL 16 Sp. 389a) (De lapsu virginum, V [21]) Gregor von Nyssa Vita Macnnae, hrsg. v. Pierre Maraval, Pans 1971 (= SC 178), S 236, vgl. Albrecht (wie Anm 17), S. 159
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VII
In der Forschung ist bisher fast v llig bersehen worden, da die Braut von Korinth, weil sie Nonne ist, Braut Christi ist.116 Wahrend ihres Lebens als Nonne war sie Braut des gekreuzigten und auferstandenen Christus - von dessen Nicht-Auferstehung Goethe fest berzeugt gewesen ist. Zu ihren Lebzeiten war sie als «Braut Christi» eingesperrt in ein Kloster, das die Braut brigens mit demselben Wort belegt («Klause») (V. 38) wie ihr Grab (V. 73).l17 Nun, da sie tot ist, ist sie Braut eines Lebendigen, den sie mit sich in den Tod zieht. Die Vorstellung von der Liebesvereinigung zwischen Gott und Mensch11* ist rehgionsgeschichtlich weit verbreitet, ebenso die berzeugung von der religi sen Befleckung durch geschlechtlichen Verkehr.1™ Diese beiden Vorstellungen haben auch im Neuen Testament ihren Niederschlag gefunden und damit der Deutung des Status der Nonne als «Braut Christi» Vorschub geleistet. Zwar ist Mk. 2,19 f. parr Mt. 9,15; Lk. 5,34 f. von einer «Braut» nicht die Rede, sondern nur von dem «Br utigam» und den «Hochzeitsgasten» - womit die nicht fastenden J nger gemeint sind -, aber schon das matthaische Gleichnis von den f nf t richten und den f nf klugen Jungfrauen (Mt. 25,1-13) lud zu Mi verst ndnissen ein Mi verstandnissen deshalb, weil die Jungfrauen ja Brautfuhrerinnen sind und keine Braute. Diderot hat es gewu t, wie dieses Gleichnis im Sinne monastischer Legitimierung rezipiert worden ist; denn in einer brillant formulierten Kaskade rhetorischer Fragen l t er den Anwalt der Suzanne Simonin, Maitre Manouri, in einem Schriftsatz fragen (wobei Goethes Wort von den «Menschenopfern unerh rt» anklingt): «Hat Jesus Christus M nche und Nonnen eingesetzt? Kann die Kirche sie wirklich nicht entbehren? Wozu bedarf der Br utigam so vieler t richter Jungfrauen und das Menschengeschlecht so vieler Opfer?»120 Dagegen ist in dem dunklen Wort Joh. 3,29 durchaus von einer «Braut» die Rede, ü Ý÷ùí xfjv íýìöçí íõìößïò åóôßí ü äå ößëïò ôïõ íõìößïõ ü Ýóôçêþò êáé Üêïýùí áýôïû ÷áñÜ ÷áßñåé äéá ôçí öùíÞí ôïõ íõìößïõ. («Wer die Braut hat, der ist der Br utigam; der Freund aber des Br utigams steht und h rt ihm zu und freut sich hoch ber des Br utigams Stimme».) Die heutige Bibelexegese hat den sexuellen Sinn dieses Verses berzeugend herausgearbeitet: «Der Freund des Br utigams, der nach judischer Sitte ein Brautf hrer ist und den ersten ehelichen Verkehr zwischen dem Paar berwacht, steht vor der T r des Braut-
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Als lange Zeit einziger hat dies gesehen Heinrich D ntzer (Komm )· Goethes Werke Erster Teil. Gedichte, Bd l, Berlin und Stuttgart o J (1882) (= Deutsche National-Litteratur 82), S, 162 (zu Vers 54), neuerdings auch Dye (wie Anm. 83), S. 89. Zur Vorstellung von der Nonne als «Braut Christi» vgl. Joseph Wilpert (wie Anm. 17), S. 3 ff.; Griet Petersen-Szemeredy: Zwischen Weltstadt und W ste. Romische Asketinnen in der Sp tantike. Eine Studie zu Motivation und Gestaltung der Askese christlicher Frauen Roms auf dem Hintergrund ihrer Zeit, Gottingen 1993 (= FKDG 54), S 167; Albrecht (wie Anm 17), S 103-111 und S. 157 117 Anders D ntzer (wie Anm.,63), S 263. Die Mutter sperre die Tochter m eine Kammer. Goethe hat die Worter «Kloster* und «Klause» einmal ausdr cklich als Synonyma benutzt (WA IV, 47, S. 129). «Klause» hat sonst bei ihm zumeist die Bedeutung <Einsiedelei> (WA IV, 21, S. 140; IV, 35, S 139, S 153; IV, 41, S 203, S. 205, IV, 48, S. 11); zum Begriff «Klausner» vgl. Remeke Fuchs (WA I, S. 10, S. 12 f.; S. 78, S. 81, S 112; S 359) und vor allem das Wort von der «klausnenschcn Kasteyung» (WA I, 50, S. 358)« m Dazu. Eugen Fehrle. Die kultische Keuschheit im Altertum. Erster Teil, Naumburg/Saalc 1908 (Diss. phil. Heidelberg), S 3 ff. J1 * Vgl ebd., S. 25 ff 120 Diderot (wie Anra 6), S. 124.
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gemachs und h rt den Br utigam jubeln, da seine Braut noch Jungfrau war» m Es handelt sich hier um em allegorisches Bildwort: Der Brautf hrer steht f r Johannes den Taufer, der Br utigam f r Jesus, der die Braut, also die Semen (einschlie lich der Johannes-Anh nger), mithin die Kirche, zu sich heimfuhrt. Von diesem dunklen Wort des Johannesevangeliums ist es dann nur ein kleiner Schritt zu Paulus und dessen Brautmotivik 2. Kor. 11,2· ÞñìïóÜìçí ãáñ õìÜò Ýíé Üíäñé ðáñèÝíïí ÜãíÞí ðáñáóôçóáé ôù ×ñéóôþ. («Denn ich habe euch vertraut einem Manne, da ich eine reine Jungfrau Christo zubrachte») Paulus sieht hier sich selbst gleichsam als den Brautfuhrer, der die Braut, n mlich die korinthische Gemeinde als reine Jungfrau, dem Br utigam, n mlich Christus, zugef hrt hat. Dieses Bild ist dann vom Verfasser des Epheserbnefs, vermutlich einem Paulus-Schuler, unverbl mt in einen sexuellen Zusammenhang gestellt worden. Eph. 5,27 ist die Rede von dem Wunsch, da Christus die Gemeinde «sich selbst darstellte als eine Gemeinde, die herrlich sei, die [wie eine Braut] nicht habe einen Flecken oder Runzel oder des etwas, sondern da sie heilig sei und unstr flich», um danach die Gemeindeglieder als Glieder am Leibe Christi zu statuieren (V. 30) und daran anschlie end Gen. 2,24 zu zitieren: «Um deswillen wird ein Mensch verlassen Vater und Mutter und seinem Weibe anhangen, und werden die zwei ein Fleisch sein», einen Vers, den der Verfasser (V 32) ekklesiologisch gedeutet wissen will: «Das Geheimnis ist gro ; ich sage aber von Christo und der Gemeinde» (ôï ìõóôÞñéïí ôïýôï ìÝãá åóôßí åãþ äå ëÝãù åßò ×ñéóôïí êáé åßò ôçí Ýêêëçóßáí) Dieses «Geheimnis» meint keineswegs jetzt «die Ehe zwischen Christus und der Kirche»,122 sondern die erst «bei der Parusie erfolgende Vereinigung des den Himmel verlassenden und seiner Braut entgegeneilenden Br utigams Christus mit seiner Gemeinde».123 Auch in der Offenbarung des Johannes ist die Brautmotivik von Bedeutung; hier meint das Bild der Braut aber nicht die irdische Gemeinde, sondern das himmlische Jerusalem (Offb. 21,2). Die «Braut des Lammes» (Offb. 21,9) ist in dieser Vision gleichzusetzen mit dem vom Himmel herabkommenden himmlischen Jerusalem, das nach Beendigung des tausendj hrigen Reiches auf die verklarte Erde herabkommen wird (Offb. 21,10), denn es hei t Offb. 21,2: «Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschm ckte Braut ihrem Mann» (ÞôïéìáóìÝìçí ùò íýìöçí êåêïóìçìÝíçí ôö Üíäñé áõôÞò), ein Bild, hinter dem religionsgeschichtlich die Vorstellung vom éåñüò ãÜìïò steht.124 Auf die Wiederkunft Christi wirken die «Braut» und der «Geist» hm - so der funftletzte Vers der Bibel (Offb. 22,17), in dem es hei t: «Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es h rt, der spreche: Komm!» Da diese Braut-Verse der Offenbarung des Jobannes ber viele Jahrhunderte durchaus zu Recht im Sinne sexueller Askese verstanden worden sind, ergibt sich aus Offb. 14,1.4. Der Seher sieht dort «das Lamm stehen auf dem Berg Zion und mit ihm hundertvierundvierzigtausend», ber die - wie 1. Kor 6,20; 7,23 - zweimal gesagt wird, da sie «erkauft» (V. 3 f.) seien. Diese 121 122
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J rgen Becker Das Evangelium des Johannes. Kapitel l -10, Gutersloh 1979 (= OTK, IV/1), S 155, vgl* Joachim Jeremias Art. íýìöç, íõìößïò, in ThWNT 4, S 1092-1094, hier S. 1094 So Hans Conzelmann. Der Brief an die Epheser, m. Die Briefe an die Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thessalomcher und Philemon, bers u. erkl v J rgen Becker, Hans Conzelmann, Gerhard Friedrich, Gottmgen-Zurich 1985 (= NTD 8), S 120 (Komm z St). Jeremias (wie Anra 121), S 1098. Niederwimmer(wieAnm 107), S 188
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asketisch lebenden, unbefleckten Manner werden Offb. 14,4 als «Jungfrauen» bezeichnet: «Diese sind's, die mit Weibern nicht befleckt sind - denn sie sind Jungfrauen - und folgen dem Lamme nach, wo es hingeht» (ïýôïé åéóéí ïé ìåôÜ ãõíáéêþí ïõê Ýìïëýíèçóáí, ðáñèÝíïé ãáñ åßóéí, ïýôïé ïé Üêïëïõèïõíôåò ôö Üñíßïï ïðïý áí ýðÜãç). Die Wirkung dieser Worte aus der Offenbarung des Jobannes - verstanden im Sinne sexueller Askese - ist ber viele Jahrhunderte eine enorme gewesen,125 und sie mu Goethe bekannt gewesen sein Denn den Fall, da eine Frau «Gott mehr sch tzte als ihren Br utigam» (WA 1,22, S. 298 f.) und deshalb den irdischen Br utigam verlie , um fortan ausschlie lich dem himmlischen Br utigam anzuhangen, hatte Goethe in Gestalt der mit ihm befreundeten Susanna Kathanna von Klettenberg kennengelernt. Er hat in den Bekenntnissen einer schonen Seele das religi se Motiv bei der (historischen) Trennung der Klettenberg - die als «Braut des Lammes»126 bezeichnet wurde — von ihrem irdischen Br utigam sogar st rker betont, als es, biographisch gesehen, wohl angemessen gewesen w re.127 Wie die der Ehe entsagende Klettenberg sich als «Braut» sah, so sahen sich schon die Asketinnen der Sp tantike. Da es sich bei der Braut von Korinth um eine Nonne handle, wird nur deutlich durch ihre Kleidung, denn sie betritt das Gemach «mit wei em Schleier und Gewand» (V. 30),128 zudem tr gt sie «um die Stirn ein schwarz- und goldnes Band» (V. 32) - was Saupe so kommentiert: «Der Anzug des Madchens halt die Mitte zwischen Nonnentracht und Todtenkleid».129 Tod und Nonnenexistenz sind sprachlich dadurch verkn pft, da die Braut, wie erw hnt, f r und dasselbe Wort verwendet: «Klause» (V. 38; V. 73).130 Hinsichtlich dessen, was den fr hen Tod der Braut im Kloster bewirkt habe, l t Goethe eine Leerstelle; diese Leerstelle aber kann gef llt werden, denn man wei heute recht genau, weshalb die asketischen bungen dazu angetan waren, die Gesundheit zu untergraben. Von den gro en Romischen Asketinnen hei t es: «Paula betete Tag und Nacht fast ununterbrochen und ruhte selbst bei schwerstem Fieber auf rauhen Decken auf dem Boden. Melania d. . erklarte als Sechzigj hrige, sie habe niemals in einem Bett geschlafen. Melania d. J. schlief nie ohne ihre h renen Kleider; in Jerusalem lebte sie in einer ganz engen Zelle, und als sie diese an Ostern verlie , fielen aus dem Sack, der ihr als Unterlage diente, sehr gro e W rmer heraus. Blesilla g nnte sich zwischen Gebet und Psalmengesang selbst dann kaum Ruhe, wenn ihr der Nacken m de wurde, die Knie zitterten und ihr die Augen zufielen. Asella und Demetrias ruhten auf dem Boden auf
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Bernhard Lohse- Askese und Monchtum in der An ke und in der Alten Kirche, M nchen-Wien 1969 (= RKAM 1), S 119, Hans von Campenhausen: Die Askese im Urchristentum, in ders.· Tradition und Leben. Kr fte der Kirchengeschichte. Aufs tze und Vortrage, T bingen 1960, S 114-156, S 150 ff; Niederwimmer (wie Anm. 107), S. 186 ff - Wilpert (wie Anm. 17), S 7. Die Klettenberg wird so bezeichnet von ihrer Freundin Auguste Fnedenke von Ysenburg-Budmgen, zit. nach: Heinrich Funck (Hg.): Die sch ne Seele. Bekenntnisse, Schriften und Briefe der Susanna Katharina von Klettenberg, 2. Aufl, Leipzig 1912, Einleitung S. 12. Funck, ebd., S. 9. Hermann Pongs· Das Bild in der Dichtung, Bd. 3: Der symbolische Kosmos der Dichtung, Marburg 1969, S. 90 («Gewand der Himmelsbraut*). Saupe (wie Anm. 101), S 65 Anm. 6. Diese Gleichsctzung findet sich bereits in Diderots Roman La Rehgieitse vorgebildet, in dem davon die Rede j&t, *wie t richt es sei, junge Personen lebendig m Gr ber einzuschlie en» (wie Anm 6), S 231
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rauhen Decken. Die Frauen in den Kl stern Paulas und Melania d. J. unterbrachen ebenfalls ihren Schlaf, um zu beten».131 Das Fasten sollte die sexuellen Bed rfnisse der Jungfrauen unterdr cken.132 Einheitlich darf man sich die Lebensformen der Parthenoi nicht denken: Eine Parthenos konnte eingeschlossen in einer Zelle leben, sie mu te es aber nicht.133 Da Goethe sich die «Braut» als eine klausunert lebende junge Frau dachte, erhellt aus der Unfreiwilligkeit der monastischen Lebensweise dieser Parthenos und vor allem daraus, da sie selbst von ihrer «Klause» (V. 38) spricht. VIII Im Einklang mit der Warnung des Paulus im Ersten Korintherbriefvor ðïñíåßá und ìïé÷åßá steht das, was aus der Antike ber Korinth bekannt ist. Der Ruf dieser Stadt, einer Hafenstadt,134 war ein schlechter. Korinths Einwohner galten als «genu s chtig» (öéëÞäïíáé).135 Zwei ber hmte Het ren mit Namen Lais lebten in Korinth,136 êïñéíèéÜæåïèáé hie seit Aristophanes «Unzucht treiben (wie in Korinth)»,137 ü ÊïñéíèéáïôÞò - zu deutsch etwa: «der Hurenbock»138 oder «der Liederliche»139 - war der Titel von Kom dien des Philetairos140 und des Poliochos,141 und Strabo zitiert, weil die Seeleute durch die Prostitution in Korinth leicht ausgebeutet wurden, als Sprichwort: Ïõ ðáíôüò áíäñüò åò Êüñéíèïí å¼È' ü ðëïõò. («Nicht jedem Manne steht nach Korinthos frei die Fahrt».)142 Bei Platon erscheint es tadelnswert, ein «korinthisches M dchen» zu lieben,143 und ahnliche Ankl nge finden sich
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Petersen-Szemeredy (wie Anm 116), S 185, vgl ebd,S 191 ff und Albrecht (wie Anm. 17), S 99 Petersen-Szemeredy (wie Anm 116), S 184 «F r Frauen konnte das besonders intensive Fasten die -Auswirkung haben, da ihre Menstruation auf Dauer ausblieb, sie also unfruchtbar wurden und damit» erwunschterma en' - «wieder ein Merkmal ihrer Weiblichkeit zum Verschwinden brachten» (ebd) 133 Albrecht (wie Anm 17), S 154; will man, gut positivistisch, die Handlung dieser Ballade historisch einordnen, so ist man an die zweite H lfte des vierten Jahrhunderts gewiesen: Fr he Gr ndungen von Frauenklostern sind in KJemasien f r das Jahr 352 und in Palastina f r das Jahr 375 bezeugt (Albrecht [wie Anm 17], S 93, S 119, vgl Petersen-Szemeredy [wie Anm. 116], S. 173 f) 134 Zur Sittenverderbnis m Hafenst dten vgl. Anth. Graec 5,44 161, Cicero, Rep 2,4,7 f, zum folgenden vgl. Wolfgang Schr ge. Der erste Brief an die Konnther, Tlbd l· 1. Kor 1,1-6,11, Zunch-Braunschweig und Neukirchen-Vluyn 1991 (= EKK 7/1), S 28 f 135 Maximus von Tyrus, 3,10 136 Geyer Art · «Lais», m RE XII, l, Sp. 513-516. 137 Anstoph Fr 133 bzw. 354. 138 Art. êïñéíèéáóôÞò, in Liddell-Scott, S 981 («whoremonger») 139 Art êïñéíèéáïôÞò, in Pape, S. 1486 140 Art êïñéíèéáïôçò, m Pape, S 1486 (mit Verweis auf Ath, VII, 313), vgi A. K rte: Art.· «Philetairos», in f RE XIX, 2, Sp 2163 f.; PCG 7, S 324 f. 141 Liddell-Scott,S 981 («title of plays by Philetairus, Ath.l3.559a,andPohochus,id.7313c>);PCG7,S.550 142 Strabo 8,378 (vgl Horaz, Ep. l, 17, 36), Strabo fahrt fort· «Ja man erzahlt sogar, da eine Buhldirne zu einer Frau, die sie ausschalt, da sie nicht flei ig sei und keine Wolle anr hre, gesagt habe «Und doch habe ich, so faul ich bin, m dieser kurzen Zeit drei Baume abgetan»». Der phallische Nebensinn wird von Forbiger, dem bersetzer und Kommentator, v llig bersehen (Strabos Erdbeschreibung bersetzt und durch Anmerkungen erl utert von A Forbiger, Drittes Bandchen, 2. Aufl, Berlin o J. [um 1915] (= Langenscheidtsche Bibliothek 53), S 228). 143 Plato, Rep. 40.4d
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bei Aristophanes,144 Plutarch145 und Epiktet.146 Zahlreich sind die antiken Belege f r Prostitution in Korinth.147 Korinth galt als die Stadt der Aphrodite.148 Und wenn Paulus im ersten Kapitel des Romerhriefs die Sittenverderbnis - und dabei insbesondere die sexuelle Liberrinage - gei elt, dann ist zu bedenken, da Paulus den Romerbrief in Korinth verfa t hat.149 Da Goethe alle diese Stellen der soeben angef hrten antiken Autoren gekannt habe, sei hier nicht behauptet. Aber da er zumindest einige der angef hrten Stellen gekannt hat, l t sich zeigen. So hat er in Dichtung und Wahrheit (6. Buch) Epiktet als einen ihm wichtigen Autor erw hnt (WA I, 27, S. 12). Der Name der korinthischen Hetare(n) namens Lais wird von ihm als Synonym f r «Dirne» verwendet (WA I, 53, S. 8). Und in Benjamin Hederichs von Goethe ungez hlte Male konsultiertem Gr ndlichen mythologischen Lexikon konnte Goethe ber Aphrodite folgendes lesen (und wird es auch gelesen haben): «Insonderheit war zu Korinth ihr Tempel beraus reich, und sie hatte darinnen ber tausend Frauenspersonen, welche ihrem Dienste gewiedmet [sie] waren».150 Goethe konnte also davon ausgehen, da es sich bei der Stadt Korinth um eine Hochburg des Aphrodite-Kults gehandelt habe. Hederich, der sich so vornehm zur ckhaltend ausdruckt und aus den Hierodulen («Tempeldirnen») hier «Frauenspersonen» macht, gibt die Stelle, die er fast wortlich bersetzt, ja an: Strabo 8,378. Dort hei t es: ôï ôå ôçò Áöñïäßôçò Éåñüí ïýôù ðëïýóéïí ýðçñîåí, þóôå ðëåßïõò Þ ÷éëßáò ßåñïäïýëïõò ÝêÝêôçôï åôáßñáò. Ob es in Korinth jemals — sei es vor der Zerst rung 146 v. Chr., sei es danach — kultische Prostitution gegeben hat oder nicht,151 ist in unserem Zusammenhang nicht wichtig. Wichtig ist, da Goethe von dieser Nachricht Strabos gewu t haben kann. Denn erstens weist, wie gezeigt, Hederich in dezenter bersetzung («Frauenspersonen») auf die Hierodulen hin; zweitens deutet der Wortlaut der Ballade selbst darauf hin: Weshalb sonst sollte es in Aphrodites
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Aristophanes, Pi 149 f. Plutarch, Amat 21,767 f Epiktet, Diss. 3,1,33 f. Herter gibt folgende Belegstellen an: Eubul. fr 54; Stratt fr 26; Plut Timol 14; mor 767F/8A; Lucian. am. 51; Philostr. ep. 47; Alciphr. 3,24,3, Athen. 8,351 CD, Schol Aristph. Lys 91 (Hans Herter. Die Soziologie der antiken Prostitution im Lichte des heidnischen und christlichen Schrifttums, in: JAG 3 (1960), S 70 111, hier S. 71 Anm 8). AeL Arist. 3,23 (ed. W Dindorf): ùò åßíáé óáöþò ôå Áöñïäßôçò ôçí ðüëéí. Und Strabo (8, 379) zitiert Euripides: Þêù ðåñßêëõóôïí ðñïëéðïõó' ¢êñïêüñéíèïí, éåñüí ä÷èïí, ðüëéí ¢öñïäßôáò (= fr. 1084 Nauck). Auch wenn man ðüëéí f r Interpolation halt (so zumindest Ulnch von WilamowitzMoellendorff: Der Glaube der Hellenen, Bd. l, Berlin 1931, S. 98 Anm. 1), ndert das nichts daran, da Strabo die Bezeichnung ðüëéí ¢öñïäßôáò bezeugt. Der paulinischen Mi billigung der Hurerei entspricht die berlieferung, da in der Spatantike Nonnen versuchten, Prostituierte f r das Klosterleben zu gewinnen (Petersen-Szemeredy [wie Anm. 116], S. 174) Hederich: Art.. «Venus» (wie Anm. 56), Sp. 2436-2447, Zitat Sp. 2445. Da es in Korinth jemals kultische Prostitution gegeben habe (vgl. Strabo 8, 378 ff.), wird von Gonzelmann (wie Anm. 91) in seiner quellenkritischen, methodisch musterg ltigen Studie ber die Madchen der Aphrodite bestritten. berraschend ist, das Fauth, obwohl offenbar un berzeugt, sich mit Gonzelmanns umsichtiger Argumentation nicht auseinandersetzt, sondern lediglich auf sie hinweist (Wolfgang Fauth: Sakrale Prostitution im Vorderen Orient und im Mittelmeerraum, in: JAG 31 (1988), S. 24-39, hier S 38 Anm. 212). Saffreys Beitrag, der berhaupt bestreitet, da Korinth jemals die Stadt der Aphrodite gewesen sei, wird von Fauth v llig berg ngen (Henri D. Saffrey: Aphrodite a Cormthe Reflexions sur une idee recue, ire RB 92 [1985], S. 359-374).
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Tempel «heiter» (V. 170) zugegangen sein? Und weshalb sonst sollte die Mutter sich die Frage stellen nach «Dirnen, / die dem Fremden gleich zu Willen sind» (V. 143 f.)? Drittens hat Goethe unmittelbar im Anschluß an Die Braut von Korinth in großer thematischer Nahe die Ballade Der Gott und die Bajadere geschrieben, in deren Mittelpunkt ein Freudenmadchen steht, das mit einem Gott verkehrt. Und viertens waren bereits 1752 in der von Johann Jakob Wettstein in bewundernswertem Fleiß erstellten kritischen Edition des Neuen Testaments wesentliche antike Quellen zur korinthischen Sittenverderbnis zusammengestellt und auf den Ersten Konntherbnef bezogen" worden.152 Man wußte also im 18. Jahrhundert davon. Goethes Entscheidung, die Handlung m Konntb stattfinden zu lassen, hat nicht nur Philostrats Lamien-Episode und den Ersten Konntherbnef als Ursache, sondern hangt auch mit dem Ruf des antiken Korinth zusammen. IX
Wie sehr es Goethe gelingt, heidnische Sinnenfreude gegen christliche Sinnenfeindschaft auszuspielen, zeigt sich auch an anderer Stelle. Denn die Verse Hier ist Ceres', hier ist Bacchus* Gabe Und du bringst den Amor, liebes Kind, lassen sich als Vergil-Remimszenz153 ansehen: In der - lange Zeit Vergil zugeschriebenen154 - Elegie Copa ist es eine vor der Schanke tanzende Wirtin, die die Vorbeiziehenden einladt mit den Worten (V. 20):155 est hie munda Ceres, est Amor, est Bromius, einem Vers, den Johann Heinrich Voß156 so überträgt: Ceres in reinlichem Schmuck, Amor und Bacchus sind hier. In dieser Elegie wird von der Wirtin noch ein vierter Gott aufgeboten: Priapus,157 der den Garten der Taverne beschützt (V. 23 f.): Aber der Huter Pnap, mit weidener Hippe gewapnet [sie] Steht im Gartchen, und droht jeglichem Storer der Lust. Goethe, den Dichter der 11. Römischen Elegie («Euch, o Grazien») und vor allem den Dichter des Prologs zu den Römischen Elegien («Hier ist mein Garten bestellt») und des 152
Johann Jacob Wettstein (Hg): Novum Testamentum Graecum, Bd. 2, [..] Ex Sdptonbus vetenbus Hebraeis, Graecis et Latims, [ .], Amsterdam 1752, S 101 «Corinthn non minus lascivia quam opulcntia & philosophiae studio msignes fuerunt» (ebd.) Die meisten der von mir oben angegebenen Belegstellen fur^ Sittenverderbnis in Korinth finden sich bereits bei wettstein' 153 Auf das folgende Parallelennest hat hingewiesen L A.Frankl Zur «Braut von Korinth», in. GJb 10 (l 889), S 235 154 Dazu: Karl Buchner Art «P. Vergihus Maro», m RE VIII A l, Sp 1021 f£, hier Sp. 1160 ff 155 Culex Carmen Vergiho ascnptum. Recensuit et enarravit Fndencus Leo Accedit Copa Elegia, Berlin 1891, S 116. 156 Pubhus Virgihus Maro Werke, [übersetzt] von Johann Heinrich Voß, in drei Banden, Erster Band Ländliche Gedichte und Anhang, Bratmschweig 1799, S. 371 W Est tuguri custos, armatus falce saligna, / scd [nee' (Buchner)] et vasto est mguine ternbilis (V. 23 f )
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Epilogs zu diesem Gedicht-Zyklus («Hinten im Winkel des Gartens»),158 wird dieses Distichon angenehm berührt haben. Die sinnlichen Genüsse, mit denen die copa winkt Musik, Blumen, Wein, Käse, Obst, Kusse -, sind einladend genug, um die Vorbeiziehenden zum Einkehren zu bewegen, denn der Wanderer befiehlt, nun als Gast: pone merum et talos. pereat qui crastma curat woraufhin der Dichter159 selbst mit einem carpe diem und einem memento mon schließt· Mors autem vellens ait Daß diese sinnenfreudige Elegie in ihrem ideell-normativen Gehalt hervorragend zur Braut von Corinth paßt, ist evident.
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Wenige Wochen vor seinem Tode hat Goethe im Gesprach mit Soret über sich gesagt: «Mon cevre est celle d'un etre collectif et eile porte le nom de Goethe».160 Diese Bemerkung verrat ebensoviel Bescheidenheit wie Realismus: Er wußte, wie viel sein eigenes Werk Vorwelt und Mitwelt verdankte. «Nur durch Aneignung fremder Schätze», sagte Goethe 1824, «entsteht ein Großes».161 Texte kommunizieren mit Texten.162 Bei der Braut von Corinth laßt sich dies allein schon anhand des Titels trefflich zeigen: Die Bezeichnung der jungen Frau als «Braut» verweist zum einen auf die bei Philostrat, die sich als Lamia erweist, zum anderen auf die junge, früh verstorbene Phihnnion bei Phlegon, zum dritten auf die gottgeweihte Jungfrau als Braut Christi. Und der Name «Korinth» verweist erstens ebenfalls auf die bei Philostrat, die in Korinth ihr Unwesen treibt, zweitens auf die (aus der Antike überlieferten) lockeren Sitten im alten Korinth, von denen sich - drittens — sehr abhebt, was der Apostel Paulus der christlichen Gemeinde von Korinth in sexualibus anrät. Man sieht: der Anspielungsreichtum allein schon des Titels ist enorm. Es hat sich also gezeigt: Das Motiv des naturwidrigen (und überdies erzwungenen) Aufenthaltes im Kloster verdankt sich Diderot. Das Motiv der sich im Grabe vor Liebe ver158
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In einer kürzlich erschienenen, Altphilologie und Germanistik auf das glücklichste verbindenden Untersuchung ist der Aufweis gelungen, daß die priapeischen Elegien Euch, o Grazien und Hinten im Winkel des Gartens nach Goethes Absicht den Zyklus der Romischen Elegien als Prolog und Epilog einrahmen sollten (Wolfgang Riedel: Eros und Ethos. Goethes Romische Elegien und Das Tagebuch, in: SJb 1996, S 147-180, her S. 156 E). - In Goethes Bibliothek befindet sich die Priapeen-Sammlung von. Caspar Schoppe (Hg)* Priapeia, sive diversorum poetarum m Priapum lusus, Padua 1664 (Ruppert [wie Anm. 30], Nr. 1427). So die Interpretation von Buchner (wie Anm. 154), Sp, 1156 Biedermann/Herwig: Goethes Gespräche (wie Anra. 44), Bd. III/2, S 839 (Nr 6954) (17. 2. 1832) Biedermann/Herwig: Goethes Gespräche (wie Anm. 44), Bd. III/l, S 742 (Nr. 5565) (zu Kanzler Friedrich von Müller) (17. Dezember 1824) So verwase die «Locke» (V. 91; V. 186) zurück auf Vergil, Aeneis IV, 698 («nondum illi flavum Proserpina vertics crinem») (so Heinrich Viehoff: Ausgewählte Stucke deutscher Dichter seit Haller biß auf die neueste Zeit, Bd. 2, Emmerich 1838, S. 102) und nach vorn auf Die Wahlverwandtschaften (letztes Kapitel); die Verse 180-182 sind wortlich von Wackernagel in sein Gedicht Der Vampyr übernommen worden (Vlehoff, ebd., S. 108 f.). - Zu Goethes poetischer Vorgehenswcisc s Waltraud Wictholter, in· FA 8, S. 945 ff.; S. 986 ff; und Schone, m: FA 7.2, S. 11 ff.
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zehrenden und deshalb wiederkehrenden jungen Frau verdankt sich Phlegon - wobei es sich für Goethes Ballade als Glucksfall erweist, daß der Anfang dieser Erzählung Phlegons nicht überliefert ist!163 Das Motiv der Vampirin, die hebend beißt, verdankt sich Philostratus. Der Grund, weshalb die junge Frau Blut saugen muß, erhellt aus der Nekyia Homers. Gründe, weshalb das Christentum die Legitimität des Liebestriebs so stark einschrankte, lassen sich im Ersten Korintb erbrief nachlesen. Mit den Warnungen des Paulus vor und steht all das im Einklang, was antike Quellen über den Lebenswandel in Korinth bezeugen. Und daß die antiken Gotter in eroticis den Bedurfnissen der Menschen aufgeschlossener gegenüberstanden als der neue Gott des Christentums, macht - als ein Beispiel - die Elegie Copa deutlich. In der Tat: Die Braut von Connth beweist beispielhaft Goethes bewundernswertes Talent, «Literatur aus Literatur zu machen».164
XI Die Braut von Korinth erweist sich als Apostatin. «Apostasie» kann zweierlei bedeuten: erstens den Austritt einer Ordensperson aus dem Kloster unter Bruch der Ordensgelübde, und zweitens den Abfall (eines Christen) von seinem bisherigen Glauben. Die Braut ist also Apostatin sogar im doppelten Sinne: Statt im Tode mit Christus vereinigt zu sein,165 bricht sie in ihrer Liebesnacht mit dem irdischen Bräutigam ihr Keuschheitsgelubde, und sie wendet sich darüber hinaus vom christlichen Glauben ab und «den alten Gottern zu». Goethe geht in diesem Punkt über Diderot hinaus, denn dessen Suzanne bleibt Christin. Die Zeitangabe «Als noch Venus* heitrer Tempel stand» ruft überhaupt die Zerstörung heidnischer Kunst durch die siegreichen Christen zur Zeit Konstantins ins Gedächtnis, insinuiert aber zunächst im Wortverstande, daß tatsachlich der Aphrodite-Tempel zu Korinth von den Christen aus Haß und religiöser Intoleranz zerstört worden sei.166 Goethe seinerseits hat im Jahre 1792 im Gesprach mit Jacobi seinen «wahrhaft Julianischen Haß wider das Christentum» bekannt167 und damit ex eventu religionsgeschichtlich und religionspolitisch Partei ergriffen für das antike Heidentum, denn Kaiser Julianus (*331, 1363) hat zur Bekämpfung des Christentums die Wiedereinführung der heidnischen Kulte168 in vollem Umfang angeordnet. In unserer Ballade handelt es sich um «;4»i£-Christentum auf den
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So mit vollem Recht Immisch (wie Anm 31, S 611) - aus drei Gründen So konnte Goethe die Handlung von Amphipohs nach Korinth verlegen; er konnte die Handlung aus der Zeit Philipps von Makedonien in die Spatantike verlegen; und er konnte die Mitteilung außer acht lassen, daß Philinmon bereits (mit Krateros) verheiratet gewesen war, als sie (zu dem geliebten Machates) wiederkehrte1 Wietholter, in FA 8, S. 988 (bezogen auf Die Wahlverwandtschaften) Die Vorstellung, daß die Hochzeit der Braut mit Christus im Tode stattfinde, ist bei Fehrle (wie Anm 118), S 15, allerdings nur schwach belegt Überliefert ist nach dem Zeugnis des Eusebius (Vita Constantini III, 26 30-32; II, 46), daß die Grabes-' kirche m Jerusalem auf einem Aphrodite-Tempel aufruht (vgl. G. Dalman· Golgotha und das Grab Chns'ti, m PJ 9 (1913), S. 98-123, hier S 102; vgl. Hans Lietzmann Geschichte der Alten Kirche, Bd. 3. Die Reichskirche bis zum Tode Julians, Berlin 1938, S 137) Biedermann/Herwig· Goethes Gespräche (wie Anm. 44), Bd. 2, S. 21 (Nr. 2130) (Bnefentwurf F. H Jacobis vom November 1815) Dazu. Lietzmann (wie Anm. 166), S 266 f
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Spuren des ^wfe-Christentums».169 Dazu, daß es auch in der heidnischen Antike starke leibfeindliche Tendenzen gab,170 sagt diese Ballade nichts. Historisch gesehen ist das einseitig und ungerecht. Naturlich hat es apologetische Versuche gegeben, das Christentum gegen den Angriff dieses Gedichtes zu verteidigen - sei es, daß die Verteidiger den Konflikt zwischen antikem Heidentum und Christentum lakonisch vermerken und dieses Gedicht lediglich für den Ausdruck einer vorübergehenden «Stimmung» Goethes halten,171 sei es, daß sie allen Ernstes Phlegons Vorlage die Schuld geben,172 sei es, daß sie das Christentum als Opfer stilisieren — eine Tendenz, die sich am deutlichsten bei Alexander Baumgartner zeigt, einem hervorragenden Goethe-Kenner: «Obwohl mit dem Grausen des Gespenstischen umgeben, tritt die Wollust doch deutlich als die eigentliche Liebhaberei des Dichters hervor, und wüthend grinst er das Christenthum an wie einen blutsaugerischen Vampyr, der ihm seine Lebensfreude zu verderben droht. Das arme Christenthum! Was hat es ihm denn Leids gethan?»173 Gegen Goethe und gegen diese Ballade spricht dann die Schilderung der «unzüchtigen Brautnacht».174 Umgekehrt gesagt: Gerade die Unzuchtigkeit dieser Ballade spricht für das Christentum! Friedrich Schlegel hat 1807, also kurz bevor er zum Katholizismus konvertierte, sogar den Plan zu einer eigenen Arbeit gefaßt, die, als Kontrafaktur zu Goethes heidnischer Ballade geplant, den Titel tragen sollte: Der himmlische Bräutigam, oder St. Agathe als Gegensatz der Braut von Korinth.175 Die Verteidigung des Christentums ist am energischsten von Ernst Beutler vorgetragen worden. In der Absicht, «Goethes Christlichkeit» aufzuweisen, behauptet Beutler: «Alle seine Äußerungen und Dichtungen, wenn sie das Heidentum preisen wie die Braut von Konnth oder die Verse auf die Diana von Ephesus, erklären sich sämtlich aus der einen Wurzel: hier wird mit Leidenschaft Protest erhoben gegen jene verhängnisvolle Ver169 170
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So die ausgezeichnete Formulierung von Gerd-Klaus Kaltenbrunner Die Religionen Goethes, in· NDH 29 (1982), S 244-288, Zitat S. 283. Dazu. Johannes Stelzenberger: Die Beziehungen der frühchristlichen Sittenlehre zur Ethik der Stoa, München 1933, S. 403 ff.; Lohse (wie Anm. 125), S. 17-78, Uta Ranke-Hememann. Eunuchen für das Himmelreich. Katholische Kirche und Sexualität, Hamburg 1988, S 13-24; Ines Stahlmann «Der gefesselte Sexus». Weibliche Keuschheit und Askese im Westen des Romischen Reiches, Berlin 1997, S 27-141. So Paul Althaus Goethe und das Evangelium, München 1951, S. 11; der Lutheraner Althaus hatte aber darauf hinweisen können - worauf mich dessen Schüler Jörg Baur aufmerksam macht -, daß in der Apologia Confessions Augustanae (1530) der Sexualtrieb als legitimer «naturalis appetitus» (BSLK 336,16) Erwähnung findet. Damit sei im Luthertum, so Baur, die Sinnenfeindschaft im Entscheidenden durchbrochen worden1 (Ich danke Herrn Professor Dr. theol. Jörg Baur, Gottingen, für seinen freundlichen Hinweis.) Dagegen ist aber mit Schubart (wie Anm. 70, S. 247 f.) festzuhalten, daß sich Luther von der Augustinischen Verdammung der Konkupiszenz nicht wirklich hat losen können, die darum an der angegebenen Stelle («naturahs appetitus et concupiscentia») (BSLK 336,16) von Justus Jonas angemessen als die «angeborne böse Lust» übersetzt wird. Man vergleiche dagegen die Legitimierung der «Begierde» in Goethes 6. Römischer Elegie*. Weber (wie Anm. 29), S. 193; vgl die berechtigte Kritik von Gotzinger (wie Anm. 19) an Weber (S 321 Anm. **). Alexander Baumgartner S. J.: Goihfi. Sein Leben und seine Werke, Bd. 2. Die Revolutionszeit. Gothe und Schiller. (Von 1790-1805), 2., verm. u verb. Aufl., Freiburg 1886, S. 283. Ebd. - Scharfer als Baumgartner äußert Gotzinger (wie Anm. 19) seinen Widerwillen gegen «diese abscheuliche Unzucht, die an einem Leichnam begangen wird» (S 317). Joseph Körner Romantiker und Klassiker. Die Brüder Schlegel in ihren Beziehungen zu Schiller und Goethe, Berlin 1924, S. 174.
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wechslung des Begriffes <WeIt>, als Sphäre der Christusferne und Christusfeindlichkeit, wie sie uns etwa im 17. Kapitel des Johannesevangeliums entgegentritt, mit dem Begriff jener Natur, die als Schöpfung aus Gottes Hand hervorgegangen ist - es wäre durchaus goethisch zu sagen - als exphcatio et appantio Dei (Nicolaus von Cusa)».176 Apologetische Argumente waren aber schon 1825 von Carl Ludwig Struve vorgetragen worden. Mit Verweis auf Jephta, die vor ihrem Tode ihre Jungfrauschaft beweint (Rieht. 11,37 f.), hat Struve eingewandt, daß Jungfräulichkeit nach biblischem Verständnis kein Wert an sich sei.177 Gewiß ist es richtig, daß von einer Verteufelung der Sexualität im Alten Testament keine Rede sein kann.178 Aber Struve geht noch weiter: Auch das Neue Testament fordere keine «aufgedrungene Enthaltsamkeit».179 Widernatürliche Enthaltsamkeit sei vielmehr eine «der Gottheit unwürdige» orientalische Idee, «etwas dem Christenthum feindselig aufgedrungenes»180 - eine Einsicht, die nach Struves Ansicht der ganzen Ballade «alles unchnsthche nimmt».181 Hier vermengt Struve allerdings Richtiges und Falsches. Richtig ist zwar, daß das Eunuchentum nur dort in den griechischen Kulturraum eingedrungen ist, wo sich orientalischer Einfluß geltend gemacht hat 182 Falsch ist aber, unterstellen zu wollen, daß die Enthaltsamkeit im Neuen Testament keine hohe Wertschätzung genösse! Sowohl Johannes der Taufer als auch Jesus als auch Paulus lebten - für das Judentum völlig untypisch - ehelos. Im Ersten Korinth erbnefh&t Paulus keinen Zweifel daran, daß er - vor allem deshalb, weil die Parusie ja doch bald eintreten werde - Enthaltsamkeit für sinnvoller halt (1. Kor. 7,7 f. 26 f. 33 f. 37 f. 40), denn der Parusie werde eine Zeit der Bedrängnis vorausgehen (1. Kor. 7,28). Es besteht hinsichtlich der paulinischen sexualasketischen Überlegungen im Ersten Korintherbriefkem Anlaß, von dem 1910 so formulierten, lapidaren Satz von Johannes Weiß abzurücken. «Ob etwa das Vorbild des ehelosen Lebens Jesu, ob das Logion Mt. 19,11 f. eingewirkt hat, wissen wir nicht».183 Unheil genug - wenn man etwa an die, doch wohl historische,184 Selbstentmannung des Origines denkt oder an die legendarische Überlieferung, daß der Anachoret Ammun ausgerechnet m der Brautnacht beschlossen habe, Mönch zu werden185 - hat dieses berühmte Eunuchen-Logion Jesu Mt. 19,11 f ohne Zweifel angerichtet,
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Ernst Beutler. Goethes 'Christhchkeit (Vortragsmanuskript von 1947), teilweise veröffentlicht in der Neuen Zürcher Zeitung, 24. Mai 1947. Ich danke Herrn Professor Dr. Christian Beutler für die ZitierGenehmigung, desgleichen Herrn Professor Dr Christoph Perels, dem Direktor des Freien Deutschen Hochstifts/Goethcmuseum, Frankfurt/Main - Einen Schopfungsglauben Goethes wird man wohl nur dann behaupten können, wenn man dessen Spinozismus m Abrede stellt. 177 Struve (wie Anm 21), S 22 f 178 Dazu Hans Walter Wolff. Anthropologie des Alten Testaments, 4 , durchges Aufl, München 1984, S 248-253. 179 Struve (wie Anm. 21), S 23 lk ° Ebd. 181 Ebd, S 22 182 Johannes Schneider Art · , m ThWNT 2, S. 763-767, hier S 763. 183 Johannes Weiß. Der erste Konntherbnef, Gottingen 1910 (= KEK 5,9 Aufl) (Neudruck Gottmgen 1970), S 171 184 Dazu· Walter Bauer Matth. 19,12 und die alten Christen, in· Adolf Deißmann, Hans Wmdisch (Hgg) Neutestamenthche Studien Georg Hemrici zu seinem 70. Geburtstag, Leipzig 1914 (= UNT 6), S 235-244, hier S 238 f 185 KarlHeussi Der Ursprung des Monchtums, Tübingen 1936, S 75 (Belegstelle· Sokr, h e IV, 23,3-4)
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da n mlich «etliche verschnitten (sind), die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen» (êáé åßïôí åõíïý÷ïé ïúôéíåò åõíïý÷éóáí åáõôïýò äéá ôçí âáóéëåßáí ôùí ïõñáíþí) (Mt. 19,12c). Mit dieser åýíïõ÷ßá hat Jesus «Ehelosigkeit» gemeint.186 Wenn Origines dieses Logion als Aufforderung zur Selbstentmannung auffa te, so beweist dies schlagend die Existenz leibfeindlicher Tendenzen in der Spatantike, die dann ihrerseits im Neuen Testament nach ihrer Legitimierung suchten und sie dort - notfalls durch Mi verstehen - auch fanden. Daran, da sich solche Tendenzen am Neuen Testament festmachen konnten, ist Jesus nicht unbeteiligt, denn in der Tat durfte er «aus einem eher asketisch gepr gten Zweig des Judentums» stammen.187 Auch wenn Goethe diese Termini nicht kannte, so war er sich als Bibelleser sehr wohl bewu t, da Paulus im ersten Brief an die Gemeinde in Korinth seinen - mit heutigen Begriffen — «Sexualngorismus» zum «Sexualpessimismus» steigert.188 Deshalb spielt die Tochter in ihrer Anklagerede gegen die eigene Mutter auf die Zeit an, «als noch Venus' heitrer Tempel stand» (V. 170). Der Gott der unsinnlichen Liebe hatte die Gottin der Liebe abgelost. Statt Tieropfern nun «Menschenopfer»! Was Goethe auch und vor allem meint, ist dieses: Eine Religion, die die bejahte und dankbar empfundene Opferung des «Gottmenschen» (WA I, 47, S. 231; WA I, 29, S. 142) zum Gegenstand ihres Glaubens macht und diese Opferung in Kult, Ritus und Verk ndigung feiert, zeigt f r Goethe starke Z ge von Verachtung des Leibes und des Lebens und, damit verbunden: der Liebe. Die Verehrung des Heilandes am Kreuz und die sexuelle Askese stehen auch in einem Zusammenhang, der sich neutestamentlich begr nden la t. Denn im Galaterbnef schreibt Paulus: ïé äå ôïõ ×ñßóôïõ Éçóïý ôçí óÜñêá Ýóôáýñùóáí óõí ôïéò ðáèÞìáóéí êáé ôáÀò åðéèõìßáéò («Welche aber Christo angeh ren, die kreuzigen ihr Fleisch samt den L sten und Begierden») (Gal. 5,24; vgl. Rom. 6,6; Kol. 3,5). Dieses Pauluswort mu f r Goethe geradezu der Schlusselsatz gewesen sein: Hier konnte er das Kreuz und die (seines Erachtens) kranke Erotik des Christentums miteinander verkn pft sehen. Gewi hatte der Bibelleser Goethe der Beobachtung von Karl Heussi zugestimmt: «Es durfte bei streng historischer Interpretation unm glich sein, in der gesamten urchnstlichen Literatur auch nur eine Stelle zu finden, in der auch nur ganz von Ferne anklingt, was auch nur in einem ganz entfernten Sinne dem Gebiet der Erotik zuzuwenden w re oder auch nur ganz leicht an die Sph re des sthetischen streifte».189 Da aus dem Gedanken der Nachfolge Jesu seit dem 2. Jahrhundert asketische Folgerungen gezogen wurden,190 leuchtet unmittelbar ein. Diese historische Tendenz hat Goethe genau gespurt. Was die «asketischen bungen» angeht, die es in der monastischen Tradition des Christentums gibt, so ist festzustellen, da der historische Jesus selbst sie nicht verrichtet hat - es sei denn, man s he Jesu Beten als asketische bung an oder man d chte an die legendarische berlieferung vom vierzigt gigen Fasten Jesu in der W ste (Mt. 4,2 par Lk. 4,2). Jesus von Nazareth war hinsichtlich der Nahrungsaufnahme kein Asket, wohl aber hinsichtlich 186 IK7 m éâí IVO
Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matth us, 3. Tlbd,: Mt 18-25, Z rich-D sseldorf und NeukirchenVluyn 1997 (= EKK 1/3), S 110 f. (zu Ml. 19,12); vgl. Bauer (wie Anm. 184), S. 241. Lu? (wie Anm. 186), S. 111 (mit Hinweis auf die Qumrangemeinde). So zumindest Niederwimmer (wie Anm. 107), S. 97 (bezogen auf l Kor. 7,8 f ) Heus« (wie Anm. 185), S 15 f. Peter Nagel Die Motivierung der Askese in der alten Kirche und der Ursprung des Monchtums, Berlin 1966 (= TU 95), S. 7 ff
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des Besitzes und m sexueller Hinsicht.191 Man wird - pointiert - sagen müssen: Hinsichtlich des Fastens folgten die frühen Mönche und Nonnen - in ihrem Bestreben der Nachfolge Jesu - dem historischen Jesus in etwas nach, was jener nicht getan hatte! Vielmehr war Jesus von Nazareth als «Fresser und Weinsauf er» ( ) (Mt. 11,19 par Lk. 7,34) verschrien und hat die judischen Fastengebote bewußt nicht eingehalten (Mk. 2,18-22 parr). XII
Der prominenteste Interpret der Braut von Cormth ist Arthur Schopenhauer, bekanntlich ein entschiedener Gegner des Christentums und Liebhaber der heidnischen Antike. Ein Margmale in seinem eigenen Hand-Exemplar der Goetheschen Gedichte lautet - und diese kongeniale Annotation sei (120 Jahre nach ihrer Publikation!) nunmehr endlich in die Goethe-Forschung eingeführt: «Das Leben und seine Genüsse [V. 45], die Lebenslust und ihre Befriedigung wurden unter Gottergestalten [V. 49] von den Griechen unbefangen verehrt [V. 170], und öffentlich als das Wesen, der Gehalt und das Ziel des Lebens ausgesprochen. Das Christenthum trat ein [V. 30 f.], verlangte Entsagung [V. 50 ff.; V. 71 ff.], Dampfung der Begierden [V. 103 ff.], Bußungen [V. 54 ff.]. Aber der Geist der Erde [V 168], die Lebenslust [V. 43-49] liess sicK nicht so verbannen: öffentlich ausgetrieben [V. 57 ff.], kommt sie heimlich zurück [V. 30 ff.], schleicht [vgl. V. 127] nachtlich heran; was sie nicht mehr ohne Scheu offen vollbringen darf [V. 39], vollbringt sie im Verborgnen und als Sunde [V. 143-150]. Als Götterchor verbannt [V. 170], stellt sie als nachtliches Gespenst sich wieder ein [V. 176], vergiftet unsre Ruhe [V. 193], vergiftet unser Blut [V. 179], und nur der Tod giebt den Gequälten Frieden [V. 193 ff ]».192 Das, was dem nachitahemschen, klassischen Goethe so wichtig war - «die Bejahung des Diesseitigen, die Freude am NaturhchKcrperhchen» und «die Heiterkeit des gegenständlichen Erlebens in der .Freiheit der Sinne»193 - sah Goethe im Christentum konterkanert.194 Daß Goethe gegen Schopenhauers Deutung viel einzuwenden gehabt hatte, ist deshalb nicht anzunehmen.
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Campenhausen(wieAnm 125), Lohse (wie Anm 125), S 115 ff Edita und Inedita Schopenhaueriana Eine Schopenhauer-Bibliographie sowie Randschnften und Briefe Arthur Schopenhauer's mit Portrait, Wappen und Facsimile der Handschrift des Meisters, hrsg zu Seinem hundertjährigen Geburtstag v Eduard Gnsebach, Leipzig 1888, S 136 f Werner Keller Altersmystik? Der spate Goethe und das Christentum semer Zeit Ein Fragment m Skizzenform, m Wahrheit und Wort (Festschrift für Rolf Tarot), hrsg. v Gisela Scherer und Beatnce % Wehrh,Bernusw 1996, S 237-256, Zitat S 239 Dazu, daß die Leibfemdlichkeit des Christentums für Goethe ein wichtiger Aspekt war, s Konrad Rahe Goethes Kritik am Christentum in den Venezianischen Epigrammen, in: ZKG 108 (1997), S 187-212, hier S 189 f, S 203 f Dagegen relativiert Gerhard Schulz den Gegensatz zwischen heidnischer Antike und christlichem Abendland in unserer Ballade und sieht in diesem Gedicht «die Problematik geschichtlichen Wandels überhaupt» gespiegelt (Gerhard Schulz. «Liebesüberfluß» Zu Goethes Ballade «Die Braut von Connth>, m. JbFDH 1996, S 38-69, Zitat S 65)
WOLFGANG SCHULLER De fragmento Vegoiae Wolfgang Maximilian von Goethe und seine Doktorarbeit In memortam Hans Tümmler Vor längerer Zeit erwarb ich aus einem Antiquariatskatalog die Heidelberger Doktorarbeit Wolfgang Maximilian von Goethes De Fragmento Vegoiae. Beim Eintreffen stellte sich heraus, daß die 38seitige Schrift durchschossen gebunden war und teils auf den weißen Einschußblättern, teils unter den Fußnoten handschriftliche Eintragungen enthielt, die aus Quellen- und Literaturnachträgen bestanden; auch das Etikett auf dem festen Einband war handschriftlich mit dem Titel der Arbeit versehen. Durch Vermittlung Effi Biedrzynskis begutachtete H. H. Schmid die Eintragungen und stellte auf Grund der Handschrift fest, daß sie von Wolfgang Maximilian selber stammen. Mein Exemplar ist also sein eigenes Handexemplar, und daraus leite ich die Verpflichtung ab, sowohl dem Gegenstand der Arbeit als auch der Art und Weise seiner Behandlung durch den Verfasser nachzugehen. Wenn das Ergebnis alles in allem nicht so ausfällt, wie er es sich seinerzeit gewünscht hatte, so war ihm die Wirkungslosigkeit seiner Arbeit ohnehin selber klar geworden; der Versuch der Einordnung seiner römischrechtlichen Bemühungen in einen größeren Zusammenhang möge dennoch als Ausdruck der Reverenz vor einem unglücklichen Leben aufgenomen werden.1 L
Wolf gang Maximilian von Goethe wurde am 18. September 1820 als Sohn des August von Goethe und der Ottilie von Goethe geborener von Pogwisch in Weimar geboren - und als Enkel des Johann Wolfgang von Goethe und der bereits 1816 verstorbenen Christiane von Goethe geborener Vulpius.2 Er hatte einen alteren Bruder Walther Wolf gang (1818-1885) 1
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Überarbeiteter Text eines Vortrages, der am 11. Oktober 1996 vor der Akademie gemeinnutziger Wissenschaften zu Erfurt und am 29. Mai 1997 auf der Jahrestagung der Israel Society for the Promotion of Classical Studies in Jerusalem vorgetragen wurde. Ich danke der Akademie für die Erlaubnis, ihn außer in ihren Schriften auch hier publizieren zu können. - Bei der Abfassung haben mir geholfen Effi Biedrzynski, Stuttgart, Jürgen Dummer, Jena; Ulnch Gaier, Konstanz; Hans Hesse, Konstanz; Hans Ewald Keßler, Heidelberg; Stefan Metzger, Konstanz; H. H Schmid, Weimar, Peter Wagner, Konstanz - ihnen allen gilt mein herzlicher Dank An biographischer Literatur, die sich teilweise auf beide Enkel bezieht, seien genannt· Otto Mejer, Wolf Goethe. Ein Gedenkblatt, Weimar 1889; MAX E Hecker, Goethe. Maximilian Wolfgang von G., in: Allgemeine Deutsche Biographie 49,1904,479-490; Marie Luise Blumenthal, Zur Erinnerung an Goethes Enkelkinder, Die Sammlung 11,1956,234-241; Wolfgang Vulpius, Walther Wolfgang von Goethe und der Nachlaß seines Großvaters. Aus archivalischen Quellen, Weimar 1963, Hans Tümmler, «Weh dir, daß du
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und eine jüngere Schwester Alma (1827-1844). Im Herbst 1835 kam er nach Schulpforta, wechselte aber schon im Frühjahr 1836 zum Gymnasium in Weimar, wo er am 18. September (') 1839 mit Auszeichnung das Abitur machte. Ab 1839 studierte er Jurisprudenz, Philologie und Philosophie in Bonn, Jena, Heidelberg und Berlin. 1845 promovierte er in Heidelberg summa cum laude zum Dr. iur. Durch Vermittlung Karl Alexanders, Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach, trat er in den preußischen diplomatischen Dienst ein, in welchem er seit 1852 als Gesandtschaftsattache in Rom, seit 1856 als Legationssekretar in Dresden Dienst tat. Am 28 August (!) 1859 wurde er in den erblichen Freiherrenstand erhoben3 und schied 1860 als Legationsrat aus dem diplomatischen Dienst aus. Unverheiratet und kränkelnd, verbrachte er sein weiteres Leben auf Reisen und in Kurorten, oft in Begleitung seiner Mutter. Als sie 1870 wieder nach Weimar zog, folgten ihr die Bruder und blieben auch nach ihrem Tod 1872 im Obergeschoß des Hauses am Frauenplan wohnen. Da Wolfgang Maximilian wegen seiner zunehmenden Krankheiten einen Pfleger brauchte, der sich dort nicht unterbringen ließ, zog er 1879 nach Leipzig, wo er am 20. Januar 1883 starb. Wahrend Walther — erfolgloser - Komponist war, war Wolfgang auf literarischem und wissenschaftlichem Gebiet tatig, ebenfalls ohne Erfolg. 1842 veröffentlichte er eine kleine Sammlung «Studenten-Briefe»4, 1845 eine schmale philosophische Abhandlung «Der Mensch und die elementarische Natur. Erster Beitrag»5, als «Zweiten Beitrag» beziehungsweise als «De ea quae homini cum natura intercedit ratione Tractatus Secundus» seine Doktorarbeit «De fragmento Vegoiae, cujus sit momenti in tractandis antiquitatibus luris Romain»6 sowie als «Dritten Beitrag» das Versdrama «Erlmde»7. 1851 erschien ein Band «Gedichte»8, und danach trug er sich lange mit dem Gedanken, die letzten Bucher Cassius Dios zu kommentieren. Das geschah nicht, jedoch erschienen 1871 als Privatdruck quellenkritische Studien über den Kardinal Bessarion9 - ein Verleger hatte sich nicht gefunden, und selbst sein Freund, der Hallenser Kirchenhistoriker Otto Mejer, hatte ihm dringend abgeraten,-das Werk vor einer Überarbeitung zu veröffentlichen, denn «Was hier vorlag, ging in eine kaum zu überblickende Menge von Einzelheiten höchst verschiedener Bedeutung ausemanem Enkel bist1» Unveröffentlichte Briefe der Goethe-Enkel, in ders,, Das klassische Weimar und das große Zeitgeschehen, Köln und Wien 1975, Effi Biedrzynski, Mit Goethe durch das Jahr. Ein Kalender für das Jahr 1979, Zürich und München 1978, dies., Goethes Weimar Ein Lexikon der Personen und Schauplatze, Zürich 1993,2 Aufl, 159-164 s v Goethes Enkel, besonders 161 f 3 Zusammen nut seinem Bruder, beide scheinen großen Wert darauf gelegt zu haben, wie sich aus der umfangreichen Dokumentation ergibt, die Joseph A von Bradish, Goethes Erhebung in den Reichsadelsstand und der freiherrliche Adel semer Enkel, Leipzig 1933,103-239 vorgelegt hat 4 Studenten-Briefe Erstes Semester Briefe und Lieder eines alten Burschen und eines krassen Fuchses, Jena: Frommann, 1842, 72 Seiten (ohne Verfasserangabe). 5 Der Mensch und die elementarische Natur Erster Beitrag, Stuttgart und Tubingen Cotta, 1845,24 Seiten (ohne Verfasserangabe) 6 De fragmento Vegoiae, cujus sit momenti in tractandis antiquitatibus juris Romani Disscrtatio quam jllustns junsconsultorum Heidelbergensium ordmis auctoritate pro summis in utroque jure hononbus rite capessendis scnpsit Wolfgangus Maximihanus a Goethe. Heidelbcrgac, MDCCCXLV; auf dem, Vorsatzblatt De ea quae homini cum natura intercedit ratione TractatuS Secundus, 38 Seiten 7 Erlmde Der Mensch und die elementansche Natui Dritter Beitrag, Stuttgart und Tubingen. Cotta, 1845, 241 Seiten (ohne Verfasserangabe). 8 Gedichte von Wolf gang von Goethe, Stuttgart und Tubingen Cotta, 1851,146 Seiten 9 Studien und Forschungen über das Leben und die Zeit des Cardinals Bessarion 1395-1472. Abhandlungen, Regesten und Collectaneen von Wolfgang von Goethe I. Die Zeit des Concüs von Floienz. Erstes Heft (Als Manuscnpt'gedruckt), XIII und 229 Seiten (Druck übrigens bei Frommann m Jena).
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der», so daß er von einer «des Abschlusses entbehrenden Zersplitterung» sprechen mußte10 Wolfgang Maximilian hatte nicht die Kraft, diese notwendige Überarbeitung zu leisten. II.
Der Gegenstand von Wolfgang Maximilians Doktorarbeit ist ein Fragment aus dem Corpus agrimensorum11. Es hat folgenden Wortlaut: IDEM VEGOIAE ARRVNTIVELTYMNO. Scias märe ex aethera remotum. cum autem luppiter terram Aetruriae sibi vindicavit, constituit iussitque metiri campos signanque agros. sciens hommum avaritiam vel terrenam cupidinem, terminis omma scita esse voluit. quos quandoque quis ob avantiam prope novissimi octavi saeculi datam sibi homines malo dolo violabunt contingentque atque movebunt. sed qui contigerit moveritque, possessionem promovendo suam alterius minuendo, ob hoc scelus damnabitur a diis si servi faciant, dominio mutabuntur m detenus, sed si conscientia dominica fiet, caelerius domus exstirpabitur gensque eius omnis interiet. motores autem pessimis morbis et vulnenbus efficientur membrisque suis debilitabuntur. turn etiam terra a tempestatibus vel turbimbus plerumque labe movebitur. fructus saepe ledentur decutienturque imbnbus atque grandine, caniculis interiet, robigine occidentur. multae dissensiones in populo. fieri haec scitote, cum talia scelera committuntur. propterea neque fallax neque bilmguis sis, disciplinam pone in corde tuo. Der Text gibt sich also als eine Weissagung der etruskischen Nymphe Vegoia, die an einen gewissen Arruns Veltymnus gerichtet ist. In ihr wird zunächst im Stil einer Kosmogonie gesagt, daß lupiter selbst das Land vermessen und die Felder abgeteilt habe. Prope novissimi octavi saeculi wurden diese Abgrenzungen verletzt werden, die Tater wurden aber einem göttlichen Gericht ausgesetzt werden. Im besonderen wurden Sklaven durch Versetzung in einen minderen Status bestraft werden, wenn die Grenzverruckung aber mit Wissen der Herren geschehe, werde deren Geschlecht ausgerottet werden, und es werden schreckliche Körperstrafen angedroht. Anschließend werden Naturerscheinungen und -katastrophen angekündigt, und stichwortartig ist von Unruhen im Volk die Rede. Das Stuck endet mit Ermahnungen zur Aufrichtigkeit und zur Innehaltung der disciplina (etrusca?). Die Forschungsgeschichte dieses Textes hat eine lange Tradition. Niebuhr legte 1812 insofern den Grund12, als er meinte, es handele sich um ein - echtes - Stück etruskischer Prophetic, das ins Lateinische übersetzt worden sei; hierin sind sich alle Späteren einig, und nur gelegentlich werden Betrachtungen über das Latein des Textes angestellt, die aber sämtlich nicht bezweifeln, daß es sich um eine Übersetzung aus dem Etruskischen handelt. Mommsen hat sich mehrfach mit dem Text befaßt.13 Ihn interessierte weniger der Inhalt, als vor allem
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Mqer (o Fn 2), 94. Die Schriften der romischen Feldmessen Herausgegeben und erläutert von F. Blume, K. Lachmann und A. Rudorff, 1. Texte und Zeichnungen, Hildesheim 1967 (Neudruck der Ausgabe Berlin 1848), 350 f. 12 B. G Niebuhr, über die Agnmensoren, in: dcrs., Kleine historische und philologische Schriften, Zweite Sammlung, Osnabrück 1969 (Neudruck der Ausgabe 1828), 81 -107 (zuerst 1812), hier 90 1 * Theodor Mommsen 1852 = Die libri coloniarum, in: ders., Gesammelte Schriften, Fünfter Band, Berlin u. a 1965 (Neudruck der Ausgabe Berlin 1908), 146-199 (zuerst 1852), hier 173; 1858 = Die romische Chronologie bis auf Caesar, Berlin 1858,183-187 (wörtlich in der zweiten Auflage Berlin 1859, 188-190;
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die Frage der Echtheit und damit zusammenhängend die der Datierung. Hierin schwankte er, wohl auch deshalb, weil er den Text nicht sonderlich wichtig nahm. 1858 datierte er ihn ins Jahr 88 v. Chr., 1895 ms 6. Jh. n. Chr., 1852 und 1895 hielt er ihn für eine Fälschung; 1858 betrachtete er ihn wegen der saecula-Angaben unter chronographischen Gesichtspunkten. Zum Inhalt meinte er nur 1852, es sei eine «naturphilosophisch-moralische Predigt der tuskischen Nymphe und Schriftstellerin Begoe».14 Eher unter der Hand setzte 1929 eine ganz andere Betrachtungsweise ein. In knappen Texten fragten 1929 Piotrowicz15 und 1932 Latte16 nach dem konkreten Anlaß, der die Prophezeiung hervorgebracht habe. Beide setzten dabei ohne weitere Begründung voraus, daß es sich um ein Stuck Propaganda handele, das gegen Grenzveranderungen gerichtet sei, die in Etrunen auf dem Lande in großem Maßstab vorgenommen werden sollten. Piotrowicz sah eine solche Situation im Zusammenhang mit den versuchten Reformen des Livms Drusus gegeben, Latte im Zusammenhang mit der Versorgung sullanischer Soldaten Ahnlich argumentierten 1939/40 Zancan17 und 1955 Weinstock in seinem RE-Artikel18 unter Berufung auf die eben Genannten. Eine präzisere Datierung unternahmen 1959 und 1961 Heurgon19 und Pfiffig20. Sie zogen genauer als bisher die etruskische saecula-Zeitrechnung heran sowie die Berichte über Naturkatastrophen, die um die so bestimmte Zeit stattgefunden hatten. Beide kamen wieder auf das Jahr 88 bzw. 91/90 v. Chr. und sahen den Text als eine — etruskische Fabrikation an, die sich im Interesse großer Grundbesitzer gegen Landverteilungen richtete. Ihre Auffassung wurde 1971 von Dilke21 übernommen. In seinem Buch über Rom in Etrurien und Umbnen meldete Harris erste Zweifel an diesen Erklärungen an - er ist übrigens der einzige, der Wolf Goethes Dissertation m seiner Bibliographie erwähnt22. Obwohl schon früher - etwa durch Mazzarino 195723 und Cavaignac 195924 - naher auf die Erwähnung von servi eingegangen wurde, legte Harris, wenn auch nur kurz, entscheidendes Gewicht darauf. Er meinte, die Prophezeiung sei in einer Situation von Konflikten zwischen Herren und Sklaven entstanden, wie sie in Etrurien im dritten und zweiten Jahrhundert bestanden habe, sei allerdings - wegen der saeculumDatierung - auf eine spatere Situation adaptiert worden. Mit einer solchen Interpretation 1895 = Die Interpolationen des gromatischen Corpus, in ders, Gesammelte Schriften, Siebenter Band, Berlin und Zürich 1965 (Neudruck der Ausgabe Berlin 1909), 464-482 (zuerst 1895), hier 475. Mommsen 1852 (vorige Fußnote), 173. 15 L Piotrowicz, Quelques remarques sur l'attitude de TEtrune pendant les troubles civils ä la fin de la Repubhque romame, Klio 23,1929,334-338 16 Kurt Latte, Randbemerkungen 5., Philologus 87,1932,268-270. 17 Leandro Zancan, II frammento di Vegoia e il «novissimum saeculum», Atene e Roma, lila serie, 7/8, 1939/40,203-219 >8 St Weinstock, Vegoia, RE VIIIA l, 1955, 577-581 19 Jacques Heurgon, The date of Vegoia's prophecy, JRS 49,1959,41 -45. 20 Ambros J Pfiffig, Eine etruskische Prophezeiung, Gymnasium 68,1961, 55-64. 21 O. A W. Dilke, The Roman Land Surveyors. An Introduction to the Agrimensores, Newton Abbot, Devon, 1971, 33 126.229 22 W V Harns, Rome in Etruna and Umbna, Oxford 1971, 31-40, Goethes Erwähnung 32, Fn 1; Harris wiederholt seine Auffassung in Mauro Cnstofam u v a, Die Etrusker, Stuttgart und Zürich 1985,57, ebenso Mario Torelh, ebenda, 107 118. ' 23 Santo Mazzarino, Sociologia del mondo etrusco e problemi della tarda Etruscita, Histona 6,1957,98-122 (hier 110-116). 24 E. Cavaignac, A propos de Vegoia. Note sur le servage ctrusque, RliL 37,1959,104-107. 14
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machte 1976 Turcan ernst.25 Zum einen bestritt er - aparterweise in einer Festschrift für Heurgon - die übliche Bezugnahme auf Naturkatastrophen der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. und kam auf Grund einer anderen saeculum-Datierung auf etwa 290 v. Chr. Zum anderen zog er für etwa diese Zeit die Stelle Val. Max. 9, l, Ext. 2 heran, in welcher für Volsinii, die Hauptstadt Etruriens, von einer maßlosen Sklavenherrschaft die Rede ist. Dieser Auffassung schloß sich 1985 Colonna an26. Es kann hier nicht darauf ankommen, in die Sachdiskussion einzutreten. In der Tat mutet es seltsam an, daß von einem Text, in dem fur das Verrücken von Grenzsteinen von Sklaven in eigenem Interesse oder unter Mitwisserschaft ihrer Herren Strafen angedroht werden, angenommen werden soll, er beziehe sich auf staatliche Landverteilungen. Auch sind es eigenartige «servi», die anscheinend in größerem Umfang Ackergrenzen verandern, also doch wohl Landeigentümer oder jedenfalls Nutznießer sind. Auch müßte geklart werden, was man sich unter der Konnivenz der Herren bei Raubaktionen ihrer Sklaven — wenn denn reguläre Sklaven gemeint sind - vorzustellen hat; ausgeschlossen wäre ein solcher Sachverhalt nicht, wie er etwa im Zusammenhang mit dem ersten sizilischen Sklavenkrieg für die Hirtensklaven in Sizilien berichtet wird. Schließlich würde es trotz der Häufigkeit des Vorgangs doch wohl auch einmal Aufmerksamkeit verdienen, was man sich konkret unter der Anfertigung oder Zweitverwendung einer religiösen Prophezeiung für sehr weltliche Zwecke vorzustellen hat. In jedem Fall blieb, außer einigen Betrachtungen über kosmologische Parallelen, eines bisher außer Betracht, nämlich der religiöse Gehalt der Prophezeiung, sei sie nun für weltliche Zwecke gedacht oder stehe sie für sich.27 Das aber ist das Thema von Wolfgang Maximilians Doktorarbeit, die wir uns jetzt ansehen.
III. Im Prooemium (S. 3-9) stellt er den Text vor. Vieles ist richtig: Der Verfasser sei ein Mann Vegoia (nympha intelltgi non possit, S. 6), der Adressat ein Arruns, der Text stamme, wegen Cic. div. l, 41, 9, aus dem Jahre 193 v. Chr., es handele sich, wegen novissimi octavi saeculi und disciphnam pone m corde tuo, um einen etruskischen Text, der in sich fragmentarisch sei. Im Caput I (S. 9-15) wird der Inhalt skizziert. Die für das Verrücken der Grenzen angedrohten Strafen seien gottlicher Herkunft und aus der Natur der Verbrechen abgeleitet: 25 26
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Robert Turcan, Encore la prophetie de Vegoia,«m: Melanges offerts a Jacques Heurgon. Ultahe preromaine et la Rome Republicaine II, Rome 1976,1009-1019. Giovanni Colonna, Societa e culcura a Volsinii, in: Volsinh e la dodecapoli etnisca. Relaziom e mterventi nel convegno del 1983, Annali della Fondazione per il Museo «Claudio Faina», vol. II, Orvieto 1985,101-131 (hier 111-115). G Piccaluga, Vegoia, in· ders., Minutal. Saggi di storia delle religioni, Roma 1974,133-150 beschäftigt sich mit dem Fragment als einem Paradigma für saubere religionsgeschichtliche Quellenkritik,Juan Gil, Saecvla vrbis, in: La citta antica come fatto di cultura. Atti del convegno di Como e Bellagio, 16/19 giugno 1979, Como 1983, 149-174 (hier 150-152) zieht das Fragment für die seacula-Rechnung heran; Fran$oiseHelene Massa-Pairault, Lasa Vecu - Lasa Vecuvia, Dialoghi di Archeologia 6,1988,133-143 behandelt ikonographische Probleme; kurz erwähnt wird der Text in der Übersicht von Charles Guittard, Contribution des sources litteraires a notre connaissance de i'etrusca disciplina: Tarqitius <sic> Pn'scus et les arbores infelices, in· Huberta Heres / Max Kunze (Hrsgg.)» Die Welt der Etrusker. Internationales Kolloquium 24.-26 Oktober 1988 in Berlin, Berlin 1990,91-99 (hier 92).
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poena adbuc e natura sceleris ipsa onri... maxime differt apoena lege humana... constitute, aetas qua jus nondum constitute (S. 11). Der Grund der Strafbarkeit liege darin, weil derjenige, agrum hmitatum qui mvasent, coelum, mundum, Universum naturam ... mvasisse fmgatur, damit reflektiere der Text eine frühe Stufe der Rechtsentwicklung (ebenda), die auch im germanischen Recht aufzufinden sei (S. 15). Das Caput H (S 15-21) behandelt die ratio, quae homini cum natura intercedat, denn ea> quae leges de natura, de terra occupanda statuerunt, satis mtellegi non possunt msi hac ratione accuratius perspecta (S. 15). Im folgenden wird unter anderem der Tatbestand herangezogen, daß die Romer alias res divmi iuris, alias bumam esse erklart hatten (S. 17), und gegen Ende (S. 19) sagt er, daß diese Zeugnisse samtlich vim testantur, quam natura auf das juristische Denken der Menschen habe. Unter den zum Schluß herangezogenen Zeugnissen und der Literatur findet sich neben den Romern, Solon, Montesquieu und Rousseau28 auch ein Anonymus mit dem Werk «Der Mensch und die elementarische Natur. Erster Beitrag», Jena 1844 p. 16, wobei in meinem Exemplar «Jena 1844» handschriftlich durchgestrichen und durch «Stuttgart 1845» ersetzt ist29. Das Caput III (S. 21-26) fuhrt den Gedanken aus, daß der letzte Satz Vegoias zeige, es gehe nicht nur de termmorum sanctitate, sondern ommno de fide totam per vitam tuenda (S. 21) Das beziehe sich auch auf die Natur, mit der pfleglich umgegangen werden müsse; Goethe zieht dafür unter anderem'auch Passagen des Mahabharata und des Sakuntala heran. Das Caput IV (S. 26-38) beginnt mit den Sätzen Itaque cum omnia, quae de fragmento Vegoiae dicenda sunt, suapte nos revocent ad vim naturae in histona juris spectandam, was dann in diesem Schlußkapitel ausgeführt wird. Dazu werden zahlreiche Beispiele des romischen und germanisch-deutschen Rechtslebens, der Rechtsprechung und der dabei zu beachtenden Riten (etwa die stipulatio und die confarreatio) beigebracht, die alle zeigen sollen, daß der Natur eine eigene Kraft beigemessen wurde Alles lauft bei Wolf gang Maximilian von Goethe auf die sanctitas naturae ejusque m vitam humanam vis (S. 35) hinaus. Der Text verrat ein für die damalige Zeit solides handwerkliches Können. Der Verfasser hat eine ausgebreitete Kenntnis der antiken Quellen und hat sich der - beneidenswert geringen - Sekundärliteratur umsichtig bedient, und einer der handschriftlichen Nachtrage nennt bereits ein Fruhwerk Theodor Mommsens30; aus diesen Nachtragen ist zudem offensichtlich, daß Goethe beabsichtigte, das Thema weiterzuführen. Prooemium und erstes Kapitel legen hinsichtlich des Textes und seiner Auslegung den Grund für alles Weitere, und wenn man bedenkt, m welcher Weise Niebuhr und Mommsen das Fragment behandelt haben, unterscheidet sich Goethe nicht grundsätzlich von ihnen. Es fallen auch mehrere Bemerkungen, die zeigen, wie methodenbewußt Goethe vorging. Auf S. 9 heißt es beispielsweise: Hac re moti m toto fragmento explicando idpro regula sequamur: ne vocempnmo visu maxime corruptam et diffialem explicatu ejiaamus neque mutemus, pnusquam obscuntas sermoms neque a vitio epitomatoris neque a studio Tusca verba latme reddendi repetenda videatur, und, auf S. 24 nicht minder beherzigenswert: In smguhs verbis cur baereamus non videmus Andere Bemerkungen zeigen in zum Teil nährender Weise seine innere Anteilnahme an dem Thema und der Art seiner Weiterfuhrung. Zu Beginn des zweiten Kapitels, wo er sicfi anschickt, über das rein Rechtshistorische hinauszugehen, heißt es: Aheno ammo ab us 28 29 30
Auch im «Ersten Beitrag», 16, wird beiden eine wichtige Rolle beigemessen, siehe unten S. 174 «Jena» durfte Frommann gewesen sein - warum wurde nach Stuttgart zu Cotta gewechselt? «De collegus et sodahtiis Romanorum», gegenüber von S 13.
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sumus, qui naturam m histona juns deducenda mimme spectandam putent, et haec perscrutari studentes nugas fabulan, in obsoletis haerere contendant (S. 15), und er fahrt alsbald fort: Ne plura, egregium nobis videtur et dignum, in quo summum Studium, summum ardorem collocemus, quaerere: natura sitne autonomica, an heteronomica? ... Is, qm ideas rerum tantum spectans spreveritper annos contmuos summa opera, multis hbns volutis verba verbis apis instar componere, hoc opus ut ad culmen perducat idoneus non ent, is contra idperficiat qui laborem maxime asperum et mamoenum eodem mentis fervore obeat atque sustineat, quo rapimur de turba aequahum res divinas dum indagamus. Und gegen Ende (S. 37) heißt es: Multa irrisores et vituperatores invenient in quibus baereant, turba studiis nostns plausum non dabit. Is autem, qui animum ita conformatum respexent, ut abhorreat juvemh aetate sententus certis fmibus delmeatts msistere et pro its quae forte eras ipse projiciet utpro ans etfocis pugnare, is qui reputavent me rerum tantum necessitate coactum esse, ut media m via gressum sistam et particulam eorum, quae collegi et contrivi in opusculum cui praefigatur nomen «dissertatio» redigam: is certo studia mea non plane spernet, sed multa, quae pectore meo eruperunt, quaeque summa opera elucubravi, approbabit.
IV. Pectus meum - das ist es, was Wolfgang Maximilian von Goethe zu dieser Arbeit mit diesem Tenor veranlaßt hat. Auf fachwissenschaftliche Erkenntnis, auf das Verstehen des Textes kam es ihm anscheinend nur als Mittel zum Zweck an. Die Fähigkeit dazu hatte er gehabt, und wenn hier in Parenthese einmal eine sachfremde Bemerkung zu seinen Gunsten gemacht werden darf, dann die, daß er es, der mit einer lateinisch geschriebenen und veröffentlichten rechtsgeschichtlichen Dissertation über einen nicht einfachen Gegenstand zum Doctor juris promoviert wurde, immerhin weiter gebracht hat als sein Großvater. Die Frage, die sich nach diesem vorläufigen Befund zunächst stellt, ist die nach der Herkunft des Themas, das heißt danach, wie er auf das Thema gekommen ist. Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst die Heidelberger Promotionsakten31 herangezogen, aus denen in einiger Ausführlichkeit zitiert werden soll Am 17. Juli 1844 schickt er aus Berlin, «An der katholischen Kirche (= Hedwigskirche, W. Seh.) n. 2», an den Dekan Mittermaier32 ein Promotionsgesuch, dem er bereits die handschriftlich angefertigte Dissertation «De Fragmento Vegoiae» sowie die Abhandlung «Der Mensch und die elementarische Natur. Erster Beitrag» beifugt. Arn 7. August dankt er in einem weiteren Schreiben an Mittermaier,- daß «die verehrliche Fakultät die eingesandte dissertation zur Benutzung als Inauguraldissertation genügend befunden» und bittet um die Bekanntgabe der leges für die Digestenexegese. Diese von Roßhirt gestellte Aufgabe bearbeitet er unter dem Titel «Disseritur de fr. 1. de legatis in Imo. / 30 : L). - Tractatur de cap. 5 X de praescriptionibus / II : 26)» und übersendet sie am 27. Oktober. Im Begleitbrief, der mit einem Trauerrand versehen ist, bittet er, zunächst nicht zum Rigorosum erscheinen zu müs31 32
Signatur H-II, 111/40; fol. 38-87. Zu ihm: Karl von Lilienthal / Wolfgang Mittermaier, Karl Joseph Anton Mittermaier als Gelehrter und Persönlichkeit. Zwei Vorträge, in: Wilfried Kuper (Hrsg.), Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20 Jahrhundert, Heidelberg 1986, 43-67 und Gotz Landwehr, Karl Joseph Anton Mittermaier O 787-1867). Ein Professorenlcben in Heidelberg, in: ebenda, 69-100.
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sen; «Stete druckende Kränklichkeit und der Verlust meiner innigst geliebten Schwester» (Alma von Goethe) hindere ihn für den Moment daran. Am 7. Januar 1845 bittet er, ebenfalls m einem Brief mit Trauerrand, im Rigorosum von der Prüfung in «Crimmalrecht, Handelsund Wechselrecht und Staatsrecht» dispensiert zu werden; Mittermaier ist wegen der schwachen Gesundheit Goethes einverstanden, da er sonst fleißig sei, «accedo Vangerow» und «desgleichen Zoepfl» vermerken die Mitprüfer. Schließlich richtet Mittermaier «Sontag 23 Feb 45» einen Brief an die Kollegen, daß Goethe wegen «leidenden Gesundheitszustandes schon Morgen (Montag)» geprüft werden mochte - «Ich werde erscheinen. Vangerow. Ebenso Zoepfl». Auf demselben Blatt dann rechts unten der Vermerk: «Der Candidat erhielt in der Prüfung die Note suma cum laude M». Das Doktordiplom verkündet schließlich: «Nos. Decanus. senior, cetenque. professores / Ordinis. Jurisconsultorum / in. Literarum. Universitate. Ruperto-Carola / in. virum. doctissimum. et clanssimum / Wolfgangum. Max. a Goethe / Vimariensem / examine, rigorose, summa, cum. laude. superato / gradum, Doctons / summos. m. utroque. jure, honores / rite, contulimus». Zunächst beeindruckt die lassige Formlosigkeit des Verfahrens - eine Promotionsordnung im heutigen Sinne gab es nicht -, das nach jetzigen Begriffen vor jedem Verwaltungsgericht in Windeseile zerfetzt werden wurde. Freilich geht aus den Akten nicht hervor, wie Wolf gang Maximilian auf sein Thema gekommen ist. So etwas wie einen Doktorvater scheint es nicht gegeben zu haben; die Arbeit wurde schon fertig eingesandt, von Gutachten ist nicht die Rede33. Auch das eingereichte curriculum vitae enthalt nichts dergleichen, wohl aber einen Hinweis auf die Herkunft des Themas. Zunächst berichtet der Kandidat, daß er m Weimar m domopaterna am 18. 9.1820 geboren sei, evangelisch wie die Eltern; mit 15 Jahren scholam celebemmam, quae «porta coeli» vocatur, adh. Paulum tempons tantum ibi commoratus, dann Weimar.Studiert hat er Bonnae, Heidelbergae, Jenae, Berolim, und wahrend er von Bonn noch sagt, ad pbilologute Studium propenstor eram, heißt es von seinen dortigen juristischen Professoren, me ad junscuntiam revocarunt. Das waren Walter und Boecking (Enzyklopädie des Rechts und Institutionen des romischen Rechts); in Heidelberg horte er bei Zachanae (Öffentliches Recht), Vangerow (Romische Rechtsgeschichte und Pandekten), Mittermaier (Zivilprozeßrecht und Strafrecht) und Zoepfel (sie) (Deutsche Rechtsgeschichte), in Jena bei Osthoff (Deutsches Recht), Schulz (Politische Ökonomie) und Stark (Gerichtsmedizin); in Berlin bei Savigny (Pandekten), Heffter (Kanonisches Recht und Strafprozeß), Homeyer (Preußisches Recht), Heidemann (Rechtsphilosophie), Gneist (Zivilprozeß), dort freilich Saepius scholae pbilosopbicae Schellmgii, Fnesn, Werden, Micheleti et bistonae Schlössen et Rankii me deducebant de via, quam mgressus eram ad summos in utroque jure bonores assequendos, aber, wie man sieht, nicht endgültig. Ob er einem der Lehrer sein Thema zu verdanken hat, geht aus dieser Aufzählung also auch nicht hervor. Ein Heidelberger kann es nicht gewesen sein, sonst hätte er das in seinem Promotionsgesuch an Mittermaier erwähnt. Seine subjektiven Neigungen ergeben sich frei-. lieh aus der anschließenden Passage: Naturae cum mde a puenli aetate et m patna et in itmenbus vixissem conjunctissimus: utro genere et ns quibus studebam rebus saepenumero mductus sum ut de m naturae m vita humana perspicienda cogitarem, quae me moverunt ut pauca hac de re elucubrata et perscrutata cum doctons gradum assequendum mihiproposuis33
Anders als bei Mittermaier selbst. Dieser schrieb 1809 «an einem einzigen Tag» seine Dissertation nieder, für die es fünf Gutachter gab, und sie «bemängelten die außerordentlich » (Landwehr, vorige Fußnote, 75).
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sem, m opuscula redigerem. Quodst amphssimtis ordo junsconsultorum Heidelbergensium aliquando dignum meputavent quem ad gradum doctons promoveat: Studium, quodpraetento tempore htens impendi, majorisfaciam momenti et resfaturas laetiori amplectar ammo. Zwar folgt auch hieraus nicht, ob und welche konkrete Anregung von einem namentlich zu benennenden akademischen Lehrer er erhalten hat; aller Wahrscheinlichkeit nach wird es niemand Besonderes gewesen sein. Schillings Naturphilosophie wird ihn in seinen seit der puerilis aetas gehegten Vorstellungen bestärkt haben, und wenn er in rechtshistorischen Vorlesungen von der Vegoia-Prophetie gehört haben dürfte, wird sich, verstärkt durch die Lektüre von Karl Otfried Mullers Etrusker-Buch, das er häufig zitiert, das Promotionsthema herausgebildet haben. Freilich kann das, was eben mit «subjektiven Neigungen» bezeichnet wurde, durch eine Betrachtung der beiden Schriften spezifiziert werden, die zusammen mit der Dissertation die Gesamtheit der drei «Beitrage» «Der Mensch und die elementarische Natur» ausmachen, zumal da Goethe den «Ersten Beitrag» auch seinem Promotionsgesuch beigelegt hatte. Dieser Beitrag trägt keinen besonderen Titel und ist als geistesgeschichtliche Grundlegung der beiden anderen zu verstehen; er sei hier kurz wiedergegeben, ohne daß dabei eine tiefergehende Analyse vorgenommen werden kann. Das Verhältnis des Menschen zur «elementarischen Natur», welcher Begriff nie definiert wird - auch bezieht sich Wolfgang Maximilian weder auf seinen Großvater noch auf Schelhng und dessen NaturbegrifP4 —, habe sich in den frühesten Zeiten der Geschichte als Einheit dargestellt, jedoch habe alsbald die religiöse Verehrung von Naturphänomenen und dann die Herausbildung von Kunst und Wissenschaft zu einem «Verdunkeln der Natur» gefuhrt (S. 4). In der Welt des Alten Testaments sei «die elementarische Natur untergeordnet und zurückgedrängt» worden; «Die ganze Natur, Himmel, Wasser und Erde sind nur eine Verherrlichung, ein tausendstimmiges Loblied Gottes» (S. 5). In der «christlichen Kirche» sei auch das zurückgegangen, die Natur sei «nicht mehr als reine Offenbarung von Gottes Herrlichkeit» (S. 6). Im übrigen sei die Beziehung zur Natur nur undeutlich und widersprüchlich gefaßt worden; «sehnsüchtig sehen wir uns in den heiligen Schriften nach einem Ausspruch um, welcher auf die Natur ein höheres Gewicht legte und sie als rein angesehen wissen wollte; selbst Johannes ... schweigt» (S. 8). Im Mittelalter «kleidete sich manche Sehnsucht der Menschen nach einem neuen Verhältnisse zu der Natur, die ihnen früher unzertrennlich nahe gestanden, in das alte Gewand des Heidendienstes», wogegen die Kirche ankämpfte, aber: «Diesem Kampfe und dem Umstände, daß er als Kampf gegen die Vergangenheit erscheint, während er oft Kampf gegen die Zukunft war, verdanken wir manche der schönsten Ueberlieferungen des Mittelalters, jenes Wuchern von Wundern, weil Wunder immer da erscheinen, wo man sich selbst nicht versteht.» (S. 9). Die Scholastik dann, insbesondere der von Goethe ausgiebig zitierte Roger Bacon, findet auf dem Wege über Aristoteles ein neues, positives Verhältnis zur Natur (S. 9-13). «Zu gleicher Zeit, als die Wissenschaft durch die bedeutendsten Geister die Natur wieder in ihre Rechte hob, sehen wir auch plötzlich in der Gemüthswelt ihren innern Zusammenhang und ihre Bedeutung für das Leben der Menschen beinahe wunderbar rein hervortreten ... WähMax Heckcr (oben Fn. 2) schreibt in diesem Zusammenhang: «Wolf G. war m Berlin Schelling's begeisterter Schuler geworden, seine Arbeit steht ganz unter dem Einflüsse seines Lehrers.» (482); zu ScheUings Naturbegnff jetzt Bernd-Olaf Küppers, Natur als Organismus. Schellings frühe Naturphilosophie und ihre Bedeutung für die moderne Biologie, Frankfurt am Main 1992, besonders 48-56; Wolfdietrich SchmidtKowarczik, «Von der wirklichen, von der seyenden Natur». Schellings Ringen um eine Naturphilosophie tn Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1996, besonders 27. 31-33,
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rend früher die Bewunderung der Natur und die Idee über die Verschmelzung des Menschen mit ihr bei kraftigen, hohen Geistern .. sich in die AuferstehungsHeder fluchteten und hier die Fesseln, welche ihnen der Glaube anlegte, innerhalb der kirchlichen Form beinahe bis zur Inconsequenz abschüttelten ... so finden wir dagegen in den Dichtungen des 13. Jahrhunderts, und vorzuglich der sogenannten Minnesanger, die Natur in einer ganz anderen Stellung. Die reinste Lust wird von einem Walter von der Vogelweide, Hadloub, Ulrich von Lichtenstein, Otto von Botenlauben, im Nithart, an die Natur geknüpft; sie gründet die schönsten Feste, die Jahreszeiten erscheinen in lieblichster Persönlichkeit, die Blumen werden beseelt, auch die Vogel tragen fromme Gefühle in den kleinen Leibern Nichts deutet auf eine Sündhaftigkeit der Natur...» (S. 13). Auch die deutschen Rechtsaltertumer sind nur aus der Vorstellung einer «Verschwisterung mit der elementanschen Natur» verständlich. (S. 14) Der Protestantismus lockerte die katholische Distanzierung von der Natur (S. 14-16), bis dann Montesquieu und Rousseau der Natur dadurch wieder eine zentrale Stellung in Staat und Gesellschaft verschafften, daß sie naturlichen Gegebenheiten, vor allem dem Klima, einen konstitutiven Einfluß zubilligten, wozu dann die aufblühende «Erd- und Volkerkunde» kam (S. 16 f). Vor allem aber haben Dichter «am Ende des vorigen Jahrhunderts» «die Ansicht der Natur selbstständig ungestört von der Kirche» ausgebildet, denn «dann suchen wir die Bedeutung der Romantiker, daß sie auf ein höheres Verhaltmß der Menschen zur Natur, als auf eines der unerklärtesten und machtigsten Elemente des menschlichen Lebens, kraftig hinweisen» (S. 17). Freilich verfehlen sie ihr Ziel durch die Ausführung ihrer Absichten, die Goethe als «Phantasterei» und «Fratzen» charakterisiert (S. 17 f). Auch eine «zweite Richtung» ihrer Bestrebungen verfehlten sie, nämlich «die Wiederherstellung einzelner geistiger Elemente, welche das Mittelalter durchdrungen hatten» (S. 18) Das ist an sich positiv zu bewerten: «Ewig befruchtend muß es für unser Leben sein, wenn wir in dasselbe die Energie und Innigkeit herubernehmen, mit welcher wir die großen Geister des Mittelalters die Gegenstande erfassen sehen, wahrend alle unsere Thatigkeit immer mehr den Character gemeiner Arbeit mit naheliegenden, augenblicklichen Zwecken bekommt.» (S. 19) Die Romantiker freilich fielen «in den Fehler, tausend Schwachen und Irrthumer, welche in jener Zeit nothwendige Begleiter der hohen Eigenschaften sein mußten, als etwas Verlornes und Ersehnenswerthes aufzustellen und die geistige Begierde der Menschen auf falsche Ziele zu richten.» (S. 20) Einer freilich wird von diesem Verdikt ausgenommen, das ist Novalis, Goethe nennt ihn Hardenberg: «Fluthendcr Segen ist ihm die Wirkung eines solchen Bundes zwischen dem Menschen und der Natur.» (S. 21) Allerdings verfehlt auch er sein Ziel, weil er sich «nicht einer Form bediente, welche der Ahnung die angemessenste ist, das ist der Form der reinen Poesie... Poetisch zu trocken, wissenschaftlich zu gestalt- und namenlos ist die ganze Darstellung des Dichters» (S. 22). Freilich scheint er doch das Vorbild für Wolfgang Maximilian gewesen zu sein, insofern dieser mit seinen drei «Beiträgen» strenge Wissenschaft und Poesie auseinanderhaken wollte, um sie dann zu einem höheren Ganzen zu vereinigen. Am Schluß der kurzen Abhandlung fragt Goethe, «welchen Standpunkt unsere Zeit dieser Anschauung gegenüber einnimmt» (S. 23). Religion und Philosophie mit Naturwissenschaft versagen (S 23 f). Sollte es nicht möglich sein, zunächst einmal «eine geschichtliche Darstellung der Momente» zu geben, «aus denen hervorgeht, wie die Volker, seit der ältesten Zeit, die elementarische Natur, insofern sich Rechtsverhaltnisse an diese knüpfen konnten und knüpften, auffaßten, welche Aeußerungen des Rechtslebens und der Gesetzgebung hierauf zurückzuführen sind» (S: 24)?
De fragmento Vegoiae
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Dieser wissenschaftlichen Bearbeitung diente die Dissertation; «reine Poesie» stellt das Drama «Erlinde» dar, der «dritte Beitrag». Das Stuck, das von 1839 bis 1843 entstand, kann hier nicht nacherzählt werden, es ist mit Personen und Motiven überladen35. Die Haupthandlung besteht darin, daß die Vereinigung von Eginolph, dem Grafen von Berka, mit der die Natur symbolisierenden Ilm-Nixe Erlinde nicht gelingt, was seinerseits die Versöhnung des Menschen überhaupt mit der «elementanschen Natur» bedeutet hätte - ein hoffnungsfroher Ausblick gegen Schluß aber lautet: «Wohl dem Geschlecht, das klar erkennt, / Zu einen weiß, was jetzt getrennt! / Es wachst der Geist, er wird gesunden, / Wenn sich der Mensch und die Natur gefunden.» (S. 237) Das Stück hat durchaus sprachliche Schönheiten, wie vielleicht schon die wortlichen Zitate aus dem «Ersten Beitrag» zeigen konnten und wie seinerzeit, anders als Spätere, anscheinend auch ein nicht unbedeutender Zeitgenosse empfunden hatte, nämlich Alexander von Humboldt. Das ergibt sich aus einer handschriftlichen Eintragung in dem Exemplar des Stückes, das sich in der Bibliothek des Konstanzer SusoGymnasiums befindet. Sie sei hier, da bisher unbekannt, wörtlich wiedergegeben: «Dieses Gedicht hat zum Verfasser Maximilian Wolfgang von Goethe (Enkel Gothes) welcher vor kurzem 63 Jahre alt geworden ist. Es war vollendet 1843, m welchem Jahre ich in Berlin mit M. Goethe auf Universität war. Vor der Herausgabe hat er dasselbe Alexander von Humboldt vorgelesen, der den Dichter ermuthigte. Als Goethe sein Doktor Examen machte, verfaßte er und gab in Druck drei Dissertationen über das Thema: , die eine in lateinischer Sprache, die andere in deutscher Prosa und die dritte unter dem Titel <Erlmde>, das ist das nachstehende Gedicht Dieses Buch habe ich vom Verfasser erhalten nebst den beiden anderen Dissertationen. Für die Figur des <Engelram> behauptete G ich sei ihm Modell gestanden, d h. wie er sich dachte daß ich ihm Modell sein könne Februar 1883
F. Dimm >»36
Nun ist es nicht so wichtig, ob das Gedicht sprachliche Schönheiten hat oder nicht; auch ist von Alexander von Humboldt bekannt, daß er ein ungewöhnlich hoflicher Mensch war, so daß sein Lob vielleicht eher als ein Akt personlicher Freundlichkeit aufgefaßt werden muß. Hervorgehoben sei aber im Zusammenhang mit Wolfgang Maximilians Naturempfindung ein Detail, das von seiner Heimatliche zeugt, die er, nach der Formulierung in seinem Lebenslauf, m ttinenbus gewonnen haben dürfte. Das Stuck spielt in der lieblichen IlmLandschaft und im Thüringer Wald, welche Gegenden im Text schon charakterisiert werden. Auch das kann hier nicht im einzelnen nachgewiesen werden37, wohl aber vermittelt viel35 36
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Ausführlich Max Hecker (oben Fn. 2) 483 f Die Unterschrift ist nicht mit Sicherheit zu entziffern, zumal da die Herkunft des Buches leider unbekannt ist. Vielleicht können weitere Nachforschungen im Zusammenhang mit diesem Exemplar der «Erlinde» und der Eintragung etwas mehr Licht in Wolfgang Maximilians Berliner Zeit und seinen damaligen Umgang bringen. Siehe etwa die Seiten 3,12, 22, 23, 47, 52,117. - Daß Wolfgang Maximilian ein Thüringer war und thüringischen Akzent sprach, bezeugen folgende Reime: Scbeidehauche - Auge (10), Zeichen - neigen (20), nach - Tag (27), rathen - beladen (60), schleichen - zeigen (61), Augen - brauchen (63), zeigen - unsersgleichen (75), verbrauche - Auge (82), Augen - tauchen (91), geschmiegt - verkriecht (93), Augen - tauchen (120), Schweigen - Zeichen (135 f), brauchen -Augen (170), Reich- Zweig (176), Schweigen - Eichen (l 82), neigte - erreichte (190), Auge - hauche (208), zeigen - erweichen (210) und tauchen - Augen (211). Das ist doch etwas anderes als die frankfurterischen Reime des Großvaters «neige - Schmerzensreiche» oder «Zweig -
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Wolfgang Schuller
leicht die Aufzählung der Schauplätze einen Eindruck. Es sind unter anderem: «Thüringer Wald. Am Fuße des Finsterbergs. An der Pforte des Klosters Paulinzelle. Ufer der Ihn zwischen Ilmenau und Manebach. Am Fuße des Schlosses Berka an der Um. Wiese an der Um bei Berka. Ufer an der lim, zwischen Berka und Buchfart. Paulinzelle. Schlucht bei Hetschburg. An der Um zwischen Berka und Tannroda. Tännicht. Schloßgarten zu Buchfart. Gipfel des Schneekopfs. Wald am Sachsenstein. Fels bei Oettern. Halle im Thalschloß von Buchfart.» V.
Wolfgang Maximilian von Goethes Doktorarbeit «De fragmento Vegoiae» stand im Handwerklichen auf der Hohe der Zeit. Hinsichtlich der rechtsgeschichtlichen Interpretation ist sie nicht nur überholt, sondern war wohl nie von Bedeutung. Das war auch nicht ihre Absicht. Vielmehr hat sie versucht, religiös-weltanschauliche Vorstellungen im romischetruskischen Rechtsleben aufzuspüren und hat damit das Verdienst, die religiöse Dimension des Textes zur Geltung gebracht zu haben, eine Dimension, die die spatere Forschung zugunsten der weltlich-historischen vernachlässigt hat; es ist zu wünschen, daß diese Dimension wieder mehr Aufmerksamkeit findet. Freilich hatte der Autor mehr mit seiner Arbeit vor. Sie sollte nur ein erster Schritt auf dem Wege großangelegter Untersuchungen sein, die sich überhaupt mit dem Verhältnis des Menschen zur Natur beschäftigten, zunächst in der Geschichte des gesamten Rechtslebens, dann im menschlichen Leben überhaupt. Das Ziel war, zu zeigen, daß die Natur eine Eigengesetzlichkeit habe, die der Mensch nicht mißachten oder gar vernichten dürfe; im Gegenteil komme es darauf an, sich mit der Natur zu vereinigen. Was genau Natur sei und wie diese Vereinigung auszusehen habe, das bleibt allerdings im unklaren, und dieses Faktum sowie das Grundmotiv überhaupt zeigen, wie sehr Goethe im romantischen Denken verwurzelt war; darüber hinaus ist ein kraftiger Schuß Zivilisationskritik zu entdecken, und naturlich eine Vorwegnahme heutiger Bestrebungen gegen die Naturzerstorung38. Ganz romantisch ist die Form der Gesamtheit der drei «Beiträge», seinem als Erstling gedachten Werk: eine einfuhrende Abhandlung, eine strenge gelehrte Untersuchung und ein romantisches Drama ergeben sozusagen ein literarisches Gesamtkunstwerk; ob Goethe damit das verwirklicht hat, was er bei Novalis vermißte, kann dahingestellt bleiben. Es ist jedenfalls nicht ohne Tragik zu sehen, daß und wie diese hochfliegenden Plane scheiterten und daß nur noch ein Bandchen nun wirklich blassester Gedichte und eine konzeptionslose und undruckbare historische Untersuchung - noch dazu auf ganz anderem Gebiet - dabei herausgekommen sind. Ist dieses Scheitern auch romantisch? Möglich, daß wir uns mit diesem Verdikt zu den vttuperatores rechnen lassen müssen, aber ganz gewiß nicht zu den
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Gestrauch» - Übrigens· Wahrend sonst nirgendwo von seinem Großvater die Rede ist, gibt es in der Erhnde einige Anklänge, am auffälligsten «Auch hier das ew'ge «Stirb, das ew'ge <WerdeJ>» und «Du bist's, wie Jeder, der nach oben strebt, / Wie jeder Geist, der nur im Streben lebt» (112) Siehe spater auch'Wilhelm Raabes Erzählung «Pfisters Mühle*.