STUDIEN ZU JUDENTUM UND CHRISTENTUM
Das Buch stellt die in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen entwickelten Vorstellungen von Apokalyptik und Apokalypse in einen interdisziplinären Zusammenhang. Bibel- und Religionswissenschaftier, systematische Theologen, Philosophen, Althistoriker und Literaturwissenschaftier analysieren aus ihrem jeweiligen Blickwinkel exempl~risch ausgewählte Texte und fragen nach der spannungsreichen Beziehung dieser Texte' zur Apokalyptik. Im ersten Teil des Bandes werden unte~schiedliche Zugänge zum antikewB.uch Daniel erprobt, dessen apokalyptische Vorstellungsweit auch die christliche Tradition stark geprägt hat. Der zweite Teil geht im Anschluß an Jacques Derridas Apokalypsedeutung der Frage nach, inwiefern die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ein besonderes Verhältnis zur Apokalyptik unterhält. In diesem Zusammenhang werden prominente Texte von Herder, Lessing und I(ant analysiert. Das Buch wendet sich an Theologen, Religionswissenschaftler, Philosophen, Historiker und Literaturwissenschaftler sowie an alle, die an dem Phänomen Apokalyptik interessiert sind .
Die Herausgeber: Jürgen Brokoff, geb. 1968, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, . München 2001; Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts , hg. v. Jürgen Brokoffu. Joachim Jacob, Göttingen 2002; Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Brokoff u. Jürgen Fohrmann, Paderborn 2003. Bernd U. Schipper, geb. 1968, Dr. theol., M.A., ist Juniorprofessor für Bibelwissenschaften und Religionsgeschichte am Studiengang ReligionswissenschaftjReligionspädagogik der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: Israel und Ägypten in der Königszeit, GöttingenjFribourg 1999; Apokalyptik und Ägypten. Eine kritische Analyse der relevanten Texte aus dem griechisch-römischen Ägypten, hg. v. Andreas Blasius u. Bernd U. Schipper, LeuvenjParisjSteriing 2002
ISBN 3-506-72367-7
Brokoff / Schipper (Hg.) Apokalyptik in Antike und Aufklärung
STUDIEN ZU JUDENTUM UND CHRISTENTUM HERAUSGEGEBEN VON JOSEF WOHLMUTH
2004
Ferdinand Schöningh Paderborn . München· Wien· Zürich
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JURGEN BROKOFF/BERND U. SCHIPPER (HG.)
Apokalyptik in Antike und A
2004
Ferdinand Schöningh Paderbom . München · Wien · Zürich
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Umschlagabbildung: Papyrusfragment mit Temusschnitt Dan 7,6-8, pKölnTheol 22v (erstellt im Projekt >lDigitalisierung der Kölner Papyrusbestände« mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Förderungsprogramms IRetrospektive Digitalisierung von Bibliotheksbeständen<)
Bibliografische Info nnation Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibl;Ofhek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.4e abrufbar.
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Gedruckt auf wnweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständi8em Papier e isa 9706
C 2004 Ferdinand Schöningh, Paderbom (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH , Jühenplatz I, 0-33098 Paderbom) Internet: www.schoeningh.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrcchtlic h geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen FaJ.len ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Gerrnany Satz: Rhema - TU'll Doherty, Münster HersteUung: Ferdinand Schöningh, Paderbom ISBN 3-506-72367-7
Vorwort Der vorliegende Band geht in seinem Kern auf die Arbeit des Bonner Sonderforschungsbereiches 534 »Judentum-Christentum - Konstituierung und Differenzierung in Antike und Gegenwart« zurück. Er dokumentiert ein interdisziplinäres Gespräch, an dem zu Anfang BibelwissenschaftJer und LiteraturwissenschaftIer beteiligt waren und das im Laufe der Zeit auf andere Wissenschaftsdisziplinen ausgeweitet wurde. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit. Thesen des Bandes und einzelne Beiträge in Veranstaltungen am Studiengang Religionswissenschaft/ Religionspädagogik der Universität Bremen zu diskutie-reD. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Dass dieser Band in der vorliegenden Form veröffentlicht werden konnte, wurde durch die finanzielle und logistische Unterstützung des Bonner Sonderforschungsbereiches ennöglicht. Unser Dank gilt insbesondere dem Sprecher
des Projektes, Herrn Prof. Dr. Joser Wohlmuth, dem Koordinator des SFB, Herrn Dip!. theot. Holger Foltz sowie Frau Eva Kirch. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Druck des Bandes mit einem namhaften Druckkostenzuschuss unterstützt, der Bonner SFB und der Studiengang Reügionswissenschaft/Reügionspädagogik der Universität Bremen haben Hilfskraftstunden zur Verfiigung gestellt. Für das Lesen der Korrekturen danken wir Frau Silke von KöUer und Frau Annika Heiland, Bonn, sowie Henn Burkhard Steinberg, Bremen. Bonn und Bremen, im April 2003 JÜRGEN BROKOFF, BERND
U. S C HIPPER
Inhalt
Vorwort ...................................................................
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JÜRGEN BROKOFP/ BERND U . S CHIPPER
Einleitung: Apokalyptik in Antike und Aufklärung ......................
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TEIL A: DAS BUCH DANIEL AI S PARADIGMA ANTIKER APOKALYPlIK STEFAN B EYERLE
Die apokalyptische Vision in Daniel 8 ..... . .......... .. ... . ..... . .......
25
U. SCHIPPER Tradition und lnnovation - eine religionsgeschichtliche Lektüre von Daniel 7 ....................... . ......................................
4S
BERND
ANOREAS BLASIUS
Apokalyptik und Geschichte. Das Buch Daniel in der (alt)historischen Forschung .......................................•......
77
MICHAEL WOLTER
Apokalypsen als Erzählungen .......... . ............................. . ...
105
TEIL B: DIE APOKALYPSE-REZEPTION IN DER AUFKLÄRUNG - EINE MODERNE APOKALYPrIK? JÜRGEN FOHRMANN
Apokalyptische Hermeneutik (nach Herder)
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Ende der Aufklärung. Apokalyptik und Geschichtsphilosophie in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts ..........................
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JÜRGEN BROKOFF
8
Inhalt
TORSTEN HITZ
»Die Moral auf Theologie angewandt, ist die Religion .« Kants Schrift Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie ............ . ................ ... ....... . .. . .. . ....
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JOSEF WOHLMUTH
Immanuel Kants Das Ende aller Dinge und die Eschatologiekritik bei Emmanuel Levinas als Herausforderung für die christliche Eschatologie ............................. . . . . . ............................
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Autorenverzeichnis ........... . ... . . .. . . . .. . .....................•.. ,.....
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JÜRGEN BROKOFF/BERND
U. SCHIPPER
Einleitung: Apokalyptik in Antike und Aufklärung Seit der >Entdeckung<des Begriffs >Apokalyptik< durch den Theologen Friedrieh Lücke in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts l , hat der Begriff einen beispiellosen Siegeszug durch die Geistesgeschichte angetreten. Er wird mittlerweile in vielen Kontexten verwendet und scheint zu einer allgemein gültigen Chiffre für Weltuntergangsvorstellungen geworden zu sein. Es gibt apokalyptische Musik, apokalyptische Kunst, und auch die politische Berichterstattung bedient sich des Wortes - gerade nach den Ereignissen vom 11. September 200 1 - vielfach. 2 Was aber zeichnet den Begriff aus und welche Vorstellungen werden damit verbunden? Wie ist seine Funktion innerhalb kultureUer Diskurse zu bestimmen und welche konkrete Pragmatik kommt ihm zu? Geht man zunächst von der aktuellen Verwendung des Begriffs aus, so wird man einen Gebrauch im religiösen Kontext von einem im säkularen Bereich unterscheiden müssen. In der religiösen Literatur wird mit Apokalyptik in der Regel eine Geisteshaltung verstanden, die diese Welt für negativ hält und ein grauenvolles und endgültiges Ende des bestehenden Zeitalters erhoffi, auf das ein neues, göttlich gedachtes Zeitalter folgt. Das apokalyptische Untergangsszenario ist dabei nur das Durchgangsstadium zu einer neuen Welt, es ist erforderlich, um die bestehende, depravierte Welt endgültig zu vernichten und der neuen, göttlichen Welt Platz zu machen. Ganz anders ist hier die Vorstellung von )Apokalyptik< in säkularen Kontexten. Hier wird der Begriff primär zur Beschreibung des katastrophalen und unwiderruflichen Weitendes verwendet, ohne dass an ein neues, besseres Zeitalter gedacht würde. 3 Der Gennanist Klaus Vondung sprach in diesem Kontext von der »kupierten Apokalypse« 4, ein Begriff, der mittlerweile in die Forschung eingefiihrt ist. Vom literaturwissenschaftlichen Standpunkt kann der Begriff der Apokalyptik jedoch auch anders gedacht werden. So haben jüngere ForschunI Vgl. zur Geschichte des Begriffs A . Christophersen, Friedrich Lücke (I791 - 1855), Band I, 8erlin, New York 1999 (I 94), 368f., Anm. 2. 2 Vgl. die Problcmanzeige bei A. Bedenbender, Der Gon der Welt trin auf den Sinai. Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der frühjüdischen Apokalyptik, 8erlin 2000 (ANIZ 8), 17 und
sr
32f. 3 Vgl. zu säkularen ApolcaJypsen E. Shaffuer. Secular Apoca1ypse. Prophets and Apocalyptics at the End of the Eighteetlth Century, in: M . DuD (Hg.), Apoca1ypse Theory and the Ends of the World, Orlord 1995, 137- 158. 4 K. Vondung, Die ApolcaJypse in Deutschland, München 1988, 12.
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Jürgen Brokojf/ Bemd U. Sd,,'pper
gen zum Thema gezeigt, dass der Terminus auch anband seiner sprachlichen Funktion auf der Ebene des Textes selbst bestimmt werden kann. Er ist dabei nicht so sehr als eine »Symbolik: der Erfahrungsauslegung« (Klaus Vondung) S zu verstehen, sondern als eine Redeform, der eine konkret bestimmbare Funktion innerhalb eines geistesgeschichtlichen Diskurses zukommt. )Apokalyptik< wird hier zu einer gewaltsamen Rede, die keinen Diskurs eröffnet, sondern ihn beendet. 6 Die so bestimmte >Apokalyptik:< zeichnet sich nicht durch eine bestimmte Geisteshaltung aus, sondern erweist sich als eine sprachliche StruktUT.
Stehen sich somit auf literaturwissenschaftlicher Seite mindestens zwei Möglichkeiten, >Apokalyptik< zu denken, gegenüber, so ist dies im Rahmen der bibelwissenschaftlichen und religionsrustorischen Forschung nicht anders . Der Grund hierfür liegt nicht zuletzt im Begriff selbst. Das griechische Wort Ct1tOXcXAIJo/tC;;, fmdet sich zwar in einigen antiken Texten (prominentestes Beispiel ist der Prolog der Johannesoffenbarung, Off. l , l),jedoch bezeichnet sich keiner dieser Texte als >Apokalypse<. Es handelt sich bei den Begriffen >Apokalyptik, Apokalypse< letztlich um wissenschaftssprachliche Kunstworte 7 • die als solche zwangsläufig höchst unterschiedlich bestimmt werden können. 8 Das Tertium comparationis der verschiedenen Defmitionsversuche besteht allein darin, dass sie jeweils durch Zuordnung oder auch Ausgrenzung bestimmter Texte zu ihren Begriffsbestimmungen kommen; es handelt sich - methodisch gesprochen jeweils um die Ergebnisse spezifischer LektÜTeverfahren. An diesem Punkt setzt der vorliegende Band an. Er möchte zu einer Klärung der Begriffsbildung beitragen und der Verwendungsweise der Begriffe in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen nachspüren . Ziel ist es, die in denjeweiligen Fachdisziplinen entwickelten Vorstellungen und Konzepte von >Apokalyptik< in ein interdisziplinäres Gespräch zu bringen. 9 Dabei werden bewusst Fachwissenschaften miteinander korreliert , die Texte zum Gegenstand haben und sich mit TextIektüren befassen. 10 Diese TextIektÜTen sollen einander gegenüber-
S Vondung, a.a.O., 48.
6 Dazu J. Brokoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 200 J. 7 P. Vtelhauer, Geschichte der urchristlichen Uteratur, BerlinlNew York 21978, 486. 8 Vgl. dan- F. Dexinger, Henochs Zehnwochenapokalypse und offene Probleme der Apoka1yptikforschung, Leiden 1977 (StPB 29), 6f. und den knappen Überblick zu verschiedenen Dcfmitionsversuchen bei Bedenbender, Gott, 33- 6l. 9 Damit unterscheidet sich das Anliegen dieses Bandes von anderen Versuchen, wie z. B. dem Sanunelband von W. Bader (Hg.), ))Und die Wahrheit wurde hinweggefegt«. Daniel 8 Linguistisch interpretiert, TübingeniBasel 1994 (fHLI 9), der zwar verschiedene Lektüreverfahren bietet, jedoch nicht den Apokalyptikbegriff als solchen the matisiert. 10 Vgl. zu )Apokalyptik( und Messianismus im ethnologische n Bereich W.E. Mühlmann, Qliliasmus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, Berlin 2 1964 und als Fallbeispiel A. Lommel, Der ))Cargo-Kuh« in Melanesien. Zeitschrift für Ethnologie 78 (I953) 17-63.
Einleitung
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gestellt werden. Bibel- und Religionswissenschaftier, Dogmatiker, Philosophen, A1thistoriker und Literaturwissenschaftier untersuchen von ihrem Blickwinkel aus ein Corpus ausgewählter Texte und stellen so exemplarisch ihr jeweiliges Lektüreverfahren vor. Die skizzierte Fragestellung soll in der Folge anband der Lektüre von vier Texten untersucht werden. Diese Texte stammen aus zwei unterschiedlichen Bereichen, die bislang in dieser Form noch nicht Gegenstand einer Untersuchung waren: Das Phänomen der Apokalyptik soll an einem antiken Text und an drei Texten der Aufklärung untersucht werden.
I. Antike Apokalyptik Für den Bereich der Antike wurde das alttestamentliche Buch Daniel ausgewählt, das seit Beginn der bibelwissenschaftlichen Apokalyptikforschung immer wieder Ausgangspunkt einer inhaltlichen Bestimmung dessen war, was von bibelwissenschaftlicher und religionshistorischer Seite aus unter ~Apoka lyptik< verstanden wird. II Bereits der Begründer der modemen Apokalyptikforschung, Friedrich Lücke, ging in seiner wegweisenden Studie zur Offenbarung des Johannes aus dem Jahr 1832 auch auf die andere »apokalyptische Litteratur« seiner Zeit ein und äußerte sich dabei u.a. zum alttestamentlichen Danielbuch. 12 Dabei bestimmte Lücke den von ihm geprägten Begriff )Apokalyptik< als die Enthüllung zukünftiger, am Ende der Weltperiode eintretender Ereignisse. Apokalyptik bezeichnet >~nicht bloß das Bekanntmachen des Verborgenen überhaupt, sondern, vorzugsweise auf das Geheimnis (!Luaflpwv) {sic!] des göttlichen Reiches oder des göttlichen Heiles bezogen, die Enthüllung eben dieses Geheimnisses auf dem Grund göttlicher Offenbarung«. 13 Während Lücke den Schwerpunkt auf die Offenbarung des Johannes legte, nahm sein FachkoUege Adolf Hilgenfeld vor allem das Danielbuch in den Blick. Hilgenfeld interessierte sich rur die »geschichtliche Entstehung der Apokalyptik« und sah diese wesentlich durch die »Verflechtung« der Geschichte des jüdischen Volkes mit der Geschichte der sie umgebenden Weltreiche bestimmt. 14 Beide Forscher, Lücke und Hilgenfeld, bereiteten durch ihre Arbeiten den Boden für alle weitere Forschung zum Thema. Dabei standen über ein Jahr11 Vgl. daVJ den forschungsgeschichtlichen Überblick bei J.M. Schnlidt, Die jüdische Apokalyptik.
Die Geschichte ihrer Erforschung von den Anfangen bis zu den Textfunden von Qumran, Neukirchen-Vluyn 21976. 12 Commentar über die Schriften des Evangelisten Joh. IV, I. Versuch einer voUständigen EinJeitung in die Offenbarung Johannis und in die gesammte apokalyptische Uneratur. Bonn 1832 (2 1852). 13 Lücke, a.a.O., 23. 14 Die jüdische Apokalyptik in ihrer geschichtlichen Entwickelung, Jena 1857. Auszüge daraus sind wiederabgedruckt bei K. Koch/J.M. Schmidt (Hg.), Apokalyptik, Dannstadt 1982 (WdF 365), 41 - 54.
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Jürgen Brokoff/ Bemd U. Schipper
hundert lang vor allem die )biblischen< Apokalypsen, namentlich das Daniel· buch und die Offenbarung des Johannes, im Mittelpunkt des Interesses. Dies änderte sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung der Qumrantexte. Durch die Funde neuer aramäischer Fragmente des Henochbuches ergab sich ein völlig anderes Bild. Es zeigte sich, dass die frühen Texte der Henochtradition, wie z. B. das astronomische Buch. das Wäcbterbuch, die TIervision und die Zehnwochenapokalypse zum Teil bis ins 3.Jh. v.ehr. datieren und somit deutlich ä1ter sind a1s das biblische Danielbuch,ls Wenn in diesem Band nun wieder beim Danielbuch eingesetzt wird, so soll dies keine Rückkehr zu einem längst überholten Forschungsstand darstellen, der sich zudem in den Grenzen des biblischen Kanons bewegt. Vielmehr gilt
es generell zu bedenken, dass die antik-jüdische Apokalyptik weder allein an biblischen Texten festgemacht werden kann, noch bibelwissenschaftlich enggefiihrt werden darf. Eine Sichtweise, welche die apokalyptischen Schriften des antiken Judentums einlinear aus dem Alten Testament herleitet und genauso eindimensional ins Neue Testament überführt 16, ist angesichts der Breite der apokalyptischen Literatur des antiken Judentums forschungsgeschichtlich überholt. 11 Andererseits war jedoch das Danielbuch für die Entwicklung der Apokalyptikforschung nicht nur besonders prägend, sondern bildet auch den Ausgangspunkt einer Rezeptionsgeschichte, die über das Neue Testament bis in die christliche Tradition wirkt. 18 Gerade die Vision von den vier Tieren in Dan 7 hat alle weitere Apokalyptik stark geprägt, angefangen von der Offenbarung des Johannes (Offb 13) über die mittelalterliche Eschatologie bis hin zur jüngeren europäischen Religionsgeschichte. 19 So bietet es sich an, die Danielvisionen in den Mittelpunkt der Textlektüren zu stellen, wobei die einzelnen Beiträge zeigen, dass rur die Erhebung dessen, was man unter )Apokalyptik< verstehen kann, der Blick über die Kanongrenzen des Alten oder Neuen Testaments hinaus erforderlich ist. 15 Grundlegend dem F. Garcia MartinezJE.T.C. Tlgchelaar, The Books of Enoch (I Enoch) and the Ar.unaic Fragments from QUmnllI, RQ 14 (1989/90) 141 - 146.
16 Beispielhaft sei an den berühmten Satz des Neutestamentlers Ernst Käsemann erinnert, nach der die Apokalyptik die »Muner aller christlichen Theologie« ist, was letztlich in einer Sichtweise begründet war, welche die Botschaft Jesu vom nahenden Gottesreich allein vor dem Hintergrund der apokalyptischen Tradition bestimmen wolhe. vgl. dazu K. Müller, Art. lApokalyptikl Apokalypsen 111<, TRE 111 (1978) 202(. 11 Vgl. dam den Forschungsbericht von S. Beyerle. Die Wiederentdeckung der Apokalyptik in den Schriften Altisraels und des Frühjudentums, VuF 43 (1998) 34-59. 18 Vgl. zur Rezeption von Danieltexten im Neuen Testament den Überblick. von A. Yarbro Co1lins, The lnßuence of Dameion the New Testament, in: JJ. Co!lins, DanieI. A Commentary on the Book of Dame! (Henneneia), Minneapolis 1993. 19 Vgl. fur das MinelaIler z. B. Guibert von Nogenl, Dei Gesta per Francons 190 mit Bezug auf Dan 7.24. Dazu C. Auffarth, Irdische Wege und himmlischer Lohn. Kreuzzug, Jerusalem und Fegefeuer in re1igionswissenschaftlicher Perspektive. Göningen 2002 (MPIG 144), 114f. mit Anm. 185.
Einleitung
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Der Alttestamentler SIe/an Beyerle fragt in seinem Beitrag nach den theologischen Traditionsrusammenhängen der Ziegenbockvision von Daniel 8. Ausgangspunkt ist eine dezidiert theologische Fragestellung: Ist das Gottesbild der antik-jüdischen Apokalyptik wesentlich durch die Vorstellung eines transzendenten Gottes geprägt oder lässt sich nachweisen, dass Gott auch immanent gedacht wird? Diese Frage wird anband einer Exegese von Daniel 8 beantwortet, bei der auf methodischer Ebene ein Lektüreverfahren Anwendung findet, das als traditionsgeschichtlich und sematologisch bezeichnet werden kann. Beyerle trägt dem Umstand Rechnung, dass zur Bestimmung der Eigenart apokalyptischer Texte deren Motivinventar berücksichtigt werden muss und dies nur unter Heranziehung anderer Texte, sowohJ alttestamentlicher als auch >zwischentestamentlicher<, wie insbesondere der Qumranschriften, erfolgen kann. Dieser methodische Ansatz ermöglicht es ihm konkret, durch den Vergleich des Motivinventars von Daniel 8 und Damel 7, die Ziegenbockvision von Daniel 8 der gleichen historischen Situation wie Daniel 7 zuzuordnen. Seiner theologisch ausgerichteten Fragestellung folgend~ kommt Beyerle zu einer neuen Aussage bezüglich des Gottesbildes der Apokalyptik: 1m apokalyptischen Denken sind Immanenz und Transzendenz miteinander verwoben und - theologisch gesprochen - mit göttlicher Wrrksamkeit durchdrungen . Es wäre demnach verfehJt, das Wrrken der Gottheit allein dem transzendenten Bereich zuzuschreiben, vielmehr vollzieht sich durch die Epiphanie die Durchmischung von immanenter und transzendenter Welt. Dies wird vor allem am Geschichtsentwurf greifbar, bei dem >Geschichtee weder real abgebildet noch konstruiert wird . Geschichte erscheint im Horizont der durch Gort gewirkten Weltordnung und bekommt dadurch eine Funktion jenseits bloßer Ereignisgeschichte. >Geschichte< wird in apokalyptischen Texten zur Sinngeschichte. 20 Besteht somit das Spezifikum einer theologischen Lektüre der Geschichtsentwürfe des Danielbuches gerade in der Betonung der essentiellen Verbindung von Ereignisgeschichte und göttlicher Metahistorie, so versucht der Historiker an dieser Stelle scharf zu unterscheiden. Der Althistoriker und Ägyptologe Andreas Blasius thematisiert in seinem Beitrag den Umgang mit dem Danielbuch im Rahmen der althistorischen Forschung und liefert damit zugleich einen Einblick in die Auseinandersetzung und lnstrumentalisierung des Danielbuches in antiken und aktuellen Diskursen. Die Beantwortung der Frage, ob die im Danielbuch geschilderten Ereignisse >wahr< oder >unwahr< sind - und somit die Beantwortung der Frage nach dem profanhistorischen Gehalt - kann zur Bewertung eines Autors als glaubhaft oder nicht-glaubhaft führen. Dementsprechend wurde sie im anti- bzw. prochristlichen Konflikt des ersten bis
20 Zum Beg. iff der Sinngescruchte vgl. J. Assmann, Ägypten. Eine Sinngescruchte. MünchenlW!en 1996. 11.
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Jürgen Brokoff/ Bemd U. Sdlipper
dritten Jahrhunderts n. Chr. vielfach diskutiert (Porphyrios, Adversus Christianos 12). Blasius untersucht den realhistorischen Charakter der apokalyptischen Geschichtsentwürfe. Interessant ist dabei der Umgang der Historiker mit den Texten selbst. Es scheint die Eigenart der apokalyptischen Geschichtsentwürfe auszumachen, dass diese vom Leser auf die eigene Zeit bezogen werden können . So sieht etwa der jüdische Historiker Josephus auch die Zerstörung des sogenannten zweiten Tempels im Jahr 70 n . ehr. im Danielhuch angekündigt, d. h. er betrachtet den Danieltext nicht einfach als einen Geschichtsentwurf aus ferner Vergangenheit, sondern bezieht ihn auf die eigene Zeit. Dabei vollzieht sich hier in der Praxis das, was der Beitrag von Stefan Beyerle in bezug auf die Theorie betont hat: Apokalypsen sind Sinngeschichten und fungieren als hermeneutische Schlüssel zur Deutung aktueller Welterfahrung. Letztlich stehen sich damit zwei im Grundansatz völlig entgegengesetzte Formen des Umgangs mit dem Danielbuch gegenüber: einerseits der Ansatz des Josephus, der die Danielapokalypse auf seine eigene Zeit bezieht und zur Sinn stiftung erlebter Geschichte heranzieht, und andererseits der Ansatz des Porphyrios, der im DanieJbuch keine Möglichkeit der Gegenwartsdeutung sah, sondern vielmehr durch die Untersuchung der )Profanhistorie( und Ereignisgeschichte die Dignität der Apokalypse anzweifeln wollte. Der Religionshistoriker und Ägyptologe Bemd U/rich Sdllpper vertritt in seinem Beitrag einen religionsgeschichtlichen Ansatz. Dabei korreliert er zwei Texte, die in dieser Form bislang noch nicht miteinander verglichen wurden : Daniel 7 und das sogenannte )Lamm des Bokchoris<. Beide Texte nehmen auf das gleiche historische Ereignis Bezug, in beiden Texten wird in kodierter Sprache auf den SeJeukidenherrscher Antiochos IV. Epiphanes angespielt. Schipper verbindet in seinem Beitrag einen religionsvergleichenden Ansatz mit einer kulturwissenschaftlichen Fragestellung . Ziel ist es, die Anfange und zugleich Wurzeln der Apokalyptik näher zu bestimmen: Inwiefern handelt es sich bei der Apokalyptik des antiken Judentums und der Eschato logie der prophetischen Literatur aus dem griechisch-römischen Ägypten um jeweils kulturspezifische Reaktionen auf eine kulturübergreifende Problemlage? Hat letztlich eine als transkulturell zu bezeichende Krisensituation zu dem geführt, was man im antiken Judentum als Apokalyptik bezeichnet ? Auf methodischer Ebene besteht der Ansatz des Artikels darin, die Texte zunächst vor dem Hintergrund ihrer jeweils eigenen, kulturspezifischen Sinn- und Symbolsysteme zu lesen. Das Lamm des Bokchoris wird mit Texten aus dem pharaonischen Ägypten korreliert, die Vision von Daniel 7 hingegen mit alttestamentlicher und antikjüdischer Literatur (I . Henochbuch). Dabei zeigt sich in beiden Bereichen eine ReJecture von Tradition: traditionelle Modelle der Weltdeutung werden auf eine neue Situation angewandt und angesichts der aktuellen krisenhaften Herausforderung modifIziert. In Ägypten führt dies zu einer Eschatologisierung des klassischen Maat-Schemas, im antiken Judentum hingegen zu einer Modifizierung
Einleitung
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spätprophetischer Traditionen. ln beiden Fällen erweist sich die Apokalyptik als eine Fonn kultureller Transfonnationen. Modelle der Weltdeutung werden aufgegriffen und eschatologisiert. Während die drei genannten Beiträge bei der Geisteshaltung )Apokalyptik( ansetzen, geht der Neutestamentler Michael Woller in seinem Beitrag vom Gattungsbegriff der )Apokalypse< aus. Er setzt beim Begriff selbst an und folgt in der Definition jenen Vertretern der Apokalyptikforschung, die von der Wortbedeutung des griechischen Wortes &1tOXcXA'IJ
erinnerten Story< und >der aktuell erlebten Story<.«22 Um die Aporie zu überwinden, bedarf es einer dritten Story, konkret, einer »offenbanen Story« in Fonn einer Apokalypse, die dazu verhilft, die bestehende »kognitive Aporie« zu überwinden. Letztlich kommt den Apokalypsen eine gleichsam seelsorgerliche Funktion zu. Sie wollen ihren Lesern die »kontrafaktische Gewissheit vermitteln, dass die Treue Gottes und die Zuverlässigkeit seines Verheißungwortes nach wie vor geschichtsbestimmende Faktoren sind«.
21 Vgl. auch H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde für die Erforschung der Apokalyptik, in: D. Hellholm (Hg.). Apocalyplicism in Ihe Mediterranean World and Ihe Near EasI, Tübingen 21989,495- 530. hier: 498. 22 Alle in der Folge genannlen Zitale beziehen sich auf die entsprechenden Artikel der genannten Autoren in diesem Band.
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Jürgen Brokojf/ Bemd U. Schipper
Die Beiträge des ersten Teils zeigen, dass die jeweiligen Lektüreverfahren in einem Punkt konvergieren. Sie betonen jeweils als wesentliches Spezifikum apokalyptischen Denkens das Geschichtsverständnis. Apokalyptische Texte enthalten einen Geschichtsentwurf, der einerseits profanhistorische Ereignisse aufgreift, jedoch zugleich über diese hinausgeht. Es scheint die Eigenart der antiken Apokalypsen auszumachen, dass sie Geschichtsentwürfe bieten, die nach vorne offen sind, und die gleichsam zwischen ereignishafter, immanenter Geschichte und metahistorischer~ transzendenter Geschichte hin und her pendeln. Gerade dieses Element, verbunden mit einer Kodierung der Texte, ennöglicht es, dass die Texte auf die eigene Zeit bezogen werden und der Leser seine eigene Welterfahrung in den Texte einschreibt. Apokalyptische Texte scheinen auf Antizipation hin angelegt zu sein, sie fungieren durch ihren bewusst offen gehaltenen Geschichtsentwurf einerseits und die Symbolik und verschlüsselte Sprache andererseits als Modelle der Weltdeutung und können gerade dadurch dazu verhelfen, Konflikte der Welterfahrung zu lösen. Apokalypsen sind gleichsam hermeneutische Leseanweisungen rur die Lektüre von Weltereignissen, es sind Schlüssel der Weltdeutung. Als solche greifen sie bewusst auf kulturimmanente Traditionen zurück. So scheint in der Rezeption älterer Traditionen und deren gleichzeitiger Veränderung ein Wesensmerkmal antiker Apokalypsen zu liegen: Sie wollen Welt deuten, greifen dazu auf Tradition (»)stones«) zurück und verändern diese, um eine Perspektive zu bieten, die über die konkrete Welterfahrung hinausweist. Dass dabei Traditionen und Texte des kulturellen Gedächtnisses verarbeitet werden, lässt sich, angefangen vom griechisch-römischen Ägypten über das antike Judentum bis zum frühen Christentum nachweisen.
11. Apokalyptik und Au.fklänmg Dass zwischen Apokalyptik und neuzeitlicher Aufklärung eine Beziehung besteht, bedarf in mehrfacher Hinsicht der Erläuterung. Denn das apokalyptische Geschichtsdenken und die im Zeitalter der Aufklärung stattfindende )~Erobe rung der geschichtlichen Welt« 23 scheinen sich unversöhnlich gegenüberzustehen : Nicht der jähe und gewaltsame Untergang der verderbten Welt der Menschen, sondern die stetige und stufenweise erfolgende Vervollkommnung dieser Welt und der in ihr lebenden Menschen bildet das gedankliche Zentrum der Aufklärung. Die apokalyptische Vorstellung eines abrupten Endes, das durch den ))Einbruch der Transzendenz in die Geschichte« 24 gekennzeichnet ist, wird in der Aufklärung durch den Gedanken einer immanenten, d. h. innerweltlich 23 Vg. E. Cassirer, Die Philosophie der Aufldlirung, Hambwg 1998 (erstmals 1932), 263 . 24 G. ScOOlem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in : Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt a.M. 1970, 133.
Einleitung
17
und innergeschichtlich sich vollziehenden Vollendung ersetzt. In dieser Hinsicht erscheint das Geschichtsdenken der Aufklärung geradezu als eine Anti-Apokalyptik. Freilich lässt sich auch diese Anti-Apokalyptik noch auf die apokalypti-
sche Vorstellungswelt beziehen, indem nämlich der Gedanke der immanenten Vollendung als >SäkuJarisierung< der chiliastischen Lehre vom Tausendjährigen Reich verstanden werden kann. 2S Der Chiliasmus geht bekanntlich auf das zwanzigste Kapitel der Johannesapokalypse zurück, und seme >Säkularisierung< in Texten der Aufklärung besteht darin, dass dort dem gedachten Zustand der immanenten Vollendung kein Neues Jenlsa1em mehr nachfolgt. Über diese Unterschiede im Geschichtsdenken hinaus scheinen Apokalyptik und Aufldärung aber auch aufgrund der unterschiedlichen Prngmatik
ihrer Texte unvereinbar zu sein. Während apokalyptische Texte auf literarisch anspruchsvolle Weise um das »Geheimnis«26 (vom Ende der Welt) kreisen, d.h. dieses sowohl preisgeben als auch zu bewahren versuchen und darin der Gattung der esoterischen Schriften zuzurechnen sind, geht es den exoterischen Schriften der Aufklärung, auch und gerade in religiösen Dmgen, um Entmystifizierung und die Herstellung von Öffentlichkeit. Einer der wichtigsten Texte des englischen Deismus, der die Aufklärungstheologie des 18. Jahrhunderts entscheidend geprägt hat, benennt das Programm der Entmystifizierung bereits in seinem Titel: »Christianity not Mysterious« - Christentum ohne Geheimnis. 27 Und noch Immanuel Kant, der bedeutendste Befürworter einer Öffentlichkeit, die die Aufklärung »)Vorzüglich in Religionssachen«28 bef6rdem soll, verbindet in seiner 1796 erschienenen Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie seine Abwehr gegen alle »schwärmerische Vision« 29 mit der Kritik an der »Geheimniskrämerei« 30 der Visionäre, die venneinen, durch intellektuelle Anschauung eine »Erkenntnis des Übersinnlichen«3! in theoretischer Absicht enthüllen zu können. Ohne die Begriffe Apokalyptik nder Apokalypse zu verwenden, hat Kant bei dieser Kritik implizit auch diejenigen Schriften im Blick, die seit dem 19. Jahrhun-
dert apokalyptisch genannt werden. Zu diesem Ergebnis kommt der Philosoph Jacques Derrida, der in seiner Kant nachempfundenen Schrift Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie dessen aufklärerisches 25 Vgl. dazu H.G . Kippenberg, Apokalyptik. Messianismus, Chiliasmus, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg. v. H. Cancik u.a., Band 11, StuttgartlBerlinIKötn 1990,
9- 26.
26 Scholem, Verständnis, 129. 27 J. Toland. Christianity not Mysterious. London 1696. 28 I. Kant. Beantwortung der FrlIie: Was ist Aufklärung?, in: ders., Werkausgabe, hg. v. W. Weischedel, Band Xl, Frankfun a.M. 1977, 60. 29 I. Kant. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, in: ders., Werkausgabe, hg. v. W. Weischedel, Band VI, FranJcfurt a.M. 1977,396. 30 Ebd., 396. 3\ Ebd., 377.
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Jürgen Brokoff/ ßemd U. Scllipper
und anti·apokalyptisches Programm einer Entmystifizierung des »vornehmen Tons« analysiert. Derrida unternimmt diese Analyse aber nur, um in Kants Text selbst eine »apokalyptische Struktur«32 nachzuweisen. Bei diesem Nachweis versucht Derri~ Gemeinsamkeiten zwischen Apokalyptik und Aufklärung herauszuarbeiten. Diese Gemeinsamkeiten bestehen, zusammengefasst, nicht so sehr in einem ähnlichen lnhalt apokalyptischer und au1k1ärenscher Texte oder in einem vergleichbaren Geschichtskonzept, sondern sie beziehen sich. in sprachphilosopmscher Perspektive, auf den übereinstimmenden Wahrheitsund Geltungsanspruch dieser Texte. Methodologisch gesehen, fmdet damit ein Ebenenwechsel statt. Es geht nicht mehr darum, die Kontinuität oder Diskontinuität apokalyptischer VorsteUungsgehalte und der Erfahrungen, die diesen VorsteUungsgehaiten zugrundeliegen, in den Blick zu nehmen. Vielmehr rucken die rheto rischen Strukturen der Texte selbst in den Mittelpunkt des Interesses. Es geht, mit anderen Worten, um die Analyse einer Redeform . Derrida greift in seiner Untersuchung, die die Lektüre des Kant-Textes mit einer Lektüre der Johannesapokalypse verknüpft, auf jene Bedeutung des Wortes Apoka1ypse zurück, die vor aller einseitigen Fixierung auf den Begriff des Weltuntergangs bestimmend gewesen ist: Apokalypse als die Enthüllung und die Entdeckung der Wahrheit. Hierin scheint eine erste Gemeinsamkeit zwischen apokalyptischen und aufklärerischen Texten zu bestehen; denn dass es auch den letzteren um eine Enthüllung und Entdeckung der Wahrheit geht, könnte an ihrer Lichtmetaphorik, an a1l ihrem )Sehen<, )Offenbaren< und >Zeigen< verdeutlicht werden . 33 Im Anschluss an Derridas Analyse lässt sich in bezug auf den apokalyptischen Text sagen, dass dieser durch die Vermischung zweier Anspruche gekennzeichnet ist. So vermischt sich etwa der Anspruch der Johannesapokalypse, die Wahrheit über die Welt zu enthüBen, aufgrund ihrer eigenen Textualität, über die sie niemals hinauskommen kann, mit dem Anspruch, selbst diese Wahrheit zu sein . Wenn am Schluss der Jo hannesapokaJypse gesagt wird : »Diese Worte sind gewiß und wahrhaftig« (Offb 22,6), dann erhebt dieser Satz zum einen Anspruch auf die unbezweifelbare Wahrheit des zuvor dargestellten Geschehens, zugleich aber auch auf die unbezweifelbare Wahrheit der eigenen Darstellung, die Wahrheit dieser »Worte«. Der apokalyptische Text sagt: >Ich sehe die Wahrheit<, und er sagt zugleich: >Ich bin die Wahrheit<. Entscheidend ist nach Derrida, dass es dabei keineswegs um einen beliebigen Wahrheitsanspruch geht. Es handelt sich um eine »geoffenbane Wahrheit«34, die gemäß Derridas
)2
J. Derrida, Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in: den ..
Apok.alypse. GrazlWten 1985, 12. 33 Vgl. dazu etwa die Textbeispiele in H. Stuke, An. Aufklärung, in : Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. O . Brunner u .a., Band I, Stuttgart 1972, 250f. 34 Derrida, Apokalypse, 73.
Einleitung
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Analyse immer auch eine »Wahrheit des Offenbarens« 35 ist. Diese Wahrheit unterhält in doppelter Hinsicht eine Beziehung zum Ende. [m Fall der Johannesapokalypse ist es zunächst der Untergang der bisherigen Welt, auf den sie sich bezieht. Die Johannesapokalypse behauptet aber nicht nur, die Wahrheit über das Ende der Welt zu enthüllen, sondern die von ihr geleistete Enthüllung der Wahrheit tritt selbst mit dem Anspruch eines Endes auf. Es handelt sich hierbei um das Ende, die Beendigung des bisherigen Zustands der Unwahrheit: »Es ist nicht allein die Wahrheit als geoffenbarte Wahrheit eines Geheimnisses um das Ende oder des Geheimnisses des Endes. Die Wahrheit selbst ist das Ende, die Bestimmung, daß die Wahrheit sich enthüllt. ist die Vollendung des Endes.«36 Derrida vertritt nun die These, dass der doppelte Anspruch des apokalyptischen Textes auf Wahrheit und die damit verbundene Verdopplung des Endes nicht nur Schriften wie die Johannesapokalypse kennzeichnet, sondern auch aufldärerische Texte wie die zitierte Schrift von Kant. Dies ist paradoxerweise gerade dann der Fall, wenn das aufklärerische» Verlangen nach Erhellung, nach Kritik und Wahrheit«37 auf eine Entmystifizierung der Apokalyptik abzielt: »Alles, was jetzt ein Verlangen nach Entmysti6zierung bezüglich des apokalyptischen Tons. d. h. ein Verlangen nach Licht, hellsichtiger Wachsamkeit. nach erhellender Aufinerksamkeit oder nach Wahrheit inspiriert, das fmdet sich doch •• schon im Verlauf und ich würde sagen in der Ubertragung der Apokalypse, das ist bereits eine Zitation oder Rezitation von Johannes«38 . Und auch die für den apokalyptischen Text charakteristische Verdopplung des Endes fmdet sich nach Derridas Auffassung in aufklärerischen Texten wieder: »[W]enn Kant diejenigen angreift, die verkünden, daß es seit zweitausend Jahren mit der Philosophie ein Ende habe, dann hat er selbst mit dieser Grenzziehung, gegenüber nämlich einem bestimmten Typ von Metaphysik, eine andere Welle eschatologischer Diskurse in der Philosophie entfesselt. Sein Fortschrittsgeist, sein Glaube an die Zukunft einer bestimmten Philosophie, d. h. einer anderen Metaphysik, widerspricht nicht jener Verkündung der Endziele und des Endes.«19 Kant hat dabei zwar nicht wie die Johannesapokalypse den Untergang der Welt vor Augen, sondern den drohenden »Tod aller Philosophie«40. Aber die Wahrheit, die er gegenüber seinen apokalyptischen Gegnern beansprucht, bedeutet nach Derrida wie im FaU der Johannesapokalypse das Ende, die Beendigung des bisherigen Zustands der Unwahrheit. »Die Wahrheit selbst ist das Ende«41.
35 Flxl., 73. 36 Flxl.. 64. 37 Flxl., 59. 38 Flxl.. 73. 39 Flxl.• 54. 40 Kam, Ton, 386, 396. 41 Derrida, Apokalypse, 64.
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Im Kern geht es Derrida in seiner Analyse also darum, die Grenze zwischen dem apokalyptischen und dem aufklärerischen Text durchlässig zu machen. Er
versucht den Nachweis zu erbringen, dass Apokalyptik eine aufklärerische Ambition in sich birgt, wie umgekehrt Aufklärung von einer apokalyptischen Struktur durchzogen wird. Die These einer solchen wechselseitigen Durchdringung wird im zweiten Teil des vorliegenden Bandes zu überprüfen sein. Dabei intendiert die Frage nach der apokalyptischen Struktur von Außdärung keineswegs, Aufklärung - etwa im Zuge einer Vemunftkritik - normativ auf der >dunklen< Seite zu situieren und sie der Mystagogie zu berichtigen. Dass aber Aufklärung und apokalyptisches Geheimnis nicht nur in einem Verhrutnis schroffer Entgegensetzung stehen, lässt sich zeigen. Schon Kant bemerkte in seiner Schrift Das Ende aller Dinge von 1794, dass »die Vernunft [ ... ] auch ihre Geheimnisse« hat, und hatte dabei - ganz auOdärungskritisch - die Tendenz vor Augen, dass die Vernunft »sich nicht leicht mit ihrem immanenten, d, i, praktischen Gebrauch begnügt, sondern gern im Transzendenten etwas Wagt ,«42 So versteht sich die Frage nach der apokalyptischen Struktur von Aufklärung auch als ein - sprach analytisch orientierter - Beitrag zur Aufldärungsforschung, die inzwischen ein beeindruckendes Maß an fachspezifischer und interdisziplinärer Ausdifferenzierung erreicht hat. 43 Um das Verhältnis von Apokalyptik und AufkJärung, das - mit Ausnahme der Studie von Derrida - noch nie einer genaueren Analyse unterzogen wurde, bestimmen und damit Derridas Fragestellung weiterführen zu können, ist eine Untersuchung konkreter Texte notwendig, Die Beiträge des vorliegenden Bandes machen dabei deutlich, dass die untersuchten Texte der Aufk1ärung auf ganz unterschiedJiche Weise in einer Beziehung zur Apokalyptik stehen. Der Literaturwissenschaft1er Jürgen Fohrmann zeigt in seinem Beitrag, dass Johann Gottfried Herders Schrift Johannes Offonbanmg. Ein heiliges Gesicht von 177 5 nur auf den ersten Blick eine historische Exegese der Johannesapokalypse betreibt. Das Ziel von Herders paraphrasierendem Kommentar besteht vielmehr darin, zwischen dem eigenen Text und der Johannesapokalypse ein analogisches Verhältnis aufzubauen. Dadurch soll der Herdersche Text in die Lage versetzt werden, die perfonnative Kraft des neutestamentlichen Textes fiir seinen eigenen Geltungsanspruch zu nutzen. Dieser Geltungsanspruch manifestiert sich - analog zur Johannesapokalypse - in der Herbeiführung einer Entscheidungssituation, in der die Leser des Herderschen Textes gezwungen sind,
42 I. Kant, Das Ende aller Dinge, in: den., Werkausgabe. hg. v. W. Weischedel, Band XI , Frankfurt a.M. 1977, 184f. 43 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die soziaJgeschlchtlich ausgerichteten Arbeiten G . Sauder, ,DunklC( Aufklärung, in: Das achtzehnte Jahrhundert 21 , 1997, 61 - 68; M. Neugebauer-Wöl1c (Hg,), Aufklärung und Esoterik, Hamburg 1999; M. Voges, Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Verminlung von Literatur- und Sozialgeschlchte am Beispiel des Geheimbundmaterials im Roman des 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987.
Einleitung
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die von ihm mitgeteilte Offenbarung anzunehmen oder aber zu den ))Lauen« zu gehören. Dabei werden die Grenzen zwischen dem kommentierten und dem kommentierenden Text dergestaJt verwischt, dass auch Herders Text fur sich selbst einen Offenbarungscharakter reklamiert. Den eigenen Offenbarungscharakter fuhrt der Herdersehe Text nicht zuletzt deshalb ins Feld, weil er der im 18. Jahrhundert unübersehbar werdenden Vielzahl der Apokalypsekommentare begegnen will. Herders Umformung der Hermeneutik der Apokalypse in eine apokalyptische Hermeneutik geschieht dabei im Namen einer Aufklärung, die alle dazwischengeschaltete (und folglich distanzierende) Kommentierung zu überwinden trachtet: »Lasset uns mit hellem, natürlichen Auge lesen, wie die sieben Gemeinen, und keinen Schlüßel als nothwendig wähnen.«44 In Gotthold Ephraim Lessings Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts von 1780 ist das Verhältnis von Apokalyptik und Aulklärung anders strukturiert. Wie der Germanist Jürgen BrokoJ[ in seinem Beitrag ausfuhrt, übernimmt Lessings Schrift von der Apokalyptik - ungeachtet aller inhaltlich-konzeptionellen Unterschiede - deren Redefonn. Die Übernahme der apoka1yptischen Redeform betriffl dabei sowohl den auf das Ende der Geschichte bezogenen Wahrheitsanspruch als auch die performative Beendigung des Zustands der Unwahrheit. Letzteres fuhrt in Lessings Erziehungsschrift im Hinblick auf die Aufklärung zu einer paradoxen Struktur. Zum einen sieht Lessings geschichtsphilosophisches Konzept den Endzustand einer )völligen Aufklärung« vor, der nur sukzessive erreicht werden kann, zwn anderen aber wird durch die apokalyptische Redefonn von Lessings Text der unvennittelte Einbruch dieser »völligen Aufklärung« in den Text performativ in Szene gesetzt. Damit wird aber gerade jene Aufklärung wieder in Frage gestellt, deren Beforderung sich der Text verschrieben hatte. Diese paradoxe Verbindung von geschichtsphilosophisehern Aufklärungskonzept und apokalyptischer Redeform macht die Erziehungsschrift zu einem bedeutsamen Sonderfall unter Lessings Spätschriften. Immanuel Kants Schrift Das Ende aller Dinge von 1794 ist eines der wichtigsten Zeugnisse dafür, dass sich auch die Philosophie der Aufklärung im engeren Sinne mit der Apokalyptik beschäftigt hat. Der Beitrag des Philosophen Torsten Hitz zeigt, dass Kants Auseinandersetzung mit der apokalyptischen Vorstellung eines »Endes aller Dinge« im Rahmen seiner praktischen Philosophie erfolgt. Es geht Kant in seiner Untersuchung nicht darum, aus einer theoretischen Gewissheit heraus das »Ende aller Dinge« vorherzusagen, sondern um die Klärung der Frage, warum sich die menschliche Vernunft ein solches Ende überhaupt vorstellt. Nach Kant hängt diese Vorstellung untrennbar mit dem Bestreben der Menschheit zusammen, einen Endzweck zu erreichen, der in der Verwirklichung des höchsten Gutes besteht. Weil das höchste Gut nicht 44 J. G . Herder, lOMnnes Offenbarung. Ein heiliges Gesicht, in : ders .. Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Berlin t 893, 6.
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unter Zeitbedingungen verwirklicht werden kann, die menschliche Vernunft sich aber dennoch nicht von der Idee des Endzwecks verabschieden will, muß die menschliche Vernunft ein »Ende aller Dinge« annehmen. Diese Annahme erfolgt aber nur in praktischer, nicht in theoretisch-spekulativer Absicht. Man kann im Falle Kants von einer Ethisierung der Apokalyptik sprechen, die aufgrund einer durchgängig praktisch-philosophischen Ausrichtung keinen apokalyptischen Wahrheitsanspruch im Sinne Derridas mehr erhebt. Die ethische Ausrichtung von Kants Schrift Das Ende aller Dinge steht auch im letzten Beitrag dieses Bandes im Blickpunkt. Der Theologe Jose! Wohlmuth weist anband einer detaillierten Analyse nach, dass Kants Schrift das Ziel einer Ethisierung von Eschatologie und Apokalyptik verfolgt. Von entscheidender Bedeutung ist dabei - neben der Kantischen Zeitreflexion - der Übergang der Schrift in einen weisheitlichen Diskurs, der zwischen der göttlichen und der menschlichen Weisheit strikt unterscheidet. Die Abkehr vom theoretischen Wissen des Kommenden und die damit verbundene Hinwendung zur Ethik bestimmen aber nicht nur Kants Position. Auch Emrnanuel Levinas' Philosophie wird durch sie bestimmt. ObwohJ Levinas mit seiner Kritik an einer vernunft- und rein diesseitig orientierten Philosophie zunächst auch Kant zu treffen scheint, geht es Levinas ähn1jch wie Kaut um eine Umformung der Eschato-Logie in eine Eschato-Ethik. Allerdings zeigt sich bei Levinas im Vergleich zu K.ant ein radikaJeres Denken des Subjekts, dessen Verantwortung weder protologisch noch eschatologisch >begründet< werden kann . Die entscheidende Frage für die Theologie lautet, ob durch solche philosophischen Interpretationsversuche die dogmatische Lehre von den letzten Dingen erledigt sei. Karl Rahners christologisch gefasste Eschatologie und die »unzeitgemäße« Apokalyptik von Rahners Schüler Johann Baptist Metz scheinen eher auf das Gegenteil hinzudeuten. Dabei stellt die Re-Apokalyptisierung der Theologie nicht notwendigerweise eine Rückkehr vor die Aufklärung dar. Es könnte nämlich sein, dass damit nur der zwischenzeitlich stillgelegte ethische Impuls der Apokalyptik wieder aufgegriffen wird.
TEILA: DAS BUCH DANIEL ALSP IGMA ANTIKER APOKALYPTIK
STEFAN BEYERLE
Die apokalyptische Vision in Daniel 8 J.
Hinfiihrung
Theologische Bedeutung bezeugen die Traditionen des apokalyptischen Danie)·
buchs in diversen Bezugssystemen, die wiederum sehr unterschiedliche Methoden bemühen. Etwa auftextgeschichtlicher Ebene können die Textgestalten aus Qumran sowie der Masoreten, der SephJaginta oder der Syriaca in ihrem Entstehungs- und Deutungsrahmen profiliert werden. Daran anschließend wären kanon- und rezeptionsgeschichtliche Aspekte zu beachten.' Außerdem sollte das bereits an terminologischen Eigentümlichkeiten (vgl. nur tz:Ilto' i~:l in Dan 7,13)' festgeschriebene mythologische Inventar in Dan 7- 12 Beachtung finden. So stellen die Anspielungen auf Heilsbringer. verortet »)zwischen Gott und Mensch«, den immer wieder betonten messianischen Aspekt im apokalyptischen Denken vor Augen. J Sodann wäre die besondere historische Situation zu beachten. Auch die ältesten Apokalypsen des äthiopischen Henochbuchs dürften nicht sehr weit in das 3. Jahrhundert v. Chr. zurück reichen. Somit entstammen die antik..jüdischen Apokalypsen einer Epoche, in der zwei »Kulturen«, »Judentum« und »HeUenismus«4, aufeinander stießen. Die lebenswirklichkeit und die damit eng verknüpfte Krisenbewältigung der Apokalyptik lässt den Blick also zunächst auf Traditionszusamrnenhänge aus heUenistischer Zeit und Kultur gerichtet sein. Die folgenden Ausführungen können natürlich nur einen Einblick in die traditionsgeschichtlichen Verweisungszusamrnenhänge des apokalyptischen Danielbuchs geben . Der gewählte geschichtstheologische Schwerpunkt begründet sich durch drei Beobachtungen: Zum einen legen Apokalypsen insgesamt signifikant ihr besonderes Augenmerk auf geschichtliche Erinnerung (vgl. nur die Zeh"woche"apokalypse [äthHen 93,1 - 10; 91,11 - 17] oder die Tierapokalypse I vgl. K. KDch, Kanonisierung, v.a. 9- 25. 2 Vgl. hierzu vorläufig K. Beyer, in: dersi l. Kotuieper, Art. t%ilM, 61. ) AUerdings fiillt auf, dass die i1teste jüdische Apokalyptik keinen eindeutigen messianischen Beleg ausweist; die Bedeutung des »weiBen BulJen41 in äthHen 90,37 ist höchst umstritten (vgl. die Diskussion bei G .w.E. Nickelsburg, I Enoch I, 406f). Möglicherweise ändert sicb dies erst unter christlichem Einfluss (vgl. etwa 4. Esr 13,1- 3 u. die Bildeiltdetl in itbHen 37- 71). Trotz der t~ logisch engen Verknüpfung von Messianismus und Apokalyptik (vgl. J. MoJtmann, Kommen, 167- 182) saUte man neutraler die Funktionen einer Heilsmittler-Gestah im apokalyptischen Kontext beachten (vgl. etwa zur Fortschreibung der Tradition um den »MenschensohM C.H.T. Aetche,...Louis, Revelation, 247-298). 4 Vgl. zur PlOblematik dieser Unterscheidung jetzt JJ. Collins, Cult. v. a. 38-42, 52-55.
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Steflm Beyerle
[äthHen 85- 90]). Dann bietet auch das Danielbuch selbst in Dan 2; 7 und 1012 einen entsprechenden Entwurf. Zum anderen schließlich fmdet und fand die Geschichtskonzeption der Apokalyptik und vor allem des Danielbuchs in der Forschung besondere Berücksichtigung. S Hinzu kommt ein explizit theologisches Problem: UntersteUt man doch der antik-jüdischen Apokalyptik seit langem die Abwesenheit Gottes in ihren Geschichtsentwürfen. Eine Mutma-
ßung, die zumindest im deutschsprachigen Raum zur häufigen Missachtung oder Abwertung jenes Schrifttums im Kontext einer alttestamentlichen Theologie geführt hat. 6 Demgegenüber wäre schon an clieser Stelle festzuhalten : Gott begegnet in apokalyptischen Texten zwar trallSze"dien, jedoch niemals vom kosmischen Geschehen suspendiert. Neben seiner Bedeutung für die Traditionen der Apokalyptik besticht das Thema der )~Geschichte{( also auch durch seine besondere theologische Brisanz.
2. Die Danielapokalypse als geschichlslheologisches Werk Apokalyptik reflektiert Geschichte, i. S. v. »Geschehenem«, verweist dabei sowohl auf die Heilsgeschichte des Gottesvolkes als auch auf Ereignisse ihrer unmittelbaren Zeitgeschichte. 7 In diesen Zusammenhängen reflektiert das Geschichtskonzept auf Eindeutigkeit - auch wenn uns diese Eindeutigkeit nicht selten versteUt bleibt. Vom Standpunkt des »realen Autors<~ aus gedacht, ist der Blick zurück, auch wenn er als validnium ex evenlu etwa der Beglaubigung bzw. Legitimation dient, determiniert, quasi in der Abfolge der Ereignisse festgelegt. Dies ändert sich grundlegend, wenn man als Leser gemeinsam mit dem »impliziten Autof« den Blick nach vorne. in die Sphäre zukünftiger Geschehnisse richtet: Offenbarer. Offenbartes und Empfanger der Offenbarung scheinen nun nicht mehr eindeutig zu trennen, geschweige denn identifizierbar zu sein. 8 Zudem sorgt die Theophanie Gottes fiir eine Verschmelzung von Immanenz und Transzendenz. 9 Die hier zu beobachtende Eigentümlichkeit der »ApokalypSC«, die Auflösung aller Eindeutigkeit nach Sprach- und Sachgehalt, besitzt in der Reflexion auf Geschichte einen signifikanten Testfall. So wäre zu klären, ob der apokalyptische Rekurs auf Vergangenheit und Gegenwart, kurz: auf das Faktische, bereits über die innerweltliche Geschichte hinausgreift. :5 Vgl. dan. vorerst die Diskussion bei W.R. Murdock, Geschichte. v.a. 379- 393.
6 Dagegen wendet sich vehement die Albe;t von S. Beyerie. Zeichen, panim. 7 Für die Danielapokalypse sei hier nur auf die Identifizierung des ~k1einen HomSt( in Dan 8,9 (vgl. 7,8) mit Antiochus IV. Epiphanes verwiesen. 8 Vgl. den Empfänger der Offenbanmg, JOhannes, nach Oflb 1.1 - 3 mit dem Offl!tlbi1rer Johannes nach Oflb 1,9 (5. dazu J. BrokolT, Apokalypse, 19 u. 24-28, der sich mit J. Ikrrida, Apokalypse, panlrn. auseinandersetzt). 9 Vgl. zum Wöduerbuch (älhHen 1-36) und zum Astronomixlu!n Buch (älhHen 72-82) S. Beyerle, Zeichen, 65- 137.
Die apokalyptisdle Vision in Daniel8
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Die Forschung zu Dan 7-12 diskutiert seit geraumer Zeit insbesondere das geschichtstheologische Konzept der einzigen Apokalypse in der hebräischen Bibel. Dabei lag und liegt der Schwerpunkt immer wieder auf dem in Dan 2 und 7 identifizierten Vier-Reiche-Schema. 1O Hieran entzündete sich in der deutschsprachigen Forschung des 20. Jahrhunderts der Streit um die Geschichtsauffassung der Apokalyptik überhaupt. Es stehen sich dabei nach wie vor insbesondere die Positionen M. Noths und K. Kochs gegenüber: Noth vermutet den Ursprung des in Dan 2 und 7 ausgebreiteten Schemas der vier Weltreiche im 7. und 6. Jh. v. ehr. 11, dem erst in seleukidischer Zeit aus Gründen der politisch-religiösen Opposition als viertes das Makedonenreich hinzu gewachsen sei. 12 Wichtig ist~ dass das Geschichtsbild nicht Ereignisgeschichte im Sinne realitätsbezogener. exakter Wiedergabe von Geschehenem vennitteln möchte, sondern die bevorstehende Gottesherrschaft in den Blick nimmt, die wiederum einer in sich weitgehend Sinn entleerten Weltgeschichte gegenüber gesteUt erscheint. 13 Diesem weitgehend negativen Bild einer apokalyptischen Geschichtshenneneutik setzt Koch das Verständnis einer universaJgeschichtlichen Weltschau im Danielbuch insgesamt entgegen, die mit drei Weltepochen rechne: Anfangs stehe die Zeit des selbständigen Israel, gefolgt von der Epoche der vier Weltreiche (Dan 2 und 7). Am Ende finde sich das »ewige Reich« der verwirldichten Heilshoffnung. 14 Zudem betont Koch gegenüber Notb die Einbindung des eschatologischen Heilsziels in die Geschichtskonzeption, was letztlich auch der angeblichen ~)GottJosigkeit« im apokalyptischen Determinismus widerspricht. 1s Stellt man vorerst die Frage nach der Textevidenz im Danielbuch zurück, sprechen die Argumente eher fur die These Kochs. Apokalyptisches Denken zeichnet sich doch gerade durch die stete Korrelation von Immanenz und Transzendenz aus, und der chronologisch gedachten Endzeiterwartung entspricht 10 Neuerdings vermutet H . Utzschneider, Michabuch, 228, 240f, dass wegen Mi 4, I und 4,8 (LXX) auch der Aufriss des griech. Michabuehs eine apokalyptische Geschichtsauffassung voraussettt . 11 Als Grund für seine Datierung gibt Noth an, dass sich nur zwischen dem Ende des 7. !h.s v. Chr.
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(Ende des AssyreITeichs durch Neubabyionier und Meder) und der zweiten Hälfte des 6. Jh .s v.Chr. (Ende der medisch und neubabylonischen Reiche durch die Perser), also innerhalb von etwas mehr als 50 Jahren, gleich zwei Wechsel von einem übermächtigen Weltreich zum anderen vollzogen hatten (vgl. M. Noth, Geschichtsverständnis. 257 f.). Allerdings wurde die historisch angemessenere UnterteilWl8 in Assyrer - Meder - Perser Griechen im Danielbuch durch die Reihung BabyIonier - Meder - Perser - Griechen ersetzt (s.u.). Vgl. M. Noth, Geschichtsverständnis, 264f., 267, 271 - 273. Vgl. K. Koch, Geschichtsdenken, 283- 287, 302- 305, und die unmittelbare Auseinandersetzung mit den Thesen Noths: ebd .. 29M. Anm. 29. Vgl. K. Koch, a.a.O .. 297- 302. Die bereits erwähnte Abwesenheit Gottes im apokalyptischen Weltgeschehen wurde immer wieder in der älteren deutschsprachigen Exegese behauptet (vgl. die Auseinandersetzung mit entsprechenden Positionen bei K. Koch (mit T. NiewischlJ. Tubachj, Buch. 202- 205, und S. Beyerle, Zeichen, 4-13).
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Stefan Beyerle
die »axioJogische Eschatologit{( (nach P. Althaus: s. u., Anm. 61). 16 Beachtet man weiterhin die genrespezifische Beschreibung des Phänomens Apokalyptik, also die Gattung der »Apokalypse«, sind die Offenbarungsgegenstände stets sowohl auf zeitlich als auch auf räumlich determinierte Wrrldichkeiten hin orientiert, 17 Die von Noth rekonstruierte Gescruchtsschau würde also im Verständnis der zu Ende gekommenen Geschichte gerade das Spezifikum apokalyptischen Räsonierens ausklammern. Schließlich fuhrt die Wiederaufnahme des Schemas von den vier Weltreichen in Dan 7 auf die .-m~'o des »Volkes der Heiligen des Höchsten« hin (V. 27), die durch o,y qualifiziert ist. Und schon Dan 2 spricht in V.44 von einem ewigen Königreich, das der Hirnmelsgott aufrichten wird. Letztere NT11:>'O ist transzendent q'!3lifiziert, jedoch irdisch-politisch verfasst, während in Dan 7).7. am Ende des Kapitels, des aramäischen Danielbuchs wie auch als Abschluss und Ziel der MmJ?c-Konzeptionen, das Gottesvolk die ewige und damit jenseitige 18 Königsherrschaft verliehen bekommt. Dazwischen steht die ganz und gar dem Wunderhaften verpflichtete Beschreibung des jenseitigen Königreichs Gottes im Bekenntnis des Nebukadnezar (vgl. Dan 3,33).19 Somit ist also deutlich, dass die WeItreichVorstellung nicht mit dem letzten und grallsamsten Königtum Antiochus' rv. an ihre Grenzen stößt. Vielmehr zeigt sowohl die MmJ?C-Konzeption jeweils am Schluss von Dan 2 und 7 sowie am Ende des aramäischen Buchs insgesamt neben den dargestellten Differenzierungen und Abstufungen, wie sehr sich im Schema von den vier Weltreichen und seiner Verarbeitung im DanieIbuch Immanenz und Transzendenz sowie die damit einhergehende göttliche Wrrksamkeit durchdringen. Gerade in der ~~Dekodierung«( apokalyptischer Weltzeit durch Traumdeutung erweist sich die Geschichte aJs eine ) Sinngeschichte«20 . Zur genaueren Erläuterung dieser )Sinngeschichte« sei ein Beispieltext gewählt, der häufig im Schatten der exegetisch stark strapazierten Kapitel in Dan 2 und 7 steht, nämlich die Vision vom Widder, Ziegenbock, von der Abschaffung des täglichen Opfers und vom )~kJeinen Hom«( in Dan 8.
16 Entsprechend neigen neucre Ansätze eher der Geschichtsschau Kochs zu: vg!. O.S. Russen. Disclosurc. 86-91, und J.F. Hobbins. ffistory, v.a. 71- 76. der gar für syrBar (vgl. 4. Esra) zeigen will, dass Gott if7ll7UUle11l die Wende he,beifUhrt (vg.!. aber auch den ausgewogenen Exkurs ,.The Four K.ingdoms~ in JJ. Collins, Dan)el. 166-170: Li!.). 17 Val. JJ. CoIlins, a.a.O .. 54. 18 Vgl. auch die Qualifiziflung des Volkes mit P1 "~ '''''p. 19 Vgl. zur Bedeutung der 14Tl1:'1'O·K.onzeptionen für die Apokalyptik insgesamt S. Beyerle, Löwengrobe, 26-29. Die oben erläuterte und JJ. Collins zu verdankende Differcn%ierung fmdet sich ebd., 27. 20 Zum Begrifr »Sinngeschichte4t vgl. 1. Assmann, Ägypten, 15- 24 (vgl. dort auch zur Apoka1yptik etwa 418-430).
Die apokalyptische Vision in Daniel8
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3. Apokalyptische Weltdeutung als »Sinngeschichte« nach Daniel 8 Der Ägyptologe und KuJturtheoretiker J. Assmann beschreibt die Bedeutung von »Sinngeschichte« folgendermaßen: Geschichte und Sinn gehören zusammen . Geschichte ist daher eine zutiefst menschliche Angelegenheit. Wir produzieren sie, indem wir Sinn produzieren. Eine »Sinngeschichte« thematisiert Geschichte als kulturelle Fonn, wobei ihr ereignisgeschichtlicher Ablauf den Hintergrund und die sinnstiftenden und sinnreOektierenden Diskurse den Vordergrund bilden. 21
Man kann die Problemstellung noch präzisieren: Im apokalyptischen Weltbild ist nämlich Geschichte weder »produziert« noch )>eine zutiefst menschliche Angelegenheit«. Geschichte kann nur zur Sinnstiftung und -reflexion aufbrechen, wo sie als Reihung von Ereignissen und Fakten bereits grundgelegt ist. 22 Dieses Stadium ist in der apokalyptischen Literatur bereits überwunden, da im Horizont der durch Gott gewirkten WeitvoUendung die geschichtlichen Fakten gedeutet erscheinen. Insofern außerdem die »Apokalyp~( stets einen universalen Bezug hat, kann auch von »Weltdeutung« gesprochen werden. Der »sinnstiftende und sinnreflektierende Diskurs« drängt in apokalyptischen Kontexten die Ereignisgeschichte also nicht nur in den Hintergrund, sondern negiert diese geradezu. Und das überkommene Zentrum dieser Sinngeschichte, Subjekt und Objekt zugleich, nämlich der Mensch, ist nur noch als Akteur »anthropofugaler«23 Kräfte wirksam, gleichsam als Garant seiner Selbstauflösung.
3./ Die Bedeutung des Opfers im apokoiyptischen Geschichtsaufriss Jene Selbstauflösung thematisiert die Ziegenbock-Vision in Dan 8 in theologischer Ausgestaltung, wenn etwa das tägliche Brandopfer (,'on [n,y]: vgl. Ex 29,38-42; Ez 46,12-15)24 aufgehoben wird (Dan 8,11; vgl. V.12.13), also jene liturgische Form, die in nachexilischer Zeit den täglichen Kontakt mit Gott ermöglichte. Die Verbindung der Opfergabe mit der Lebensgewährung
21 J. Assmann, Ägypten, 11. Zur allgemeinen Problematik eines Sinn· bzw. Geltungsbezugs in der Reflexion auf »Geschichl~ sei auf die inzwischen zahlreichen Arbeiten zur Historik verwiesen (vgl. insbesondere die Aufsätze von J. Rüsen, Sinn, 17-47, und R. K.oseUeck, Sinn, 79- 97). 22 Als Beispiel kann auf die in der Antike zahlreich bezeugten Eponymenlisten verwiesen werden. Etwa der sog. ~Eponymenkanon l( dient a1s GrundJage zur Rekonstruktion der assyrischen Geschichte, ist dabei jedoch noch nicht »Geschichtsschreibung«. 23 Vgl. zu diesem Begriff U. Horttmann, Untier, ptUSim. 24 Vgl. zum ,'on H . Seebass, Art. Opfer, 263; J. Lust, Cult, 672f.
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ist schließlich schon ein allgemein-menschlicher Funktionszusammenhang 2S , dessen Besonderheit darin besteht, dass seine Aufrechterha1tung sowohl Folge als auch Vorausselzung des mit dem Opfer verbundenen Rituals ist. Im antikjüdischen Denken sind damit zwar genuin priesterliche Themen angesprochen, die jedoch auch die Gesamtheit des Gottesvolkes betreffen. Das bedeutet, dass sich in der Hybris des Antiochus (vgl. Dan 7,25) gegen die himmlische Sphäre die Trennung von Gott und Mensch überhaupt widerspiegelt. 26 Die historische Situation und die Verbindung zu Antiochus IV. wird dabei nicht nur am gemeinsamen Motivinventar von Dan 8 und 7 deutlich (vgl. etwa das »k1eine Horn«: 8,9 mit 7,8 [V. 24f.] u. Josephus Ant. 10,276; 12,251 - 253), sondern auch an der Anspielung auJ den »Gräuel deslr Verwüster.;/ ung« (00[1]"'[0] r 'p"'[~] ; vgl. 9,27) im »Delikt deslr Verwüster.;/ ung« (8,13 : 00'" Y "'''~1 ) 27. Und die Installation des ersteren steht in Dan 11 ,3 1; 12,11 parallel zur Abschaffung des täglichen Opfers. Geschichtstheologisch werden also zwei Ebenen sichtbar: Literarisch ist durch die Kurzform '~on (rur ,~on n7y). hier woh1 als nicht näher spezifizierter Gattungsbegriff für das Opfer sch1echthin gebraucht, bereits die zentrale Schandtat des Antiochus im apokalyptischen Endzeitgeschehen metonymisch benannt. Mit dem Ende des ,~on-Opfers endet auch die GouMensch-Beziehung. Damit ist die consummatio mundi bereits vorabgebildet. Historisch im engeren Sinne, also ereignisgeschichtlich, greift der Sinnzusammenhang um den Begriff ,~o n (vgl. Dan 8, 10- 14) auf den entscheidenden Einschniu im hellenistischen Judentum zurück, nämlich die D esakralisierung
25 Vgl. dazu W. Burkert, Anthropologie, 24- 27; ders .. Kulte, 50-73 mit 224-229 [Anm.), 181 - 184 mit 253f. (Anm.]. 26 Vgl. auch R.Q. Kratz. Visions, 103, desse.n literargeschichtliche Reko nstruktion, hier: einer Abhängigkeit des Abschnins in Dan 8,11 - I 4 von 7,25, jedoch sehr hypothetisch ist. 27 Vgl. dazu H. Seebass in: H. Ringgrenlders., Art. Y!$Q, 808. - Beachtet man die drei Konstruktionen, in denen im Danielbuch cot!) steht. begegnet je zweimal die Kurzfonn (Dan 8,13; 12.11) col']t!) und die Langfonn (Dan 9,27; I 1,31) co[,jtto eines Part. Polei von oolt wobei die heiden Kurzformen zugleich als trans. Pan. QaJ (vgl. auch Dan 9,1 8.26) identifiziert werden können (vgl. HAt 1446f.). Weiterhin gehört o.ot!) morphologisch in die Klasse der qälfllyiqlöl-Yerben, die im Grundstamm sowohl stativische, somit eher resultative ()Verwüstet«). als auch fientivische, somit eher progressive (»der verwüstet«) Bedeutung annehmen können (vgl. B.K. Waltke/ M. O'Connor, Introduction, 22.3 n, 0; 28.2c). Außerdem ist durch die Konstruktion nicht ersichtlich, ob oot!) amibUliv oder adjektivisch zu verstehen iS!. Entsprechend zahlreich sind dann auch die Übersetzungsvarianten in den äJteren Versionen wie in den modernen Kommentaren. Und schon an dieser SteUe setzt das Problem um den historischen Hintergrund des Begriffs an. Jedenfalls kennt die danielische Tradition gegenüber der maJdcabäischen Überlieferung keinen Hinweis auf die Aufstellung einer Statue für Zeus Ofyrnpios (vgl. 1. Makk 6, t - 5) bzw. Baal Schamern durch Anliochus IV.• eine exegetische Einsicht, die nur aw der Kombination der Angaben aus 2. Makk 6 mit Dan 11 ,31 gewonnen werden kann (vgl. aber etwa H. Gese, Bedeutun8. 211 f. ; ders .. Geschichtsbild, 196f.; zur Sache vgl. jeIZt F. Graf, Art. Zeus. 938 f.).
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des Tempels durch Antiochus IV. bzw. seinen Mysarchen Apollonius (vgl. 2. Makk6,1-7,42; I.Makk 1,29-63; Dan 11,29-35).28 Dass diese Interpretation zumindest im Blick auf das Danielbuch angemessen ist, ergibt sich allein schon aus der dreifachen Nennung von '~on gJeich im Anschluss an die für den apokalyptischen Aufriss bedeutsame Menschensohn-Theophanie mit der Lehre von den vier Weltreichen. Und auch innerhalb von Dan 8 begegnet das Opfer im Zentrum des Übergangs von Visionsschilderung und Deutung. 29 Zum anderen steht '~on in den beiden Dialogszenen mit einem Engel, die innerhalb der großen Abschlussvision (Dan 10,1 - 12,4) bzw. im epilogartigen Gespräch zwischen Daniel und einem Engel (12,8-13) bezeugt sind. Einmal wird das Opfer an entscheidender SteHe im Kontext der Desakralisierung des Tempels erwähnt (11,31), sodann im Anschluss an die Unverständnis anzeigende Bemerkung Daniels am Ende des Buchs (12,11)30, die auch die apokalyptische Henneneutik der gesamten hebräisch-aramäischen Komposition rekapitulierend zusammenfasst. Dies bedeutet, dass das »tägliche Opfen< nicht nur prominent ausgewiesen ist, sondern als Leitwort fungiert.
28 Zu den Ägypten-Feldzügen des Antiochus vgl. möglicherweise auch Sib 3,611- 61S und 4Q248,
deren Interpretation jedoch bisher keine Eindeutigkeit erbracht hat (vgl. E. Eshel, Sources, 388390; S. Beyerle, Zeichen, 362 Anm. 29). 29 Die Vv. 13 und 14 wird man wegen des auf das gesamte Kapitel verteilten Fonnelguts (vgl. V.I f.: Einleitung, »im J~ (V. I: m~::I ); V. 3- 14: VISion, . ich hob meine Augen und sah, und sae~ (V. 3: ;u", .,.-,", Ti' "~" ,]; V. 15-26: Deutung, »bei meinem Sehen\( (V. 15: 'lI" -n" "::I); V. 27 : Schluss, ltUIld ich Daniel. noch zur ViSion rechnen können, zwnallie die Deuttmg erst VOibereiten: vgl. O. P1öger, Buch, 126; vgl. auch S.8. Re-id, Enoch, 93f~ 103; JJ. Conins, Danaei, 328; anders etwa D. Bauer, Buch, 166, der v. 13-18 als ltCf"Zählerische Einleitung« der Deutung auffasst. Nicht zuletzt wegen des schwer zu deutenden Textes wurden V. 13 f., dann meist zusammen mit V. 11 f., häufig als literarischer Zusal%. eingestuft (vgl. etwa 8. Haulberger, Hoffnung, 17-20; zuletzt R.G. Kratz. Visions, 101 f., der auch V. 9f. zur Einschaltung rechnet). Zwei Aufflilligkeiten stechen hervor: V. 11 wechselt im Anschluss an die Vision von der Symbol-Ebene auf die der realen E:reignisgeschichte. da das IIHom« im Hebräischen fern ., die Verbform '-'1;1 jedoch mask. konstruiert, was nur auf die hinter dem .kleinen Horn. stehende Hensc:hergestalt direkt bezogen werden kann. Außerdem wechselt scheinbar das Genre. wenn V. 13 nach einer VISion nun eine Audition bietet (il1l1:l::"'). Während letzteres bestenfalls einen Gattungswechsel bezeK:Met, der literarhistorisch nX:ht isoI.iert ausgewertet werden sollte und wohl auch keine Schwierigkeiten bereitet, wird der oben erläuterte Gesc:hicht.sbezug in Dan 8 durch V. 11 ff. erst richtig deutlich (vgl. auch D. Bauer, Buch, 171). 10 Eine weitere Verbindung beider Unterabschnitte in Dan I I und 12 entsteht durch die auffatlige Trias filr .reinigen«, »läutern. in 11,35 und 12,10 ("1.,::1, '1"11, [:J'). Dabei geht es wn die esc:ha~ logische Läuterung des Einzelnen, die sowohl den sittlichen (vgl. "'::1 : Ps 24,4; 73,1 (vgl. V. 13]; IQS IX.15f. u.ö.) als auch den ku1tischen Geltungsbereich (vgl. 1'j"11: Ps 17,3; Mal 3,3; IQS Vltl,I - IO u.ö.) konsoziiert.
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Die Hervorhebung kultischer Bezüge im Endzeitdrama und damit im Kon-
text apokalyptischer Geschichtstheologie mag nur den zu überraschen, der die überkommene Trennung von ~>Theolcratie« und »Eschatologie« in Geltung weiß. 11 Dagegen haben rezente Untersuchungen den engen Bezug zahlreicher Apokalypsen zu priesterlich-kultischen Themen aufgewiesen (vgJ. nur äthHen 6- 11), womit eine Überwindung jener Trennung einherginge. 32 Die leicht unterschätzte Bedeutung des ,~cn-Opfers in der Daniel-Apokalypse passt also durchaus in das Bild, das andere jüdisch-apokalyptische Überlieferung im Blick auf priesterliche Themen zeichnen. Auch apoka1yptische Weltdeutung bedarf der Gottesnähe, die nicht unmittelbarer und zugleich angefochtener als im Opfer bzw. der kultischen Begehung abbildbar ist. Schon diese wenigen Anmerkungen, die den )U rnweg« über das Opfer einschlugen. zeigen, wie unsachgemäß die Rede von einer »Geschichte der Gottlosigkeit« in apokalyptischen Traditionszusammenhängen ist.
3.2 Die Geschichte als Vision in Dan 8 Die literarische Konzeption des Danielbuchs erweckt den Eindruck, die endzeitlich orientierte Geschichte sei nur in ihrer Wiederholbarkeit plausibel zu machen . Neben der Wiederaufnahme der Vier-Weltreiche-Idee aus Dan 2 in Kap. 7 wird auch die nähere Vergangenheit des Visionärs gleich zwei Mal thematisiert. EinmaJ ausführlich in der umfassenden Sch1ussvision (Dan 10- 12), dann zuvor im hier interessierenden Kap. 8. Trotz aller Differenzen in den Einzelheiten haben alle vier Geschichtskompendien eine Gemeinsamkeit: Sie sind aJs (Traum-)Visionen und somit aJs vaticinia ex eventu gestaltet. Geschichte hat also neben dem »realen« Standpunkt des Erzählers auch jenen »fiktiven« des Protagonisten Daniel. Und zur »apokaJyptischen« Geschichtsschreibung gehört außerdem, dass der Standpunkt des Erzählers im Erz.ählziel noch überboten wird. Jeweils ist die der Anfechtung ausgesetzte Situation des oder der Tradenten durch ein transcendens eingeholt und damit überwunden. Letzteres markiert beim Vergleich von Dan 10- 12 mit Dan 8 eine auffaIlige Differenz: Während nämlich die Vision von Dan 10-12 auf das Ziel der Auferstehung (I 2, 1- 3) hin ausgerichtet ist, hat Dan 8 die Restauration des Tempelkults nach dem Eingriff unter Antiochus IV. im Blick (vgl. V. 14: »Abende - Morgen,
31 Vgl. dazu O. Plöger, Theokratie, passim. 32 Vgl. dazu jetzt M. Himmelfarb, Ascent. v.a. 25-28 mit 125f. [Anm.l. wo sich die Autorin mit den "Thesen Plögers und P.D. Hansons auseinandel'setzl. Zum »Sitz im Leben« von Dan 8 formuliert JJ. CoUins, Daniei, 343: »... tbe central ooncem with the desecration of the temple does not necessari1y require that the authol' was a priest, but it bespeaks a stl"Ollg and immediate interest in the Jerusalem cuh.«
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2.300« 33). 34 Wollte man ausschließlich die )Transzendierung einer geschichtlichen Situation« zum Kriterium der Gattung »Apokalyptik« erklären. könnte streng genommen die zweite Vision der Daniel-Apokalypse nicht dem Genre genügen. sondern wäre eher der Idee der Restauration verpflichtet. Doch griffe letzte Schlussfolgerung zu kurz. Denn die Vision vom Widder und vom Ziegenbock betont am Ende den Geheimnischarakter des Geschauten. das fiir das Ende der Zeiten bestimmt sei (V. 26), dem sich der Tradent des Kapitels nahe wähnt." Dies bedeutet, dass die Heilshoffnung durch die Einbindung in ein durch Engel zu offenbarendes Geheimnis die vorfindliche W"trklichkeit übersteigt und damit über rein restaurative Ziele hinausgeht. 36 Schließlich bietet das Inventar an Bildern in Dan 8 Verweise auf kosm~ logisch-mythologische Sinnzusammenhänge. 37 Zum einen zeigt die Tiennetaphorik (Widder" '" und Bock/'"Ol) Anklänge, die die babylonische Astrologie in altpersischer Rezeption erinnern, wo beide Capriden als Namen von Sternbildern im Zodiakus bekannt sind. 38 Andererseits entwickelt Dan 8 eine Angelologie. die auf die Kap. 10-12 vorausweist. Da erscheint zunächst der Deute-Engel Gabriel in einer Angelophanie (Dan 8,15- 18; vg!. 9,21; 10,10- 13).
33 Vgl. aber auch die Angabe ...on »1.290 Tagen« für die Zeit (Dan 12,11), da der Opferkult in Jerusalem unmöglich war; an der Spekulation über die (Be-)Deutung der Angaben beteilige ich mich nicht. Erwähnt sei aber der Vorschlag O . P1ögers (...gI. ders .. Buch, 127, 130), der einerseits darauf ...erweist, dass die sich aus der Zeitangabe in Dan 8,14 ergebenden 1.1SO Tage annähernd mit der Zeit der Tempel-Entweihung (168/ 67- )65 /64 .... Chr.) übereinstimmen. Dann wäre fUr den historischen Standpunkt des Verfassers das Ende des genannten Zeitraums zu erwägen, da bei eits die enten militärischen Erfolge der Makkabäer die Hoffnung auf die Wledereinweihung des Jerusalemer Tempels nährten. Als zweite Interpretatkmsmöglichkeit erwägt P1öger, ob durch die Situierung am Ende der neubabylonischen Herrschaft unler 8elschazzar (...gI. Dan 5,1ff.; 8,1) nicht die Zeil zwischen der Entweihung der Tempelgeräle durch den Fremdherrscher und dem Kyros-Edikt gemeini sein könnte. 34 Vgl. hierzu J.1. Collins, Meaning, 163, und zuletzt G. Boccaccini, Calendars, 32tr., der diese Beobachtungen zu weiler reichenden Schlüssen für eine Unterscheidung in »henochische« und »danielische« ApokaJyplik nutzt. 35 Die FonnuJierung zur Bezeichnung einer langen zeitlichen Distanz in Dan 8,26, O'Y' 0'1:)" , begegnet zwar noch prophetisch (...gI. Ez 12,27), muss aber ruchl notwendig ein eschat010gisches Zeitmaß assoziieren, wie ihr Gebrauch etwa in einem kultischen Zusammenhang des Qumrantextes 4QTeharoi A (4Q274) Frgm. I, KoJ. I, 6 zeigt (s.u., bei Anm.. 62r.). 36 Zu ono vgl. neben Dan 8,26 noch Ps 5 I ,8; Dan 12,4. Außerdem wäre in diesem auf die Engel-Epiphanie in Dan 8,15- 18 zu verweisen (5.0 .. im Text). 37 Vgl. dam die AufaJbeilung der Metaphorik in Dan 8 (und Kap. 7) durch PA Porter, Metaphors, v.a. 3-42, der allerdings den mesopotamischen Vergleichstexten zu viel zutraut. 38 Vgl. daVJ PA. Porter, Metaphors, 36; K. Koch, V-'siOJUbericht, 151; S.Niditch, Vision, 227. JJ. Collins. Daniel, 330. gtbt allerdings zu bedenken, dass die ldentifmerung des Ziegenbocks mit dem gtie ch. Syrien in den astro1ogischen Quellen nicht 1ll Dan 8 passt, da dort Alexander als Reprä.sentanl identifiziert wird und nicht die Diadochen (...gI. V. 5.8.21). Außerdem bleibt unsicher, ob den Daniel-Tradenten die entsprechenden Vorstellungen geläufig waren (eher zurückhaJtend auch o. Plöger. Buch, 124: S.B. Reid, &och, 97: llhar-dly convincing«).
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Weiterhin »überhebt« sich in der Vision das »k1eine Ho rn«, also Antiochus IV. (s.o.), und macht sich groß bis zum »Himmelsheer« (V. 10: o~o!Z)i1 M:l:I), wirft
einige aus dem »Heer« sowie von den Sternen (O~:l~D) zur Erde.]9 Sodann reicht der Fremdherrscher bis zum »HeeresfUrsten« (V. 11 : H:lliT "iV), dem er das tägliche Opfer entreißt. Ganz unabhängig davon, ob man jenen »Heeresfijrsten~( nun mit dem Engel Michael oder mit Gott identifiziert 40, wird schon hier deutlich, dass Dan 8 nicht nur durch die fonnale Einbindung in ein Visionsgeschehen, sondern auch mit Hilfe von Engeln und ihrer Funktionalisierung eine »Transzendierung« von Geschichte erzielt. Schließlich fügt Dan 8, 13 4 1 eine U nterredung zwischen Engeln (~"i') ein und wiederholt das Vergehen am »Heiligtum« (tD,p) sowie am »Heer« ("'::13), bevor in der Deu]9 AJs Anfechtung der Ausschlteßlichkeitsforderung begegnet das )l Himmelsheer« mit den »Sternen« noch im )lMKlrasch« zum zweiten Gebot (Dtn 4, 19). Entspre<:hend kann die Kultreform Josias das IIHimme.lsheen( der »AscheralC und den ))Götzenpriesteml( zuordnen (2. Kön 23,4 f.; vgl. auch 2. Kön 17,16; Jer 19, 13; Zef l ,4f.). Dagegen verwenden die Thronratsszene in I. Kön 22.19, der Schöpfungstext in Jes 45, 12 oder das Bußgebet in Neh 9.6 das llHimmelsheer« in positiver Konnotation. 40 Unter den zahlreichen Belegen fUr rot J1 "'cl' ist vor allem Josuas Begegnung mit dem llFinten des Heeres JHWHs« in Jos 5.13-15 von Interesse. da der rot::!, dort von Gott unterschieden ist. Daher erwägt auch K. Koch. den HJ'''o- in Dan 8.11 mit Michael zu identifizieren (vgl. auch Dan 10,13lo'JItH'i1 O' ''~il .,m"j: 12, 1 (""lil"~i1j und zur Sache: K. Koch (mit T. Niewischl J. Tub3chJ, Buch, 207; K. Koch. Visionsbericht, 152). Unterstützend könnte der Hinweis aus einem Qumranbeleg wirken, wo das Kompositum H::!I .,'~ zwar nur im rrulitärischen Sinne begegnet (vgl. 4Q522, Frgm. 9, Kol. 11. IH.), Michael jedoch nach IQM XYIl,5-7 »Macht« (m~c) zukommt, die gegen den ))Fürsten der Frevel-Herrschaft« steht. Demgegenüber redet Dan 8, 11 bß von "seinem Heiligtuml( (11t'pC), was sich nur auf den HJ'il .,-W beziehen kann. Und es erhebt sich Antiochus IV. nach Dan I J ,36 über den »Gott der Götterl(. 8eide Beobachtungen spre<:hen nun wiederum rur eine Gleichsetzung des Iol::!l'il .,w mit JHWH (vgI, neben O. Plöger, Buch, 126, v.a. JJ. Collins, Dame!, 333, und ders .. Art. Prince, 663: vgl. zuletzt P.L Redditt, Dante!. 140). Allerdings wird man in dieser Frage keine endgültige Sicherheit erzielen können. 41 Der hebr. Text isl }eider nicht re<:ht deutbar (vgl. die Anmerkungen bei JJ. Collins. Daniei, 326, 336), wenngleich durch die Qumran-Bibelhandschrift 4QDan b (I . Jh. n. ehr.) bestätigt. Weiterhin wird man beim Vergleich gJ iech. Lesarten Zurückhaltung üben müssen angesichts der Tendenz zur Interpretation der LXX und verwandter Hds. in Dan 8. Folgende Übersetzung dürfte der Intention des MT am Nächsten kommen: "Und ich höne einen Heiligen, redend, und es sprach ein Heiliger zu jemandem, der fragte : )Wie lange (wähnJ die Vision über das tägliche Opfer und den Frevel der Verwüstung, welcher aufgestelh wurde und da Heiligtum und Heer zenreten ldaliegenj.(<< Während die Rede-Einleitung bis auf die offensichtliche Krasis von "J'D und zu 'J10'0 (vgl. l. Sam 2 1,3: 2. Kön 6,8: Rut4,J) keine Schwierigkeiten bereitet. ist die rolgende Frage nur schwer verständlich. Eine ältere Lesart ergänzt mit LXX und in Anlehnung an V. I1 ein Partizip Hof. von 0 1, neben der Änderung des Inf. es. in was ergibt: »... dass das tägliche Opfer aufgehoben und ein Frevel der Verwüstung aufgesteUt ist und Heiliges und Heer U i lieten werden«: vgl. die Erwägungen bei O. Plöger, Buch. 122 (Anm. J3 b j; ähnlich S. Niditch. Vision, 217, 220. Doch stellte dies m . E. einen zu starken Texteingriff dar. Dagegen kommt die Alternative einer Aufzählung nach H . Seebass in: H . Ringgren/ders., An . »!CQ, 808 (vgl. auch Plöger, a.a.O.) nahezu ohne Konjekturen aus: »Das Tamidopfer und der (Religions)8ruch als ein verwüstender, )seinl ( ••• ) Dahingeben des Heiligtwns und des Heeres zum Zertrampeln.«
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Die apokalyptisdIe Vision in Danie/ 8
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tung der Vision Antiochus' Widerstand gegen den »Fürst der Fürsten« (V. 25: o"',w i'w) betont wird. So sind es aJso insbesondere die Motivkonstellationen der Engelrede und der Hybris des Fremdherrschers, die zwar unterschiedlichen Traditionssträngen entstammen, aber gemeinsam zur Projektion irdischer Geschichtsereignisse in himmlische Gefllde beitragen. 42 Traditionsgeschichtlich lassen sich für die beiden genannten Motivkonstellationen zwei sehr differente Texte bzw. Textsorten benennen, die jedoch in ihrem mythischen Weltbild wiederum stark konvergieren. Während die Vorstellung vom hybriden Fremdherrscher, vor allem in Dan 8,10f., Parallelen zum Spottlied auf den König von Babel (Jes 14,12- 15) zeigt", erinnert die Unterredung der Engel in ihrer engen Verknüpfung mit Maßnahmen den JemsaJemer Kult betreffend (Dan 8,\3) an die Bedeutung der Engel in den Sabbatopferliedem aus Qumran (vgl. auch Sach 2,7-9). Zwar ist die Entstehungszeit der Sabbatopferlieder und damit das gegenüber der Danielapokalypse höhere Alter nicht eindeutig erwiesen, doch spricht eine Vielzahl von Argumenten für eine solche zeitliche Ansetzung. 44 Außerdem dürfte die zumaJ auf religionsgeschichtliche Vorstellungen wohl insbesondere aus dem syrischen Raum zurückgehende Vorstellung von der Götter- bzw. Stemenversammlung in Jes 14 sicher älter aJs Dan 8 sein. 45 Insbesondere der Text aus dem Jesajabuch zeigt gleich in mehrfacher Hinsicht Berührungspunkte mit dem Danielbuch. So war schon immer die »ahistorische« Weltreiche-Sukzession in Dan 2 und 7 aufgefaJlen, die aber möglicherweise aus historisierenden-ideologischen Gründen jene angemessenere Reihe »Assyrer - Meder - Perser - Griechen« mithilfe des Austauschs von »Assyrern« und »(Neu-)Babyloniern« verändert hat: Assur und Babyion
42 Vor allem die Aussagen zur Hybris Anliochus' IV. sind eng mit der Ereignisgeschlchte um die
Tempelschändung verbunden, in deren Mittelpunkt nach Dan 8 wiederum die Abschaffung des "on-Opfers steht (1. Makk 4,38.45: 1 .0.; vgJ. auch S. Niditch, VISion, 228). 43 Vgl. K. Koch, VISionsbericht, 151 f.; S. Niditch, VLSion, 228f.; JJ . CoIlins. Daniel, 332. 44 Die in QurT'lnlll und Masada gefundenen Abschriften datieren zwischen das l.Jh. v.Chr. und das l.Jh. n.Chr. VgJ. dazu C.A. Newsom in: J.H.. Owlesworthldies., üturgy, 4f.• die neben dem in QumrantCltlen unüblichen Gebrauch von das Fehlen spezifischer Termini (wie ,n" oder nl'Y) und den mit Dan 11.33; 12,3 vergleichbaren Gebrauch des "~bo nennt. Newsom schlägt das 3. Jh. v.Chr. (oder früher) als Entslehungsdarum vor. 45 Zur Datierung des an das Le1chen1dagelied angelehnten Spottgedichtes in Jes 14,4b-20[.21 ) notiert H. Wtldberger, Jesaja, .542f., die überwiegende Ratlosigkeit bei Venuchen einer historischen Verortung; zur Abgrenzung vg!. K. Schöpflin. Blick, 303, 312; R.M. Shipp, Kings, 133 f. Doch selbst die zeitlich extrem spät ansetzende Identifizierung des Frcmdherrschen mit Alexander dem GloBeil führte noch vor die Zeit des Antiochus. - VgJ. :tu Jes 14.12- 15 jetzt auch M. AIbani. Gott. 148-1.52, der sich bei seiner interpretation des Spottgedichtes der These von B. Lang anschließt (vgJ. den., König, .55 f.): Im Kontext der Rekonstruktion einer auch in Altisrael vorherrschenden Köni&sideologie mit einem göttlichen König an der Spitze des Staates erscheint Jes 14,13 f. als Kritik nicht am »Golt-Königtum~ selbst, sondern am Anspruch des babylonischen Königs auf den Rang des »höchsten Gone~. Doch dürften die Formulierungen in Jes 14,13aß (?'" ':'I~'~; ;sree) und v. 14b (P',sr; iTln",) die Beweislasi kaum tragen.
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waren daneben auch historisch so eng miteinander verbunden, dass im Danielbuch »Babyion« wohl für »Assur-Babylon« steht. Und jene Sicht wird eben durch die Umwandlung der Assur- in die Babel-Prophetie in Jes 13,1- 14,27 bereits angedeutet. 46 Innerhalb des Spottlieds ist folgende Passage besonders sprechend (Jes 14,12- 15): 12 Ja, wie bist du [Le. der Fremdherrscher] vom Himmel gefallen, Morgenstern, Sohn der Morgendämmerung. Ja, wie zur Erde geschmettert, der Sieger über »alle« Völker. 13 Doch du hanest bei dir selbst gesagt: »Zum Himmel will ich hinaufsteigen, über den Sternen Gones errichte ich meinen Thron . Ich will mich auf den Versammlungsberg setzen, im entferntesten No rden. 14 Ich wiU auf die Wo lkenhöhen steigen. will mich dem Höchsten gleichstellen.« 15 Doch ins Totenreich wirst du hinabgeworfen.
in die hinterste Grube.
Im Vergleich mit Dan 8,10- 12 (vgl. auch Y.25) ergeben sich mebrere Berührungspunkte: Beide Fremdherrscher handeln hybrid, indem sie sich dem Göttlichen bzw. Himmlisch-Jenseitigen nähern , um seine Machtposition anzufechten, es zu bedrohen. In beiden Überlieferungen stehen zur Erde stÜTZende Gestirne im Mittelpunkt, womit astrologische Vorstellungen konsoziiert werden kö nnen und zugleich jene Gestirne, regelrecht personifIZiert, den Engelgestalten gleich erscheinen (vgl . auch Hi 38,7). 47 Schließlich erscheint der Mythos in beiden Texten eingekleidet in eine eschatologisierende (Jes 14,l-4a.22f.) bzw. 46 So H. Gese, Geschichtsbild, 194; vgl. auch H. Wildberger, Jesaja, 538. 542f. 47 In diesem Zusammenhang wäre auch nochmals auf die astroklgische Bedeunmg von Widder und Ziegenbock im Kontext von Dan g zu verweisen (s.o.). Die schon für den jeweiligen Text nicht mehr zweifelsfrei zu eruierenden religionsgeschichtlichen Verweisungszusammenhänge lassen es geraten sein, auch die Verbindungen zwischen Dan 8 und Jes 14 nicht durch direkte Abhängigkeiten zu umschreiben (optimistischer dagegen D. Bauer, Buch, 169r.). Hierzu wüsste man etwa auch gerne Genaueres über die Bedeutung des ~faJlenden ) Morgensterns, des Sohnes der Morgendämmerun~ (-,nl!l P "";'). Weitgehende Einigkeit besteht über seine Herkunft aus der paganen Mythologie. wobei neben Ableitungen aus dem griech. Phaethon·Mythos (vgl. hierzu auch K. Schöpflin. Blick. 308f.) oder dem babyJon. &ra. Epos bzw. aus der GilgameschSage neuerdings wieder Verbindungen zu ugarit. Texten favorisiert werden (vgl. M.s. Heiser, Provenance. 363- 368). Demnach venrbeite Jes 14,12- 15 Motive aus dem Ba
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Die apolcolyplische Vision in Daniel 8
apokalyptische (Dan 8,3 - 9.13 f) Rahmenerzählung. Insgesamt dient die Trennung von Himmel und Erde, von Göttlichem und Menschlichem, im Jesaja- wie im Danielbuch der Verdeutlichung. Danach ist die ungefragte Überschreitung der Trennlinie zum Transzendenten im Sinne einer Ethisierung des Gerichtsgedankens zu verstehen. Gemessen an ihrem Tun, werden sowohl der Fremdhemcher im Spottlied (Jes 14,15) als auch das »kleine Horn« (Dan 8,25bß) der Vernichtung preisgegeben. Die Verknüpfung der hybriden Haltung des Antiochus mit seinem qualvollen Todesschicksal nutzt die Notiz in 2. Mall 9,1Of. gar, um die späte Reue des Seleukiden hervorzuheben, die ihm freilich keine Rettung mehr bringt. Als solche beinhaltet die beschriebene Tradition noch nichts »Apokalyptisches«. Zwar ist im gemeinsamen Rückverweis auf pagane Sternenkunde bereits eine kosmische Dimension eröffnet, die durch die Durchbrechung der Trennlinie jene in der Apokalyptik prominente Problematik von Transzendenz und Immanenz berührt, doch fehlt noch der Verweis auf die Endgültigkeit geschichtlichen Geschehens. Eine Endgültigkeit, die in den Verfehlungen der Fremdherrscher beider Texte zwar ihren Anfang hat, doch zugleich, in Dan 8 visionär vermittelt, über deren Tun hinausweist. Hier unterscheidet sich die Ziegenbockvision also vom Spottlied im Jesajabuch. Ein Mittel, diese Differenz zu erhärten, findet man im Vergleich der so gewichtigen Passagen zum ,'on-Opfer in Dan 8 mit den Sabbatopferliedern aus Qumran 48: Ein solcher legt sich schon wegen der ausgeführten Engelterminologie in Dan 8 nahe, die BegIitre wie ~o~ (V. 10-13), (V. 13 [vgl. dagegen V. 24]), (V. 25) und die namentliche Nennung Gabriels (V. 16) umfasst . 49 Allerdings bezeugt der überkommene Bestand an Textfragmenten aus Qumran besonders häufig die Bezeichnung tD"p für Engelwesen (vgl. etwa 4Q403 Frgm. I, Kol. I, 31; Kol. 11, 29; 4Q405 Frgm. 23, Kol. 11, 4; 11 QI7 Frgm. 21 - 22, Kol. IX, 4). '" Lediglich in 4Q403 Frgm. I, Kol. 11,23 wird, vergleichbar mit Dan 8, der erwähnt, der neben den ).Engeln des Königs« (170 'o~70) sowie den Mitgliedern einer siebenköpfigen, hierarchisch angeordneten Gruppe von »Engelsfürsten« zu stehen kommt und einen )~wunder-
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550- 553; W.G.E. Watson. Art . Heiei, 392- 394; S.8 . Parker, Art. Shahar. 754- 755; R.M. Shipp.
KJn&s). 48 1m folgenden wird die Textbearbeitung bzw. Rekonstruktion nebst Übersetzung von C.A. New50m (in J .H. Charlesworth/dies.. üturgy, v.a. 138- 189) zugrunde gelegt. Die Rekonstruktion einer deutschen Übersetzung findei sich bei J. Maier, Qumran-Fssener 2, 377-417. 49 Es ist insbesondere JJ. CoUins, Daniei. 332, der zu Dan 8 auf die Sabbatopferlieder aufmerksam machl,jedoch miI dem Hinweis auf 4Q381. einer Abschrift . apokrypher. Psalmendichtung, die gemeinhin nicht zur Komposition der Sabbatopferlieder ge.echnel wird. so Darüber hinaus begeg1len gehäuft »gÖttliche Wesen. wie c-,~ oder c';n,~ zur Kennzeichnung der himmlischen Gemeinschaft. Man beachte außerdem die Bezeichnungen c':l~'o, mn,." c· I;tl ~., oder C· ~ · e>l . Zur EngelterminoJog:ie und den himmlischen Heiligtümern (sie!) in den Sabbalopferliedem vg!. C.A. Newsom in J.H. Charlesworth/dies.. üturgy. 6-8.
38
Stefon Beyerle
samen Ort« zugewiesen erhält. 51 Darüber hinaus ist eine sehr viel spezifischere Gemeinsamkeit zu benennen:
Gleich an mehreren SieDen erwähnen die Abschriften aus Qumran die Vokabel "n:Ii1, und zwar entsprechend Dan 8 absolut. 52 Allerdings reduziert sich bei genauerer Hinsicht das Vergleichsmaterial durch die Zuordnung der Fragmente und den Wortart-spezifischen Gebrauch der Wurzel ,"on: So bieten zwei Fragmente (4Q403 Frgm. I, Kol. I, 22 und 4Q405 Frgm. 3 [',bJ, Kol. 11, 14) lediglich verschiedene Abschriften eines Textes. 53 Zusammen mit den verbleibenden Texten in 4Q405 Frgm. I3 [',bJ, 6"; II QI 7 Frgm. 12-15, Kol. 11 [VIJ, 8 und 4Q405 Frgm. 20-22, Kol. 11, I I ss wären .Iso insgesamt nur vier unabhängige Bezeugungen festzuhalten. Schließlich kö nnen zwei Bezeugungen, die ,"on adverbial, i. S. v. »beständig«, gebrauchen (vgl. 11 Q 17 Frgm. 12- 15, Kol. 11 [VIJ, 8 und 4Q405 Frgm. 20-22, Kol. 11, (1) fiir den Vergleich mit Dan 8 ausgeschlossen werden . Es verbleiben tUr den Opferterminus zwei Belege in den Sabbatopferliedern (vgl. 4Q403 Frgm. I, Kol. I, 22 par. 4Q405 Frgm. 3 [a,bJ, Kol. 11, 14; 4Q405 Frgm. 13 [a,h], 6), wobei die Textedition von C.A. Newsom den ersteren dem sechsten und 4Q405 Frgm. 13 dem lextzusammenhang aus dem achten Sabbatopferlied zurechnet. S6 Da die heiden Passagen nahezu gleichlautend fomlULieren, verweisen somit alle drei Bezeugungen, trotz Ideinerer Differenzen, auf einen Sinnzusammenhang. Dieser findet sich jedoch im gewichtigen Zentrum der Sabbatopferlieder, das C.A. Newsom in den Psalmen 6- 8 identifiziert. S7 In formaJ gleich gestaJteten, sich wiederholenden Segens- bzw. Lobsprüchen der sieben ~~Hauptfursten{( rahmen sechstes und achtes Lied den an der Spitze der pyramidenartigen Komposition stehenden siebten PsaJm , der wohl das Tempelinnere (dtbir) beschreibt. Die Gesamtkomposition der SabbatopferJieder bewahrt durch Terminologie und Themen stets ihren Bezug zum Kultischen,
SI Die Rekonstruktion von C.A. Newsom (in l .H. Charlesworthldies~ Liturg)'. 168) ordnet das Fragment dem achten Sabbatopferlied zu. Zum himmlischen Opferdienst der 0 "'1:' im antiken Judentum vgl. B. Ego. Diener, v.a. 361-365. S2 Es handelt sich um die folgenden Bezeugungen: 4Q403 Frgm. I, Kai. I. 22; 40405 Frgm . 3 Ia,bl. Kat 11. 14: 40405 Frgm. 13 Ia,bl. 6; 40405 Frgm. 20-22. KaI. 11. 11: 11QI 7 FlgJ.Ii. 12- 15. KaI. 11 [VII, 8: zur Zuordnung der Fragmente s.o. S] CA Newsom (a.a. O.• 50r.. 76f.• 158r.). ordnet die Fragmellte dem sechsten Sabbatopferlied w. S4 Nach C.A. Newsom., •.• . 0 .• 86f., l72f., gehört dieses Fragment zum achten Sabbatopferlied. SS Dieses Fragment begJejft C.A. Newsom• •. a.O .. 94f~ 182f.• als Teil des zwölften Sabbatopfer-
lieds. S6 Vgl. insgesamt die Rekonstruktion bei CA. Newsom, a.3.0 .. 154- 161 , 168- 173, und zur Identirlzierung der drei Fragmente ebd., 50 [mit Anm.55 f.1. 761mit Anm.29J. 861mit Anm.95J. 158. 172. S7 Vgl. zum Folgenden C.A. Newsom••.• .0., 3f.
Die apokalyptische Vision in Daniel 8
39
jedoch in einem himmlischen Heiligtum verortet. 58 Entsprechend nimmt der sechste Segen des sechsten Lieds das Motiv des täglichen Opfers auf. Der Text lautet in Z . 54- 57: (54) Der sechste unter den Hauptfürsten (t!:!1i "",.t!:!:l:::l) wird im Namen der Macht der Göttergestruten (0"'" [n]",::n) segnen alle. die machtvoUe Einsicht haben, mit sieben (55) Worten seiner Wunderkrafl. Und er wird aUe segnen, deren Weg vollkommen, mit sieben Wunderworten, aJs tägliches Opfer für alle kommenden (56) Weltzeiten (O[']c('Uj'"1i1 ,,;, OY ,·on'). Und er wird al1e die segnen mit sieben Wunderworten, die auf ihn warten, um der Rückkehr der Barmherzigkeiten seiner Gnadenerweise willen.
Im Vergleich mit Dan 8 (v.a. V. IO- 12.13- 14) zeigt sich eine eigentümliche »Distanzierung( vom Kult, die beide Texte durch die Verknüpfung der genannten Motivkomplexe »Engelwesen« und »tägliches Opfer« erreichen. 59 Beide Traditionen sprechen nämlich streng genommen der Abschaffung des Opfers das Wort . Während dies Dan 8 ganz vordergründig unter Verweis auf das Ansinnen Antiochus' IV. deutlich macht, ergibt sich die »Distanz« zum Opfer in den Sabbatopferliedern erst aus dem Kontext, der mit ,'on nicht den konkreten Vollzug, sondern offensichtlich die »Spmtualisierung( der Liturgie insgesamt meint - man vergleiche etwa die Rede vom )}Hebeopfer ihrer Zungen« in Lied 8, Z. 9 (vgl. dazu 4Q403, Frgrn. I, Kol. 11, 26: C~'l'1Z>7 no,"m). Hinzu kommt noch die in Dan 8 und den Sabbatopferliedern betonte Einbindung der Geschehenszusammenhänge in die Engelsphäre, wodurch eine Jenseitigkeit zur Geltung kommt, die weitere »Distanz« scham. Eine »Distanz«, die sich von den zugrunde liegenden historischen Ereignissen abgrenzt. Während in Dan 8 die Tempelschändung Antiochus' IV. als historischer Ereignisrahmen dient, wollen sich die Sabbatopferlieder offenbar von der Opferpraxis am Jerusalerner Tempel abgrenzen .~ Um dem apokalyptischen Schema gerecht zu werden, tritt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Sowohl die Deutung der Geschichtsvision in Dan 8 als auch das , ' on-Opfer in Lied 6 sind durch Engelmund eschatologisiert. Einmal rahmt Gabrie! seine Deutung vor Danie! durch den Hinweis, die Vision von der geschichtlichen Ergründung der Abschaffung des ,~on-Opfers sei ))fiir we Endzeit« (Dan 8,17bß: i"n~ fi' nY7) bzw. »fur die fernsten Tage« (Y.26bß: 58 Diese Feststellung gilt auch. wenn man mit Newsom u.a. den Liedern eher eine mystische denn liturgische Funktion unterstellt. S9 Allerdings muss festgehalten werden, dass sich die Funktion der Engel in Lied 6 bzw. 8 gegenüber Dan 8 direkt auf die, wenn auch im Segen »spiritualis~rt~ Opfergabe des ,"on bezieht, während sich im Danieltext nur eine Verbindung beider MotivkonsteUationen über die Frage in V. 13 f. eTglbt - wenn nicht der "':::Jm ,~ in V. I1 mit einem Engel zu identifIZieren ist (s. aber 0., Anrn.40). 60 Die in der Uedkomposition deutliche Abgrenzung muss nicht von Anfang an mit ))Cssenischen« Haltungen in Verbindung gestanden haben. Allerdings war den Qumraniten späterhin leicht möglich, jene kritische EinsteDung für ihr eigenes Selbstverständnis zu instrumentalisieren.
40 C~~l c~o~")
Ste[aJI Beyerle
bestimmt. Zum anderen gilt das für den Segen stehende
,~on
Opfer nach Lied 6 »fur alle kommenden Weltzeiten« (c[']o['"Y] ",~ .,,~ CY). Zur »ax.iologischen Eschatologie« tritt nun auch die chronologisch orientierte »teleologische Eschatologie«, die dezidiert den Hoffnungsaspekt einbringt.61 Jeweils steDen die Belege eine Zeitperiode in Aussicht, die in ganz unterschiedlicher Weise aufgefasst werden kann. Insbesondere wäre zu fragen, ob je ein Ende der Geschichte schlechthin oder nur das Ende einer noch innergeschichtlich gedachten Wrrklichkeit vor Augen steht. 62 Der Unterschied zwischen Dan 8 und dem sechsten bzw. achten Sabbatopferlied besteht nun wohl darin, dass letztere durch die Verortung im himmlischen Tempel sich bereits in der neuen, transzendenten Wtrklichkeit wähnen und die eschatologische Hoffnung in Dan 8 sich zunächst noch auf das innerwe1tlich gedachte Ende der Tempelschändung bezieht. Sprachlich geht es in Dan 8 aJso nicht um das Ende von Geschichte schlechthin. 63 Diese apokalyptische Nuance ergibt sich erst in kompositorischer Perspektive: zum einen durch die Anbindung von Dan 8 an die Menschensohnvision (vgl. Dan 8,1 b), zum anderen durch kataphorische SignaJe wie die Konzentration der Geschichtsdarstellung auf Perser und Griechen 64. ja die zügige Zuspitzung auf das entscheidende Ereignis unter dem Seleukidenherrscher (vgl. Dan 8,10- 12 u. V.13f.), das in der folgenden visionären Schau (vgl. auch Dan 11,21-45) durch die Auferstehung erst seine »Lösung« finden wird (vgl. Dan 12,1 - 3).
61 Zum von P. A1thaus in die Diskussion eingefUhrten Begriff der »axiologischen Eschato logie« und
seiner Abgrenzung von der »teleologischen Eschatologiet( vgl. G . Oblau, Gottesu:it, 5-7. 62 Die Wendung fi' n» begegnet nur im (apokalyptische n) Danielbuch (vgl. neben 8, 17 noch 11 ,3 5.40; 12,4.9). Während es in Dan 12 jeweils um das Versiegeln der Botschaft »bis zur Endzeit« geht, vollzieht sich auch der Kampf des Kö nigs des Südens gegen den des Nordens in der »Endzeit« (11 ,40). Nach Dan 11 ,35 reinigen sich die »Weisen« in der Erwartung jener »Endzeit«. Damit deutet die Wortverknüpfung f i' n» im Danielbuch jene Periode an. die noch bis zum Ende der Krise unter Antiochus IV. ansteht (so J.1. Collins, Daniel, 337f. (u. ebd., 3891, der ein Verständnis i.S.v. p,nMi1 fi'i1 in lQpHab 7,7 nahe legt). 63 Vgl. dan! Dan 8, 19aß.b und die Anmerkunge n von P.L Redditl, Daniel, 142. Die obige Bedeutung bestätigt sich im Befund zu O' J ' 0' 0' (V. 26bß): Die Wendung beschreibt im AT lediglich eine lange Zeitspanne (vgl. Gen 21 ,34; 37,34; Num 9, 19 (4Q365 Frgm. 31a--c. 7]; Dtn 1,46 (4Q364 Frgm. 22. 2J: Jos 22,3: Jer 35,7; Hos 3,3f. u. TR 59.21; 4Q274 Frgm. I , Kol. 1, 6). Allerdings dürfte sich mit Dan 8.26 ein Wandel im Verständnis ergeben, auf den auch Ez 12.27 und 38,8 hinweisen. Letzter Beleg macht dies an der ParaUelisierung von 0' : :1 , 0' 0' mit O')"'i1 n·,n~ deutlich, auch wenn ein wirldiches »Ende der Zeit(( noch nicht gemeint sein kann (vgl. W. Zirnmerli, EV'Chiel. 949f.). Und auch das Wo rt aus Ez 12.27, wo es im Munde ~Israels«, wo hl der ExiJsgemeinschaft, heißt : »Oie Visionen, die er (i.e. Ezechiel] schaut, sind für viele Tage. und für feme Zeiten (mi',n, o-n::v) prophezeit er~ zielt auf eine Zeitauß"assung, die das Erwartete zumindest außerhalb der Wahrnehmung der H örenden verortet (vgl. Zimmer!i, a.a.O ., 279f.; außerdem JJ. Collins, Daniel, 342). 64 Etwa im Gegensatz zu den Geschichtsaufrissen in Dan 2 und 7 oder späterhin Dan 10-12. wo auch die Diadochen über Antiochus IV. hinaus eine Rolle spielen.
Die apokalyptische VISion in Daniel 8
4.
41
Ergebnis
Abschließend wird man des Apokalytischen in Dan 8 erst gewahr, wenn unter traditionsgeschichtlichem Gesichtspunkt sowohl die »Transzendierung«, etwa in der Hybris des Fremdberrschers (vgl. Jes 14,12- 15), als auch die »Eschatologisierung( der mit dem ,~on-Opfer verknüpften (Geschichts-) Ereignisse, etwa als Taten bzw. Worte des angelus interpres oder als »Segnungen fiir ewige Zeiten« (vgl. die Sabbatopferlieder), in einer Gesamtschau Berücksichtigung finden. Zwar fungieren die Engel in der Ziegenbockvision im Gegensatz zu den Sabbatopferliedern nicht als Priester, doch ihre Sorge um den rechten Kult in V. 13f. und die besondere RoUe des ;'on-Opfers in der apokalyptischen Geschichtsdeutung von Dan 8 zeigen, dass sich »Priesterliches« oder »Theokratisches(( und »Eschatologisches« oder »Apokalyptisches« keineswegs ausschließen. Mehr noch: Dem Opfer kommt im apokalyptischen Aufriss von Dan 712 zentrale Bedeutung zu. An ihm lässt sich das Spezifikum apokalyptischer Geschichtsautrassung erläutern. Insofern sind Opfer, Kult und Priesterliches untrennbar mit der apokalyptischen »Ideologie« verknüpft. 65 Zumindest fiir Dan 8 dürfte sich also die These O . Plögers von einer nachexilischen Trennung in »theokratische« und »eschatologische« Überlieferungen nicht halten lassen. Mit der Abschaffung des .,~on-Opfers verbindet sich das historische Ereignis der Tempelschändung durch Antiochus IV. Die sich in der Vision ausdrückende Hoffnung zielt daher auch auf ein innerweltliches Ereignis: die Wiedereinweihung des Tempels. Dieses Verständnis unterstützen zunächst die v.a. in den Scharnier- bzw. Rahmenteilen des Kapitels gebotenen Zeitangaben. Doch bef6rderten sowohl kompositorische als auch traditionsgeschichtliche Erwägungen (etwa zu Jes 14,12- 15 u. den Sabbatopferliedem) sachliche Anhaltspunkte, die eindeutig über den immanenten Horizont in der spät-israelitischen Geschichte hinausweisen. Die Berücksichtigung der Komposition von Visionen in Dan 7- 12, die Verarbeitung der MotivkonsteUationen »Hybris des Fremdherrschers« bzw. »Angelologie( ergaben, dass Dan 8 bereits eine Eschatologie konnotiert, die die weltimmanente Historie hinter sich lässt. In kompositorischer und traditionsgeschichtlicher Hinsicht verdeutlicht die Ziegenbockvision also die innere Verwobenheit von immanenter (als Ereignisgeschichte) und transzendenter »Geschichte«. Auch deswegen behält K. Koch gegenüber M. Noth Recht.
65 Dass dies nicht nUT für Dan 8 gilt, hat M . Himmelfarb, Ascent, passim, gezeigt, auf de,en Arbeit hier wiederholt verwiesen sei. Dagegen dürfte D. Suters Beitrag (vgl. ders., Angel, 11 5- 135) zu äthHen 6-16 etwas zu weit gehen.
42
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BERND
U.
SCHIPPER
Tradition und Innovation Eine religionsgeschichtliche Lektüre von Daniel 7
Texte sind Ausdruck kulturellen Handelns. Als solche sind sie in einen jeweils
ku1turspezifischen Kontext eingebunden und stehen in Relation zu anderen Texten, seien es solche der eigenen Kultur oder auch fremder bzw. Nachbarkulturen. Die Apokalyptikforschung hat diesen Sachverhalt in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedlich interpretiert. Mal wurde versucht, das Phänomen der antik-jüdischen Apokalyptik aus dem alttestamentlichen Schrifttum herzuJeiteo, mal tendierte man dazu, eher religionsgeschichtliche Einflüsse geltend zu machen. 1 Im ersten Fall sah man die apokalyptischen Texte innerhalb ihres
kulturimmanenten Kontextes, im zweiten hingegen korrelierte man sie mit Texten des kulturellen Umfeldes. Dabei zeigt sich seit dem Ende der siebziger
Jahre des 20. Jahrhunderts verstärkt der Trend zu einer religionsgeschichtliehen Fragerichtung. Seitdem sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass die antik-jüdische Apokalyptik etwas geistesgeschichtlich gesehen deutlich Neues ist, galten die Versuche der älteren Forschung, die Apokalyptik aus der alttestamentlichen Prophetie oder Weisheit abzuleiten, als forschungsgeschichtlich überholt. 2 Die Apokalyptik, wie sie in den Schriften des alttestamentlichen Danielbuches, des 4. Esra- oder des äthiopischen Henochbuches greifbar ist, wurde eher im Kontext zeitgleicher Texte ihrer Umwelt als der alttestamentlichen Literatur selbst gesehen. Dabei spielten insbesondere iranische Parallelen eine Rolle. wobei zugleich auch mit Textmaterial aus dem griechisch-römischen Ägypten argumentiert wurde. 3 Unterzieht man jedoch die jeweiligen Argumen" tationen einer kritischen Uberprüfung, so zeigt sich, dass der religjonsgeschichtliehe Ansatz in der bislang durchgefiihrten Fonn nur bedingt tragfahig ist. So werden oftmals einzelne Motive korreliert, ohne dass der jeweilige traditionsund kulturspezifische Hintergrund beachtet würde. Demgegenüber gehört es zu den Grundeinsichten religionswissenschaftlicher Forschung. dass religiöse Fonnen zunächst innerhalb des je eigenen kulturellen Sinnsystems zu untersuchen sind und nicht vorschnell mit religiösen Phänomenen anderer Kulturen I Vgl. den Forschungsüberblick von Ven.lA. Blasius, TelCte, sr. und A. Bedenbender, Gott, Kap. 1.2 und 1.3. 2 Vgl. S. Beyerle, Wiederenldeclrung, 42f. 3 Die iranischen Parallelen wurden beispielsweise von K. Koch herangezogen (vgl. seine Arbejlen lIDie Reiche der Weh« und lIVor der Wende der Zeilenl<). Zu den ägyptischen ParaJlelen vgl. den Überblick von Verf.lA. Blasius, Texle, S- 19.
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verbunden werden dürfen. 4 Nur so kann verhindert werden, dass man Texte anderer Kulturen lediglich als eine Art Steinbruch verwendet, aus dem die jeweils passende Brocken herausgelöst werden, ohne dass man die Bedeutung der Texte innerhalb ihres kulturellen und religiösen Umfeldes beachtet. Auf die Apokalyptikforschung angewendet, hatte dies zur Folge, dass einzelne Motive eines Textes mit apokalyptischem Gedankengut in Verbindung gebracht wurde, ohne zu beachten, dass der >apokalyptische< Charakter des vermeindlichen ParaUeltextes letztlich eine ganz andere Ursache hatte und mit der Geisteshaltung >Apokalyptik( 5 nicht verbunden werden konnte. Demgegenüber macht es die Eigenart eines religionsgeschichtlichen Ansatzes - sieht man ihn im Kontext religionswissenschaftlichen Arbeitens 6 - aus, die Texte zwar durchaus zu korrelieren, jedoch von der Relation der Texte aJs ganzes und ihrer Funktion innerhaJb der jeweiligen Kultur auszugehen. Der folgende Beitrag setzt bei dieser Erkenntnis an und stellt ein lektüreverfahren vor, dass um zweierlei bemüht ist: Einerseits die Texte auf reHgionsgeschichtlicher Ebene miteinander zu korrelieren und andererseits diese im Kontext kulturimmanenter Tradition zu sehen. Methodisch gesehen, wird damit die skizzierte religionsgeschichtliche Fragestellung mit einem traditionsgeschichtlichen Ansatz verbunden . 7 In der konkreten Durchführung sollen zwei Texte verschiedener Kulturen in Beziehung zueinander gesetzt werden . Gegenstand der Untersuchung ist zum einen die Vision von Daniel 7, die in der Apoka1yptikforschung von jeher eine prominente Rolle spielte und Gegenstand zahlreicher Untersuchen war. 8 Dieser Text soU mit einem Literatwwerk aus seinem zeitlichen Umfeld korreliert werden, das bislang vor allem im Rahmen einer religionsgeschichtlichen Ableitung des Phänomens ~Apokalyptik ( herangezogen wurde. So wollten einige Forscher in einer Prophezeiung aus dem hellenistischen Ägypten, dem sogenannten ~L.amm des Bokchoris<, ein apoka1yptisches Szenario entdecken. 9 Es wird jedoch zu überprüfen sein, inwiefern das Lamm des Bokchoris überhaupt mit dem Phänomen der Apoka1yptik verbunden werden kann . In der Folge wird das skizzierte Lektfueverfahren in drei Schritten entfaJtet . Die heiden Texte sollen zunächst jeweils für sich anaJysiert (Teil 1 und 2) und erst dann aufeinander bezogen werden (Teil 3). Dabei wird sich zeigen, 4 Vgl. H.G. Kippenberg, Diskursive Religionswissenschaft, und dam auch R. Albertz, Religionsgeschichte, 33. j Vgl. zum Begriff IApokalyptik( die Einleitung dieses Bandes S. 9- 12. 6 Vgl. zur Methode der religionsgeschichtlichen Arbeit F. Stolz. Grundzüge., 18] - 190 und B. Maier, Art. IReligionsgeschichte (Disziplin)<. 583. 7 Zur Methode der TraditK>nsgeschichte vgl. O .H. Steck, Exegese. 124. 8 Vgl. dazu J.M. Schmidt, Danie!, 112.1 37. 181. 9 So bereits C.c. McCown. Literature., 392- 396. Vgl. auch J. Gwyn Griffiths, ApocaJYPlic, 273ff. und E. Bresciani, IIn pieul sur Ja pierre
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dass Dan 7 und das Lamm des Bokchoris weder in ihrem >apokalyptischen< Gehalt noch in ihrer Motivwelt einander entsprechen, sondern vielmehr auf gesamtstruktureller Ebene vergleichbar sind. Sie stellen - so lautet die These dieses Beitrags - jeweils kulturspezifische Reaktionen auf eine zeitgeschichtliche Krisensituation dar, bei der alte Modelle der Weltdeutung aufgegriffen und vor dem Hintergrund einer neuen geistesgeschichtlichen Herausforderung aktualisiert wurden.
I. Tradition und Innovation im hellenistischen ,j'gypten Das Lamm des Bokchoris Das unter der Bezeichung >Lamm des Bokchoris< bekannt gewordene Literaturwerk steht im Kontext anderer eschatologischer Schriften aus dem hellenistischen Ägypten, die auf charakteristische Art und Weise vom Weitende reden. 10 Es wird das Gegenüber einer Zeit des Unheils und einer Zeit des Heils konstruiert. Erstere kann geradezu >apokalyptischeDemotischen Chronik< ab - um den ältesten derzeit greifbaren Text aus dem hellenistischen Ägypten, in dem ein >endzeitliches< Szenario entwickelt wird. 12 Zum anderen wird auf keinen anderen dieser Texte so vielfattig und explizit Bezug genommen wie auf das Lamm des Bokchoris: Das etwas jüngere Töpferorakel zitiert eine Passage der Prophezeiung des Lammes (in P2 20; P3 33f.)13, und bei Sextus Julius Africanus, bei Aelian (Oe natura animalum) sowie in der Plutarch zugeschrie10 Eine aktuelle Zusammenstellung bietet der von A. Blasius und Verf. herausgegebene Sammel· band ,Apokalyptik und Ägyptenl. 11 Dies betriffi neben dem Lamm des 8okchoris das sogenannte Töprerorakel und einen neu publizierten )prophetischen
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benen )De proverbüs AJexandrinorum libeUus( finden sich Notizen, die von einem Lamm unter Bokchoris sprechen, das prophetisch geredet hat. 14 Hinzu kommt eine Notiz bei Manetho, die ins 3.Jh. v.ehr. datiert und somit älter als die eigentliche Prophezeiung ist. All dies läßt erkennen, dass es in der Antike eine umfangreiche Tradition gab, die von einem Lamm, das prophezeit, berichtet, und innerhalb derer das )Lamm des Bokchoris< eine prominente Rolle spielt. Das als )Lamm des BokchorisBuch der Tage< und berichtet dem in der ersten Person Erzählenden von den Ereignissen (Kol. I 1 f.). Dabei scheinen die ersten Verse von Kolumne I eine Art Zwiegespräch zu schildern, das von Psenyris, seiner Frau (1) und dem Schicksal von deren Kindern berichtet (I 1_ 13). 20 Der sehr fragmentarische Text lässt kaum
14 Vgl. die Zusammenstellung der Belege bei HJ . Thissen, lamm, 137f. 15 Erstmals publiziert von J. Kran, König Bokchoris. 3- 11. Dort wird der Text bereits als ,)Prophezeiungen des Lammes« bezeichnet ( 10). Der Terminus ,Lamm des Bockchoris( fmdet sich zuerst bei Moret, Bocchoris, 34. - Die deruit gültige Transkription des Textes bietet K.-Th. Zauzich, Lamm, die aktueUste Übersetzung HJ . Thissen, lamm. 16 Vgl. zum Papyrus und seinem Erhaltungszustand HJ. Thissen, lamm, 11 3-11 S. Weitere Einzelheiten zu den Textfragmenten bei K.-Th. Zauzich, lamm, 165. Evtl. hat zwischen den Kolwnnen I und 11 eine weitere Kolwnne gestanden, vgl. K.-Th. Zauzich, Lamm, 169, Anm. 16. 17 Ich gehe im folgenden von der Emheitlichlceit des Textes aus. Die literarkritischen Operationen R . Meyers (Wende, 179) und dessen Aufspaltung des Textes in drei Fassungen ())Pro!o-, Deuteround Trito1amm«) vennag ich nicht am Text zu veriftzieren, vgl. auch Thissen, Lamm, 121. 18 König Bokchoris war der zweite Herrscher der relativ unbedeutenden 24. Dynastie von Sais (727-7 15), die panillel zu den Herrschern der 25 .. kuschitischen Dynastie regierte (ab 7281716). Vgl. daru J. v. Beckerath, Chronologie, 89- 93. 19 Zum Namen, HJ . Thissen, Lamm, 115 mit Anm. 1I und A. Leahy, The P:toper Name PiJannuru, GM 62, 1983,41-42. 20 Die Vennurung, es handele sich hier um eine Frau (K.-Th. Zauzich, Lamm, 169, Anm.2 mit Verweis auf das Motiv der 'lebensklugen Frau() basien lediglich darauf, dass in I 2 das lIDein« sich auf einen Mann bezieht. vgl. HJ. Thissen, Lamm, 115, Anm. 12.
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eine genaue Deutung zu,jedoch waren offenbar mit den Kindern Zeichenhandlungen verbunden (I 5- 12).21 Auf die Einleitung folgt die eigentliche Unheilsweissagung (I 14- 11 18), an deren Ende man erfahrt, dass hier ein Lamm gesprochen hat: ))Das Lamm voUendete alle VerOuchungen über sie«22 (11 19). Mit diesem Vers ist der Text wieder auf der Erzählebene des Anfangs; Psenyris fragt das Lamm, wann all dies geschehen wird, und es folgt eine zeitliche Angabe (11 20f.) sowie die Schilderung der Heilszeit (11 21-111 5). Erst danach erfahrt der Leser, dass die Prophezeiung des Lammes sich zur Zeit des Pharao Bokchoris ereignet hat. Nach der VoUendung der Rede stirbt das Lamm (Ill 5) und Psenyris eilt zu Bokchoris, wn ihm von der Weissagung des Lammes zu berichten (lll 6-8). Auf Befehl des Pharao wird das Lamm wie ein Gott bestattet, es ))soU auf Erden sein entsprechend der Art, die jedem Heiligen zukommt« (III 9 f.). 23 Der Text schließt mit einer doppelten chronologischen Zuordnung: III \0 f. gibt als Abfassungsdatum den achten Mesore (= I. August) des Jahres 33 des Kaisers (Augustus) an (4. n.Chr.), die Notiz 1II 12 hingegen das sechste und somit letzte Regierungsjahr des Pharao Bokchoris (715 v.Chr.). Betrachtet man die Komposition des Textes, so besteht die Funktion der Rahmenerzählung darin, die Ereignisse an einen Königshof vergangener Zeiten zu verlagern. 24 Mit Bokchoris wird dabei ein Pharao benannt, der in hellenistischer Zeit ein außergewöhnlich hohes Ansehen genoß. So galt der zu seiner Zeit relativ unbedeutende Herrscher 2S später bei Diodor als vierter der sechs großen Gesetzgeber Ägyptens (I 94 f.) und wird von Plutarch als weiser Richter gerühmt (Demetrios 27, de vitios. Pud. 3).26 Es scheint so, als ob allein schon durch die Situierung der Prophezeiung dem Geschehen eine außergewöhnliche Dignität zugesprochen werden soll: Es ereignete sich am Hofe eines der bedeutendsten Herrscher A1tägyptens, wobei dem Leser die
21 Der Ahtestamentler fühlt sich an den Beginn des Hoseabuches erinnert (Hos 1,2-9); einen RekonstruJctionsversuch der Einleitung bietet K.-Th. Zaurich, Lamm, 173. 22 Alle Textpassagen werden nach der neuen Übersc:tzun.g des Textes von HJ. Thissen ( Lamm, 115-1 19) zitiert, hier: 11 8. Das Lamm wird im Text recht unvennittelt eingeführt. darn K .-Th. Zauzich, Lamm, 172. 23 Zitiert nach HJ. Thissen, Lamm, 119. 24 Formal wird die Rahmenerzählung gelegentlich mit der Gattung der KönigsnoveUe verbunden (0. Frankfurter, Religion, 158; ders., Elijah, I 72f.), jedoch ist der 8egI iff der IKönigsnovelle< nicht unproblematisch. vgl. zum Forschungsstand A . Loprieno, The »King's Novel«, 277-295. 2S Zur Regentschaft des Bokchoris vgl. KA . Kitchen, l1tird Intermediate Period. 138-144 und zum historischen Kontext, Verf.. lsrael und Ägypten. 150 r. 26 Vgl. auch Tacitus, His!. V 3 und zum Ganzen K. Brodersen, Salomon in Alexandria?, 22- 30 - Einen guten Überblick ZUT antiken Tradition bietet bereits J. Kraß in seiner Erstpublilcation: König Bokchoris, 3-5.
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Evidenz des Geweissagten durch den Bezug auf eine Größe der Vergangenheit vor Augen geführt wird. 27 Die eigentliche Prophezeiung ist nach einem zweiteiligen Schema gesta1tet und zerfällt in eine Unheilszeit und eine Heilszeit. Für die Unheilszeit sind folgende Motive charakteristisch: 28 - es kommt zu einer Umkehrung der sozialen Verhältnisse: »der reiche Mann wird ein armer Mann sein.« 0 14) - Lüge und Unrecht herrschen: »kein Mensch wird die Wahrheit sagen« (I 16), es gibt »viele [Menschen?] in Ägypten, die Unrecht tun werden gegen [die heiligen Tiere?« (I 17) - Fremde Herrscher (Mächte) kommen, und die Könige Ägyptens werden entmachtet: »Aber der Meder wird nach [Ägypten?] kommen« (I 23), )} ... indern sie die weiße Krone der [Könige] Ägyptens entfernen.« (11 3) - es gibt keine reguJären Bestattungen mehr: »[ ... Es werden] zahlreiche Gräuel in Ägypten geschehen, die Vögel des Himmels und [... die Fische des] Meeres werden ihr (der Menschen) Blut und ihr Fleisch vertilgen.« (JI 6f.) - es kommt zur Deportation der Jugend: »Weh und Ach dem Jüngling im jugendlichen Alter, man wird ihn nach Syrien bringen vor den Augen seines Vaters und seiner Muner.« (11 12f.)
In der Heilszeit werden die chaotischen Verhältnisse wieder aufgelöst. Es kommt zu einer allgemeinen Befriedung, die alte Ordnung wird wieder hergestellt und die Gesetzmäßigkeiten im Zusammenleben der Menschen gelten wieder: - Die feindliche Macht verschwindet: »Aber was den Meder betriffi., der sich Ägypten zugewendet hat - er wird sich zu den FremdJändern entfernen.« (11 21 f.) - »Die Wahrheit wird ans Licht kommen, die Lüge wird zugrunde gehen, Recht und Ordnung werden herrschen.« (11 22f.) - Es kommt zu Feldzügen nach Syrien: »Es wird [geschehen?], dass die Ägypter nach Syrien ziehen, sie werden über seine Gaue herrschen, sie werden die Götterkapellen Ägyptens finden .« (11 24- 1I1 1) - Die sozialen und natürlichen Verhältnisse treten wieder ein: »)Demjenigen, der dem Gon verhasst ist, wird es schlecht ergehen; demjenigen, der dem Gon wohltut, wird der Gott wiederum wohltun, wenn man ihn bestattet. Die Unfruchtbare wird trauern, die Gebärende sich freuen wegen der Wohltaten, die Ägypten zuteil werden.« (111 2f.) Fasst man die genannten Beobachtungen zusammen, so zeigt sich eine deutliche Struktur: Es wird das Gegenüber zweier Zeiten konstruiert, die in deutlicher 27 Dies beioni fiir die ägyptischen Prophezeiungen F. Hoffmann, Ägypten, 176. 28 Alle Zitale richlen sich nach der Übersetzung von HJ. Thissen, Lamm, 115- 118.
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Antithese zueinander stehen; erstere ist eine Zeit des Unheils, in der es zu chaotischen Zuständen in Natur 29 und Menschenleben kommt, letztere eine Zeit des Heils, in der das Chaos beseitigt ist und geordnete Zustände herrschen. Dabei fällt auf, dass nicht jedes Motiv der Unheilszeit in der Heilszeit wieder aufgelöst wird. Es scheint völlig auszureichen, für die Unheilszeit zu betonen, »kein Mensch wird die Maat sagen« (I 16) und für die Heilszeit »die Wahrheit (Maat) ist ans Licht gekommen« (11 22f.), was zur Folge hat, dass der TunErgehens-Zusammenhang wieder funktioniert (111 2f.). Beides verweist darauf, dass der Text einem übergeordneten Prinzip folgt, bei dem es nicht nötig ist, jedes Motiv aufzulösen. Vielmehr verweisen die einzelnen Motive letztlich auf ein zugrundeliegendes Schema, das hinter dem Text steht und im Einzelnen unterschiedlich ausgeformt werden kann. Damit ist der Blick auf die Elemente der ägyptischen Tradition gelenkt, nach denen im Sinne des skizzierten Lektüreverfahrens nun in einem zweiten Arbeitsschritt gefragt werden soll. Zieht man Texte aus pharaonischer Zeit heran, so wird deutlich, dass das Lamm des Bokchoris keineswegs völlig neuartig ist, sondern auf eine reiche Tradition Bezug nimmt. Das Gegenüber zweier voneinander unterschiedener Zeiten begegnet in zahlreichen Texten und wird als sogenanntes >Sonst-Jetzt-Schema< bezeichnet. 30 Chaosvorstellungen finden sich z.B. im Sargtextspruch 1130 und im Totenbuchspruch 175, der Gedanke einer Umkehrung der natürlichen Ordnung begegnet bereits im Gebet des Papyrus Anastasi IV 10,1-5 und das Außerkrafttreten der sozialen Ordnung wird beispielsweise in den Mahnworten des Ipuwer geschildert. 31 Sieht man jedoch von den Einzelmotiven ab und fragt nach der Gesamtstruktur des Textes und dem skizzierten Grundprinzip als solchem, so stößt man auf einen Text, der beides in nahezu exakter Form bietet. In der sogenannten >Prophezeiung des Neferti< aus dem frühen Mittleren Reich (um 1990 v. Chr.)32 findet sich genau jene Verbindung von Rahmenerzählung und zweigeteilter
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Anders als im jüngeren Töpferorakel gibt es im Lamm des Bokchoris keine detaillierte Schilderung von chaotischen Zuständen in der Natur. Jedoch könnte die Betonung der Regelmäßigkeit im Hinblick auf Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit der Frauen bei der Beschreibung der Heilszeit (111 2f.) darauf verweisen, dass es zuvor zu Unregelmäßigkeiten im Ablauf der Natur gekommen ist. - Evtl. stand auch am Ende von I 4 eine Notiz über eine unnatürliche Veränderung des Nils, vgl. K.-Th. Zauzich, Lamm, 169, Anrn. 5. 30 Vgl. W. Schenkel, Sonst-Jetzt, 51-62 mit Verweis auf weisheitliche Texte wie die )Lehre eines Mannes<, die )Mahnworte des Ipuwer< und den )Beredten Bauern< (hier: 56). 31 Vgl. dazu auch die instruktiven Überblicke bei E. Blumenthal, Weltlauf, 124-134; J. Assmann, Königsdogma, 260-271 und J.F. Quack, Prophetischer Text, 268. Eine gute Zusammenstellung des Motivrepertoires der )Chaosbeschreibungen< bietet D. Frankfurter, Elijah, 183-185. 32 Der Text selbst befindet sich auf dem Recto eines hieratischen Papyrus aus der Regierungszeit Amenophis' 11. (1439-1413 v.Chr.), spielt jedoch zur Zeit Amenemhets' I. (1939/8-1909), dazu F. Kammerzell, Prophezeiung, 102f. Als die derzeit beste Analyse des Textes darf nach wie vor die Studie von E. Blumenthal, Prophezeiung, 1-27 gelten.
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Prophezeiung: Der Text berichtet davon, dass am Hofe des Königs Snofru ein Priester namens Neferti auftrat, der Zukünftiges ansagte. Wie beim Lamm des
Bokchoris aus hellenistischer Zeit wird auf eine ältere, bedeutungsvoUe Epoche angespielt. König Snofru war einer der wichtigsten Herrscher des Alten Reiches und genoß bereits im Alten Ägypten eine bemerkenswert hohe Verehrung. )3 Die eigentliche Prophezeiung ist in eine U nheils- und eine Heilsweissagung unterteilt, bei der zunächst chaotische Zustände in Natur und Menschenleben geschildert werden, die dann wieder aufgehoben sind: 34 - »Die Sonne ist verhüllt und scheint nicht, damit die Menschen sehen . Man kann nicht leben, solange das Gewölk blutrot (die Sonne) verhüllt,iedennann
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wird betäubt sein aus Mangel an ihm"-« (E 25f.) )Die Ströme Ägyptens sind leer. Man kann die Gewässer zu Fuß durchschreiten und muß nach Wasser suchen, damit die Schiffe es befahren können,« (E 26f.) »Der Südwind wird [dem] Nordwind entgegenwehen, und der Himmel wird kein einheitlicher Wmd sein,« (E 28f.) ) Der Sohn wird zum Gegner, der Bruder zum Feind, ein Mann tötet seinen Vater,« (E 44) »Man (wird) jemandem seinen Besitz rauben, der dann dem Mann auf der Straße gegeben wird. [lch] will dir zeigen, wie der Herr trau[ert], während der Pöbel zufrieden ist.« (E 46-48) )Der Mittellose wird Besitztümer anhäufen, während der Vornehme [steh1en] muß, wn existieren zu können .« (E 56)
Während die Unheilszeit ausfuhrlich beschrieben wird (E 22- 57), ist die DarsteUung der Heilszeit relativ knapp gehalten (E 57- 70): Es wird eher summarisch als en detail davon berichtet, dass die chaotischen Zustände in Natur- und Menschenleben wieder aufgelöst sind: »Freut euch, oh seine Zeitgenossen! Der Sohn eines (ehrenhaften) Mannes kann sich einen Namen machen bis in alle Ewigkeit. Die aber Böses planen und an Aufstand denken, denen soU ihr Mund auf Furcht vor ihm zum Schweigen gebracht werden 36.( (E 61 - 63)
Dabei bezieht sich das »ihm« auf den, der das Chaos besiegt und die Ordnung wiederhersteUt: den König. Von alters her ist der Pharao derjenige, der mit sei-
l3 So wird bspw. in mehreren Texten des Mittleren Reiches positiv auf Snofru angespielt: er wiTd im Papyrus Westcar mehrfach genannt, und die Lehre für Kagemni charakterisiert ihn ab »treffiich, wohltätig«, vg!. D. Wlldung, RoDe, 114-140 (bes. 114-116). 3<4 Übersetzung anband der deruit gültigen Textedition von W. HekJc Prophezeiung, 23 ff. VgJ. auc h
F. K.ammerz.eB, Proptoezeiung, • ••. 0 . lS Zur Übersetzung dieses Halbverses vg!. Quack. 8eitrige. 77. 36 Vgl. zur Übersetzung HelcJc, a.• . O .. 55 und Quack., Sprachtabu, 62 (2).
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ner Thronbesteigung das Chaos überwindet und die Weltordnung einsetzt. 37 Der Pharao ist der Garant der Maat, und damit jenes Grundprinzips der ägyptischen Religion, das fiir aU die Normen steht, die das Zusammen1eben der Menschen und Götter regeln. 38 Wo die Maat gilt, ist sozia]e und natürliche Ordnung, wo sie gestört oder außer Kraft gesetzt ist, herrscht das Chaos, die lsfet. In der ProphezeiWlg des Neferti wird dies in einem Satz auf den Punkt gebracht. Dort heißt es über die Heilszeit: »Die Wahrheit/Maat kehrt wieder an ihren ursprünglichen Platz zuriick, die Lüge/lsfet ist beseitigt.« CE 68 f.)
Dementsprechend ist es nicht nötig,jedes Motiv der Unheilszeit in der Heilszeit im Einzelnen aufzu]ösen; es reicht zu betonen, dass die Isfet besiegt und die Maat wieder eingesetzt ist. Hinter dem Gegenüber von Chaosszenarium und Heilszeit steht letztlich ein Grundprinzip der ägyptischen Kultur selbst: die Vorstellung der Maat und deren BindWlg an den Pharao. Liest man vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund die Prophezeiung des Lammes, so wird deutlich, dass diese exakt auf jenes Grundprinzip des klassisch-pharaonischen Ägypten zurückgreift. Das Gegenüber von Unheilszeit und Heilszeit speist sich aus der Antithese Isfet-Maat, und der eigentliche Wandel vollzieht sich durch WiedereinsetzW1g der Maat und Außerkraftsetzung des Chaos: »)Die Wahrheit/Maat wird ans Licht kommen, die Lüge 39 wird zugrunde gehen, Recht und Ordnung werden in Ägypten herrschen.« (11 22)
Das Lamm des Bokchoris aus hellenistischer Zeit zitiert den Vers an, der bereits in der Prophezeiung des Neferti aus dem pharaonischen Ägypten den Wandel von der Unheilszeit zur Heilszeit markiert. 4O Damit folgt der Text nicht nur in seiner Komposition mit dem Gegenüber von Rahmenerzäh1ung und zweigeteilter Prophezeiung dem Prätext aus pharaonischer Zeit, sondern orientiert sich zugleich an der klassischen Maat-Konzeption. 41 Die Gemeinsamkeit zwischen beiden Texten besteht somit nicht etwa in einer literarischen Abhängigkeit, sondern vielmehr im Rückgriff auf ein verbindendes Grundschema: Die Maatkonzeption, die in einer zweigeteilten Prophezeiung entfaltet und mittels
37 Dazu E. BlwnenthaJ, Weltlauf, IISf. 38 J. Assmann, Hemcbaft und Heil, 136; den .. Maat, JJf. mit Betonung, clau der Beg;iff )Maall nicht nur die Weltoninung im Sinne einer Seschaff'eueu Ordnung be1.etchnet, sondern auch die soziale und ethische Ordnung (Gerechtigkeit). 391m demotischen Text steht an dieser SteDe nicht das Wort für bfet, sondern das demotische Wort 'd lqvgl. HJ. Thissen, Apocalypse Now, 1045. 40 So auch HJ . Thissen, Lamm, 133. Auf den Vers nimmt noch ein anderer Text jener Zeit aus dem Tempelarchiv von Tebtynis Buua, duu J .E Quack. Prophetischer Text, 266. 41 Dies belegt, dass die Maatkonzeption bis in die Spätz.eit hinein bestand, mit M. üchtheim. Maat, 99- 101 sesen J. Assmann, Maat, 252- 272.
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einer Rahmenerzählung historisch situiert wird. 42 So sehr jedoch heide Texte einem gemeinsamen Strukturprinzip folgen, so deutlich sind sie in ihrer Aussageabsicht voneinander unterschieden: Die Prophezeiung des Neferti erweist sich als eine ex-eventu-Prophezeiung, die deutlich aus der Retrospektive heraus geschrieben wurde. Der HeiJskönig wird konkret mit Namen genannt, es handelt sich um Amenemhet 1., den Begründer der neuen (zwölften) Dynastie: Seine Herrschaft markiert den von den Göttern gewollten neuen Heilszustand; das Chaos ist vorbei, die Maat gilt wieder. 4) Insofern hat der Text eine klare politische Pragmatik: es handelt sich um ein Stück Propagandaliteratur, das keine Zukunft ansagen, sondern die Gegenwan als gongewoUt legitimieren will. 44 Das Schema von Unheils- und Heilszeit fungiert dabei als hermeneutischer SchJüssel zur Deutung aktueller Welterfahrung: Die Herrschaft des neuen Pharao wird aJs der von Gon gewollte Heilszustand ausgewiesen,45 die vorausgehende Phase der soziaJen und politischen Unruhe war als Chaoszeit nur ein zu überwindendes Durchgangsstadium. 46 Dabei verhilft die Verlagerung der Ereignisse mittels der Rahmenerzählung in eine ferne Vergangenheit dazu, über die Zeit des Chaos (konkret die sogenannte erste Zwischenzeit)41 zurückzugreifen und die aktuelle Zeit als lange vorhergesagte Heilszeit auszuweisen. Gleiches gilt für die Weissagung des Lammes. Auch hier verlagert die Rahmenerzählung die Ereignisse in eine Vergangenheit, die vor der aJs chaotisch erlebten Unheilszeit liegt. Jedoch besteht der entscheidende Unterschied zur Prophezeiung des Neferti in dem Charakter der Heilsweissagung. In der Weissagung des Lammes wird kein konkreter König benannt. Vielmehr antwortet das Lamm auf die Frage, wann denn aJI diese Ereignisse geschehen werden, mit dem Satz: »Es wird geschehen, wenn ich ein Uräus am Haupte Pharaos bin, der nach Vollendung von 900 Jahren sein wird.« (l120r.).
Hier wird nicht etwa von einem bereits erreichten Heilszustand auf das Chaos zurückgeblickt , sondern )Cchte< Zukunft angesagt . Dabei ist zwar die Rede von 42 Zum engen Verhältnis von Neferti und Lamm vgl. E. Blumenthai, Weltlauf. 135 und J. Assmann, Königsdogma. 214, der den Neferti als 11 Vorbild für alle späteren politischen Chaosbeschreibungen ~
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bezeichnet. Im Text wird Amenemhet I. mit dem Kurznamen )Ameni( ('Imn)) genannt (E 57), vgl. G . Posener, Litterature. 47 ff. Diese Erkenntnis wurde von G. Posener in die Forschung eingebracht : Litterature, 21 - 60.145157. Vgl. auch D. Frankfurter, ApocaJypse. 170 und E. Blumenthal, Wehlauf. 134. Dies ist insofern evident, weil Amenemhe.l I. durch Usurpation auf den Thron gelangte, vgl. J. Assmann. Königsdogma, 275. Vgl. J. AJSmann. Maat, 57, der betont, w s die Überwindung des Chaos zum »Griindu.n.gsmyIhos des Mittleren Reiches~ wird. Zur Bewertung der ersten Zwischenzeit in Ägypten als mythische Größe und polemisches Gegenbild J. As5mann, Maat, 57; zu den historischen Verhältnissen SJ . Seidlmayer, First Intermediate ~riod.
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einem Pharao, dieser bleibt jedoch völlig unbestimmt, wie auch der Wortlaut darauf verweist, dass das Lamm selbst herrschen wird. 48 Der Akzent liegt deutlich auf dem Heilszustand als solchem, während die Figur des Pharao merkwürdig blass bleibt. Damit geht die Prophezeiung des Lammes in zweifacher Hinsicht über die Trarution hinaus: zum einen hinsichtlich der Zeitperspektive, zum anderen in Bezug auf die entpersonalisierte Zukunftshoffnung. Beides kommt innerhalb der ägyptischen Religionsgeschichte einem Paradigmenwechsel gleich. Aus dem klassisch-pharaonischen Ägypten sind keine ~ phezeiungen bekannt, die dezidiert Zukunft ansagen; es handelt sich durchweg um Texte, die als ex-eventu-Prophezeiungen gestaltet wurden. 49 Zugleich begegnet eine vergleichsweise machtlose Stellung des Pharao nicht in pharaonischer Zeit. Vielmehr stellen sowoh1 der veränderte Zeitaspekt als auch rue Lösung der Maatkonzeption von der Figur des Pharao eine Neuerung innerhalb der ägyptischen Geistesgeschichte dar. Dies leitet zu der Frage über, wodurch rueser innovative Umgang mit der Tradition hervorgerufen wurde. Es ist hier nicht der Ort, das äußerst komplexe Geschehen im Einzelnen nachzuzeichnen, jedoch verweisen alle Indizien darauf, dass die Prophezeiung des Lammes eine Krisensituation reflektiert, rue sowoh1 durch generell geistesgeschichtliche als auch konkret zeitgeschichtliche Faktoren geprägt ist. Mit seiner entpersonalisierten ZukunftshotInung steht der Text deutlich im Kontext des spätzeitlichen Ägypten, in dem der König nicht mehr als alleiniger Garant der Maat verstanden wird, sondern vielmehr die Riten zum Sch1üssel fur die Erhaltung des Weltgleichgewichts geworden sind. so Dementsprechend ist auch in den anderen Prophezeiungen aus hellenistischer Zeit wie dem Töpferorakel oder einem jüngst publizierten prophetischen Text aus dem Tebtynis-Tempelarchiv das Handeln des Königs dem der Gottheit deutlich nach- bzw. untergeordnet. SI In Ritualtexten wie dem Papyrus Salt spielt der König als solcher so gut wie keine Rolle mehr. S2 Daneben spiegelt sich im lamm des Bokchoris zugleich eine theologische Problemstellung des spätzeitlichen Ägypten wider. Wenn es im Text heißt, ))Siehe, die Verfluchung, die Re fiir Ägypten ... gemacht hat« (Ill 12), so wird damit auf eine Gotteserfahrung angespielt, rue in anderen zeitgleichen Texten wie den Lehren des Anchscheschonqi oder dem Papyrus lnsinger zum Ausdruck kommt. Der Ägyptologe Helmut Brunner hat dies als den »freien Wtllen« Gottes bezeich-
48 Vgl. 11 20: ~Es wird geschehen, wenn ich (= das Lamm) ein Uräus am Haupte P'hanos sein werde ...• 49 Vgl. dam die Untersuchung von N. Shupak. Prophecy, 24 sowie E. Blumenthal,Wehlauf, 135 und R. Meyer, Wende, 118. SO Vgl. zur geistesgeschichtlichen Entwicklung E. BlwnenthaJ, Weltlauf, 135- 141 und J. Assmann, Königsdogma, 283- 281. S I Vgl. Yen., Apokalyptik und Ägypten, 292f. S2 Vgl. J. Assmann, Königsdogma, 284f.
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oet 53 und spielt damit auf die sogenannte >Krise der Weisheit< an, bei der ein Aufsprengen des Tun-Ergehens-Zusammenhangs erfolgt und die Gesetzmäßigkeit von Tat und Folge nicht mehr gilt. Steht somit das Lamm des Bokchoris sowohl in seiner entpersonalisierten HeilsvorsteUung aJs auch der Problematik der Gottesfeme zeitgleichen Texten nahe, so reflektiert es zugleich eine konkrete zeitgeschichtliche Krise. Es kann mittlerweile als erwiesen gelten, dass unter dem im Text mehrfach genannten »Meder« niemand anderes als der seuleukidische Herrscher Antiochos IV. Epiphanes gemeint ist. S4 Er ist jener Meder, der nach Ägypten kommt und Unheil über das Land bringt 0 22) und sich in der geweissagten Heil...it wieder zu den Fremdländem entfernt (11 21 f.). Der Text spielt offensichtlich auf politische Ereignisse an, die im Kontext des sechsten syrischen Krieges (168 v. Chr.) stehen, im Rahmen dessen Antiochos IV. Ägypten eroberte und sich in Memphis zum Pharao krönen ließ. 55 Dabei ist bemerkenswert, dass der Text nicht explizit von Antiochos IV. spricht, sondern lediglich von pJ Mty ()>der Meder<~ Var., Moy). M.E. liegt gerade hier der Aspekt, der den Text auf eine andere Ebene hebt und zu einem Literaturwerk macht, das jenseits einer konkreten Geschichte liegt. & zeigt si,e h eine Kodierung von Sprache, die einer· seits dem eingeweihten Leser ennöglicht, die Anspielung zu verstehen, die aber zugleich die Möglichkeit bietet, von der rea1en Zeitgeschichte zur mythologi· schen Geschichte überzuJeiten. Dabei werden erfahrene (Zeit-)Geschichte und symbolische Geschichte so stark miteinander verwoben, dass anband textinter· ner Kriterien kaum noch bestimmbar ist, wo eine konkrete zeitgeschichtliche Anspielung vorliegt und wo nur eine metaphorische Aussage. 56 Der Text pendelt gleichsam zwischen Zeitgeschichte und mythologischer Welt hin und her, wobei die erlebte Zeit an die göttliche Zeit rückgebunden und die erfahrene Geschichte mit der göttlichen korreliert wird. Die Rede vom Chaos und der neuen Heilszeit fungiert so a1s henneneutischer Schlüssel, mit dem die aktueU 53 H. Brunner, Wille, I07f.; vgl. HJ. Thissen, Lamm, 132f. mit den genannten Belegen. 54 Diese Gleichsetzung hat HJ. Thissen minlerweiJe deutlich aurgezeigt : Lamm, 122- 124. Vgl. ergänzend Thissen, Apocalypse now, I 048ff. mit Zusammenstellung der direkten und indirekten Anspielungen auf Antiochos IV. in Texten jener Zeit, 10Str. - Demgegenüber spricht sich R. Meyer, Wende. 194, Anm. 53 ohne Angabe von Gründen gegen diese Gleichsetzung aus und l ieht darin eine >HJ.npeJ'SÖnliche Bezeichnung des jeweiligen Herrschers von Asient<. I..et2ilich verhilft ihm dies dam, die Erwähnung des Meders in J 22 auf die Perser zu beziehen und so die von ihm postulierte Textfassung »Deutero-l....amr1t..c in die Perserzeit zu datie,en (Wende, 198). 55 So H J . Thissen. Apocalypse now, 1050. Vgl . zu den historischen Abläufen A. Blasius, Historische Situation, 53- 57 mit Zusammenstellung der anderen Texte (u.a. Ostraka des Hor, sibyllinische Orakel. demotische Gr-affiti vom Satep-Tempel)., die Anspielungen auf Antiochos IV. enthalten. 56 Dies lässt sich an venchiedenen Punkten iDustrieren, L B. der Rede von ItDer-der-2.. und ItDer-der-55'1 in 11 5, bei der unklar ist, ob ruer konkrete Herrscher gemeint sind, oder die Aussage symbolisch zu verstehen ist, vgl. zu den lntetprtlationsansätzen K.-Tb. Zauzich, Lamm, 170, Anm. 18, HJ. Thissen, Lamm, 124 und L K.oenen, Apologie. 156f. - Historisch ist wohJ die Notiz ilber die Deportation der Jugend in 11 12.14 (freWKllicher Hinweis von A. 81asiiJs).
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erlebte Krisensituation ausgedeutet wird. 57 Dabei verhilft der Rückgriff auf das klassische Schema von Maat und Isfet dazu, die konkrete Zeitgeschichte zu transzendieren: die aktuelle Welterfahrung erscheint als eine seit langer Zeit geweissagte Unheilszeit, auf die eine Periode folgen wird, in der die Gesetze der sozialen und natürlichen Interaktion wieder gelten. Insofern zeigt sich bei der Prophezeillng des Lammes zweierlei: Zum einen belegt der Text eine Relecture von Tradition. Angesichts einer konkreten zeitgeschichtlichen Krise und eines geistesgeschichtlich motivierten Diskurses wird auf ein älteres Modell der Weltdeutwlg ZUJiickgegIilfen, das angesichts der neuen Situation eine grundlegende Veränderung erfahrt: Oie Heilsvorstellung wird in eine feme Zukunft verlagert und nicht mehr in klassischer Weise an den Pharao gebunden. Zum anderen belegt der Text eine Kodierung von Sprache, bei der ein zeitgeschichtliches Geschehen sprachlich verschlüsselt und in einen übergt eifenden Geschichtsentwurf eingegliedert wird. Dieser reicht von der Zeit des Bokchoris (8.Jh. v.Chr.) über die aktuelle Zeit Antiochos IV. Epiphanes (2.Jh. v. Chr.) bis in eine feme, nicht näher bestimmte Zukunft. Auf diese Weise entsteht ein Text, der zu verschiedenen Zeiten lesbar ist und auf der Ebene des Lesers zur Deutung eigener Welterfahrung genutzt werden kann. Und exakt dies belegt auch der demotische Papyrus, auf dem das Lamm des Bokchoris überliefert ist. Er enthält eine abschließende chronologische Einordnung des Schreibers Satabus. Dieser deutet den Text - wie eine Notiz am Ende des Papyrus erkennen lässt - auf seine Zeit: die Zeit des Augustus und damit gut 200 Jahre nach Abfassung des Textes." Somit zeigt sich bei der Prophezeiung des Lammes der Rückgriff auf ein traditionelles Schema der Weltdeutung, das im Hinblick auf eine neue zeit- und geistesgeschichtliche Situation modifiziert und anband dessen ein Geschichtsbild entworfen wird, das auch zu anderen Zeiten antizipiert werden kann. Dabei erweist sich das vermeintlich apokalyptische Szenario als ein ModeU der Welterklärung, das in der ägyptischen Tradition selbst angelegt ist und sich aus der Antithese von Isfet und Maat speist. Mit dem Phänomen der Apokalyptik hat das Lamm des Bokchoris nichts zu tun, denn hier wird keine neue Welt erwartet, sondern eine Wiederherstellung der alten Welt, mithin des maatgemäßen Zustandes. Insofern lässt sich beim Lamm des Bokchoris eine Veränderung von Tradition nachweisen, die man rn . E. eher als eine Eschatologisierung bezeichnen soUte.
' 7 Vgl. den direkten Bezug im Text: _Aber was den Meder betrifft, der sach Ägypten zugewendet hat - er wird steh zu den FremdIändem entfernen. Die Wahrheit wird ans Licbt kommen, die Lüge zugrunde gehen.« (Kol 11 2 1f.). 58 Die abscbließende Notiz ist insofern ungewöhnlich, da sie den Namen des Schreibers, Satabus, erwähnt . Jedoch handelt es sich bei )Salabus~ um einen Allerweltsnamen, der in spätdemotischen Urkunden mehrfach belegt ist, so dass nichts Näheres über den Schretber gesagt werden kann, vgI. K.-Th. Zauzich, SchTe1ber, 127f.
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2. Tradition und Innovation in der antik-jüdischen Apokalyptik - Daniel 7 Die Vision von den vier Tieren in Dan 7 gehört zu den wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Texten der apokalyptischen Literatur des Antiken Judentums. Die Apokalyptikforschung hat sich seit ihren Anfangen im 19. Jh . mit diesem Text befasst und ihn als eine Art Paradigma apokalyptischen Denkens ausgewiesen. 59 In der Folge soll zunächst von der Struktur des Textes ausgegangen und dann die ihm zugrundeliegende Tradition analysiert werden . Ersteres geschieht mit Hilfe einer synchronen Lektüre, 60 letzteres in diachroner Hinsicht. Der Text weist eine zweigeteilte Struktur auf: 6\ Im ersten Teil, den Versen 214 wird eine Traumvision Daniels geschildert, im zweiten Teil, den Versen 1727 erfolgt deren Deutung. Gerahmt ist das Ganze mit einer knappen EinJeitung (V. I ), einem Zwischenteil (Vv. 15- 16) und einem Schluss (V. 28). Dabei hat jeder Teil eine klare Funktion: Einleitung und Schluss dienen der Situierung des Textes: Oie Visio n ereignete sich in einer weit zurückliegenden Zeit, Daniel trat - so berichtet es Vers 1 - im ersten Jahr Belsazars, des Kö nigs von Babel, und damit in der zweiten Hälfte des 6.Jh.s v.e hr. auI. 62 Damit verlagert der Text - wie schon bei den ägyptischen Texten beobachtet - die berichteten Ereignisse an einen Kö nigshof vergangener Zeiten, im vorliegenden Fall gut vierhundert Jahre Vor der Abfassungszeit des Textes. 63 Oie eigentliche Vision (Vv. 2- 14) ist als Bericht Danie!s im Ich-Stil gestaltet. Danie! erzählt, dass er vier Tiere sieht, die aus dem Meer emporsteigen (Vv. 3- 8). Es folgt eine Gerichtsszene, bei der ein »Uralter an Tagen« (r7J'~ i,~ny) auftritt, dem Tausende dienen (Vv. 910). Das eine (= vierte) Tier wird getö tet und den anderen Tieren die Macht genormnen (V. 12). Diese geht an einen Menschenähnlichen über (V. 13); er hat nun die Macht, den Ruhm und die Herrschaft, und alle Völker und Nationen dienen ihm (V. 14). Mit dem Zwischenteil (Vv. 15- 16) ist der Text wieder auf
S9 Vgl. dazu die Einleitung dieses Bandes S. 11 f.
60 Daneben hat eine diachrone Lektüre des Textes genauso ihr Recht (vg!. z. B. E. Haag, Menschensohn, 138- 147 oder R.G. Kratz. TranJatio, 48-55 mit weiterfuhrenden Überlegungen zur Relation von Dan 7 zu den aramäischen Danielerzählungen). FÜT die folgende tradirionsgeschiChtliche Lektüre gehe ich jedoch von der Endfassung des Textes aus und ordne Dan 7 mit JJ. Collins einer gemeinsamen Komposition des Danielbuches in makkabäischer Zeit zu: JJ . Collins, Apocalyptic Vision, 7- 21. 61 Vgl. ZUr Aufteilung O . P1öger, Daniel, 106 und JJ. Collins, Daniel, 277. 62 BeIsazar ist selbst nie König gewesen, sondern hat während einer längeren Abwesenheit seinen Vater Nabonid vertreten (0. P\öger, Danie!. 107: H. Donner, Geschichte, 339f.). Jedoch scheint de r Autor von Dan 7 von e'.ner selbständigen Reger..tschaft Belsannrs auszugehen, JJ . Collins, Daniel, 294. 63 Konkret ist die zweite Hälfte des babylonischen Exils gemeint, Nabonid regierte von 556539 v. Chr., vgl. H. Donner, Geschichte, 397.
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der Ebene des Erzählers; Daniel ist entsetzt über das )}Gesicht« (V. 15). Er tritt nun selbst in die Szene ein - aus dem Erzähler wird ein Akteur - und wendet sich an einen der Dastehenden mit der Bitte um Erklärung (V. 16). Diese im Text nicht näher beschriebene Figur deutet das Gesehene (Vv. 17- 27), wobei der Akzent, wie schon in der Vision selbst, auf der Beschreibung des vierten Tieres liegt. Es wird umfangreich besprochen (\Iv. 19- 26), während zu den anderen Tieren nur knappe, summarische Angaben gemacht werden (V. 17). Mit dem letzten Vers (V. 28) ist der Text wieder auf der Erzählebene des Daniel; dieser ist durch das Gesicht erschreckt und behält das Gesehene in seinem Herzen. Der knappe Gang durch den Text verdeutlicht, dass dieser eine klare Struktur enthält, die zugleich gewisse AuffaJligkeiten erkennen lässt. Der Vision (\Iv. 2- 14) steht ein umfangreicher Deuteteil gegenüber (\Iv. 19- 26), die einleitende Notiz wird im Mittelteil wieder aufgenommen und der abschließende Vers 28 bezieht sich wieder auf den Anfang. Dabei raUt auf, dass der Akzent des Textes deutlich auf der eigentlichen Vision und deren Deutung liegt. Die Situierung in V. 1 erfolgt nur mit äußerst knappen Worten und liegt damit auf einer Linie mit den einleitenden Notizen der anderen Danielvisionen (8,1; 9,1;
10,1). Wenn man die Vision vo n Danie17 im Hinblick auf ihren traditionsgescruchtlichen Hintergrund analysieren will, so betritt man ein nahezu grenzenloses Feld. Es gilt mittlerweile als anerkannt, dass die Visionen des Danielbuches die intemationa1e Welt des Alten Orients im 2. Jh. v. ehr. widerspiegeln und sicherlich nicht eindimensiona1 erklärt werden können. 64 Zudem doJrumentiert die textgeschichtliche Basis von Daniel 7 ein breites Spektrum schriftlicher Quellen, die einerseits unabhängig voneinander zu betrachten, gleichzeitig aber durch Motive miteinander verbunden sind. 65 So ergibt sich eine Fülle von Möglichkeiten, den Text von Danie1 7 innerha1b seines Umfeldes zu verOrten: Man kann ihn z. B. im Kontext d.er anderen apokalyptischen Schrillen des Antiken Judentums interpretieren, oder auch im Hinblick auf seine textliche Überlieferung analysieren. Wenn in der Folge nach m öglichen älteren Traditionen gefragt wird, die auf Daniel 7 eingewirkt haben, so wird damit nur eine der Möglichkeiten, die Visio n von den vier Tieren zu kontextualisiercn, aufgegriffen. Sie basiert letztlich auf Erkenntnissen, die von Forschern wie Klaus Koch oder Reinhard Gregor Kratz in die Diskussion eingebracht wurden. So ist sich die Forschung darin einig, dass die Danie1visio nen deutlich auf prophetische Sprache zurückgreifen und auch im Kontext spätprophetischcr Texte
64 IMs verdeutlicht bei Dan 7 allein schon die umfangreiche Forschungsgeschichte, bei der griechischer, iranischer, kananäischer, phönizischeT, syro-palästinischer und ägyptischer Einfluß erwogen wurde, vg!. J. EggIer, Influences, V- VI und JJ. CoJlins, Dankl,280-293 . 65 Im Einzelnen sind zu nennen neben dem Masoretischen Text die griechischen 8ez.,eugungen von Dan 7 (u.a. Pap. 967, Ms. 88) und die aramäischen Textz.eugen aw Qumran ; vg!. die Zusammenstellung der relevanten Texte bei S. Beyerle. Zeichen, 279- 281 .
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gelesen werden können. 66 Ich möchte in der Folge diesen Blickwinkel wählen und untersuchen. wie sich die Sprache und spezifische Bildwelt von Daniel 7 zur älteren. speziell alttestamentlichen Literatur verhält : Zeigen sich ähnliche Sprachformen oder divergieren die Bildweiten und narrativen Muster eher voneinander, und lässt sich womöglich auch in der spätisraelitischenlfrühjüdischen Tradition ein Aufgriff von Tradition und deren Veränderung erkennen. wie er am ägyptischen Material zu beobachten war? Die skizzierten Fragen soUen in der Folge in drei Schritten beantwortet wer-
den. Dabei werden die Hauptcharakteristika der Vision von den vier Tieren in Danie) 7 mit spätprophetischen Texten verglichen. Ansatzpunkt hierfiir sind drei Besonderheiten. die der Text von Dan 7 aufweist: 67 (1) Die Gesarntstruktur des siebten Kapitels ist durch das Gegenüber von Vision und Deutung geprägt. Seide Abschnitte stehen einander gegenüber und sind durch eine Deutefigur miteinander verbunden. (2) Die Visio n ihrerseits weist gleichennaßen eine charakteristische Struktur auf: Sie ist auf formaler Ebene charakterisiert durch das narrative Grunclrnuster der vier Weltreiche und enthält (3) auf metaphorischer Ebene ihr Spezifikum durch die charakteristische Sprache und Bildwelt (Vv.2-8). 1) Fragt man zunächst nach der Gesamtstruktur des Textes und seinem Kompositionsprinzip, so kann Dan 7 im Kontext alttestamentlicher Visionsberichte gesehen werden . 68 Der Text weist einerseits deutliche Gemeinsamkeiten mit Visionsberichten der alttestamentlichen Propheten auf, unterscheidet sich jedoch zugleich von diesen . Dies betriffi: zunächst die fonnale Basisstruktur. Der prophetische Visionsbericht ist anband eines dreigeteilten Schemas gestaltet: auf eine Einleitung folgt die Mitteilung des Geschauten und die Deutung, wobei vor die Deutung ein kurzer Redeteil mit der Frage nach der Bedeutung des Geschauten geschoben werden kann . 69 Die Vision von Dan 7 entspricht zwar formal diesem Schema, weist jedoch diverse Eigentümlichkeiten auf. Dazu gehö rt der außergewöhnliche Umfang. VlSion und Deutung in Daniel 7 sind sehr breit ausgeführt. Sie umfassen jeweils sieben Verse, wobei der narrative
66 So betont z. 8. K. Koch. Reiche. 38, dass ein Großteil der Danielthemen prophetische Tradition aufgreift. Vgl. auch R.G . Kratz: Translatio, 190-195 fÜT Jer 27 und das Danielbuch. 67 1m Rahmen einer umfassenden Analyse, die an dieser SteDe nicht geleistet werden kann, wären bspw. noch auf die Theophaniemotive in der Erscheinung des ,.Ahen an TagentC (V.9f.) und das Thema des Menschensohns hinzuweisen, vgl. dazu O. Plöger, Daniel, 103; zur Menschen· sohnthematilc K. Koch. Reich, 156-169 und zur Theophanieszene und ihrer Relation zu 1 Hen 14 JJ. Collins, Daniel, 300. Vgl. insgesamt zum traditiorugeschichtlichen Material den Beitrag von JJ. Collins, Stirring up the Great Sea. 68 Vgl. den Übe.blick bei K. Koch. Visionsbericht. 176f mit einem Strukturaufriss von insgesamt 44 Vl$ionen sowie zur Forschungsgeschichte S. Niditch. V15ion. 1- 19. 69 VgJ. zu diesem Schema, K. Koch, Visionsbericht, 174 fund S. Niditch. Vl$ion. 2-7 mit Diskusskm älterer K1assifizierungsvenuche von M. Sister. F. Horst und 8 .0 . 1..oog.
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Anteil gegenüber den prophetischen Visionen ungleich höher ist. 70 Fonnale Einzelelemente wie die Frage nach dem Geschauten begegilet zwar auch in prophetischen Texten wie z. B. Amos 7,8; 8,2 und Jer 1,11.13, es fehlt jedoch der umfangreiche Deuteteil der Danielvision. Parallelen für diesen finden sich nur im Danielbuch selbst, so z. B. in Dan 8 oder in Dan 2, wobei Dan 2 aufgrund des Motivs der vier Weltreiche ohnehin eine deutliche Nähe zu Dan 7 aufweist. 71 Geht man von der Gesamtstruktur zu einzelnen formalen Elementen über, so unterscheiden sich die Danielvisionen gegenüber den prophetischen Visionen wie beispielsweise im Amos- und Jeremiabuch dadurch, dass dort ein Zwiegespräch zwischen dem Propheten und der Gottheit vorliegt. ohne dass eine Deutefigur daran beteiligt wäre. Anders die Danielvision. Hier ist die Gottheit auffcillig passiv; Daniel spricht allsschließlich mit einem der Dastehenden, der ihm das Gesehene auslegt 01. 16). Klaus Koch hat herausgearbeitet, dass die Figur des Deuteengels, der das Geschaute auslegt. vor allem in nachexilischer Zeit prominent wird. Dies gilt besonders fi.ir die einleitenden Vision des SachaIjabuches. Die acht Visionen von Sach 1-6 gehen hinsichtlich ihrer Komplexität deutlich über Amos und Jeremia hinaus 72 und stehen in einzelnen Punkten durchaus den Danielvisionen nahe: Auf eine nahezu analog zu Dan 7,1 zu sehende kurze situierende Notiz (Sach 1,7) " folgen die eigent~ ehen Visionsschilderungen. Diese sind jedoch im Gegensatz zu Daniel äußerst knapp gehalten und umfassen oftmals nicht mehr als ein bis ZWel (bei der achten Vision: drei) Verse: Sach 1,8; 2,1; 2,3; 2,5-6; 4,2- 3; 5,2; 5,6-7; 6,13. 74 Bei allen Visionen ist ein Engel (1"'0)" die tragende Mitt1erfigur; ihm und nicht mehr der Gottheit selbst obliegt die Erklärung des Geschauten. 76 70 Dies betont S. NKlitch, Vision, 18S. 71 Zur Relation von Dan 2 und Dan 7 vgl. R.G. Kratz. Tranlatio. 48-55. der die Verbindungen beider Texte detailliert auflistet. - Der formalen Struktur von Dan 7 entspricht auch die VlSton von Dan 8 sowie 2 8aruch 35-43: 53- 76 und 4 Esra 11.1- 12.39 und 13.1 - 53. vgI. da7ll S. Niditch. Viskm. 233- 235 und zu Dan 8 den Beitrag von Stefan Beyerle in diesem Band. 72 Vgl. den Überblick bei K. Koch. Visionsbericht. 176f. und zu den Sactwja-VtSionen S. Nidilcb, VtSion, 731f. und die Arbeit von Ch. Jeremias. Nachlgesicble, 39- 108, der betonl. dass die Nachlgesichle Sactwjas »Slarke BeDehungen zu den älteren prophetischen VtSionen« haben (107). 7J Zur Chronologie und der Bedeutung der Notiz vgl. R. Hanhardt, Sacharja, 60".78 : gemeint ist
der IS. Februar 519 v.Chr. 74 Eine Sonderstellung nimmt die vierte VISion vom Hobepiiester Josua ein (Sach 3.1 - 10). - Zu den VtSionen zuletzt H . Del1curt, Nachlgesichte, mit einer überlieferungsgeschichttich orientierten Analyse. Vgl. zur Relation der Nachtgesichte zu den Danielvisionen Ch. Jeremias. Nachtgestchte, 89- 106. 7S l"'D bezeichnet streng genommen den Boten/Gesandten (auch im politischen Bereich. vgl. 2 Kön 17,4) und im religÖ5en Kontext den Boten Gottes, vgl. D.N. Freedman/B.E. Wllloughby, An, 896tr. 76 Vgl. Ch. Jeremias, Nachtgesichte, 107.
.1"'0<,
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Weitere Einzelmotive sind die Anrede des Engels durch den Visionär, die Wiederherstellung des Wahrnehmungsvermögens durch den Engel und die Ermöglichung der Schau des Visionär. 77 Auf die Frage nach der Gesamtstruktur von Daniel 7 übertragen, zeigt sich, dass bereits in den alttestamentlichen prophetischen Visionen eine Veränderung des Schemas, wie es etwa in den
älteren Texten des Amos- oder Jesajabuch begegnet, nachzuweisen ist. Das Zwiegespräch zwischen Gottheit und Prophet wird dabei durch einen Dialog zwischen Visio när und Deutefigur ersetzt. Insofern zeigt sich deutlich, da ss auf formaler Ebene die Dan 7 zugrundeliegende Struktur von Vision und Deutung
an alttestamentliche, prophetische Traditionen anknüpft. Die Vision von den vier 1ieren steht in einer Tradition, die bei Amos beginnt (Am 7,7-9) und die - wie Susan Niditch gezeigt hat - bis zum 4. Esrabuch reicht. 78 Zugleich unterscheidet sich jedoch der Text - wiederum rein formal gesehen - deutlich von den ruteren Visio nsberichten. Visions- und Deuteteil sind umfangreich ausgestaltet, so dass sich zwar der Aufgriff eines traclitionellen Musters erkennen lässt, es jedoch zu einer Ausweitung hin zu einer Gesamtstruktur kommt, die als solche gegenüber der Traclition analogielos ist. 79 Dementsprechend verwundert es nicht , dass die Klassifizierungen des Textes stark variieren . Klaus Koch sieht in Dan 7 einen apokalyptischen Visionsbericht, l ohn J. Collins hingegen eine symbolische Traumvision. 80 Ganz gleich, wie man sich hier entscheidet, deutlich ist, dass die Vision von Dan 7 zwar im Ko ntext prophetischer Visionsberichte gesehen werden kann, jedoch das traditionelle Schema deutlich aufsprengt . Auch hinsichtlich des zweiten zu untersuchenden Aspektes. der Frage nach den leitenden narrativen Mustern , zeigt sich eine deutliche Nähe zu traditionellen Elementen bei gleichzeitiger Umformung und Neugestaltung. Die Forschung ist sich darin einig, dass die Vision von den vier Tieren wesentlich durch das narrative Muster des Schemas von den vier Weltreichen bestimmt wird. Dieses Schema kann als eine Art leitendes Strukturprinzip verstanden werden, welches sowohl die Vision von den vier Tieren aJs auch das ganze Kapitel prägt. 81 Darin folgt der Autor von Kapitel 7 zunächst der Ko nzeption von Dan 2, wo in gleicher Weise die Weltgeschichte in vier Perioden gegliedert wird (Babyionier, Meder, Perser und Griechen).82 Zugleich wird damit jedoch auf ein bekanntes narratives Muster zurückgegriffen, das auch 77 01. Jeremias, Nachtgesichte, 101.104(. 78 S. Niditc h. VisKm, 243-247; vgI. auch 01. Jeremias, Nachtgesichte, 107. 79 Dementsprechend spricht E. Haag, Menschensohn, 153 von einem »konstruierten Visionsbericht*<. 80 JJ. Collins, Daniel, 323 mit Verweis auf 1 Henoch 83- 84; 85- 9 1; 4. Esra 11 - 12; 13; 2. Baruch 35--47; 53-77 und Offenbarung 17. 81 Darüber hinaus wird auch in den Überschriften Dan 2,1 ; 6,1; 1,1 darauf Betug genommen. K. Koch, Bedeutung, 3 1 r. 82 Vgl. 1. Lebram. Daniel, 88; D. Porteous, Daniel, 85(.
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außerhalb des Alten Testaments begegnet, wie z. B. bei Hesiod im 8. Jh. v.ehr. (Erga I, 109- 201), in den Metamorphosen des Ovid (1, 89- 150) oder bei Zarathustra.8) Die Forschung ist sich seit einer Studie von J.W. Swain aus dem Jahr 1940 nahezu darin einig, dass die VorsteUung von den vier einmder sich ablösenden Weltreichen vennutlich aus iranischer Tradition stamnlt. 84 Trotz der genannten außeraluestamentlichen Bezeugungen 85 begegnet das Motiv von den vier Reichen jedoch bereits in der späten Prophetie. [n der oben genannten zweiten Vision des Sacharjabuches wird das Motiv der vier Reiche mit dem Bild des Horns verbunden, welches auch bei Daniel begegnet (V. 8.20- 21):" »Und ich hob meine Augen, schaute. und siehe. da waren vier Hörner. Und ich sagte zu dem Engel, der mit mir redete: Wer sind diese? Er sprach zu mir: Das sind die H örner, die Juda, Israel und JeOlsalem zerstreut haben.« (Sachazja 2,1 f.)
Auch wenn sich nicht eindeutig bestimmen lässt, wer konkret mit den vier Hörnern gemeint ist, so spricht doch viel dafür, dass es sich um die vier Weltreiche handelt, die gegen die Königsreiche Israel und Juda sowie die Stadt Jerusalem vorgegangen sind (Assyrien, Babylonien, Ägypten und Persien). 87 Dabei entscheidet sich die Frage, wie stark man Sach 2 in die Nähe von Dan 7 rücken kann, daran, ob hier eine Abfolge von politischen Reichen vorliegt und ob man in Juda und Israel die beiden gleichnamigen vorexilischen Staaten sehen will. II Auch wenn man in Sach 2 nur mit Vorsicht eine Rezeption der außeraluestamentJichen Vier-Weltzeitalter-Lehre wird sehen können 19, so dürfte doch Sach 2,1-4 zu den Texten gehören, die Dan 7 den Boden bereitet haben . 90 Insofern wird man wenigstens im gemeinsamen Rückgriff auf ein analoges Grundschema eine Gemeinsamkeit sehen dürfen, wobei ein Unterschied darin besteht, wie mit dem Schema konkret umgegangen wird. Während bei Sachruja innerhalb der Reiche nicht näher differenziert wird, fungiert die Anordnung der vier Reiche in Daniel 7 als eine Abfolge hin zum immer Bedrohlicheren; die Gefahrlichkeit und das Dämonenhafte kulminieren gleichsam im vierten Tier. Eine solche Abfolge begegnet auch nicht in Dan 2, wo das Vier-WehReichschema am Beispiel des Wehenbaumes exemplifiziert wird. Somit zeigt
13 Vgl. K. Koch, Buch Damel, 194- 199 und ders .. BK XXIII. 124-138.
84 J. w. Swain, Theory. 85 Vgl. zu einer ausführlichen Diskussion der au8eralnestamentlichen Bezeugungen des Vier-Reiche-Schenw den Anikel von A. Blasiw in diesem Band. 86 Vgl. auch 01. Jeremias, Nachtgesichte, 156- 163. 87 Die vier Reiche werden oftmals mit Assyrien. Babylonien, Ägypten und Persien ,gleichgesetzt, vgl. H. Delkurt, Nachtgesichte, 90 mit Arun. 26. II 01. Jeremias, Nachtgesichte, 162(.. Anm. 34. 19 So aber Koch. Bedeutung, 32 f. - Anden R. Hanhardt, Sacharja, 100(., der betont, d ass innerhalb Protosacharjas die Vierheit mehrfach begegnet. so z. B. als Symbol der G anzheit im Nachtgesicht von den vier Reitern (1 ,8) und den vier Wagen (6. 1). 90 Vgl. 01. Jeremias. Nachtgesichte, 163.
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sich letztlich wieder das schon beim prophetischen Visionsbericht beobachtete Bild: Der Autor von Dan 7 greift ein traditionelles Schema auf, verändert dieses und gibt ihm ein eigenes Gepräge. Im konkreten Fall spitzt er das Schema von den vier Weltreichen auf seine Aussageabsicht hin zu. Er schafft: innerhalb der vier Tiere eine qualitative Rangfolge und Steigerung, bei der das vierte und letzte Tier zum Bedrohlichsten von allen wird. Das skizzierte literarische Verfahren findet sich auch bei dem letzten hier zu besprechenden Aspekt, der Bildwelt in Daniel 7. Diese wird besonders in der Beschreibung der vier Tiere in den Versen drei bis acht deutlich: »(3) Und vier große Tiere stiegen empor aus dem Meer, das eine anders aJs das andere. (4) Das vorderste war wie ein Löwe und hatte AdJerflügel; ich sah, wie seine Rügel entfernt wurden und wie es vom Erdboden hochgerichtet und auf Füße wie die eines Menschen gestellt wurde, und ein menschliches Herz wurde ihm gegeben.
(5) Und siehe, ein anderes Tier, ein zweites, war gleich einem Bären, und es wurde an einer Seite aufgerichtet und es hatte drei Rippen in seinem Rachen zwischen seinen Zähnen und so rief man ihm zu: Steh auf! Friss viel Aeisch! (6) Danach sah ich, und siehe, ein anders (Tier) wie ein Panther!
Es hatte vier
Vogelflügel auf seinem Rücken und vier Häupter besaß das Tier, und Macht wurde ihm gegeben. (7) Danach sah ich in den Nachtgesichten, und siehe, ein viertes Tier, furchtbar und schrecklich und sehr stark, und es hatte große Zähne aus Eisen und Krallen aus Erz.
Es fraß und zerbrach und den Rest zertrat es mit seinen Füßen, und es war völlig verschieden von allen Tieren vor ihm und es hatte zehn Hörner. (8) Als ich die Hörner betrachtete, siehe, da brach ein anderes kleines Horn unter
ihnen hervor, und drei von den vorigen Hörnern wurden ausgerissen vor ihm, und siehe, Augen wie Menschenaugen befanden sich an diesem Horn und ein Maul, das anmaßend redete.((
Die Beschreibung der vier Tiere erhält ihr Charakteristikum dadurch, dass neben realweltlichen Tieren auch Mischwesen geschildert werden. Die Forschung hat vielfach diskutiert, ob fiir die in dieser Fonn dargestellten Mischwesen exakte Vorbilder benannt werden können. Insbesondere beim Löwen mit zwei GeierflügeLn oder dem Panther mit vier Vogelßügeln dachte man an 31torientalische Mischwesen, wie z. B. zwei Torkolosse aus Nimrud. \11 Jedoch haben eingehende ikonographische Untersuchungen von Urs Staub und Othmar Keel gezeigt, dass weder für den geflügelten Löwen noch für den Panther oder das vierte Tier direkte Vorbilder aus der altorientalischen Ikonographie angefuhrt werden können. \12 Vielmehr setzt der Autor von Daniel 7 den Akzent auf das Mischwesen als solches. Dabei scheint er eher verschiedene Motive zu kombinieren, die sich bereits in der alttestamentlichen Tradition finden, als sich an
\11 Dazu im Einzelnen O. Keel, TIere, 9. \12 Vgl. dam im Einzelnen O. Keel, TIere, 9- 15.
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klar bestimmbaren altorientalischen Vorbildern zu orientieren. Dies verdeutlicht eine Lektüre der Beschreibung der vier Tiere vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Texte: 93 In der prophetischen Literatur Altisraels begegnet oftmals die Gleichsetzung von Königen mit Tieren. So kann z.B. der ägyptische Pharao Psametich 11. mit einem Adler verglichen werden (Ez 17,3.7) und der babylonischen Herrscher Nebukadnezar II. mit einem Löwen (Jer 4,7; 49,19; 50,17).94 Der Vergleich mit Löwen begegnet nicht nur bei Fremdherrschern, sondern auch bei den eigenen Königen, wie z. B. im Klagelied des Propheten Ezechiel über das Schicksal des judäischen Königshauses (Ez 19,1b-3). Dabei verdeutlicht Vers 2, dass es im Tiervergleich um die Gefährlichkeit der Tiere bzw. dessen geht, der wie das Tier handelt: )~2)
Und eins von ihren Jungen zog sie (die Löwin) groß, und es wurde ein starker Löwe; der lernte, Tiere zu reißen, ja. Menschen fraß er.«
Die Kombination von Löwe, Bär und Panther findet sich ebenfalls bei den alttestamentlichen Propheten. In einem Drohwort an das abtrünnige Volk Israel heißt es beim Propheten Hosca (13,7-8):" )~7)
So will ich fiir sie wie ein Löwe werden und wie ein Panther lauere ich am Wegrand. (8) Ich will sie anfallen wie eine Bärin, der man die Jungen geraubt hat, und will ihr verstocktes Herz zerreißen und will sie dort wie ein Löwe fressen; die wilden Tiere sollen sie zerfleischen.«
Auch bei dem nicht näher bestimmbaren vierten Tier,96 das gleichennaßen fur einen fremden Herrscher steht, klingt alttestamentliche Sprache an: So findet sich in prophetischer Tradition sowohl das Motiv der Hörner als auch das der gotteslästemden Rede. Die Gleichsetzung eines fremdländischen Herrschers mit einem Horn begegnet in dem bereits zitierten Wort von den vier Hörnern in Sach 2 97 und das Motiv der gotteslästernden Rede eines Fremdherrschers in Jesaja 37,23. Dort wird über Sanherib, den König von Assyrien gesagt: )~2 3) Wen hast du beschimpft und verhöhnt? Über wen hast du die Stimme erhoben,
auf wen voll Hochmut herabgeblickt? Auf den Heiligen Israels.«
Zeigt sich somit im Vergleich mit alttestamentlichen Traditionen eine deutliche Nähe der BildweIt von Dan 7 zu prophetischer Sprache, so gilt dies auch fur das Motiv der menschenähnlichen Mischwesen. Besonders aufschlußreich ist 93 Vgl. E. Haag, Menschensohn, 160f. 94 »Der Löwe hat sich aus seinem Dickicht erhoben, der Verderber der Völker ist aufgebrochen .. .« (Jer 4,7). Vgl. zum Material auch JJ. Collins, Danie~ 297 und O. Kecl, Tiere, 5. 9S Auf die Parallele zu Hos 13,7(. wurde bereits mehrfach verwiesen, vgl. E. Haag, Menschensohn, 161 ; JJ. Collins, Damel, 295 und O. Keel, Tiere., 15. 96 Vgl. dam unten Anm. 104. 97 Vgl. auch I Sam 2,10; Dtn 33,17; Ez 29,17-21,21. Bei Sacharja ist das Horn elstlllals auf eine V'let'heit von Mächten bezogen, vgl. R. Hanhardt, Sacharja., 101 .
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hier die einleitende Vision des Ezechielbuches. auf deren Nähe zu Dan 7 bereits mehrfach hingewiesen wurde: 98 Dabei hat insbesondere H. Kvanvig anband einer Analyse von Ez I, Dan 7 und Hen 14 das enge Verhältnis zwischen den Texten herausgearbeitet. So hat die Vision von Ez I wohl a1s Vorlage fur die von Hen 14 gedient und zugJeich über Hen 14 wiederum Dan 7 beeinflusst. 99 In der Folge sollen kurz die Bezüge zu Ez I dargestellt werden: Ez 1,4-10 (Ausschnitte): )>(4) Und ich sah, und siehe. ein Sturmwind kam von Norden, eine große Wolke mit flackerndem Feuer (. .. ) (5) Und mitten darin war etwas wie vier Lebewesen. Und dies war ihre Gesta1t : Sie sahen aus wie Menschen . (6) Und jedes von ihnen hatte vier Gesichter und vier Flügel. (7) Und ihre Beine waren gerade und ihre Füße wie
Stierfüße ... (8) Und sie hatten Menschenhände unter ihren Flügeln an ihren vier Seiten (... ) (J 0) Und ihre Gesichter sahen so aus: Ein Menschengesicht blickte bei allen vieren nach vom, ein Löwengesicht bei allen vieren nach rechts, ein Stiergesicht bei allen vieren nach links und ein Adlergesicht bei allen vieren nach hinten.« 100
Es begegnet sowohl die Kombination von Menschengliedem (Hände) und Vogelgliedern (Rügel) als auch die komplexe Ausgestaltung der Figur bis hin zur Verfremdung (verschiedene Gesichter). Des weiteren fmden sich Vergleichsformeln ()>etwas wie«), bei denen deutlich wird, dass hier Wesen beschrieben werden, die über die Grenzen des Vertrauten hinausgehen . In beiden Visionen begegnet zudem die Vierersymbolik. Bei Daniel vier Tiere, vier Wmde, vier Flügel, vier Häupter und bei Ezechiel vier Lebewesen, vier Gesichter und vier Flügel. 10 1 Anders als in Dan 7 wird die Vision in Ez I jedoch nicht ausgedeutet. Sie erfUUt in der Komposition des Ezechielbuches lediglich die Funktion der Betonung der Herrlichkeit Jahwes und bildet den Auftakt für die eigentliche Thronwagenvision. 102 Die Texte weisen auf der Ebene der Gattung deutliche Unterschiede auf. Es handelt sich in beiden Fällen um Visionen, jedoch liegt beim Ezechieltext eine Thronvision vor, während Daniel 7 nur eine Thronszene enthält (7,9 ff.). Der Ezechielvision fehlt der symbolische Zug der Danielverse; ihr geht es um die Beauftragung des Visionärs selbst. 103 Bedenkt man, dass Ez I wiederum altorientalische Ikonographie reflektiert 104, so wird deutlich , dass die Ausgestaltung der Tiere von Daniel 7 zwar nicht von der altorientalischen Bildwelt losgelöst werden kann, diese jedoch allenfalls indirekt Pate 98 Vgl. E. Haag, Menschensohn, 182 und H. Kvanvig, Henoch, 101 - 103. 99 H. Kvanvig, Henoch. 130 und JJ. Collins. Daniel, 300 mit Verweis auf Dan 7,9 (. S. dazu auch S. Niditch. Vision, 197- 199. 100 Berufungsvision Ezechiels (1 ,1- 3.5: zerfallt in Thronwagenvision 1,1.4- 2,8 und Buchrollenvision, 1.2-3 und 2,9-3.8).1,4-28 schildert das Erscheinen der Herrlichkeit Jahwes - vier Wesen, die den Thron tragen. 10 1 Vgl. zum Vergleich H . Kanvig, Henoch. 114(. 102 Vgl. dazu W. Zimmerü, Ezechiel. 13(. und zum Aufbau des Ganzen H. Kvanvig, Henoch, 100f. 103 H . Kvanvig, Henoch, 114. 104 Vgl. O. Keel, Tiere, 16.
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gestanden hat. Der Verfasser von Dan 7 erweist sich als ein kreativer Autor, der traditionelles Motivrnaterial verwendet, jedoch zugleich weiterentwickelt, aufsprengt und neu ausdeutet. 105 Er greift narrative Muster auf, die bereits in prophetischer Sprache begegnen und kombiniert diese zu einer Gesamtstruktur, die sich als solche nicht aus älteren prophetischen Schriften ableiten lässt. Es kommt zu einer Ausdeutung traditioneller Elemente und zu einem innovativen Umgang mit klassischen Sprachmustern. Dies gilt sowohl fiir das formale Element des Visionsbericht als auch fiir das narrative Strukturmerkmal der vier Reiche. Besonders deutlich wird dieses Verfahren, einzelne Motive und Topoi aufzugreifen und neu zu kombinieren, in der Beschreibung der vier Tiere. Die genannten Motive finden sich zu einem Großteil auch in der prophetischen Tradition, jedoch ist die Verbindung von geHihrlichen Tieren wie Löwen, Bär und Panther mit der Vorstellung menschenähnlicher Mischwesen in dieser Form in Daniel 7 neu. Dabei scheint der Akzent gerade auf der Unvergleichlichkeit der Lebewesen zu liegen: Der Autor will offenbar bewusst Wesen schildern, die sich nicht einfach zuordnen oder im Verhältnis eins zu eins aus der Tradition ableiten lassen, sondern vielmehr an der Grenze zwischen Menschen- und Tierwelt stehen. Vom Löwen heißt eS9 dass er auf Menschenfuße gesteUt und mit einem Menschenherz ausgestattet wurde, der Bär entspricht mit seinem aufrechten Gang dem Menschen,l06 und vom vierten Tier wird berichtet, dass ihm Menschenaugen gegeben wurden und ein Mund, der großsprecherisch prahlt. Insofern scheint die skizzierte Veränderung und die Kombination der Topoi einem klaren Ziel zu folgen: es sollen Wesen geschildert werden, die unvergleichlich geHihrlieh und bedrohlich sind. Dies wird auf der sprachlichbildhaften Ebene durch die Analogielosigkeit des Beschriebenen zum Ausdruck gebracht. Beispielhaft mag die Charakterisierung des vierten Tieres sein, bei der sich die wissenschaftliche Exegese bis heute darin uneins ist, was genau darunter zu verstehen ist. 107 Bedenkt man. dass gerade in der Beschreibung des vierten Tieres ein deutlicher Zeitbezug greifbar wird, so bekommt diese Beobachtung doppeltes Gewicht: Es darf mittlerweile als gesichert gelten, dass mit dem kleinen Horn, das aus den 10 Hörnern herausbricht, Antiochos IV. Epiphanes gemeint ist. 108 Der Text nimmt mit der Erwähnung des Horns und der Notiz von V.25 über die Änderung von »Zeiten und Gesetzen« auf die Religionspolitik Antiochos IV. in Jerusalern Bezug und bietet zugleich durch den
105 Vgl. O . Plöger, Daniei, 109, der betont, dass der Verfasser des Textes für die Visionen keinen festgefugten Stoff zur Verfügung hane. 106 Vgl. O. Keel, TIere, 14f. 107 Den m .E. besten Versuch stellt nach wie vor die Arbeit von U. Staub aus dem Jahre 1978 (Das Tier mit den Hörnern) dar, der in dem TIer einen Kriegselefanten erkennen möchte. Zu älteren Deutungsversuchen A. Bentzen, Daniel, 61. 108 Vgl. JJ. Collins, Daniel, 299; O . Plöger, Daniel, 11 7; A. Bentten, Daniel, 57.67.
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Rekurs auf Antiochos einen zeitlichen Fixpunkt fiir seine Entstehungszeit. 109 Dadurch gewinnt jedoch das Schema der vier Reiche einen tieferen Sinn: Die aktuelle, durch den Seleu1cidenherrscher ausgelöste Krisensituation wird mithilfe eines Vier-Reiche-Schemas ausgedeutet, das dazu verhilft, die konkrete zeitgeschichtliche Situation in einen größeren, geschichtsübergreifenden Kontext einzubinden. 110 Ziel ist es, die hinter der Geschichte wirkenden Mächte zu verdeutlichen und ein metah1storisches Konzept zu vermitteln, bei dem der kommende Äon zwar einen Gegenpol zur bestehenden Welt darstellt, jedoch auf metahistorischer Ebene die Kontinuität des göttlichen (Schöpfungs-)Handelns gewahrt bleibt. 11 t Die Tiere selbst repräsentieren trotz aller Verschiedenheit letztlich eine einzige feindliche Macht, alle vier treten aus der gemeinsamen Substanz, dem chaotischen Meer, hervor. 112 Diese feindliche Macht wird im Text durch die Macht Gottes ersetzt. der sich als der eigentliche Herr der Geschichte erweist. Im konkreten Fall vollzieht sich dies durch die Entmachtung der Tiere. die in der Vernichtung des vierten Tieres kulminiert (Vv.l1 - 13). Am Ende werden die Herrschaft, die Macht und die Größe der Reiche dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben (V.27). Letztlich verbirgt sich hinter diesem Szenario das theologische Anliegen, die erlebte Geschichte an das Handeln Gottes rückzubinden. Dieser Gott wird in Dan 7 - ganz alttestamentlichem Denken entsprechend - als Herr der Geschichte ausgewiesen. Dies ennöglicht es. neben der zeitgeschichtlichen Krisensituation zugleich auf einen aktuellen theologischen Diskurs einzugehen: die Frage der Theodizee und die sogenannte Krise der Weisheit. bei der die bislang gültigen Regeln rur die interaktion von Gott und Mensch als nicht mehr gültig erkannt werden . Gerade die späte Weisheit thematisiert diese Frage und hat in diesem Punkt das Denken der frühen Apokalyptik geprägt. So behandelt die Apokalyptik - wie es der Alttestamentler Jürgen Lebram formulierte - auf »geschichtlich kosmjscher Ebene« ein Problem der späten Weisheit: »die Frage nach der Bedeutung der zeitweiligen Gefahrdung und Gottverlassenheit des Frommen, d.h. der vorübergehende Außerkraftsetzung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs.«1 13 Insofern kommt dem in Dan 7 formulierten metahistorische Konzept eine doppelte Pragmatik zu. Es will zum einen über die zeitgeschichtliche Krisensituation hinausfuhren und die erlebte Zeit an ein göttliches Heilshandeln rückbinden und zum anderen ein theologisches Problem beantworten . Gottes Handeln und
109 Vgl. dam o. Keel, Maßnahmen, 87ff. 110 Klaus Koch spricht in diesem Zusammenhang von der »Metahistorie« (Reich, 172). Vgl. auch JJ. Collins, Daniel, 324. - Vergleichbares zeigt sich in der etwas später entstandenen ZehnwochenapokaJypse: aktuelle Geschichtserfahrung wird kodiert und in einen Geschichtsabriß eingegliedert, der auf das Eschaton ausgerichtet ist, vgl. dan,! A. Bedenbender, Gott, 263. 111 K.. Koch, Reich, 172. 112 Dies betont O. Plöger, Daniel, 108. 113 TRE 1U, 196f.
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seine Macht jenseits der geschichtlichen Erfahrung werden betont und damit letztlich die als krisenhalt erlebte aktuelle Zeit auf Gott rückbezogen. Formal geschieht dies in Dan 7 durch die Aktualisierung älterer Muster der Weltdeu!ung. Sowohl im Hinblick auf den Offenbarungsempfang (den in dieser Form neuen Visionsbericht) a1s auch auf das metahistorische Konzept selbst (die Ausweitung des Vier-Reiche-Schemas und die Transzendierung der Sprache) zeigt sich eine in dieser Fonn neue Kombination klassischer Elemente prophetischer Tradition und deren Veränderung. 114
3. Der Ertrag des Lektüreveifahrens Dan 7 und das Lamm des Bokchoris Geht man von der Betrachtung der Texte in ihrem jeweils kulturspezifischen Binnenraum zum religionsgeschichtlichen Vergleich über, so zeigen sich auf struktureller Ebene interessante Gemeinsamkeiten. Sowohl die Prophezeiung des Lammes a1s auch Dan 7 belegen eine Relecture von Tradition, bei der auf ldassische Sprache, narrative Muster und Topoi zurüCkgegi iffen wird. Dem einher geht ein innovativer Umgang mit der Tradition, der jedoch kulturspezitisch ausgefonnt ist: Die Texte aus dem hellenistischen Ägypten zeigen deutlich die für die ägyptische Kwtur charakteristische Konstanz zentraler Topoi. Es wird auf ein klassisches Muster der Weltdeutung (Maat und Isfet) zurückgegriffen, das sowohl den Rahmen a1s auch die Binnenmotive vorgibt. Das eigentlich Innovative liegt hier in der Eschatologisierung der Tradition und der Entpersonalisierung der Zukunftshoffnung. Beides ist innerha1b der ägyptischen Tradition neu. Jedoch wird zugleich in klassischer Fonn ein Heilszustand erwartet, in dem die Maat wieder gilt, die Feinde geschlagen sind und der Tun-Ergehenszusammenhang Gültigkeit hat. Dabei speist sich das scheinbar apokalyptische Inventar der Texte aus der Antithese Isfet-Maat und nicht etwa aus einer der antik-jüdischen Apokalyptik vergleichbaren Geistesha1tung. Die ägyptischen Texte erwarten kein gänzlich neues Reich, sie kennen nicht die Abfolge zweier Weltzeitalter und auch nicht eine endzeitliche Katastrophe. Anders die Vision in Damel 7. Hier finden sich explizit apokalyptische Vorstellungen, wobei das Spezifikum darin liegt, dass diese durchaus an traditionelle Modelle der Weltdeutung anknüpfen. Der Autor von Damel 7 steht deutlich in der a1ttestamentlichen Tradition vom Geschichtshandeln des Gottes JHWH, greift jedoch in der Ausgestaltung dieser Tradition auf ganz unterschiedliche Motive und Struktunnuster zurück. Anders als in Ägypten, wo sich mit dem Maat-Isfet-Schema ein zentrales Element benennen lässt 9 finden sich in Damel 7 verschiedene Motive und Traditionen. Das Tertium Comparationes zwischen den beiden
114 Vgl. JJ. Collins, Dame!. 323 .
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Texten besteht jedoch darin, dass sie letztlich auf die gJeiche Krisensituation reagieren. Sowohl Dan 7 als auch das Lamm des Bokchoris spielen auf Antiochos rv. Epiphanes an. Charakteristischerweise wird er jedoch in heiden Texten nicht explizit erwähnt. Das Lamm redet von )>dem Meder«. Dan 7 spricht von einem >.ldeinen Horn«, Es kommt jeweils zu einer Kodierung der Sprache, deren Funktion sich m .E. genau bestimmen lässt. Das konkrete zeitgeschichtliche Ereignis soll in einen größeren Zusammenhang gestellt und die erlebte Zeit an clie göttliche riickgebunden werden. Auch wenn die jeweilige Form der Metahistorie divergiert, so zeigt sicb auf struktureller Ebene ein und dasselbe Verfahren: Aufgrund einer konkreten, historisch nachweisbaren K.risensituation werden mIere Modelle der Weltdeutung aktualisiert und reformuliert . Dabei ist der zeitgeschichtliche Faktor nur einer neben anderen. Hinzu kommt die theologische Frage, auf die die Texte anspielen. Der Gedanke der Gottesferne und die Krise der Weisheit, bei der die Gesetzmäßigkeiten des Tun-ErgehensZusammenhangs a1s nicht mehr gültig betrachtet werden. Insgesamt zeigt sich somit ein strukturgleiches Reaktionsmuster, bei dem es jeweils zu einem Rückgriff auf kulturimmanente Tradition kommt, die auf je eigene Weise gedeutet und verändert werden. l15 In beiden FatJen umfasst dies den Rückgriff auf ein Spezifikum des jeweiligen religiösen Systems: In •• Agypten der Rekurs auf das Maat-Schema, welches eine Grundkonstante der ägyptischen Religion darstellt, und in Israel der Verweis auf das Geschichtshandein JHWHs, dessen Herrschaft Zeit und Geschichte überdauert. 116 Es ist hier nicht der Ort, um nach der Bedeutung dieses Ergebnisses für die Frage nach Ursprung und Ausprägung apokalyptischen Denkens zu fragen. Jedoch wäre zu überlegen, inwiefern es sich bei der Apokalyptik nicht um eine Art Eschatologisierung von Tradition handelt, die sich in Ägypten im Bild echter Prophetie zeigtl1 7 und im Antiken Judentum in >echter< Apokalyptik ihren Niederschlag findet. Dabei wird man apokalyptisches Denken in einem doppelten Spannungsfeld verorten können: einerseits als Reaktion auf eine zeitgeschichtliche Krisensituation und andererseits als Antwort auf einen theologischen Diskurs. Beides führt zu einer bis dahin unbekannten Relecture von Tradition, bei der ältere Muster der Weltdeutung akt11aJisiert werden . 11 S Ähnliches fonnuliene beieits K. Müller in einem von der Forschung viel zu wenig beachteten Beitrag (Ansätze. 22 f.). Jedoch sp;tze Müller dies zu sehr auf einen panorientalischen Antihellenismus zu. den es in dieser Form woh1lcaum gegeben hat, vgI. Ven., Apok.aIyptik und Ägypten, 302. 116 Dies kOi iupondiert wiederum mit der Gesamtintention des DanieJbuches, vgI. O. ~~ Tiere,
4. 117 EI wäre zu fragen, inwiefern hier jedoch die Saat der Apolcatyptik gelegt ist, die dann in späterer Zeit erst aufgeht. Dabei müßte du Verhältnis von Texten wie der Demotischen Chronik. dem Töpferorakel und dem l..amm des Bokchoris zueinander geklärt werden. Vgl. dazu einstweilen D. Frankfurter, EJijah, 225.263f. und für das Beispiel des Täpferorakels L Koenen, Prophecies. 25 1- 254 und den ... Apok>gie. 187.
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Wenn man nun abschließend nach der Leistung des hier vorgesteUten Lektiireverfahrens fragt, so möchte ich diese in zwei Punkten sehen. Die Verbindung von religionsgeschichtlichem Ansatz und traditionsgeschichtlicher Fragestellung verhilft zum einen dazu, die Texte jeweils vor dem Hintergrund des je eigenen kulturellen Sinnsystems zu ana1ysieren. Zum anderen wird es so aber auch möglich, die Texte auf struktureller Ebene zu vergleichen. Gerade dadurch können m . E. kWturübergreifende Prozesse in den Blick genommen werden, die bei einer ausschließlich am Einzelmotiv orientierten Lektüre verschleiert
blieben.
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ANOREAS BLAsrus
Apokalyptik und Geschichte Das Buch Daniel in der (a1t)historischen Forschung
Die zentralen, im negativen Sinne auslösenden Ereignisse der Daniel-Apokalypse sind ebenso unmittelbar wie untrennbar mit den staats- und damit gleichbedeutend auch religjonspolitischen Maßnahmen des Seleukidenkönigs Antiochos' IV. Epiphanes (175 - 164 v.u.Z.) verbunden. ' Angetrieben durch die Idee der Erschaffung emes hellenistischen Bollwerkes gegen das unaufhaltsam noch Osten ausgreifende Römische Reich versuchte er, in die Fußstapfen seines Vaters Antiochos' IJI . (223 - 187 v.uZ.) tretend, durch militärische Stärke wie auch durch die Betonung griechisch-hellenistischer WertvorsteUungen die nach dem Scheitern seines Vaters verlorene Position wiederzuerlangen. 2 Da kamen ihm die sich in Angeboten zur Geldbeschaffung und HeUenisierung gegenseitig überbietenden und dadurch in rascher Folge aufeinander folgenden Hohenpriester und FinanzverwaJter in Jerusalem. Jason und Menelaos, sehr gelegen, und allmählich ließ sich der König - sehenden Auges und damit keineswegs schuldlos - in die innerjüdischen Kämpfe hineinziehen), was zur Verschärfung des Verhältnisses zwischen König und Juden von Jerusalem und schließlich in militär- und außenpolitisch für Antiochos IV. brisanter Phase 4 zu massivem Eingreifen des Monarchen in bis dahin unangetastete innerjüdische BelangeS und daraus resultierend zur innenpolitisch eskalierenden und dabei das jüdische Selbstverständnis existentieU bedrohenden militärischen Auseinandersetzung führte. In dieser tiefen Krise ergriff nun der Apokalyptiker das Wort - zumindest in der Endfassung des Textes.
I S. grund1egend: E. Bickermann, Der Gott; V. Tcherikover, Hetlenistic Civilization, 152-203; O . Morkholm, Antiochus IV ofSyria, 135- 165 ; den., Antiochus IV; Th. Fischer, Seleukiden, 1341; E. Will, Histoire 1I, 326-344; D. Gera, Judaea , 153- 161 , 223- 230; E.S. Gruen, HeUenism. 2 Nach der verheerenden Niederlage Antiochos' 111 . gegen die römischen Truppen bei Magnesia Ende 190 v.uZ. waren den Seleukiden im FriedensschJuss von Apameia 188 v.uZ. hohe Reparationszahlungen und Rüstungsbegrenzungen auferlegt worden. Antiochos IV. zahlte die infolge der Thronwirren nach der &mordung Seleukos IV. säumigen Raten und konnte als potentiell wichtiger Bundesgenosse Roms gegen den Makedonenkönig Perseus ungeachtet der gegen das SeIeu1cidenreich verhängten Sanktionen erneut eine groBe Armee aufstellen, vgl. O . Morkholm, Antiochus IV ofSyria, 22-73; D . Gen, Judaea, 89-129. ) S. bereits E. Bickerrnann, Der Gott, 136. 4 Während der zwei Feldzüge 170-168 v.uZ. im 6. Syrischen Krieg gegen die Ptolemäer, s. O. Morkholm, Antiochus IV of Syria, 64- 101 ; vgl. D.R. Schwartz, Antiochus IV Epiphanes, 45- 56. 5 Vgl. auch O . Keel, Die kultischen Maßnahmen (OBO 178), 87- 121.
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Andreas Blas;us
Die Anjlinge der historischen Daniel-Forschung Contra prophetam Danielem duodecimum librum scribit Porphyrius, nolens eum ab ipso, cuius inscriptus est nomine esse compositum sed a quodam qui temporibus Antiochi, qui appellatus es! Epiphanes, fueti! in tudaea, el non tarn Danielem ventura dixisse quam illum narrasse praeterita, denique quidquid usque ad Antiochum dixerit, veram historiam continere, si Quid aulem ultra opinatus si!, quae futura nescierit esse mentltum. Gegen den Propheten Danie! schrieb Porphyrios das 12. Buch [des )Adversus Christianos<1. nicht wollend, dass es von jenem selbst, dem es dem Namen nach zugewiesen ist, zusammengestellt worden sei, sondern von irgendeinem, der in den Zeiten des Antiochos, der Epiphanes genannt wird, in Judäa war, und dass Daniel nicht so sehr die Zukunft voraussagte, wie er die Vergangenheit berichtete, und dass schließlich, was auch immer er bis zu Antiochos hin erzählt habe, wahre Historie beinhalte, wenn er jedoch etwas darüber hinaus vermutet habe, dies erlogen sei, da er die Zukunft nicht gekannt habe. Hieron., in Dan., prologus; PL XXV, Co!. 491 ; Harnack F43A; Stern 11 464a.
Nicht ohne eine gewisse Häme berichtet dies der Kirchenvater Hieronymus in seinem Daniel-Kommentar von den >ungeheuerlichen< Behauptungen des neuplatonischen Philosophen und Religionshistorikers Porphyrios, die dieser in der 2. Hälfte des 3.Jh. u.Z . in seiner Streitschrift >Adversus Christianos( anhand der biblischen QueUe aufgestellt hatte. 6 Dass sich die hier zitierten Zweifel des Porphyrios in der modernen historischen Forschung indes als begründet erwiesen, mag als Ironie der Geschichte gegen Hieronymus gelten. Standen die Untersuchungen der beiden Autoren vordringlich im Dienste philosophischtheologischer anti- bzw. pro-christlicher Polemik, so wird das Spektrum durch die bereits 200 Jahre zuvor von dem gräzisierten jüdischen Historiker Ravius Josephus im Rahmen seiner >Antiquitates Iudaicae
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Daniel·Figur und den in seinem Namen berichteten Ereignissen denn auch qllasi eine MittelsteUung zwischen den zuvor genannten Lagern ein 10: zwar akzeptiert er die textinterne Datierung des Daniel·>settings( 11 und häJt damit am Prophetie--Charakter der geschilderten Ereignisse fest 12, gleichzeitig beginnt jedoch auch er bereits - wie später Porphyrios - die in Dan 7 und 11 geschil· derten Greueltaten und Errettungsszenarien >profan
In Buch XII 7,6 §322 heißt es dann auch im Kontext der Antiochos EpiphanesSchilderungen: Diese Verwüstung des Tempels nun geschah entsprechend der Prophezeiung des Damel, die vierhundert und acht Jahre zuvor gemacht worden war, denn er hatte vorausgesagt, dass der Tempel von den Makedonen zerstört werde.
Josephus bindet dabei nun auch die Römer in die Prophezeiungen des Daniel· Buches mitein und fahrt Ant. X 11,7 §276 - so der Passus authentisch istl)fort: In gleicher Weise schrieb Daniel auch über das Reich der Römer, und dass von ihnen (Jerusalem eingenommen und der Tempel) aufgelassen werde.
Diese Einbindung Roms in das Danielsche Szenario - vgl. Ant. X 10,4 § 209 zu Dan 2,42f. - geschieht dabei jedoch auf problematische Weise. So wird nun auch die 70 u.Z. erfolgte Tempelzerstörung in die Greuelprophezeiungen hineingelesen, damit aber das in Dan >prophezeite< Ereignis qllasi in doppelter
10 Jos., Ant. X 10-11 §§ 186-28 1; XI 8.S §337, XII 7,6 §322. 11 Der Daniel-Text wird von Josephus - seinem chronologisch orientierten Raster der >Antiquitates< entspr~hend - in die Schilderung der Zeit König Nebukadnezars eingesetzt, vgl. G. Vermes, Josephus' Treatment, ISOr. Dabei scheut sich Josephus indes nicht, das Danielsche Bild dieses KÖßi8s seiner eigenen Vorstellung gemäß zu ~schönen <, s. LH. Feldman, Studies, 452-45S; vgl. 74f. 11 Dies wird auch an der Schilderung der legendarischen Begegnung zwischen AJexander dem GloBen und dem jüdischen Hohenpriester deutlich, in deren Verlauf der Priester dem König eine Passage im Daniel-8uch zeigt. welche die Herrschaft der HeDenen über die Perser voraussage (Jos.. Ant . Xl 8,5 §337). was aJs Anspielung auf Dan 8,20-21 ventanden werden kann; I. E. Gruen, Heritage, 196f. 13 In der nach Johannes Chrysostomos (Adversus ludaios 5,8- 10) rekonstruierten Textversion von R. Marcus, LCL. dem sich hier auch F. MiUar, HeUenistic History, 97 mit Anm. 24 anschließt. B. Niese hingegen folgt der Auslassung in der lateinischen Fassung.
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Andreas Blasius
Ausführung umgesetzt . 14 Die divergierende Überlieferungstradition gerade dieses Passus der >Antiquitates< sowie die genannte Doppelung der Untat können indes als Indizien fur eine spätere, aktualisierende Interpolation gewertet wer-
den. Unklar bleibt nun, in welchem Unfang Josephus auch bereits in dem ca. 15 Jahre vor den >Altertümern< erschienenen >Bellum ludaicUß1< das DanielBuch bzw. Daniel-Traditionen verarbeitet hat. Erwähnt er den Propheten im >Jüdischen Krieg< auch nicht namentlich, so scheint doch recht sicher, dass er
sich dessen Anschauungen und Visionen dort zu eigen gemacht hat. 1S Einen deutlichen Beleg steUt dabei die Kunbeschreibung der TempelplÜDderungen durch Antiochos IV. dar: ... als Antiochos, genannt Epiphanes, vor der Stadt lagerte und sich frevelhaft gegen den Gon erhoben hane, sind unsere Vo rfahren mit Waffen gegen ihn vorgegangen; sie wurden in der Sch1acht niedergemacht, die Stadt wurde von den Feinden geplündert, und das Heiligtum lag drei Jahre und sechs Monate verödet (itpl)p.w9T}) da.
Jos., Bell. V 9,4 § 394; Obers. nach O . Miche1/ 0. Bauernfeind. Sowohl das Motiv des >sich frevelhaft gegen den Gott<-Erhebens (vgl. Dan 7,8. 20.25) als auch vor allem die - entgegen der >Korrekturzweideutigen Weissagungen<16, die - laut Josephus - zum Ausbruch des jüdischen Krieges 66 u.z. wesentlich beigetragen hätten : (312) Was sie [d.h. die Juden} aber am meisten zum Krieg anstachelte, war eine zweid.eurige Weissagung (XP'l0IJ-OI; IXlJ-lfIlßoAoQ, die sich ebenfalls in den heiligen Schriften (l .... toi~ ttpoi~ rp6:l'l' (w'o~\I) fand, dass in jener Zeit einer aus ihrem Land über die bewohnte Erde (t fliO olxoUfLl .... 'l~) herrschen werde. (3 13) Dies bezogen sie auf einen vo n ihnen (Wc; olxtio....) und viele weise Männer (tw.... oOlflw....) täuschten sich in ihrer Entscheidung ( tTiv xpiotv), der Orakelspruch (t O A6TtO. . ) zeigte vielmehr die Herrschaft Vespasians an, der in Judäa zum Kaiser (a:u-coxp6.topo~) ausgerufen wurde. H
'
Jos., Bell. VI 5,4 §§312f.; Übers. nach O . MicheUO. Bauernfeind.
Im Jahr 69 uZ. hatte General Vespasian von Syrien aus seinen militärischen Siegeszug nach Rom angetreten, den er dort mit einer triumphalen Übernahme der Kaiserwürde krönen konnte, während sich sein Sohn und stellvertretender Kommandeur in Judäa TItus zur Erstürmung von Stadt und Tempel in 14 K. Koch. Danielrezeption, 114. spricht in diesem Zusammenhang von der . Antiochos-Epoche als typologische Vorwegnahme« der Ereignisse unter Vespasian. IS Vgl. %.8 . EF. Bruce. Josephus; R.T. Beckwllh, Daniel 9, 532- .53.5 ; St.Mason, Josephus; G . Vermes, Josephus' Treatment . 16 Vgl. L H. Feldman. Josephus. 93- 96.
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JerusaJem anschickte. Den Bericht des Josephus über böse Vorzeichen des xIrohenden Unheils< (Ben. VI 5,3 §§288- 3(0) und die zitierte positive Fehlinterpretation der >zweideutigen Weissagung< griff dann wenige Jahrzehnte später der römische Historiker Tacitus in seinen Historien auf (Hist. V 13,1-2) und spricht dort ebenfalls von der - nun nicht mehr verhängnisvoUen - Prophezeiung: »diese Zweideutigkeit hatte Vespasian und Titus vorausgesagt (quae ambage.s Ve.spasianum ae lltum praedixerat)« (Hist. V 13,2).17 Dem römischen Schriftsteller ist dabei die für die jüdischen Aufständischen überaus negative RoUe des verkündeten Herrschers verborgen geblieben. 18 Josephus, der nach dem >jüdischen Krieg< in Rom lebte und schrieb, unterhielt überaus gute Beziehungen zum Herrscherhaus der Aavier und musste sich so der Problematik bewusst sein, in zumal auf in Rom lesbarem Griechisch verfassten Schriften einerseits zwar dem Tenor der Prophezeiung genügen zu müssen, andererseits aber auch die neue Staatsmacht, in deren Zentrum er sich ja befand, nicht zu verärgern. 19 Der sich im )Jüdischen Krieg< an die Prophezeiung des Vespasian anschließende Kommentar ist denn auch ebenso zweideutig abgefasst, wie es !Ur das zugrunde liegende Orakel bescheinigt wurde: (314) Aber es ist ja den Menschen nicht möglich, dem Verhängnis (ta xpt~:)\I) zu entrinnen, auch wenn sie es voraussehen. (315) Von den Zeichen ('twv oT\jJ.dwv) aber deuteten sie manche auf eine freudige Erfill1ung ihrer Wünsche, andere missachteten sie, bis sie durch die Eroberung ihres Vaterlandes und ihr eigenes Verderben des Unverstandes überfuhrt wurden. Jos., Bell. V15,4 §§314f.; Übers. nach O . MicheVO. Bauernfeind.
lnnerjüdisch konnte das >Verhängnis< u. a. auf das Auftreten des Vespasian bezogen werden, außerjüdisch war es primär das )Verhängnis< des fatalen Irrtums der freudig hoffenden Juden. Die verschleiernde Ambivalenz der Josephusschen Position prägte dabei bis heute die unterschiedlichen Interpretationsansätze in der Forschung, die sich letztlich auf die Frage hin fokussieren, welche der Danielschen Visionsaussagen genau für Josephus als Vorlage der )zweideutigen ProphezeiungMenschensohn< verwirklicht 20, in der es heißt: (13) . .. mit den Wolken des Himmels kam jemand, der aussah wie ein Mensch(enkind), und er gelangte zu dem Uralten an Tagen und wurde ihm vorgestellt. (14) Und 17
s. St. Manson, Josephus, 187-189. Die Geschichte wurde dann auch von Sueton in seiner lvita
Vespasianil (4,5) weiterzitiert. 18 Tacitus musste hier kawn, wie SI. Mason, Josephus, 188(. vermutete, einen negativen Tenor luminterpretierenl.. Des Josephus versucht neutraler Spagat zwischen jüdischer Identität und Bewunderung fur Rom brachte ihm schnell das Misstrauen und die Ablehnung seiner judäischcn Heimat als Verräter ein. 19 Vgl. K. Koch, Danielrezeption, 114f. 20 R.T. 8eckwith, Danicl 9, 532- 535. So bereits R . Meycr, Der Prophet, 52-58.
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Andreas Blasius ihm wurde Macht und Ruhm und Herrschaft gegeben und alle Völker, Nationen und Zungen dienten ihm; seine Macht ist eine ewige Macht, die nicht aufhört, und seine Herrschaft (so beschaffen), daß sie nicht zerstört wird! Dan 7, 13f.; Übers. O. Plöger.
Dem hielt Steve Mason entgegen, dass Josephus die Herrschaft des Vespasian zwar keineswegs offen kritisierte, jedoch wohl ebenso wenig an irgendeiner SteDe in seinem Werk deren ewige Dauer propagiert hätte. 21 Josephus' Behandlung des Themas von Dan 2,42-45 in Ant. X 10,4 §209f. gibt hier jedoch zu denken . Aus dem heUenistisch aufzulösenden Reich aus Eisen lmd Ton, das laut Daniel in einzelne untereinander heiratende und kriegführende Herrschaften unterschiedlicher Qualität zerfallt, formt Josephus ein rein eisernes Königreich: )))(PCl"[~O'tl 5& tl.; &1tClvtCl ~hCt 'tT}v 'tOÜ Ol&i}pOU /flieH\!« (§ 209), was sich i.d.R. tempora1 als >>das aber rur immer durch die Beschaffenheit des Eisens herrschen wird« 22, übersetzt findet. Die Deutung des ja eigentlich im Anschluss zerstörerisch wirkenden Steines der Daniel-Prophezeiung übergeht Josephus zudem mit der wenig überzeugenden Bemerkung, dass er das Vergangene und nicht das Zukünftige schildern wolle. Ist die >Vollständigkeit< des d<; &1tcxv'tcx nun auch nicht zwingend tempora1 aufzufassen, so bleibt diese Lesemöglichkeit doch auch nicht ausgeschlossen - und dies ebenso rur den antiken Rezipienten - zumal Josephus das dabei irritierende Motiv der sich anschließenden ewigen Herrschaft des durch den Stein symbolisierten >Gottesreiches<ja - wie bemerkt - unterschlägt. 23 Josephus sah sich indes in Parallele zu Daniel als arn Ho f einer frem den Macht mit dieser durchaus kollaborierender Prophet 24, was natürlich die Vergänglichkeit dieser Herrschaft - eben in Analogie zu Babyio n - stiUschweigend implizierte. Hatte Daniel den Kö nigen der ersten WeltreichelTiere, Nebukadnezar bis Dareios, traumdeutend und beratend zur Seite gestanden, ohne dadurch seine jüdische Identität in Frage zu stellen oder stellen zu lassen, so lebte nun Josephus am Hof des (erweiterten) vierten eisernen Reiches! TIeres und beriet die flavischen Monarchen. Dass auch er dabei wie sein> Vorbild< Damel über seherische Gaben verfUgte, untermauert Josephus durch die zumindest literarisch vor den Eintritt der Ereignisse verlegte Erkenntnis, dass Vespasian als neuer Kö nig auftreten werde. 25
21 St.Mason, Josephus. 185. 22 So etwa R. Marcus L eL, und H . Oementz. 23 Zur )Untcrschlagung( vgl. W.c. van Unnik, flavius Joscphus, 46; K . Koch, Danielrezeption, 114
und 11 9. 24 Vgl. G. Dclling, Die biblische Prophetie, 117f.; SI. Mason, Josephus, 176f. Zum apologetischen Bcmüh~n des Josephus allgemein vgl. K.-S. Krieger, ~schichtsschreibung; zu seiner Selbstdarstellung als Prophet auch W.c. van Unnik, Aavius Josephus, 41 - 54. 25 Jos., Bell. 1Jl 8,9 §§401f.
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Josephus hielt somit einerseits angesichts der Schocksituation des Jahres 70 u.Z. die apokalyptische Hoffnung des Daniel aufrecht und versuchte gleichzeitig seine eigene heilde Position als Kollaborateur der Tempelzerstörer durch die historische Vorlage apologetisch zu entschärfen. Sollte sich ein Bezug des Josephus-Statements zur Daniel-Apokalypse aufzeigen lassen, bliebe indes das Problem der zugrundeliegenden Textstelle weiterhin zu kJären, wollte man Josephus nicht unterstellen, er habe Vespasian - gemäß Dan 7,14 - ewige Herrschaft verkündet. 26 Steve Mason schlug daher eine andere, in ihrem Tenor wesentlich negativere Prophezeiung als Ausgangspunkt vor. 27 Er wollte in dem >bösartigen< 11 . Horn des vierten Tieres in Dan 7,8 (sowie 7,20.24), das bislang Antiochos IV. vorbehalten bleib - und so auch eigentlich in Josephus' Bell. und Ant. (s.o.) - die angesprochene )Weissagung< erblicken. Diese konnte jedoch keineswegs als >zweideutig< empfunden und gar von den Juden auf einen ihrer eigenen Anfuhrer bezogen worden sein. Auch fehlt das Herkunftsmotiv aus Judäa, das ja die Fehlinterpretation begünstigt haben sollte. 28 In einem ähnlichen Dilemma befindet man sich mit der u. a. von Frederick F. Bruce und Lester L Grabbe vorgeschlagenen Verbindung der JosephusProphezeiung mit den in Dan 9,24-27 vorliegenden Angaben." Der in 9,27 genannte >Verwüstendevorgesehenes Ende<, das in Analogie zu Dan 7 und 11 - 12 als durch das Auftreten des Weltherrschers herbeigefiihrt verstanden werden kann, doch wird auch hier der >Verwüstende< eindeutig als negativ charakterisiert, und der nicht genannte positive Weltherrscher - so überhaupt intendiert 30 - wäre wohl erneut zu heilig, um auf Vespasian gedeutet werden zu können. Jörg-Dieter Gauger suchte den von Josephus angesprochenen Weissagungstext denn auch eher in außerkanonischen Traditionen verankert. In enger Verbindung zu den jüdischen Sibyllinen-Orakeln 31 handle es sich um eine »revitalisierte Prophezeiung« als »Zeugnis für eine neben den or.Sib. herlaufende Tradition«.12 Auf welch konkreten Fundamenten diese »Sibyllen-Prophezeiung 66 n. Chr.« ruht, muss indes weiterhin offen bleiben. Deutlich wird jedoch an den wenigen offen erkennbaren Rückgriffen auf das Daniel-Buch im >Jüdischen Krieg
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>Altertümern<, dass Josephus dieser QueUe und ihrer Botschaft gerade auch in der aktuellen Krisenzeit nach 70 uZ . einen überaus hohen Stellenwert beimisst. Für ihn besteht dabei nicht die Notwendigkeit einer kritischen Überprüfung. Wie von selbst bestätigen sich für ihn die Ereignisse in der Geschichte. Gänzlich anders lag - wie eingangs angesprochen - die Intention des Por· phyrios. Er sah nicht im Danie1-Buch eine Möglichkeit zur Deutung der Gegenwart, sondern suchte die Autorität der Apokalypse durch Heranziehung >nichttheologischerechten Vision< übersah (s. u.) und den in 11 ,42-43 postulierten siegreichen Feldzug des Antiochos gegen Ägypten, Libyer und Kuschiten - gegen die Realität - zu einem tatsächlich im 11. Jahr des Königs stattgefundenen Unternehmen erklärte. B Dabei hatte er den Daniel-Text grundsätzlich durch Heranziehung weiterer QueUen erfolgreich auf historisch-kritische Weise untersucht : Um aber die letzten Abschnitte Daniels zu verstehen, ist eine vielschichtige Geschichtsforschung der Griechen notwendig, nämlich Suctorius Kallinikos, Diodor, Hieronymos [von Kardial, Polybios, Poseidonios, Oaudius Theon und Andronikos genannt Alipius, denen gefolgt zu sein auch Porphyrios behauptet. Hieron., in Dan ., prologus; PL XXV, Co!. 494 ; Harnack F43C; Porph. FGrHist. 260 F 36; Stern 11 464c.
Auch des Porphyrios Kritiker Hieronymus scheint sich hier hinsichtlich des Wertes externer Quellen zum Verständnis des Daniel-Buches - wenn auch in apologetischer Absicht - ausnahmsweise mit diesem einig, und Porphyrios' breit angelegter >profan-historischer< Ansatz bei der kritischen Analyse des religiös geprägten Apokalyptik-Textes lässt diesen in den Augen vieler moderner Forscher zum Heroen kritisch-exegetischer Forschung werden: Porphyry's work now emerges as a creditable scholarly achievement. His main results, the Mac<:abean dating and the pseudepigraphic nature of Daniel, were oorrect and they were obtained by the patient application of a critica1 mind to available evidence. . .. His achievement makes him genuinely worthy to be regarded as a forerunner of the modern critica1 scholar. 34 33 Porph. FGrHisl. 260 F 55; Hamack F 43U; Stern 11 464r. Diese Fehleinschätzung lässt sich auch nicht befriedigend wegdiskutieren, vgl. F. Jacoby, FGrHisl. D, Kommentar zu F 5557 auf Seite 883. Auch die auf den Ägyptenfeldzug folgenden Erklärungen des Porphyrios zu Dan 11,44 45 sind insofern als problematisch zu bezeichnen, da sie zwar vom Ende des Königs )prafan·historisch( korrekt berichten,jedoch erneut von der Fehleinschätzung des DanieJ· Textes als ex eventu·Prophezeiung ausgegangen wird. Zurecht kritisiert Hieronymus hier die Passungenauigkeit der Analyse, Hieran., in Dan. 11 ,44f.; Stern 11 464s (Z. 30-33); Porph. FGrHist. 260 F 56; Harnack F 43V. 34 M. Casey, Porphyry, 33.
Apokalyptik und Geschichte. Das Buch Daniel in der (alt)historischen Forschung
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Das Daniel-Buch in der modernen (alt)historischen Forschung" Zahlreiche Historiker der Moderne zeigen sich in Berücksichtigung und Auswertung der im Daniel-Buch vorliegenden ex eventu-Prophezeiungen - im Gegensatz zur Analyse der Angaben der jüngeren Makkabäerbücher I und " als überaus zurückhaltend. 36 Die Apokalypse erfunt zumeist eine mittelbare Funktion, indem sie letztlich die Ausgangsbasis ruf die Forschungen des durch Hieronymus überlieferten Porphyrios bildete. Stenvel betend sei hierzu Edouard Wills Kommentar in seinem Standartwerk >Histoire politique du monde hellenistique< zitiert: Le document le plus ancien remonte a J'Cpoque meme d'Antiocbos IV: c'esl Je w 're de Daniel, compilation de reals romanesque pseud
ICI.
Selbst Porphyrios - aufgrund der ihm von Hieronymus bescheinigten Kenntnis anderer, als >unverdächtig< geltender historischer Quenen als recht vel b auenswürdig eingeschätzt 38 - wird jedoch im >Wettstreit< mit den überlieferten Passagen der >römischen Geschichte< des Polybios i. d.R. ebenfalls mit skeptischer Zurückhaltung betrachtet. 39
35 Hier sollen lediglich die Haupnendenzen der althistorischen Forschung unter Nennung einiger
ihrer Vertreter kun skizziert werden. 36 Dies gilt primär für die im folgenden vor allem angesprochene politische Ereignisgeschichte und Sozialhistorie. Vgl. etwa Ch. Habicht, The Seleucids, 346-350, der zwar das Danie1-Buch in Anm. 77 auf S. 346 zu den )principal souroeS( zählt, die Inhalte des Kapitels jedoch aßein durch Hinweise auf I. und 2. Makk untennauert. Äußerst sk.eptisch äußerte sich bereits 1914 einer der großen Nestoren der Ptolemäer- und Seleukidenforschung, A. Bouche-Leclercq. in seiner Histoire des 5eleucides über den Quellenwert des Daniel-Buches, hier konkret zur Problematik. der drei ausgerissenen Hörner in Dan 7,8: »Quand il s'agit d'Epiphane, ... , un JOO ne peut avoir qu'un mediocre souci de Ja verite.- (a. O. Bd. Il, 581). Kultur- und religionshistorisc.he Arbeiten - vor aDern von jüdischen bzw. israelischen Althistorikern - greifen oft in wesentlich ausführlicherer Fonn auf das Daniel-Buch zurück, vgl. etwa E. Bi(c)kerman(n)s Studien: Four Strange Bocks, 51-138; The Jews; E.S. Gruen, Jewish Perspecti\'eS, 62- 93; aber natürlich auch auf christlich theologischer Seite die großangelegte Untersuchung M . Hengels, Judentum. ]7 E.. Will, Histoire 11, 326. Vgl. F.W. WaIbank. Die hellenistische Welt, 227. Mitunter wird auch der Kommentar des Hieronymus (PQrphyrios) aDein als Quelle genannt, so etwa: U. Wtlcken., RE 1.2, Stuttgart 1894, Sp. 2470-2476 S.v. Antiochos (27); W. Otto, Beiträge zur SeleuJcidengeschichte; den., Zur Geschichte; F.W. Walbank. A Hislorica.l Commentary. ] 8 »Bei diesem liegen nun letzten Endes beste Quellen zugrun~ urteilt z. B. W. Otto, Zur Ge5chichte, 2 Anm.4. 39 Vgl. etwa E. Bikerman, Sur Ja chronologie, 402 mit Anm. 2.
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Andreas Blasius
Setzt sich die Forschung indes mit dem Daniel-Buch selbst auseinander, so ist es meist allein das in seinem Chronikcharakter einzigartige Kapitel 11 (5. u.), das als historisch relevant herangezogen wird, da es - so etwa Elias Bi(c)kerman(n) - einen »genauen Abriß der Geschichte des Ostens von der persischen Zeit bis zur Verfolgung des Epiphanes« 40 bietet, und von dessen Autor bereits lohann Gustav Droysen im 3. Band seiner >Geschichte des Hellenismus< diesbezüglich zuversichtlich schrieb, dass der Apoka1yptiker »das Faktische dieser Zeit gewiß richtig hat; ... «41. Diese Ansicht hat sich im wesentlichen bis heute durchgesetzt 42: Die fraglichen Verse sind Teil einer als Weissagung verfremdeten Darstellung der damaligen Zeitgeschichte. Diese ist, was die Folge der Ereignisse anbelangt, völlig zuverlässig, und sie musste es sein, wenn die Prophezeiungen über das Ende des Verfolgerkönigs und den Anbruch des Reiches Gottes den Bedrängten, die unter der Verfolgung litten, glaubwürdig erscheinen soUten,
urteilt Klaus Bringmann. 4) Victor T cherikover ging in seiner Einschätzung dieser Daniel-Passagen sogar so weit, sie den Angaben der Makkabäerbücher vorzuziehen, da der Autor des Daniel-Buches als unmittelbarer Zeitzeuge anzusprechen sei 44 : The scholars who reject ApoUo nius' second visit »amend« Daniel by I Macc. (. .. ), that is, they correct an eye-witness according to a book written sorne fifty years after the events. This rnethod seerns wrang to the writer. It is indeed harn to utilize Daniel as an authority, o n account of his picturesque and obscure style ( ... ), but in those passages where he is clear ( ... ), Daniel is a historical source ofthe highest importance.
Diese überaus wohlwollende Argumentation muss jedoch insofern mit Vorsicht genossen werden, als das Alter einer Quelle - und selbst wenn sie zeitgenössisch entstanden ist - noch keine Garantie flir eine der >Realität< der Ereignisse zwingend nahestehende Glaubwürdigkeit bietet, ist doch das apokalyptische Motiv im ganzen Daniel-Buch das zentrale Konzeptionsschema . Dabei verwundert es dann auch nicht, dass sich zu den genannten positiven 40 E. Bickermann, Der Gott, 169. 41 J.G. Droysen, Geschichte des Hellenismus Bd.3 (im Nachdruck der Ausgabe Tübingen 19521953), 256(. (Originalausgabe Seite 395f.). 42 Vgl. z.B. E.$. Gruen, Hellenism (mit einem einzigen Verweis außerhalb Kap. 11); D . Gera, Judaea. in der J973 erscruenenen englischsprachigen Neubearbeitung des ersten Bandes von EmiJ Schürers Geschichte des jüdischen VoUces fehlt das Daniel-Buch unter der Rubrik )Sources< vößig. Zur )First Period
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Stimmen ebenso kritische gesellen. So gibt Otto M0rkholm in seiner wegweisenden Arbeit >Antiochus IV of Syria< zu bedenken: Their prophetie form makes verses 10-39 [von Dan 11] rather difficult to understand by themselves, and their fundamental trustworthiness has only been estabtished by a oomparison with other historical materia1. 4S
Noch einen Schritt weiter in der Daniel-Kritik geht Fergus Millar 46 : .. . as history, Daniel's brief and allusive representations of selected episodes, taken largely out of oontext and seen from a very precise and limited. vie\lo'PDint, cannot of course compare with Polybius' profound oonception ofhow events in different parts of the oikumem! had come to be interlinked and to form a single causative sequence.
Diese Vorwürfe gehen indes ins Leere, muss doch der Daniel-Apokalypse zugute gehalten werden, dass sie - anders als Polybios - bewusst keine universalhistorische Perspektive anstrebt. Ihr Blick ist - und bleibt (auch unter Nutzung universalhistorischer Modelle) - auf die Situation in Judäa konzentriert. Eine derartige Kritik bleibt nun jedoch keineswegs auf die Geschichtsauffassung der )Profan-Historiker< beschränkt. So erklingt aus dem alttestamentlich exegetischen Lager mitunter eine in ihrer Schärfe die Worte Millers überbietende Schelte - im folgenden repräsentiert durch das vernichtende Urteil Klaus Kochs 47 : Die Art, wie im Danielbuch Geschichte dargestellt wird, hat ihre tiefen Mängel - trotz aller Großartigkeit des Entwurfs. Von einem Bestreben, aus der Fülle des Überlieferten nur auszuwählen, was sich bei näherer Prüfung als stichhaltig erweist, also von einer historischen Kritik, ist nichts zu spüren. Selbst die Zielstrebigkeit der Geschichte, das Gefcille, in das aUe politischen Bewegungen hineingesteUt sind - das wird mehr behauptet als bewiesen . ...
Der Althistoriker Thomas Fischer urteilte zwar zunächst auf ähnliche Weise: Im historischen Sinne bedeutet das Buch Damel für modeme Begriffe allerdings eine Geschichtsfatschung ersten Ranges. Derartige Ansätze zur Verdrehung der Wirklichkeit. wie man polemisch formulieren könnte, enthält auch das 2. Makkabäerbuch, ...
aber das Daniel-Buch vertrete eben - so Fischer - als )historischen< Ansatz )>eine zwingende Umkehrung von Sichtbarem und Unsichtbarem, Idee und Realität« und enthülle »)ln einem )Heilsplan Gottes< sogar )(ien Sinn der Geschichte<(c. 48 Diese jenseits der >Profan-Historie< angesiedelte Sicht Fischers 4S O. Merkholm, Antiochus IV of Syria, 19. 46 F. Millar, HeUenistic History, 104. 47 K. Koch. Spätisraelit1sches Geschichtsdenken, 309. Dagegen C.C. Caragourus, History, 388: »11 must be recogniz.ed that lhis highly symbolica1 Book is concemed not merely with history, but with supra·history where hi$torica1 events are interpreted not ont)' from the Jewish point of view but also in adynamie waYI<. 48 Tb. Fischer, Seleukiden, 171.
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wertet nun zwar die lntention des Daniel-Buches wieder auf, wird jedoch dem kunstvoUen Geflecht aus faktischer Ereignisgeschichte und »supra-history« vereint in der Kunstform einer >>COded history« nicht gerecht 49. Zweifellos liegt dem Danielschen Autor ein grundsätzlich anderes Verständnis von )fact and fierion< zugrunde, als es die modeme Geschichtswissenschaft vertritt, womit sich das Daniel-Buch allerdings auf seine Weise durchaus in die klassisch antike Literatur einpasst. so Alle codes zu entschlüsseln, gestaltet sich indes mehr als
schwierig: Anyaße desiring 10 utilize Daniel as a historicaJ source must first discover the key 10 its allusive language. This is not easy, for we da not know all the fine details of the period 10 an extent enabling us 10 understand every reference in the book with the same facility as Daniel's contemporaries,
gJbt Victor Tcherikover sl zurecht zu bedenken, und Erieh S. Gruen S2 verweist zudem auf die besondere Intention und damit den spezifischen >Anteil< des
Genres >Apokalyptik. an diesem Geflecht: The very character of apoca1yptic texts fosters ambiguity, their allusions deliberately designed for adaptability to diverse settings. OracuJar voices resonate beyond the particular and give greater meaning to the whole text.
Sicherlich ist nun auch Arnaldo Momigliano in dem Punkt beizupflichten, dass biblische Historiker und Propheten - und zu letzteren müsste man Daniel zählen - in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zu betrachten sind, wie auf ldassisch antiker Seite die Historiker und die Philosophen S3 , doch hinderte keine dieser >Gruppen
49 »5upra-history« s. c.e. Caragounis, History; »eoded history« s. RJ. CIifford, History, 23 Anm. I . so Vgl. die .Introductionl von J.R. Morgan, in: dersJ R. Stoneman, Greek Fiction, 1-12. S. auch die .Mythos und Logosl-Diskussion bei W. den Boer, Graeco-Roman Historiography, (freundlicher Ut.-Hinweis von Dr. Jürgen Brokoff). SI V. Tcherikover, Hellenistic Civilization, 399. S2 ES. Gruen, Heritage, 283. S3 A. Momigliano, Tune, 195. S4 M. Hengel, Judentum, 337.
Apokalyptik und Geschichte. Das Buch Daniel in der (a/t)historischen Forschung
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Historisches ZU Daniel 2, 7 und 11 Lassen sich die Kapitel 7-12 als der eigentlich visionär-apoka1yptische Part des Daniel-Buches deutlich von den Hoferzählungen bzw. der >{Königs)noveU~ der ersten sechs Kapitel scheiden ss und chronologisch eindeutig in die späten 60er Jahre des 2. Jh. v.u.z. datieren S6, so treten doch auch innerhalb des zweiten, an >aktueller< Ereignisgeschichte orientierten Blockes - wie bereits angedeutet deutliche Unterschiede in der Behandlung und apokalyptischen Darstellung der )facts( auf. Am deutlichsten wird dies hier im Vergleich der beiden Kapitel 7 und 11. 51 Beide folgen grundsätzlich historischen Entwicklungslinien die in den Untaten des ,lI. Horns< (7,8.20-26) bzw. des >Verächtlichen< (11,21-45), d.h. in den Aktionen Antiochos' IV. Epiphanes und dessen unrühmlichem Ende gipfein. 58 Kapitel 11 ist dabei nach kurzer Einleitung, in der die Bezwingung der Perserkönige durch A1exander den Großen sowie die Nachfolge durch die Diadochen thematisiert wird (11,2b-4), ganz den Auseinandersetzungen zwischen den sich um Judäa streitenden >Königen des Südens und des Nordens<, d.h. den Ptolemäern und Seleukiden gewidmet (11,5-45), dabei den letztlich siegreichen Vertretern des Nordreiches, Antiochos 111. bis IV., der größte Bereich eingeräumt (11,10-45)." Bleiben in dieser Vision nun auch die Personennamen ungenannt und sind die auf den heutigen Leser mitunter recht enigmatisch wirkenden Formulierungen im Einzelfall nach über 2000 Jahren nicht mehr eindeutig zu entschlüsseln, so erweist sich die Darstellung in chronikhafter Strenge doch als erstaunlich transparent. Diese Vision bedarf denn auch fur Daniel keines himmlischen lnterpretators. Die Szenarien und historischen Anspielungen dürften dem zeitgenössischen Publikum nur allzu vertraut gewesen sein, und die Glaubwürdigkeit der Apokalypse hing natürlich gerade hier, an ihrem tagespolitisch überprüfbaren Befund, von ihrer grundsätzlichen Realitätsnähe ab. 60 Diese ist es dann ja auch, die den Wechselpunkt von der ex eventu-Prophezeiung hin zur echten Zukunftsvision ausmacht, geben sich doch die ab Kapi5S vgl. LM. Wills, 1be lewish NoveiJas, 225- 227. Zu den »Hoferzählungen(( s. auch M. Hengel,
S6
S7 S8 S9 60
Judentum, 56-61. Vgl. z. B. K. Bringmann, Hellenistische Reform, 30 Anrn. 5; E. Will, Histoire IL, 326; Ch. Habicht, The Seleucids, 346 Anrn. 77; F. Millar, Hellenistic History, 94f. Th. FIschers Datierungsansatz (Seleukiden, 140-176) in die Jahre 160/ 159 v.uZ. überzeugt trotz langwieriger Argwnentation nieht und fand dementsprechend in der Forschung wenig Anklang. Inwieweit Kapitel 10-12 als eine eigenständige apokalyptische Einheit verstanden werden müssen, so RJ. Clifford, History, 23- 26, son hier nicht weiter erörtert werden. Die positive Auflösung findet sich in Kapitel 7 integriert, in Kapitel 11,45 angedeutet (dann in Kap. 12,1-3 auslührlieher). Vgl. zur Struktur F. Millar, Hellen.istic History, 98- 102; RJ. C\ifford, HistOf)', 23f. Vgl. RJ. Clifford, History, 24f. Vgl. bereits oben K. Bringmann, Hellenistische Refonn, 30.
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tel 11,40 geschilderten >Ereignisse< durch Vergleich mit der allf\c:rdanielschen Überlieferung als )fietio n< zu erkennen, da ein dritter Ägyptenfeldzug Antio-
ehos' IV. nach 168 v.u.Z. nachweislich nicht stattgefunden hat. Die Darstellung in 11,40-45 greift hier in Ennangelung bereits vorliegender historischer )facts( verstärkt auf alttestamentliche Motiv-Vorlagen zurück. 61 Kapitel 7 der Daniel-Apokalypse erweist sich nun in seiner >kodierten Geschichte< als wesentlich komplexer der mythischen Ebene verhaftet und bedarf dementsprechend einer Visionsdeutung. ZugJeich verfügt dieser Abschnitt über unterschiedliche miteinander kombinierte Chronologie-Sysleme, die indes - wie im gesamten Daniel- Buch - stets aus dem judäischen Blickwinkel heraus behandelt werden. 1m Rahmen dieser Systeme bildet das Modell der vier aufeinander in stetig absteigender Qualität folgenden Weltreiche, die der Autor des Daniel-Buches in Kapitel 7 als vier Tiermonster des Urchaos in Szene setzt,62 den Auftakt der )historischen< EntwickJung.63 Das ModeU der vier Reiche, das in Dan 2 im Symbol der aus verschiedenen Materialschichten zusammengesetzten Statue vorgestellt wurde, ist sowohl in seiner geistesgeschichtlichen Herkunft als auch in seinem historischen )Realitätsbezug< umstritten . Dass hier persisch-iranische Vorgaben vorliegen, erscheint aufgrund der zeitlichen Feme des vorhandenen Belegs, des Bahman Ya!t aus dem 9. Jh. u.Z ., fraglich oder zumindest nicht beweisbar. 64 Als älteste sicher nachweis- und datierbare Belege sind der griechische Dichter Hesiod, dessen )Werke und Tage< in das späte 8. Jh. V.U.Z. eingeordnet werden können, sowie - je nach Datierungsansatz - die zwei Varianten des Motivs in Dan 2 und 7 sowie eine dem rö mischen Autor AemiJius Sura zugeschriebene Fassung (s. u.) zu benennen. Die größte Gemeinsamkeit besteht dabei zwischen den 4 MetaUweitzeit61 S. RJ. Oiffo.-d., History, 25 r. Vgl. M. Had3S, Hellenistische KuJtur, 296. der dort jedoch bezüglich
der Datierung etwas Zl.I optimistisch ronnuliert: »Das Buch lDanieh kann auf den Monat genau datien werden, an dem sein Verfasser die Geschichte hinter sich ließ - und f3lsche Vermutungen anstellte«. 62 Zu den verschiedenen Interpretations- und Herleitungsansätzcn zur in Dan 7)- 8 gewählten liermotivik s. J. Eggler, Influences, 3-54. 63 Einen Überblick über die Belegsituation derartiger Chf'OOOk)giemodeUe mit neuerer Ü1eratur bietet J.-D. Gauger, Sibyllinische Weissagungen. 430f. 64 Vgl. J.-D. Gauger, Sibyllinische We;ssagungen. 433: J. l..ebram. DanieVDanielbuch, in: TR E 8, Bcrlin!New Yor-k 1981,331 ; W. Burken, Apokalyptik. 244. Auch Historiker wie S.K. Eddy, The King. 16-24 hatten sich zuvor noch deutlich für eine persische Herkunft der Weltrek:hsmotivik im Daniel-Buch ausgesprochen, 50 subswnmien S.K. Eddy a. O. seine Behandlung des DanietBuches unter den persischen Widerstand . Skeptischer, doch nicht grundsät%lich negativ urteilt A. MomigJiano. Daniel, 34: JJ. Collins, Daniel. 163r. möchte an einer Frühdat~ penischer Vorlagen festhalten, doch bleiben auch die Rückprojektion auf Avesta-Vorgaben und der Vergleich mit den Hystaspes-Orakeln und dem Töpferorakel problematisch. da diese Texte zum Teil in der Datierung ebenfalls höchst strinig sind bzw. im Falle des Töpferorakels nachweislich bis in das 3. Jh. uZ. in Umlauf waren.
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altem des Hesiod (erga 109- 201) und der Statuenbeschreibung in Dan 2, die in sehr ähnlicher Weise von der gJorreichen >goldenen PhaseEinheit< die eisernen Beine von den eisern-tönernen Füßen getrennt. Auch Hesiod selbst 65 hatte bereits sein metallenes Viererschema um das Heroenzeitalter erweitert, mit dem er darüber hinaus die geradlinig negative Entwicklung durch ein positives Intetlnezzo unterbrach: (109) Golden haben zuerst das Geschlecht hinfaliiger Menschen (11 O) todfreie Götter geschaffen. die himmlische Häuser bewohnen. (111) Das war zu Kronos' Zeit, als er noch König im Himmel [war} . ... (I27) Darauf als zweites Gesch1echt, als weit geringeres schufen (128) dann das silbe. ne sie, die himmlische Häuser bewohnen, (129) dem aus Gold an Gestalt nicht gleich und nicht an Gedanken . ... (143) Zeus der Vater erschuf hinfalliger Menschen ein drittes. (144) andres Geschlecht, aus Erz, dem silbernen nirgendwo gleichend, (145) eschenentstammt, so
furchtbar wie stark; .. . (156) Aber nachdem auch dieses Gesch.lecht die Erde umfangen, (157) hat noch ein anderes dann auf der nährenden Erde, ein viertes (158) Zeus der Kronide geschaffen, gerechter und besser geartet, (159) das der Heroen, ein göttlich Geschlecht, man nennet mit Namen (160) Halbgötter sie, ... (174) Müsste ich selber doch nicht danach hier unter den fünften (175) Menschen sein, nein, wäre schon tot oder lebte erst später! (1 76) Denn von Eisen ist jetzt das Geschlecht. ... Hes., erga 109- 176; Übers. W. Marg. Walter Butkert glaubte - auch unter dem Eindruck der damaJs neuentdeckten prophetischen Bileam-Inschriften in Deir CAlla aus dem 8.Jh. v.U.Z. - an eine orientalische QueUe des Motivs, da fUr Hesiod gelte: »Die QueUengemeinschaft mit Danie! weist nach Osten«66, und er meinte gar, diesen Ursprung noch deutlicher eingrenzen zu können: QueUe von Hesiod und Daniel ist ein aramäischer Sibyllen-Text wohl des 8. Jh.s, der sich als Prophezeiung aus der Bronzezeit gab und die goldene und silberne Epoche als die noch bessere Vorzeit beschrieb. 67 Diese Vermutung nun wies John J. Collins mit treffenden Worten aJs »simply an appeal to the unknown« zurück und dies unter deutlichem Hinweis darauf, dass die Textfragmente von Deir cAlla weder das Motiv der Zeitalter noch der
s.
6S W. Burkert. Apokalyptik., 244. 66 W. Burkert, ApokaIyp.ik, 245. 67 W. Burlcert, Apokalyptik, 246.
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Metalle erkennen lassen. 68 Die im Danielschen WeltmodeU angesprochenen Reiche weisen zweifellos in den levantinischen Bereich des 8. Jh. V.U.Z. und später, da es einerseits Machtblöcke nennt, die weiter nach Westen hin keine relevante Größe darstellten, und andererseits für die Region selbst bedeutende frühere Besatzungsmächte wie Hethiter und Ägypter nicht erwähnt. Problematisch ist es indes, den durch das erste genannte Reich vorgegebenen Datierungsrahmen auf den Entstehungszeitpunkt des WeltmodeUs zu beziehen, würde man - ausgehend von der Annahme ex eventu gesprochener Prophezeiungen - doch die jüngste tatsächlich herrschende Dynastie als Ausgangspunkt der inhaltlichen Zusammenstellung vennuten, d. h. aber: die hellenistische Zeit. Für diese lässt sich nun in einer 1975 von Albert K. Grayson veröffentlichten spätbabylonisehen ex eventu-Prophezeiung aus wohl frühseleukidischer Zeit die Abfolge: Assyrer, Babyionier, Perser und Makedonen - stets gesehen aus babylonischer Sicht - Literarisch greifen. 69 Das Spezifikum einer Deutung der >Metallzeitenorientalisches Element< im Burkertschen Sinne erkennen. Dies kann jedoch fiir andere - nach Hesiod zu datierende - )klassisch antike< Quellen aufgezeigt werden, die der Spätphase des Modells angehören, welche im Falle des von VeUeius Paterculus genannten (I 6,6) römischen Schriftstellers Aemilius Sura sogar nahezu zeitgleich mit Dan 7 wohl noch in den 70er Jahren des 2. Jh. v.u.Z. anzusetzen ist 10: (6,6) Aemilius Sura [schreibt] über die Chronologie des rö mischen Volkes : A1s erstes haben sich die assyrischen AnfUhrer der Herrschaft über aUe Völker bemächtigt, dann die Meder, darauf die Perser, dann die Makedonen. Nachdem die beiden Könige Philipp [V.] und Antiochos [111.], die von den Makedonen abstammten, nicht lange nach der Unterwerfung Karthagos besiegt worden waren, ging die höchste Herrschaft (summa imperit) an das rö mische Volk über.
Das >ReichsmodeU< des Sura unterscheidet sich dabei von dem des DanielAutors in seiner regionalen Ausdeutung: vor allem in Dan 7 und 11 ist das letzte, >aktuelle< makedonische Reich als Argeaden-Ptolemäer+Seleukiden-Linie aufzulösen. Sura hingegen sieht hier die Folge Argeaden-Antigoniden+Seleukiden unter Hinzuziehung von Karthago in zentraler Position und benennt Rom 68 JJ. Collins, Daniel, 163 Anm. 105 . 69 A.K. Grayson, Babylonian Historical·Literary Texts. 24-3 7, s. dazu A . MomigJiano, Daniel, 32f., der aber gerade auch auf die konzeptionellen Unterschiede dieser l)(fynastic prophecy(( hinweist: JJ. Collins, Daniel, 168; vgl. auch L Schumacher, Die Herrschaft, 280 mit Anm. 9, (freundlicher Hinweis auf den letztgenannten Aufsatz durch Professor J.-D. Gauger). 70 Vgl. L Schwnacher, Die Herrschaft. 280. Die von S.K. Eddy (1be King, 16) u.a. vertretene These, dass Aemilius Sura das Reichsmodell bereits vor einer jüdischen EndredaJction des Daniel· Buches und vor dem Kont.aJct Roms mit Judäa und Syrien nur über anti·hellenistisch eingestelhe Perser zugänglich gewesen sei, ist chronologisch nicht haltbar, dazu auch kritisch M . Hengel, Judentum, 335f. mit Anm. 491 .
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bereits durch die Siege gegen die Allianz im 2. Makedonischen bzw. 2. Punischen Krieg als seit den 90er Jahren des 2. Jh. v.u.Z. faktischen Nachfolger dieses vierten )Reiches<.71 Bei all diesen Überlegungen muss nun festgehalten werden, dass Hesiods Dichtung - bis auf weiteres - der älteste sicher datierbare Beleg fur das 4-(Metall)zeitalter-Konzept bleibt. Denkbar wäre nun eine auf dieser Grundlage auJbauende, im levantinischen Raum anzusiedelnde Umgestaltung bzw. Umwidmung der vier Phasen durch Gleichsetzung mit historisch greifbaren Herrschaftsepochen. 72 In dieser modifizierten Fonn hätte dann in der grenzoffenen Zeit des Hellenismus das Modell auf die >klassisch antike< Welt zurückgewirkt. 73 Aber auch diese Theorie muss bislang Hypothese bleiben. Dass Hesiods >Werke und Tage< »AJ1gemeingut der griechischsprechenden Welt geworden« waren - wie dies Martin Hengel vennutet 74 -, klingt wahrscheinlich, doch kann das Auftreten des Motivs in orientalischen QueUen eben nicht sicher erst in die Zeit datiert werden, als man auch dort verstärkt Griechisch sprach. Mit der Frage nach Ursprung und Entwicklung des ModeUs eng verknüpft ist jene nach der inhaltlichen Zuweisung der vier (Welt)reiche durch den Autor des Daniel-Buches. Als klassische, bereits von Herodot15 ansatzweise angesprochene Abfolge von sich in territorialer Herrschaft ablösenden Imperien galt von orientalischen QueUen bis zu römischen Historikern die Reihung: Assyrer - Meder - Perser, die dann in heUenistischer Zeit um die Makedonen und in römischer Zeit häufig um das Imperium Romanwn erweitert wurde, S.0,16 Spätestens seit C.C . Caragounis' 1993 veröffentlichter kritischer Untersuchung >History and Supra-History< ist nun an einer Identifikation der vier Königreiche in Dan 2 und 7 als Babyionier - Meder - Perser - Makedonen 71 D. Mendels, The Five Empires, betrachtet diese vier + eins Konstellation aJs Indiz
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74 7S 76
für eine deutlich spätere Ansetzung des Sura-Textes. Das Auftreten Roms im Kontext der östlichen lWeltreichel sei am ehesten mit dessen massiver Orientpolitik im I . Jh. v.uZ. zu verbinden (a. O. ldes Nachdrucks von 1998] 320f.). Eine derart engagierte ,Ostpolitik( lässt sich aber eben auch für die Zeit der von Sura konkret angesprochenen Ereignisse des 2. Jh. v.uZ. konstatieren. Dennoch darf natürlich nicht verschwiegen werden, dass der einzig sichere chronologische Hinweis durch die Verwendung im Werk des Velleius Paterculus als ,terminus ante quem( gegeben ist, das durch seine Widmung in das Jahr 30 uZ. datiert werden kann. A. Momig1iano, Daniel, 35 sieht allein in der Addition des Gottesreiches am Ende des Modells eine eigenständige Hinzufügung einer ansonsten der »theory of imperial succession from GTeek historiography« entnommenen Vorlage. Dies wird jedoch der in den ausgewählten Reichen deutlich spürbaren )()rientalischen Position( nicht gerecht. An ein Wechselspiel der Traditionen dachte auch bereits 1975 JJ. Collins, Jewish Apocalyptic, 29: »In the case of the four-lcingdom schema we find a pattern which was used intemationally, and we must asswne that it was consciously borrowed by each people in tum~. M. Hengel, Judentwn, 335 Anm.490. Hd1. I 95 und 130. Einen guten QueUenüberblick bietet JJ. Collins, Daniel, 166(.
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nicht mehr zu zweifeln. 77 Dass hier die Assyrer durch Babyion, d. h. vor allem durch Nebukadnezar, mit einer zudem auffallend positiven Beurteilung ersetzt wurden, wodurch auch das Problem einer >realhistorischen< Erklärung dieser vier Machtblöcke als aufeinanderfolgende Reiche hinzukommt, für die im Falle der Babyionier, Meder und Perser ein zeitweiliges Nebeneinander zu konstatieren ist, hat verschiedentlich zu der Vermutung Anlass gegeben, dass es sich um ein in Babyion konstruiertes, paganes oder jüdisches Schema handelte. 78 In mehrfacher Hinsicht originell zu nennen ist in diesem Zusammenhang ein Deutungsansatz, den Jürgen Lebram 1970 fiir die )Vier-Tier-Reiche< in Dan 7 vorsteUte. Seine Reichsdeutung beruht auf folgenden Ausgangsthesen: »Die in Danie! ... geäußerte Kritik am G riechentum ist, ... , grundsätzlich nicht mit der national-jüdischen Geschichte verbunden. Sie ist von auswärts stammende antiseleukidische Propaganda«, und das Buch sei »offensichtlich der östlichen Diaspora« zuzurechnen. 79 Es habe seinen Ursprung »in den orientalisch-priesterlichen Kreisen« außerhalb des Judentums . 80 Die drei ersten, üblicherweise als Vorläufer der Makedonen gedachten >Tiere
77
e.e. Caragounis, History, 388-390. Zuvor ausführlich: H.H . Rowley, Darius the Mede.
Porphyrios haUe - laut Hieronymus (in Dan. 7,7 = Harnack F 43L = Stern 11 464i) - in seiner Schrift )Adversus Christianos
"
Apokalyp/ik und Geschidlle. Das Buch Danie/ in der (a/Ohis/orischen FOflChul1g
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Mithridates I. vor Augen gestanden«, und das vierte ist schließlich ws das »Seleukidenreich des bösen Antiochos« zu identifizieren. 82 Mit einer solchen rein zeitgenössisch auf das 2.Jh. v.uZ. bezogenen Umsetzung der vorheUe-nistischen Reiche im Daniel-Buch wäre somit das scheinbare ereignishistorisehe Nacheinander zum Teil parallel anzusetzender Imperien aufgelöst und die Gewichtung BabyIons durch die Herkunftsbestimmung erklärt. Auch C.C. Caraguonis versucht das Nacheinander der in Dan 2 und 7 gemeinten Reiche zu relativieren, sieht dabei jedoch Judäa und nicht Babyion im Zentrum des ModeUs, das von allen vier Mächten aus - quasi aus vier Himmelsrichtungen heraus - abwechselnd okkupiert wurde. 8J So betont er 84 : it must be emphasized that OUT AuthOT is not interested in the puny origins of each nation, but only in the period when this nations became WOTld empires with power to shape OT at least affect the destiny of his own people.
Damit schließt nicht länger die Entstehung eines Reiches unmittelbar an den Untergang des vorigen an sondern die in der Tat als Abfolge zu bestimmende hegemoniale Potenz der jeweils ftihrenden (Groß)macht Babyion, Medien, Persien und Makedonien als »arbiter in world politics«85 . Klaus Koch hatte in seinem EdF-Band zum Daniel-Buch noch das Schema als, »historisch gesehen, falschcc bezeichnet. 86 Das von Caragounis vorgebrachte ModeU löst jedoch das historische Sukzessionsproblem und dies ohne auf eine dem Text nicht zu entnehmende, )modernisierende< Umdeutung der Reiche als Synonyme fur hellenistisch zu datierende Machtblöcke zurückgreifen zu müssen, die der Geradlinigkeit des historischen Gesamtkonzeptes vom ersten babylonischen >Gold! Tiere hin zum 11. seleukidischen Horn widersprechen würde. Ausgehend vom vierten Tier (= Reich) spitzt der Autor des 7. Danie!Kapitels in seinen ex eventu-Visionen die Dramaturgie des deutlich drohenden Untergangs im Symbol der Hörner dieses Wesens auf einzelne hellenistische Herrscher und dabei schließlich auf die FIgur des nicht nament1ich genannten, doch in historischer Anspielung als Antiochos rv. Epiphanes identifizierbaren Königs zu, dessen Verhalten nicht als ein Vorgehen gegen die aufmüpfigen Jerusalemer Untertanen, sondern als im Kern gegen JHWH gerichtetes gottloses Vergehen charakterisiert wird. Beschrieben wird dieser letzte Fremdherrscher in Dan 7 als das elfte und jüngste, außerplanmäßig entstandene Horn des nach Löwe, Bär und Panther unbenanmen vierten schrecklichen Tieres ( Reiches). Die Charakteristik dieses Tieres konnte von Urs Staub einleuchtend als der Bibel genereU ungeläufig und deshalb vielleicht als Wesen ohne Namen auftretender Elefant gedeutet 82 13 84 U 8(i
J. l..ebram, Apokalyptik, 5t1f. C.C. Caragounu, History, 390; vgI. E. Bickennan, Foot Strange 8ooks, 102(. C.C. Catagounis, History, 391. C.C. Cangounis, History, 394. K. Koch. Das Buch, 199.
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werden. 87 Dieser wurde von den Seleukiden stets als ein besonders wertvolles Kampfmittel betrachtet und entsprechend häufig auf Münzen dargestelit. Die Hörner, die das Wesen trägt, müssen dabei ebenso wie die den anderen drei Tieren zugewiesenen >Accessoires( nicht der zoologischen Realität entspre-
chen. Sie begegnen indes mitunter als Helmzier auf MünzdarsteUungen der Seleukidenkönige. Das elfte Horn nun, dessen nachträgliches und gewaltsames Erscheinen auf die außerordentlichen Umstände bei der Thronbesteigung
Antiochos' IV. anspielt, »das Augen und einen Mund hatte, der anmaßend redet~( (Dan 7,20) und »lästert über den Höchsten« (7.25), sieht der Visionär »gegen die Heiligen kämpfen . Es überwältigte sie« (7,21). Doch damit nicht genug: .>die Festzeiten und das Gesetz will er ändern« (7,25), d.h., Maßnahmen gegen heilige, die eigene Identität betreffende Vorgaben ergreifen, doch dies gelingt nur: bis das Tier - wegen der anmaßenden Worte, die das Horn redete - getötet wurde. Sein Körper wurde dem Feuer übergeben (7,11).88
Das zentrale todbringende Motiv der Schilderung ist die Hybris des Kö nigs. In der modemen Forschung wurde dabei gerne auf Münzdarstellungen und · Iegenden des Antiochos IV. verwiesen, die des Königs Selbstverständnis als Inkarnation des olympischen Zeus belegen und damit den unglaubHchen Got· tesfrevel veranschauJjchen sollen, dass Antiochos in seiner Umwidmung des Jerusalemer Tempels an Zeus sich eigentlich selbst an die Stelle JHWH s habe setzen wollen. Konnte diese Identifikationstheorie bezüglich der bildli· chen DarsteUungen bereits von Otto M0rkholm widerlegt werden 89 , so kann auch betreffs der hier faktischen Erstbelegung eines mit Theos, »)Gott(~ gebilde.ten Beinamens eines lebenden Seleukidenherrschers deutlich gemacht werden, dass dieser nicht mit dem Göttervater Zeus in Verbindung steht, sondern als Reaktion auf die auch in den Münzbeischriften erkennbaren Neuerungen im ptolemäischen Herrscherselbstverständnis eingestuft werden kann .90 Die starke Affinität Antiochos' IV. zu Zeus ist dabei grundsätzlich nicht zu leugnen. Hier zeigt sich auf göttlicher Ebene ebenfalls eine im wesentlichen politische Komponente: im Kontext der bestehenden Machtblöcke des Mittelmeerraumes bildete der höchste Gott der Griechen im Gegensatz zum bislang von den Seleukiden favorisierten ApolIon 91 ebenso ein gleichrangiges Gegengewicht zum Iuppiter Roms wie zum Dynastiegott Zeus-Sarapis der Ptolemäer. 92 Dass im Zuge dieser Umorientierung nun die höchsten Landes- oder 87 U. Staub, Das 1ier (1978), 351 - 397 bzw. (2000), 37- 85. 88 AJIe genannten Dan 7 Zitate sind in der Übersetzung von O. PI~r wiedergegeben . 89 O. M0rkholm. Studies, 58. 72-74. 90 VgJ. dan' bald Verf.. Anriochos IV. und Ä8fpten. Machlpotiti1c und Ideologie, in VorlJ. 91 S. LB. 1.G. Bunge, IAntiochos Helios<, 165 mit Anm. 5. 92 VgJ. H. Kyrieleis. Ein Bildnis, 15; M. Rostovtzdf, Gesellschafts· und Wlftlchaftsgeschichte. Bd. II, 555 r.
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Stadtgottheiten synkretistisch mit Zeus gleichgesetzt wurden, entsprach dabei der üblichen hellenistischen Praxis 93, und so ist wohl auch die aus jüdischer Sicht vielfach als Verdrängung des JHWH-Kultes empfundene Präsenz des Zeus im Tempel von Jemsalem eher als eine entsprechende Identifikation der ranghöchsten Gottheiten zu sehen, der zumindest im Prinzip keine provokative lntention zugrunde liegen musste. Dabei wurden indes die Besonderheiten des Jerusalemer Kultes von heUenistischer Seite unterschätzt, und so fiihrte eine derartige Maßnahme unweigerlich zum Eklat und zum besagten Hybris-Vorwurf. Diese )Anmaßung< würde das vierte in Daniel 7 beschriebene Tier, und damit den König und sein Reich, zu Fall bringen (Dan 7,vgl. 11,40-45). In diesem letzten Akt ist, wie mehrfach erwähnt, der einzige reale visionäre Part des biblischen Textes zu sehen, da das Daniel~Buch wahrscheinlich vor dem Tod Antiochos' IV. voUendet wurde. Es erscheint dies jedoch im Gesamtszenario als logische Konsequenz des ausgebreiteten Modells. Antiochos wird - gemäß der Ankündigung - )>endgültig ausgetilgt und vernichtet« (7,26). Dies martialische Vorgehen findet dabei seine historische Entsprechung in den Befreiungskämpfen der Makkabäer, deren Aktionen in den beiden ers~ ten Makkabäerbüchem betont ereignisgeschichtlich dargesteUt werden, aber auch in einer Mischung aus deskriptiver Schilderung und deutlicher Adaption der Terminologie des Daniel~Buches in der sogenannten KriegsroUe aus Qumfan anklingen, wenn dort von den )Söhnen des Lichts
Hom [... [. IQM 1,4; Übers. J. Maier.
Das Feindbild Antiochos IV. ist dabei keineswegs auf die literarischen Texte der zwischentestamentlichen Zeit Israels beschränkt. Auch in den zeitgenössischen ägyptischen ex eventu~Prophezeiungen. die als )Lamm des Bokchoris< und als )Töpferorakel< bezeichnet werden, spielt er eine z. T. wesentliche RoUe, die Bezug nimmt auf seine Ägypteninvasionen in den Jahren 170-168 v.uZ. und damit in ähnlich negativem Licht betrachtet wird, wie in den jüdischen Texten. So heißt es im Töpferorakel (P, 130f.): [und es wird he]rabkommen aber aus Syrien ein König, der verhaßt [sein wird] bei allen Menschen.
Ist Antiochos IV. hier auch nicht das einzige auslösende Element fiir die dort beschriebenen Untergangs~ und Chaosvisionen, so fiigt er sich doch auch in
93 Vgl. auch innerjüdisch: Aristeas 16.
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diesen Kontexten ein in mit apokalyptischen Elementen der )Chaosbeschreibung<arbeitende Traktate. 94
Schlußbemerkungen EI dicit eum, qui sub namine Danielis scripsit librum, ad refocillandam spem suorum fuisse mentitum - non qua omnem historiam futuram nosse potuerit, sed quo iam facta memoraret. Auch sagt er, dass der, der unter dem Namen Daniels ein Buch geschrieben hat, ein Lügner gewesen sei, um die Hoffnung der Seinen wiederzubeleben - nicht als ob er die ganze zukünftige Geschichte erkennen konnte sondern das schon Geschehene berichtete. Hieron ., in Dan. t 1,44f.; PL XXV, p. 374; Harnack F43V; Porph. FGrHist. 260 F 56; Stern 11 464, (Z. 27- 30).
Diese dem Porphyrios von Hieronymus wiederholt vorgehaltene Theorie des Neuplatonikers scheint - nach heutiger Erkenntnis - den Intentionskern des
biblischen Apoka1yptikers zu treffen und charakterisiert gleichsam - ohne es zu wissen - auch die zentrale Absicht der Josephusschen Darstellungsund Deutungs>revision<, Bereits Josephus, Porphyrios und Hieronymus hatten in ihren >Daniel-Analysen< versucht, die dort vorliegenden mehr oder weniger verschlüsselten historischen Angaben in ihnen bekannte bzw. von ihnen überprüfbare ereignisgeschichtliche Abläufe einzufUgen oder von ihnen abzugrenzen. Ihre Intentionen waren dabei in der jeweiligen Ausprägung zwischen Kritik und Apologie begründet und gingen über eine reine Schilderung >dessen, was gewesen< weit hinaus, arbeiteten somit ebenso auf zwei verschiedenen Ebenen mit dem Text und seinen Inhalten, wie es zuvor der Autor des Buches als historisch orientierter Apokalyptiker getan hatte. Vor allem aus diesen miteinander im Text verwobenen historischen und theologischen Ebenen resultiert der zumeist doch recht zögerliche Umgang der modemen Althistorie mit den im Daniel-Buch formulierten Angaben zu historischen Ereignissen und Sachverhalten - d. h. gerade im Hinblick auf ein deutliches Misstrauen bezüglich des die Historie vermeintlich >kontaminierendenfact and fiction< angesiedelten Informationen im Sinne historisch-kritischer Analyse gestaltet sich heute zudem deutlich schwieriger als es einem Porphyrios im 3.Th. u.Z. möglich war, ist doch die zur Verfiigung stehende Vergleichsbasis der QueUen über 1700 Jahre nach dessen Untersuchung als wesentlich bescheidener zu bezeichnen. Dem Daniel-Buch deshalb jeden historischen Wert abzusprechen 94 Zu den grie<:hisch-ägyptischen Texten s. jetzt: HJ . Thissen, Das Lamm, und L Koenen, Die Apologie. S.auch den obigen Beitrag von 8 .U. Schipper.
Apokalyptik und Geschichte. Das Buch Danie! in der (a!IJhislorischen Forschung
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oder es stillschweigend zu ignorieren, würde diesem Zeugnis indes ebenso wenig gerecht, wie eine allzu unkritische >profanWegweiserGebrauchsanweisung für den Idealfall
Darüberhinaus können im Daniel-Buch erkennbare Konzeptionen und Themenschwerpunkte Hinweise auf EntschJüsselungskategorien nicht durch andere QueUen zu k1ärender >riddles( bieten, verbleiben dabei jedoch - bis auf weiteres - im Bereich der Indizienanalyse und Plausibilitätsargumentation.96
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MICHAEL WOLTER
Apokalypsen als Erzählungen CHRJSTOFER FREY ZUM 65. GEBUKfSTAO
I. Apokalyptik ist .. . 1. »Da eine Einigung über einen einheitlichen Sprachgebrauch für den Begriff >Apokalyptik< in absehbarer Zeit kaum erreichbar sein dürfte, bleibt nichts anderes übrig, als dass ein jeder, der diesen Begl jJf verwenden will, zuvor mitteilt, wie er ihn versteht.« - Im Sinne dieser Forderung Hartmut Stegemanns 1 möchte ich zunächst nicht nur über meinen Gebrauch der Begriffe >Apokalyptik
1 Stegemann, Bedeutung, 498. 2 ln den durch den TLG .E erschlossenen Texten ist das Adjektiv bOXrU.U1tlIX&; lediglich an drei SteDen bei aItkirchlichen Autoren belegt: Für Clemens v. Alexandrien, Pled. J 1,2,1 ist der A0101; &&aaXalIX&; in Angelegenheiten der Glaubenswahrheiten (tv loi~ oo1}J.cmxoid ein Logos 6TjAwtlxOt; xo:i hoxalu1't1:lx&; Gregor v. Nazianz, Or. XXXI 29 stellt einen Katalog von Eigenschaften des Geistes zusammen und nennt ihn u.a. ein 1't\IC.~ &1tOXI1AU1t1tXoY (möglicherweise in Anknüpfung an I Kor 2,10; Eph 3,5); Maximus Confessor. Quaest. et Dubia XXXV spricht von einem ...oU!; der eine l{1~ O,1tOXalU1't1:IX-r, lWv Odwv hat. - Dieser Befund macht es im übrigen auch unmöglich. die ~ApokaJyptik« als eine ~historische Bewegung« zu identifIZieren. Es gibt in der gesamten Antike keinen Menschen, der sich selbst als IApok.alyptiken bezeichnet häne oder von ande.en SO bezeichnet worden wäre. Der Unterschied zur Gnosis ist in dieS!1 Hinsicht geradezu mit den Händen zu greifen; vg!. nur Celsus bei Origenes., C. Cels V 61 (la1woa. ... & u~ Xl1i t1t1111tn4uwx dYClI f\Iwollxol) und die Ketzerreferate der Kirchenväter. ) Vg!. auch schon V.elhauer, Gescruchte, 486 (Zitat in Anm. I6); s. auch Betienbender, Gon, 11. • Diese Vermutung hat ihren Grund in einer Bemerkwtg bei Lücke. Versuch 2, 14: Er nimmt hter Bezug auf »die sehr unscheinbare und wenig beachtete linerarische Erscheinung einiger kunen Bemerkungen über den kirchJichen Werth und Gebrauch der Offenbarung Johannis von Dt. NiIZJCh in dem &ridI1 an die MilgUaler der RLhJwpftchen Pi ediger- Vemm v. Jahre 1820 Wrttenberg 1822.8., worin zum ersten Mahle aus einer lebendigen historisch theokIgis.chen Anschauung der apokalyptischen Lineratur versucht wird. den B!& iff der biblischen Apokalyptik zu bestimmen.
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(I791 - 1855) aufgegriffen und in den wissenschaftlichen Diskurs eingefuhrt'
Lücke, der mit Recht als eigentlicher Begründer der ApokaJyptikforschung gilt 6 , wollte den Begriff als Verallgemeinerung des ersten Wortes der Johannesoffenbarung, a.1tox&J.. uo/lI;, verstanden wissen 7 und erkJärte ihn - stark komprimiert gesagt - als »Inbegriff ... der eschatologischen Apokalypsen«!, d .h. derjenigen Schriften, die wie innerhalb des biblischen Kanons das Oanielbuch und die Johannesoffenbarung )>die &.1tOXcXAVo/lC; in einem besonderen Sinne zu ihrem Inhalte haben«9, insofern sie sich auf die Offenbarung der »Zukunft«( beziehen 10. - Das Abstraktum »Apokalyptik« wurde damit zu einem Sammelbegriff, mit dessen Hilfe man bestimmten Schriften eine typologische Gemeinsamkeit zuweisen zu können meint, weil diese Schriften ein bestimmtes Profll von Merkmalen aufweisen, das sie miteinander verbindet und von anderen Texten unterscheidet. 11 An diesem Verfahren der Begriffsgewinnung wird erkennbar, dass rur den Begriff »Apokalyptik« im Besonderen nichts anderes gilt als flir wissenschaftssprachliche Begriffe im Allgemeinen: Seine Bedeutung beruht auf einem Zuschreibungsvorgang. und sie kann darum auch immer nur Vereinbarungssache sein. Gegenstand dieser Vereinbarung ist dementsprechend, welche Merkmale es im Einzelnen sind, die als für die Bedeutungszuschreibung maßgeblich anerkannt werden . 12 Dieser Sachverhalt nötigt zunächst zu einer weiteren Verallgemeinerung: Begriffe haben bekanntlich Ordnungsfunktion. denn aufgrund ihres semantischen Gehalts machen sie es möglich. Zusammengehörigkeiten und Unter-
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Aus diesem Keime an einem (ast verborgenen Orte entstand rur mich in der ersten Ausgabe dieser Einleitung die Aufgabe einer Charakteristik und Geschichte der apokalyptischen Lineratur überhaupt..: (Hervorhebung im Original; vgl. auch ders., Venuch l 23). - Nitzschs Te"t ist heute verschoUen und lediglich durch umfangreiche Zitate in der ersten Auflage von Uickes eigener Untersuchung bekannt (35(,40; weitere Passagen zitiert Bcyschlag, Karl lmanuel Nil7SCh, IVVIII): vgl. auch Schmidt, Apokalyptik. 98f. Anm.3: Otristophersen. Friedrich Lücke (1 791 1855) J 368 f. Anm. 2. Erstmals in: Lücke, Studien, 291. Vgl. Schmidt. Apokalyptik, 98 8'.; Zager, Begriff, 21 ff.; Christophersen, Begründung, 158- 179, Vgl. Uicke, Versuch2, 18: »Der Name der a:n:ox6J.\xJ.u; scheint vornehmlich durch die authentische Überschrift der Joh. Apok. 1, 1. technischer Iineranscher Ausdruck in der Griechischen Kirche geworden zu seyn. Da derselbe den wesentlichen l.nhaJt dieser Lilleratur in charakteristischer Weise bezejchnet, SO gehen wir in der genaueren Untenuchung über das Wesen der Apokalyptik mit Recht von dem Begriff der a.1tox.uu4ot( aus .• Ebd.. 25. Ebd.. 18. Ebd., 20,22. F. Dexinger spricht in diesem Sinne von einem ItArbeitsbegriff.c., »der es ermöglicht, eine A.nzahI literarischer &zeugnisse auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.c., bzw. von einem »Hilfsausdruck zur Bezeichnung einer im vorwissenschaftlichen Bereich intuitiv erlaBten Literaturgattung« (Zehnwocbenapok.alypse, 6,7). Vgl. da?" die Überbliclc:e bei Dexinger. Zchnwochenapoka.lypse, 78'.: 8edenbender, Gon, 32 1J.
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schiede zwischen einzelnen Phänomenen wahrzunehmen und zu beschreiben. Das bedeutet jedoch nicht, dass Begriffe die Funktion haben, die Wtrklichkeit abzubilden. Sie stellen vielmehr Wrrklichkeit her. Als sprachliche Zeichen gehören sie darum auch nicht in den Bereich der Mimesis, sondern in den der Poiesis, denn sie konstruieren in ihrer Gesamtheit eben jenen aus Bedeutungen zusammengesetzten universalen Sinnzusammenhang, den wir >Wll'klichkeit< nennen. 13 Ob die Begriffe >stimmen<, ist insofern nicht lediglich eine Frage der Referenzsemantik, sondern wird rezeptionshenneneutisch entschieden, und Kriterium fur die >Stimmigkeit< eines Zeichens ist darum auch nicht lediglich sein Verhältnis zum Bezeichneten, sondern vor allem seine Sinnhaftigkeit innerhalb derjenigen symbolischen Sinnwelt, in der die Zeicbenbenutzer leben. Kriterium tur die Sinnhaftigkeit eines bestimmten Begriffs ist dementsprechend, ob die ihm zugeschriebenen Merkmale eine Matrix bilden, die die genannte Ordnungsfunktion so wahrnehmen kann, dass die Verwendung des Begriffs zu plausiblen und akzeptablen Ergebnissen fuhrt. 2. In diesem Sinne stehen auch die Begriffe »Apokalyptik« und »apokalyptisch« tur ein wissenschaftliches Konstrukt, das einer Mehrzahl von Einzelphänomenen einen gemeinsamen Nenner zuweisen will. Mit der wissenschaftlichen Apokalyptik-Forschung setze ich voraus, dass es sich bei diesen Einzelphänomenen um Texte handelt. 14 Dementsprechend sind auch die Merkmale, aus denen wir das semantische Profil der Begriffe konstruieren, aus Texten zu erheben und besteht das Ziel unserer Frage nach typologischen Gemeinsamkeiten zwischen den Texten in zweierlei: zum einen in der fonngeschichtlichen Zuweisung eines Textes zur Gattung >Apokalypse< sowie zum anderen in der Bestimmung der Intention der Fonn, die allen Exemplaren dieser Gattung gemeinsam ist. Unsere Fragestellung lautet also: Aufgrund welcher Merkmale können wir einer Schrift die Gattung )Apokalypse< zuschreiben? Oder allgemeiner: aufgrund welcher Kriterien bezeichnen wir einen Text als einen >apokalyptischen< Text? Oder noch einmal anders: was macht die Apokalyptizität eines Textes aus? Wenn wir unseren Ausgangspunkt bei denjenigen Texten nehmen, an denen sich wissenschaftsgeschichtlich »Begriff und Vorstellung der Apokalypse gebildet haben« 15, werden wir zu umfangreichen Katalogen gefiihrt, in denen sich -
13 Vgl. Berger/ Luckmann, Konstruktion, 36ff..12ff.
14 Damit lasse ich den heute recht weit verbreiteten Sprachgebrauch unberücksichtigt, der den Begriff ltApok.a.l)'pSCM im Sinne von »Katastrop~ ltUnheil« oder "Untergang. versteht; s. auch Vondung, Apokalypse. 21 . 15 Vondung, ebd.; vgl. auch Schmidt. Apokalyptik, 315: »Der Einsatzpunkt ... wird zunächst dort bleiben, wo ihn die Forschung gesucht und auch gefunden hat - bei den sprachlichen Formen der Schriften, von deren Namen der Begriff IApokalyptik( stammt. Sie dienen als Muster für die Suche nach weiteren QueUen.«
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wie dies z. B. bei Pb. Vielhauer 16 und K. Koch 17 der Fall ist - literarische, inhaltliche und historische Merkmale mischen. - Wenn wir uns nun die genannten Merkmale im Einzelnen anschauen t ist zu unterscheiden zwischen
- unspezifischen Merkmalen, die auch in apokalyptischen Texten (aber eben auch in nichtapokalyptischen) vorkommen können und die einen Text darum noch lange nicht zu einem apokalyptischen Text machen 18, - /akultatwen Merkmalen, die in einigen, aber nicht in aUen apokalyptischen Texten vorkommen und die darum fiir einen apokalyptischen Text prinzipieU auch entbehrlich sind 19, und konslilulivell Merkmalen, ohne die kein apokalyptischer Text auskommt. Hierbei handelt es sich um Merkmale, die nicht durch andere substituierbar sind, d. h. Fonnelemente, die als notwendige Bedingung fungieren, um einen Text als apokalyptischen Text identifizieren zu können und die darum aufgar 16 Vielhauer, Geschichte. 486-492: »Mit dem Ausdruck ,Apokalyptik! ... . einem späten .. . Kunstwort. pflegt man zweierlei zu bezeichnen: 1. die Literaturgattung der Apokalypsen. d. h. Offenbarungsschriften. die zukünftige und jenseitige GeheiuUlisse enthüllen, und 2. die Vorstellungswelt, aus der diese Literatur stammtK(486). - »Literarische MerkmaleK (»Stilelemente«): »Pseudonymitätll; »VisionsberichtII; " Bildersprache.:; »E.ntschlüsselungK; »Systematisierungll: »sie (versuchen) die Vielfalt der Phänomene durch Ordnungsschemata, insbesondere Zahlen. übersichtlich zu machen«; als ))kleinere Formen« gelten: llGeschichtsüberblicke in FuturformK; »Jenseitsschilderungen«; »Thronsaalvisionen. ; »Paränese«; »GebeteK (487-490). - »Vorstellungswelt«: »Dualismus der zwei Äonen«; ))Universalismus und Individualismus«; »Pessimismus und Jenseitsholfuung((: »Determinismus und Naherwartung« (490-492). 17 Vgl. Koch. Ratlos, 20-30 mit der Unterscheidung zwischen literarischen und historischen Merkmalen: Zu den erstgenannten zählt er: »große Redezyklen .. ., die ... ein langes Zwiegespräch zwischen dem apokalyptischen Seher und seinem himmlischen Gegenüber wiedergeben«; »seelische ErschütterungenII: »paränetische Reden an seine Gemeinde, seine Jünger oder ,Söhnec «; »Pseudonymität«; Verschlüsselung der Sprache »durch symbolreiche mythische Bilder«; »ein längeres literarisches Wachstum ... Kompositionscharak!erl(. - Als Merkmale, die »Apokalyptik als historische Strömung« kennzeichnen. gelten: lleine drängende Naherwarrung der Umwälzung aller Verhältnisse«; »das Ende encheint als kosmische Katastrofe von ungeheurem Ausmaß«; »die Weltzeit ist in feste Abschnine geteilt, die inhaltlich seit den Tagen der Schöpfung vorherbestinunt sind«; »Um den Ablauf der geschichtlichen und endzeitlichen Vorgänge zu erklären. wird ein nach Klassen abgestuftes Heer von Engeln und Dämonen aufgeboten ... Die irdische. allen Menschen einsichtige Geschichte steht mit einer überirdisch-unsichtbaren Geschichte in Wechselwirkung, von der nur auserwählte Seher auf apokalyptischem Wege Kunde erhalten«; »jenseits der Katastrofe taucht ein neues Heil auf. das paradiesischen Charakter haN; »der Übergang vom Unheilszustand zum endgültigen Heil wird von einem Akt erwartet, der vom Thron Gottes ausgeht«; »zur Durchführung und Gewährleistung des Endheils (wird) gern ein Vermittler mit königlichen fUnktionen eingeschaltet«; »das Stichwort Herrlichkeit wird dort gebraucht, wo der Endzustand von der Gegenwart abgehoben und eine endgühige Verschmelzung zwischen irdischem und hinunlischem Bereich geweissagt wird«. 18 Dies gilt 2:.8. für das MerkmaJ der Pseudonymität. das auch in eindeutig nicht-apokalyptischen Texten begegnet wie LB. in den deuteropaulinischen Briefen. Dasselbe gilt für das Merkmal des Äonendllalismus, das wir L B. auch in Gal 1,4 antreffen. 19 Dies gilIZ.B. für das Motiv der Jensensreise.
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keinen Fall feh1en dürfen. - Hierbei gilt: Je größer die Zah1 der konstituti· ven Fonnelemente ist, desto enger und trennschärfer wird der Begriff. Er ist am weitesten, wenn nur ein einziges unersetzbares Merkmal ausreicht, um einen TeX1 einer bestimmten Gattung zuzuweisen. Umgekehrt gilt aber auch, dass man mindestens ein Merkmal braucht, um mehrere TeX1e einer gemeinsamen Gattung zuordnen zu können. In Bezug auf die anderen Elemente gilt das Gegenteil: Je niedriger die Zahl der unspezifischen und fakultativen Fonnelemente ist, d. h. je enger ein Begriff gefasst wird, desto trennschärfer kann er gebraucht werden. Dementsprechend geht naturgemäß mit der numerischen Zunahme derartiger Formelemente immer ein Verlust an Trennschärfe einher. Aus diskursökonomischen Gründen empfiehlt es sich nun immer, bei der Bestimmung einer Gattung zunächst mit nur einem einzigen konstitutiven Form·Element zu beginnen und dann auf der Grundlage der gewonnenen Ergebnisse weiter zu differenzieren . In diesem Sinne identiflZiere ich als konsti· tutives und d. h . unersetzbares Form·E1ement, das als hinreichende Bedingung fungiert, um einen TeX1 als Apokalypse bezeichnen zu können, die einleitende Milleilung an die Leser, dass es sich bei den folgenden Inhalten um die Wieder·
gabe von Sachverhalten handelt, die konventionellem menschlichen Erkenntnis· vermögen unzugänglich sind und deren Kenntnis darum im Wege von esoterischer Enthüllung erfolgt. Dem vorliegenden Text wird dabei gleichzeitig die Funktion zugeschrieben, diesen Inhalt mfmals bekannt zu machen~ so dass dann auch er EnthüUungscharakter bekommt. »Apokalyptik« soll darum hier nicht mehr hei· Ben als >Offenbarungs- oder Enthüllungsrede< oder anders gesagt: Apokalyptik sei nichts anderes als >Enthüllerek 20 Zur Erläuterung sei das Vorstehende noch einmal aus anderer Perspektive formuliert: »Jeder TeX1 hat eine Form«21 Sie eTglbt sich aus der Interaktion einer begrenzten Menge von Form·Elementen, d.h. der semantischen, struk·
20 Die größte Nähe %U diesem Verständnis weisen die Näherbeslimmungen auf, mit denen H. SIegemann die 8eg:iiffe .Apokalyptik~ und .Apokalypse< erläutert (wobei ich das von Siegemann benutzte Adjektiv »himmlischtl durch .transzendentc ersetzen würde; s. dam u. S. 115): liMit .Apokalyptik( bezeichne ich ausschließlich ein literarisches Phänomen, nämlich die Anfertigung von )()ffenbarungsschriften<, die Sachverhalte ~nthüUen<, die sich nicht aus innerweltlichen Gegebenheiten, beispielsweise aus dem vorgegebenen .Erfahrungswissern ableiten lassen. sondern die sich dem Autor und dem Leser nur erschließen durch den Rüekgriff' auf )himmlis<:hes~ OOenbarungswissentl (Bedeutung. 498); ItApokaIypsen sind literarische Werke. die inhaltlich dadurch gekennzeichnet sind, dm sie das in ihnen Dargestellte als .himmlisch geoffenbar1( ausweisen, wobei das gesamte Werk - insbesondere auch in seinem literarischen Rahmen - auf diesen Aspekt des .himmlischen Geoffenbartenl abgesteUt isttl (ebd. 526). - In Spannung dam steht Stegemanns Erklärung des Se8' iffs )apokalyptisch<, insofern er hier auf einmal inhaltliche Kriterien anfuhrt (>IStoffe, Vorsteßungen, Ganungen, Se8' iffe. Bilder«; ebd. 528). 21 Berger, FOililgeschichte, 9.
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turelle" und syntaktischen Merkmale eines Textes und ihrer Hierarchie. Von einer Gouung kann man dementsprechend dann sprechen, - wenn sich mindestens eines clieser Form-Elemente in mehreren Texten (Galtungsexemplaren) findet, die von verschiedenen Autoren stammen, - wenn man die gemeinsamen Form-Elemente über die divergenten FormElemente dominant setzt - und wenn man schließlich diese Gemeinsamkeit dadurch als Gattung kOßzeptuaJisiert, dass man ihr einen Namen gibt.
Wenn wir dementsprechend diejenigen Texte einer gemeinsamen Gattung zuweisen, die das Form-Element (abgekürzt gesagt) >vorangestellte metakommunikative Mitteilung einer Leseanweisung, die den jeweils folgenden Text als esoterische Enthüllung ausgibt< als Schnittmenge aufweisen, so geben wir damit zu erkennen, dass wir eben dieses Element dominant gesetzt haben . Hierbei handelt es sich jedoch um alles andere als um eine willkürliche und beliebige Entscheidung, denn das genannte Fonnelement nimmt aufgrund seiner Anfangsposition auch innerhalb der Texthierarchie eine herausragende Stellung ein. Und wenn wir cliese Gattung dann auch noch )Apokalypse< nennen (im Prinzip könnten wir ihr auch jeden anderen Namen geben), so tragen wir damit dem Sachverhalt Rechnung, dass das griechische Wort &1tOX 6:). U~lC; >Enthüllung von Verbo rgenem Apokalypse< ist also daran erkennbar, dass er den Lesern eine Rezeptionsanweisung gibt, clie sie über clie kategorial externe oder auch transzendente Herkunft seines Inhalts in Kenntnis setzen will. 23 Sie kennzeichnet den lnhalt des Textes als eine nur transempirischer oder transzendenter Erkenntnis zugängliche und darum bisher schlechterdings unbekannte Information, clie immer nur exklusiv - d .h . von einer besonderen Einzelperson - gewusst und von dieser nun erstmals auch anderen Menschen zugänglich gemacht wird. Diese Kennzeichnung kann in ganz unterschiedlicher Weise realisiert werden; ihnen allen ist gemeinsam, dass clie Grenze der immanenten Erkenntnisfahigkeit des Menschen punktuell überschritten wird: durch clie ausführliche Beschreibung einer Jenseitsreise, in deren
22 Vgl. die griechische Bmuch-Apokalypse (&i!TT)Cltl; xai &1'tOxa.).lXft~ Baruchs über die unaussprechlichen Dinge, die er auf Gottes Geheiß schaute; fit . I), die neutestamentliche JohannesojJenbarung (1l1'tOx&.).~t~ '11)000 Xpta-toü; 1,1), die griechische Esro-Apo/«Jlypse (A61~ xai &1'tox&:)'IXf\~ wü Q.llou ~tOU 'EoöpCqL xa.\ llla.'ltTj'toi:i t oü 6toü: 1. 1) und die apokryphe ApocoJypsu 10000nu (ll7toxa.).~t~ tOÜ Q.ltou ' Iw&.wou tOÜ&oAol ou; tit .) 23 Mein Verständnis berührt sich insofern eng mit dem von J. J. Collins vorgetragenen, als auch er den Aspekt der Transzendenz für das entscheidende Element hält (Introduction, 10: »The key word in the definition ist transcenden~) .
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Verlauf der Autor ein Wissen erhält, das nur in einem Bereich (nämlich der Transzendenz) zugänglich ist, der menschlicher Erkenntnisfahigkeit nonnaJerweise verschlossen ist (z.B . griechBar); durch einen Engel oder einen anderen Mittler, der gewissennaßen aus der anderen Richtung kommt und dem Verfasser der Schrift Wissen transzendenteT Provenienz verschafft (z. B. 4.Esra; aJs Stimme: z. B. OftbAbr); durch die Schilderung visionärer und/oder auditiver Erlebnisse (z.B. Oflb 1,9-20); durch ein ganz einfaches »ich sah« (z. B. 5.Esr 2,42); durch die Mitteilung, dass der Autor im Folgenden ein »Geheimnis« mitteilt (Röm 11,25; I Kor 15,51).24 Dass sich daraus auch weiterführende Differenzierungsmöglichkeiten ergeben, kann ein Vergleich dieser beiden pau1inischen Texte mit I Tbe.. 4,15- 17 sichtbar machen: Der Text enthält keine apokalyptische Rezeptionsanweisung. Paulus autorisiert seine Beschreibung der Auferstehung der Toten bei der Parusie vielmehr lediglich dadurch, dass er sich im Stil prophetischer Redeweise als durch den Kyrios beauftragt darstellt (V. 15 : »Das sagen wir euch Iv 1.6,<,> xup{OU« [zu übersetzen ist: >im Auftrag des Herrn<]25). Die apokaJyptische Einleitung ist entbehrlich, weil Paulus gegenüber seinen christlichen Adressaten auf die Auferstehung Jesu verweisen kann (V. 14: Ei rap 1tlO'UUopLV B'tl
24 Zum tmditionsgesc:hichtlichen Hintergrund des Begriffs I'UCltTJptO\l vgl. Caragounis, Myslerion, 1- 34; Beale, Use, 215- 272. 25 Davon, dass PaUM hier ein Herrenwon zitieren will, kann keine Rede sein; vgl. die entsprechenden Fonnulierungen in I Kön 13.2.5.32; 21,35; 2. Ctu- 30.1 2; Sir 48,3.5. Vgl. dam jetzt Schneider, Vollendung. 234- 237. 26 El mit folgendem Indikativ bezeichnet fast schon kausal die vorausgaetzte Wuklichkeit; vgJ. B/ D/ R §372,1.
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cher Teile des Gottcsvolkes unausdenkbar ist - nur im Wege esoterischer Enthüllung verifizieren. 27 1 Kor 15,51 - 52 steht im Ko ntext der Auseinandersetzung mit einer Gruppe von Christen in der Gemeinde von Korinth~ die bestreiten, dass es eine Auferstehung von Toten gibt (1 Ko r 15,12), und zwar .ufgrund der damit verbundenen Vorstellung der Leiblichkeit der Auferstehung (vgl. V. 35). Dieser von
einer hellenistischen Anthropologie geleiteten Skepsis gegenüber will Pau1us an der VorsteUung von der leiblichen Auferstehung der Toten festhalten und stellt heraus, dass bei der Parusie Lebende und Tote in eine »unverwesliche« Leiblichkeit »verwandelt« werden . Weil es sich hierbei aber um ein Geschehen handelt, dass völlig jenseits dessen liegt, was menschlicher Erfahrung und Vorstellbarkeit zugänglieh ist, löst Paulus das damit gegebene Glaubwürdigkeits-
problem seiner Schilderung dadurch, dass er es in die Form apokalyptischer Rede kleidet : Er leitet seine Beschreibung der Parusieereignisse mit der For· mulierung )Siehe, ein Geheimnis sa,ge ich euch« ein, und stellt ihr damit eine Rezeptionsanweisung voran, die sie als Mitteilung von transzendenter Herkunft ausweist. Die Folge einer solchen formgeschichtlichen Bestimmung, die zunächst von der Minima1zahl der ganungsspezifischen Elemente ausgeht, die benötigt wird, um eine typologische Gemeinsamkeit zwischen unterschiedlichen Texten fest· steDen zu können, besteht darin, dass die Gattung )Apokalypse< zu einem universalen, d. h. zeit· und ku1turübergreifenden literarischen Phänomen wird. Diese Vorgehensweise ermöglicht es dann auch, die unübersehbare und schon immer notierte 28 Verwandtschaft, die Texte wie Platos Erzählung von der Jen· seitsreise des Parnphyliers Er (Resp. X 13- 16 = 613E- 621D) mit den jüdischen und christlichen Apoka1ypsen verbinden, auch begriffiich zum Ausdruck zu bringen : Dieser Text gehö rt ebenfalls zu den Apokalypsen 29, denn hier geht es nicht anders als in den entsprechenden jüdischen und christlichen Texten ebenfalls um die Erschließung von einem Wissen, das immanenter mensch· licher Erkenntnisfahigkeit prinzipiell unzugänglich ist: welcher Lohn nämlich den Gerechten und Ungerechten nach ihrem Tod zuteil wird. Weil sich diese Frage aber nicht durch empirische Anschauung beantworten lässt, wird mit Hilfe einer narrativen Einleitung ein Blick ins Jenseits geöffnet: Erzählt wird von einem Pamphylier, der im Kriege gefallen war. Er sollte bestaHet werden, doch als er auf dem Scheiterhaufen lag, wurde er plötzlich wieder lebendig und berichtete, was er in der Zwischenzeit, d . h . in der Zeit, in der seine Seele sich schon vom Leib getrennt haHe (die Rede ist von 12 Tagen), gesehen haHe: Sie (sc. die Seele) sei »mit vielen anderen gewandelt, und sie 27 VgJ. dazu auslührlich Woher, Evangelium und lTadilion, 190.
28 Vgl. z. B. Setz., Problem, 586ff. 29 Diese gilt selbstverständlich auch rur die Adaptationen des Stoffes in Ciceros Somnium Scipionu sowie in den Mythen der Thespesiu. und Tunarchus bei Plutarch (M~. 5638- 568; 589F- 592E).
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wären an einen wunderbaren Ort gekommen, wo in der Erde zwei aneinandergereihte Spalten gewesen seien und am Himmel ebenfalls zwei andere ihnen gegenüber. Zwischen diesen hätten Richter gesessen. Sie hätten zunächst die Seelen durch ihren Richterspruch geschieden und dann den Gerechten befohlen, den Weg nach rechts oben durch den Himmel einzuschlagen, ... den Ungerechten aber den Weg nach links unten . ... AJs nun auch er hinzugekommen war, hätten sie ihm gesagt, er solle den Menschen ein Verkündiger des Dortigen sein, und sie hätten ihm geboten, alles an diesem Ort zu hören und zu schauen« (6148-D). - Es folgt dann eine umfangreiche Schilderung über das Ergehen der Gerechten und Ungerechten im Jenseits. Dass auf diesem Wege auch neue und bisher unbeachtete typologische Gemeinsamkeiten erschlossen werden können, zeigt Jurek Beckers 1969 erschienener Roman Jakob der Lügner: Die Erzählung spielt in den letzten Jahren des 2. Weltkrieges in einem osteuropäischen Ghetto. Der Plot der Erzählung beginnt damit, dass der Titelheld Gelegenheit bekommt, das Ghetto zu verlassen und >>das Revier« zu betreten, von dem es heißt, dass >>dort irgendeine deutsche Verwaltung sitzt« und )>daß die Aussichten, als Jude lebend aus diesem Haus herauszukommen, sehr gering sind« 30. Durch die zufatlig offenstehende Tür eines Zimmers hört er aus einem Radio die Stimme des Nachrichtensprechers, der berichtet, dass die russische Annee »zwanzig Kilometer vor Bezanika« steht. 31 Diese Mitteilung wird von ihm sofort als Herannahen der Befreiung gedeutet: »Jakob steht still, er hat viel gehört, Bezanika ist nicht sehr weit, kein Katzensprung, nein, aber nicht so unendlich weit . ... Es sind vielleicht gut vierhundert Kilometer, vielleicht sogar funfhundert, hoffentlich nicht mehr, und da sind sie jetzt. Ein Toter hat eine gute Nachricht gehört und freut sich ... «. 32 - Nach seiner Rückkehr ins Ghetto beginnt Jakob sofort, das Gehörte unter seinen Leidensgenossen zu verbreiten: »Er wußte, daß es schwer sein würde, die Nachricht für sich zu behaJten, kaum zu machen, immerhin handelt es sich um das Beste vom Besten, gute Nachrichten sind dazu da, weitergegeben zu werden.« 33 - Im Roman findet diese >Audition< tatsächlich statt; sie ist, wie man so sagt, >erlebnisecht<. [m weiteren Verlauf der Erzählung lässt Becker seinen Titelhelden dann vorgeben, er besä Be ein Radio, und immer neue Radionachrichten erfinden, mit deren Hilfe er seinen Leidensgenossen Hoffnung auf baldige Errettung vermittelt. 34 30 Beclc:er, Jakob der Uigner, 11. 31 Ebd., 14. 32 Ebd. _ Vgl. auch 23 : " Freut euch, BrüdeT, werdet veniickt vor Freude, die Russen sind zwanzig Kilometer vor Bezanilc:a, wenn euch das was sagtl Mach die Augen auf, Nathan Rosenblatt. hör auf zu streiten, Piwowa, die Russen sind unterwegs, bcgJeift ihr rucht, zwanzjg Kik>meter vor Bezanika!« 33 Ebd., 26. 34 Es handelt sich bei diesem P\ot um die apokalyptisierende Velfiemdung einer tatsächlichen Begebenheit aus dem Getto von l..odz, die Bec.lc:er von seinem Vater erzählt bekommen hat (vgl.
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Die apokalyptische Substruktur der Erzählung ist geradezu mit den Händen zu greifen (als Titel des Romans käme insofern auch )Jakob der Apokalyptiker
3. Zum Schluss können wir das Gesagte noch weiter präzisieren, wenn wir danach fragen, ob sich bestimmte Inhalle identifizieren lassen, die eine besondere Affinität zur Gattung )ApokaJypse< aufweisen. In dieser Hinsicht sind es seit Friedrich Lücke 3s bekanntlich vor allem eschatologische Aussagen gewesen, denen diese Eigenschaft zugeschrieben wurde. Die Verbindung konnte dabei so eng werden, dass es zu unübersehbaren Abgrenzungsschwietigkeiten kam und nicht mehr recht klar war, was als )apokalyptischeschatologisch< zu gelten hatte. 36 So sehr nun einerseits außer Frage steht, dass der InhaJt eines Textes Bestandteil seiner Form ist, so klar ist andererseits aber auch, dass das Merkmal )Rede von den Letzten Dingen<37 im Sinne der oben formulierten Unterscheidung 38 durchaus nicht als ein kOflSlitUlives, sondern lediglich aJs unspezijisches und als fakultatives Form-Element von ApokaJypsen fungiert. Dies wird daran erkennbar, dass dieses Merkmal einerseits auch in Texten ohne apokalyptische Rezeptionsanweisung vorkommen kann (z. B. 1 Thess 4,13 - 18; 1 Kor 15,20-28) und andererseits in eindeutig apokalyptischen Texten auch
Wiese. Jurek Becker, 17 f.): Demnach habe es dort einen Mann gegeben, der mit Hilfe eines selbstgebauten Radios Nachrichten über den russischen Vormarsch gehört und weitergegeben habe. Er sei an die Gestapo verraten und dann erschossen worden. 35 S.o . bei Anm. 8-1O. 36 HjeJde, Eschaton, 15-20. 37 Hierunter sei all das zusammengefasst, was J. J. Collins unter die Sammelbegliffe ooosmic and! or political eschatologyto: sowie »personal eschatology« subsumiert hat (lntroduction. 14r.); s. auch Sauter, Einführung, 2- 18. 38 S.o. S. 108f.
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fehlen kann (z. B. im >Astronomischen Buch< der Henoch-Literatur; äthHen
72- 82 " 1. Man wird darum sagen müssen, dass Inhalte nicht als beslimmte lnha1te eine konstitutive Funktion fUr die Gattung >Apokalypse< haben, sondern nur als unbestimmte: Ohne dass Inhalte folgen, wäre eine apoka1yptische Rezeptionsanweisung sinnlos. Es muss also Inhalte geben, und dann kann man auch danach fragen, ob bestimmte Inhalte häufiger vorkommen als andere, so dass von ihrer besonderen Affinität zur Gattung >Apokalypse< gesprochen werden kann. Erst auf dieser Ebene lassen sich dann wieder die eschatologischen Inhalte ins Spiel bringen, denn es ist nicht zu übersehen, dass auf apokalyptische Rezeptionsanweisungen überdurchschnittlich häufig eschatologische Inhalte folgen . Das ist nun aber aus einem ganz bestimmten Grund alles andere als überraschend, denn im Hintergrund steht das von WIlfiied Härle so genannte »)Crkenntnistheoretische Hauptprohlem jeder Eschatologie: ' " wie ein Mensch zu begründeten Aussagen über eine (noch ausstehende) vollendete Welt gelangen kann, während er doch vollständig in die unvollendete, fragmentarische irdisch-geschichtliche Welt eingebunden ist« 40. Im Blick auf das damit angesprochene Problem der Glaubwürdigkeit eschatologischer Aussagen lässt sich plausibel erklären, warum gerade sie bevorzugt zum lnhalt von Apokalypsen gemacht werden: Es sind zu allererst die apokalyptischen Rezeptionsanweisungen, die die eschatologischen Aussagen mit jener Wahrheitsgewissheit versehen können, die den genannten erkenntnistheoretischen Einwand gegen sie zu überwinden vermögen. Auch hierbei geht es natürlich um nichts anderes als darum, wie gegenstandsbezogenes menschliches Reden die zwischen Immanenz und Transzendenz bestehende Grenze überschreiten kann, und im Blick auf diesen Sachverhalt lässt sich zusammenfassend formulieren: Die Intention der apokalyptischen Redeform besteht darin, das erkenntnistheoretische Gewissheitsproblem zu lösen, dem jede menschJiche Rede unterliegt, die den Anspruch erhebt, immanenter menschlicher Verifikationsmöglichkeit entzogene und trotzdem glaubwürdige Aussagen über transzendente Sachverhalte zu formulieren.
11. Apokalypsen als Enthüllung von Stories John Collins hat in seiner überaus einflussreichen Definition den nomUivell Rahmen (»narrative framework«) als eines derjenigen Fonn-Elemente identifiziert, die für die literarische Gattung )Apokalypse< charakteristisch sind. 41 An 39 Vgl. danl Stegemann, Bedeutung, 504fJ. 40 Härle. Dogmatik. 604 (Hervorhebungen im Original).
41 Collins, lntrodudion. 9: »There is aJWIYS a narrative framework in which the manner ofrevelatk>n is descnbed«; vgl. auch ebd.: » )A~ is a genre of revelalory literature with a narrative
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anderer SteDe in demselben Aufsatz sieht er in diesem Rahmen einen der beiden Hauptteile (»main sections«), die das »master-paradigm( jeder Apokalypse bildeten. 42 Hinzu kommt nun aber noch, dass auch der Inhalt der Enthüllung als der zweite Hauptteil des »master-paradigm« in vielen Apokalypsen über weite Strecken ebenfalls aus narrativen Texten besteht. 43 WIr woUen sie hier
mit dem ~)schönen und typisch englischen Wort«44 Story bezeichnen, weil sich dieses Wort aufgrund seiner semantischen Polyvalenz ausgesprochen dafUr eignet, die besondere lntention herauszuarbeiten, die der narrativen Gestaltung der Apolallypsen zugrunde liegt.
[11. Israel als Story. Israels Story und Israels Stories Die Fonnulierung der Überschrift soU zweierlei signalisieren: Sie zeigt an, dass im folgenden (I .) zwischen drei Bedeutungsebenen des Story-Begriffs unterschieden wird und dass es (2.) die Identität Israels als erwähltes Gottesvolk ist, die den maßgeblichen Referenzrahmen fur das Anliegen der frühjüdischen Apokalyptik im Allgemeinen sowie von Dan 7 im Besonderen konstituiert. I.
Versuch einer Story-Typologie
a)
Eine Story ist die sprachliche Wiedergabe von Ereignissequenzen (Iat. lIarratio, griech. örfrrTJOtc; eng!. narrative). Die prägnanteste Defmition fur diesen
Oebmuch h.be ich bei Edward M . Forster gefunden: Als Story gilt ihm
narrative of events arranged in therr timesequence«.45
».
b) Der Begriff Story ist weiterhin anwendbar aufidentitätsbegründende Ereignisse der Vergangenheit, die im Modus koUektiver oder individueller Erinnerung in der Gegenwart präsent sind und hier durch »Erinnerungsfiguren«46 wachgehalten werden können. Ich möchte sie darum im Folgenden >erinnerte Stories
45 Foster, Aspects. 116. 46 Assmann, Gedächtnis, 12. 47 Ritschl. _Storyl<, 19.
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c) Davon unterscheiden möchte ich einen dritten Story-Typ, der hier versuchsweise ~aktueU erlebte Story< genannt werden soU. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass Individuen und Gruppen konkrete Wrrldichkeitserfahrungen, mit denen sie selbst konfrontiert werden, als Bestandteil des Ereignisgefiiges einer Story wahrnehmen, ohne diese für abgeschlossen halten zu können. Die interessante Frage dabei ist dann: Welches Kriterium ist verantwortlich dafür, dass der Ausgang der aktueU erlebten Story als noch offen wahrgenommen wird?
2.
Übertragung auf das Selbstverständnis Israels
Das Selbstverständnis Israels wurde zweifeUos durch einen Story-Typ konstituiert. der dem in Abschn. l.b skizzierten entspricht: Das besondere Gottesverhältnis Israels basiert auf einer Story, und zwar auf der Story von Israels ErwähJung. Greifbar wird dies vor allem in den Gottesprädikationen. die auf das Exodusgeschehen Bezug nehmen (Jahwe als Gott Israels ist der, »der Israel aus Ägypten herausgefuhrt hat«; vgl. nur Ex 20,2; 29,46; Lev 22,33; Dtn 5,6; Ri 2,12; I Kön 9,9 u.ö.). Darüber hinaus wird dieser Sachverhalt aber auch daran erkennbar, dass die Offenbarung der Tora am Sinai, mit deren Hilfe Israel seine Identität bleibend zur Anschauung bringt, zu einem Bestandteil der Exodus-Story gemacht wurde. Diese identitätsbegründende koUektive Erinnerung wird stetig am Leben gehalten durch (mit Jan Assmann gesagt) »kulturelle Formung (Texte, Riten, Denkmäler) und institutionalisierte Kommunikation (Rezitation, Begehung, Betrachtung)« 48, so dass dann auch im Sinne des in Abschn. La vorgestellten Story-Typs Texte entstehen, die diese Story als namzlio vergegenwärtigen. Zwei Beispiele seien genannt: Drn 26,6- 9: Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab
nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volle Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedruckten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrieen wir zu JHWH, dem Gott unserer Väter. Und JHWH erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt.
D/n 6,20- 25: Wenn dich nun dein Sohn morgen fragen wird: Was sind das fur Gesetze, Gebote und Ordnungen, die euch JHWH, unser Gott, geboten hat?, so soUst du deinem Sohn sagen : Wrr waren Knechte des Pharao in Ägypten, und JHWH führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand; und JHWH tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unsem Augen und führte uns von dort weg, wn uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unsern Vätern geschworen hatte. Und JHWH hat uns geboten, nach aU diesen Rechten zu tun, dass wir JHWH, unsern Gott, fürchten, auf dass es uns 48 Assmann. Gedächlnis, 12.
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wohlgehe unser Leben lang, so wie es heute ist. Und das wird unsere Gerechtigkeit sein, dass wir alle diese Gebote tun und halten vor JHWH, unserem Gott, wie er uns geboten hat.
Von maßgeblicher Bedeutung hierbei ist, dass die in Dtn 6,20 erwähnten ))Gesetze. Gebote und Ordnungen« ihren bleibenden Sinn von einer Story her empfangen: der Erzählung der Geschichte von der Herausfiihrung Israels aus Ägypten und Hineinfuhrung in das Land Kanaan . Dementsprechend wird auch in Lev 18,3 die Sexualitätstora noch einmal ausdrücklich auf diese Story bezogen. Auch der dritte Story-Typ ist im A1ten Testament nachweisbar. Als Beispiel nennen lässt sich die letzte Bearbeitung des Deuteronomistischen Geschichtswerkes, die das Exil zwar als Strafe rur den Abfall Israels von seinem Gott, nicht aber als Ende der Story Israels als Gottesvolk wahrnimmt. Aus der VielzahJ der Texte, in denen dieses Konzept. ebenfalls greifbar wird (hinzuweisen wäre z.B. auf die exilische Fortschreibung des Amosbuches, Am 9,7- 15), sei nur Ps 89 herausgegriffen: Es handelt sich hier um ein Volksklagelied, in dem die Bundeszusage sowie die Gnade und Treue Jahwes als Kriterien benannt werden (vgl. V. 2- 5.20- 30.34-38), die die Gewissheit vermitteln, dass die gegenwärtige Unheilssituation Israels Teil einer noch unabgeschlossenen Story ist. Hiermit stehen wir aber schon an der Schwelle zur frühjüdischen Apokalyptik: Denn gehen wir von unserer Differenzierung der Story-Typen auf diese Texte zu. wird sofort deutlich, dass sich ihre realen Autoren genauso wie diejenigen des Deuteronomistischen Geschichtswerks und Ps 89 innerhalb von aktuell erlebten Stories befmden und dass sie diese Stories als offen wahrnehmen. Diese Standortbestimrnung ist möglich, weil wir innerhalb der in den Apokalypsen erzählten fiktionalen Stories aufgrund unseres extratextuell gewonnenen historischen Wissens zwischen den sog. vaticinia ex even!u und »echten varicinia«49 zu unterscheiden vermögen und den jeweiligen realen Autor dadurch recht genau an der Stelle verorten können, an der die vaticinia ex eventu in echte vaticinia umschlagen. so Die differentia specifica der Apokalypsen liegt nun aber darin, dass deren Autoren (a) diese Story als eine &1tOX6.)"U~L~ erzählen, die nur im Wege esoterischer Enthüllung vermittelt werden kann, und dass sie (b) diesen Standort, der fiir die intendierten Leser ohne Probleme identifizierbar ist, literarisch überspielen, indem sie Stories erzählen, die über diesen Standort hinausfuhren und das aktuell erlebte EreignisgefUge damit als eine gegenwärtig noch offene Story qualifIZieren. - Dies soU nun im Einzelnen am Beispiel von Dan 7 und Apk 13 konkretisiert werden . 49 Koch, Buch, 159. SO In diesem Sinne lassen die l'Qtidnia der TIervision erkennen, dass ihr Verfasser in der vierten Periode der 70 Hirten lebt (äthHen 90.6-19), während z. B. der Standort des Verfassers der Zehnwochenapokalypse (äthHen 93.3- 10: 91,12- 17) innerhalb der siebten Woche liegt (93.9).
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IV.
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Daniel7
1. Seine vorliegende Gestalt gewann dieses Kapitel zwischen Ende 167 und Anfang 164 v. ehr. in Palästina. Der Text besteht aus zwei Teilen, einer Vision (V.2- 15) und einer Audition (V. 16- 27), in welch letzterer freilich Bestandteile der Vision wiederholt (V. 19f.) bzw. nachgetragen werden (V. 21 f.). Erzählt wird zunächst die Story von vier Tieren, die nacheinander aus dem Meer steigen, immer mächtiger werden, zunehmendes Unheil verbreiten, dann aber entmachtet werden, während die universale Herrschaft für alle Zeiten einer »wie eines Menschen Sohn« aussehenden Person übergeben wird. Durch den letzten Satz in V. 14 (»seine Macht ist eine ewige Macht, die nicht aufhört, und seine Herrschaft, dass sie nicht zerstört wird«) wird zum Ausdruck gebracht, dass diese Story ein definitives Ende ereicht hat und nicht mehr fortgesetzt werden kann. - Diese Vision wird dann in einer Audition in allegorisierender Weise zeitgeschichtlich gedeutet, wobei mit der Interpretation der vier Tiere als Symbole tur vier Königreiche (V. 17) das 4-Reiche-Schema der Vision von 2,31 tf. wiederaufgenommen wird. Auffatlig ist nun aber in Kap. 7 die erzählerische Verdichtung, die die Darstellung des vierten Tieres erfahrt: Es wird von den ersten drei ausdrücklich unterschieden (V. 19.23), und nur es wird individuell gedeutet (V. 19- 25). Die Erzählung von dessen Teil-Story erfahrt dann sogar eine nochmalige Intensivierung in der Darstellung des zuJetzt wachsenden elften Hornes, des elften Königs (V. 8.20f.24b-25): Gegenüber den anderen Hörnern/Königen wird allein sein Handeln individuell beschrieben. Hierin wird erkennbar, dass das besondere Interesse des Endredaktors unseres Textes sich auf die Story richtet, die mit dem Auftreten dieser Person beginnt. 2.
Versuchen wir nun, den Text storytypologisch zu verorten, ergibt sich:
a) Wrr haben eine Story als Text, d. h. als eine na"atio, die zweimal erzählt wird: zunächst in symbolischer Verschlüsselung und dann in allegorischer Deutung. Seide Versionen der Story sind Gegenstand esoterischer Enthüllung. b) Ohne Mühe identifizieren lässt sich darüber hinaus der Typ der aktuell erlebten Story als Ereignisgetuge, innerhalb dessen sich realer Autor und intendierte Leser vorfinden; er ist greifbar in den als vaticinia ex eventu gesta1teten zeitgeschichtlichen Anspielungen, die sich im Wrrken des elften Hornes/Königs des vierten Tieres/Königreiches verdichten SI: Während sich die Identität der S I Insgesamt erzählt Dan 7 die Story der Unterwerfung Israels unter fremde Hegemonialmächte: Das erste Tier (geflügelter Löwe) steht !Ur das neubabylonische Reich (626-539 v.Chr.), das ;,;weite (Bär) für das medische Reich (626-550 v.Chr.), das dritte (Panther) fur das persische Reich (550-333 v. Chr.) und das vierte fur die Herrschaft Alexanders d.Gr. und der Diadochen (seit 333 v.Chr.): vgl. Koch. Buch, 187.
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durch die ersten zehn Hörner symbolisierten Könige nicht widerspruchsfrei ennitteln lässt 52. können wir diejenige des elften Königs und damit das Ereignisgefüge der aktuell erlebten Story präzise bestimmen. 53 Es handelt sich um den Seleukidenherrscher Antiochus rv. Epiphanes (reg. 175- 164), der im Jahre 169 den Jerusalemer Tempelschatz geplündert und das Allerheiligste betreten hatte (1 Makle 1,21 - 23; 2 Makle 5,15f.). Im Herbst 167 erließ er ein Dekret, das den jüdischen Opferkult, die Sabbatobservanz und die Beschneidung verbot (I Makle 1,41 - 58). Gesetzestreue Juden, die an der Ausübung ihrer Religion festhielten, wurden blutig verfolgt. Den Brandopferaltar im Jerusalemer Tempel
ließ er mit einem Aufsatz versehen und dem Zeus Olympios weihen. Es steht außer Frage, dass Dan 7,25 auf diese religionspolitischen Maßnahmen anspielt, denn auch an anderen Stellen des Danielbuches finden wir ausdrückliche Hinweise auf diese Vorgänge (vgl. 8,11 f.; 9,27; 11,31 ; 12,11). Als Reaktion darauf kam es zum Aufstand der Makkabäer, deren Kreisen wir auch den Endredaktor des Danielbuches ruzuordnen haben. - Wichtig ist noch, dass die aktueU erlebte Story mit Hilfe der Zeitangaben in V. 12b.25b ausdrücklich als eine offene Story qllalifiziert wird : Die Befristung der gegenwärtigen Gewaltherrschaft auf dreieinhalb Zeiten in V.25b findet ihre Erklänung in Dan 9,2427, wo der Autor den 70-Jahre-Termin von Jer 25 ,11 ; 29,10 rezipiert und die Zeit vom Beginn des Babylonischen Exils bis zur endgültigen Ausschaltung der feindlichen Gegenmacht aJs Abfolge von 70 Jahrwochen periodisiert. 54 Zu Beginn der letzten Woche tritt Antiochus IV. auf, dessen Maßnahmen in Dan 9;17 dann auch ausdrücklich auf die Mitte dieser Woche datiert werden. Die Zeitangabe in 7;15 hat aJso keine zeitgeschichtliche Bedeutung. sondern gehö rt auf die Ebene der enthüllten Story: Sie dient dazu, die aktuell erlebte Story aJs offen zu qualiflZieren und bringt gleichzeitig zum Ausdruc~ dass die gegenwärtige KrisenJage bereits im voraus befristet wurde. ss c) Wie steht es nun aber mit jenem Story-Typ, der oben an zweiter SteDe genannt wurde - der im Modus der kollektiven Erinnerung präsenten identitätsbegründenden Erwählungsstory lsraels? Auch sie wird in unserem Text aufgenommen, und zwar in der mehrfach wiederkehrenden Rede von den »Heiligen (des Höchsten)« bzw. dem »Volk der Heiligen des Höchsten« (7, 18. 21.22.25.27). Dass mit dieser Prädikation in der Tat auf die identitätsbegründende Erwählungsstory Israels Bezug genommen wird. belegt ihre feste Verankerung innerhaJb der narratio dieses Geschehens; exemplarisch zitiert sei Lev 11,45 :
52 Vgl. den Überblick über die verschiedenen Vo rschläge bei Koch, ebd. 188ff. 53 Vgl. dam im Einzelnen den Beitrag von Andreas Blasiu5 in diesem Band. 54 Vgl. dazu Stahl, ~ Eine Zeit ... 4<. 5S Vgl. Müller, Art. ApokaJyptilc/ Apokalypsen, 21 7.
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Ich bin JHWH, der euch aus dem Land Ägypten gefuhrt hat, dass ich euer Gott sei. Darum soUt ihr heilig sein, denn ich bin heilig (vgl . noch Ex 19,6; 22,31 ; Lev 11 ,44 ; 19,2; 20,26; Dtn 7,6-8 u.ö.).
Israels Heiligkeit gründet demnach in seiner Erwählung bzw. in der Heiligkeit seines Gotles, der sich Israel zu seinem Eigentumsvolk erwäh1t und ihm damit Anteil an der ihm eigenen Heiligkeit gegeben hat. Die entscheidende hermeneutische Funktion innerhalb der enthüllten nOTratio kommt zunächst aber einer ganz anderen Story dieses Typs zu: Die im vierten Tier symbolisierte griechische Herrschaft und insbesondere diejenige Antiochus< IV. wird zwar von der Herrschaft der ersten drei Tiere abgega enzt, doch ist sie von gleicher Ar1 und von gleicher Herkunft wie die der ersten drei, denn sie wird wie diese als Tier dargestellt, das dem aufgewühlten Meer entsteigt. Trotz ihrer Individualität repräsentiert die Schreckensherrschaft Antiochus( IV. eine einzige feindliche Macht und wird als deren Zuspitzung und Höhepunkt dargestellt . Um welche Macht es sich nach dem Verständnis des Verfassers hier handelt, geht aus dem Beginn der Vision deutlich hervor: Mit der Schilderung des wogenden Meeres, das die vier Tiere hervorbringt, wird auf die traditionellen Chaosschilderungen ZUTÜCkgega iffen, in denen das Meer das urzeitliche Chaoselement sch1echthin ist, das im Vorgang der Weltschöpfung überwunden und domestiziert worden ist (vgl. auch Gen 1,2; Hi 38,8-11; Ps 65,8; 89,10; I04,6f; Spr 8,29; Jes 51,9f.; Jer 5,22 u .ö.)." Die Nähe zu diesem Mythos lässt auch die Rede von den vier Himmelswinden (Dan 7,2b) erkennen, die nach den vier Himmelsrichtungen die Gesamtheit des Kosmos kennzeichnen. Sie weist eine unübersehbare Nähe zu Gen 1,2 auf, denn hier wird die chaotische Urflut von einem )Gotleswind< bewegt. Es ist also die Story des urzeitlichen Chaoskampfes, mit deren Hilfe die aktuell erlebte Story symbolisch versch1üsselt wird, um diese als endzeitliche Neuauflage jener Story erzählen zu können. 57 3. Die hermeneutische Interaktion der beiden letztgenannten Story-Typen innerhalb der enthüllten no"atio lässt sich auf zwei Ebenen beschreiben. Es geht dabei um die Frage, welche Funktion dieser Interaktion für die Lenkung der intendierten Leser zukommt: a) Die aktuell erlebte Story wird dUIch den Rückgriff auf die Chaoskampfstory so erzählt, dass zwischen beiden Stories ein Konvergenzverhältnis entsteht, das der Sinnstiftung dient. Allererst ermöglicht wird die Herstellung der Konvergenz zwischen den beiden Stories im Wege einer esoterischen
56 Vgl. Egg1er, lnfluences; Lacocque. A1lusions. 57 Dte endgültige Vernichtung der Chaosungeheuer durch Gottes eschatisc.hes Einschreiten zuguns* Icn Israels erwartet auch Jes 27.1 , welcher Text in zeitlicher Nachbarschaft von Dan 7 entstanden ist.
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Enthüllung, die es ermöglicht, die Handlungsträger der aktuell erlebten Story in der Weise zu kodieren, dass (a) den impliziten Lesern der eigentliche Charakter dieser Story erkennbar wird und (b) der Autor sie über den zeitlichen Standort, den er und die Leser in dieser Story einnehmen, hinausfuhren und in die Zukunft hinein fortschreiben kann. In diesem Sinne hat das mythische Bild von den dem Meer entsteigenden Tieren nicht lediglich die Aufgabe, die feindliche Gegenrnacht zu denunzieren, sondern ist Jeserpragmatisch konzipiert: Sie begründet die Übermacht des Feindes und erklärt damit zunächst die eigene Wehrlosigkeit und das Ausgeliefert-Sein an sie, indem die gegenwärtige Unheilserfahrung innergeschichtlicher Kausalität entnommen und auf metahistorische Kräfte (die Chaoselemente) zurückgeflihrt wird. Die Konvergenz der Stories hat insofern entlastende Funktion. Sie vergewissert die Leser g1eichwohJ der Ohnmacht des Feindes, denn Gott hat, wie der Leser natürlich weiß, im Vorgang der Schöpfung gezeigt, dass er die Macht der Chaoselemente zu überwinden vermag. Er wird dies auch jetzt tun, da nicht nur sein Schöpfungswerk bedroht ist, sondern auch sein Gott-Sein angegriffen wird (vgl. V. 25: das vierte Tier erhebt sich gegen ihn). Die Konvergenz der Stories hat insofern auch tröstende Funktion, denn sie vermittelt die Zuversicht, dass Gott selbst gegen die feindliche Macht siegreich einschreiten wird. b) Demgegenüber besteht zwischen der identitätsbegründenden Erwählungsstory Israel s und der aktuell erlebten Story des Autors sowie der impliziten Leser eine kognitive Dissonanz oder vielleicht besser: ein Story-Konflikt. Dieser Konflikt besteht darin, dass der Plot der aktuell erlebten Story die ErwähJungsstory, die Israel religiöse und soziale Orientierung vermittelte, außer Kraft gesetzt zu haben scheint. Denn weil es in der Zeit Antiochus< IV. gerade die Frommen und Gerechten waren, die aufgrund ihres treuen Festhaltens an der Tora Leid und Verfolgung erdulden mussten und von einem fremden Machthaber besiegt wurden (vgl. Dan 7,2 1), weil es also - anders als von der Deuteronomistischen Schule und Ps 89 vorausgesetzt - nicht der in die Erwählungsstory integrierbare Zusammenhang von Sünde und Strafe war, der als Plot der aktuell erlebten Story wahrgenommen werden konnte, musste diese die geschichtshermeneutische Plausibilität der Erwählungsstory Israels S8 derart fundamental in Frage stellen, dass damit sogleich die Kontinuität der ErwähJung des Gottesvolkes insgesamt fraglich wurde. Diese DifTerenzerfahrung musste die aktuelJ erlebte Story darum als aporetisch erscheinen lassen, weil die von der ErwähJungsstory Israels bereitgestellten Paradigmen zur theologischen StoryBearbeitung angesichts der gegenwärtigen Krisenlage versagten: Es war nicht möglich, die Interaktion der beiden Stories als ein KonvergenzverhäJtnis zu verstehen, weil das von der erinnerten Story her zur Verfugung stehende Modell des Kausalzusammenhangs von Sünde und Strafe den Plot der aktuell erlebten S8 Vgl. dazu den oben Abschn. 3.2 exemplarisch zitierten Text von Dtn 6,20-25.
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Story nicht mehr verständlich machen konnte. Es musste darum so scheinen, als ob Gott nicht mehr der Handlungssouverän der Story Israels war. c) An dieser Stelle tritt nun die aktuell erlebte Story in eine Interaktion mit der Story, die in Gestalt einer Apokalypse erzählt wird: Dass auch die gegenwärtige Krisenlage noch Bestandteil von Gottes heil voller Story mit Israel ist, lässt sich angesichts der vorstehend skizzierten Aporie nur dadurch verifizieren, dass die aktuell erlebte Story über den augenblicklichen Standort ihrer Akteure hinaus in die Zukunft hinein verlängert und weitererzählt wird. In Dan 7 erfolgt dies nicht anders als in der TIervision und in der Zehn-Wochen-Apokalypse im Modus der esoterischen Enthüllung, die es den Autoren der Apokalypsen ermöglicht, die aktuell erlebte Story als offen zu erweisen und sie als solche in eine apokalyptische no"otio zu integrieren, die ihren gegenwärtigen aporetischen Charakter überwindet. Nur auf diese Weise ist es angesichts der genannten Differenzerfahrung möglich, die gegenwärtige Krise als integralen Bestandteil einer von Gott der Geschichte eingestifteten Ordnung wahnünehmen, die Spannung zwischen der gegenwärtigen Erfahrung und der im Modus der kollektiven Erinnerung präsenten Erwählungsstory zu beseitigen und damit letztlich sicherzustellen, dass Gott aufgrund seiner Gerechtigkeit und Treue weiterhin zu seiner Zusage steht, die Kontinuität der heilvoUen Sto ry Israels nicht abreißen zu lassen.
V. Oflb 13 (und 19,11 - 21) I. Dass das 13. Kap. der Johannesoffenbarung als relecture von Dan 7 anzusehen ist, wird vor allem an der Darstellung des ersten Tieres erkennbar: S9 Wie die vier Tiere dort (Dan 7,3) entsteigt es dem Meer (Oflb 13,1), und seine Beschreibung in V. 1- 2 greift auf die Merkmale der vier verschiedenen Tiere von Dan 7 zurück: Es hat zehn Hörner wie das vierte Tier (Dan 7,7.20), in seinem Aussehen als Panther gleicht es dem dritten Tier (Dan 7,6), die Füße hat es vom zweiten Tier, dem Bären (Dan 7,5), und das M aul vom ersten Tier, dem Löwen (Dan 7,4). Diese Zusammenfassung der Merkmale von vier verschiedenen Tieren, die in Dan 7 nacheinander auftreten, zu denen eines einzigen, dient zweifellos der Intensivierung: In ihm summieren sich die zerstörerischen Wrrkungen jener. - Darüber hinaus finden sich auch Elemente der Darstellung des elften Ho rnes aus Dan 7 in Oflb 13 wieder: Das aus dem Meer steigende Tier hat einen »Mund, der Großes redet« (o't6fLcx ACXAOÜIJ fUraAcx: Dan 7,8.20 [soauch V. ll]; Oflb 13,5), es lästert Gott (Dan 7,25; Oflb 13,6), es führt Krieg gegen die »Heiligen« und besiegt sie (Dan 7,8.2 1.25; Oflb 13,7), und in der Angabe der Dauer seiner Herrschaft mit 42 M o naten (= dreieinhalb Jahre, Oflb 13,5) sind die clreieinhalb Zeiten von Dan 7,25 aufgenommen. S9 Vgl. Moyise. Old Testameni. 52f.
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Wenn wir darüber hinaus auch das aus der Erde hervorgehende Tier (Offb 13, 11) miteinbeziehen, wird deutlich, dass der Autor der Johannesoffenbarung auch den Bezug auf den Chaoskampfmythos rezipiert: Das Nebeneinander der Herkunft der heiden Tiere aus dem Wasser und vom Land verweist auf die alten Chaosungeheuer Leviathan und Behemoth: Ersterer wird in der Tiefe des Meeres angesiedelt, letzterer gilt als Landtier (vgl. Hi 40, 15 ff.25 ff; 4 Esr 6,49- 52; äthHen 60,7- 9; syrBar 29,4). 60 Interessant ist hierbei nun, dass der Verfasser der Oflb die Darstellung von Dan 7 enthistorisiert, indem er sie mythisiert. Erkennbar wird dies zunächst in der Funktion der zehn Hörner: In Dan 7,24 wurden sie mit den Vorgängern Antiochus< IV. identifiziert; sie dienten also der zeitgeschichtlichen IdentifIkation des gegenwärtig herrschenden Machthabers. Demgegenüber haben die zehn Hörner in Oflb 13,1 diese Funktion verloren und sind zu einem Bestandteil des Widersacherbildes geworden. 61 Die Transformation von Geschichte in Mythos wird weiterhin darin erkennbar, dass in OOb 13 die Abfolge der vier TIere (resp. Königreiche) von Dan 7 nicht auf die eigene Gegenwart hin historisch aktualisiert wird; vielmehr hebt der Verfasser der Offb das geschichtliche Nacheinander der vier Tiere von Dan 7 zugunsten der Symbolik seines Feindbildes auf. Wesentliche historisch-individuelle Elemente der na"otio von Dan 7 sind damit von der Ebene der aktueU erlebten Story auf die Ebene der erinnerten Story gewandert. 2. Versuchen wir nun auch den Text von Offb 13 in unsere Story-Typologie einzuordnen: a) Wrr haben zunächst eine enthüllte na"otio, in der das Wrrken zweier Tiere erzählt wird. Auf der Textebene endet diese Erzählung mit V. 18, denn in 14,1 nimmt der Autor der Offb mit der Vision vom Lamm und den 144 000 auf dem Zion einen darstellerischen Orts- und Personenwechsel vor. Die besondere Eigenart der Erzählung besteht zudem darin, dass sie schwebend endet. Erkennbar wird dies in der Verwendung der Tempora in den Hauptverben: Die Darstellung des ersten Tieres beginnt zunächst im Aorist, endet dann aber im Futur, das hier eine fortdauernde Handlung ausdrückt (13,8: »xcxl ttpoaxuvijoouow a ll"t6v alle Bewohner der Erde«), während die Aktivität des zweiten Tieres durchgängig unter Rückgriff auf das lineare Präsens beschrieben wird ry.12.13: 1to'" V. 14: 1tAo
60 Ygl. Aune. Revebtion 6- 16, 728. 61 Dem widenpricht nicht, dass der Verfasser der Johannesapokalypse ihren Symbolcharakter dadurch zu sichern sucht, dass er die zehn Hörner in 17, 12- 14 mit zehn Yasallenkönigen gleichsetzt. Der historische Bezug ist hier aus dem Bild extrapoliert, während für Dan 7 genau das Umgekehrte gilt.
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erreicht einen Ruhepunkt, was gJeichzeitig auf die aktuell erlebte Story in der Gegenwart der intendierten Leser verweist 62 . Gleichwohl ist damit die no"otio über das Wrrken der beiden Tiere aber noch nicht beendet: Sie findet ihre Fortsetzung in 19,11 - 21 , wo ebenfalls in einer enthüllten norralio erzählt wird, dass ein vom Himmel kommender Reiter namens »treu und wahrhaftig« x<xllx). ~e ",6,; V. II) bzw. /) ).6,0\ 9EOÜ (V. 13) mit seinem Heer gegen das TIer aus dem Meer und seine Vasallen kämpft, sie besiegt und die beiden TIere aus Kap. 13 in den Feuersee wirft. Verwendet werden hier wieder Aoristformen (V. 14.17.19.20.21), um die no"orio an ihr Ende zu fuhren . Anders als in Dan 7 bildet die no"orio also keine mikrotextuelle Einheit, sondern ist in zwei Teilstories zerlegt, deren Einheit erst auf der makrotextuellen Ebene hergestellt wird. - Dass hier eine ganz gezielle erzählerische und über das Gesamtversländnis der Story entscheidende Absicht waltet, wird darin erkennbar, dass in 19,11 - 21 nicht nur der in 13,1 begonnene Erzählfaden wieder aufgenommen, sondern auch eine andere Story fortgesetzt und mit jener der heiden TIere zu einer Gesamtstory verknüpft wird. Den maßgeblichen Hinweis auf den Beginn dieser zweiten Story finden wir in 19,15, wo vom himmlischen Reiter unter Rückgriff auf Ps 2,9 gesagt wird: »Er wird sie (sc. die Völker) weiden mit einem eisernen Szepter«. Wrr haben hierin einen Querverweis auf 12,5 zu sehen, wo dasselbe von dem Sohn der am Himmel erscheinenden Sonnenfrau gesagt ist, der unmittelbar nach seiner Geburt zum himmlischen Thron Gottes entrückt wird. Den Lesern werden dadurch drei Informationen gegeben:
in,",",
,oil
b) Die von der erzählten Story bearbeitete aktuell erlebte Story zu identifizieren, ist kein Problem. Sie ist erkennbar in den Elementen der Darstellung, die gegenüber Dan 7 überschießen: Die sieben Köpfe des TIeres aus dem Wasser (V. I) referieren auf die sieben Hügel Roms (vg1. 17,9), und die »Lästernamen« auf den Köpfen haben die Ehrentitel der römischen Kaiser im Blick, mit denen diese seit Ca1igula ihren Anspruch auf kultische Verehrung zum Ausdruck brachten; Domitian selbst hatte sich den Titel dominus er deus zugelegt (Sueton, Dom. 13,1 f.). Das Bild, das das zweite Tier für das erste anfertigen lässt (V. 14), weist aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Kultbilder hin, die in diesem Zusammenhang enichtet wurden (vgl. Cassius Dio 67,8,1). Und schließlich spricht V. 15b davon, dass die Christen dem Zwang zum Kaiserku1t unterworfen werden, was 20 Jahre später das Zeugnis des Plinius als gängige Praxis
62 S. u. Abschn. b.
63 Vgl. Aune, Revelation 6-16, 688. - Zum ~semen Szepter« ~ O\&pä) als Messiasattribut s. auch PsSal 17,.24.
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ausweist (Ep. X 96). - Die Verschränkung von topischen und zeitgeschichtlichen Darstellungselementen lässt aber auch erkennen, dass sich die Akzente gegenüber Dan 7 verschoben haben, denn in der Johannesoffenbarung ist es vor allem die erfolgreich erhobene Forderung der kuJtischen Verehrung des römischen Kaisers (vgl. V. 8a), die de:r Verfasser der OtJb im Mittelpunkt dieser Story stehen sieht. Der Standort von Autor und intendierten Lesern im Ablauf der Story dürfte damit ziemlich genau mit der Situation zusammenfallen, die durch die linearen Verbfonnen (Präsens und Futur; s.o.) beschrieben wird.
c) Wie steht es mit den erinnerten, d. h. mit den in der kulturellen Enzyklopädie von Autor und intendierten Lesern präsenten Stones? Abgesehen vom Chaoskampfmythos ist es in dieser Hinsicht eine weitere Story, die zur Kodierung des Widersachers eingesetzt wird: Es ist der in jener Zeit weit verbreitete Mythos vom Nero redivivus, der auf den besonderen Umständen des Todes Kaiser Neros beruhte und die Annahme beinhaltete, dass dieser noch am Leben sei und wiederkommen werde. 64 Hinweise auf diesen Mythos finden wir in der als gematrisches Symbol eines Namens angegebenen Zahl 666 (V. 18), die auf der Basis des hebräischen Alphabets genau der Summe der Zahlenwerte von ii' l1il entspricht. 6S Unterstützung fmdet diese Annahme durch V.3.14, wo der Verf. der Offb vennutlich in Anspielung auf den Selbstmord Neros von einer Todeswunde dieses Tieres (bzw. eines seiner Köpfe) spricht, die wieder geheilt wird (s. auch 17,8.11). Fragen wir bereits an dieser Stelle nach der Interaktion zwischen den beiden Exemplaren dieses Story-Typs auf der einen Seite und der aktuell erlebten Story des Autors bzw. der impliziten Leser auf der anderen Seite, so lässt sich ebenfalls ein Konvergenzverhältnis ausmachen, das - zwar nicht so ausgeprägt, aber doch nicht zu übersehen - dem von Dan 7 weitgehend entspricht. 3. Wie lässt sich die Interaktion der Stories beschreiben? In Dan 7 bestand die Intention der enthüllten narraJio darin, den Konflikt zwischen der aktuell erlebten Story und der erinnerten Story (in Dan 7 die Erwählungsstory Israels) zu überwinden und der erstgenannten dadurch ihren aporetischen Charakter zu nehmen. Wenn dieser Annahme textübergreifende Gültigkeit zukommen soll, muss sie sich auch an der enthü)Jten na"atio der Offb, die wir hier besprochen haben, verifizieren lassen. Die folgenden Fragen sind darum zu beantworten: Welches ist in Offb 13 die der identitätsbegrundenden Erwählungsstory Israels in Dan 7 entsprechende erinnerte Story, zu der die aktuell erlebte Story in ein Divergenzverhältnis
64 Näheres bei Müller, Offenbarung, 297 W. 65 Vgl. Aune. Revelation 6-16. 770-773 ; der jüngste Entschlüsselungsversuch von Schmidt, Rätselzahl, der die römischen Zahlzeichen zu Hilfe nimmt und auf Kaiser Claudius kommt, ist phantasievoll, aber wenig überzeugend.
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tritt (a)? Worin besteht das Divergenzverhältnis in seiner materialen Hinsicht (b)? Wie überwindet die in der Offb enthüllte no"olio diesen StoryKonflikt (c)? a) Wie in Dan 7 finden sich auch in Offb 13 explizite Hinweise auf die erinnerte Story, zu der die aktueU erlebte Story in einem Divergenzverhä1tnis steht, und zwar in der Darstellung der beiden Tiere: Es ist nämlich nicht zu übersehen, dass ihnen Attnbute beigelegt werden, die parodistische Zerrbilder von Christusattributen sind: Auch bzw. eigentlich von Christus gilt, dass er ) wie geschlachtet« erschien (5 ,6) und wieder lebendig wurde (1,18). Wie Christus zuvor universaJe Macht von Gott erhalten hat und über »alle Stämme, Sprachen, Völker und Nationen« herrscht, die er mit seinem Blut freigekauft hat und die ihn anbeten (5,7- 14), bekommt sein Gegenbild Macht vom Drachen (d.h. dem Teufel) und herrscht über »jeden Stamm, Volk, Sprache und Nation« (13,2.7). Auch das zweite Tier gibt sich mit seinem Aussehen als Lamm (13,11) als Imitation des Christuslammes aus (5,6; 6,16 u .ö.), und die Zeichen des TIeres (dessen Name oder Zahl des Namens; 13,16f.) entsprechen dem Christusnamen. mit dem die Erwählten versiegelt worden sind (7,3; 14,1). - Das heißt: Es ist die Story Jesu Christi, auf die hier Bezug genommen wird und deren Paradigmen die DarsteUung der Handlungsträger der aktueU erlebten Story leiten. b) Damit faut es nun aber auch nicht schwer, die zweite Frage zu beantworten: Es ist der Konflikt zwischen der Story Jesu Christi und der aktueU erlebten Story, der in Offb 13 zutage tritt und der von der apokalyptischen 110"01;0 theologisch bearbeitet wird. Damit wird aber auch erkennbar, wie sich die Akzente gegenüber Dan 7 verschoben haben: Natürlich geht es hier wie dort wn die Bewältigung einer durch fremde Gewaltherrschaft bestimmten Wirklichkeitserfahrung. In Oflb 13 ist es aber die Erfolgsstory der imperialen Macht des römischen Kaisers, die in Konkurrenz zur Erfolgsstory Jesu Christi steht. Die durch die aktueUe erlebte Story evozierte Differenzerfahrung besteht dementsprechend darin, dass der widergöttliche Machthaber seinen Anspruch auf kultische Verehrung erfolgreich durchzusetzen versteht: »Alle Bewohner der Erde werden ihn verehren« (V. 8), obwohl aufgrund der vom Autor der Oflb erinnerten Christusstory allein dem »Erstgeborenen von den Toten und Herrscher über die Könige der Erde« (1 ,5) exklusive kultische Verehrung zuteil werden kann . c) Auf dieser Grundlage können wir nun auch die Funktion der spezifischen literarischen Gestaltung der enthüllten nontllio, die zur Lösung dieses Story-Konflikts aufgeboten wird, verständlich machen: Diese Lösung ist nur möglich, wenn beide miteinander konkurrierenden Stories zu einer Gesamtstory verbunden werden, in der Jesus Christus seinen Herrschaftsanspruch gegen die gegenwärtig dominierende widergöttliche Macht definitiv durchsetzt.
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Dies erfolgt dann durch die Erzählung in 19,11 - 21. Weil diese Story erst in der Zukunft enden wird, vor allem aber, weil sie mythischen Charakter hat (sie beginnt im Himmel [12,1.3.7- 12] und endet vom Himmel her [19,11]), ist sie nur als Apokalypse erzählbar.
VI. Fazit Es ist also kein Zufall, dass in den Apokalypsen so viel erzählt wird. Warum das so ist, wird am Beispiel von Dan 7 und Oftb 13 erkennbar. Hier wie dort geht es um die Bearbeitung eines aporetischen Story-Konflikts: Menschliche Wrrklichkeitserfahrung wird stets als Interaktion zwischen zwei unterschiedlichen Siones wahrgenommen - der >erinnerten Story< und der )aktuell erlebten Story<. Beide Slones werden mit der Intention aufeinander bezogen, einen Konvergenzpunkt erkennbar werden zu lassen, der es möglich macht, die aktueIJ erlebte Story in die erinnerte Story einzulesen und sie von diesen Paradigmen her zu deuten. Oie Aporie, die die Verfasser der ApokalW sen überwinden woUen. ist nun dadurch entstanden, dass dieser Einlese- und Deutungsvorgang scheitert: Die aktuell erlebte Story wird als eine Problemlage erfahren, die es unmöglich macht, sie in die im ku1turellen Wissen präsente erinnerte Story zu integrieren, so dass ein Konflikt zwischen den beiden Stories entsteht, der nur von ihnen beiden her nicht zu lösen ist. Es bedarf darum der hermeneutischen Hilfe einer dritten Story, die - wenn denn der aporetisehe Story-Konflikt überwunden werden soll - nur eine )()ffe nbart ~ Story sein kann, wie sie in den Apoka1ypsen erzählt wird, denn nur mit ihrer Hilfe kann die bestehende kognitive Aporie überwunden werden. Die allegorisierende Chiffrierung der Akteure in den Erzählungen von Dan 7 und Oftb 13 sind in diesem Sinne als Deutungsangebote der Verfasser der beiden Apoka1ypsen zu verstehen. 66 Sie sollen den intendierten Lesern disclosures ennöglichen, insofern sie eine entindividualisierende Typisierung der Erzählfiguren vornehmen. die die Leser aufgrund ihres kulturellen Grundwissens in ihre eigene Story einlesen können. Sie können somit sich selbst und die Akteure ihrer eigenen Story mit Hilfe der Erzählung neu verstehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich darum auch das theologische Anliegen verständlich machen. von dem die apoka1yptisehen Erzählungen geleitet sind: Das den Apoka1ypsen zugrundeliegende Geschichtsbild macht es möglich. Einblick in den bereits im Himmel existierenden Fortgang der aktuell erlebten Story zu nehmen und diese in der Weise in die Zukunft hinein fortzuschreiben, dass sie am Ende wieder mit der erinnerten Story konvergiert. Die Verfasser der Apokalypsen wollen ihren Lesern damit die kontrafaktische Gewissheit vermitteln, dass die Treue Gottes und die Zuverlässigkeit seines Verheißungs66 Diesen Sachverhalt beschreibt der Titel des Buches von Rllssen, Divine Disdosure, recllt genau.
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wortes nach wie vor geschichtsbestirnrnende Faktoren sind. 67 Da nun aber das überkommene kulturelle Wissen nicht ausreicht, um die gegenwärtige WrrkLichkeitserfahrung als Bestandteil von Gottes Souveränität über die Geschichte und gleichzeitig das eigene Ergehen als Bestandteil der Geschichte des Gottesvolkes verständlich machen zu können, macht es erst der Rückgriff auf ein transzendentes Wissen möglich, beide Geschichten so fort- und zusammenzuschreiben, dass der Konflikt zwischen ihnen seinen aporetischen Charakter verliert.
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Michael Woller
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TEIL B: DIE APOKALYPSE-REZEPTION IN DER AUFKLÄRUNG EINE MODERNE APOKALYPTIK?
JÜRGEN FOHRMANN
Apokalyptische Hel meneutik (nach Herder) Die Zeit ist nah. »Der enthüllende Engel bekräftigts, und die Stimme Jesu erschallt durchher: Ich komme! Johannes bezeugts und der Jesus, das A und
o dieses Buchs rum: Ich komme!« 1 Mit diesen Worten - sie entstammen Herders Schrift Johannes Offenbarung. Ein heiliges Gesicht (1775) - ist bereits das entscheidende Thema genannt: Ich komme. »So geht Anfang und Ende des Buchs zusammen. Nur ein Wort ist sein Inhalt : >ich konune!«(2 Wtr sind allein auf der Welt, ich bin allein, um Dir die Wahrheit oder die Bestimmung offenbaren zu kö nnen, und ich sage sie Dir, ich gebe sie Dir, komm, laß uns, die wir noch nicht wissen, wer wir sind, für einen Augenblick vor dem Ende die einzigen Überlebenden sein, die einzigen, die wachen .... l
und ähnlich lautet Jacques Derridas Umschrift jener Situation, die das >Komm< kontextualisiert. Es ist ein performatives >komm<, rue immer schon
-
SO
vorausgesetzte Überzeugung, die die sprechende Stimme beim Hörer vollbringt. Solches überzeugende )Komm<, das Wunsch, Prozess und Erfüllung umschließt, ist eingebettet in eine Situation der Be-zeugung. Die Bezeugung wiederholt zunächst die Einsetzungsworte der Johannes-Apoka1ypse: Dis ist die Offenbarung Jbesu Christi, die jm Gon gegeben hat I seinen Knechten zu zeigen I was in der kürtz geschehen sol ! Vnd sie gedeutet I Vnd gesand durch seinen Engel ! zu seinem Knecht Joha nnes I der bezeuget hat das wort Gones I vnd das zeugnis von Jhesu Christo was er gesehen hat. 4
Gott hat Jesu Christi die Offenbarung gegeben, Christus hat sie gedeutet und dann dem Engel übergeben, damit er sie Johannes gebe, der sie den sieben Gemeinden Asiens geben soU. Wrr haben es zu tun mit einer Kette von Einsetzwtgen, bei denen eine Botschaft o hne Verlust, d . h. ohne fama oder )stille Post<, eine Kene von Empfringem durchläuft. Bei Herder wird diese Kette allerdings noch um ein weiteres Glied verlängert: »)das A und 0 dieses Buches rum: Ich komme!«5 Welches Buches? Sicherlich der »Offenbarung des Johannes«. Aber I 2 3 4 5
J .G . Herder, Johannes Offenbarung, 1- 100; hier: 98. Ebd. J. Derrida, apokalyptischer Ton, 9- 90; hier: 65. M. Luther, Heilige Schrifft. 2414. J .G . Herder, Johannes Offenbarung, 98.
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Jürgen Fohnnann
geht es nicht auch noch um ein Weiteres? Geht es nicht auch um das A und 0 von Johannes Offenbarung. Ein heiliges Gesicht, also um das Herdersehe Buch, den Herderschen Kommentar? Herder fährt fort: ~~Geist und Braut antworten. Der NachhaU seiner Stimme tönt .... « 6 Wie weit reicht der Nachhall? Löst der Nachhall weitere Glieder in der Kette der Einsetzungen aus, weitere Bezeugungen ihrer Legitimität, folgt also Herder dem Johannes der )Offenharung( in seinem Amte nach? Schreibt auch Herder eine Offenbarung, etwas, mit dem er offenbart, sich offenbart, ein Ende offenbart ; m . a. W.: schreibt Herder ebenfalls einen apokalyptischen Text? Dieser Frage läßt es sich genauer zuwenden nach einer Reflexion auf die .Apokalypse< des Johannes. Allerdings: Einen Text des 18. Jahrhunderts 7 in Beziehung zu einem neutestamentlichen Buch zu setzen, und zwar so, dass nicht etwa eine Gattungsverwandtschaft 8 behauptet oder dass der Rolle eines Prätextes nachgegangen würde oder dass eine parallele soziale Konstellation vorläge, für die ein Vergleich sich anböte, oder dass schließlich das Interesse darin bestünde, eine invariante Struktur (der Form, des Argumentierens) zu finden - wenn alles dies nicht gilt, wird es erforderlich, den methodischen Ausgangspunkt genauer zu umreißen. Zwei Texte geraten in Ko ntakt, bei dem der zweite, zeitlich spätere, auf eine sehr subtile Weise den ersten wiederholt, aber so, dass nicht etwa (oder jedenfalls nicht auf ausschlaggebende Weise) die Reihe der Argumente, der Bilder, der angespielten Kontexte kopiert würde, sondern indem die performative Kraft des ersten Textes im zweiten ihre Wiederho lung erfahrt. Es ist die spezifische Ausprägung einer aJs total verstandenen )Rheto rizität<, die im Prozess des eigenen Redens sich sowohl in ihrer unumschränkten Geltung begründen als auch die Unmöglichkeit anderer Stimmen im eigenen Text erweisen möchte. Als zweiter Text ist Herders Kommentar der Versuch, die Geltung des ersten Textes dadurch erneut zu konstituieren, dass dessen performative Kraft sowohl Thema als auch Verfahren von Herders eigenem Text wird. In dieser Verdopplung )kommen< beide Texte dann sich nahe, wenn es gelingt, zum Leser zu )kommen<, ihn so zu apostrophieren, dass er der Persuasio erliegt und dem >lockenden Komm< am Ende Folge leistet. Die im wesentlichen rhetorische
• Ebd. 7 Zum Herderschen Text JohanneJ Offenbarung gibt es nur sehr wenige Arbeiten; vgl. R. Simon. Gedächtnis: hier zur JohonneJ Offenbonmg. Ein heiliges Gesicht. 337ft'. Zum weiteren Rahmen der Ästhetik vgl. H. AdJer, Prägnanz des Dunlde:n. 8 Vgl. zur Johannes.Qft'enbarung insbesondere O. Böcher, JohannesapokaJypse. M. Karrer. Johan· nesoffenbarung. K. Koch/ J. Schmidt. Apokalyptik. Siehe auch : M. Walter. Gegner.
Apokalyptische Hermeneutik (nach Herder)
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AnaJyse, um die es im weiteren geht, zentriert sich um eben diese Apostrophe aJs nicht nur einer Figur des Textes, sondern als seiner zentralen Strategie. 9 In der Offenbarung des Johannes lassen sich drei Teile unterscheiden: Erstens den Bericht von der Einsetzung und dem Zeugnis; zweitens die Botschaft (an die siehen Gemeinden); und drittens die Kette der Enthüllungen.
Einsetzung und Zeugnis »Jch war im geist an des Henn tag / vnd hörete hinder mir eine grosse stim / aJs einer Posaunen / die sprach ....« \0
Und am Ende: »Es spricht der solchs
zeugeu~ 11
In der visionären Rede, in deren Gattungstradition der Text steht, vermischen sich Vergangenheit und Zukunft auf eine Weise, die ein Sprechen aus der Zukunft im Modus der Vergangenheit möglich macht: Ich habe etwas gesehen, was erst kommen wird ... Das Präsens bleibt ausgeklammert, steht an der Leerstelle zwischen Präteritum und Futur, ist aber die eigentliche Zeit, die Zeit des Zeugnisses. Denn das Zeugnis ist ganz Gegenwart: Ich zeuge dies jetzt. Mit solchem Zeugnis wird eine spezifische Kommunikationssituation geschaffen, er-zeugt. Der Zeuge, der bereits gesehen hat, was noch geschehen wird, spricht aus etwas heraus, das die Immanenz des gegenwärtigen Augenblicks übersteigt, weil er um die im Etwas verborgene Wahrheit (und um die rechte oder schlechte Entscheidung) bereits weiß. Er spricht mithin aJs Stimme der Transzendenz. Dieses Sprechen aber gilt nur dem gegenwärtigen Augenblick (des Hörens oder Lesens) der Botschaft: )Wer Ohren hat, der höre!( Man könnte auch sagen: Vergangenheit und Zukunft sind bereits von der Stimme okkupiert, d.h. endgültig ausgelegt. Unbestimmt bleibt hingegen die Gegenwart. Sie ist eine geHihrlich offene Zeit, denn in ihr wird es sich erst noch zeigen, wie sich wer entscheidet. In der Inszenierung des Sprechenden werden zwar Vergangenheit und Zukunft als Zeitdimensionen entfaltet, verschmelzen dann aber doch im Moment des Sprechens der Botschaft. Und selbst die Spanne dieses Sprechens wird als der Augenblick der Stimme fmgiert. Die Botschaft Alle Botschaften an die sieben Gemeinden bestehen im wesentlichen aus einer Zeitansage: Es wird wenig Zeit sein, daher »)Gedencke / wo von du gefallen 9 Eine so ausgerichtete Untersuchung hat für die Weimarer Republik vorgelegt: J. BrokolJ, Apokalypse. Vgl. im Gegensalz daZll K. Vondung, Apokalypse. 10 M . Luther, Heilige Schrift!:, 2475. 11 Ebd., 25 13.
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Jürgen Fohnnann
bist / vnd thu Busse I vnd thu die ersten werck.« 12 So spricht durch Johannes DER HERR. )~Aber ich habe ein kleines wider dich ... .« 13 Dieses nkleine« ist sofort zu berücksichtigen, und »Wer vberwindet / der sol mit weissen Kleidern angeleget werden I V nd ich werde seinen namen nicht austilgen aus dem buch des Lebens I vnd ich will seinen namen bekennen fur meinem Vater I vnd fur seinen Engeln.« 14 Wer sich trotz der knappen Zeit nicht auf die eine oder andere Seite schlagen mag, ist - in Luthers Übersetzung - »lau«. »Lau« sein hieße dann nicht nur, sich nicht entscheiden zu können, sondern hieße auch, sich im Entscheiden, d. h. im noch Unentschiedensein, zu viel Zeit zu lassen, den Zeitpunkt irreversibel und auf immer zu verpassen . Apokalypse
Der dritte, lange Teil der »Offenbarung des Johannes« entfaltet, eröffnet, was so oder so geschehen wird. In diese Offenbarung ist die bereits angedeutete Entscheidungssituation (ex~ oder implizit) als Akt des Zeigens und des Sehens immer wieder integriert. Sie dient als Rekursion, mit der das Gemeintsein des steten »komm und siehe zu« den Adressaten der Stimme erreicht. Den Text bestimmt mithin eine Paradoxie: Die Zeit ist nah, aber die langsame Eröffnung der Siegel retardiert das Erreichen des Endes. In den Worten Denidas: » ... das Ende ist nah, doch die Apokalypse ... [selbst] von langer Dauer.« 15 Denn die ersten sechs Siegel sind schnell erbrochen; nach der Versiege~ lung der Geschlechter Israels verzögert sich aUes weitere in einer dauerhaften Anspannung bei gleichzeitiger Weissagung, »)das hin Furt keine zeit mehr sein sol / Sondern in den tagen der stimme des siebenden Engels wenn er posaunen wird I So sol vollendet werden das geheimnis Gottes .... « 16 So ist also - wäre zu fragen - die Zeitknappheit nur fingiert, gilt nur dem Hörer, während die Stimme des Textes - immer neu, schier endlos - die Katastrophe entfaltet, um in ihr wieder und wieder zur Entscheidung aufzurufen? Dann wäre die Struktur des Textes eine Iteration, die beim Angerufenen aber jeweils den Eindruck eines nicht tTanszendierbaren, ganz unhintergehbaren Zeitpunkts hervorzurufen versucht, um den Wettlauf um die Seelen zu gewinnen. Er versucht die Emphase des Augenblicks in der Textbewegung auf Dauer zu stellen. Der Verlauf der Katastrophe und das >ich mache alles neu<soll hier nicht weiter verfolgt, sondern der Blick auf die Entscheidungssituation selbst konzentriert werden. »Die Offenbarung des Johannes« berichtet von einer Enthüllung, die mit einer Sonderung in zwei Lager verbunden ist. Diese Sonderung geschieht 12 Ebd., 2476. \3 Ebd. 14 Ebd .. 2478. 15 J. Derrida, apokalyptischer Ton, 75. 16 M. Luther. Heilige Schrift, 2491.
Apokalyptische Henneneutik (nach Herder)
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nach und gemäß der Annahme des Zeugnisses, die ihrerseits im Augenblick vonstanen gehen muss. Es ist daher nicht nur eine Enthüllung von Katastrophe und Himmlischem Jerusalem, die der Text vorfuhrt, sondern die Atemlosigkeit seiner Diktion und die Iterationsbewegung, sein Immerwieder des Anrufens, prägen dem Hörer oder Leser das >Jetzt<der Entscheidung u.d.h . der Annahme (oder Verweigerung?) des Zeugnisses ein. Der Text will am Leser daher die Entscheidung bereits vollziehen, von deren Auswirkungen er in seinen )Enthüllungen< berichtet. Er tilgt jede Art von )Re-Aexion<, als dem Erwägen beider Seiten, und stigmatisiert gerade solches Her und Hin als nicht hinzunehmende )Lauheit<. Wie geht Herder mit diesem Redegestus um? Herder als Kommentator, also als derjenige, der das )klar
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Jürgen Fohnnann
der Brust lag; jetzt aber wie anders! wie herrlich! Das Bild ist Geist, Feuer, Leben unanschaubar, wie viel minder nachzugestalten! Die's auf Lumpen bringen wollten, Abscheu brachten sie, statt Herrlichkeit auf ihre Lumpen! Der weisse Talar, in dem Johannes die Erscheinung sah, war das heilige Priesterund Ehrenkleid: der Goldgurt Königsgürtel. ... Der Glanzblick, das Haupthaar, der Fuß wie feuriges Kristallerz (denn weder Messing noch Golderz ist ein verklärter Menschlicher Körper) die Stimme wie Wasserrauschen, das Sonnenantlitz end1ich, sind in den Cha1däischen Propheten Attribute der Erscheinung der Engel, der Cherubim, Michaels, Gottes. Hier sind alle vereint in Würkung. Tod ist ihr Anblick bis der Lebendige wieder beseelet. 19
Wie hier ist in vielen anderen Passagen zu sehen, dass Herders Sprache erstens überbietet, zweitens sehr beredt Zeitknappheit in Szene setzt und drittens >Ostendiert<. Der Satzrhythmus ist geprägt durch sehr kurze, oft elliptische Parataxen; die Bilder der Offenbarung des Johannes werden immer wieder aufgenommen oder durch Synonyme ersetzt, die die Funktion haben, die expressive Haltung des Ausgangstextes - ihn und seine Geltung betonend - noch zu überbieten. Es geht mithin nicht um einen Differenzaufbau, der mit jedem Kommentar verbunden wäre, sondern um die Geste analoger Kommunikation, die die Emphase des Johannes-Textes noch einmal emphatisch erinnert. Herders Emphase gilt sowohl der >Offenbarungeigentlichster< Rede, dem unmittelbaren Ton, der reinen Wörtlichkeit (des gesprochenen Wortes) zu Leibe geruckt werden. Allein diesem Duktus versucht Herder zu folgen, um in der AtemJosigkeit seiner Sätze, in der Textur seines Textes das andere Medium, die Stimme, zu implementieren: »Wrr sind dem Augenblick nah, da das Lamm die Siegel eröffnet. Das Buch ist schon in seiner Hand. Was wird seyn? was wird werden?«20 Herder als >rasender Reporter<, als Präfiguration Egon Erwin Kischs? - Herder als Reporter. Seine Reportage über die Offenbarung und über das Buch über die Offenbarung versucht, den Zeitgesetzen des besprochenen Gegenstands zu folgen: »Könnte mit Adlerfluge mein Buch eilen.«21 Herder eilt, um zu ostendieren. Sein am liebsten gebrauchtes, zitiertes Wort, oft in der Nachbarschaft eines Doppelpunktes: »siehe«. Und dann folgt das Ausrufezeichen (!). Dieses Sehen verweist weniger auf etwas, sondern verweist als Sehen-Sollen auf das Sehen-Können selbst: Sieh (doch), was offenbar ist; denn offenbar ist, dass man sehen kann. 19 Ebd., 9. 20 Ebd .• 25.
21 Ebd., 51.
Apokalyptische Henneneulik (nach Herder)
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Solches Sehen-Können ist aber nur möglich, wenn sich etwas konturiert, d.h. wenn das Viele sich nicht als )Vieles< so fiir das Auge verliert, dass die einheitsstiftende Leistung des Blicks verlorengeht. Genau von dieser )Stiftung< handelt - immer wieder - der Herdersche Text: Je mehr wir in dem Gesichtspunkte stehen, über alles Theilbare. Vielfache, Zerstreuende der Zeit erhöhet, im Himmel~ im Gesichtspunkt des Einen, der Zukunft, Versamm1ung und Einigung zu ihm hin : desto mehr wird auch unser Auge sehen! Das ist Johannes einziger Wegweiser und Sch1üssel zu diesem Buche: untrüglich und heUe gnug! 22
Die Herstellung des Einen steht im Vordergrund, nicht die nähere Bestimmung dieses Einen selbst: »Bilder der Allerfiillung, AUerleuchtung, Allbelebung«. 23 Daher gilt: »Kriechender Zusammensetzungsgeist ist also nicht Deutsinn der Offenbahrung. Jedes ganze Bild spricht, und jedes ganzen Bildes Sprache ist verständlich.«24 Denn: »Wunderschön schafft: Johannes in seiner Mannichfaltigkeit Einheit, hält bei aUen Stürmen und Wolkengestalten der Erde den Blick fest auf dem Lamme droben . ... «25 Auf diese Weise wird die Anerkenntnis der Offenbarung Anerkennung von Identität(sphilosophie), und das Viele - als schiere Mannigfaltigkeit - gerät auf die Seite des Teufels: Gott, der da ist Ein und Alles, A. und 0 ., der Allumfasser, das Einzige, was ist und würkt in der Schöpfung, muß ein und Alles werden, auch als solches erkannt, gefuh1t, verherrlicht werden, wo und wie es nur erkannt, gefüh1t, verherrlicht werden kann: Abgötter, Trug, Schatten und Blendwerk muß weg aus der Schöpfung. Babel muß fallen, daß Er herrsche, der Allbehemcher. 26
Nicht, dass genauer erläutert würde, worin und wodurch diese Einheitsstiftung sich voJJzöge. Vielmehr wird die Epistemologie durch eine Ethik eskamotiert. Der Plural, d. h. die »Götzenopfer« und die »Huren«, werden gesehen, vom Reinen diskriminiert und sogleich von Herder als »)laxe Lehrer, schlüpfrige Christen, Heuchler« 27, das Weib, die Ehebrecherin, das Tier, die große Stadt, die Verführerin der Welt 28 benannt: Babel ist ein Plural. »Aber der Richter mit dem Feuerblicke unterscheidet.« 29 Babel ist eine Oberfläche, ein reines Außen; erst seine Zerstörung bereitet den Weg: )) ... so mußte der äußere Mensch verwesen, und das Innere ward herrlich« 30. Denn - einmal existierend - repro22 Ebd., 7.
23 Ebd. 24 Ebd .• 10. 2S Ebd., 63 .
26 Ebd., 81. 27 Ebd., 12. 28 Vgl. ebd., 76.
29 Ebd., 15.
30 Ebd.,36.
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duziert sich der falsche Schein immer aufs Neue: »Alles Blendwerk ist, durch Blendwerk.« )! Der Mensch (der Leser), der sich entschieden hat, ohne mit langem Atem zu unterscheiden, kann nur in der Konzentration auf Gott den nötigen reinen Sinn erhalten: »Wer solche Hoffnung hat zu ihm [Gott], der reinigt sich selbst, gJeichwie er auch rein iSt.«12 Dann, am Ende, ist das Reine deutlich: »Offenbar sehen wir, es ist das letzte Bild, daß die Erde völlig rein werde .... - die Welt ist rein! die Schöpfung lacht!«)) Dem >Reinen< eröffnet sich die Ein-Sicht in das Eine: »Er a1l' ihr Gott: sie alle sein Sohn.« 34 Und was sich nicht in dieses >aUe< fugt, das, was Vielheit und in der Vielheit Blendwerk bleibt, kommt um : »Befleckt ist und mißbraucht das Feuer der Natur, es will gereinigt werden und auffiiegen, wo es vor war. Die Ernte geschieht. Blut fließt.«l!! Babel, der Plural, wird vernichtet; das »Wehe« 36, wie Herder es nennt, bricht an. Es ist aufsch1ußreich, ein wenig beim Plural, bei Babel, beim Laxen und Sch1üpfrigen zu verweilen. Wenn die Offonbanmg des Johannes auf die Gruppe der Laxen zielt, auf ihre gegenwärtige Situation, in der sie sich entscheiden sollen, so gIbt der Text ein Schema an die Hand, das nicht nur zur einfachen Entscheidung drängt, sondern auch einen Modus vorschlägt, mit dem der Text selbst gelesen werden will. Denn die Aufforderung der Apokalypse lautet : Lese nicht, sondern höre! Gib Dich meiner Stimme im Augenblick ganz hin, sei gJeich-, sei nicht nachzeitig in den Bewegungen Deiner Lektüre. Die Schrift meiner Offenbarung ist eigentlich eine Stimme. und das Buch nur die äußere Hülle, durch die die Stimme - zu welchem Zweck eigentlich? - in Schrift fixiert wurde. Der Leser ist also ein Hörer, und auf keinen Fall darf er selbst Schreiber sein, denn >Schreiber< ist nur der, dem DIE SCHRIFT entstammt. Herder erfuUt diese Anweisung, indem er in seiner Schrift und als jemand, der sich die Schrift zumutet, zu zeigen versucht, wie ein anderer liest, ein anderer, der weder unrein noch lau ist, ein anderer, der nicht schreibt: Der Unpartheiische aber, der noch kein System hat, ders einige Augenblicke unentschieden laßen kann, ob die Offenbahrung ein Göttliches oder Menschliches Buch? ob vor oder nach der Zerstörung Jerusalems? ... wer dieB aUes vergessen kann, und jetzt nur lieset, nur was er sieht, siehet - wenns möglich ist, die a1te schöne Grille zu verläugnen, a1s sei dies Buch unverständ1ich, habe einen SchlüßeI nöthig, der verlohren sei, ob ihn gleich niemand je gesehn hat; Wer von diesem allem entkleidet, willig und frei wie ein Kind lieset und ja noch nichts selbst über die Offenbahrung geschrieben hat : einen solchen bitte ic h, ohne Furcht und Scheu dies Buch zu lesen. 37 31 Ebd .. 57. 32 Ebd .. 62.
33 Ehd.,87.
"
Ebd., 92. 35 Ebd.. 66. 36 Ebd., 44. ]1 Ebd., 100.
Apokalyptische H ermeneulik (nach Herder)
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Wer )frei und willig wie ein KindWie? wars voraus nicht sichtbar? Ein Lamm nimmt das Buch, entsiegelt, lieset ?~ Nun ja denn! und ein Lamm ist auch geschlachtet und lebt! es steht als erwürget da und handelt! hat sieben Augen und sieben Hörner, die leider Eins bedeuten! Das Lamm ist zugleich Wurzel und Löwe! - Elende Bilderkrämereil Für den Wurm, der im Holze nagt, ist nie ein Gemälde geschaffen!42
Solche Würmer betätigen sich als >POasterschmiererc Nur Ein Wort im doppelten Sinne Jesu war der Schlüssel : der Herr kommt! - Da mißbrauchte nun keiner: da las jeder und fiihlte: aber Ihr, Ausleger, Räthsler, Deuter, Pflasterschmierer der Offenbahrung, Ihr - mit all' euren hundert Spinneweben vor der offenbarten Sonne. 43
38 Ebd .. Vorwort. unpaginiert. 39 Ebd .. 6. 40 Ebd., 37.
41 Ebd., I t. 42 Ebd., 24. 43 Ebd., 32.
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Dies sind die beiden Pole Herderscher Differenzbildung: )MißbrauchenLesen(. Es gibt einen berühmten Gewährsmann für diese Unterscheidung: Wenn es daher schon fleischliche Knechtschaft verrät, einem zum Nutzen eingesetzter Zeichen zu folgen anstatt der Sache, zu deren Bezeichnung es eingeführt wurde, eine wieviel schlimmere Knechtschaft ist es dann, die eingesetzten Zeichen nutzloser Sachen für die Sachen selbst zu nehmen? Bezieht man sie aber auf den durch sie angedeuteten Gegenstand und verpflichtet man den Geist zu dessen Verehrung, so ist man trotzdem nicht weniger frei von knechtischer und flei schlicher Last und Hüne. 44
Augustin, dessen Schrift De doetdna christiana diese TextsteUe entstammt, hat als Anweisung gegen solche Gefahr die institutionell abgesicherte ErkJärung der Zeichen anzubieten: Deshalb hat die christliche Freiheit diejenigen, die sie im Dienste nützlicher Zeichen antraf, als schon fast Gefundene dadurch, daß sie ihnen die Zeichen, denen sie unterworfen waren, erkJärte, zu den durch diese Zeichen angedeuteten Sachen emporgehoben und so frei gemacht . Ausjenen wurden die Kirchen heiliger Israeliten gebildet. 45
Die Zeichen sind richtig zu gebrauchen. Sie sind wie eine Frau: Denn wenn ein Mann zu seiner Zeit viele Frauen in Keuschheit gebrauchen kann, so kann ein anderer eine einzige Frau mit sinnlicher Lust gebrauchen. Ich billige es aber mehr, die Fruchtbarkeit vieler Frauen zu einem nicht selbstsüchtigen Zwecke zu gebrauchen, als das Aeisch einer einzigen um ihrer selbst willen. 46
Diese Hermeneutik denkt die Signifikantenkette als immanente Lust, als Aeisch , das aJs Verführer wirken, das Mißbrauch zulassen kann. Solchem Mißbrauch ist mit einem Lesen zu begegnen, das die Signifikanten >anwendet<, d. h. auf einen schon vorgegebenen Zusammenhang bezieht. Dann wird )Kirche< sein: Keine Lektüre ohne Institution. Etwas auf die rechte Weise zu gebrauchen, heißt in solchem Verständnis, die Signifikation einsinnig zu gestalten. Herder geht einen ganz anderen Weg. Ihm ist jede Bedeutungszuweisung, die vom Leser aJs Leser vorgenommen wird, Mißbrauch, Katachrese, abusus des geoffenbarten Wortes. Es bleibt daher nur, auf die Signifikation ganz zu verzichten außer jener einen, die nicht be-deutet, sondern aUein hin-deutet, d . h. dem Duktus des Werkes folgt: Freilich sind's Siegel des Buchs seiner Geheimnisse; aber nur Siegel. Die äußern. schweren, verwirrenden Hüllen; aber das 8uch ist in der Hand des Lamms. Es bricht sie und der Inhalt ist etwas Tiefers. Sie sind nicht Inhalt, sondern Siegel. Auch Forschenden, Unverschämten sollen sie nichts als Siegel bleiben. 47
44 A. Augustinus. Oe doctrina, 119. 45 Ebd.
46 Ebd.. 131. 47 J.G. Herdcr, Johannes Offenbarung, 31.
Apokalyptische Henneneutik (nach Herder)
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Das Forschungsverbot, die fehlende Scham, die Superstitio könnte man auch sagen, wird von Herder zurückgelassen, weil solches Forschen, d .h. auch der historische Kommentar, selbst das )Zeichen des Tieres<, des Plurals, trägt. Das große, verderbliche Tier ist nicht nur in der Offenbarung des Johannes - als )böser Versucher<- der Vernichtung anheimgegeben, sondern es erscheint noch einmal wieder in den Stimmen, die die Dignität des Textes einzuschätzen versuchen: Herbei ihr Weltweisen, Civilpriester aller Religionen, und Wunderthäter vorm Thiere, eure Gestalt zu sehen! Wozu würkt ihr, als daß man Thieres Bild trage? Und wenn da Feur vom Himmel fiele und Lebensgeist euer Schnitzwerk belebte - ist doch nur Thieres Bild, ist Anbetung des unsichtbaren Drachen! ... und Niemand ohne dasselbe kaufe und verkaufe: daß alle Welt in die Uniform der zähen Vemunftreligion und und - sich bestgehorsamst kleide: was seyd ihr als Heuchler und Schmeichler um Geniesses willen! Gaukler bis zu einem Punkte! Verführer - deren Ende seyn wird nach ihren Werken. 48
Wie geht diese Verdammung des Kommentars zusammen mit der historischen Einordnung des Textes, die Herder ebenfalls vornimmt? Es ist also kein Zweifel, daß Jesus hier nicht Mystisch, sondern sehr genau, einzeln und bestimmt spreche. So war der Zustand jeder Gemeine in ihrem Innersten .. .. So musten diese Briefe aufwecken, treffen, beschämen! Wer ihnen das Historische nimmt, hat ihnen die erste Beweis- und Urkraft des Inhalts, den sie begleiten soUte. genommen .... - Dies Historische aber vorausgesetzt, wer will in der Anwendung einschränken? stümmeln?- Ist Jesus nicht das A. und 0 ., Anfang und Ende?49
Herder jongliert in dieser TextsteUe mit unterschiedlichen Explikationsebenen. Nach der Zurückweisung der )mystischen lnterpretation< nutzt er die >historische Auslegung<, um die Konkretheit von Jesus' Anruf der Gemeinden herauszusteUen. Er )rekonstruiertdje Plagen sind nach Ägyptus Bildern«s2 usw.), um dann aber die möglichen Konsequenzen, die mit dem historischen Zugriff verbunden sein könnten (die Relativierung der »Offenbarung« als heiligem Text). sofort zu verhindern: Jesus ist das A . und O . Das >deute jeder<, das am Ende der Passage steht, 1iest sich gerade wie die Aufforderung zum Nicht-Deuten und als Hinweis, dass auf das gesuchte )Alles< nur gezeigt werden kann. Der historische Kontext, der benannt wird, dient also nicht der historischen Exegese, sondern wird als höchste Konkretheit verstanden, als unminelbare Verständlichkeit des Bildes, als gleichsam aleatorische Oberfläche, 48 fbd .. 6 1. 49 Ebd., 10. 50 Ebd.
" "
Ebd., 37. fbd .. 31.
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Jiirgen Fohnnann
hinter der immer das >Alles<, )A1l< und das >Komme< der Vereinigung stehen. Und »wer bist du Koth, daß du das Bild nicht fUhlest! «Sl Die Spannung zwischen idea1isierter Proposition und Metapher wird von Herder also eingeebnet. AJles, was Text ist, ist redurierbar auf das >Komm<: Ach komme, ich komme, er kommt. Alle Bilder sind daher >reine Paraphrasenkommen< immer wieder und - bei genauer Adressierung - jeweils spezifisch, verständlich zu sagen. Es geht Herder in diesem Sinne nicht um eine histori-
sche Bibelexegese, sondern um die auch historische Ostentation einer transzendenten Wahrheit, die geschichtlich kontextualisiert, um die geschichtliche Dimension hinter sich zu lassen. Das )komm, gilt (auch) dem Leser. Es sagt: Schlag Dich auf meine Seite und akzeptiere diese Botschaft der Apokalypse, die Dich durch meinen Text anspricht . Mein Text allein bereitet den Boden für eine Lektüre der Offenbarung des Johonnes, der es gelingt, das >reine Komm< freizulegen, indem es das >Komm< wiederholt, Objekt- und Metaebene ineinsfallen läßt. Mein Text nämlich isl, indem ich ihn in jenes >reine Komm<wieder einschreibe. durch das er zugleich legitimiert wird. Auf diese Weise verfaßt auch Herder einen heiligen Text. Heilig ist er als die ErfuUung des >Ko mm< beim Leser, der sich so verhalten soll, als sei er der erste Hörer. Düferenztheoretisch refonnuliert : Was Herder sich zu verhindern genötigt sieht, ist die Beobachtung der Beobachtung, also eine Beobachtung zweiter Ordnung, mithin die Geburt des modemen Kommentars. Seine Offenbarung gilt - gegen die res publica Iiteraria - einer virtueUen Öffentlichkeit, die auf eine Lesehaltung hin trainiert werden soLi, in der der Bedeutungsfindung keinerlei Zeit, keinerlei Aufschub gewährt wird. Das, was in der Schleiennacherschen Henneneutik später als bewusstes und damit längere Zeitverhältnisse konstitutiv voraussetzendes Mit- und Gegeneinander von grammatischer und psychologischer Interpretation gedacht wird, kommt in Herders apokalyptischer Henneneutik als apokalyptischer Rhetorik nicht vor. »SchneU war ich im Geist«: Dieser Satz ist zumindest zweifach zu lesen. Erstens kennzeichnet es das Himmelfahrtstempo des Interpreten; und zweitens markiert es die Zeitraffung in der DarsteUung der Wolkenbewegungen, die - sobald der Deuter ohen angelangt - den interpretatorischen Himmelsweg charakterisiert. Herder schreibt einen Kommentar, damit kein Ko mmentar mehr sein soU; er macht den Weg zur »Offenbarung« frei, da leer. Die persuasio einer so verstandenen apokalyptischen Rheto rik läge also darin, in der Eröffnung der Rede einen Status des eigenen Textes zu fingieren , der ausschließlich an der Legitimität und Bedeutungssicherung des Redenden interessiert ist und seine Geltung!W\sprüche als Mo rtifikatio nsgeschäft durch-
S3 Ebd.. 11.
ApoktJlyptisdle Hermeneutik (nach Herder)
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zuführen versucht. Zu diesem Zweck reoralisiert er die eigene Schrift, in deren vermeintlicher Aüchtigkeit er dem Leser ein Hier und Jetzt imaginieren will, das nur den einen Augenblick eröffnet und in ihm verlangt, fiir Freund oder Feind zu optieren. Die dieser Rhetorik zugrundeliegende Hermeneutik behauptet dabei, analog zu kommunizieren und damit der Augustinischen )Sach~ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Unterschiede sind ihr jene auszurottende Vielheit, die manche Namen haben kann: Parlamentarismus, Geschwätz, Vielweiberei. Es geht also um mehr als nur die Auslegung eines geoffenbarten Textes. Auf dem Spiel steht, alle vom Schreiber gedeuteten Texte als geoffenbarte zu validieren und damit den Raum nur fiir die eigene Stimme zu öffnen. Eine apokalyptische Hermeneutik kennzeichnet so der Versuch, alle anderen Stimmen im Text nur erscheinen zu lassen, um sie schnellstmöglich zu überschreiben. Die Souveränität des Interpreten ist (als eine politische) immer an die Überwindung eines Feindes gebunden, der nicht nur eine andere Meinung vertritt, sondern fiir die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Meinungen als Prinzip steht - fiir Babel eben. Babel aber versucht die Apostrophe den Garaus zu machen.
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JÜRGEN BROKOFF
Ende der Aufklärung Apokalyptik und Geschichtsphilosophie in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts
1. Gotthold Ephrairn Lessing steht nicht im Verdacht, fiir apokalyptisches Denken empfanglich gewesen zu sein. ln seinem theologischen NachJass gibt es eine His-
torische Einleitung in die Offimbarung Johannis, die nach eigenem Bekunden die widerspruchsvoUe »Geschichte« 1 des neutestamentlichen Textes erzählen will. Diese - Fragment gebliebene - ErzähJung einer Textgeschichte ist im Umkreis von weiteren Schriften Lessings anzusiedeln, die sich alle einer historisch-kri-
tischen Methode bedienen und die damit in enger Verbindung zum neologischen Schrifttum der Zeit stehen. 2 Ohne mit den Zielen der »neuen Lehre« der Bibelauslegung übereinzustimmen, geht es auch Lessing bei der Anwendung der historisch-kritischen Methode darum, in »freier Untersuchung«) zu zeigen, dass die Aufuahrne der Johannesapokalypse in den biblischen Kanon auf historisch zufallige Weise erfolgt und der Kanon selbst )>Ohne allen P1an«4 zustande gekommen sei. In diesem Zusammenhang bezeichnet Lessmg die Evangelisten »als bloß menschliche Geschichtschreiber«s. Unschwer ist zu erkennen, dass sich Lessmg mit diesen provokativen Formulierungen gegen den überkommenen Otfenbarungsbegriff wendet, der etwa von der lutherischen Orthodoxie m Gestalt des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze verteidigt wird. Denn mit den Hypothesen von der historisch zufalligen, »)planlos[en]«6 Kanonbildung und der menschlichen Verfasserschaft wird der Wahrheitsanspruch der biblischen Offenbarungsschriften relativiert. Diese Relativierung betrifft selbstverständlich auch die Johannesapo1 Lessing, Historische Einleitung, 656. 2 Vgl. Scholder, GrundzÜge; Aner, Theologie der Lessingzeit. ] Der Theologe Johann Sa1omo SemJer hatte in den Jahren 177 1- I 775 seine Abhandlung l'On freier Untersuchung des Canon veröffentlicht. ln einem Brief vom 11 . November 1774 kündigt Lessing gegenüber seinem Bruder eine eigene »noch freiere Untersuchung des Canons alten und neuen Testaments etc.« an. Eine Arbeit mit diesem TItel, die wohl im wesentlichen in der kommentierten Edition eines weiteren Reimarus-Pragml!l1u bestanden hätte. ist in Lessings Nachlass allerdings nie gefunden worden. - Zu Semier vgl. den 0 1x .. blick in: Reventlow, Epochen, 175-189. 4 Lessing, Historische Einleitung, 655. 5 Lessing, Neue Hypothese. 6 Lessing, Historische Einleitung, 655.
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Jürgen BrokoJJ
kalypse. Wenn die heiligen Schriften, historisch-kritisch betrachtet, das Werk
»bloß menschlicher Geschichtschreiber« sind, wie können sie dann einen Wahrheitsanspruch erheben, der über ein menschliches Maß hinausgeht? Nun besteht aber der Wahrheitsanspruch, den etwa die JohannesapokaIypse für sich erhebt, gerade darin, das geoffenbarte Wort Gottes zu verkünden. Und nicht nur das. Da die Wahrheit über das Ende der Geschichte, d. h. den Untergang der Welt und das kommende Gottesreich nicht allein in, sondern zugleich von der Johannesapokalypse offenbart wird, beansprucht dieser Text, selbst am geoffenbarten Wort Gottes teilzuhaben. 7 Auch wenn der Offenbarung,text dabei die Behauptung auf'teUt, die Wahrheit auf dem Wege der Inspiration mitgeteilt bekommen zu haben, so ist doch der Text selbst die einzige Mitteilung dieser Wahrheit. Wie der Philosoph Jacques Derrida in seiner Analyse des apokalyptischen Tons herausgearbeitet hat, beansprucht der Text der Johannesapokalypse so gesehen )~her die Wahrheit des Offenbarens als die geoffenbarte Wahrheit.«8 Wie immer man die komplizierte Erzählstruktur des neutestamentlichen Textes im einzelnen bewerten mag: Sicher ist, dass die erzählende Instanz der Johannesapokalypse fiir sich eine privilegierte Redeposition in Anspruch nimmt und von sich behauptet, ein übernatürliches Wissen von der Zukunft der Welt zu besitzen. Von dieser Redeposition aus ist es dem apokalyptischen Text nicht nur möglich, über das Ende der Geschichte, d. h. den Untergang der Welt und das kommende neue Jerusalem zweifelsfrei zu berichten: »Diese Worte sind gewiss und wahrhaftig« (OfIb 22,6). Das uneingeschränkte Wissensmonopol in Fragen der Zukunft versetzt ihn auch in die Lage, die Wahrheits- und Geltungsansprüche anderer Texte zunichte zu machen. Es gibt aus der Sicht der Johannesapokalypse schlechterdings keinen Text, der in Fragen der Zukunft gleichberechtigt neben ihr stehen könnte. Die Johannesapokalypse setzt deshalb nicht einfach nur einen Diskurs über das Ende der Geschichte frei, sondern ist selbst ein beendender Diskurs, der, so ließe sich zeigen, tief von einer Struktur sprachlicher Gewalt durchzogen ist. 9 Gegen einen solchen Wahrheitsanspruch, der sich auf eine privilegierte Redeposition und den Besitz eines übernatürlichen Wissens grundet, ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl die historisch-kritische Theologie als auch Lessing zu Felde gewgen. Bei Lessing geht jedoch die Relativierung des Wahrheitsanspruchs der Johannesapokalypse und der anderen biblischen Offenbarungsschriften mit einer erheblichen Verkomplizierung des Wahrheits-
7 Vgl. dazu meine Analyse in: Brokoff, Apokalypse, 15- 30. 8 Vgl. Derrida, Apokalypse. 73. 9 Vgl. Brokoff, Apokalypse. 26-30.
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problems insgesamt einher. 10 Diese Verkomplizierung hat auch Auswirkungen auf den Wahrheitsanspruch von Lessings eigenen Texten. Vor allem in seinen theologiekritischen Spätschriften, die im Zusammenhang des Streits um die von ihm herausgegebenen Reimarus-Fragmenle entstanden sind, 3J beitet Lessing an einer Vervielfattigung seines Wahrheitsbegriffs. Bevor die Frage diskutiert werden kann, welchen Wahrheitsanspruch Lessings letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts für sich erhebt und wie sich dieser zum kritisierten Wahrheitsanspruch der Johannesapokalypse verhält, ist deshalb der Blick zunächst auf die Vervielfaltigung des Wahrheitsbegriffs bei
Lessing zu richten.
II. Lessing unterscheidet in bezug auf die biblischen Offenbarungsschriften mehrere »Klasse[n] von Wahrheiten« 11: die »Geschichtswahrheiten«, die sogenannte »innere Wahrheit« und die »Vernunftwahrheiten«. An erster SteDe steht dabei die Kritik an den »zufalligen Geschichtswahrheiten« 12. Um solche »Geschichtswahrheiten« handelt es sich nach Lessing beispielsweise bei den »Weissagungen und Wundern« I) Christi, von denen die biblischen Texte berichten. Insofern diese Texte zwar »glaubwürdig« 14 und »zuverlässig« lS von den Weissagungen und Wundem Christi berichten, aber doch eben bloß »Nachrichten« 16 von denselben sind, können sie nicht als »Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion« 17 herangezogen werden. Die Q1la1ifmerung der bit>-tischen Texte als »Nachrichten«, die als »menschliche Zeugnisse« 18 so oder auch anders lauten können, macht deutlich, dass Lessing den Offenbarungsschriften aufgrund ihrer Geschichtlichkeit und Kontingenz einen ernsthaften Wahrheitsanspruch nicht zubilligen kann. Für ihn ist »alle historische Gewiß-
10
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Oies unterscheidet Lessing von zeitgenössischen Neologen und Deisten. die mit Hilfe der historischen BibelJcritik bzw. durch den Nachweis der Unmöglichkeit einer göttlichen Offenbarung versucht haben., sich des Wahrheitsprob1ems zu entledigen. Vgl. dall! Smend, Lessing, 309. Lessing, Über den Beweis. 443. Ebd.. 441. Ebd. Ebd. Ebd.
16 Elxt.44O.
17 Lessing antwortet mit seiner Schrift Oberden ßeM'eisdes Geislt!S und der Kroj/ auf eine AbhandJung des Theologen und Gymnasialdirelclors Johann Daniel Schumann, die den TitelOberdie E~idenz der Beweisefor die Wahrheit der dlriJllidlen RL!igkm trägt. 18 Lessing, Ober den Beweis. 440.
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heil viel zu schwach« 19, als dass sie etwas beweisen könnte, das außerhalb des Historischen selbst steht. Um den Wahrheit,begriff in bezug auf die Offenbarungsschriften dennoch nicht ganz aufgeben zu müssen, differenziert Lessing zwischen dem »Buchstaben«20 und dem »Geist«21 der Bibel, zwischen einer äußeren und einer »inneren Wahrheit«22 der schriftlichen Überlieferungen. 23 Als Geist und innere Wahrheit versteht er denjenigen Teil der biblischen Texte, >>der Religion ist«24. Die Religion ist dabei nicht notwendig, sondern nur zuf:illig an die biblischen Texte gebunden. Dies zeigt sich für Lessing unter anderem an der Tatsache,
dass die christliche Religion bereits vor der Abfassung der biblischen Texte ()~he eine Bibel war«2J) existiert hat. Nach seiner Auffassung muss es deshalb »3uch mögtich sein, daß alles, was Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren gänge. und die von ihnen gelehrte Religion doch bestände.«26 Es handelt sich bei der inneren Wahrheit aJso streng genommen nicht um eine Wahrheit der schriftlichen Überlieferungen. sondern um eine Wahrheit der christlichen Religion, die von den schriftlichen Überlieferungen nur getragen wird . 21 Eines der wichtigsten Kennzeichen der inneren Wahrheit der christlichen Religion ist deren ) Vernunftmäßigkeit« 28 . Damit ist zunächst gemeint. dass ein auf den .)Geist der Bibel« 29 ausgerichtetes Christentum sich nicht im Widerspruch zu den Grundsätzen der Vernunft befmdet. »)Wir sind Christen. biblische Christen, vernünftige C hristen. Den woUen wir sehen, der unser Christentum des geringsten Widerspruchs mit der gesunden Vernunft überfuhren kann!«30 Die Widerspruchsfreiheit bedeutet allerdings nicht, dass die innere Wahrheit der christlichen Religion einfach auf »notwendige Vemunftswahrheiteo«l l reduziert 19 Ebd .. 441. 20 Leuins, Gegensätze, 312: den.. Axiomata, 63. 21 Ebd. 22 Lessing, Gegensätze, 313. 2l Vgl. Bohnen, Geist und Buchstabe; Bollac her, Lessing: Vernunft und Geschichte. 130-157. 24 Lessing, Axiomata, 63 . 25 Lessins. Gegensätze, 312. 26 Ebd.• 313. 27 Lessings Formulierungen sind in diesem PunkI nicht SO eindeutig, wie man vieUeicht denken könnte, Der Begriff der »inneren Wahrheit_ bezieht steh sowohl auf die Religion als auch auf die schriftlichen Überlieferungen. Wahrend der in den Gegmstitzm formulierte Satz »Aus ihrer lnnem Wahrheit mflssen die schril'Uk.hen Überlieferungen erklärt werden. und alle schriftlichen Überlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben. wenn $le keine hat_ (Gegensätze, 313) die innere Wahrheit der Religion meint, spricht Lessing in den Axiomata von der »inneren Wahrheit eines geoffenbarten Satze~ (Axiomata, 79). 28 Lessing, Axiomata, 81 . 29 Ebd.,63. 30 Lessing, l'Zu Reimarus: Von Dukluns der DeistenJ. 133. 31 Lessing. Über den Beweis. 441 .
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werden kann, obwohJ Lessing diese den kritisierten »zufälligen Geschichtswahrheiten« gegenübersteUt. Lessings Auffassung ist auch in diesem Punkt wo einiges komplizierter und unterscheidet sich deutlich von rationalistischen oder deistischen Positionen. So hält Lessing im Gegensatz zu dem >ungenannten< Theologen und Orientalisten Hermann Samuel Reimarus an einem Offenbarungsbegrifffest, der nicht mit dem VernunftbegriffzusammenfaJJt. »Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?«)2 Lessing stellt zwar einerseits die Nichtidentität von Vernunft und Offenbarung fest, aber im Gegenzug startet er die Vernunft mit einem Entscheidungsmonopol aus und räwot ihr damit eine VorrangsteUung gegenüber der Offenbarung ein: »Ob eine Offenbarung sein kann, und sein muß, und welche von so vielen, die darauf Anspruch machen, es wahrscheinlich sei, kann nur die Vernunft entscheiden.«)) Die Verwendung des Adjektivs »wahrscheinlich«, die eine letzte Gewissheit ausschließt, bezieht sich wohJgemerkt nur auf die Pluralität der Offenbarungsansprüche (mit denen die unterschiedlichen positiven Religionen gemeint sind), nicht aber auf die viel grundsätzlichere Frage, ob eine Offenbarung )}sein kann, und sein muß«. Erkennbar wird an dieser Stene, dass sich Lessings Argumentation gegen zwei Gegner richtet . Gegen den Rationalismus und den Deismus betont er die Nichtidentität von Vernunft und Offenbarung, gegen die lutherische Orthodoxie fuhrt er die Vorrangstellung der Vernunft ins Feld. )4 Diese doppelte Gegnerschaft fuhrt Lessings Texte zuweilen hart an die Grenze der Paradoxie. Wrr werden dies später auch bei der Eniehung des Menschengeschlechts sehen. Doch nicht nur das Festhalten an einem von der Vernunft verschiedenen Begriff der Offenbarung verdeutlicht den Vorbehalt Lessings, die innere Wahrheit der Religion in rationalistischer Weise auf »Vernunfts wahrheiten« zu reduzieren. Einer solchen Reduktion steht vor allem sein lnteresse am »Praktischen«)S des Christentums entgegen. Es ist dieses Interesse, durch das der Wahrheitsanspruch der biblischen Offenbarungsschriften bei Lessing am stärksten relativiert wird. Die innere Wahrheit der Religion erschöpft sich bei weitem nicht in dem, was von ihr in den biblischen Texten enthalten ist. Sie manifestiert sich nicht nur in den überlieferten Texten der Bibel, sondern auch und vor allem in einem >gelebten< Christentum. Diese Ausrichtung auf das »Praktische« des Christentums ist in Lessings Werk von Beginn an vorhanden. Schon in seinen um 1750 entstandenen Gedanken über die Herrnhuter mahnt er im Blick auf die Geschichte des Christentums an, dass »das ausübende Christentum von Tag zu Tag abgenommen hat, da unterdessen das beschauende durch phantastische Grillen und menschliebe Erweiterungen zu einer Höhe 32 Lessing, Gegensätze, 316. 33 Lessing, Gegensätze, 316. ) 4 Vgl. dam grundlegend Schilson, Geschichte. )5 Lessing, Das Testament Johannis, 453.
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stieg, zu welcher der Aberglaube noch nie eine Religion gebracht hat.«16 Und bereits in diesem frühen Fragment schließt die Kritik am Christentum, bei dessen Siegeszug nach Lessing die theoretische und die praktische Seite immer weiter auseinandergefaJlen sind, zumindest indirekt die Kritik an einer einseitigen Wahrheitsorientierung ein: »Der Aberglaube fiel . Aber eben das, wodurch ihr ihn stürztet, die Vernunft, die so schwer in ihrer Sphäre zu erha1ten ist, die Vernunft führte euch auf einen andem Irrweg, der zwar weniger von der Wahrheit, doch desto weiter von der Ausübung der Pflichten eines Christen entfernt war.(17 Das Christentum hat nach Lessings Auffassung mit einer christlichen Praxis nicht mehr viel zu tun . Das Verhältnis zwischen Theorie (»Wahrheit«) und Praxis (»Ausübung«) ist aus dem Gleichgewicht geraten. In den Blickpunkt der Kritik rückt damit die Theologie insgesamt, die sich nach Lessings Auffassung isoliert mit theoretischen Wahrheitsfragen beschäftigt und durch die Erforschung der Offenbarungsschriften den wesentlichsten Teil der christlichen Religion außer Acht gelassen hat. Die in Lessings Spätwerk vor allem in den Streitschriften mit Goeze exponierte Unterscheidung zwischen dem »)Theologen« und dem »Christen« hat hier ihren tieferen Sinn. 38 Es geht Lessing dabei nicht allein um eine Rechtfertigung seiner von der SchuJtheologie abweichenden Schreibweise, sondern auch darum, den )Mehrwert( des Christen herauszustellen: »Ich habe noch immer die besten Christen unter denen gefunden, die von der Theologie am wenigsten wußten.«3\! Verbunden ist mit der Theologiekritik auch die Kritik an einem falsch verstandenen Christentum, das sich der theologisch beglaubigten Autorität der biblischen Offenbarungsschriften unterwirft . Wenn der wertvollste Teil der christlichen Religion nicht in den biblischen Texten, sondern im Leben zu finden ist, wenn die innere Wahrheit der Religion etwas anderes ist als theoretische und abstrakte Wahrheit, dann muss nach Lessing ein recht verstandenes Christentum nicht nur zur Theologie Abstand haJten; es muß sich letztlich von den Texten selbst abwenden und deren Wahrheitsanspruch weniger wichtig nehmen . 4O In diesem Verständnis des Christentums manifestiert sich der veränderte Wahrheitsbegriff Lessings: Die innere Wahrheit der christlichen Religion. die »keiner Beglaubigung von außen bedarf «41, ist eine Wahrheit auf dem Gebiet des »Praktischen« . Bei Lessing rückt deshalb ganz die Subjektivität des Christen und dessen Lebensvollzug ins Zentrum : »Was gehen den Christen des Theologen Hypothesen. 36 1 essin&. Gedanken, 940. 17 I enmg, Gedanken, 941. 18 Vgi. etwa Lessing, Axiomata, 83.
l\! Ebd~ 87. 40 In Lessiogs Drama NarJum der Wdse manifesrien sich diese Abwendung von den Texten beispielsweise in einer Aussage Reclw. der PfIegetochler Nathans. gegenüber der Schwesler des Sultans: ~Mein Valer liebT I Die kalle Buchgelehrsamkeit. die sich I Mit toten Zeichen ins Gehirn drüclcl l Zu wenig.1( (V. 6). 41 Lessing, Axiomata, 79.
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und Erklärungen, und Beweise an? lhm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so seüg fühJet.( 42 Die weitreichenden Konsequenzen, die sich aus dem veränderten Wahrheitsbegriff der Spätschriften Lessings ergeben, soUen hier nicht weiter verfolgt werden .4) Soviel dürfte aber klar geworden sein: Die Abwendung von theoretischen Wahrheitsfragen ist als der eigentliche Grund anzusehen, warum Lessing auch dem Wahrheitsanspruch von Texten wie der Johannesapokalypse so distanziert gegenübersteht. Die Hinwendung zum »Praktischen«, zum »ausübenden Christentum<<, lässt gerade diejenigen Texte des biblischen Kanons, die in heilsgeschichtlicher Perspektive von der Zukunft der Menschheit in der diesseitigen und jenseitigen Welt handeln, als vernachlässigenswert erscheinen. Lessings Position in dieser Frage ist klar und eindeutig: »Wenn es auch wahr wäre, daß es eine Kunst gäbe, das Zukünftige zu wissen, so soUten wir diese Kunst lieber nicht lernen. Wenn es auch wahr wäre, daß es eine Religion gäbe, die uns von jenem Leben ganz ungezweifeit unterrichtete, so soUten wir lieber dieser Religion kein Gehör geben.((44
III. Vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten muss es überraschen, dass Lessing in seiner Erziehung des Menschengeschlechts auch und gerade jenes Zukünftige in theoretischer Absicht behandelt, von dem er sich eigentlich abwenden will. Für unseren Zusammenhang ist dabei die Frage entscheidend, ob Lessings Text in bezug auf die Zukunft der Welt und das Ende der Geschichte nicht in ähnlicher Weise wie die Johannesapokalypse einen unbezweifelbaren Wahrheitsanspruch erhebt. Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten und erfordert eine genaue Analyse dessen, was man die »Sprechsituation« des Lessingschen Textes nennen könnte. Dass die Analyse dabei nicht unabhängig von der inhaltlichen Konzeption des Textes erfolgen kann, dürfte sich von selbst verstehen. Mit dieser Analyse kann nicht zu)etzt gezeigt werden, dass die Erziehung des Menschengeschlechts unter den Spätschriften Lessings tatsächlich eine gesonderte SteUung einnimmt. Die 1780 erstmals vollständig veröffentlichte Erziehungsschrift, für die Lessing nur die Herausgeberschaft beansprucht - und somit seine Autorschaft verschweigt -, entwirft in hundert Paragraphen die Geschichte der Erziehung des Menschengeschlechts als Abfolge dreier Zeitalter. Die in diesen drei Zeitaltern stattfindende Erziehung der Menschen wird jeweils durch eine andere Religion bestimmt. Die Religionen werden dabei in Analogie zu den unter42 Ebd .. 8S. 4) Vgl. du!! BIbi, Lauter Bilder und Gkichnisse. 44 Le"ina, [Womit sich die geoffenbarte Re.1ig;on ... 1,663.
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schiedlichen Stufen des Lebensalters gesetzt. Dem KindesaJter entspricht in Lessings Entwurf die Religion des Judentums, dem Knabenalter die christliche Religion und dem Mannesalter die Religion eines >>neuen ewigen Evangeliums«
(§ 86)." Die Sprecherposition, von der aus diese Geschichte der Erziehung des Menschengeschlechts erzählt wird, ist nun keineswegs eindeutig zu bestimmen. Einerseits scheint sich der Sprecher am Ende des zweiten Zeitalters zu befinden, also desjenigen Zeita1ters, das von der christlichen Religion geprägt wird . So ist im Text beispielsweise davon die Rede, dass die neutestamentlichen Schriften für die Erziehung des Menschengeschlechts »noch« (§ 64) maßgebend sind bzw. die Menschen gerade erst anfangen, das Neue Testament »entbehren zu können« (§ 72). Andererseits aber macht der Entwurf im Ganzen deutlich, dass das zukünftige dritte Zeitalter vom Sprecher bereits erreicht worden ist. Denn dieser besitzt ein sicheres Wissen davon, dass das Menschengeschlecht in diesem dritten Zeitalter zur ))völligen Außdärung« (§ 80) des Verstandes und zur ))inneren Reinigkeit des Herzens~~ (§§ 80, 61) gelangen wird. Ln den Paragraphen 85 und 86 der Erziehungsschrift heißt es: ))Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums«. (§ 86) ))(S]ie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung«. (§ 85) Die Erziehung des MenschengeschJechts kommt also im Zeitalter des )meuen Evangeliums« zu einem Ende. Die These, die ich in diesem Zusammenhang entwickeln möchte, lautet, dass Lessings Geschichte der Erziehung des MenschengeschJechts ganz von ihrem Ende her zu verstehen ist. Das Ende selbst ist dabei keineswegs apokalyptisch zu nennen, denn Lessings Text imaginiert weder einen gewaltsam-katastrophalen Untergang der Welt noch ein Neues Jerusalem. Gleichwohl nimmt, wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird, Lessings Text die Form einer apokalyptischen Rede an. Die Notwendigkeit, Lessings Text vom Ende her zu verstehen, ergibt sich aber zunächst aus konzeptionellen Gründen. Denn das Prinzip, das der Text am Ende der menschheitlichen Entwicklung verwirklicht sieht: die Vernunft, steUt von Beginn an die entscheidende Prämisse dar. Nicht nur wird unter dieser Prämisse die gesamte Geschichte des MenschengeschJechts betrachtet, nicht nur wird der Blick zurück auf die Geschichte allein vom Vemunftprinzip bestimmt. Die Vernunft erscheint auch als die von Beginn an wirksame Kraft, von der sich die üblicherweise entgegengesetzte Offenbarung, die die Vernunft transzendiert, nicht grundJegend unterscheidet. In § 4 der Erziehungsschrift heißt es: Erziehung giebt dem Menschen nichts, was er nicht auch aus sich selbst haben könnte: sie giebt ihm das, was er aus sich selber haben könnte, nur geschwinder und leichter. Also giebl auch die Offenbarung dem MenschengeschJechte nichts, wo rauf 45 Lessings Text wird nach der Werkausgabe des Deutschen Klassiker Verlags zitiert: Lessing, Erziehung, 73- 99. ZitatMchweise im folgenden unter Angabe der Paragraphenzahl im Te"'.
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die menschliche Vernunft, sich selbst übeTlassen, nicht auch kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher.
Diese Prämisse gilt es in aDer Radikalität zu bedenken. Denn sie wird, anders als in der (theologischen) Lessing-Forschung oftmals behauptet,46 an keiner SteDe des Textes wirklich durchbrochen. Zwar gibt es, wie Lessing in § 7 ausfUhrt, einen anf3nglichen Eingriff Gottes aus der Transzendenz, der die Erziehung des jüdischen Volkes und damit indirekt die Erziehung des Menschengeschlechts anstößt. Das bedeutet nach Lessing aber keineswegs, dass es fiir die Menschheit nicht auch möglich wäre, sich ohne göttliche Erziehung fortzuentwickeln. Genau diese Möglichkeit wird in § 20 thematisiert: Während daß Gott sein erwähltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung führte: waren die anderen Völker bei dem Lichte der Vernunft ihren Weg fortgegangen. [.. .1Und auch das geschieht bei Kindern, die man für sich aufwachsen läßt : viele bleiben ganz roh; einige bilden sich zum Erstaunen selbst.
Der Eingriff Gottes, der als Beginn der Erziehung und Offenbarung - heide Begriffe sind fur Lessing austauschbar - die Geschichte der positiven Religionen in Gang setzt, dieser Eingriff ist aJso im strengen Sinne nicht notwendig für Vernunftentwicklung des Menschen. Doch die Erziehungsschrift wäre kein Lessingscher Text, wenn nicht im Gegenzug auch von der geschichtlichen Notwendigkeit der göttlichen Erziehung die Rede wäre. Gleich im nächsten Paragraphen betont Lessing, dass die Vernunftentwicklung nur auf dem Wege göttlicher Erziehung so zügig voranschreiten konnte. Die Prämisse, dass die Vernunft von Beginn an als eine wirksame Kraft tätig ist, hat in Lessings Text drei Symmetrisie.rungsbewegungen zur Folge. Diese betreffen die positiven Religionen (von Judentum und Christentum), die Offenbarung und Gott und sind für die Struktur des Textes von zentraJer Bedeutung. Alle drei, die positiven Religionen, die Offenbarung und Gott, verlieren im Hinblick auf die Vernunft ihren übergeordneten Status. Neben sie tritt, mindestens gleichberechtigt, die Vernunft bzw. der Verstand (Lessing verwendet auch diese beiden Begriffe meist synonym). Beginnen wir mit den positiven Religionen, deren Geschichte - inhaJtlich gesehen - den größten Teil der Erziehungsschrift ausmacht. Eine erste Relativierung ist bereits darin gegeben, dass die Vernunftentwicklung nicht zwingend notwendig an die von Gott angestoßene Einrichtung der Religion gebunden ist, auch wenn sie - rückblickend - im geschichtlichen Prozess de foeto an diese gebunden war. 47 Der institutionenkritische Gedanke, den Lessing vor allem in Vgl. Thielicke., Offenbarung, der die theologische Lessing-Forsc.hung maßgeblich bestimmt hat. 47 Die Faktizität steht im Zentrum des vieldiskutierten § 77, der sich nur scheinbar" im Widerspruch zum behandelten § 4 befmdet. In § 77 wird die Frage gestellt, warum das MenschengeschJecht ~nicht auch durch eine Religion~ auf jene Hbesseren Begriffe.: von Gott und den Menschen geleitet werden kann, ~auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre.:. 46
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seinen Freimaurer-Gesprächen Emsl und Folk entwickelt, findet also auch in der Erziehungsschrift seine Anwendung. 48 Zugleich wird von Lessings Text die Frage aufgeworfen, ob die positive Religion überhaupt einen über die menschliche Vernunft hinausgehenden Gehalt besitzt. Zwei Textpassagen zeigen, dass Lessing diese Frage zwar nicht kategorisch, aber doch dem Sinn nach verneint . Die erste Textpassage betrifft: den Stellenwert der Offenbarungsschriften, die bekanntlich den Wahrheitsanspruch einer positiven Religion maßgeblich mitbcgt ünden. Zu den Schriften des Neuen Testaments fUhrt Lessing in § 65 aus: Sie [die neutestamentlichen Schriften, J.B.] haben seit siebzehnhundert Jahren den menschlichen Verstand mehr als alle andere[n] Bücher beschäftigt; mehr als andere Bücher erleuchtet, soUte es auch nur das Licht sein, welches der menschliche Verstand selbst hineintrug.
Nach Lessing ist es aJso durchaus möglich, dass der menschliche Verstand der Initiator seiner Beschäftigung mit sich selbst und seiner eigenen Erleuchtung gewesen ist. Dies ist nicht aJs Zirkelschluss zu verstehen, sondern bringt die Vorstellung eines Kreislaufs zum Ausdruck, in den auch die Offenbarungsschriften eingesch10ssen sind und dessen Immanenz an keiner Stelle durchbrochen wird. Die zweite Textpassage fmdet sich im })Vorbericht des Herausgebers«, in jenem Textteil aJso, für den Lessing mit seinem Namen verantwortlich zeichnet. Dort stellt der Herausgeber am Ende die rhetorische Frage, ob wir in allen positiven Religionen )}nicht lieber weiter nichts« aJs den Gang des menschlichen Verstandes erblicken sollten. 49 Angesichts des propositionalen Gehalts, der sich hinter jeder rhetorischen Frage verbirgt, kann man diese Äußerung aJs Empfehlung und als Leseanweisung werten, die im nachfolgenden Haupttext beschriebenen Religionen in genau dieser Weise zu verstehen. Ich führe die von Lessings Text vorgenommene Reduktion der Religion auf den Verstand bzw. die Vernunft. nicht deshalb an, um Lessing als den Befiirworter einer natürlichen oder Vernunftreligion auszuweisen. Es geht vielmehr darum, deutlich zu machen, dass die Vernunft nicht nur am Ende der vom Text geschilderten Entwicklung steht, sondern gewissermaßen den Konstitutionspunkt der erzählten
Hervorhebenswen ist an dieser TextsteIle nicht nur, dass sich das Won »nimmermehr« plausibel als Hyperbel interpretieren lässt, d.h. in der Bedeutung eines )sehr lange nicht( verstanden werden kann (vgl. DöIT, Offenbarung, 40). Die Fonnulierung »nicht auch« macht darüber hinaus deutlich, dass die geoffenbane »Religion« in bezug auf die Vemunftentwickung des Menschen keinen Ausschüeßlichkeitsanspruch erheben kann. Mit Blick auf § 17 liegen also gute Gründe vor, zwischen der faktischen , d.h. geschichtlichen Bedeutung der positiven Religionen und ihrer Nicht-Notwendigkeit im strengen Sinne genau zu unterscheiden. 48 Vgl. dazu Schneider, institution und Intimität. 49 Diese Äußerung, die vom ItHerausgeber4!, nicht vom »Verfasser« der Erriehungsschrift: getroffen wird. ist mit dem (relativierenden) Zusatz verbunden, dass sich der Verstand - geschichtlich gesehen - »eirulg und allein« auf diese Weise hat entwickeln können. Vgl. auch Anm.S8.
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Geschichte selbst bildet. Von diesem Konstitutionspunkt aus bekommen die Offenbarung und letztendlich auch Gott ihren Platz angewiesen. Dass die Vernunft gegenüber der Offenbarung mindestens gleichberechtigt ist, macht schon die Auflösung des Offenbarungsbegriffs in den Erziehungsbegriff deutlich, die ganz am Anfang des Textes erfolgt. In den ersten beiden Paragraphen heißt es: Was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte. Eniehung ist Offenbarung, die dem einzelnen Menschen geschieht: und Offenbarung ist Erziehung, die dem ganzen Menschengeschlechte geschehen ist, und noch geschieht.
Insofern die Erziehung dem Menschen nichts gibt, )~was er nicht auch aus sich selbst haben könnte« (§4), und Offenbarung Erziehung des Menschengeschlechts ist, überschreitet we Gabe der Offenbarung (»Also giebt auch die Offenbarung ... «. § 4) zu keinem Zeitpunkt we Immanenz der vernunftmäßigen Erziehung. Daran ändert sich auch nichts durch die bereits angeführte Vorstellung des Textes, dass Gott aus der Transzendenz den Anstoß zur Erziehung gegeben habe. Denn es verhält sich nicht so, dass die Transzendenz Go«es dadurch in die lmmanenz der Welt hineingeholt würde und dort als eine in die Immanenz hineinragende bestehen bliebe. Vielmehr erscheint Go« in Lessings Text den Bedingungen der Immanenz unterworfen, insofern er nichts gibt oder mi«eilt, »worauf die Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde« (§4). so Dass Gott den Bedingungen der Immanenz unterworfen ist, wird vorn Text als notwenwg angesehen. Dies unterscheidet Lessings Text grundlegend von den in der Aufklärung so beliebten Akkommodationstbeorien. Wenn im Text etwa davon die Rede ist, dass »Go« bei seiner Offenbarung eine gewisse Ordnung, ein gewisses Maß hat halten müssetH< (§ 5), so geht dies über die Vorstellung einer Anpassung der gönlichen Offenbarung an das begrenzte Erkenntnisvermögen der Menschen hinaus. Wenig später bezeichnet der Text den - fiir möglich gehaltenen - Mangel an Ordnung und Maßhalten bei der Erziehung und Offenbarung als den »Fehler eines eitlen Pädagogen, der sein Kind lieber übereilen und mit ihm prahlen, als gründlich unterrichten will.« (§ 17) Hier passt sich kein Gott freiwillig und aus eigener Machtvollkommenheit an das Erkenntnisvermögen der Menschen an, sondern weser Gott gerät mit seiner Offenbarung unter den Zwang einer Anpassung an die alles vorgebende Vernunft. Zu erinnern ist an den bereits zitierten Satz Lessings, der in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung ist: »Ob eine
so Der mögliche Einwand. Gott könnte in der Offenbarung nicht »etwas_, sondern l+$ich... mitgeteilt oder gegeben haben, kann vor diesem Hintergrund zuruckgewiesen werden. Denn die als &ziehung verstandene Offenbarung gib« oder teilt schlechterdings nichts mit, was vom Menschen verschieden ist oder ihn übelSteigt. Dies konzediert selbst ThieHcke,. Offenbarung, 34.
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Offenbarung sein kann, und sein muß, [... 1, kann nur die Vernunft entscheiden.«si Ln eine ähnliche Richtung geht ein Satz aus den AxiOmalQ Lessings, den man ebenfalls in seiner ganzen Tragweite bedenken sollte: »)Auch das, was Gott lehret, ist nicht wahr, weil es Gott will: sondern Gott lehrt es, weil es wahr iSt.«S2
Die in Lessings Text vorgenommene Einsetzung der Vernunft aJs eine alles vorgebende Prämisse bedeutet dabei keineswegs, dass die Vemunftentwicklung des Menschengeschlechts kontinuierlich und ohne Brüche vonstatten geht. Der innergeschichtliche Sinn des göttlichen Anstoßes einer Erziehung und der innergeschichtliche Sinn der damit verbundenen Einrichtung der positiven Religionen bestehen ja gerade darin, den Entwicklungsprozess der Vernunft in geordnete Bahnen zu lenken und - zeitlich gesehen - abzukürzen . Den ersten Bruch in der VemunftentwickJung hat es Lessings Text zufolge bereits vor dem Beginn der göttlichen Erziehung des jüdischen Volkes gegeben. In § 6 schildert der Text ein anfangliches Scheitern im Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Dort heißt es, dass von Gott »der erste Mensch mit einem Begriffe von einem Einigen Gotte sofort ausgestattet wurde« (§ 6), dieser Begriff aber nicht lange bestehen geblieben wäre. Als Grund fiir dieses Scheitern fUhrt der Text zunächst die )~sich selbst überlassene mensch1iche Vernunft« (§ 6) an, die den Beg; iff des Einigen Gottes )~zerlegt« (§ 6) und sich damit auf den Irrweg der »Vielgötterei und Abgötterei« (§ 7) begeben hat. Auf diesem Irrweg wäre die mensch1iche Vernunft, so Lessings Text weiter, vermutlich sehr lange geblieben, wenn sich nicht Gott der Erziehung des jüdischen Volkes zugewandt hätte. So weit die ohne weiteres einleuchtende Beschreibung des Textes. Es gibt aber auch eine andere Lesart, die sich dem Beschriebenen nicht so recht fügen will und fUr die es im Text unterschwellige, aber doch vernehmliche Anhaltspunkte gibt. In dieser Lesart gerät Gott zumindest implizit in den Verdacht, bei seiner Offenbarung gegenüber dem »ersten Menschen« einen Fehler begangen zu haben . Lessings Text spricht davon, dass diese anfangliche Offenbarung auf einem »mitgeteilte[n] und nicht erworbene[n] Begriff« (§ 6) Gottes basien habe und genau aus diesem Grund keinen Bestand haben konnte. In der hier getroffenen Unterscheidung zwischen einer bloßen »Mitteilung« und einer »Erwerbung« manifestiert sich nichts anderes als die Kritik des Lessingschen Textes arn Begriff einer übernatürlichen Offenbarung, die aufgrund der Autorität Gottes nur angenommen oder abgelehnt, nicht aber »erworben« werden kann. 53 Dieser Kritik: muss sich in Lessings Text auch der bloß ) mitteilende« Gott unterziehen, weil er der menschlichen Vernunft 51 L..essing, Gegensätze, 316. - Dörr. Offenbarung, 40. spricht in diesem Zusammenhang davon, dass das Recht der göttlichen Offenbarung ~ausgehöhlt« ist. 52 L..essing, Axiomata., 78. 53 Zu Il'ssings Kritik am Begriff einer übernatürlichen Offenbarung vgl. Cassirer, Die Idee der Re1igjon, 36(.; vgI. auch BoI1acher. Geschichte und Aufklärung, 138.
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nicht ausreichend Gelegenheit gegeben hat, die Offenbarung vernunftmäßig zu erwerben oder, was die Sache wohl eher triffi, weil er es versäumt hat, die übernatürliche Offenbarung in einen natürlichen Erwerbungsvorgang umzuformen. Ganz in diesem offenbarungskritischen Sinne ist auch eine spätere Textstelle zu verstehen, derrufolge wir die im Neuen Testament enthaJtenen Wahrheiten »aJs Offenbarungen so lange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren anderen ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lemen( (§ 72) kann. Insofern wird es von Lessings Text nicht ausgeschlossen, in der gescheiterten Mitteilung der Offenbarung am Anfang den angeführten »Fehler« der Übereilung zu sehen. Jedenfalls macht die vom Text vorgetragene Kritik an einer bloß »mitgeteilten« Offenbarung noch einmaJ deutlich, dass Gott selbst unter den Zwang einer Anpassung an die Vernunft gerät.
IV. Wenn in Lessings Text die Vernunft aJs Konstitutionspunkt der gesamten Geschichte gedacht wird, von dem aus nicht nur Aussagen über das zukünftige Endziel einer »völligen Außdärung« (§ 80), sondern auch Aussagen über die Funktion Gottes bei der Erreichung dieses Endziels möglich sind, dann hat das gravierende Auswirkungen auf die Fonn der Darstellung: Der Sprecher erhebt mit seiner Darstellung den Anspruch, einen Überblick über das »Ganze« der Geschichte zu besitzen. S4 Man kann diesen Anspruch auch aJs Reaktion auf ein »Darstellungsproblem(( verstehen, das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts nicht nur im Umkreis der gerade im Entstehen begriffenen Geschichtsphilosophie verhandelt wird. So heißt es etwa in Friedrich von Blanckenburgs Ver.such übe, den Roman, der 1774, also sechs Jahre vor Lessings Erziehungsschrift, erschienen ist: Wrr sehen eine. bis ins Unendliche fortgehende Reihe verbundener Ursachen und Wrrkungen : ein in einander geschJungenes Gewebe. das, wenn es aus einander zu wickeln wäre, ganz ununterbrochen einen Faden enthielte; oder vielmehr dessen verschiedene raden sich alle in einen Anfang - die Weisheit des Schöpfers vereinen, und dessen Ende vielleicht in unser höhem Vervollkommnung ... doch wer kann dies, wer das Ganze übersehen?ss
Man könnte sagen, dass der Anspruch von Lessings Erziehungsschrift genau darin besteht, den bei Blanckenburg durch die Auslassungspunkte freigehaltenen Raum ausgefUUt und somit dessen Frage beantwortet zu haben.
54 Der folgende Abschnitt verdankt sich weitgehend Jürgen Fohrmanns Übertesun8en zum Pr0blem der DarstelJung. vgt. Fohrmann, Gr-enz.e der Politischen Theologie. 30r. ss Blanckenburg, Versuch über den Roman, 313.
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Der in dieser Weise von Lessings Text erhobene Anspruch wirft jedoch ein neues Problem auf. Denn die Übersicht über das Ganze ist nur von außen, d. h. von einer Position aus möglich, die das übersehene Ganze transzendiert . Das bedeutet, dass die Vernunft, die in Lessings Text vom Beginn bis zum Ende der Geschichte - vom anfanglichen Scheitern der bloß )~mitgeteilten« Offenbarung bis zum Endzustand einer »völligen Aufklärung« - das konstituierende Prinzip ist, dass diese Vernunft vom Sprecher selbst noch überschritten sein muss . Der Sprecher nimmt, mit anderen Wo rten, der Vernunft gegenüber eine transzendente Position ein. Eine solche Überschreitung, die notwendig ist, um das Überschrittene als leitendes Prinzip und als Endziel der Geschichte überhaupt angeben zu können, ist zunächst das Kennzeichen geschichtsphilosophischer Texte. Der Philosoph Karl Löwith hat in seinem Buch Weltgeschichte und Hei/geschehen zu zeigen versucht, dass diese geschichtsphilosopruschen Texte ein theologisches Funda· ment besitzen. Das theologische Fundament manifestiert sich dabei vor allem in der Annahme eines ~)Ietzten Sinns der Geschichtec<56, die auf das jüdische und christliche Geschichtsdenken zurückgefiihrt werden kann. In dieser theologisch fundierten Annahme der Geschichtsphilosophie sieht Löwith einen übersteigerten Anspruch am Werk: Nach dem letzten Sinn der Geschichte ernstlich zu fragen, überschreitet alles Wis· senkönnen und verschlägt uns den Atem: es versetzt uns in ein Vakuum. das nur Holfnung und Glaube auszufüllen vermögen. 57
indem geschichtsphilosophische Texte nach dem ~)Ietzten Sinn« der Geschichte nicht nur fragen, sondern zugleich behaupten, diesen gefunden zu haben, ruDen sie das von Löwith benannte»Vakuum« aus. Die entscheidende Frage ist dabei, ob dies aDein durch »Hoffnung und Glaube« oder aber nicht auch durch den Anspruch auf ein übernatürliches Wissen geschieht, das alles weltliche ») Wis· senkönnen« überschreitet. Dieser Anspruch kennzeichnet zumindest Lessings Text, und es ist dieser Anspruch, der den geschichtsphilosophischen Text Les· sings von der Form her zu einem apoka1yptischen werden lässt. Die Transzendenz der Sprecherposition gegenüber dem Ganzen der Geschichte, das, wie gezeigt wurde, voDständig unter der Prämisse der Vernunft steht, führt den Anspruch auf ein übernatürliches Wissen mit sich. Dieses Wissen enthüllt und entdeckt nichts anderes als die bisher unbekannte, im Ver· borgenen gebliebene Wahrheit über die Zukunft der Welt und das Ende der Geschichte. 51 Der Sprecher des Lessingschen Textes tritt damit in Konkur56 Löwith, Weltgeschichte, 13; vgl. auch Löwith, Vom Sinn der Geschichte. 57 Löwith. Weltgeschichte, 13 f. 51 Dass es dem Sprecher - dem . Ve-rfasser« - von WSlngs Tut wn t"ine solche Enthüllung und Entdedrung geht, macht schon der . Vorbericht des Herausgebers« deutlich. Die dort vorge-nommene Rdalivierung, dass dem Sp~her die »UnmTIe81iche Felhe ~~ Itweder ganz verhüllt noch ganz e-ntdeckt« t'rSCheint, ist dabei eindeutig der Position des . He-rausgebe~ geschuldet.
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renz zu anderen Sprechern, die ebenfalls den Anspruch erheben, die Wahrheit über die Zukunft der Welt und das Ende der Geschichte zu enthüllen. Zu denken ist hier natürlich vor allem an den Sprecher der Johannesapokalypse, dessen Text zumindest aus christlicher Sicht ein Deutungsmonopol in Fragen der Zukunft und des Endes besitzt. Der Einwand, dass es sich hierbei um eine höchst ungleichgewichtige Konkurrenz handelt, weil die Johannesapokalypse zum biblischen Kanon gehört und damit eine höhere Autorität besitzt, trägt nicht sonderlich weit. Denn selbst wenn sich der Verfasser der Johannesapokalypse auf göttliche Inspiration berufen mag, so bleibt doch aus Lessings Sicht die Johannesapokalypse immer nur ein von Menschen verfasster Text. Schwerer wiegt da schon die Tatsache, dass es sich bei dem von Lessings Text vorgestellten Ende um eine innerweltliche Vollendung, bei dem von der Johannesapokalypse imaginierten Ende jedoch um einen jähen, gewaltsamen Untergang der bisherigen Welt handelt. 59 Umso überraschender ist es aber, dass trotz dieses bedeutenden inhaltlich-konzeptionellen Unterschiedes Lessings Text wichtige Parallelen zur Johannesapokalypse aufweist. Diese zeigen sich vor allem im Hinblick auf die Frage, welche Auswirkungen das dargestellte Ende - ob Vollendung oder Untergang - auf die Form der Darstellung, auf die Redeweise des Textes selbst hat. Es ist das große Verdienst von Derridas Analyse des apokalyptischen Tons, dass sie als erste den Blick von einer rein inhaltlichen Bestimmung des Endes auf die Untersuchung dieser Frage gelenkt hat. Im Anschluss an Derridas Analyse, die lmmanuel Kants Text Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie mit der Johannesapokalypse in Beziehung setzt, lässt sich die These entwickeln, dass sich der apokalyptische Text durch die Vermischung zweier Ansprüche konstituiert. Der Anspruch des Textes, die Wahrheit über das Ende der Geschichte zu enthüllen, vermischt sich aufgrund seiner eigenen Textualität, über die er niemals hinauskommen kann, mit dem Anspruch, selbst diese Wahrheit zu sein. Wenn beispielsweise am Ende der Jobannesapokalypse gesagt wird: »Diese Worte sind gewiß und wahrhaftig« (O!lb 22,6), dann beansprucht dieser Satz zum einen die unbezweifelbare Wahrheit des zuvor dargestellten Geschehens, zugleich aber die unbezweifelbare Wahrheit der Darstellung selbst, die Wahrheit dieser »Worte<<. Der Text sagt: )Ich sehe die Wahrheit< und er sagt zugleich: >Ich bin die Wahrheit<. Diese Vermischung der Ansprüche hat gravierende Auswirkungen auf die Sprechsituation, denn
die mit der des »Verfassers« keineswegs identisch ist. Letzterer erhebt ja gerade den Anspruch
auf Gewissheit und kennt das Endziel einer »völligen Aufldärung« und »inneren Reinigkeitl<. Vor diesem Hinte'l9und erweist sich die lhese als problematisch, nach der der »Vorbericht des Herausgebers" den gesamten Text in seinem Geltungsanspruch relativien. Diese Sichtweise würde die Position des " Herausgebers« gegenüber der des »Verfa s 5eT$« in unzulässiger Weise privilegieren. Zum »Vorbericht« vgl. Strohschneider-Kohn, Vernunft als Weisheit, 218-237. 59 vgl. dam Vondung, Apokalypse, 37, 57f.
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es geht im FaDe des apoka1yptischen Textes nicht um einen beliebigen Wahrheitsanspruch, sondern um einen solchen, der mit dem Ende der Geschichte in Verbindung steht. Das, was der apokalyptische Text als Wahrheit zu enthüllen beansprucht, ist das Ende der Geschichte. Da er aber zugleich behauptet, selbst diese Wahrheit zu sein, kann man mit einer gewissen Berechtigung sagen, dass sich bereits in ihm - dem apokaJyptischen Text - das Ende der Geschichte ereignet. Oder anders formuliert: In der Wahrheit, die der apokalyptische Text flir sich beansprucht, wird dieses Ende manifest. Bei Derrida heißt es dazu: Es ist nicht allein die Wahrheit als geoffenbarte Wahrheit eines Geheimnisses um
das Ende oder des Geheimnisses des Endes. Die Wahrheit selbst ist das Ende, die Bestimmung, daß die Wahrheit sich enthüllt, ist die Vollendung des Endes. 60
Indem der apokalyptische Text beansprucht, die Wahrheit zu sein, die Wahrheit selbst aber das Ende ist, beansprucht er zugleich, das Ende zu sem. Das dargesteUte Ende - die enthüUte Wahrheit, die immer schon die Wahrheit der Enthüllung ist - bricht gewissermaßen in die Darstellung, in den Text ein und macht diesen zu einem apokalyptischen. Denida nimmt diesen Einbruch vor allem deshalb in den Blick, weil er Kants Text, der ganz im Geist der Aufklärung geschrieben ist, eine apokalyptische Struktur nachzuweisen versucht. 61 An diesem Einbruch des Endes in die Darstellung ist aber - über Kants Text hinaus noch etwas anderes abzuJesen, nämlich die Gewalt des Endes oder vielmehr des Beendens, die im Text selbst vollzogen wird. Man könnte sie die performative Gewalt der apokalyptischen Redeform nennen . Diese performative Gewalt kennzeichnet nicht nur die Johannesapokalypse, sondern auch Lessings Text. Die Transzendenz der Sprecherposition, die mit dem Anspruch verbunden ist, die Wahrheit über die Zukunft der Welt und das Ende der Geschichte zu enthüllen, wurde schon hervorgehoben . Ebenso der in den Paragraphen 85 und 86 erhobene Anspruch auf Gewissheit, dass diese Zukunft und dieses Ende auch wirk1ich eintreten: »Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums«. (§ 86) »[S1ie wird kommen, sie wird gewiß kommen, die Zeit der VoUendung«. (§ 85) Interessant ist nun, dass der Anspruch auf Wahrheit und Gewissheit nicht einfach nur erhoben wird, sondern mit der Zurückweisung anderer Anspruche verknüpft ist. Diese anderen Anspruche werden von Lessings Text selbst benannt. [hre Benennung erfolgt aber nur, damit sie um so schärfer zurückgewiesen werden können . Sie äußern sich in Zweifeln, ob das vom Text vorgestellte Endziel einer »Völligen Aufklärung« und »inneren Reinigkeit« wirklich vorhanden ist und ob die geschilderte Vemunftentwicklung des Menschengeschlechts dieses Endziel wirklich erreicht. Diese Zweifel werden vom Text mit einem einzigen Wort zum Verstummen gebracht. Es taucht an zwei Stellen des 60 Derrida, Apokalypse, 64. 61 Vgl. dam den Beitrag von Torsten Hitz in diesem Band.
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Textes auf und ist in beiden rauen mit einem Ausrufungszeichen versehen. Das Wort lautet: »Lästerung« (§§ 82, 84). Die Verwendung dieses bedeutungsvollen Wortes in Lessings Text ist, so weit ich sehe, noch nie genauer untersucht worden; dabei ist sie fur die Struktur des Textes alles andere als unwichtig. Betrachtet man den Zusammenhang, in dem das Wort zum ersten Mal auftaucht, so scheint dessen Verwendung zunächst unproblematisch zu sein. Der in den
Paragraphen 81 und 82 geäußerte Gedanke, dass die Vernunftentwicklung des MenschengeschJechts ihr Endziel nicht erreichen sone, wird als ))Lästerung« bezeichnet und ist an Gott adressiert : »Oder soll das menschliche Geschlecht auf diese höchsten Stufen der Aufklärung und Reinigkeit nie kommen? Nie?(
(§ 81) »Nie? - Laß mich diese lästerung nicht denken, Allgütiger!« (§ 82) Der Sprecher scheint mit diesem Gedanken Gott zu lästern. Doch ist dies so eindeutig? Was bedeutet es, den Gedanken, dass das Endziel der Vernunftentwicklung nicht erreicht werden soll, als » Lästerung~( Gottes zu bezeichnen? Es bedeutet offensichtlich, dass Gott es nicht zulassen kann, dass das Menschengeschlecht die höchste Stufe der Entwicklung nicht erreicht. Welche Vorstellung von Gott kommt aber darin Ausdruck? Doch wohl auch die, dass es dem Namen eines Gottes spotten würde, wenn dieser verhindern würde, dass die menschliche Vernunft ihr Endziel erreicht. Wie ist es aber um die Freiheit und die Machtvollkommenheit Gottes bestellt, wenn es diesem nicht freisteht, die Vernunftentwicklung des Menschen auf einer niedrigeren Stufe zu belassen? Hier scheint sich dieselbe Kluft aufzutun, die zwischen der freiwilligen Akkommodation Gottes und dem Zwang einer Anpassung an die alles vorgebende Vernunft besteht. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine andere Lesart an Plausibilität. Man könnte die Verwendung des Wortes »)Lästerung« nämlich auch so verstehen, dass die Vernunft selbst gelästert wird, falls ihr die Erreichung des Endziels verweigert wird. Wer lästert dann die Vernunft? Gott selbst wäre, wenn er das Menschengeschlecht nicht auf die höchste Stufe der Vernunft kommen lassen würde, ein Lästerer der Vernunft. Nicht, dass diese Lesart von Lessings Text ernsthaft vertreten würde. Davon zeugt schon der Umstand, dass der als ) Lästerung« bezeichnete Gedanke in die Gestalt einer rhetorischen Frage gekleidet ist. Sichtbar wird hier jedoch, dass die Verwendung des Wortes »Lästerung« dazu dient, um jeden Preis die Gewissheit herzustellen, dass die menschliche Vernunft ihr Endziel erreicht. Jeglicher Zweifel daran - und auch die nicht wirklich in Betracht gezogene Verhinderung des Endziels durch Gott wäre eine »Lästerung« der Vernunft. Der mögliche Vorwurf einer »)Lästerung« der Vernunft bezieht sich zu allererst auf den Sprecher selbst. Dieser verhängt gewissennaßen ein Denkverbot über sich. Durch dieses Verbot, dessen Übertretung eben »Lästerung« wäre, soU der Gedanke ausgeschlossen werden, dass die menschliche Vernunft ihr Endziel nicht erreicht. Der Sprecher bezichtigt sich selbst - zumindest rur einen kurzen Moment - , diesen verbotenen Gedanken geäußert zu haben. Diese Selbstbezichtigung ist aber nur rhetorisch inszeniert, denn sie fuhrt nicht
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zu einer Relativierung der Sprecherposition, sondern dient ausschließlich der Abwehr des zuvor geäußerten Gedankens und festigt damit gerade die Position des Sprechers. Dies wird besonders an der zweiten Textstelle deutlich. In den Paragraphen 84 und 85 wird das Wort ))Lästerung« zudem gleich doppelt verwendet: Darauf [auf die Erreichung eines Endziels, J.B.] zwecke die menschliche Erziehung ab: und die göttliche reiche dahin nicht? Was der Kunst mit dem Einzelnen gelingt, sollte der Natur nicht auch mit dem Ganzen gelingen? lästerung! Lästerung! Nein; sie wird kommen, sie wird gewiß kommen die Zeit der Vollendung.
Die Struktur dieser rhetorischen Lnszenierung dürfte offensichtlich sein. Der Ausruf »Lästerung! Lästerung!« unterbricht und beendet die zuvor in rhetorischer Absicht gesteUten Fragen. Dem Ausruf folgt dann ein indikativischer Aussagesatz, der die Gewissheit des Sprechers über die Erreichung des Endziels zum Ausdruck bringt. An den unterschiedlichen Äußerungsmodalitäten wird deutlich, dass der Sprecher die anfcingliche Position nur dem Schein nach einnimmt. Dies geschieht, um seine tatsächliche Sprecherposition um so stärker hervortreten zu lassen und jeden Zweifel an der Gültigkeit des von ihm Gesagten zurückzuweisen. Angesichts dieser rhetorischen Inszenierung lässt sich sagen, dass die Verwendung des Wortes »Lästerung« - als eine Unterbrechung und Beendigung - nicht im Hinblick auf mögliche Selbstzweifel des Sprechers erfolgt. 62 Sie bezieht sich auf die Zweifel, die von anderer Seite geäußert werden könnten, und erfiillt damit eine viel weitergehende Funktion. Die mit der Verwendung des Wortes intendierte Unterbrechung und Beendigung trifft zunächst den Leser des Textes. Diesem wird vom Sprecher eine vollkommen untergeordnete Position zugewiesen . Jede Entscheidungsfreiheit bei der Bewertung des Textes wird ihm genommen. Er ist gezwungen, die vom Text enthüllte Wahrheit, dass die Vemunftentwicklung das Endziel der höchsten Stufe erreicht, anzuerkennen . Verweigerte er die Anerkennung dieser Wahrheit , würde er sich des schwersten Vergehens schuldig machen: der »Lästerung«. Eine stärkere Form der Unterordnung des Lesers unter den Wahrheits- und
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Vgl. dagegen Schilson, Geschichte, 165. - SchiIson behandelt die Paragraphen 81 bis 100 als eine thematische und stilistische Einheit . Demgegenüber wird hier die These vertreten, dass der untersuchte Anspruch auf Gewissheit in starkem Kontrast zur 'tastenden( Sprache der Paragraphen 91 bis 100 steht, die die Seelenwanderung behandeln. Die letzten zehn Paragraphen verlagern den thematischen Schwerpunkt der Eniehungsschrift von der ko Uektiven auf die indivldue Ue Ebene und verlassen damit die hier untersuchte Thematik von Apokalyptik und Geschichtsphilosophie. Die auf das Individuum bezogene FragesteUung der Seelenwanderung bedeutet daher keine Revision des zuvor erhobenen Wahrhcitsanspruchs. - Die primäre Ausrichtung der Erziehungsschrift auf das >K:OUektive Ding, das menschliche GeschJecht.c. ist bekanntlich von Less ings Freund Moses Mendelssohn kritisiert woroen. Vg1. Mendelssohn, Jerusalem, 92.
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Geltungsanspruch des Textes lässt sich kaum denken: Sie trägt gewaltsame Züge. 63 Diese Gewaltsarnkeit erstreckt sich aber nicht nur auf den Leser, sondern auch auf andere Texte. Indem der Sprecher des Lessmgschen Textes jeden Zweifel an der Gilltigkeit seiner Aussagen mit dem Ausruf »)lästerung! Lästerung!« beendet, macht er die Wahrheits- und Geltungsansprüche anderer Texte zunichte. Durch den Ausruf wird unmissverständlich deutlich, dass der Sprecher des Lessingschen Textes keinen anderen Sprecher neben sich dwdet. Der Text lässt dabei keinen Zweifel daran, in wessen Namen der Ausruf geschieht. Er geschieht im Namen der Wahrheit, deren Autorität anzutasten unmöglich ist . Da nun aber die Wahrheit, aus der heraus gesprochen wird, zugleich das vom Text vorgestellte Ende der Entwicklung, d . h. deren letzte Stufe - >.völlige Aufklärung~( - ist, manifestiert sich in dem Ausruf .>Lästerung! Lästerung!« der apokalyptische Einbruch des dargestellten Endes in die Darstellung selbst. Alles, was es zur Zukunft der Welt und zum Ende der Geschichte, zur Erreichung des Endziels, zu sagen gibt, ist hier, im eigenen Text, bereits gesagt. Selbst wenn der Text das Endziel einer zukünftigen Entwicklung schildert, er hat selbst durch das Zunichtemachen anderer Wahrheits- und Geltungsansprüche die gewaltsame Enthüllung der Wahrheit - die Apokalypse bereits vollzogen. Dass dieser Einbruch des Endes, der enthüllende Einbruch der Wahrheit apokalyptische Züge trägt, macht auch die Zeitstruktur des Ausrufs deutlich. Er geschieht plötzlich, ohne Vorankündigung, mit jener schlagenden Unvennitteltheit, die rur die zeitverkürzende, augenblickhafte Struktur der Apoka1ypse so charakteristisch ist. Auch wenn das vom Ausrufenden vorgesteUte Endziel der Entwicklung von Gewalt frei sein mag, der Ausruf selbst trägt alle Kennzeichen apoka1yptischer Gewalt. In ihm manifestiert sich die perfonnative Gewalt der eigenen apoka1yptischen Redefonn. Mit der perfonnativen Gewalt seiner apoka1yptischen Redefonn handelt sich der Lessingsche Text ein nicht unbedeutendes Problem ein . Dieses Pr0blem wird vom Text selbst benannt, allerdings nicht in einem auf sich bezogenen, selbstkritischen Sinne. In den Paragraphen 87 bis 90 spricht der Text über die apoka1yptischen »Schwänner des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts«, die das Kommen eines dritten Zeitalters » SO nahe verkündigten«. Interessant ist für unseren ZlIsammenhang nicht so sehr, dass der Lessingsche Text sein eigenes GeschichtsmocleU mit den mittelalterlichen Geschichtsspekulationen des Joachim von Fiore und seiner Nachfolger in Beziehung setzt. Wichtiger scheint mir die ambivalente Position zu sein, die Lessings Text in §90 gegenüber den »Schwännern« einnimmt: Der Schwänner tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschJeuniget; und wünscht, daß sie 63 v gl. da m auch den Beitrag von Jiirgen Fohnnann in diesem Band.
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durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soU in dem AugenbLicke seines Daseins reifen.
Man kann sagen, dass das, was Lessings Text beim mittelalterlichen »Schwärmer« kritisiert, in gewisser Hinsicht auf ihn selbst zutriffi:. Durch ihn, den
Lessingschen Text, soll die Zukunft beschleunigt werden. Die performative Struktur der apokalyptischen Redeform lässt die Zukunft - die »völlige AufIdärung«( - schon hier und jetzt, in die Gegenwart des Textes, gewaltsam einbrechen: »in dem Augenblicke seines Daseins«, AUerdings, und auch das gilt es festzuhalten. wird dieser Einbruch der Zukunft in die Gegenwart vollständig von der geschichtlichen auf die performative Ebene verschoben. Gerade darin, in dieser Verschiebung, liegt die Besonderheit des Lessingschen Textes. Die performative Struktur der apokaJyptischen Redeform hat aber nicht allein zur Folge, dass man in Lessings Text eine »Schwännerei« der Aufklärung sehen kann . Zu Ende gedacht, wird durch die Gewaltsamkeit dieser Struktur die Aufklärung, die der Text für sich in Anspruch nimmt, selbst in Frage gestellt. Dies kann durch den Rückgriff auf Lessings Text oder genauer: auf die bereits angefUhrte Differenz zwischen Mitteilung und Erwerbung verdeutlicht werden. Lessings Text hatte mit dieser Unterscheidung den voreiligen Charakter der anfanglichen Offenbarung Gottes kritisiert, die den Menschen nicht genügend Zeit gegeben habe, die Offenbarung vernunftmäßig zu erwerben. Gleiches gilt auch für Lessings Text. Der gewaltsame Vollzug der Enthüllung der Wahrheit, der jeden Zweifel an dieser Wahrheit zurückweist, lässt seinerseits keine Zeit für eine vernunftmäßige Erwerbung. Die Enthüllung der Wahrheit in Lessings Text ist bloße Mitteilung, ist Offenbarung, die nur anerkannt oder aber - in den Worten des Textes - »gelästert« werden kann . Die performative Struktur der apokalyptischen Redeform sorgt in Lessings Text dafur, dass die als Erwerbungsvorgang verstandene Aufklärung im Mo ment ihrer gewaltsamen Einsetzung als »völlige Aufklärung« zugleich suspendiert ist. Das im Namen der Aufklärung in die Darstellung einbrechende Ende bedeutet zugleich das Ende der Aufklärung. Nicht das Ende der Aufklärung insgesamt, sondern das Ende der Aufklärung, das in Lessings Texl auf apokalyptische Weise herbeigeführt wird.
v. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Erziehungsschrift in einem starken Spannungsverhältnis zu der im ersten Teil der Untersuchung beschriebenen, offenbarungskritiscben Position Lessings steht. Für dieses Spannungsverhältnis ist vor allem die apokalyptische Redefo rm der Erziehungsschrift verantwortlich. Dabei ist es nicht allein die performative Gewalt dieser Redeform, sondern deren Verknüpfung mit einem auf das Ende der Menschheitsgeschichte ausgerichteten Wahrheitsanspruch, durch die die Erziehungsschrift in einen
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Gegensatz zur offenbarungskritischen Position Lessings tritt. Wie zu Beginn ausgefuhrt wurde, bestand die Pointe dieser Position gerade in einer Enthaltsamkeit gegenüber theoretischen Wahrheitsfragen. Und diese Enthaltsamkeit kulminierte in der Forderung, jenen Positionen, die den Anspruch erheben, über das Zukünftige »)ganz ungezweifelt«64 zu unterrichten, »kein Gehör«65 zu geben. Es spricht einiges dafür, dass Lessing dieses Spannungsverhältnis zwischen seiner offenbarungskritischen Position und der Erziehungsschrift bewusst gewesen ist. 66 Die daraus resu1tierende Sonderstellung der Erziehungsschrift mag ihm vor Augen gestanden haben, als er sich entschloss, für diesen Text keine Autorschaft zu beanspruchen. Letztendlich kann die Frage, warum Lessing sich dazu entschlossen hat, nur spekulativ beantwortet werden. Die apoka1yptische Redeform der Erziehungsschrift und das in dieser Redeform zum Ausdruck kommende Ende der Aufldärung könnten aber als mögliche Gründe dafür angesehen werden. Dies hätte gegenüber Erklärungsversuchen, die Lessing bloß taktische Gründe unterstellen, zwnindest den Vorteil, dass man ein Argument angeben kann, das aus der Sache selbst gewonnen wird, ein Argument, das aus der Analyse des Textes hervorgeht. Die Erziehung des Menschengeschlechts war nicht das letzte Wort Lessings. In der neueren Lessing-Forschung zeichnet sich in bezug auf die Entstehungszeit der Erziehungsschrift die Tendenz ab, ein früheres Datum der Fertigstellung anzusetzen, ohne freilich dieses Datum genau angeben zu können. Demnach kann man davon ausgehen, dass die Erziehungsschrift noch vor Lessings letztem großen Drama Nathan der WeLSe abgeschlossen wurde. 67 Den inhaltlichen Argumenten, die fiir eine solche - zeitlich frühere - Einordnung der Erziehungsschrift sprechen, könnte durch die hier geleistete Analyse ein weiteres an die Seite gestellt werden. Dies soU zum Schluss kurz angedeutet werden. Dazu muss man sich noch einmal die Sonderstellung der Erziehungsschrift 64 Lessing, [Womit sich die geoffenbarte Religion ... ). 663 .
65 Ebd. 66 Neben dem bereits behandelten »Vorbericht des Herausgebers'<, der aus Sicht des Herausgebers (nicht des Verfassers!) den Geltungsanspruch des Textes zurücknimmt, könnte man das dem gesamten Text vorangestellte Motto anfuhren, das die Soliloquia des Augustinus zitiert. Gerade die Verwendung des Mottos (»Haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt. Augustinw«) sollte aber nicht zu der These verleiten, dass die Etziehungsschrift ihren eigenen Wahrheitsanspruch problematisiert. Viel eher reflektiert das Motto den Status der Erziehungsschrift im Goeze-Streit: Als »literarischer« und erkennbar nicht-theologischer Text ist die Schrift zwar im augustinischen Sinne »fa1sch~ aber gerade »literarischet( Texte können einen forcierten Wahrheitsanspruch erheben; dies zeigt nicht zuletzt das Beispiel der JohannesapokaIypse. Lessing ironisiert mit der Verwendung des Mottos den )troc:kenen( Wahrheitsanspruch der gelehrten Theologie (von Augustinw bis Goeze) und stellt diesem den Wahrheitsanspruch der Erziehungsschrift gegenüber. - Zum Augustinus-Motto vgl. AJtenhofer, Geschichtsphilosophie, passim, u. Bims, )lntroite<, 397. 67 Vgl. dalll Simon, Nathans Argumentationsverfahren.
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Jürgen Brokoff
vergegenwärtigen. Versteht man - ganz im Sinne von Lessings offenbarungskritischer Position - Aufklärung als eine vernünftige Haltung, die keinen theoretisch-metaphysischen Wahrheitsanspruch erhebt und keine Gewissheit einfordert, sondern die an einer Praxis orientiert ist, die unter den Bedingungen des Nichtwissens stattfindet, dann raut die einseitig theoretische Ausrichtung der Erziehungsschrift auf. Das bedeutet aber, dass die von dieser Schrift selbst geforderte »innere Reinigkeit des Herzens«, die die praktische Seite des Endziels der Entwicklung ist, vom Text vollkommen vernachJässigt wird. Dieser Text ist als Text, d. h. auf der performativen Ebene, lediglich an der Enthüllung der Wahrheit, an der ) völligen Aufklärung« seines Verstandes interessiert. Es ist kaum anzunehmen, dass einem so reflektierten Autor wie Lessing dieser Mangel verborgen geblieben ist. Und was wäre besser geeignet, diesen Mangel zu beheben, als die Schaffung einer literarischen Figur, die die »Aufklärung des Verstandes« (Theo rie) mit der »inneren Reinigkeit des Herzens« (Praxis) verbindet und die zudem den Vorteil bietet, dass sie selbst nicht theo retisch-abstrakt, sondern - im Medium des Theaters - sinnlich anschaubar ist? Gemeint ist natürlich Nathan . Mit Blick auf den Zusammenhang beider Texte könnte man die Erziehungsschrift also auch als eine Art >experimentelle VorstufeexperimenteUe Vorstufe<, der nichts an der apokalyptischen, die Aufklärung beendenden Redeform des Textes ändert, wäre dann selbst gänzlich unapokaIyptisch - und eben darin ganz in Lessings offenbarungskritischem Sinne.
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TORSTEN HITZ
Die Moral auf Theologie angewandt, ist die Religion Kants Schrift Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie
In der zweiten Hälfte der 1770er Jahre, während er seine kritische Philosophie vorbereitete, eröffnete Immanuel Kant seine Ethikvorlesungen regelmäßig mit Erläuterungen über die ethischen Systeme der Antike. 1 Die Grundfrage der antiken Ethiken, so erklärte Kant seinen Studenten, sei die Frage nach dem
summum bonum, dem höchsten Gut. Im Begriff des höchsten Gutes kämen zwei Bestandteile zusammen: Wohlbefinden und Wohlverhalten, Glückseligkeit und Sittlichkeit, physisches Gut und moralisches Gut. In seiner Vorlesung teilte Kant die ethischen Systeme der Antike danach ein, wie sie diese heiden
Bestandteile des höchsten Gutes zueinander in Beziehung setzten. Dem Epikureismus und dem Stoizismus galt dabei sein besonderes Augenmerk. Folgt man dem Referat Kants, dann galt bei den Epikureern derjenige als sittlich. der klug seine Glückseligkeit bef6rderte. Dagegen gaJt bei den Stoikern derjenige aJs glücklich. der sich seiner Sittlichkeit bewusst war. Die Epikureer führten demnach die Sittlichkeit auf die Glückseligkeit zwiick. die Stoiker dagegen fuhrten die Glückseligkeit auf die Sittlichkeit zurück. »Weil alle Philosophie darauf hinausgeht. Einheit in den Erkenntnissen hervorzubringen und auf die wenigsten Principia zu reduzieren. so versuchte man, ob aus diesen zwei Principüs nicht könnte eins zusammengebracht werden.«2 Damit verkannten die Epikureer und die Stoiker jedoch die Verschiedenartigkeit von Glückseligkeit und Sittlichkeit. Glückseligkeit und Sittlichkeit lassen sich nach Kants Auffassung nicht aufeinander zurückfuhren . Die Epikureer und die Stoiker aber versuchten gerade eine solche Rückfiihrung, und verminderten dabei jeweils das eine oder das andere: Die epikureeische Ethik zielte auf Glückseligkeit ohne echte Sittlichkeit, die stoische Ethik dagegen auf Sittlichkeit ohne echte Glückseligkeit. Für Kant war beides aJs mangelhaft. Er strebte eine Ethik an, in der beide - Glückseligkeit und Sittlichkeit - unvermindert zur Geltung kommen würden . »Wir müssen also bei den Menschen anzutreffen suchen die Glückseligkeit und
I Vgl. Eine Vorlesung KarllS über Ethik, 7- 13. 2 Eine Vorlesung Kants über Ethik, 10.
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1brsten Hitz
die Würdigkeit derselben; und wenn dieses zusammengenommen wird, so ist es das höchste Gllt.«)
I. Das höchste Gut in Kants praktischer Philosophie Die Auffassung, dass das höchste Gut in der Verbindung von Glückseligkeit und SittJichkeit besteht, hat Kant zeit seines Lebens vertreten. Auch seine Auseinandersetzung mit den Epikureern und den Stoikern hat er später immer wieder aufgegriffen. In der Kritik der reinen Vemunji. mit der er seine kritische Philosophie erstmals der Öffentlichkeit vorstellte, sprach Kant vom höchsten Gut sogar »als einem Bestimmungsgrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft«4. Das höchste Gut bestimmt demnach den Endzweck aUen Vernunftgebrauchs. Damit bestimmt es auch den Endzweck des Menschen als eines vernünftigen Wesens. Das ist aber nicht so zu verstehen, als würde der Endzweck des Menschen von anderswoher fUr ihn bestimmt. Vielmehr setzt
sich die menschliche Vernunft die Verbindung von Glückseligkeit und Sittlichkeit selbst zum Zweck: »Glückseligkeit allem ist fur unsere Vernunft bei weitem nicht das vollständige Gut. Sie billigt solche nicht (so sehr als auch Neigung dieselbe wünschen mag), wofern sie nicht mit der Würdigkeit derselben, d. i. dem sittlichen Wohlverhalten, vereinigt ist. Sittlichkeit allein, und, mit ihr, die bloße Würdigkeit, glücklich zu sem, ist aber auch noch lange nicht das voUständige Gut. Um dieses zu voJlenden, muß der, so sich als der Glückseligkeit nicht unwert verhalten hatte, hoffen können, ihrer teilhaftig zu werden.«s Den Gedanken, dass die Vernunft Glückseligkeit ohne Sittlichkeit nicht billigt, hat Kant in der Kritik der praklischen Vernunft von 1788 mit den Worten zusammengefasst, der durch die Vernunft geleitete Mensch werde »ohne sich m jeder Handlung seiner Rechtschaffenheit bewusst zu sem, des Lebens nicht froh werden, so günstig ihm auch das Glück im physischen Zustande desselben sein mag«6. Der Mensch bedarf also nicht nur der sinnlichen und empirischen Glückseligkeit, damit er )>des Lebens froh werden« kann . Dazu ist vielmehr auch ein Bewusstsein der eigenen Sittlichkeit nötig. Dieses Bewusstsein der eigenen Sittlichkeit nennt Kant ))Zufriedenheit, und diese kann inteUektueU heißen.(( 7 Sie ist Zufriedenheit mit dem eigenen moralischen Zustand. Allerdings 3 Eine Vorlesung Kants über Ethik. 7. 4 Kant, Kr.d.r.V.., B 832 = A 804. (Kants zu Lebzeiten veröffentlichte Schriften werden mil den Sei· tenangaben der Originalausgaben nach der Ausgabe von Weischedel zitiert. Es werden folgende Abkürzungen verwendet: Kr.d.r.V. = Kritik der reinen Vernunft, Kr.d.p.V. = Kritik der praktischen Vernunft, Re!. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. E.a.D. Das Ende aller Dinge. Vom. = Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie.) S Kant, Kr.d.r.V.., B 841 = A 812. 6 Kant, Kr.d.p.V., A 209. 7 Kant. Kr.d.p.V.. A 213 .
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Kanu Schrift Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praklischen Philosophie 173 fallen bei Kant - anders als bei den Stoikern - die Zufriedenheit mir der eigenen Sittlichkeit und die Glückseligkeit keinesfalls in eins. Glückseligkeit ist fur Kant immer sinnlich und empirisch. Die Zufriedenheit mit der eigenen Sittlichkeit ist dagegen nicht sinnlich, sondern rein intellektuell. Sie besteht letztlich in nichts anderem als dem Bewusstsein der eigenen Sittlichkeit. Der sinnlichen Glückso-ligkeit muss also die inteUektuelle Zufriedenheit mit der eigenen Sittlichkeit erst noch von außen hinzutreten. Ohne die intellektueUe Zufriedenheit mit seinem sittlichen Zustand nämlich billigt der Mensch seine eigene Glückseligkeit nicht, weil er sich selbst nicht für würdig hrut. Ohne Sittlichkeit kann er )xles Lebens nicht froh werden«. Was ist aber die Sittlichkeit? Welches Handeln lässt den Menschen mit seinem sittlichen Zustand zufrieden und der Glückseligkeit würdig werden? Kants Antwort auf diese Frage war bekanntlich der kategorische Imperativ, das Sittengesetz. In der Krilik der praktischen VernunjJ fonnuliert Kanl das Sittengesetz so: »)Handle so, daß die Maxime deines WIllens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«8 Sittlich ist demnach das Handeln gemäß einem Grundsatz~ der zu einem allgemeinen Gesetz für alle vernünftigen Wesen erhoben werden könnte, ohne dabei in Widerspruch zu sich selbst zu geraten. Wie der kategorische Imperativ bei Kant begz ündet wird oder überhaupt begt ündet werden kann, soU hier nicht näher untersucht werden . 9 Kant betont aber mehrfach nachdrücklich, dass die Glückseligkeit bei der Begl ündung des Sittengesetzes keine RoUe spielt. Auch bei der Befolgung des Sittengesetzes, beim sittlichen Handeln, darf die Glückseligkeit nach KaDI keine RoUe spielen. Nur Handeln um der Sittlichkeit willen ist sittlich. Kant hält sich also strikt an seine Auffassung, dass Sittlichkeit und Glückseligkeit verschiedenartig sind und dass es unmöglich ist, sie aufeinander zurückzuführen. Darüber hinaus betont Kant in der Krilik der praktischen VernunjJ, dass die Sittlichkeit unbedingten Vorrang vor der Glückseligkeit haben muss. Die Sittlichkeit stellt die Glückswürdigkeit erst her und ennöglicht die Billigung der Glückseligkeit durch die Vernunft. Sie ist also »oberste Bedingung« der Glückseligkeit, »)mithin das oberste GUf« 10 innerhalb der Verbindung des moralisches Gutes mit dem physischen Gut. Das bedeutet aber nicht, dass die Sittlichkeit allein schon das höchste Gut wäre. Die sinnliche und empirische Glückseligkeit muss der Sittlichkeit noch hinzutreten und beide zusammen erst bilden das voUständige höchste Gut, weil der Mensch nicht nur ein vernünftiges, sondern auch ein endliches und glücksbedürftiges Wesen ist. Dass aus diesem Grund auch die Glückseligkeit Bestandteil des höchsten Gutes sein muss, muss nach Kant sogar eine »Unparleüsche Vernunft« zugestehen. Einem glückswürdigen und glücksbedürftigen Wesen 8 Kan!, Kr.d.p.V., A 54.
9 Vgl. Rawls, »Kant's Moral Philosophy«. 517- 523. 10 Kan!. Kr.d.p.V., A 198.
174
Tonten Hitz
könnte nämlich gerade eine unparteüsche Vernunft clie Glückseligkeit nicht vorenthalten woUen. »Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen WoUen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich aUe Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen .« 11
fI. Die Vemunjlreligiotl
Die Verwirklichung der Sittlichkeit, wie sie das Ideal des höchsten Gutes vorsieht, ist laut Kanl äußerst schwierig. Dazu wäre eine »Heiligkeit des WLilens« 12 nötig, die nach Kants Auffassung in der Kritik der praktischen Vernunft der Mensch aJs »Wesen der Sinnenwelt« IJ niemals erreichen kann . Der Mensch kann sich dem Ideal der Heiligkeit lediglich »in einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener vöUigen Angemessenheit« 14 annähern. Nur in einem solchen unendlichen moralischen Fortschritt kann nach Kant die Heiligkeit des Menschen ))angetroß'en werden« 15. Für einen solchen unendlichen Fortschritt ist a1Jerdings auch eine ) ins Unendliche fortdaurende Existenz und Persönlichkeit desselben vernünftigen Wesens (welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt)« 16 nötig. Die Sittlichkeit könnte demnach nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit vollends verwirklicht werden . Die Verwirklichung der Sittlichkeit ist aber Bestandteil des höchsten Gutes und damit des letzten Zwecks aUen menschlichen Vernunftgebrauchs. Folglich muss die Vernunft die Vo raussetzung der Verwirklichung der Sittlichkeit rur erfüllt halten , wenn sie ihren letzten Zweck nicht aufgeben will. Die Vernunft muss a1so die Unsterblichkeit des vernünftigen Wesens annehmen. Kant nennt die Unsterblichkeit deshalb ein Postulat der reinen praktischen Vernunft. Nur unter der Vo raussetzung der Unsterblichkeit ist Heiligkeit möglich~ und nur wenn Heiligkeit möglich ist. ist der menschliche Vernunftgebrauch nicht zuletzt zwecklos. Die Verwirklichung der Glückseligkeit, wie sie das Ideal des höchsten Gutes vorsieht, ist ebenfalls äußerst schwierig. Bedingung der im höchsten Gut vorgesehenen Glückseligkeit ist die Sittlichkeit. Einerseits ist nun Glückseligkeit nicht dasselbe wie Sittlichkeit. Sie lässt sich nicht begrifIlich auf die Sittlichkeit zurückfuhren. und es ist nicht schon gJücklich, wer sittlich ist. Das anzunehmen, war der Fehler der Stoiker, die laut Kant in der Ethik a1les auf das Prinzip 11 Kant, Kr.d .p. V.. A 199. 12 Kant. Kr.d.p.V~ A 58.
1l 14 IS 16
Kam, Kant, Kant. Kam,
Kr.d.p . V~ A Kr.d .p. V~ A Kr.d .p.V~ A Kr.d .p.V.. A
220. 220. 220. 220.
Kanu Schrift Das Ende aJler Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie 175
der Sittlichkeit zu reduzieren versuchten und die inteUektueUe Zufriedenheit mit der Glückseligkeit gleichsetzten, »worin sie aber durch die Stimme ihrer eigenen Natur hinreichend hätten widerlegt werden können.« 17 Andererseits ist die Glückseligkeit auch keine Wirkung der Sittlichkeit. Sittliches Handeln verursacht als solches noch nicht Glückseligkeit, weil sich der Erfolg des Handelns in der Welt »nicht nach moralischen Gesinnungen des Willens, sondern der Kenntnis der Naturgesetze und dem physischen Vermögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen, richtet« ". Dass sittliches Handeln nicht ohne weiteres glücklich macht, war zweifeIJos eine der tiefsten Einsichten Kants. Aber auch die Glückseligkeit ist Bestandteil des höchsten Gutes und damit des letzten Zwecks aUen menschlichen Vernunftgebrauchs. Sie ist dies unter der Bedingung der Sittlichkeit, das heißt als durch sittliches Handeln bewirkte Glückseligkeit. Folglich muss die Vernunft die Verwirklichung der Glückseligkeit durch sittliches Handeln auf irgendeine Weise doch für möglich halten . Aber auf welche Weise? Wie kann das sittliche Handeln Ursache der Glückseligkeit sein? Kant antwortet darauf, dass das sittliche Handeln zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar, nämlich »vermittelst eines intelligiblen Urhebers der Natur« 19. Ursache der Glückseligkeit sein könnte. Das sittliche Handeln könnte also die Glückseligkeit nicht direkt, sondern indirekt bewirken, nämlich auf dem Umweg über einen Urheber der Natur, der den Glückswürdigen die ihnen angemessene Glückseligkeit zuteilt. Die Existenz eines solchen ~>weisen und alles vermögenden Austeilers«2o versteht Kant nun, wie schon die Unsterblichkeit, als Postulat der reinen praktischen Vernunft. Denn die Verwirklichung der Glückseligkeit durch sittliches Handeln ist Kanl zufolge nur unter der Voraussetzung möglich, dass ein solcher Austeiler existiert. Die Vernunft muss aber die Verwirklichung der Glückseligkeit durch sittliches Handeln rur möglich halten. Sie muss also die Voraussetzung dieser Verwirklichung fUr erfiillt halten und die Existenz eines solchen Austeilers - die Existenz Gottes annehmen, wenn sie ihren letzten Zweck nicht aufgeben wiU . In seiner Schrift Die Religion ;nnerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 fasst Kanl sein Argument für das Postulat der Existenz Gottes so zusammen: »Wenn nun aber die strengste Beobachtung der moralischen Gesetze als Ursache der Herbeiftihrung des höchsten Guts (als Zweck) gedacht werden soU: so muss, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein alIvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d . i. die Moral fUhrt unausbleiblich zur Religion .«2J 17 Kant. Kr.d.p.V.. A 229. 18 Kant. Kr.d.p.V.. A 205. 19 IUnt, Kr.d.p.V.. A 207. W Kant. Kr.d.p.V.. A 231. 21 Kant. Rel .. BA XIII.
176
Torslen Hitz
Die Religion, von der hier die Rede ist, nennt Kant »reine Vernunftreljgion«22. Sie ergibt sich allein aus dem Gebrauch, den der Mensch mit Blick auf das höchste Gut von seiner Vernunft macht. Dieser Gebrauch der Vernunft führt gemäß Kants Argumentation zu den Annahmen über die Unsterblichkeit und die Existenz Gottes. Insofern dabei von der Vernunft nur mit Blick auf das höchste Gut Gebrauch gemacht wird, die Frage nach dem höchsten Gut aber die Grundfrage der Ethik ist, gehört die Vemunftreligion zur Ethik. Wenn Kant also die Annahmen der Vemunftreligion erörtert, treibt er nicht etwa philosophische Theologie, wie es zum Beispiel Aristoteles im Rahmen seiner Metaphysik tut. 23 Stattdessen treibt er Ethik. Im Zuge dessen kommt er aber zu Ideen, deren Gegenstände eigentlich zum Bereich der philosophischen Theologie gehören . Indem er darüber Aussagen triffi. die allein aus der Ethik begründet sind, gliedert Kant Teile der philosophischen Theologie in die Ethik ein und ordnet sie deren Notwendigkeiten unter. So kommt er zur Religion. Schon in seinen Vorlesungen hatte er in diesem Sinne fonnuliert : »Die Moral auf Theologie angewandt, ist die Religion .«24 Das spezifisch Religiöse dieser Religion besteht darin, »daß wir Gott fiir alle unsere Pflichten als den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber ansehen« 25. Die Religion ist demnach die Interpretation der durch die Vernunft zunächst völlig unabhängig von Gott erschlossenen moralischen Gesetze als Gesetze Gottes. Dass die moralischen Gesetze als göttliche Gesetze verstanden werden müssen, liegt dabei nach Kant schon im Gonesbegriff. Denn Gott wird von der Vernunft als moralisches Wesen vorgesteUt, das den Menschen die Glückseligkeit nur entsprechend ihrer Sittlichkeit zuteilt. Nur zu diesem Zweck ist der Gott der Vernunftreligion da. Die moralischen Gesetze müssen demnach mit dem Willen Gottes übereinstimmen. Mit der Annahme, dass die Sittlichkeit den Menschen von Gott geboten und die Glückseligkeit den Menschen von Gott entsprechend ihrer Sittlichkeit zugeteilt wird, liegt die Vernunftreligion, wie sie sich aus dem Begriff des höchsten Gutes ergibt, vor. Kant fasst sie als »Glaube an Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden, d. i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) an ihn, den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und moralischen Versorger desselben, 3) an ihn, den Verwalter seiner eigenen heiligen Gesetze, d. i. als gerechten Richter.«26
22 2l 24 25 26
JUnI, Rel .. 8 XXI. Vgl. Arisloteles, Met. 12. Eine Vorlesung KanIS über Ethik. 98. Kanl, Rel .. B 147 _ A 139. JUnI, Rel., 8 211,.. A 199.
Kanu Schrift Das Ende aller Dinge im Kontexl seiner praktischen Philosophie 177 In Die Relig;on innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft behandelt Kant vor allem die Möglichkeit »des höchsten, als eines gemeinschaftlichen GutS«27. Denn das höchste Gut bestimmt nach Kant nicht nur den letzten Zweck des einzelnen Menschen. Es bestimmt auch des letzten Zweck der gesam· ten Menschheit als einer Gattung vernünftiger und endlicher Wesen . Letzter Zweck der Menschheit als Gattung ist die Verwirklichung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Gutes, das heißt der gemeinschaftlichen Sittlichkeit und Glückseligkeit der gesamten Menschheit. Dieser gemeinschaftliche Aspekt steht in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunjl im Mittelpunkt. Darüber hinaus behandelt Kant in dieser Schrift nicht primär das vollständige höchste Gut, sondern nur »das höchste sittliche Gut«28 der Menschheit. Er behandelt also nicht Sittlichkeit und Glückseligkeit der Menschheit, sondern allein die Sittlichkeit der Menschheit. Die Verwirklichung der gemeinschaftli· chen Sittlichkeit der gesamten Menschheit nennt Kant nun »das (moralische) Reich G ottes auf Erden((29. Es bestünde in einem ethischen Gemeinwesen, in dem alle Menschen sittlich lebten und dabei glaubten, dass Gott ihnen einmal Glückseligkeit zuteilen wird. Warum nennt Kant dieses ethische Gemeinwesen nun »Reich Gottes«? Aus der bisherigen Argumentation ist bereits klar, dass zur Verwirklichung des höchsten Gutes die Mitwirkung Gottes nötig ist. Das gilt auch für das höchste Gut als gemeinschaftliches. Und es gilt auch für die gemeinschaftliche Sittlichkeit als Bestandteil des höchsten gemeinschaftlichen Gutes . Auch zur Verwirklichung der gemeinschaftlichen Sittlichkeit (ohne Glückseligkeit) ist die Mitwirkung Gottes nötig. Denn der Mensch kann nach Kants Auffassung nicht einmal bei größter Anstrengung bewirken, dass alle Menschen sittlich leben. Deshalb, weil nur Gott es stiften könnte, heißt das ethische Gemeinwesen aller Menschen bei Kanl »)Reich GottesK
rn. Zwei Schwierigkeiten Aus der bis zu diesem Punkt entfalteten mo ral- und religionsphilosophischen Argumentation Kanls ergeben sich verschiedene Schwierigkeiten. Mindestens zwei dieser Schwierigkeiten hängen mit Kants Postulat der Unsterblichkeit zusammen. Diese heiden Schwierigkeiten hat Kant in seiner Schrift Das Ende aller Dinge von 1794 aufzulösen versucht. Die erste Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass Kanl in der Kn"tik der praktischen Vernunft von der unendlich fortdauernden Existenz des vernünftigen Wesens scheinbar etwas unbedacht als der ))Unsterblichkeit der Seele« spricht. Diese unendlich fortdauernde Existenz ermöglicht dem Menschen den »ins Unendliche gehenden Progressus« der 27 Kant, Re1.. B 135 = A 128. 28 Kant, RcI.. B 136 ". A 128. 29 Kant, ReL, B 142 -= A 134.
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Torsten Hitz
Annäherung an das Ideal der Heiligkeit, das heißt seine unendliche moralische Verbesserung. Warum spricht Kant aber von der unendlich fortdauernden Existenz, die den unendlichen moralischen Fortschritt ermöglicht, als der »U nsterblichkeit der Seele«? Der Mensch kann das Ideal der Heiligkeit nicht erreichen, so hatte Kanl argumentiert, weil er ein »Wesen der Sinnenwelt« ist. Wäre nun tatsächlich nur die Seele unsterblich, nicht aber der Leib, dann müssten sich im Tod die unsterbliche Seele und der sterbliche Leib voneinander trennen. Für rue unsterbliche Seele wäre das Ideal der Heiligkeit dann sehr wohl erreich-
bar, denn sie gehört nicht zur ) Sinnenwe!t«. Wäre also tatsächlich allein die Seele unsterblich, dann wäre der unendliche moralische Fortschritt unnötig. Kant hatte gesagt, die Vernunft müsse die Unsterblichkeit des vernünftigen Wesens postulieren, um den unendlichen moralischen Fortschritt rur möglich halten zu können. Zu diesem Zweck muss sie aber streng genommen nicht die »Unsterblichkeit der Seele« postulieren, sondern die Unsterblichkeit des ganzen Menschen mit Leib und Seele. lO Man kann den tieferen Grund für diese Schwierigkeit darin erkennen, dass Kant vor seiner Schrift Das Ende aller Dinge keine genuine Auffassung über den Tod entwickelt hat. Noch in seinen handschriftlichen Vorarbeiten zu Das Ende aller Dinge zeigen sich Unsicherheiten über den Begriff des Todes, die erst in der Schrift selbst überwunden sind. 31 In Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunjl von 1793 geht Kant, ganz im Sinne der Kritik der praktischen Vernunjl, davon aus, dass der Mensch annehmen muss. dass ihm nach diesem Erdenleben noch ein anderes Leben bevorsteht, in dem er unter anderen Umständen, aber »nach demselben Prinzip« mit seiner moralischen Verbesserung »fortfahren« wird. l 2 Damit wird der Konflikt zwischen dem Ideal der Heiligkeit und den Bedingungen eines Lebens in der Sinnenwelt über den Tod hinaus ins Unendliche verlängert. So verliert sich die Bedeutung des Todes als Ende des Erdenlebens . Zugleich ergibt sich die Notwendigkeit, auch für das Leben nach dem Tod eine leibliche Existenz des Menschen anzunehmen und die Unsterblichkeit des ganzen Menschen zu postulieren. Ein merkwürdiger Widerspruch besteht zwischen der zu postulierenden Unsterblichkeit des ganzen Menschen mit Leib und Seele und Kants Formulierung von der »Unsterblichkeit der Seele«. Vielleicht deshalb spricht Kant in der Kritik der praktischen Vernunjl vorsichtig und tastend von einer fortdauernden Existenz, »welche man die Unsterblichkeit der Seele nennt«. Die zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass ein unendlicher moralischer Fortschritt keine intellektuelle Zufriedenheit über den eigenen sinlichen Zustand zulässt. Weil der Fortschritt unendlich ist, lässt sich zu jedem bereits ]0 Vgl. auch Marifla. ))Kant's Highesl Good~ 338 Anm.26. ]1 Vgl. Kant, ltVorarbeitl<, 151. ]2 Kant, Rel., B 88 _ A 81-82. Eine andere Formulierung in dieser Schrift verweist allerdings schon voraus auf die Idee eines Endes aller Dinge, vgl. unten Anm. 52.
Kants Schrift Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie 179
erreichten Zustand ein noch besserer denken . 1m Zuge seiner Annäherung an das Idea1 der Heiligkeit muss der Mensch sich folglich stets darum bemühen, einen noch besseren Zustand zu erreichen. Mit seinem gegenwärtigen sittlichen Zustand kann er niemals zufrieden sein. Die intellektuelle Zufriedenheit stellt sich also zu keinem Zeitpunkt ein. Wie gJückselig er auch immer sein mag, der Mensch bleibt moralisch mit sich unzufrieden und kann »des Lebens nicht froh werden«. Diese Schwierigkeit hat ihren tieferen Grund darin, dass die Heiligkeit des Menschen in einer unendJichen Annäherung des Menschen an die Heiligkeit »angetroffen« werden soll. Der Mensch selbst kann aber nach Kant diese unendliche Annäherung nicht überschauen, er kann sich nur um seine stetige moralische Verbesserung bemühen. Seinen unendlichen moralischen Fortschritt kann sich der Mensch nach Kant nur als durch Gott »in seiner reinen intellektuellen Anschauung als ein vollendetes Ganze, auch der Tat (dem Lebenswandel) nach, beurteilt denken« 33. Der Mensch kann also annehmen, dass die für ihn selbst unüberschaubare endJose Annäherung an die Heiligkeit von Gott als vollendete Ganze erkannt und bewertet wird. Das heißt aber, dass der Mensch in seiner unendlichen Annäherung an die Heiligkeit diese Heiligkeit nicht selbst »antreffen« kann. Nur Gott kann in der unendlichen Annäherung des Menschen an die Heiligkeit die Heiligkeit selbst »antreffen«. Denn nur Gott verfugt über die Erkenntnisart der intellektuellen Anschauung, die es erlaubt, eine unendliche Reihe als Ganze anzuschauen. Dem Menschen dagegen kommt die Erkenntnisart der intellektuellen Anschauung nach Kants Auffassung grundsätzlich nicht zu. Deshalb ist die unendliche Annäherung an die Heiligkeit für den Menschen niemals als Ganze anzuschauen. Für ihn bleibt diese Annäherung immer unvollendet, und es gibt stets einen noch besseren moralischen Zustand, den er noch nicht erreicht hat. Aus diesem Grund kann wohl Gott mit dem Menschen in moralischer Hinsicht zufrieden sein, niemals aber der Mensch mit sich selbst. Die intellektuelle Zufriedenheit mit der eigenen Sittlichkeit kann sich nicht einstellen. Kant selbst hat diese Schwierigkeit bereits in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft angesprochen und aufzulösen versucht. 34 Kanls damaliger Lösungsversuch kann allerdings nicht wirklich als gelungen gelten. Denn es blieb ebenso unklar, welche Stellung die Schwierigkeit im Argumentationsgang von Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft haben sollte, wie es unklar blieb, auf welche Weise Kant die Schwierigkeit eigentlich auflösen wollte. 35 Statt die Schwierigkeit auflösen zu können, kam Kant zu dem Ergebnis, dass für den Menschen »)Trostlosigkeit (dafiir aber die Natur des Menschen bei der Dunkelheit alJer Aussichten über die Grenzen dieses 33 Kanl, Re!., 8 85 = A 79; vgl. Kant, Kr.d.p.V.. A 221 - 222. 34 Vg!. Kant, Re!., 8 86-94 = A 80-87. 35 Vgl. auch Wood, Kant's Moral Religion, 234.
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Lebens hinaus schon von selbst sorgt, daß sie nicht in wilde Verzweiflung ausschlage) die unvermeidliche Folge von der vernünftigen Beurteilung seines sittlichen Zustandes iSt.«36
IV. Auflösung der einen Schwierigkeit ln seinem kleinen Aufsatz Das Ende aller Dinge von 1794 hat sich Kant daran gemacht, diese heiden Schwierigkeiten aufzulösen. Das Mittel dazu ist >.rue
Idee eines Endes aller Dinge« 17 • Diese Idee beinhaltet »ein Ende aller Zeit, bei ununterbrochener Fortdauer des Menschen« 38. Mit dem Ende der Zeit tritt auch das Ende aller Dinge ein, das heißt ihr Ende »als Zeitwesen und als Gegenstände möglicher Erfahrung: welches Ende aber in der moralischen Ordnung der Zwecke zugleich der Anfang einer Fortdauer eben dieser als übersinnlicher, folglich nicht unter Zeitbedingungen stehender, Wesen ist«39. Weil alle Gegenstände der Erfahrung der sinnlichen Anschauung des Menschen nur als Gegenstände in Raum und Zeit erscheinen können, tritt mH dem Ende der Zeit auch das Ende aUer Dinge als Gegenstände der Erfahrung ein. Dieses Ende der Sinnenwelt bedeutet aber für die Menschen (die Zwecke) zugleich den Anfang ihrer Existenz als übersinnliche, der Sinnenwelt enthobene Wesen . Welches sind Kants Gründe hatte für die Einführung der Idee eines Endes aller Dinge? Zu Beginn von Das Ende aller Dinge schreibt Kant, der Gedanke eines Endes aller Dinge müsse ) mit der aUgemeinen Menschenvernunft auf wundersame Weise verwebt sein: weil er unter allen vernünfteinden Völkern, zu aUen Zeiten, auf eine oder andere Art eingekleidet, angetroffen wird.«40 Die Formulierung, die Idee eines Endes aUer Dinge sei mit der menschlichen Vernunft »verwebt«, lässt vermuten, dass Kant dieser Idee denselben oder einen ähnlichen Status einräumen will wie den Postulaten der Existenz Gottes und der Unsterblichkeit. 41 Die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit mussten von der Vernunft vorausgesetzt werden, wenn diese ihren letzten Zweck, die Verwirklichung des höchsten Gutes, nicht aufgeben woUte. Für die Annahme, dass es ein Ende aller Dinge gebe, wäre nun ein ähnliches Argument zu erwarten, wenn diese Annahme mit der menschlichen Vernunft »verwebt( sein soll. In der Tat antwortet Kant im ersten Abschnitt von Das Ende aller Dinge auf die Frage, warum die Menschen überhaupt ein Ende aUer Dinge erwarten,
Rel .. B 93-94 "" A 87. Kant, E.a.D., A 498. Kant, E.a.D., A 495. Kant, E.a.D .. A 497. Kant, E.a.D., A 496. In der Kritik der reinen Vernunft wird dieses Wort in be71lg auf die beiden Postulate verwendet, vgl. Anm . 77.
36 Kant,
37 )8 )9 40 41
Kanu Schrift Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie 181
mit dem Argument: »weil die Vernunft ihnen sagt, daß die Dauer der Welt nur sofern einen Wert hat, als die vernünftigen Wesen in ihr dem Endzweck ihres Daseins gemäß sind, wenn dieser aber nicht erreicht werden soUte, die Schöpfung selbst ihnen zwecklos zu sein scheint: wie ein Schauspiel, das gar keinen Ausgang hat, und keine vernünftige Absicht zu erkennen gibt.«42 Die Idee vom Ende aller Dinge leitet sich also, wie die Postulate der reinen praktischen Vernunft, aus dem Begriff des höchsten Gutes ab. In der Sinnenwelt kann das höchste Gut nicht verwirklicht werden. Wäre nun die Sinnenwelt von unbegrenzter Dauer, gäbe es also kein Ende aller Dinge, dann wäre das höchste Gut (der Endzweck) nicht zu verwirklichen. Die Vernunft muss folglich ein Ende aller Dinge annehmen, um ihren letzten Zweck nicht aufgeben zu müssen . Denn, so formuliert Kant im dritten Abschnin von Das Ende aller Dinge, »man mag so schwergläubig sein wie man will, so muss man doch, wo es schJechterdings unmöglich ist, den Erfolg aus gewissen nach aller menschlichen Weisheit [.. .] genommenen Mitteln mit Gewissheit voraus zu sehn, eine Konkurrenz göttlicher Weisheit zum Laufe der Natur auf praktische Art glauben, wenn man seinen Endzweck nicht lieber gar aufgeben will.«43 Dass es ein Ende aller Dinge gebe, ist demnach ein Postulat der praktischen Vernunft . Im zweiten Abschnitt von Das Ende aller Dinge findet sich die ausführlichste Fassung von Kants Argument rur die Annahme eines Endes aller Dinge. »Daß aber einmal ein Zeitpunkt eintreten wird, da alle Verändrung (und mit ihr die Zeit selbst) aufhört, ist eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung~( 44 , schreibt Kant dort. »Gleichwohl ist diese Idee, so sehr sie auch unsere Fassungskraft übersteigt, doch mit der Vernunft in praktischer Beziehung nahe verwandt. Wenn wir den moralisch-physischen Zustand des Menschen hier im Leben auch auf dem besten Fuß annehmen, nämlich eines beständigen Fortschreitens und Annäherns zum höchsten (ihm zum Ziel ausgesteckten) Gut: so kann er doch (selbst im Bewußtsein der Unveränderlichkeit seiner Gesinnung) mit der Aussicht auf eine ewig dauernde Veränderung seines Zustandes (des sittlichen sowoh1 als physischen) die Zufriedenheit nicht verbinden. Denn der Zustand, in welchem er itzt ist, bleibt immer doch ein Übel, vergleichungsweise gegen den bessern, in den zu treten er in Bereitschaft steht; und die Vorstellung eines unendlichen Fortschreitens zum Endzweck ist doch zugleich ein Prospekt in eine unendliche Reihe von Übeln, die, ob sie zwar von dem größern Guten überwogen werden, doch die Zufriedenheit nicht Statt finden lassen, die er sich nur dadurch, daß der Endzweck endlich einmal erreicht wird, denken kann.« 4S Es ist deutlich, dass Kant mit der Annahme eines Endes aller Dinge jene Schwierigkeit auflöst, die darin bestand., dass ein unendlicher moralischer Fort42 Kanl, E.a.D., A 503. 43 Kanl, E.a.D., A 516. 44 Kanl, E.a.D., A 51 1. 4S Kanl, E.a.D., A 512- 513.
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schritt keine Zufriedenheit mit dem eigenen sittlichen Zustand zuJässt. Die Vor-
steUung einer unendlichen Annäherung an das Ideal der Heiligkeit beinhaltet nun aber die beständige Veränderung des sittlichen Zustandes des Menschen zum Besseren. Mit der VorsteUung einer solchen beständigen Veränderung kann der Mensch keine Zufriedenheit verbinden, argumentiert Kant, weil sein gegenwärtiger Zustand im Vergleich zu dem nächstbesseren Zustand stets noch " ein moralisches übel bliebe. In einer unendlichen Annäherung an das Ideal der
Heiligkeit wäre der Mensch also jederzeit mit seinem eigenen sittlichen Zustand unzufrieden. Zufriedenheit mit dem eigenen sittlichen Zustand heißt gemäß der KriNk der praktischen Vemunfl inteUektueUe Zufriedenheit. Um sich eine solche intelJektueUe Zufriedenheit denken zu können, muss der Mensch folglich ein Ende der Veränderung seines sittlichen Zustandes annehmen. Weil mit der Zeit immer Veränderung einhergeht, muss er dazu ein Ende der Zeit und aller Dinge als Zeitwesen annehmen . In der zitierten Textstelle wird jedoch der Begriff des beständigen Fortschreitens - und mit ihm der Begriff der Zufriedenheit - im Hinblick auf den ))sittlichen sowohl als physischen« Zustand verwendet. Folglich enthält die Textstelle nicht nur ein Argument über die Zufriedenheit mit dem sittlichen Zustand (die gemäß der Kritik der praktischen Vernunft intellektuelle Zufriedenheit heiß!), sondern auch ein Argument über die Zufriedenheit mit dem physischen Zustand. Dieses Argument besagt, dass der Mensch mit der unendlichen Veränderung seines physischen Zustandes zum Besseren keine Zufriedenheit verbinden kann, weil der gegenwärtige physische Zustand im Vergleich zu dem nächstbesseren stets noch ein physisches Übel bleibt. Um sich eine Zufriedenheit mit seinem physischen Zustand denken zu können, muss der Mensch ein Ende der Veränderung seines physischen Zustandes annehmen. Weil mit der Zeit immer Veränderung einhergeht, muss er dazu ein Ende der Zeit und aDer Dinge als Zeitwesen annehmen . Der Begriff der Zufriedenheit, den Kant in der TextstelJe verwendet und auf dem sein Argument für die Idee eines Ende aller Dinge beruht, beinhaltet folglich nicht nur die Zufriedenheit mit dem eigenen sittlichen Zustand. Er beinha1tet auch die Zufriedenheit mit dem eigenen physischen Zustand. Kants Sprachgebrauch schließt eine solche Verwendung des Begriffs Zufriedenheit nicht aus. Im Gegenteil: In der Kritik der praktischen Vernunft nennt Kant neben der intellektuellen Zufriedenheit, die sich auf den eigenen sittlichen Zustand bezieht, noch die ästhetische Zufriedenheit, ))welche auf der Befriedigung der Neigungen [ ... 1beruht« 46, das heißt Zufriedenheit mit dem eigenen physischen Zustand ist. Während die intellektuelle Zufriedenheit allein im Bewusstsein der eigenen Sittlichkeit besteht und nicht im Beitritt eines besonderen Gefühls,
46 Kant, Kr.d.p.V.• A 212.
KanLS Schrift Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie 183
besteht die ästhetische Zufriedenheit sehr wohl im Beitritt eines besonderen, außer-intellektuellen Gefuhls. Seides heißt bei Kant Zufriedenheit. Das in Das Ende aller Dinge mit »)Zufriedenheit« Gemeinte umfasst folglich die intellektuelle Zufriedenheit und auch die ästhetische Zufriedenheit. Und Kants Argumentation in der zitierten Textpassage besagt demnach : Der Mensch kann mit der Vorstellung einer beständigen Veränderung seines Zustandes, sowohl des sittlichen als auch des physischen Zustandes, kerne Zufriedenheit verbinden, weder intellektuelle noch ästhetische Zufriedenheit; er muss sich deshalb das Erreichen der sittlichen und der physischen Vollkommenheit und das Ende der Veränderung seines Zustandes denken, was die Idee des Endes der Zeit und aller Dinge als Zeitwesen nach sich zieht. Die zitierte Textstelle enthält also zwei exakt parallele Argumente: eines über die (intellektuelle) Zufriedenheit mit dem sittlichen Zustand und eines über die (ästhetische) Zufriedenheit mit dem physischen Zustand. Von diesen beiden Argumenten hat nun das Argument über die Zufriedenheit mit dem physischen Zustand fii.r Kant das größere Gewicht. Denn die Sittlichkeit muss um ihrer selbst willen erstrebt werden, nicht um der Zufriedenheit mit der Sittlichkeit willen. Die Sittlichkeit um der Zufriedenheit mit der Sittlichkeit willen zu erstreben, hieße nach Kant, die Sittlichkeit ))herabzusetzen und zu verunstalten« 47 . Das würde der Sittlichkeit eine falsche Thebfeder unterlegen . (Der gesamte dritte Abschnitt von Kants Schrift ist der Zurückweisung eines Verständnisses von Religion gewidmet, das Belohnung oder Strafe zu Triebfedern sittlicher Handlungen macht.) Die Zufriedenheit mit der Sittlichkeit ist also nicht Teil des moralischen Gutes. Als intellektuelle Zufriedenheit ist sie aber auch nicht Teil des physischen Gutes. Sie ist folglich insgesamt nicht Teil des höchsten Gutes. Wenn aber die Zufriedenheit mit der Sittlichkeit nicht Teil des höchsten Gutes ist, dann muss die Vernunft auch nicht das Ende aller Dinge postulieren, blo ß weil der Mensch diese Zufriedenheit nicht anders als durch ein solches Ende erreichen kann. 48 Denn die Vernunft muss nur postulieren, was zum Erreichen des höchsten Gutes nötig ist. Genau aus diesem Grund muss die Vernunft jedoch das Ende aller Dinge postulieren, wenn der Mensch die Zufriedenheit mit seinem physischen Zustand nicht anders als durch ein solches Ende erreichen kann . Denn die Glückseligkeit ist Teil des höchsten Gutes. Glückseligkeit ist aber nichts anderes als, so definiert Kant in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, ))Zufriedenheit mit seinem physischen Zustande« 49. Kann also die Zufrieden-
47 Kant. Kr.d. p.V., A 21 1. 48 Ein solches Postulat wäre nur dann notwe ndig, wenn der Mensch die vollendete Sinlichkeit nicht erreic hen könnte. Das kann er aber sehr wo hl, nämlich in einer unendlichen Annäherung an diese Vollendung. Er kann nur die Vollendung in der Annäherung an dieselbe nicht erkennen oder »antreffe nK Das ist Gott vorbehalten. 49 Kant. ReL, 8 87 ",. A so.
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heil mit dem physischen Zustand nicht erreicht werden, dann kann in der Tat der Endzweck allen Vemunftgebrauchs - das vol1ständige höchste Gut nicht erreicht werden, weil die Zufriedenheit mit dem physischen Zustand die Glückseligkeit und damit notwendiger Bestandteil des höchsten Gutes ist. Um nicht der Zwecklosigkeit anheirnzufallen, muss sich die menschliche Vernunft folglich ein Ende aller Dinge denken, durch das die Zufriedenheit mit dem physischen Zustand erreicht und das vollständige höchste Gut verwirklicht wird. Kanls Hauptargument ftir die Idee des Endes aller Dinge beruht aJso auf dem Regt ilf der Zufriedenheit mit dem physischen Zustand. Zwar löst er mit der Idee des Endes aller Dinge durchaus auch jene Schwierigkeit, die ihm aus dem Begriff der Zufriedenheit mit dem sittlichen Zustand entstanden war (die Schwierigkeit der »)TrosIJosigkeit« angesichts des eigenen sinlichen Zustandes). Diese Schwierigkeit löst er aber hier nur nebenbei . Die Zufriedenheit mit dem sittlichen Zustand stellt sich als Zugabe ein, wenn durch das Ende aller Dinge das höchste Gut verwirklicht wird.
v. Auflösung der anderen Schwierigkeit Offenkundig steht die Idee eines Endes aUer Dinge in einem Spannungsverhältnis zu Kanls früheren Überlegungen zur Verwirklichung des höchsten Gutes. Bislang war Kant von einem unendlichen moralischen Fortschritt ausgegangen, das heißt von einer beständigen Ver.:inderung des moralischen Zustandes zum Besseren. Das war Kants Positio n seit der Kritik der praktischen Vernunft. Ln Das Ende aller Dinge spricht Kant aber vom Ende aller Zeit, was auch das Ende aller Veränderung einschließt, »denn wäre in der Welt noch Veränderung, dann wäre auch die Zeit da, weil jene nur in dieser Statt finden kann, und, ohne ihre Voraussetzung, gar nicht denkbar isu< so Mit dem Ende der Zeit müsste folglich auch das Ende des moralischen Fortschritts eintreten, der eine beständige Veränderung ist. Darüber hinaus musste für den bislang angenommenen unendlichen moralischen Fortschritt. wie dargelegt. die Unsterblichkeit des ganzen Menschen mit Leib und Seele postuliert werden. Ln Das Ende aller Dinge spricht Kant aber vom Weitende aJs dem Ende der sinnlichen und dem Beginn der übersinnlichen, das heißt: nicht-leiblichen Existenz des Menschen. Eine solche übersinnliche Existenz des Menschen entspricht zwar der Formulierung von der »Unsterblichkeit der Seele« aus der Kn'tik der praktischen Vernunft. nicht aber der für den moralischen Fortschritt gemäß der Kritik der praktischen Vernunft tatsächlich zu postulierenden Unsterblichkeit des ganzen Menschen.
SO Kanl, E.a.D., A 509.
Kants Schrift Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie 185 Damit ist die andere Schwierigkeit innerhalb von Kants Argumentation angesprochen. Sie ergab sich aus dem Widerspruch zwischen dem Postulat der Unsterblichkeit des ganzen Menschen und der Vorstellung von der »Unsterblichkeit der Seele« . Hinsichtlich dieser Schwierigkeit ist zunächst festzustellen, dass Kant in der zitierten Textstelle unauffaJ.lig, aber eindeutig klarstellt, wie man sich den »unendlichen Progressus« zu denken hätte, von dem er in der Kritik der praktischen Vernunft sprach. Die Annäherung an das höchste Gut versteht Kant in Das Ende aller Dinge nämlich als )>ewig dauernde Veränderung seines Zustandes (des sittlichen sowohl als physischen)«. Für einen »unendlichen Progressus« wäre nach dieser Fonnulierung in der Tat die Unsterblichkeit des ganzen Menschen mit Leib und Seele anzunehmen. Dabei verbessert sich nach Kants Worten nicht nur beständig der sittliche Zustand des Menschen. Auch der physische Zustand verbessert sich demnach beständig. Weil nun der Mensch in diesem »)unendlichen Progressus« offenbar immer noch den Bedingungen der Sinnenwelt unterliegt und daher seine Glückseligkeit durch sittliches Handeln allein nicht bewirken kann, muss man annehmen, dass die beständige Verbesserung des physischen Zustandes des Menschen durch Gott bewirkt wird. lnjenem »unendlichen Progressus«, von dem die Kritik der praktischen Vernunft sprach, würde folglich der Mensch seinen sittlichen Zustand unendlich verbessern, während Gott den physischen Zustand des Menschen unendlich verbessert, indem er dem Menschen Glückseligkeit jeweils genau entsprechend der erreichten Sittlichkeit zuteilt. Mit dieser - man muss schon sagen: merkwürdigen - Vorstellung von Unsterblichkeit kann der Mensch keine Zufriedenheit verbinden, stellt Kant in Das Ende aller Dinge fest. Deshalb führt er die Annahme eines Endes aller Dinge ein, durch das das höchste Gut verwirklicht wird . Damit revidiert Kant seine bisherige Vorstellung von Unsterblichkeit. Denn mit dem Ende aller Dinge hat alle Veränderung und damit auch der )}Progressus« des Menschen ein Ende. Dieser »Progressus« kann folglich nur potentiell unendlich sein. Ist aber der »)Progressus« nur potentiell unendlich 7 dann entfallt die Notwendigkeit, die Unsterblichkeit des ganzen Menschen mit Leib und Seele zu postulieren. Denn es war eine Implikation der Idee eines tatsächlich niemals endenden »Progressus«, dass der Mensch jederzeit ein Wesen der Sinnenwelt bleiben muss, also mit Leib und Seele unsterblich ist. Wird dagegen der »Progressus« durch ein Ende aller Dinge beendet, dann entf3.llt die Notwendigkeit, die Unsterblichkeit des ganzen Menschen mit Leib und Seele zu postulieren. Deshalb schreibt Kant, das Ende aller Dinge sei der Anfang der Existenz der Menschen als übersinnliche Wesen . Die Idee einer übersinnlichen Existenz des Menschen, die Kant in Das Ende aller Dinge entfa1tet, widerspricht der Idee der Unsterblichkeit des ganzen Menschen, die in der Argumentation der Kritik der praktischen Vernunft impliziert war. Sie entspricht aber der Idee der »Unsterblichkeit der Seele<<, auf die sich Kant mit seiner scheinbar unbedachten Fonnulierung in Kritik der praktischen Vernunft bezog.
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Kants Formulierung von der »Unsterblichkeit der Seele«, die in der Kritik der praktischen Vernunft verwandte, war seinerzeit woh] keineswegs unbedacht. Sie verwies vielmehr voraus auf die Idee eines Endes der leiblichen Existenz des Menschen, die Kanl erst später, in Das Ende aller Dinge, zur Entfa1tung gebracht hat. Mit der Entfaltung dieser Idee hat Kanl zuletzt doch noch eine genuine Auffassung vom Tod entwickelt. In der Argumentation der Krilik der praktischen Vernunft. und insbesondere in Kants Postulat einer unendlich fortdauernden leiblichen Existenz des Menschen, war eine solche Auffassung nicht enthalten. Mit der Fonnulierung von der ) Unsterblichkeit der Seele« war sie aber gewissermaßen versprochen. Kanls Schrift Das Ende aller Dinge löst nun das Versprochene ein, indem sie mit der Lehre vom Ende der Sinnenwelt eine Lehre vom Ende der leiblichen Existenz des Menschen - und das heißt vom Tod - verbindet. Es ist daher kein Zufall, dass Kants Schrift mit einer Reflexion über den »sterbenden Menschen«sl beginnt und aus der Auffassung, dieser gehe aus der Zeit in die Ewigkeit, die ganze Idee vom Ende aller Dinge entwickelt. Wie wird nun aber das höchste Gut durch das Ende aDer Dinge verwirklicht? Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst zu fragen, wie das moralische Gut, das »()berste Gut« innerhalb der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit, durch das Ende a]Jer Dinge verwirkJicht wird. Wenn, wie Kant sagt, das Ende aller Dinge zugleich der Anfang der Existenz der Menschen als übersinnliche Wesen ist, dann kann der Mensch mit diesem Ende auch die Heiligkeit, das heißt die vollkommene Angemessenheit seines Wlliens an das Sittengesetz, erreichen. Denn der Mensch, der sich der Heiligkeit in einem potentiell unendlichen »Progressus« beständig annähert, kann ja die Heiligkeit nach Kant nur solange nicht erreichen, wie er an die Bedingungen der Sinnenwelt gebunden ist. Tritt er jedoch mit dem Ende aller Dinge in eine übersinnliche Existenz ein, so ist er diesen Bedingungen enthoben. Mit dem Ende aller Dinge wird also der sich in potentiell unendlicher Annäherung an die Heiligkeit befindende Mensch zuJetzt doch noch heilig. So wird das moralische Gut durch das Ende aDer Dinge verwirklicht. Das ist allerdings nicht so zu verstehen, als würde dem Menschen am Ende aller Zeiten die Heiligkeit von Gott geschenkt. Gottes intellektuelle Anschauung kann vielmehr auch in einer unendlichen Annäherung an die Heiligkeit diese Heiligkeit selbst »antreffen«. Bei einem Menschen, der sich der Heiligkeit in einem potentiell unendlichen »Progressus« beständig annähert, kann Gottes intellektuelle Anschauung die Heiligkeit also jederzeit »antreffen«, So wird durch das Ende aller Dinge ein moralisches Gut verwirklicht, das in der intellektuellen Anschauung Gottes bereits besteht. Der sich in unendlicher Annähemug an die Heiligkeit befindende Mensch ist in Gottes intellektueller
SI Kant, E.a.D., A 495.
Kanu SchnJi Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie 187 Anschauung schon heilig. Für Gott ist ein Ende aller Dinge, durch das der Mensch heilig wird, daher nicht nötig. Für den Menschen ist ein Ende aller Dinge hingegen nötig, weil er nur mit einem solchen Ende die Vorstellung von Zufriedenheit verbinden kann. Deshalb muss seine Vernunft ein Ende aller Dinge postulieren. Das Ende aller Dinge beendet also die potentiell unendliche Annäherung des Menschen an die Heiligkeit um seiner Zufriedenheit willen. Das Ende aller Dinge macht diesen Menschen aber nicht heilig, denn heilig ist er in Gottes intellektueller Anschauung schon. Stattdessen bringt das Ende aller Dinge seine in Gottes intellektueller Anschauung schon bestehende Heiligkeit in eine Form, mit der der Mensch Zufriedenheit verbinden kann. Wenn aber das Ende aller Dinge den Menschen nicht heilig macht, sondern seine Heiligkeit nur, insofern sie in Gottes intellektueller Anschauung schon besteht, in eine andere Form bringt, dann bedeutet dies, dass mit dem Ende aller Dinge nicht zwangsläufig alle Menschen heilig werden. Nur diejenigen Menschen werden durch das Ende aller Dinge heilig, die sich bereits auf den
Weg der unendlichen Annäherung an die Heiligkeit begeben haben und auf diesem Weg beständig voranschreiten . Nur sie werden ja einzig durch die Sinnenwelt am Erreichen der Heiligkeit gehindert. Nur sie können folglich auch die Heiligkeit durch ein Ende der Sinnenwelt erreichen. Diejenigen Menschen hingegen, die sich gar nicht erst auf den Weg der unendlichen Annäherung an die Heiligkeit begeben, werden auch durch ein Ende der Sinnenwelt nicht heilig. Für sie liegt das Hindernis ja gar nicht in der Sinnenwelt. Bei den mit dem Ende aJJer Dinge in eine übersinnliche Existenz eintretenden Menschen ist aJso zwischen Unheiligen und Heiligen zu unterscheiden. Gemäß dieser - in Kanls Worten - )}dualistischen« VorstelJung kann ein sich nicht um moralische Verbesserung bemühender Mensch keineswegs hoffen, am Ende aller Zeiten die Heiligkeit von Gott geschenkt zu beko mmen. Dagegen kann ist ein sich beständig um moralische Verbesserung bemühender Mensch annehmen, dass er, wie Kanl in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft formuJiert, ) unerachtet seiner beständigen Mangelhaftigkeit doch überhaupt Gott wohlgefaIlig zu sein erwarten könne, in welchem Zeitpunkte auch sein Dasein abgebrochen werden möge.«52 Denn ein sich in unendlicher Annäherung an die Heiligkeit befindender Mensch ist in Gottes intellektueller Anschauung heilig, wann immer auch das Ende aller Dinge eintreten mag. Und wie wird durch das Ende aller Dinge das physische Gut verwirklicht? Das physische Gut, die Glückseligkeit, ist nach Kant immer sinnlich. Durch das Ende aller Dinge tritt der Mensch aber in eine übersinnliche Existenz ein. Wie kann aJso ein sinnliches Gut durch den Eintritt in eine übersinnliche Existenz verwirklicht werden? In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Kant in der Kritik der prakJischen Vernunft zwischen Glückseligkeit und Seligkeit
52 Kanl, Rel., B 86 = A 80.
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unterscheidet. Während Glückseligkeit »)Vom positiven Beitritt eines Gefuhls abhängt« Sl. ist unter Seligkeit »gänzliche Unabhängigkeit von Neigungen und
Bedürfnissen«S4 zu verstehen. Während also Glückseligkeit durch Erflillung der sinnlichen Bedürfnisse zustandekommt, kommt die Seligkeit durch den gänzlichen Wegfall dieser Bedürfnisse zustande. Bedenkt man nun, dass nach Kants Auffassung die sinnlichen Bedürfnisse »einem vernünftigen Wesen jederzeit lästig«sS sind, dann wird deutlich, dass nach Kanl die Seligkeit gegenüber
der Glückseligkeit rur ein vernünftiges Wesen der höhere und vollkommenere Zustand sein muss. Dieser Zustand kann in der Sinnenwelt ldarerweise nicht erreicht werden. In dieser Welt kann die Setigkeit nur »Unter dem Namen der Glückseligkeit«S6 erstrebt werden. Mit Eintritt in eine übersinnliche Existenz ist der Mensch aber den Beschränkungen der Sinnenwelt enthoben. Mit dieser Enthebung würde der sich in unendlicher Annäherung an die Heiligkeit befindende Mensch tatsächlich im Kantischen Sinne selig, nämlich seinen sinnlichen Bedürfnissen enthoben werden. So spricht Kant auch in Das Ende aller Dinge stets präzise von der »Seligkeit«57, die dem Menschen am Ende aller Zeit zuteil wird . Das physische Gut des Menschen wird also zuletzt durch seine Erhebung aus dem Zustand physischer Bedürftigkeit verwirklicht. Und für das höchste Gut insgesamt gilt demnach, dass es in dieser Welt als Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit erstrebt, jedoch erst mit dem Ende dieser Welt, durch den Übergang in die übersinnliche Existenz, als Verbindung von Heiligkeit und Seligkeit verwirklicht wird. Wie schon hinsichtlich des moralischen Gutes, so ist auch Kants Vorstellung hinsichtlich des physischen Gutes »)(iualistisch«. Auf die Seligkeit darf der Mensch laut Kant nämlich nur dann hoffen, wenn er sich auf den Weg der unendlichen Annäherung zur Heiligkeit begeben hat und auf diesem Weg beständig voranschreitet. Nur dann ist er in Gottes inteUektueller Anschauung heilig . Begibt sich der Mensch dagegen gar nicht erst auf diesen Weg, dann ist er in Gottes Anschauung auch nicht heilig. Solche Menschen werden von Gott verdammt, sagt Kant in Das Ende aller Dinge. Der Idee vom Ende aller Dinge fügt er daher die Vorstellung von einem ) Gerichtstag« 58 hinzu, im Zuge dessen Gott )einigen Auserwählten die Seligkeit, allen übrigen aber die ewige Verdammnis«59 zuspricht. Beidejedoch, die Seligen und die Verdammten, sind gleichermaßen unsterblich und existieren fort . Sie singen von nun an »immer dasselbe Lied«: die Seligen »ihr Halleluja«, die Verdammten hingegen )>ewig
53 Kan!, Kr.d.p.V., 54 Kan!, Kr.d.p.V., 55 Kan!, Kr.d.p.V., 56 Kan!, Kr.d.p.V..
A 214. A 214. A 212. A 232.
57 Kan!, Ea.D., A 499. 58 Kanl, E.a.D .• A 497.
59 Kant, E.a.D .. A 499.
Kants Schrift Das Ende a1ler Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie 189 eben dieselben Jammertöne«. 60 Es wird allerdings nicht recht klar, worüber die Verdammten jammern. Schließlich ist ihre Existenz nach dem Ende aller Dinge eine Übel sinnliche, das heißt aUen physischen Bedürfnissen enthobene. Verhindert Gott, dass auch die Verdammten selig werden, wenn sie als übersinnliche Wesen dem Zustand physischer Bedürftigkeit enthoben sind? Kants Vorstellungen hierüber werden nicht deutlich. Sie scheinen aber mit seiner Idee eines Endes aller Dinge nicht leicht vereinbar zu sein. Zu Kants Gunsten kann man allerdings anführen, dass es sich hier eben um ein Geheimnis handelt. Denn die menschliche Vernunft, sag1 Kant in Dar Ende aller Dinge, »hat auch ihre Geheimnis~(61 . Laut Kants Aussagen in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ist es nun einerseits Kennzeichen solcher Geheimnisse, )xJaß wir sie nicht begreifen, d. i. die Möglichkeit des Gegenstandes derselben nicht einsehen können« 62, andererseits aber, »da8 man verstehe, was unter demselben gemeint sei«63 . Gemäß Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen I1!munfl ist das, was Gott bei der Verwirklichung des höchsten Gutes tut und bewirkt, ein solches Geheimnis: »Weil der Mensch die mit der reinen moralischen Gesinnung unzertrennlich verbundene Idee des höchsten Gutes [ ... ] nicht selbst realisieren kann, fühlt er sich zum Glauben an die Mitwirkung oder Veranstaltung eines moralischen Weltherrschers hingezogen, wodurch dieser Zweck allein möglich ist, und nun eröffnet sich ihm der Abgrund eines Geheimnisses, von dem, was Gott hiebei tue, ob ihm überhaupt etwas, und was ihm (Gott) zuzuschreiben sei«.64 Wlfd nun das höchste Gut durch das Ende aller Dinge verwirklicht, wie Kant in Dar Ende aller Dinge schreibt, dann besteht das Geheimnis, »was Gott hiebei tue«, auch in bezug auf das Ende aller Dinge. Dass es ein Ende aller Dinge gebe, mit dem das höchste Gut verwirklicht wird, ist demnach ein Postulat der praktischen Vernunft. Was aber Gott an diesem Ende tut, und wie er es tut, ist ein Geheimnis. Denn das Ende aller Dinge ist nach Kant ein Begriff, bei dem den Menschen )xJer Verstand ausgeht und das Denken selbst ein Ende hat.«6s Dass man über das Schicksal der Verdammten am Ende aller Zeit nicht zu völliger Klarheit kommen kann, mag man Kant vor diesem Hintergrund vielleicht nachsehen.
60 Kant, E.a.D., A 512. 61 Kant, E.a.D.., A 513. 62 Kant, Re!., 8 217 =A 205. 63 KMtI, Re!., 8 218 = A 205. 64 KanI, ReI.,8210-211 =A 199. 6S Kanl, E.a.D., A 514. Nach den Kriterien von Die Religion innerhalb dl!r Grenzen du blqßm Vemw!ft kann hingegen etwas nur dann ein ~heimnis sein, wenn »ruchl etwa dabei alles Denken ausgeheII (8 218 - A 20S).
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VI. Geolfenbane Wahrheit? In seiner Schrift D '/In fon apoca/yplique adople naguere en philosophie hat Jacques Denida den Begriff der »Schrift apokalyptischen Typs«66 eingefiihrt. Ein Kennzeichen apokaJyptischer Schriften sei es, dass sie ein Ende, eine letzte Grenze, einen jüngsten Tag »vorhersagen oder verkünden« 67. Das allein genügt jedoch nicht, um eine Schrift apokalyptischen Typs auszumachen. In Schriften apokalyptischen Typs tritt die Vorhersage des Endes vielmehr mit einem besonders gesteigerten Anspruch auf Wahrheit auf. Dass dieses Ende eintreten wird, wird in apokaJyptischen Schriften aJs »geoffenbarte Wahrheit eines Geheimnisses vom Ende«68 präsentiert, das heißt als eine Wahrheit, die unbezweifelbar ist, weil sie übersinnlichen Ursprungs ist. Mit der Enthüllung dieser Wahrheit hat aJ1e Unwahrheit und Verkennung ein Ende. In Schriften apokaJyptischen Typs ist folglich auf doppelte Weise vom Ende die Rede, nämlich einerseits aJs Vorhersage eines künftig eintretenden Endes (Vorhersage des jüngsten Tages) und andererseits als Behauptung eines mit dieser Vorhersage selbst eintretenden Endes (Behauptung des Endes der Verkennung).69 Die Behauptung des Endes der Verkennung ist ihrerseits Ausdruck des besonders gesteigerten Wahrheitsanspruchs der apokalyptischen Schrift. Als Kennzeichen apokalyptischer Schriften müssen nach Derrida folglich die Vorhersage eines künftigen Endes, der Anspruch auf eine geoffenbarte Wahrheit und die Behauptung des bereits eingetretenen Endes der Verkennung gelten. Auf den ersten Blick scheint Kanls Schrift Das Ende aller Dinge eine Schrift apokalyptischen Typs zu sein. Fortwährend ist darin von einem künftigen Ende die Rede. Dieses künftige Ende wird aJs das Ende der Welt verstanden und ausdrücklich als der »jüngste Tag« 70 bezeichnet. Auch Derridas Formulierung von der »geoffenbarten Wahrheit eines Geheimnisses vom Ende« findet sich fast wörtlich bei Kant. der die Geheimnisse der Vernunftreligion als »uns durch unsre eigne Vernunft geoffenbarte Geheimniss~( 71 bezeichnet. Schließlich scheint sich bei Kant auch die Behauptung eines mit seinen Schriften eintretenden Endes zu finden. So spricht Kanl davon. dass es »doch endlich einmal soweit gediehen ist, daß das Gemeinwesen rarug und geneigt ist, nicht bloß den hergebrachten frommen Lehren, sondern auch der durch sie erleuchteten praktischen Vernunft (wie es zu einer Religion schlechterdings notwendig ist) Gehör zu geben« 72. Mit dem Übergang von den »frommen Lehren« zur
66 Derrida. O'un ton apocalyptique, 57. 67 Derrida, O'un ton apoca1yptique, 57. 68 Derrida. O'un ton apocalyptique, 69. 69 Zur Verdopplung des Endes in apokalyptischen Texten vgl. auch Brokoff, Apokalypse, 15- 30. 70 Kant, E.a.D., A 497. 71 Kant, Rel., B 215 = 202. 72 Kant, E.a.D.. A 515.
Kants Sd llifl Das Ende aller Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie 191
»praktischen Vernunft«, deren Postulate Kant in seinem Text selbst erläutert, wäre also bereits der Anfang gemacht, das (moralische) Reich GoMes auf Erden zu errichten. Kants Schrift Das Ende ai/er Dinge würde demnach die genannten Kennzeichen aufzuweisen und wäre als Schrift apokalyptischen Typs anzusehen. Bei näherer Betrachtung lässt sich diese Einschätzung allerdings nicht aufrechterha1ten. Zunächst einmal ist festzusteUen, dass Kant ein künftiges Ende nicht wirklich vorhersagt . Stattdessen untersucht er, unter welchen Bedingungen die menschliche Vernunft dazu kommt, ein solches Ende anzunehmen. Mit äußerster Präzision spricht Kant davon. dass man ein Ende aller Dinge annehmen muss, »wenn man seinen Endzweck nicht lieber gar aufgeben will.( Darin ist impliziert, dass man kein Ende aller Dinge annehmen muss, wenn man bereit ist. seinen Endzweck aufzugeben . Friedrich Nietzsche hielt das fur möglich. Er lehrte, »nach Nichts mehr zu verlangen« 13 , als dass sich das eigene Leben ohne jeden Zweck endlos wiederhole. Seine Lehre von der ewigen Wiederkunft des G leichen steht in scharfem Gegensatz zu Kants Lehre vom Ende aller Dinge. Mit Blick auf Kant ist kürzlich die Beförderung eines nicht erreichbaren Zwecks als »(!ritte Möglichkeit« jenseits von Trostlosigkeit und Vernunftreligion ins Spiel gebracht worden. 74 Kanl selbst hielt jedoch nichts dergleichen fiir menschenmöglich. Deshalb ging er davon aus, dass der Mensch ein Ende aller Dinge postulieren müsse. Seine Einschränkung jedoch, dass der Mensch es nur postulieren muss, wenn er seinen Endzweck nicht aufgeben will, erhält er jederzeit aufrecht. Man kann also nicht behaupten, dass Kant das Ende aUer Dinge im strengen Sinne des Wortes vorhersagt . Auch von einem besonders gesteigerten Wahrheitsanspruch kann in bezug auf Das Ende aller Dinge nicht die Rede sein. Stattdessen schreibt Kanl, wer seinen Endzweck nicht aufgeben wolle, müsse das Ende aller Dinge »auf praktische Art glauben«. Das bedeutet, dass Kant sich mit seinen Aussagen über das Ende aller Dinge im Gebiet der praktischen Philosophie und nicht der theoretischen Philosophie bewegt - eben in der Ethik und nicht in der Metaphysik. In theoretischer Absicht, das heißt mit Blick auf die Erkenntnis, kann die Vernunft über ein mögliches Ende aller Dinge nichts sagen. Denn ein solches Ende ist »für das spekulative Erkenntnis überschwenglich(( 7S . ln praktischer Absicht, das heißt mit Blick auf das Handeln, kann die Vernunft allerdings fordern, dass es ein solches Ende gebe, damit sie ihren Endzweck nicht aufgeben muss. Wenn man nun in praktischer Absicht über das Ende aller Dinge spricht. wie Kant es in Dar Ende aller Dinge tut, dann muss man stets bedenken, dass »wir es hier bloß mit Ideen zu tun haben (oder damit spielen), die die Vernunft sich
7l Niewche, Fröhliche Wissenschaft. KSA 3/ 510. 74 Nuyen, »Kant on God~ 121 - 1J3. 75 Kant, E.a.D.. A S07.
Tanten Hitz
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selbst
sch~
wovon die Gegenstände (so sie deren haben) ganz über unsem
Gesichtskreis hinausliegen« 76 . Mit seiner Formulierung, man müsse das Ende aller Dinge »auf praktische Art glauben«, zeigt Kanl also den besonderen erkenntnistheoretischen Status der Idee vom Ende aller Dinge an. Diesen erkenntnistheoretischen Status bezeichnet Kant in der Kn"lik der reinen Vernunft als »moralische Gewißheit«. Dazu schreibt Kant : »Zwar wird freilich sich niemand rühmen können: er wisse, daß ein Gott und ein künftig Leben sei; denn, wenn er das weiß, so
ist er gerade der Mann, den ich längst gesucht habe. Alles Wissen (wenn es einen Gegenstand der bloßen Vernunft betriffi) kann man auch mitteiJen~ und ich würde also auch hoffen können, durch seine Belehrung mein Wissen in so bewunderungswürdigem Maße ausgedehnt zu sehen. Nein, die Überzeugung ist nicht logische, sondern moralische Gewißheit, und, da sie auf subjektiven Gründen (der moralischen Gesinnung) beruht, so muß ich nicht einmal sagen: es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei etc., sondern, ich bin moralisch gewiß etc. Das heißt: der Glaube an einen Gott und eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen , eben so wenig besorge ich, daß mir die zweite jemals entrissen werden könne.« 77 Es ist also gerade nicht in einem besonders gesteigerten, unbezweifelbaren Sinne wahr, dass es einmal ein Ende aller Dinge geben wird. Vielmehr wäre es unvernünftig anzunehmen, dass es kein solches Ende gäbe. Auf den besonderen erkenntnistheoretischen Status der Idee vom Ende aller Dinge verweist auch diejenige TextsteUe in Das Ende aller Dinge, in der Kant vom Ende aller Dinge als einem Geheimnis spricht. In Die Relig;on inner· halb der Grenzen der praktisd,en Vernunft nämlich erläutert Kant zum Begriff des Geheimnisses: ~)Nur das, was man zwar in praktischer Beziehung ganz wohJ verstehen und einsehen kann, was aber in theoretischer Absicht (zur Bestimmung der Natur des Objekts an sich) alle unsre Begriffe übersteigt, ist Geheimnis (in einer Beziehung) und kann doch (in einer andern) geotfenbart werden.« 78 Die theoretische Vernunft kann folglich nichts darüber sagen, ob es einmal ein Ende aller Dinge geben wird oder nicht. Dennoch kann die Notwen· digkeit der Annahme, dass ein solches Ende eintreten wird, durch die praktische Vernunft »geoffenbart ~~ werden. Damit ist immer noch nichts darüber gesagt, ob ein solches Ende tatsächlich einmal eintreten wird. Damit ist nur gesagt, dass die menschliche Vernunft es um der Verwirklichung ihres Endzwecks willen annehmen muss. Das Ende aller Dinge ist also in praktischer Absicht ein Postulat, in theoretischer Absicht dagegen ein Geheimnis. Es muss postuliert, kann aber nicht ergründet werden. Denn um ein Geheimnis zu ergründen, um also erken· 76 Kanl, E.a.D.. A 507. 77 Kanl, Kr.d.r.V.. B 857 -A 829 78 Kanl, Rel .. B 215 _ A 202.
KanLS Schnjt Das Ende aJler Dinge im Kontext seiner praktischen Philosophie 193 nen, ))was all unsere Begriffe übersteigt«, wäre nach Kants erkenntnistheoreti~ scher Auffassung eine intellektuelle Anschauung nötig. Eine solche intellektuelle Anschauung wäre folglich auch nötig, um ein mögliches Ende aller Dinge theoretisch zu erkennen. Wie aus der bisherigen Argumentation bereits deutlich geworden ist, kommt jedoch die Erkenntnisart der intellektuellen Anschauung nach Kant allein Gott zu. Der Mensch ist zu einer intellektuellen Anschauung grundsätzlich nicht filig. Alle Anschauung des Menschen ist notwendigerweise sinnlich und keinesfalls intellektuell, schreibt Kant in der Kritik der reinen Vernunft, ))weil sie nicht ursprünglich, d.i. eine solche, durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird (und die, so viel wir einsehen, nur dem Urwesen zukommen kann), sondern von dem Dasein des Objekts abhängig, mithin nur dadurch, daß die VorsteUungsflihigkeit des Subjekts durch dasselbe affiziert wird.« 79 Nicht einmal mit Gottes Hilfe könnte er in den Besitz einer intellektuellen Anschauung gelangen. ~~Daß, wenn man seinerseits es nur nicht am ernstlichen Wunsch ennangeln läßt, Gott dieses Erkenntnis uns wohl durch Eingebung zukommen lassen könne, läßt sich nicht denken; denn es kann uns gar nicht inhärieren, weil die Natur unseres Verstandes dessen unfahig iSt.«80 [nteressanterweise hat Derrida seinen Begriff der »Schrift apokalyptischen Typs~~ im Zuge der Auseinandersetzung mit einem Text von Kant entwickelt. Der Begriff der »Schrift apokalyptischen Typs« geht also indirekt aufKant selbst zurijck. [n seinem Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie von 1796 hatte Kant einigen Zeitgenossen vorgeworfen, sich in ihren philosophischen Schriften auf eine )Ahnung des Übersinnlichen«81 zu berufen und aufgrund ihrer venneintlich überlegenen Erkenntnis in einem vornehmen Ton zu sprechen. Derrida hat Kants Begriff einer »Ahnung des Übersinnlichen« aufgegriffen und ihn mit dem Begriff der göttlichen Offenbarung oder Apokalypse verknüpft. Durch diese Verknüpfung kommt Derrida zu seinem Begriff der »geoffenbarten Wahrheit«. Derrida wirft nun aber Kant vor, dass dieser sich ebenfalls auf eine ~~eoffenbarte Wahrheit« berufe, nämlich auf die durch die Vernunft geoffenbarte Wahrheit. 82 Deshalb fällt nach Derridas Auffassung Kants Kritik an den Zeitgenossen auf Kant selbst zurijck. Derrida diskutiert allerdings an keiner Stelle denjenigen Begriff, der Kants Fonnulierung von der »Ahnung des Übersinnlichen« zugrundeliegt. Das ist kein anderer als der Begriff der intellektuellen Anschauung. Gleich zu Beginn legt Kant diesen Begriff der gesamten Argumentation in Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie zugrunde. Er unterscheidet zwischen einer Erkenntnis durch Begriffe, die mühsam erarbeitet werden muss, 79 Kant. Kr.d.r.V., 8 72. 80 K.ant , Rel., 8 218. 81 Kant. Vom ., A 406.
82 Denida, O'un ton apocaJyptique, 36.
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und einer Erkenntnis durch intellektuelle Anschauung, die in einem einzigen mühelosen Akt das erfasst, »was kein Begriff erreicht« 83 • »)Wer sich also im Besitz der letzteren zu sein dünkt, wird auf den erstem mit Verachtung herab sehen«84 , schreibt Kant; »keinem andem, als dem Philosophen der Anschauung [ ... ] kann es einfallen, vornehm zu tun: weil er da aus eigenem Ansehen spricht, und keinem deshalb Rede zu stehen verbunden ist.«8S Wie diese Ausführungen deutlich machen, leitet sich nach Kants Auffassung der vornehme Ton in der Philosophie aus dem vermeintlichen Besitz einer intellektuellen Anschauung ab. Derrida hatte nun Kant vorgeworfen, dass Kants Kritik an den im vornehmen Ton sprechenden Philosophen auf ihn selbst zurückfalle. Geht man von der gerade entwickelten Auffassung Kants aus, dann müsste Kant also den Anspruch erhoben haben, im Besitz einer intellektuellen Anschauung zu sein, damit Derridas Vorwurf berechtigt wäre. Hat Kant das getan? Erhebt Kant den Anspruch, im Besitz einer intellektueUen Anschauung zu sein? Für Kants Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie soll diese Frage hier nicht untersucht werden. Aus der bisherigen Argumentation ist aber bereits deutlich geworden, dass nach Meinung Kants eine intellektuelle Anschauung aUein Gott zukommt. Dem Menschen kann sie dagegen überhaupt nicht inhärieren, weil sein Verstand zu einer solchen Anschauung grundsätzlich unf
KanlS Schnji Das Ende aller Dinge ;m Kontexl seiner praklischen Philosophie 195
Kants Sprache ihren Anspruch auf eine intellektuelle Anschauung selbständig und unabhängig von den Versuchen Kants, diesen Anspruch nicht zu erheben, erhebt. Das Wort ~)geoffenbart« in Kants Text wäre demnach nur das sichtbare Anzeichen eines Anspruchs, den die Sprache unablässig erhebt. In diesem Sinne sagt Derrida auch, der vornehme Ton sei »der Gesang oder der Akzent der Sprache selbst«86. An diesem Punkt trennen sich a1so die Wege von Kant und Derrida. Sie trennen sich aJs die Wege zweier Philosophen, die über die intellektuelle Anschauung derselben, über die Sprache jedoch unterschiedlicher Auffassung sind. Wie Kant ist Derrida der Auffassung, dass eine intellektuelle Anschauung fiir den Menschen unerreichbar ist. Anders aJs Kant ist Derrida jedoch der Auffassung, dass die Sprache den Anspruch, im Besitz einer intellektuellen Anschauung zu sein, unablässig erhebt, auch wenn dieser Anspruch alles Menschenmögliche übersteigt. Kant geht davon aus, dass er Worte wie »geotJenbart« unbefangen benutzen kann, weil ohnehin klar ist, dass eine intellektuelle Anschauung nicht gemeint sein kann . Derrida geht dagegen davon aus, dass scheinbar unverfangliche Worte wie »geotJenbart« zu einer tieferen Ökonomie der Sprache gehören. Nach Derrida kann man den Anspruch auf eine intellektuelle Anschauung zwar stellenweise vermeiden; man kann ihn aber nicht vollständig vermeiden, weil er der Anspruch der Sprache selbst ist. Auf die Frage, ob Das Ende aller Dinge einen vornehmen Ton erhebt, ob sie eine »Schrift apokalyptischen Typs«, würden Kant und Derrida folglich unterschiedliche Antworten geben. Nach Kants Auffassung ist sie es keineswegs, nach Derridas Auffassung müsste sie es notwendig sein. Von der Beantwortung der Frage, ob Kants Schrift einen Anspruch auf »geotfenbarte Wahrheit« erhebt, würde auch abhängen, ob man sagen kann, dass in Das Ende aller Dinge von einem mit Kants eigener Schrift eintre-tenden Ende der Verkennung die Rede ist. Derrida würde zweifellos Kants Aussage, dass ein Übergang von den »frommen Lehren« zur »praktischen Vernunft~( (deren Postulate Kant selbst erläutert) eingesetzt habe, in diesem Sinne interpretieren. In diese Richtung weisen Derridas Aussagen über die »Aufklärung«, an deren Wurzel er ein »apokalyptisches Verlangen«87 nach Klarheit und Enthüllung erkennt. Kant selbst würde wohl darauf verweisen, dass er seine Überlegungen ganz aus der Auffassung entwickelt, ein stel bender Mensch gehe aus der Zeit in die Ewigkeit. Dies ist nach Kant ein »üblicher Ausdruck«88 angesichts eines sterbenden Menschen. Gemäß seiner eigenen Auffassung beruft sich Kant a1so bei der EntfaJtung seine Lehre vom Ende aller Dinge auf das, was die Menschen üblicherweise sagen, auf die übliche Rede der Menschen. Eine Offenbarung wäre demgegenüber das schlechthin 86 Derrida, D'un ton apoca1yptiq ue, 60. 87 Derrida, D'un ton apocalyptique, 64. 88 Kant, E.a.D.. A 495.
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Unübliche. Seinem Selbstverständnis nach beendet Kant folglich keineswegs die Verkennung durch die Wahrheit. Er bringt im Gegenteil in seiner Argumentation nur das zur Entfaltung, was in den üblichen Auffassungen der Menschen ohnehin enthalten ist. So kommt Kant schließlich auch zu dem völlig unapokalyptischen Ergebnis, es sei das Beste, )>die Menschen nur machen und ihren Gang fortsetzen zu lassen, da sie einmal, was die Idee betriffi. der sie nachgehn, auf gutem Wege sind« 89.
Literatur Aristoteles, Metaphysik. Griechisch-Deutsch . Zwei Bände. Herausgegeben von Horst SeidJ, Hamburg 1991 . Brokoff, J., Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 200 1. Derrida. J ., D'un ton apocalyptique adopt! naguere eo philosophie, Paris 1983. Eine Vo rlesung Kanls über Ethik. 1m Auftrage der Kantgesellschaft herausgegeben von
Paul Menzer, Berlin 1924. Kant, 1.: »Vorarbeit zu Das Ende aJler Dinge«. in : Kanl's gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Band 23, Berlin 1955. 149- 152. -, Werke in zehn Bänden . Herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Darmstadl 1956. Marina, J ., »Maklng Sense of Kant's Highest Good«. in : Kant-Studien 91 (2000), 329355. Nietzsche, F., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA). Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Mo nlinari, Berlin und New York 1988. Nuyen, A.T., »Kani on God. Immortality. and the Highest Good(~, in: Southern JoumaJ of Philosophy 32 (1994), 12 1- 133. Rawls, J., »Themes in Kant's Mora] Philosophy«, in : ders., Collected Papers, Cambridge 1999,503- 528. Wood, A., Kant's Mo ra] Religion, lthaca und London 1970.
89 Kan t, E.a.D., A 5 J6.
JOSEF WOHLMUfH
Immanuel Kants Das Ende aller Dinge und die Eschatologiekritik bei Emmanuel Levinas als Herausforderung für die christliche Eschatologie J.
Kams Abhandlung
Kants Abhandlung Das Ende aller Dinge 1 e""hien im Jahre 1794 im Juniheft der Berliner Monatsschnji. Der Beitrag gehört somit in die Umgebung von Religion innerhalb der Grenzen der blassen Vernunft. womit Kant an höchster politischer SteUe Ärgernis erregt hatte. Kant fragt nach der Rationalität einer Erwartung und Befiirchtung des Endes aller Dinge' Dabei genügt es Kant nicht, psychische, soziale oder religiöse Gründe für oder gegen die apokalyptischen Bildweiten ausfindig zu machen. Vielmehr stellt er die Frage, warum ndie Menschen überhaupt ein Ende der Welt (erwarten)« (I 79). 3 Er gibt darauf die folgenreiche Antwort, dass diese Frage mit der Zwecksetzung der Welt und der der vernünftigen Wesen darin zusammenhänge. Der relativ kurze Beitrag enthält eine messerscharfe Argumentationsstruktur, so dass es sich lohnt, diese am Text entlanggehend herauszuarbeiten. Zunächst setzt Kant mit folgenden Sätzen ein: »)Es ist ein, vornehmlich in der frommen Sprache, üblicher Ausdruck, einen sterbenden Menschen sprechen zu lassen: er gehe aus der Zeit in die Ewigkeit« (175). Mit diesem Satz aus dem religiösen AUtagsleben ist Kant sofort im Zentrum der Problemstellung. Der Satz würde, so Kant, nichts sagen, wollte man unter »)Ewigkeit« nur )~ine ins Unendliche fortgehende Zeit« verstehen. In Wrrklicbkeit aber gehe es um ein »Ende aller Zeit bei ununterbrochener Fortdauer des Menschen« (175). Eine solche Dauer müsste von der Zeit unterscheidbar sein, so dass wir uns von der Fortdauer des Menschen keinen Begriff, höchstens einen negativen, machen können. Damit steht Kant bereits vor einer ersten Aporie: Dieser Gedanke hat etwas Grausendes in sich: weil er gleichsam an den Rand eines Abgrunds führt, aus welchem für den, der darin versinkt, keine Wiederkehr möglich ist [ ... ]; und doch auch etwas Anziehendes: denn man kann nicht aufhören, sein 1 I. Kanl. »Das Ende aller Ding~ 175- 190. 2 Vgl. neuerdings: H. Holzhey, »Das Ende aller Dinge, 21 - 34. Vgl. J. Taubes, Abendländische Eschal0logie, 139- 148. 1 Vg!. Holzhey, »Das Ende aller Ding~ 24.
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Josej Wohlmuth
rurückgeschrecktes Auge immer wiederum darauf zu wenden [ ... ]. Er ist furchtbar· erhaben: zum Teil wegen seiner Dunkelheit, in der die Einbildungskraft mächtiger als beim hellen Licht zu wirken pflegt (I 75).
Er müsse aber auch ganz tief verankert sein in der Vemunfttradition der Völker.
Kant steht hier vor einem Phänomen des Erhabenen, eines überwältigenden mysterium tremendwn et !ascinosum, mit dem die Vernunft, ohne es bewä1tigen zu können, dennoch zu tun hat. Das Ende aller Dinge ist also nicht einfach zu denken. Kant kommt schon am Schluss seines ersten Angangs zu der These, der Gedanke des Übergangs aus der Zeit in die Ewigkeit, über den die Vernunft in moralischer Hinsicht nachdenke, stoße einerseits »auf das Ende aller Dinge, als Zeitwesen und als Gegenstände möglicher Erfahrung« (175), andererseits jedoch auf den Anfang einer Fortdauer, die übersinnlich sein muss und somit nicht mehr den nonnalen Zeitbedingungen zugehört (Vgl. 176). [m nächsten Abschnitt geht Kant auf wichtige Elemente ein, welche die apokalyptische Tradition überliefert . Besprochen wird, was )>der jüngste Tag« bedeutet, somit auch »jüngstes Gericht«, Besprochen wird auch der Widerspruch, dass dem letzten Gericht noch etwas Weiteres folgt : das »Abfallen der Sterne vom Himmel«, die »Schöpfung eines neuen Himmels« als Sitz der Seligen und der Hölle aJs Ort der Verdammten. Das Letzte wäre aJso immer noch nicht das Letzte. Daraus schließt Kant, dass man diese zeitlichen Elemente der Apokalyptik nicht im »physischen« Sinn verstehe dürfe, sondern sie vielmehr moralisch interpretieren müsse (176). Deshalb gilt: »50 muß die Vorstellung jener letzten Dinge, die nach dem jüngsten Tage kommen soUen, nur als eine Versinnlichung des letztem samt seinem moralischen, uns übrigens nicht theoretisch begreiflichen, Folgen angesehen werden« (I76f.). Zur apo· ka1yptischen Tradition gehört Kant zufolge auch die Unterscheidung zwischen einer AJJerlösung und einem zweifachen Ausgang in Himmel und Hölle. 4 Für Kant ist dabei bedeutsam, dass sich eine Position der Allverdammung der Menschen nicht durchsetzen konnte, »weil sonst kein rechtfertigender Grund da wäre, warum sie überhaupt wären erschaffen worden« (I 77). Die Lehre vom doppelten Ausgang hat für Kant aber vor allem hohe praktische Bedeutung. Der Mensch versucht sich über seinen Lebenswandel ein eigenes Gewissens· urteil zu bilden. Aber dies reiche durchaus nicht dazu aus, sich letztlich ein theoretisches Urteil zu erlauben. Es reicht weder fur den Einzelnen noch für die Menschheit insgesamt: »)wer will dann entscheiden, sage ich, ob vor dem allsehenden Auge eines Weltrichters ein Mensch, seinem innem moralischen Werte nach, überall noch irgend einen Vorzug vor dem andem habe [ .. .].« Mithin scheint eine dogmatische Aussage auf diesem Gebiet »das spekulative Vermögen der menschlichen Vernunft gänzlich zu übersteigen« (178). Über 4 !
Kanu Das Ende aller Dinge und die Fschalologiekn'tik bei Levinas
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das Urteil unseres eigenen Gewissens hinaus gibt es nichts, was uns über unser künftiges Schicksal belehren könnte. Wtr können gewissennaßen nur darauf vertrauen, dass die Maßstäbe des Gewissensurteils auf Prinzipien beruhen, die auch nach dem Tode noch Geltung haben. (vgl. 179) Daraus schließt Kant, dass es folglich weise sei, »so zu handeln, als ob ein andres Leben, und der moralische Zustand, mit dem wir das gegenwärtige endigen, samt seinen Folgen, beim Eintritt in dasselbe unabänderlich sei« (179). Für Kant ergibt sich aus der praktischen Bedeutung der Eschatologie, dass sie einen doppelten Ausgang verlangt, ohne dass er theoretisch genauer sagen könnte, welcher der beiden Ausgänge den Vorzug verdiene. Die Idee der Allseligkeit könnte jedoch zu leicht »in gleichgültige Sicherheit« (179) einwiegen. Jetzt erst wendet sich Kant der oben bereits zitierten Frage zu, warum die Menschen überhaupt ein Ende der Welt erwarten, ja sogar bereit sind, »ein Ende mit Schrecken (tur den größten Teil des menschlichen Geschlechts)« (179) zu erwarten. Kant gibt darauf eine Antwort, die mit der Sirutfrage des Menschen steht und raut. Die Dauer der Welt habe nur insofern einen Wert, »als die vernünftigen Wesen in ihr dem Endzweck ihres Daseins gemäß sind, wenn dieser aber nicht erreicht werden soUte, die Schöpfung selbst ihnen zwecklos zu sein scheint: wie ein Schauspiel, das gar keinen Ausgang hat, und keine vernünftige Absicht zu erkennen gIbt« (179). Holzhey zufolge vertritt Kant hier ein Vernunftverständnis, wonach die Vernunft uns sagt, >>dass der Gedanke der angestrebten Erfullung des Endzwecks vernünftiger Wesen nicht in die leere Unendlichkeit auslaufen darf«; solche Vernunft motiviere somit »zur Erwartung eines Endes der Bemühungen durch Erreichung des Ziels - eines Endes, das als Ende der Dauer der Welt vorgestellt wird.«s Der Mensch hätte also keinen Sinn, wenn ihm die Welt als ein Schauspiel ohne Ausgang erschiene. Warum aber ist von einem Ende mit Schrecken die Rede?6 Kant antwortet, dies gründe »auf der Meinung von der verderbten Beschaffenheit des menschlichen Geschlechts, die bis zur Hoffnungslosigkeit groß sei; welchem ein Ende und zwar ein schreckliches Ende zu machen die einzige der höchsten Weisheit und Gerechtigkeit (dem größten Teil der Menschen nach) anständige Maßregel sei« (179 f.). Kant gibt zu, dass schon die Vorzeichen des Jüngsten Tages eher von der schrecklichen Art seien. Ungerechtigkeiten und Kriege nähmen zu und Naturkatastrophen geseUten sich bei. Die Menschen fühlten die Last ihrer Existenz, )>Ob sie gleich selbst die Ursache derselben sind« (181). Kant bemerkt in diesem Zusammenhang, dass der kulturelle, ästhetische und wirtschaftliche Fortschritt der Menschheit größer sei als die Entwicklung der Moralität. Dies fUhre zu misslichen Situationen, »weil die Bedürfnisse viel stärker anwachsen, S Holzher, »Das Ende aIIeT Dinge«, 25. 6 In einer weiteren Anmerkung 2ihIt Kant eine Reihe religiöser und philosophischer Positionen auf, mit deren Hilfe man sich das Menschsein auf &den möglichst verächtlich vorgestellt habe. (Vgl. \791.).
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als die Minel, sie zu befriedigen« (181). Deshalb hinke die moralische Anlage der Menschheit immer hinterher. Gleichwohl ist Kanl davon überzeugt, dass die jetzt erlebte AufkJärung den Vorzug der Sittlichkeit heraufgefuhrt habe, so dass die Hoffnung berechtigt sei, )>daß der jüngste Tag eher mit einer Eliasfahrt, als mit einer der Rotte Korah ähnlichen Höllenfahrt eintreten, und das Ende aller Dinge auf Erden herbeifiihren dürfte« (181). Doch auch angesichts dieser positiven Einschätzung seiner eigenen Zeit gibt Kant seiner Überzeugung Ausdruck, dass sich viele Gemüter nicht bekehren würden, wenn den letzten Dingen kein Schrecken voraufginge. (vgl. 181) Mit Recht schreibt Holzhey, Kant setze »dem anthropologischen Pessimismus einen moralphilosophisch begründeten und historisch gestützten Optimismus entgegen«, 7 Mit dem bisher vorgestellten Gedankengang versuchte Kant den Boden rur eine rationale Argumentation in Fragen der »Ietzten Dinge« zu gewinnen. Wenn Mensch und Schöpfung einen Endzweck haben, ist die ApokaJyptik von höchster praktischer Bedeutung, ohne dass sie freilich theoretisch bestätigt werden könnte. In heutiger Terminologie könnte man sagen: Eschato-Logie muss in Eschato-Elhik umgesetzt werden . Helmut Holzhey spricht von einem »)apokalyptischen Diskurs der Religion<<, der bei Kant in einen »eschatologischen Diskurs der Moralphilosophie« ühergeführt werde. Als in solcher Weise praktisch gewendete Apokalyptik ist sie für Kant durchaus verslehbar. (vgJ. 182) Wrr haben es also mit Ideen zu tun, die, )>Obzwar für das spekulative Erkenntnis überschwenglich, darum doch nicht in aller Beziehung für leer zu halten sind« (181). Als auf den Endzweck aller Dinge ausgerichtete haben sie keinen theoretischen Erkenntniswert, verhelfen aber zum Denken moralischer Grundsätze. In jedem Fall haben wir es in der Apokalyptik Kant zufolge »bloß mit Ideen zu tun« - oder wir spielen damit einfach - , »die die Vernunft sich selbst schafft, wovon die Gegenstände [... ] ganz über unsern Gesichtskreis hinaustiegen« (181). Über ihren Aussagencharakter nachzugrübeln lohne sich nicht, es sei denn durch die Umsetzung in Ethik. Wie aber steht es nun mit Zeit und Ewigkeit, wenn es um das Ende aller Dinge gehen soll? Im Übergang von der moralischen Verstehbarkeit zum mystisch übernatürlichen Ende, wovon wir nichts verstehen (vgl. 181), zitiert Kant OHb 10,5.6. Dort »hebt ein Engel seine Hand auf gen Himmel und schwört bei dem Lebendigen von Ewigkeit zu Ewigkeit, der den Himmel erschaffen hat u.s. w.: daß hinfort keine Zeit mehr sein soll« (182). Wie ist dieses Wort des Engels vom Ende der Zeil zu verstehen? Kant deutet es so, dass hinfort keine Veränderung mehr sein wird. Denn solange in der Welt Veränderung ist, wäre auch Zeit. Kant denkt hier vielleicht an die aristotelische Zeittheorie, wonach die Zeit mit der Zählbarkeit eines Früher und Später und somit mit Bewegung und Veränderung zusammenhängt. 8 Wenn aber der Text der Offenbarung vom 7 Holzhey, »Das Ende aller Ding~ 27. 8 Vgl. Aristote!es, Physik IV 11 . 219b 1-2.
Kanu Das Ende aller Dinge und die Escharologiekririk bei Levinas
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Ende der Zeit spricht, dann darf es auch keine Veränderung mehr geben. Kant konstatiert eine Aporie: Hier wird nun ein Ende aller Dinge, als Gegenstände der Sinne, vorgestellt, wovon wir uns gar keinen Begriff machen können: weil wir uns selbst unvermeidlich in Widerspruche verfangen, wenn wir einen einzigen Schritt aus der Sinnenwelt in die intelligible tun wollen; welches hier dadurch geschieht, daß der Augenblick, der das Ende der erstem ausmacht, auch der Anfang der andem sein soll, mithin diese mit jener in eine und dieselbe Zeitreihe gebracht wird, welches sich widerspricht. (182 f.)
Das Denken des Übergangs fuhn die menschliche Vernunft vor ihren eigenen Abgrund. Einerseits soll der Übergang von der sinnlichen zur geistigen Welt kontinuierlich gedacht werden, andererseits die geistige Welt zeitlos. Kein Wunder. wenn Kant oben von etwas Grausendem. von Dunkelheit und Abgrund, aber auch von etwas Anziehendem gesprochen hat, das dem Übergang aus der Zeit in die Ewigkeit anhaftet. Nicht von ungefähr drängte sich die Figur des Erhabenen auf. Kant diskutiert jetzt näherhin zwei Vorstellungen von Ewigkeit: unendliche Dauer in beständiger Veränderung oder völliger Stillstand in radikaler Unveränderlichkeit. Beide Vorstellungen haben keinen theoretischen Wert und widerstreiten der Einbildungskraft. Beide Vorstellungen können deshalb nur eine Bedeutung im Sinn der praktischen Vernunft haben, weshalb Kant den folgenschweren Satz aufstellt: Die Regel des praktischen Gebrauchs der Vernunft dieser Idee gemäß will also nichts weiter sagen, als: wir müssen unsre Maxime so nehmen, als ob, bei allen ins Unendliche gehenden Verändrungen vom Guten zum Bessern, unser moralische[r] Zustand, der Gesinnung nach, (der homo noumenon, xlessen Wandel im Himmel ist<) gar keinem Zeitwechsel unterwo rfen wäre (183).
Das »als 01>«, das schon oben einmal begegnete, ist unüberhörbar. Der Gedanke der unendlichen Dauer oder des radika1en Stillstands ist eine Idee, die die Vernunft schon nicht mehr denken kann, die aber umgekehn von enonner praktischer Bedeutung ist. DeshaJb fügt Kant gleich unmissverständlich hinzu: »Daß aber einmal ein Zeitpunkt eintreten wird~ da alle Verändrung (und mit ihr die Zeit selbst) auJhört, ist eine die Einbildungskraft empörende Vorstellung. Alsdann wird nämlich die ganze Natur starr und gleichsam versteinert: der letzte Gedanken, das letzte Gefühl bleiben alsdann in dem denkenden Subjekt stehend und ohne Wechsel immer dieselben.« (I 83 f.). Ein solches Leben wäre kein Leben mehr. Es wäre Erstarrung. Würde man dies dennoch ins Denken übersetzen. folgte daraus, dass die Bewohner der anderen Welt so vorgestellt werden, »wie sie, nach Verschiedenheit ihres Wohnorts (dem Himmel oder der HöUe), entweder immer dasselbe Lied, ihr Halleluja, oder ewig eben dieselben Jammertöne anstimmen ([Oflbj 19,1 - 6; 20,15): wodurch der gänzliche Mangel alles Wechsels in ihrem Zustande angezeigt werden solle.« (184). Ironische Skepsis klingt hier an .
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So wertlos aber diese VorsteUung von Ewigkeit als ewiger Starre theoretisch ist, so sehr gilt, dass sie »mil deI" Vernunft in praktischer Beziehung nahe verwandt (ist)« (I 84). Natürlich fragt man sich, was Kant dazu bewogen hat, die theoretisch wertlose eschatologische Tradition für die praktische Vernunft zu renen . Offensichtlich erweist sich die Erreichung des Endzweckes als ein Postulat der praktischen Vernunft. Der Mensch der (zeitlichen) Erscheinungswelt und der »homo noumenon« (183) stehen angesichts der Ewigkeit im Widerstreit. Eine positive Bestimmung der Ewigkeit wäre nur in jener Grundhaltung des als ob der praktischen Vernunft zu finden, die vom Guten zum Besseren voranschreitet. Aber Kant gibt zu bedenken, dass ein ewiger Fortschritt keine zufriedensteUende Idee wäre; denn unend1icher Fortschritt zum Endzweck wäre zugleich ~~in Prospekt in eine unend1iche Reihe von Übeln« (184), so dass keine Zufriedenheit zustande käme. Von Zufriedenheit könnte nämlich erst dann gesprochen werden, wenn der Endzweck endlich erreicht wäre. 9 Kant bemerkt, dass sich die Vernunft ins Grübeln begibt, und spricht in diesem Zusammenhang - m . E. problematischerweise - von )~ Mystik« aJs einer ~~schwärmenden« Form der Vernunft, die sich nicht zufrieden gibt mit den Ergebnissen, zu denen die Bewohner einer Sinnenwelt in der Lage sind. lnbe· griff solcher Mystik wäre fiir Kant das pantheisierende Aufgehen im Nichts, um von jener ewigen Ruhe sprechen zu können, die das vermeinte selige Ende aDer Dinge fiir die Menschen ausmache. (vgl. 185) Eine mystische Alleinheits· oder Nichtigungslehre lehnt Kanl also ebenso ab wie die Auffassung von der ewigen Ruhe, die schließlich auch das Denken stillstelIen würde. 10 Kant beendet seine Überlegungen mit einem »weisheit lichen Diskurs( . ll Man könnte vielleicht auch von einem ästhetischen Diskurs sprechen, zumru oben bereits der Gedanke des Erhabenen angeklungen ist. In der Weisheit geht es Kant zufolge um die praktische Vernunft »in der Angemessenheit ihrer dem Endzweck aller Dinge, dem höchsten Gut, völlig entsprechenden Maßregeln«( (185). Solche Weisheit komme allerdings nur Gott selbst zu. Menschliche Weisheit bestünde darin, dieser göttlichen Weisheit nicht zuwiderzuhan· dein . Der Mensch dürfe sich nicht einbilden, sie schon erreicht zu haben. (vgl. t 85 f.) Auch die Religion des Volkes kennt den ständigen Wandel; nichts sei so beständig »als die Unbeständigkeit« (186). Gleichwohl kann sich Kant vorsteUen, dass auch im Volk einmal die RoUe der praktischen Vernunft zum
9 Holzhey schreibt da", : »Die moralphilosophische lnterpretation hat das ewige Leben aur den Prozess ständiger Annäherung an den Endzweck ZW'ÜCkgestuft, sie hat uns damit aber in der Unruhe gelassen, ob die menschliche Ganung ihr Ziel je erreichen oder ins Unendliche immer wieder mit Übeln konhonttert sein werde, die sie im For1schreiten zum Besseren ü~ncten musu (3 1) VIeUeicht meint Kant aber nur, dass sich die VorsteUung eines ewigen Fortschreitens zum Endzweck und (unendliche) Zufriedenheit gegenseitig ausschließen. 10 Vgl. Holzhey, ..Das Ende aller Dinge«, 31. 11 Holzhey,"Das Ende aller Dinge«, 3 t .
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Durchbruch kommt und an die SteDe der »hergebrachten frommen Lehren« tritt (186). In diesem Zusammenhang schwebt Kant der Gedanke vor, dass das Volk »durch das allgemein gefühlte nicht auf Auktorität gegründete Bedürfnis der notwendigen Anbauung seiner moralischen AnIage~( (186) am Ideal der Weisheit Interesse findet. Die göttliche Unterstützung - »eine Konkurrenz göttlicher Weisheit« (186) - wird dazu beitragen, dass das Ziel nicht aus dem Auge verloren wird. Man dürfe al1erdings das gegenwärtig bereits Erreichte nicht als das Endgültige ansehen. Helmut Holzhey spricht hier von einem kantischen Chiliasmus, weil sich Kant bewusst gewesen sei, dass der Erreichung des Endzustandes schwere Zeiten vorausgehen müssten. Als würde sich Kant bestimmten Einwänden seiner Zeit stellen, wehrt er sich gegen das Argument, es sei immer wieder gesagt worden, jetzt gehe es um die Verwirklichung des letzten und besten Planes, der Zustand der Ewigkeit sei bereits erreicht. Kant zitiert dazu Offb 22,11 und legt das »immerhin gut« bzw. »immerhin böse« aus, »gleich als ob die Ewigkeit, und mit ihr das Ende aller Dinge, schon itzt eingetreten sein könne« (187). Aber auch das war nicht das Ende, »und es wird auch an mehr letzten Entwürfen fernerhin nicht fehlen « (187). Kant gesteht, dass er sich zu einem wirklich letztgültigen Vorschlag nicht in der Lage sehe. Aber er findet zu einer überraschenden SchJussüberlegung, mit der er für seine Sicht des Christentums zu werben versucht. Das C hristentum habe »etwas Liebenswürdiges in sich« (187). Die Liebe sei )~in unentbehrliches ErgäDzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur« (188). Es sei allerdings ein Widerspruch, »jemandem zu gebieten, daß er etwas nicht allein tue. sondern es auch gern tun solle« (188). Das Christentum befördert die Liebe, um die Erfüllung der Pflicht zu gewährleisten. Der Stifter sei kein Befehlshaber, sondern ein Menschenfreund. »Das Gefühl der Freiheit in der Wahl des Endzwecks ist das, was ihnen [den Menschen] die Gesetzgebung liebenswürdig macht .« (188) Auch wenn das Christentum für das gute Handeln Lohn verheißt, geht es doch letztlich nicht um Lohn, sondern bloß um die »Gütigkeit des Willens«. Dem Christentum kommt somit eine »moralische Liebenswürdigkeit( (189) zu. Gesetzt den Fall, so beschließt Kant seinen Gedankengang, das C hristentum würde einmal aufhören, »liebenswürdig zu sein«, dann müssten die Menschen - weil es in rein moralischen Dingen keine Neutralität gibt - das Christentum ablehnen. Der Antichrist würde sein - allerdings kurzes - Regiment antreten, das vermutlich auf Furcht und Eigennutz gegründet wäre. Angesichts der Tatsache, dass das Christentum zur Weltreligion zwar bestimmt, dazu aber nicht begünstigt würde. kö nnte »das (verkehrte) Ende aller Dinge in moralischer Rücksicht eintreten« (190). So endet Kant. Aus Kants Überlegungen geht hervor, dass er ein kritisches Verhä1tnis zu einer Eschato-Logie hat. Bezüglich des Endes aller Dinge, soweit es Raum und Zeit übersteigt, haben wir kein theoretisches WISSen. Aber die Idee des Eschatologischen entfaltet ihre ganze Wrrkung in der Praxis. Wrr müssen in der
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Welt handeln, als ob es ein unendliches Glück, als ob es Gott gäbe, als ob es eine unendliche Veränderung vom Guten zum Besseren gäbe. Der Hiatus zwischen Zeit und Ewigkeit erweist sich als ein schauerlich-faszinierender Gedanke, den die Vernunft nur bewä1tigen kann, wenn sie ihn in die Praxis wendet und ästhetisch vertieft. Die Weisheit beruht nach Kant nicht auf einem Wissen des Kommenden, wenngleich sie auch nicht einfach eine vage subjektive EinsteUung ist, sondern am Maß der unendlichen Weisheit Gottes ausgerichtet ist. Zielt sie etwa auf das, was über alles Sein hinausgeht? So wird E. Levinas fragen. 12
2. Kritik universalgeschichtlich orientierter Eschatologie bei Emmanuel Levinas Ist es ein zu gewagter Sprung von Kant zu Levinas? Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, wäre doch zunächst und chronologisch von Hegels These zu sprechen, wonach die Weltgeschichte das Weltgericht ist. Tatsächlich ist es gerade Levinas, der sich mit dieser eschatologischen Geschichtstheorie besonders kritisch auseinandersetzt. Genau diese Auseinandersetzung aber erscheint mir für unser Gespräch mit Kant von Bedeutung zu sein. Schon in der EinJeitung von Totalitiit und Unendlichkeit wehrt sich E. Levinas näm1ich vehement dagegen, Geschichte und Eschatologie in ein positives Verhältnis zueinander zu setzen, weil nach seiner Meinung die Zeit der Geschichte eine Zeit des Krieges ist, die sich grundsätzlich von der Zeit des Friedens unterscheidet. Der Krieg aber ist es zugleich, der die Moral a.ußer Kraft setzt. Levinas schreibt: Besteht die Hellsichtigkeit - die Öffnung des Geistes für das Wahre - nicht darin, die permanente Möglichkeit des Krieges im Auge zu behalten? Der Kriegszustand setzt die Moral außer Kraft; er nimmt den Institutionen und ewigen POichten ihre Ewigkeit und vernichtet daher mit seiner Vorläufigkeit die unbedingten Imperative. Schon im vorhinein wirft er seinen SchaUen auf die Talen der Menschen. I)
Dann schreibt Levinas: Der Krieg errichtet eine Ordnung, zu der niemand Abstand wahren kann. So gibt es nichts Äußeres. Der Krieg zeigt nicht die Exteriorität und das Andere als anders; er zerstört die Identität des Selben . - Das Gesicht des Seins, das sich im Krieg zeigt, konkretisiert sich im Begriff der Totalität. Dieser Begriffbeherrscht die abendländische Philosophie. 14
Levinas fuhrt aus, der Begriff der Totalität behemche das abendländische Denken. »ln der Totalität reduzieren sich die Individuen darauf, Träger von Kräften zu sein, die die Individuen ohne ihr Wissen steuern.« (TU 20) Wer von einer 12 Vg1. E. Uvinas. Dieu, 77. 13 E. Uvinas, TotaIitäl, 19.
14 E. Uvinas. Totalitäl, 20.
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Ontologie der Totalität herkommt, kann gar nicht anders, als die lndividuen in die Ganzheit einer Geschichte einzuordnen, fiir deren Zukunft sie ihre einzigartige Gegenwart opfern soUen. Angesichts solcher Vereinnahmung des unvergJeichlich-einmaligen menschlichen Lebens vermag nicht einmal ein von den Imperien hergesteUter Friede den entfremdeten Individuen ihre Identität zwiickzugeben (Vgl. TU 20.21). Die Moral erhebt Levinas zufolge Anspruch auf Unbedingtheit und Universalität. Dieser erhä1t allerdings erst dann historische Bedeutung, wenn die Ontologie des Krieges durch »die Eschatologie des messianischen Friedens« (TU 21) überwunden ist. Dieser setzt sich von einem Frieden, der von den Imperien als kriegslose Zeit hergestellt wird, ab und sprengt alle Ontologie. Solcher Friede basiert letztlich auf der Heiligkeit des Individuums, das sich seiner unvergleichlichen Verantwortung stellt. (vgl. TU 21) Aber die heutige Philosophie nehme die Eschatologie nicht ernst . Sie habe sich schon viel zu sehr daran gewöhnt, einen möglichen Endfrieden aus der Vernunft zu dedu~ zieren, obwohl doch gerade diese (moderne) Vernunft in den alten und neuen Kriegen ihr Spiel treibe. Über die Eschatologie mache sich die Philosophie eher lustig, indem sie diese in das Reich der Meinung verbanne. »Die Eschatologie dagegen gehört für sie ganz selbstverständlich in den Bereich der Meinung; denn in ihrer Abhängigkeit vom Glauben ist sie subjektive und willkürliche Divination der Zukunft, Ergebnis einer Offenbarung ohne Evidenz.« (11J 21). Diese Passage klingt fast so, als richte sie sich auch gegen Kant, als könnte man in der Sprache Kants von der heutigen Philosophie sagen, sie halte die Eschatologie fiir eine Mystik, weil die Vernunft eben zu schwännen verlange. Zugleich scheint sich auch das Verdikt, den Endfrieden aus der Vernunft ablei~ ten zu woUen, gegen Kants Versuche zu richten, einen ewigen Weltfrieden durch Aufklärung herbeizufiihren. 1S Levinas erhebt in diesem ZlIsammenhang den Vorwurf, die Philosophen gründeten die Moral auf Politik. (vgl. TU 21) Die Kritik ist an Schärfe kaum noch zu überbieten. Im weiteren Gedankengang lehnt Levinas eine Angleichung der propheti~ sehen Eschatologie an das Denken ab, um überhaupt in den philosophischen Diskurs einbezogen zu werden. 16 Genau diesen Fehler machten die Theologien, deren Eschatologie viel zu unkritisch »)wie ein Orakel die philosophischen Evidenzen zu )Crgänzen< « versuche. Die theologische Eschatologie beanspru~ ehe mit ihren Glaubensvennutungen noch einen höheren Grad an Evidenz, »als würde die Eschatologie den Evidenzen zusätzliche Lichter über die Zukunft dadurch aufstecken, daß sie die Finalität des Seins offenbart« (l1J 21). Wäre aber die Eschatologie auf die Evidenzen reduziert, hätte sie schon die »Ontologie der Totalität« akzeptiert, )>die aus dem Krieg helVorgegangen ist«. (l1J 22) 15 Vg!. daZl! H . de Vlies, Levinas, 67- 92. bes. 81 fJ. 16 Vgl. zu den hier aufgezeigten Zusammenhängen den sehr bedeutsamen Beinag von Stephane Moses: Geschichte, 41 - 56.
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Eschatologie aber hat nicht die Aufgabe, uns über den Gang der Geschichte aufzuklären. »Die Eschatologie setzt uns in Beziehung mit dem Sein jenseits der Totalitiit oder der Geschichte, und nicht mit dem Sein jenseits des Vergangenen und Gegenwärtigen.« (TU 22) Eschatologie hat es mit einem Außerhalb der Totalität zu tun und somit mit einem Jenseits, das sich innerhalb der Geschichte und innerhalb der Erfahrung widerspiegelt. Daraus zieht Levinas die Konse-. quenz: »Das Eschatologische, als das )Jenseits< der Geschichte, entzieht die Seienden dem Richterspruch der Geschichte und der Zukunft - es läßt die Seienden zu ihrer vollen Verantwortung erstehen (suscite), es ruft sie zur vollen Verantwortung auf.« (TU 22; Übers. leicht verändert) Ja, das Eschatologische unterwirft die Geschichte als ganze dem Urteil; es steht außerhaJb der Kriege und )~bt jedem Augenblick seine voUe Bedeutung in eben diesem Augenblick zurück: Jede Sache ist reif, um vor Gericht gehört zu werden. Nicht auf das Jüngste Gericht kommt es an, sondern auf das Gericht all der Augenblicke in der Zeit, in der man über die Lebenden urteilt.« rrU 22) Hätte zuvor auch der Name Kant genannt werden können, wenn es um die volle Verantwortung in jedem Augenblick geht, so setzt sich Levinas jedenfalls namentlich von Hegel ab, der zu Unrecht im Urteil der Geschichte »die Rationalisierung des eschatologischen Urteils gesehen habe« (TU 23). Ganz im kantischen Sinne schreibt Levinas, es gehe um die eschatologische Idee des Urteils, die darin besteht, )>daß die Seienden )vor< (avant) der Ewigkeit, vor der Vollendung (achevement) der Geschichte eine Identität haben, daß sie identisch sind, ehe die Zeiten abgelaufen (revolus) sind, während es noch Zeit ist« (TU 23 Übers. leicht verändert). Sie stehen zwar miteinander in Beziehung, aber sie existieren von sich her und nicht von der Totalität her. Levinas, der hier noch in der Sprache der Ontologie schreibt, legt Wert auf die Feststellung, dass es ihm um die Idee des Seins geht, )>das die Geschichte überschreitet«. Erst so sind Seiende als Personen möglich, )>d..ie berufen sind, in ihrem Prozeß Rede und Antwort zu stehen« (TU 23). Solche Personen - Erwachsene - geben nicht dem anonymen Wort der Geschichte ihre Stimme. ))Der Friede ereignet sich als diese Fahigkeit zum Wort.« (TU 23). Es ist letztlich das Wort, das einsteht für die Witwen und Waisen . Es ist die Verantwortung, die den Tod des anderen ernster nimmt als den eigenen Tod. Nur so werde die Totalität der Kriege und der Imperien überwunden . Eschatologie befasst sich also mit dem ))Bruch der Totalität<<, sucht eine »)Bedeutung ohne Kontext<<, bemüht sich um ein »bildloses >Sehen<«, »ein >Sehen
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wird, der seinerseits die Moral widerlegt. Wenn Levinas erneut auf die Philosophie und ihr Ideal, der Erfahrung gerecht zu werden, um gegen Illusion und Phantasie gefeit zu sein, zu sprechen kommt, dann fragt sich, ob nicht gerade »die Eschatologie des Friedens«, eines eschatologischen Friedens, umso mehr auf Meinungen und subjektive D1usionen hereinfant. (vgl. TU 24f.) SOU Philosophie durch Eschatologie e ...tz! werden? Oder soU »die Philosophie die eschatologischen >Wahrheiten< zu >beweisen<« versuchen? Levinas plädiert dafiir, von der Erfahrung der Totalität (und des Krieges) auf eine Situation zu rekurrieren, »in der die Totalität zerbricht, während diese Situation die Totalität selbst bedingt« 01J 25). Doch welche Situation soU diesen Totalitätsbruch herbeifiihren? Levinas gibt in seinem ersten Hauptwerk an dieser SteUe eine Antwort, um die sich sein gesamtes philosophisches Bemühen dreht, wenn er schreibt: »Eine solche Situation ist das Erstrahlen der Exteriorität oder der Transzendenz im Antlitz des Anderen.« 01J 25). Bei Kapitel IV von TOialiliil und Unendlichkeil angekommen, schreibt Levinas vom »Traum einer glücldichen Ewigkeit, der sich im Menschen neben dem Traum von Glück findet« (11J 416), und dieser Traum müsse nicht als bloße Verwirrung angesehen werden. Es gehe nicht nur um die Anerkennung begrenzter, endlicher Zeit, sondern um eine sich in der Fruchtbarkeit anzeigende »unendliche Zeit, die notwendig ist, damit die Wahrheit gesagt werd~<. Aber diese unendliche Zeit sei zugleich >>die erneute lnfragesteUung der Wahrheit, die sie verspricht«. Umgekehrt fordert die Wahrheit »eine Zeit, auf die sie das Siegel setzen kann - eine voUendete Zeit« 01J 416). Und dann heißt es lapidar: »Die VoUendung der Zeit ist nicht der Tod, sondern die messianische Zeit, in der das Fortwährende sich in Ewigkeit verwandelt.« {TU 416). Der messianische Triumph sei der reine Triumph, der als solcher gegen die Rache des Bösen geschützt ist, >>dessen Rückkehr die unendliche Zeit nicht untersagt«. Levinas endet mit der Frage, ob die Ewigkeit eine neue Struktur der Zeit ist »oder eine äußerste Wachsamkeit des messianischen Bewußtseins« und lässt die Frage offen. Man kann nur ahnen, dass die zweite Möglichkeit in die Richtung seines . 17 Dnk e . ens weist. Was aber könnte das Fortwährende sein, das sich in der messianischen Zeit in Ewigkeit verwandelt? Am Ende des fiinften Kapitels, das zugleich das Ende von TOialiliil und Unendlichkeil ist, spricht Levinas von der Bedeutung der menschlichen Subjektivität, die nicht vom AUgemeinen. nicht vom Staat her, zu verstehen sei. Der Staat produziere das heroische Seiende, das dem Subjekt, >>das in der unendlichen Zeit der Fruchtbarkeit lebt« (11J 446), polar entge17 Eirunal gefragt, ob die messianische Idee für ihn. Levinas, noch einen Sinn habe und ob es notwendig sei, die Idee eines aDerletzten Stadiums der Geschichte anzunehmen, in dem endlich alle menschliche Gewalttätigkeit eine Ende nähme, also der messianische Friede wirklich anbräche, antwOT1ete er, »daß man, um der messianischen Ära würdig zu sein, zugestehen müfke,. die Ethik habe einen Sinn, selbsI ohne die Verheißungen eines Messw4C.. E. Levinas, Ethik, 88.
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gengesetzt sei. Das heroische Seiende übernimmt den Tod »als Übergang, der das Sein ohne Diskontinuität endlos fortsetzt « (TU 447). Die heroische Existenz oder einsame Seele suche für sich das Heil als ewiges Leben. In diesem Zusammenhang taucht bei Levinas ein dreifaches als ob auf, das letztlich, wenn ich recht verstehe, darauf hinausläuft, das einsame Heil als ewige Langeweile gegen eine Verwandlung in Ewigkeit abzusetzen, die sich sehr wohl von Kanls VorsteUung der Erstarrung unterscheidet. Doch statt Kant zitiert Levinas Baudelaire, bei dem die Langeweile (l'ennui) als »Frucht des trübsinnigen Mangels
an Neugier, die die Gestalt der Unsterblichkeit annimmt«, umschrieben wird (TU 447). Ich will noch auf einige wenige Aspekte im zweiten Hauptwerk hinweisen. Abgesehen davon, dass Levinas in Jenseits des Seins das Thema Krieg nicht mehr explizit behandelt, klingt es doch schon im ersten Kapitel deutlich an. »Der Krieg ist der Vollzug oder das Drama des Interessiertseins am Sein.~< 18 Der Friede, der nicht der eschatologische sein muss, erweist sich jedenfalls als besser. Handel ist besser als Krieg (Vgl. JS 28). Zeigt sich hier bereits ein )~Anders~als-sein« an? Mit Bezug auf Kant - allerdings nicht auf Das Ende aller Dinge, sondern auf die Antithese der vierten Antino mie - kann dieses »Andersals-sein« )~ nicht in irgendeiner ewigen, der Zeit enthobenen Ordnung liegen und auf unerklärliche Weise die Zeitenfolge beherrschen« (JS 37). Levinas steDt der kontinuierlichen Ordnung der Ewigkeit sogleich eine »transzendentale Diachronie« gegenüber (JS 38). Sie basiert auf der Phasenverschiebung des Jetzt, die das Fließen der Zeit und somit die Differenz des Identischen ausmacht (Vgl . JS 37). Diachronie ist das »Nicht-Totalisierbare und in diesem Sinne genau Unendliche« (JS 42). Die Verantwo rtung gegenüber dem Anderen, Erstbesten, in die das Subjekt vor aller eigenen Entscheidung gesteDt ist, wird im zweiten Hauptwerk hier verankert . »SteDvertretung als die eigentliche Subjektivität des Subjekts, Unterbrechung der unumkehrbaren Identität [... ], Unterbrechung dieser Identität in der Übernahme der Verantwortung, die mir aufgebürdet wird« (JS 47). Subjektivität des Subjekts wird hier in einem sehr wörtlichen Sinn als »Unter-werfung unter alles« und als »Sensibilität« (JS 49) verstanden . Die Sprache wird noch gesteigert bis hin zur Unerträglichkeit, um das )}Anders-a1s-sein« des Subjektes und seiner Verantwortung entsprechend hervorzuheben . Um eine Parusie des Seins geht es dabei nicht mehr. (vgl. JS 57). Wenn Diachronie das )~Auseinanderfallen der Identität« bedeutet (JS 126) und das Subjekt als alterndes zugleich einzig und unersetzbar ist, aber sich auch »in einem Gehorsam ohne Ausflucht« vorfindet, dann ist die Verantwortung letztlich älter als eine freie Entscheidung, die ein entsprechendes Engagement hervonuft. Ist das Subjekt von einer fremden Macht beherrscht ? Levinas bringt
18 E. Uvinas, Jenseits des Seins. 26.
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tatsächlich den Terminus )Herrschaft< ins Spiel. Doch Herrschaft welcher Art? Es sei die »Herrschaft eines unsichtbaren Königs«. Es geht um die Herrschaft des Guten, von dem Levinas sagt, seine Idee sei bereits eine Weltzeit. Solcher Weltzeit aber stehe der biblische Begriff der Gottesherrschaft gegenüber, von der Levinas sagt, sie sei die »Herrschaft eines nicht thematisierbaren Gottes eines un-zeitgenössischen, das heißt un-gegenwärtigen Gottes« OS 126). Diese darf nicht als ontisches Bild der Seinsgeschichte gedacht werden. Von der Weltzeit als Zeit der Herrschaft gilt es zurückzugehen auf die Gottesherrschaft, von der Levinas nun bezeichnenderweise ausführt, dass sie in Gesta1t der Subjektivität bedeutet, in Gestalt der Einzigkeit, die vorgeladen ist in der passiven Synthesis des Lebens - in Gestalt der Nähe des Nächsten und des Schuldens einer unbezahlbaren Schu1d - in Gestalt einer endlichen Conditio - der Zeitlichkeit, die, als A1tem und als Tod des Einzigen, einen Gehorsam ohne Ausflucht bedeutet (J S 127).
Während das Bewusslsein von ... den Anderen immer noch von mir fernhält, ist die Nähe zu ihm ein Ausgesetztsein, ebe er erscheint. Der Nächste ist un-vorstellbar, ihm gegenüber komme ich immer zu spät. »Die Nähe ist Störung der wiedererinnerbaren Zeit.« (JS 200) Levinas meint, man könne »dies apokalyptisch Zersplittern der Zeit nennen« (JS 200), wenn man darunter eine nicht zu bändigende Dia-chronie versteht~ die sich weder durch Erinnerung noch durch Geschichtsschreibung in eine Gegenwart hinein synchronisieren lasse. An einer Stelle heißt es in Jensei/S des Seins: »In der unbedingten Vorladung des Subjekts wird auf rätselhafte Weise das Unendliche vernehmbar: das Diesseits und das Jenseits.« (JS 307). Das Unendliche ist, wie es später in JenseilS des Seins heißt, »weder Thema noch Telos noch Gesprächspartnen< (JS 324). Es geht um einen Frieden, »welcher Verantwortung für den Anderen ist« OS 324). Solches Verständnis der Subjektivität bereitet den Boden fiir eine Theorie der »Gastlichkeit«, in der sich der Vorrang der Ethik vor der Ontologie konkretisiert, wie Levinas schon in TOIaliläl und Unendlichkeil ausgeführt hat: »)!n der Gastlichkeit erfiillt sich die Idee des Unendlichen.« (TU 28f.)." In Jenseits des Seins spricht Levinas in diesem Zusammenhang vom Ethischen. Das Ethische ist jenes Feld, das durch das Paradox eines mit dem Endlichen in Beziehung stehenden Unendlichen beschrieben wird, welches sich g1eichwohJ durch diese Beziehung nicht Lügen straft. Das Ethische ist das Zerbcrsten der Ureinheit der transzendentalen Apperzeption - das heißt das Jenseits der Erfahrung (JS 325).
Das Subjekt erhält eine Verantwortung auferlegt, die es nicht selbst frei gewählt hat: »Gehorsam, der allem Hören des Gebotes vorausgeht.« (JS 325). Autonomie und Heteronomie werden dabei auf bemerkenswerte Weise miteinan19 1. Derrida hat in einem großen Referat zum Gedenken an Emmanuel Levinas die Gastfreund· schaft aJs SchJiisselbegz iff der Levinas'schen Philosophie entfaJtet. Vgl. J. Derrida, Das Wort zum Empfang, 32- 170.
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der versöhnt. Eine Ontologie, die vom Logos bestimmt ist, steht hingegen immer in der Gefahr, alle Brüche zu überdecken oder )}sie sich einzuverleiben als stillschweigenden Ursprung oder als Eschatologie« (JS 366). Das Ethische
aber lässt sich weder protologisch noch eschatologisch ableiten. GleichwohJ geschehe es, dass die »Extravaganz der Annäherung« (JS 367) nachträglich begrifflich eingeordnet wird. So treten auch Worte wie »Einer«( oder »Gott« in den Wortschatz ein und werden philologisch behandelt, }>anstatt die philosophische Sprache aus den Angeln zu hehen« (JS 367).
3. Ergebnis der bisherigen Analysen Dass Ernrnanuel Levinas in vieler Hinsicht von Kant inspiriert ist und die These von der ethischen Valenz des Apokalyptischen bzw. Eschatologischen
noch radikalisiert, dürfte schon aus der bisherigen Aneinanderreihung beider Positionen hervorgegangen sein. Übereinstimmend sind heide Autoren davon überzeugt, dass es eine Eschato- Logie im strengen Sinn theoretisch gesicherten Wissens über die Grenzen der Zeit hinaus nicht gibt. Beide stimmen auch darin überein, dass dadurch die Eschatologie samt des apokalyptischen Bilclmaterials nicht einfach irrelevant ist, sondern dass beide im Gegenteil ihr voUes Gewicht erst entfalten, wenn sie >ethischmoralisch
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den weisheitlichen Diskurs über die Moral zu setzen versucht. Dass Kanl dabei ein Ideal der Kirche vorschwebt, die diesem Idea1 nie so nahe gekommen sei wie in seiner Zeit, hat Taubes in seiner Interpretation des Textes besonders hervorgehoben. 20 Für Levinas ergibt sich die Radikalität des Ethischen fur das Individuum umso deutlicher, je mehr es eine Größe ~)jenseits der Totalität oder der Geschichte« (TU 22) darsteUt und einer Verantwortung unterliegt, die weder aus der Geburt noch aus dem Sein zwn Tode abgeleitet und somit weder protologisch noch eschatologisch begründet werden kann. Dies verhindert aber das Denken nicht, provoziert es erst recht. Zu groß ist die Überwältigung, in der sich der Mensch vorfindet, der unvordenklich, d. h. schöpfungsmäßig, auf das Gute hin erwählt ist. Der eschatologische Augenblick, in dem es verantwortlich zu handeln gilt, hat deshalb bei Levinas eine durch und durch positive Bedeutung, so dass der Hiatus zwischen Zeit und Ewigkeit nichts Grausendes an sich hat, es sei denn das Erschrecken dariiber, was es bedeutet, das Universum tragen zu müssen (Vgl. JS 272). Wie Kant lehnt auch l.evinas jede Spekulation über eine postmortale Existenz ab. Was Kant als ewige Erstarrung wahrnimmt, ist fur Levinas nichts anderes als die Konsequenz eines Subjektverständnisses, das Kant zufolge bei der Einsamkeit der Seele und nicht bei der Verantwortung ansetzt, durch die die Nähe des Nächsten schon in das Innerste des inkarnierten Subjekts gelegt ist: >x:ler Andere-im-Selben«, wie sich Levinas auszudrücken pflegt.
4. Heraus[orderungjür die christliche Eschatologie Wtrd durch diese philosophischen Interpretationsversuche die biblische Tradition und die theologische Lehre von den letzten Dingen zerstört? Während Kant sich vor allem mit den apokalyptischen Texten auseinandersetzt, sind es bei Emmanuel Levinas vor allem zwei Texte, auf die er wiederholt rekurriert: Mt 25,31 ff. und Jes (III) 58. Beide Texte steUen für l.evinas Schlüsseltexte dar, wobei in der ntl. »Übersetzung« des jesaianischen Textes der apokalyptische Rahmen unübersehbar ist. Was die Exegese von Mt 25,31-46 betriffi, ist in zwei neueren Kommentaren von Ulrich LUZ 21 und Hubert FrankemöUe 22 aUes Wichtige geschrieben worden . Der Streit der Auslegung geht vor allem darum, ob die »geringsten 20 Vgl. Taubes, Abendländische Eschatologie, bes. 147f. Schon zuvor bemerkt Taubes auch, dass Kant von der Aporie der Gnade umklammert sei, lKI.ie erst den )Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reiches Gottes auf Erdent ermöglicht'" (146). 21 Luz, Matthäusll3, SI S-S44, (544-561). 22 Luz, Matthäus 112, 42 1-430.
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Brüder und Schwestern« Gemeindemitglieder sein müssen, oder ob die Stelle eine universal-menschliche Bedeutung hat. 23 Die universale Auslegung scheint Übergewicht zu haben, auch wenn Luz historisch seine Zweifel anmeldet. 24 In der Begegnung mit dem Nächsten, dem Menschen in Not, also in einer konkreten Einzelsituation, ergeht ein Ruf an mich, den ich beantworten soll, ohne zu wissen, ob es sich letztUch lohnt, mich selbst oder meine Habe zur Disposition zu stellen und sie einem wildfremden Menschen abzutreten, der mir auch seinerseits keinen Beweis liefern kann, dass ihm geholfen werden muss. Offensichtlich steht das christliche Handeln vor dem Dilemma, schon handeln zu müssen, weil die Situation es verlangt, und zugleich noch nicht zu wissen, ob es absolute Pflicht ist, jetzt zu handeln. Während bei Matthäus die universale Gerechtigkeit an das apokalyptische Szenarium des letzten Gerichts gebunden wird, erfahrt bei Levinas die Gerechtigkeit folgende Begründung: »Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Femen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen; in der die Gleichheit aDer getragen ist von meiner Ungleichheit, durch den Mehrwert meiner Pflichten über meine Rechte.« (JS 347). Ist von solch bedrängender Eschato- Ethik die systematisch-theologische Lehre von den Letzten Dingen geprägt? Um auf diese Frage eine Antwort zu versuchen, müsste eine umfassende Bestandsaufnahme vorgelegt werden. Ich muss mich hier leider begrenzen und gehe nur auf zwei Positionen ein, die im Bereich der katholischen Theologie von großem Einfluss (geworden) sind. Karl Rahner ging in einem seiner bekannten Aufsätze 25 davon aus, dass es )>einer grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Besinnung auf Wesen und Tragweite solcher Aussagen sowohl auf dem Gebiet der Theologie als auch auf dem der profanen Erkenntnis« bedürfe (403). Seine erste These richtet sich gegen eine radikale Existentialisierung und fordert: »Es muß im christlichen Glaubensverständnis und seiner Aussage eine Eschatologie geben, die wirk-
Umstritten ist die Frage, wer die »Geringsten der Brüdert< sind, denen Gutes getan wird. Sind es nur die geringen Leute in der christlichen Gemeinde? Sind es die unteTStützungsbedürftigen Wanderprediger? Ulrich Luz vertritt die These, der ursprüngliche Sinn bei Matthäus beziehe sich auf die Gemeinde, tritt aber dennoch für eine universale lnterpretation des Textes ein. FrankemöUe plädiert grundsätt1ich für eine universaJe Auslegung. AUe Menschen soUen durch die Gerichtsrede zu einem solidarischen Handeln bewegt werden. 24 Für Luz ist die universale Auslegung auf aDe notleidenden Brüder und Schwestern zunächst gedeclct durch die radikale Webe, mit der Jesus seinen Weg bis zu Ende durchsteht. Ferner möchte Manhäus nicht, dass die Gemeinde im Gmcht eine Sondentellung erhält. Auch die Gemeinde wird von ihrem Herrn zur Rechenschaft gezogen, und zwar nicht ZUerllt nach ihrem Bekenntnis, sondern nach den Taten der Liebe. Schließlich ölfnet die universale Interpretation des Textes unsere Augen, lldie Armen der Welt ... ,ja Gott selbst auf eine Weise neu zu entdecken, daß daraus die Liebe entsteht, von der der Text sprichtK(543). 2S K. Rahner, Prinzipien der Hermeneutik, 401 - 28. 2J
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lich das Zukünftige, das in einem ganz gewöhnlichen, empirischen Sinn zeitlich noch Ausständige meint.« (404). Für Rahner gilt: ))Anamnese und Prognose gehören zu den unausweichlichen Existentialien des Menschen.« (410). Doch wie weit reicht das eschatologische Wissen? Rahner führt in der vierten These aus: ))Das Wissen um das Zukünftige wird das Wissen um die Zukünftigkeit der Gegenwart sein, das eschatologische WISSen ist das Wissen um die eschatologische Gegenwart.« (412). Es verneht sich, dass hier auch bei Rahner der Begriff des WISsens gesprengt werden muss. Die Zukunft ist einerseits da, aber als undurchschaute und unverfügbare, auf die sich der Mensch glaubend-hoffend einlassen kann; zugleich muss diese Zukunft aber so da sein, dass von ihr überhaupt noch etwas ausgesagt werden kann. Solche ZuJrunfI kann im Grunde nur in der Weise umschrieben werden, )x:la6 sie sein kann und sein soll die Vollendung des ganzen Menschen durch den unbegt eiflichen Gott im Heil, das uns verborgen in Christus schon gegeben ist.« (413). Daraus ergibt sich nach der fünften These, ))(1a6 der Mensch von dieser wirklich ausständigen Zukunft das und nur das, auch durch Offenbarung, weiß, was davon prospektiv aus und an seiner heilsgeschichtlichen Erfahrung in seiner Gegenwart ablesbar ist.« (414). So kommt Rahner zu seiner eigentlichen Hauptthese, die lautet: Eschatologie ist aJso nicht die antizipierende Reportage später erfolgender Ereignisse (die Grundansicht faJscher Apokalyptiker im Unterschied zu echter Prophetie) aus den künftigen Ereignissen heraus und von ihnen her [ ... ], sondern der für den Men· sehen in seiner geistigen Freiheits· und Glaubensentscheidung notwendige Vorblick aus seiner durch das Ereignis Christi bestimmten heilsgeschichtlichen Situation heraus (aJs dem ätiologischen Erkenntnisgrund) auf die endgültige VoUendung dieser seiner eigenen, schon eschatologischen Daseinssituation zur Ennöglichung seiner eigenen, erheUten und doch glaubend wagenden Entscheidung ins dunkel Offene hinein, damit der Christ darin seine Gegenwart annehme aJs Moment an der Verwirklichung der im Anfang (der letztlich Christus ist) gestifteten Möglichkeit und als schon jetzt verborgen gegenwärtige und endgültige Zukunft, die dann gerade als Heil sich gibt, wenn sie angenommen wird aJs die auf Zeitpunkt und Weise nicht berechenbare Tat Gones, der alJein verfugt, und wenn so der Skandal des noch gegebenen Widerspruchs zu dem schon gegebenen Heil in Christus [... ] in hoffender Geduld ausgehaJten wird aJs Teilnahme am siegreichen und erlösenden Kreuz Christi . (414)
Hier liegt einer der Mammutsätze Rahners vor, aus dessen Struktur hervorgeht, dass das noch Ausstehende gar nicht der Reihe nach aufgelistet werden kann, sondern in einem einzigen Satz als das Ganze christlicher Eschatologie gesagt werden soll. Eschatologie wird fiir Rahner zur Christologie im Modus der Vollendung. (vgl. 415) Oder noch grundlegender: »Christliche Anthropologie und christliche Eschatologie sind letztlich Christologie in der Einheit der verschiedenen und doch nur in einem möglichen und greifbaren Phasen des Anfangs, der Gegenwart und des vollendeten Endes.« (416). Somit gründet das eschatologische Wissen in der ))Erfahrung von dem Heilshandeln Gottes an uns selbst in Christus.« (417). Rahner kann seine bisherigen Überlegungen
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so zusammenfassen: »Biblische Eschatologie muß immer gelesen werden als Aussage von der Gegenwart als geoffenbarter her auf die echte Zukunft hin, nicht aber als Aussage von einer antizipierten Zukunft her in die Gegenwart hinein. Aus-sage von Gegenwart in Zukunft hinein ist Eschatologie. Ein-sage aus der Zukunft heraus in die Gegenwart hinein ist Apokalyptik.« (418). »Die
apokalyptische Einsage ist entweder Phantasie oder Gnostik [ ... ]« (418f.). In einer christlichen Eschatologie könne deshalb ausgesagt werden, daß die Zeit ein Ende haben wird, daß sich auf das Ende hin der Antagonismus zwischen Christus und der Welt verschärft, daß die Geschichte im ganzen im definitiven Sieg Gottes in seiner Gnade endet, daß diese Vollendung der Welt, insofern sie eben die unberechenbare Tat des freien Gottes ist, Gericht Gottes heißt, insofern sie die Vollendung der mit Christus endgilltig siegreich gewordenen HeilswirkJichkeit ist, Wiederkunft und Gericht Christi heißt, insofern sie die Vollendung des einzelnen ist, der nicht einfach aufgeht in seiner Funktion, Moment der Welt zu sein, Partikulärgericht, und insofern die Welt nicht einfach die bloße Summe der individuellen einzelnen ist, allgemeines Gericht genannt wird, insofern sie die Vollendung der Auferstehung Christi ist, Auferstehung des Fleisches und Verklärung der Welt heißt. (425f.)
Rahner spannt also den Bogen wesentlich weiter, als Kant ihn spannen konnte, auch wenn Rahner Eschatologie eine docta ignoranlia nennt. Der Logos vom Äußersten ist Rahner zufolge zwar auf Gegenwärtigkeit zu konzentrieren, aber aus deren existentia1-anthropologischer Analyse ergibt sich ein christologisch bedingtes eschatologisches Wissen. Doch geht es dabei nicht um ein Jenseitswissen esoterischer Art, sondern um ein Gegenwartswissen. Eschatologisches Verstehen basiert auf christologischem Verstehen und entspricht somit dem anthropologisch-existentialen Verstehen des anamnetischen und prognostischen Bewusstseins. Dass ein solches, christologisch bedingtes eschatologisches Verstehen in die Gefahr geraten kann, dennoch einen letzten logischen ScWüssel zum Verständnis von Gott, Welt und Mensch besitzen zu wollen, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Logik droht das letzte Wort der EschatoLogie haben zu woUen, nicht die Ethik wie bei Kanl und Levinas. Hat Rahners Meisterschüler, Johann Baptist Metz, die eschatologische Logozentrik seines Lehrers aufgebrochen? In seinen »)Unzeitgemäße{n) Thesen zur Apokalyptik«26, die zu Ehren Blochs verfasst sind, obwohl sie mehr den 26 Vgl. J. B. Metz, Hoffnung als Naherwartung, 149-58.
Die Thesen kreisen um folgende Punkte: I. Symptome der Zeitlosigkeit (These 1- 12); 2. Zeitlosigkeit als System (These 8- 13); 3. Theologie im Bann der Zeitlosigkeit (These 14- 21); 4. Wider den Bann de Zeitlosigkeit: Erinnerung an die Apokalyptik (These 22-29); 5. Wider die falschen Alternativen in der christlichen Eschatologie (These 30-35). Die Thesen von Mett sind Bloch zu Ehren fonnulien. I1eshaJb konzentrien sich die Kritik R. Schaeßlers besonders auf den Bloch'schen, marxistischen Aspekt. Mit Bloch teile Metz das Bewusstsein von der drängenden Stunde; dem marxistischen Aufruf zum letzten Gefechi entspreche bei Metz die neu betonte Naherwartung, wobei zuzugeben sei, dass Marxisten und Christen tatsächlich das Bewusstsein von der Unaufschiebbarkeit der Entscheidung teilen. Wenn
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Geist Benjamins atmen. geht es Metz maßgeblich um eine »Nachfolge unter Zeitdruck« (149), um eine Überwindung des Eindrucks. wir hätten - kosmisch und somit wissenschaftlich gesehen - unendlich viel Zeit. Metz kommt zu seiner kürzesten These 6. die lautet: )}Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung.« (150). Metz plädiert dafur, die Theologie dürfe um Gottes willen nicht die »Naherwartung« streichen. Geschichte sei nicht einfach der kontinuierliche Zeitablauf, den der Historismus im Auge hat. WIr glauben an einen Gott, der auch die Toten nicht in Ruhe lasse. (vgl. 153) Gott sei nicht das Andere der Zeit, sondern deren Grenze, deren Abbruch. Wenn das Christentum den Aspekt des apokalyptisch Überraschenden ausscheide, verliere es auch das Messianisch-Überraschende. Statt dessen müsse sich die Theologie zuriickbesinnen auf den katastrophischen Charakter der Zeit (vgl. These 24); denn »Christologie ohne Apokalyptik wird zur Siegerideologie« (These 25). Nachfolge Jesu aber, radikal gelebt, sei nicht möglich, wenn die Zeit nicht abgekürzt wird. »Jesu Ruf: >Folge mir nach!<, und der Ruf der Christen: )Komm, Herr Jesusl< seien untrennbar.« (These 26). Apathisch mache nicht das apokalyptische ZeitgefiihJ, sondern das evolutionistische. Das apokalyptische LebensgefuhJ bringe »Zeit- und Handlungsdruck in das christliche Leben«, lasse die Herausforderung praktischer Solidarität (vgl. Mt 25) annehmen. (These 28) Metz zufolge hat die Eschatologie, die auf Weltzeit gerichtet war, zur Überbetonung der Existenzzeit geführt und damit zur verkürzten Individualeschatologie. Daraus folgt für ihn in These 33: )}Jene die Apokalyptik zutiefst bewegenden Fragen - Wem gehört die Welt? Wem ihre Leiden? Wem ihre Zeit? - scheinen nirgendwo so erfolgreich stillgelegt wie innerhalb der Theologie selbst.« (157). Hier wird - auf dem Hintergrund kritisch gewendeter Apokalyptik bei Walter Benjamin - die Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was Jacques Derrida als das typisch Apokalyptische angesehen hat: ein Ton, der schon in seinem beschwörenden Gestus Recht zu haben beansprucht. 27 Der ästhetisch-weisMetz sich auf den wiederkommenden Christus konzentriert und darin nicht ein verzichtbares Bild der Eschatologie sehe, so halte er doch der eigentlichen Herausforderung Blochs, seiner atheistischen lnterpretaüon des rn·tis sicut deur nicht stand. Vgl. R. SchaeHler, Was dürfen wir hoffen, bes. 30 1- 308. - Nach meinem Eindruck bezieht sich der Grundtenor der Thesen bei Metz viel intensiver auf Benjamin als auf Bloch. 27 J. Derrida. Apokalypse, 9- 90. - Denida erweist sich hier in einem als Leser Kants und der philosophischen Aufklärungsproblematik und der Apokalypse des Johannes. Apokalypse teilt mit der Aufklärung den Willen zur Enthüllung und Offenbarung des Verborgenen. Dabei zeigt sich, dass die Grenze zwischen dem Rationalen und Irrationalen übe~hrinen wird. Beide Traditionen müssen kritisch gelesen werden. Kant muss sich absetzen von einer Mystagogie. die vorglbt, ein vorgegebenes, gesichenes W"t$.5en zu haben; aber auch der Prophet hat kein Recht auf eschatologische Authentizität. Was also? Derrida stellt die These auf: »Die Wahrheit selbst ist das Ende, die Bestimmung, daß die Wahrheit sich entbüllt. ist die Vollendung des Endes. Die Wahrheit ist das Ende und die Instanl. des jüngsten Gerichts. Die Struktur der Wahrheit wäre hier also apokalyptisch. und aus diesem Grunde gtbt es keine Wahrheit der Apokalypse, die nicht wieder Wahrheit der Wahrheit wäre .• (64). 1m Blick auf die Apokalypse des Johannes und die
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heitliche Akzent Kants spielt bei Metz keine Rolle; von der Überzeugung, die das Denken von Emmanuel Levinas prägt, dass das Gute im Menschen zutiefst schöpfungsmäßig angelegt ist, findet sich bei Metz keine Spur. GleichwohJ kann gesagt werden, dass die Metz'sche Re-apokalyptisierung der Theologie keine Rückkehr vor die Aufklärung darstellt, sondern den ethischen Impuls auf seine
Weise aufgreift. Das Gespräch der christlichen Eschatologie, so lässt sich rückblickend sagen, ist von Kant nicht unbeeinflusst geblieben. Eine intensivere Auseinandersetzung mit der radikaleren Kritik an der christlich-theologisch verantworteten Eschatologie, die Levinas vorgetragen hat, steht weitgehend noch aus. Abgesehen davon, dass gerade die Johannesapokalypse mit ihren Bild-
weiten auch eine erhebliche ästhetische Wirkungsgeschichte hatte, 28 wären vor allem auch die Konsequenzen intensiver zu bedenken, die Kants Hinweise auf das Erhabene betreffen. M.E. kommt auch in Holzheys Interpretation die ästhetische Dimension des Erhabenen zu kurz, es sei denn, man sehe sie im weisheitlichen Diskurs subsumiert. Zu fragen wäre näherhin, worin das, was Kant »furchtbar-erhaben« nennt, besteht. 29 Der weisheitLiche Diskurs bei Kant scheint immerhin eine Schönheit des Christentums vor Augen zu haben, die auf eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck verweist,30 als sei alles »Grausende« verges· sen, Das »GefiihJ des Erhabenen« scheint also das rechte Verhalten in Religion verschiedenen Stimmen, die auf Johannes kommen, schreibt Derrida: ~Von dem Augenblick an, wo man nicht mehr weiß, wer spricht oder wer schreibt, wird der Tex! apokal)'p(isch.\C (7 1). Dies wendet Derrida sofort ins Grundsätzliche, indem er fragt: »Ist das Apokal)'p(ische nicht eine transzendentale Bedingung eines jeden Diskurses, selbst jeder Erfahrung,jeder Markierung oder jeder Spur?\( (72). Warum also das Interesse an der Apokalypse des Johannes? Mit diesen Fragen geht Derrida in die Lektüre des Textes über. Er schließt seinen Essay mit den Sätzen: ~ Das Ende naht, und es ist keine Zeit mehr, die Wahrheit über die Apokalypse zu sagen. Aber was machSI Du, werden Sie wieder mit Nachdruck sagen, auf welchen Zweck willst Du hinaus, wenn Du daher kommst, uns hier und jetzt zu erzählen: Auf, komm, die Apokalypse. es ist vorbei, }eh sage es Dir, das ist es, was ankommt.« (90). Das Apokalyptische verliert alles Spektakuläre, wird zur transzendentalen Bedingung jedes Diskurses, wird zur beanspruchenden Redefonn. Eine Rcdefonn der Gewalt? 28 Vgl. M. Bachmann, Die apokalyptischen Reiter und der Apokalypsebegriff: Dürer, Luther und die Folgen. In: W. VägelelR. Schenk, Apokalypse. Vortragsreihe zum Ende des Jahrtausends. Loccwn 2000, 209-225 (Lit.). 29 Mir will scheinen, dass Kant den Gedanken der Verantwortung im Weltgericht und die verderbte Beschaffenheit des Menschen als ein Schwergewicht empfindet, gegen das sich die Idee des Guten und der letzten Zweckbestimmung des Menschen in der Schöpfung behaupten muss. In Letzterem liegt das Anziehende christlicher Endz.eittrndition. Sprengt Dar Ende aller Dinge den Ästhetikdiskurs in der Kritik der Und/s.krajl, wenn dort insbesondere der »zwanglose Zwang(( beschworen wird, den Kanl in seiner Schlussüberleguog aufrugreifen scheint? Kant geht mer wohl nicht so weit - was immerhin auch denkbar wäre -, dass er nach §59 der Kritik der UneiUkraft in den positiven (»schönen«) Bildweiten der Eschatologie ein . Symbol des SittlichGuten« angenommen hätte. 30 Vgl. J. Ritter, Ästhetik, in: HWP I (1971) bes. 565-567.
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und Moral mitzutragen, ohne dass es mit beiden identifiziert werden könnte. Der Zusammenhang zwischen Kants Lehre vom Erhabenen, dem zentraJen Stellenwert dessen, was bei Emmanuel Levinas die Dimension der »Höhe« oder der Terminus »Herrlichkeit« betriffi, und einer Eschatologie, die sich aJs Eschato-Ethik verstehen will, müsste in einer eigenen Studie näher untersucht werden.
Literatur Aristoteles, Physik IV 11, 219b. Derrida. J., Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie, in : ders .. Apokalypse;. hg. v. Feter Engelmann, GrazlWien 1985 (&lition Passagen 3), 9-90. - , Das Wort zum Empfang, in : ders., Adieu. NachrufaufEmmanuel Levinas, München! Wien 1999 (Edition Akzente). - I Kohler, G. (Hg.), In Erwartung eines Endes. Apokalyptik und Geschichte, Zürich 200 I (Theophil 7). de Vries, H., Levinas ~}ChristUch gelesen«?, in : A. NoorI). Wohlmuth (Hg.), ~Jüdische< und }Christliche< Sprachfigurationen im 20, Jahrhundert, Paderbom u.a. 2002 (Stu· dien zu Judentwn und Christentwn), 67- 92. Kant, 1., Das Ende aller Dinge. in : ders., Werkausgabe, hg. v. W. Weischedel, Band Xl, Fr.mkfurt 3.M. 1977,175- 190. Uvinas, E., Dieu, la mort et le temps, Paris 1993 (Figures). - , Ethik und Unendliches, Wien!Graz 1986 (Edition Passagen 11). -, Jenseits des Seins oder anders rus Sein geschieht. Aus dem Französischen übersetzt von Th. Wiemer, FreiburgIMünchen 1992 (A1ber·Reihe Philosophie). -, Totalität und Unendlichkeit, FreiburglMünchen 1987 (A1ber·Broschur Philosophie). Luz., U ., Das Evangelium nach Matthäus, Neukirchen·Vluyn 1990 (EKK 112). -, Das Evangelium nach Matthäus, Neukirchen·Vluyn 1997 (EKK. (/3). Mett, J.B., Hoffnung aJs Naherwartung oder der Kampf um die verlorene Zeit. Unzeit· gemäße Thesen zur Apokalyptik, in: den .. Glaube in Geschichte und Gesellschaft: Studien zu einer praktischen Fundamentalphilosophie, Mainz 1977, 149- 158. Moses, S., Geschichte und Messianität, in: A. Noor/J. Wohlmuth (Hg.), ~Jüdische< und }Christliche< Sprachfigurationen im 20. Jahrhundert, Paderbom u.a. 2002, 41 - 56. Rahner, K.. Theologische Prinzipien der Henneneutik eschatologischer Aussagen, in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. 4, Neuere Schriften, Einsiedein u.a. 1960. Schaeffler R., Was dürfen wir hoffen? Die katholische Theologie der Hoffnung zwi· sehen Blochs utopischem Denken und der reformatorischen Rechtfertigungslehre, Darmstadt 1979. Taubes, J., Abendländische Eschatologie: mit einem Anhang, München 1991 (Batterien 45).
Autorenverzeichnis STEFAN BEYERLE
(1964), Dr. theol., PD, ist wissenschaftlicher Assistent für Jüdische Studien und Biblische Religion an der Universität Otdenburg und Privatdozent für Altes Testament an der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Frühgeschichte Altisraels, die Zeit des Zweiten Tempels (Apokalyptik, Qumran) und die Textgeschichte des Alten Testaments. Seine Habilitationsschrift über »Die GottesvorsteUungen in der antik-jüdischen Apokalyptik« erscheint 2003 bei BRJLL.
ANOREAS Busrus (1967), M.A., ist Althistoriker und Ägyptologe und aJbejtet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 534 »Judentum-Christentum« an der Universität Bonn. Schwerpunkt seiner Forschung sind das griechisch-römische Ägypten, der HeUenismus und die antike Numismatik. Seine Dissertation über »Antiochos IV. Epiphanes und Ägypten, Machtpolitik und Ideologie« erscheint 2004. JÜRGEN ßROKOFF,
(I968), Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Literarische Ästhetik vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, die Literatur der Weimarer Republik sowie Literatur und Medien nach 1989/90. Er hat veröffentlicht u.a. zur Apokalypse in der Weimarer Republik, zur Politischen Theologie und zur deutsch-jüdischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts . JÜR.GEN FOHRMAN N,
(1953), Prof. Dr. phil, ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft am Germanistischen Seminar der Universität Bonn. Schwerpunkte seiner Forschung bilden die Literatur- und Wissenschaftsgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, die Kulturtheorie und Politische Theologie. Von ihm liegen zahlreiche Veröffentlichungen vor zur Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts und zur Theorie der Literaturwissenschaft.
HITZ, (1970), Dr. phil, ist Lehrbeaufragter für Philosophie an der Staatlichen Hochschule fiir Gestaltung Karlsruhe. Seine Forschungsschwerpunkte sind PraktiTORS I EN
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Autorenverze;chnis
sehe Philosophie und die Beziehungen zwischen analytischer und kontinentaleuropäischer Philosophie. Er hat Veröffentlichungen u. a. zur Philosophie des 20. Jahrhunderts, zu Friedlich Nietzsehe, zur Literatur- und KuJturtheorie sowie zur Angewandten Ethik vorgelegt. BERND ULRlCH SCHIPPER
(1968), Prof. Dr. theol., M.A., ist Juniorprofessor fur Religionswissenschaft an
der Universität Bremen. Seine Forschungen gelten der altorientaJischen Religions- und Literaturgeschichte, der Geschichte Israels und der Apokalyptik.
Von ihm liegen Veröffentlichungen vor u. a. zu den kulturellen Kontakten zwischen Israel und Ägypten, zur altägyptischen Weisheitsliteratur und zur antikjüdischen Apokalyptik. JOSEF WOHLMUTH
(1938), Prof. Dr. theol, ist Professor fur Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und Sprecher des Sonderforschungsbereiches 534 der Universität Bonn. Neben Forschungen zum Verhältnis von Judentum und Christentum hat er publiziert über Fragen der "Konzilsgeschichte, der Christologie und der jüdischen Philosophie, speziell zu dem Werk von Emanuel Levin.. und Jean-Franl'ois Lyotard. MICHAEL WOLTER
(1950), Prof. Dr. theol., ist Professor für neutestamentliche Wissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Schwerpunkte seiner Forschung sind das lukanische Doppelwerk, das Corpus Paulinum sowie Ethik und Ethos im Frühen Christentum. Neben diesen Themengebieten hat er
u,a. publiziert zu Fragen der antikdüdischen und neutestamentlichen Literatur.