Quintus Horatius Flaccus Ars Poetica Die Dichtkunst Lateinisch/ Deutsch
Übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben...
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Quintus Horatius Flaccus Ars Poetica Die Dichtkunst Lateinisch/ Deutsch
Übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Eckart Schäfer
Philipp Reclam jun. Stuttgart
Der lateinische Text folgt der Ausgabe: Q. Horati Flacci Opera. Ed. F. Klingner. Leipzig: Teubner, 31 959.
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 9421
Alle Rechte vorbehalten
© 1972 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgan
Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2008
Gesamtherstellung: Rcclam, Ditzingen. Printcd in Gcrmany 2008 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Phitipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgan ISBN 978-3-15-009421-1 www.reclam.de
EPISTULA AD PISONES
De Arte Poetica BRIEF AN DIE PISONEN
Über die Dichtkunst
Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit et varias inducere plumas undique conlatis membris, ut turpiter atrum desinat in piscem mulier formosa superne, spectatum admissi risum teneatis, amici? credite, Pisones, isti tabulae fore librum persimilem, cuius, velut aegri somnia, vanae fingentur species, ut nec pes nec caput uni reddatur formae. >pictoribus atque poetis quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.< scimus, et hanc veniam petimusque damusque vicissim; sed non ut placidis coeant inmitia, non ut serpentes avibus geminentur, tigribus agni. inceptis gravibus plerumque et magna professis purpureus, late qui splendeat, unus et alter adsuitur pannus, cum lucus et ara Dianae et properantis aquae per amoenos ambitus agros aut flumen Rhenum aut pluvius describitur arcus; sed nunc non erat his locus. et fortasse cupressum scis simulare: quid hoc, si fractis enatat exspes navibus, aere dato qui pingitur? amphora coepit institui: currente rota cur urceus exit? denique sit quodvis, simplex dumtaxat et unum. maxima pars vatum, pater et iuvenes patre digni, decipimur specie recti: brevis esse laboro, obscurus fio; sectantem levia nervi deficiunt animique; professus grandia turget; serpit humi tutus nimium timidusq�e procellae:
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Wollte zum Kopf eines Mensmen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammen gelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fism von häßlimer Smwärze endet das oben so reizende Weib: könn tet ihr da wohl, sobald man eum zur Besimtigung zuließ, eum das Lamen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen1, solmem Gemälde wäre ein Bum ganz ähnlim, in dem man Gebilde, so nimtig wie Träume von Kranken, erdimtet, so daß nimt Fuß und nimt Kopf derselben Gestalt zugehö ren. »Und dom hatten Maler und Dimter seit je gleime Freiheit, zu wagen, was sie nur wollen.« [10] Im weiß das, und diese Gunst erbitte im selbst und gewähre sie andren, aber nimt so, daß sim Grimm mit Sanftmut verbindet, nimt so, daß Smlangen mit Vögeln sim paaren und Lämmer mit Tigern. Oft wird an gewimtige Anfänge und große Verspremen hier und da ein Lappen von Purpur, daß weithin er leumte, an geflickt, wenn man den Hain und Altar der Diana be smreibt und wie sim ein munteres Bämlein durm lieblime Ackerflur smlängelt, oder den Rheinstrom oder den Regen bogen abbildet. Doch war dafür just nimt der rimtige Platz. Vielleimt verstehst du es aum, eine Zypresse [20] wie derzugeben: was soll das, wenn du für Geld jemand dar stellst2, der aus einem Smiffbrum, beraubt aller Hoffnung, smwimmend entkommt? Eine Amphora beginnt man zu for men, es dreht sim die Smeibe - warum wird nur ein Krug draus? Kurz, sei das Werk, wie es wolle, nur soll es gesmlos sen und einheitlich sein. Vielfam, Vater und ihr, eures Vaters würdige Söhne, täusmt uns Dimter der Ansmein des Remten: Im strebe nach Knappheit - und werde dunkel; ihn, der auf Leimtigkeit zielte, verlassen Kraft und Energie; wer Erhabenes kündet, wird smwülstig; am Erdboden kriemt, wer sim allzusehr simert und Angst vor dem Sturm hat; wer ein einzelnes
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qui variare cupit rem prodigialiter unam, delphinum silvis adpingit, fluctibus aprum: in vitium ducit culpae fuga, si caret arte. Aemilium circa ludum faber imus et unguis exprimet et mollis imitabitur aere capillos, infelix operis summa, quia ponerc totum nesciet : hunc ego me, si quid componcre eurem, non magis esse velim quam naso vivere pravo, spectandum nigris oculis nigroque capillo. sumite materiam vestris, qui scribitis, aequam viribus et versate diu, quid ferrc recusent, quid valeant umeri. cui lecta potenter erit res, nec facundia descret hunc nec lucidus ordo. ordinis haec virtus erit et venus, aut ego fallor, ut iam nunc dicat iam nunc debentia dici, pleraque differat et praesens in tempus omittat, hoc amet, hoc spernat promissi carminis auctor. in verbis etiam tenuis cautusque serendis dixeris egregie, notum si callida verbum
reddiderit iunctura novum. si forte necesse est indiciis monstrare recentibus abdita rerum et fingere cinctutis non exaudita Cethegis, continget dabiturque licentia sumpta pudenter, et nova fictaque nuper habebunt verba fidem, si Graeco fonte cadent parce detorta. quid autem Caecilio Plautoque dabit Romanus ademptum Vergilio Varioque? ego cur, adquirere pauca si possum, invideor, cum lingua Catonis et Enni sermonem patrium ditaverit et nova rerum nomina protulerit? licuit semperque licebit signaturn praesente nota producere nomen.
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Thema verschwenderisch auszugestalten begehrt, [30) malt einen Delphin in die Wälder, ins Meer einen Eher. Flucht vor der Schuld führt zum Fehltritt, falls es an Kunstver stand mangelt. Der Handwerker am äußersten Ende der Aemilius-Schule3 wird Fingernägel nachbilden und seidige Locken in Erz täuschend treffen, am Ganzen des Werks wird er scheitern, da er nicht versteht, ein Ganzes zu schaffen. Wollte ich was erschaffen, so wünschte ich ebensowenig, jener zu sein, wie mit krummer Nase zu leben, könnte ich mich mit dunklen Augen und dunklem Haar auch sehn lassen. Nehmt, die ihr schreibt, einen Stoff, für den eure Kräfte genügen, und wägt lange ab, was eure Schultern verweigern, [40) wa s sie zu tragen vermögen. Wer seinem Können ge mäß sich das Thema gewählt hat, dem wird es nicht an sprachlicher Kraft und lichtvoller Anordnung fehlen. Die L e istung und Schönheit der Ordnung - wenn ich mich nicht täusche - wird darin bestehen, daß man schon jetzt sagt, was jetzt schon gesagt werden muß, alles übrige auf schiebt und fürs erste zurückhält, dieses bevorzugt, jenes verschmäht, wer eine verheißene Dichtung verwirklicht. 3• Auch beim Verknüpfen der Wörter, sensibel und achtsam, wirst du Besonderes sagen, wenn eine verschmitzte Verbin dung aus einem bekannten Wort ein neues gemacht hat.
Sollte es einmal erforderlich sein, früher verborgene Dinge mit neuen Zeichen zu zeigen und [50) zu ersinnen, was nie die geschürzten Cetheger4 vernahmen, wird dir diese Freiheit zuteil und gerne gewährt, wenn du sie taktvoll gebrauchst, und neue, eben erfundene Wörter genießen Vertrauen, falls sie aus griechi schem Quell sparsam abgeleitet rinnen. Wieso aber wird der Römer Caecilius und Plautus5 gestat ten, was er Varius und Vergil6 verbietet? Warum werde ich kritisiert, wenn ich ein wenig hinzuzuerwerben vermag, wo doch die Sprache des Cato und E nnius 7 u nse re Mutte rsprache reicher gemacht und neue Sachbegriffe hervorgebracht hat? Immer schon war es erlaubt und wird auch immer erlaubt sein, Wörter, vom Stempel der Gegenwart gepr ä gt, in Um lauf zu setzen. 7
ut silvae foliis pronos mutantur in annos, prima cadunt : ita verherum vetus interit aetas, et iuvenum ritu florent modo nata vigentque. debemur morti nos nostraquc : sive receptus terra Neptunus classes Aquilonibus arcet, regis opus, sterilisve diu palus aptaque remis vicinas urbes alit et grave sentit aratrum, seu cursum mutavit iniquum frugibus amnis doctus iter melius : mortalia facta peribunt, nedum sermonum stet honos et gratia vivax. multa renascentur quae iam cecidere cadentque quae nunc sunt in honore vocabula, si volct usus, quem penes arbitrium est ct ius et norma loquendi. res gestae regumque ducumque et tristia bella quo scribi possent numcro, monstravit Homerus ; versibus inpariter iunctis querimonia primum, post etiam inclusa est voti scntentia compos ; quis tarnen exiguos elegos emiserit auctor, grammatici certant et adhuc sub iudice lis est; Archilochum proprio rabies armavit iambo ; hunc socci cepere pedem grandesque cothurni, alternis aptum sermonibus et popularis vincentem strepitus et natum rebus agendis; Musa dedit fidibus divos puerosque deorum et pugilem victorem et cquum certamine primum et iuvenum curas et libera vina referre : descriptas servare vices operumque colores cur ego si nequeo ignoroque poeta salutor? cur nescire pudens prave quam discere malo? versibus exponi tragicis res comica non volt ;
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[60] Wie die Bäume mit ihren Blättern zur Jahresneige sich wandeln, ihre ersten abfallen, so sterben auch Wort
veteranen, so blühen eben geborene WÖrter und sind kräf tig wie Jünglinge. Wir sdtulden dem Tode uns und das Unsre. Neptun, vom Land aufgenommen, besdtützt die Flotten gegen die Stürme - das Werk eines Königs; ein lan ge Zeit nutzloser Sumpf, nur für Ruder geeignet, ernährt seine Städte ringsum und bekommt die sdtwere Pflugsdtar zu spüren ; oder : ein Fluß hat seinen Lauf, einst der Feld frudtt verderblidt, geändert, man hat einen besseren Weg ihn gelehrt : Mensdtenwerk wird vergehen, Geltung und Ansehn der Wörter, wie könnten sie ewig leben! [70] So werden viele längst schon untergegangene Wörter von neu em geboren, es werden vergehn, die heute gesdtätzt sind, falls es der Spradtgebraudt will; dieser entsdteidet und ist der Garant und die Ridttschnur des Sprechens. In welchem Versmaß man von den Taten der Herrsdter und Feldherrn und von leidvollen Kriegen schreiben kann, hat Homer8 uns gezeigt. In ungleiche Verse, gepaart, wurde an fangs die Klage um Tote, dann die Erklärung gefaßt, daß ein Gebet sich erfüllte9• Dom wer solche kargen Gedichte im elegischen Versmaß als erster herausgab, darüber streitet man unter Gelehrten, der Fall verlangt noch den Richter. Den Archilochos10 bewaffnete seine Wildheit mit dem ihm eigenen Jambus. [80] Den komi schen Soccus und den erbah nen Kothurn11 zog dann dieser Versfuß an, geeignet zu Wech selreden, siegreich das Lärmen des Volks übertönend, ge schaffen zum Handeln. Den Saiten gab die Muse auf, von Göttern und Göttersöhnen zu melden, vom Sieger im Faust kampf, dem ersten Pferde im Renn en , von junger Leute Lie beskummer und vom befreienden Wein12• Wenn ich die festgelegten Unterschiede und den Stil einer Gattung nidtt zu beachten vermag und nicht kenne, was laß ich als Dichter mich grüßen ? Warum will ich, auf schlechte Art mich bescheidend, lieber unwissend sein als was lernen? Ein Komödienstoff mag nicht in Tragödienversen darge-
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indignatur item privatis ac prope socco dignis carminibus narrari cena Thyestae : singula quaeque locum teneant sortita decentem. interdum tarnen et vocem comoedia tollit iratusque Chremes tumido delitigat ore ; et tragicus plerumque dolet sermone pedestri, Telephus et Peleus cum pauper et exsul uterque proicit ampullas et sesquipedalia verba, si curat cor spectantis tetigisse querella. non satis est pulchra esse poemata : dulcia sunto et quocumque volent animum auditoris agunto. ut ridentibus adrident, ita flentibus adflent humani voltus. si vis me fiere, dolendum est primum ipsi tibi : turn tua me infortunia laedent, Telephe vel Pele u ; male si mandata loqueris, aut dormitabo aut ridebo. tristia maestum voltum verba decent, iratum plena minarum, ludentern lasciva, severum seria dictu. format enim natura prius nos intus a d omnem fortunarum habitum : iuvat aut inpellit ad iram aut ad humum maerore gravi deducit et angit: post effert animi motus interprete lingua. si dicentis erunt fortunis absona dicta, Romani tellent equites peditesque cachinnum. intererit multum, divusne17 loquatur an heros, maturusne senex an adhuc florente iuventa fervidus, et matrona potens an sedula nutrix, mercatorne vagus cultorne virentis agelli, Colchus an Assyrius, Thebis nutritus an Argis. aut famam sequere aut sibi convenientia finge
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stellt sein. [90] Genauso empört sich das Gastmahl des Thyestes13 dagegen, in privater und fast des Soccus würdiger Dichtung erzählt zu werden. Jedes Einzelne behaupte den ihm gemäßen, ihm zugefallenen Platz. Bisweilen jedoch hebt auch die Komödie den Ton an, und zornig schilt Chremes14 mit schäumendem Munde; anderer seits klagt man in der Tragödie meistens in erdnahen Wor ten - Telephos und Peleus15, beide verarmt und verbannt, werfen die hohldröhnenden Töpfe und anderthalb Fuß langen Wörter16 beiseite -, wenn man bemüht ist, des Zu schauers Herz mit der Klage zu rühren.
Es genügt nicht, daß Dichtungen schön sind; sie seien ge winnend, [1 00] sollen den Sinn des Hörers lenken, wohin sie nur wollen. Mit den Lachenden lacht, mit den Weinenden weint das Antlitz des Menschen. Willst du, daß ich weine, so traure erst einmal selbst; dann wird dein Unglück mich treffen, Telephos und Peleus; entledigst du dich nur eines unpassen den Auftrags, so schlafe ich ein oder muß lachen. Zu trau ernder Miene gehören auch traurige Worte, zu zorniger sol che voll Drohens, zu schelmischer scherzende, zur strengen solche, die man im Ernst sagt. Denn die Natur formt zuerst unser lnnres je nach der äuße ren Lage: beglückt uns, treibt uns zur Wut, [1 1 0] zieht uns durch schweren Kummer zu Boden, bedrückt uns; dann läßt sie die Regungen der Seele sich äußern durch die Überset zung der Zunge. Steht die Sprache des Sprechers nicht in Einklang mit seiner Lage, wird sich unter römischen Rittern und Fußvolk Gelächter erheben. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Gott17 spricht oder ein Heros, ein gereifter Mann oder ein Hitzkopf, noch in der Blüte der Jahre, ob eine gebieterische Herrin oder ob eine fleißige Amme, ein Kaufmann, immer auf Reisen, oder ein Mann, der sein grünendes Gütchen bestellt, ob Kolcher oder Assyrer, ob man in Theben erzogen wurde oder in Argos18• Entweder folge der Sage oder erdichte, was in sich überein-
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scriptor. honoratum si forte reponis Achillem, inpiger, iracundus, inexorabilis, acer iura neget sibi nata, nihil non adroget armis. sit Medea ferox invictaque, flebilis lno, perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes. siquid inexpertum scaenae conmittis et audes personam formare novam, servetur ad imum, qualis ab incepto processerit, et sibi constet. difficile est proprie communia dicere, tuque rectius Iliacum carmen deducis in actus quam si proferres ignota indictaque primus: publica materies privati iuris erit, si non circa vilem patulumque moraberis orbem nec verbo verbum curabis reddere fidus interpres nec desilies imitator in artum, unde pedem proferre pudor vetet aut operis lex, nec sie incipies, ut scriptor cyclicus olim : > fortunam Priami cantabo et nobile bell um.< quid dignum tanto feret hic promissor hiatu? parturient montes, nascetur ridiculus mus. quanto rectius hic, qui nil molitur incpte : > die mihi, Musa, virum, captae post tempora Troiae qui mores hominum multorum vidit et urbes. < non fumum e x fulgore, sed e x fumo dare lucem cogitat, ut speciosa dehinc miracula promat, Antiphaten Scyllamque et cum Cyclope Charybdim ; nec reditum Diomedis ab interitu Meleagri nec gemino bellum Troianum orditur ab ovo : semper ad eventum festinat et in medias res non secus ac notas auditorem rapit et quae desperat tractata nitescere passe relinquit atque ita mentitur, sie veris falsa remiscet, prima ne medium, medio ne discrepet imum. tu, quid ego et populus mecum desideret, audi, si plausoris eges aulaea manentis et usque
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stimmt, [120] Schriftsteller. Wenn du etwa neu den hohen Achilleus19 darstellst, so bestehe er rastlos, jähzornig, uner bittlich, heftig darauf, es gebe für ihn keine Rechte und er beanspruche alles für seine Waffen. Medea sei wild und un besiegt, Ino in Tränen, heimtückisch Ixion, Io ruhelos, fin ster Orestes20• Falls du Unbekanntes auf die Bühne bringst und es wagst, eine neue Person zu gestalten, so bleibe sie bis zum Ende, wie sie anfangs auftrat, und stimme mit sich selbst überein. Schwierig ist, Allgemeines individuell zu sagen, und besser, du setzt die Dichtung um Troja in ein Bühnenstück um, [130] als daß du Unbekanntes und Ungesagtes als erster vorlegst. Allgemeingut gerät unter privates Besitzrecht, wenn du nicht in dem billigen, allen zugänglichen Kreise dich auf hältst, nicht als Nachahmer in die Klemme gerätst, aus der dich herauszuwagen dir Kleinmut oder das Gesetz des Wer kes verbieten, nicht so anhebst, wie einst der Autor des Kyklos21 : » Priams Geschick will ich singen, den..Krieg auch der Edlen.« Wer solches verspricht, was wird er verkünden, das wert ist, so weit den Mund au fzumachen? Gebirge gebären, heraus kommt ein komisches Mäuschen. [1 40] Wieviel richtiger er, Homer, der nichts ungeschickt an faßt: » Nenne mir, Muse, den Mann, der nach der Erobrung von Troja zahlreicher Menschen Bräuche gesehn hat und ihre Städte.«22 Nicht Qualm nach dem Glanz, sondern Licht nach dem Qualm will er geben, um dann leuchtende Wun derdinge zu zeigen, Antiphates und Szylla und nebst dem Zyklopen Charybdis23• Die Heimkehr des Diomedes läßt er nicht mit dem Tod Meleagers24, nicht mit dem Zwillingsei den Krieg um Troja beginnen25 ; immer eilt er zum Ziel und mitten hinein ins Geschehen, als sei es bekannt, entführt er den Hörer, [150] läßt aus, woran er zweifelt, es könne, bearbei tet, glänzen, und so versteht er zu lügen, so Falsches mit Wahrem zu mischen, daß nicht dem Anfang die Mitte, der Mitte der Schluß widerstreitet. Du vernimm, was ich und mit mir das Volk verlangt, falls du dir Applaudierende wünschst, die das Aufgehn des Vor13
sessuri, donec cantor >vos plaudite< dicat. aetatis cuiusque notandi sunt tibi mores, mobilibusque decor naturis dandus et annis. reddere qui voces iam seit puer et pede certo signat humum, gestit paribus conludere et iram colligit ac ponit temere et mutatur in horas. inberbis iuvenis, tandem custode remoto, gaudet equis canibusque et aprici gramine campi, cereus in vitium flecti, monitoribus asper, utilium tardus provisor, prodigus aeris, sublimis cupidusque et amata relinquere pernix. conversis studiis aetas animusque virilis quaerit opes et amicitias, inservit honori, conmisisse cavet quod mox mutare laboret. multa senem circumveniunt incommoda, vel quod quaerit et inventis miser abstinet ac timet uti, vel quod res omnis timide gelideque ministrat, dilator, spe longus, iners avidusque futuri, difficilis, querulus, laudator temporis acti se puero, castigator censorque minorum. multa ferunt anni venientes coinmoda secum, multa recedentes adimunt: ne forte seniles mandentur iuveni partes pueroque viriles: semper in adiunctis aevoque morabitur aptis. aut agitur res in scaenis aut acta refertur. segnius inritant animos demissa per aurem quam quae sunt oculis subiecta fidelibus et quae ipse sibi tradit spectator : non tarnen intus digna geri promes in scaenam multaque tolles ex oculis, quae mox narret facundia praesen s :
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hangs erwarten und so lange sitzen bleiben, bis der Sänger sein »Klatscht BeifaJI!« spridtt2e. Die Eigentümlichkeiten jeder Altersstufe mußt du kenn zeichnen, mußt den sich wandelnden Naturen und Jahren das, was sie auszeichnet, geben. Ein Knabe, der schon Worte zu wiederholen versteht und mit sicherem Fuß den Erdbo den zeichnet, drängt danach, mit seinesgleichen zu spielen, er faßt einen Zorn [1 60] und läßt ihn leichthin und ist zu jeder Stunde ein andrer. Der bartlose Jüngling- endlich ist er den Aufpasser los - freut sich an Pferden und Hunden und am Rasen des sonnigen Sportfelds, wachsweich zum Laster zu lenken, halsstarrig gegen die Mahner, säumig, für seinen Vorteil zu sorgen, Verschwender des Geldes, hochge mut und begehrlich und rasch bereit, zu verlassen, was er ge liebt hat. Mit verwandelten Neigungen verlangen die Jahre und die Gesinnung des Mannes nach Einfluß und nach Be ziehungen, dienen der Ehre eines Amtes, hüten sich, etwas zu tun, was zu ändern dann Mühe bereitet. Viele Mühselig keiten umzingeln den Greis, etwa weil er [170] zu besitzen verlangt, sich dann das Erlangte verwehrt und sich scheut, es zu nutzen, oder weil er alle Geschäfte nur furchtsam und fröstelnd betreibt, ein Vertager, weit hoffend, tatenlos und gierig nach Zukunft, ein schwieriger Mensch, Querulant, Lobredner vergangener Zeiten, als er noch jung war, ein Tadler und Sittenrichter der Jüngren. Viel Angenehmes bringen die nahenden Jahre mit sich, viel nehmen sie schei dend mit fort: daß nicht etwa die Rolle des Alten dem Jüngling, dem Kinde die Rolle des Mannes vertraut wird! Immer wird man bei dem, was zu jedem Alter gehört und paßt, bleiben27•
Etwas wird auf der Bühne entweder voJlbracht oder wird als VoJlbrachtes berichtet. [ 1 8 0] Schwächer erregt die Auf merksamkeit, was seinen Weg durch das Ohr nimmt, als was vor die verläßlichen Augen gebracht wird und der Zu schauer selbst sich vermittelt; doch wirst du nicht, was besser im Innern sich abspielen so11te, auf die Bühne bringen, wirst vieles den Augen entziehen, was dann die Beredsamkeit 15
ne pueros coram populo Medea trucidet aut humana palam coquat exta nefarius Atreus aut in avem Procne vertatur, Cadmus in anguem. quodcumque ostendis mihi sie, incredulus odi. neve minor neu sit quinto productior actu fabula quae posci volt et spectanda reponi. nec deus intersit, nisi dignus vindice nodus inciderit, nec quarta loqui persona laboret. actoris partis cborus officiumque virile defendat, neu quid medios intercinat actus quod non proposito conducat et haereat apte. ille bonis faveatque et consilietur amice et regat iratos et amet pacare tumentis, ille dapes laudet mensae brevis, ille salubrem iustitiam legesque et apertis otia portis, ille tegat conmissa deosque precetur et oret, ut redeat miseris, abeat Fortuna super bis. tibia non ut nunc orichalco vincta tubaeque aemula, sed tenuis simplexque foramine pauco adspirare et adesse choris erat utilis atque nondum spissa nimis complere sedilia flatu ; quo sane populus numerabilis, utpote parvos, et frugi castusque verecundusque coibat. postquam coepit agros extendere victor et urbis latior amplecti murus vinoque diurno placari Genius festis inpune diebus, accessit numerisque modisque licentia maior. indoctus quid enim saperet liberque laborum rusticus urbano confusus, turpis honesto? sie priscae motumque et luxuriem addidit arti tibicen traxitque vagus per pulpita vestem ;
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allen verkündet: damit ihre Kinder vor allem Volke Medea nicht schlachte noch öffentlich menschliche Eingeweide der ruchlose Atreus koche, nicht in einen Vogel sich Prokne ver wandle noch Kadmos sich in eine Schlange28; was du mir so zeigst, dem kann ich nicht glauben, ich muß es verabscheun. Ein Stück bleibe nicht unter dem fünften Akt noch gehe d�rüber, [1 90) welches verlangt, daß man es zu sehen be gehrt und wiederaufführt29• Kein Gott mische sich ein, wenn keine Verwicklung eintrat, die solchen Erretters wert ist30, noch versuche die vierte Per son, gleichfalls zu sprechen31• Die Rolle eines Akteurs und die Pflicht eines Mannes nehme der Chor32 wahr, und er singe nicht zwischen den Akten, was dem Thema nicht nützt und nicht recht am Platz ist. Er sei den Guten gewogen, sei Freund und Berater, lenke die Zor nigen, besänftige gern die Erregten, lobe die Mahlzeit auf knappem Tisch, die heilbringende Gerechtigkeit und die Ge setze, den Frieden bei offenen Türen, [200) bewahre, was man ihm anvertraut hat, bete zu den Göttern und bitte, daß das Glück den Unglücklichen wiederkehre, die Stolzen ver lasse. Die Flöte33, nicht wie jetzt in Messing gefaßt und Rivalin der Trompete, sondern zierlich und einfach, diente dazu, aus spärlicher Bohrung den Chören Kraft einzuhauchen und ihnen zu helfen sowie die noch nicht allzu gedrängten Sitze mit ihrem Blasen zu füllen. Dorthin strömte ein Volk zu sammen, das durchaus noch überschaubar war- nämlich nicht zahlreich - sowie wacker, anständig und sittsam. Nachdem es als Sieger34 begann, sein Gebiet zu erweitern, nun eine längere Mauer die Städte umfing und am Wein schon tags über [210) der Genius35 an Festtagen straflos sich stillte, da er langten auch Metrum und Melodie größere Ungebundenheit. Wie hätte denn auch der ungebildete Bauer Geschmack ha ben können, der, frei von der Arbeit, sich mit dem Städter vermischte, der Niedrige mit dem Vornehmen! Also ergänz te nun der Flötist die frühere Kunst um Bewegtheit und Aufwand, zog schweifend die Schleppe über die Bühne; also 17
sie etiam fidibus voees erevere severis, et tulit eloquium insolitum facundia praeeeps utiliumque sagax rerum et divina futuri sortilegis non discrepuit sententia Delphis. earmine qui tragico vilem eertavit ob hireum, mox etiam agrestis satyros nudavit et asper incolumi gravitate iocum temptavit eo quod inlecebris erat et grata novitate morandus speetator functusque sacris et potus et exlex. verum ita risores, ita commendare dicacis conveniet satyros, ita vertere seria ludo, ne, quicumque deus, quicumque adhibebitur hcros, regali conspectus in auro nuper et ostro, migret in obscuras humili sermone tabernas aut, dum vitat humum, nubis et inania captet. effutire levis indigna tragoedia versus, ut fcstis matrona moveri iussa diebus, intererit satyris paulum pudibunda protervis. non ego inornata ct dominantia nomina solum verbaque, Pisones, satyrorum scriptor amabo ncc sie enitar tragico differre colori, ut nihil intersit, Davusne loquatur et audax Pythias, emuncto lucrata Sirnone talentum, an custos famulusque dei Silenus alumni. ex noto fictum earmen sequar, ut sibi quivis speret idem, sudet multum frustraque laboret ausus idem : tantum series iuncturaque pollet, tantum de medio sumptis acccdit honoris. silvis deducti eaveant me iudiee Fauni, ne vclut innati triviis ae paene forenses aut nimium teneris iuvenentur versibus umqu'am aut inmunda crepent ignominiosaque dieta.
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erwuchsen den strengen Saiten auch neue Töne, Bereds.;.:-:1keit überschlug sich mit einer ungewöhnlichen Sprache, und ihre Aussage, kundig in nützlichen Dingen und sich auf die Zukunft verstehend, unterschied sich nun nicht vom Orakel verkündenden Delphi. [220] Der Dichter, der einst mit seiner Tragödie um einen billigen Bock stritt36, zog bald auch die ländlichen Satyrn37 aus und versuchte herbe und ohne Verletzung der Würde zu scherzen, weil er mit Lockmitteln und mit dem Reiz der Neuheit ein Publikum festhalten mußte, das nach dem Got tesdienst trunken und vom Gesetze befreit war. Doc.l,. wird er am besten ihm so seine spöttischen, so seine witzigen Satyrn empfehlen und so den Ernst in Spiel ver kehren, daß der Gott oder Heros, wen immer er beizieht, eben noch prächtig zu schauen in königlichem Gold und im Purpur, sich nicht mit gewöhnlichen Reden in finstere Knei pen begebe [230] noch, indem er den Erdboden meidet, nach Wolken und Nichtigem hasche. Tragoedia, unwert, leicht fertige Verse zu schwatzen, wird wie die Matrone, der man auftrug, im Festtagsreigen zu schreiten, lichamhaft ein wenig unter den mutwilligen Satyrn verweilen. Nicht nur die un geschmückten und herrschenden Namen und Wörter werde ich als Verfasser von Satyrn, Pisonen, schätzen, g.och werde ich mich bemühen, von der Art der Tragödie so abzuwei chen, daß es keinen Unterschied macht, ob Davus spricht und die verwegene Pythias - reicher um ein Talent, das sie dem Simo aus der Nase zog38 - oder der Behüter und Diener seines göttlichen Schülers, Silenus39• [240] Auf eine Versspra che werde ich zielen, die ich aus Altbekanntem neu schaffe, so daß jeder, der sich Gleiches erhofft, viel schwitzt und ver geblich sich abmüht, sofern Gleiches er wagt ; soviel vermö gen die Reihung und die Verbindung, soviel Würde gewinnt, was man doch aus Gemeingut geholt hat! Sitze ich zu Ge richt, so mögen die Faune, aus ihren Wäldern geholt, sich hüten, je so, als seien sie auf den Gassen und fast auf dem Forum geboren, in allzu feinen Versen wie ein Jüng ling zu tändeln oder unsaubre, ehrlose Witze zu reißen ; da 19
offenduntur enim, quibus est equus et pater et res, nec, siquid fricti ciceris probat et nucis emptor, aequis accipiunt animis donantve corona. syllaba longa brevi subiecta vocatur iambus, pes citus : unde etiam trimetris adcrescere iussit nomen iambeis, cum senos redderet ictus, primus ad extremum similis sibi : non ita pridem, tardior ut paulo graviorque veniret ad auris, spondeos stabilis in iura paterna recepit commodus et patiens, non ut de sede secunda cederet aut quarta socialiter. hic et in Acci nobilibus trimetris adparet rarus et Enni in scaenam missos cum magno pondere versus aut operae celeris nimium curaque carentis aut ignoratae premit artis crimine turpi. non quivis videt inmodulata poemata iudex et data Romanis venia est indigna poetis. idcircone vager scribamque licenter? an omnis visuros peccata putem mea, tutus et intra spem veniae cautus? vitavi denique culpam, non laudem merui. vos exemplaria Graeca nocturna versate manu, versate diurna. at vestri proavi Plautinos et numeros et laudavere sales, nimium patienter utrumque, ne dicam stulte, mirati, si modo ego et vos scimus inurbanum lepido seponere dicto legitimumque sonum digitis callemus et aure. ignotum tragicae genus invenisse Camenae dicitur et plaustris vexisse poemata Thespis, quae canerent agerentque peruncti faecibus ora. post hunc personae pallaeque repertor honestae Aeschylus et modicis instravit pulpita tignis
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nehmen Anstoß, die Pferd, Vater und Reichtum besitzen40, vernehmen nicht gleichen Sinns das, was einer für gut hält, der Erbsmehl und Nüsse sich einkauft, [250] und belohnen es nicht mit dem Siegerkranz. Eine lange Silbe, an eine kurze gehängt, nennt man Jam bus41 - ein schneller Fuß -, wonach auch die jambischen Tri meter ihren Namen erhielten, obgleich er sechsmal den Takt schlug, vom ersten bis zum letzten Jambus sich gleich. Nicht lange vorher hatte er, um etwas langsamer und gewichtiger zu Ohren zu kommen, standfesten Spondeen Anteil an den vom Vater ererbten Rechten gegeben, gefällig, genügsam, ein Partner, doch nicht um vom zweiten oder vom vierten Sitze zu weichen. In des Accius42 vornehmen Trimetern er scheint er nur selten, und [260] die mit großem Gewicht auf die Bühne geschleuderten Verse des Ennius43 belastet er mit dem schimpflichen Vorwurf, sie seien zu schnell fabriziert, entbehrten der Sorgfalt odc'r die Kunst sei gar nicht be kannt. Nicht jeder Richter durchschaut eine schlecht komponierte Dichtung, und römischen Dichtern gewährte man unwürdige Nachsicht. Laß ich deshalb mich gehen und schreibe nach Willkür? Oder soll ich glauben, daß alle meine Fehler er kennen, und nur darauf achten, ja nicht die Grenze zu über schreiten, in der ich noch Nachsicht erhoffen kann ? Dann habe ich Tadel vermieden, aber nicht Lob mir verdient. Rollt nur die griechischen Muster auf mit fleißiger Hand bei Nacht und bei Tage! [270] Doch eure Urgroßväter lobten die Rhythmen des Plautus44 und seine Witze, bewunderten beides allzu geduldig - um nicht einfältig zu sagen -, wo fern wir, ich und ihr, zwischen geschmacklosem Witz und spritzigem zu unterscheiden verstehen und den vorschrifts mäßigen Klang mit Fingern und Ohr beherrschen. Wie man erzählt, hat Thespis45 die unbekannte Gattung der tragischen Muse erfunden und auf Karren die Werke gefah ren, die man dann, weinhefebeschmiert die Gesichter, sang und agierte. Nach ihm hat der Erfinder von Maske und vor nehmer Palla, Aischylos46, auf bescheidenem Balkengerüst die 21
et docuit magnumque loqui nitique cothurno. successit vetus his comoedia, non sine multa laude ; sed in vitium libertas excidit et vim dignam lege regi: Iex est accepta morusque turpiter obticuit sublato iure nocendi. nil intemptatum nostri liquere poetae nec minimum meruere decus vestigia Graeca ausi deserere et celebrare domestica facta vel qui praetextas vel qui docuere togatas. nec virtute foret clarisve potentius armis quam lingua Latium, si non offenderet unum quemque poetarum limae Iabor et mora. vos, o Pompilius sanguis, carmen reprehendite, quod non multa dies et multa litura coercuit atque praesectum deciens non castigavit ad unguem. ingenium misera quia fortunatius arte credit et excludit sanos Helicone poetas Democritus, bona pars non unguis ponere curat, non barbam, secreta petit loca, balnea vitat. nanciscetur enim pretium nomenque poetae, si tribus Anticyris caput insanabile numquam tonsori Licino conmiserit. o ego laevus, qui purgor bilem sub verni temporis horam. non alius faceret meliora poemata; verum nil tanti est. ergo fungar vice cotis, acutum reddere quae ferrum valet exsors ipsa secandi; munus et officium, nil scribens ipse, docebo, unde parentur opes, quid alat formetque poetam, quid deceat, quid non, quo virtus, quo ferat error. scribendi recte sapere est et principium et fons. rem tibi Socraticae poterunt ostendere chartae verbaque provisam rem non invita sequentur.
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Bühne errichtet [280] und hat gelehrt, erhaben zu sprechen und auf dem Kothurne zu stehen. Auf diese folgte die Alte Komödie47, nicht bar hohen Lobes ; doch ihr Freimut wurde zum übel und zum Vergehen, das es verdiente, gesetzlich berichtigt zu werden. Man nahm das Gesetz an, und es verstummte der Chor, als das Recht ihm genommen war, schimpflich zu schaden. �ichts haben unerprobt unsre Dichter gelassen, haben nicht geringen Ruhm sich erworben, als sie es wagten, die Spuren der Griechen zu verlassen und heimische Taten zu feiern, indem sie eine Praetexta oder eine Togata48 zur Auffüh rung brachten. Und Latium wäre nicht mächtiger durch sei ne Tapferkeit und seine ruhmvollen Waffen [290] als durch seine Sprache, verdrösse nicht unsere Dichter - aber auch jeden! - die zeitraubende Mühsal des Feilens. 0 ihr aus Pompilius' Blut49, kritisiert eine Dichtung, die nicht so man cher Tag und so manches Polieren gekürzt und wohl zehn mal, mit gestutztem Nagel geprüft, korrigiert hat! Weil Demokrit Genie für gesegneter als armselige Kunst hält und vom Helikon die vernünftigen Dichter ausschließt50, müht sich auch der bessere Teil, nicht die Nägel zu schnei den, nicht den Bart, sucht einen abgeschiedenen Ort und meidet die Bäder. Erlangt man doch den Preis und Ruf eines Dichters, [300] wenn man sein Haupt, nicht heilbar durch drei Antikyras51, niemals Licinius, dem Friseur, über antwortet hat. 0 ich Dummkopf, der ich mir die Galle an Frühlingstagen purgiere !52 Es würde kein anderer bessre Ge dichte verfertigen - doch das ist die Sache nicht wert! Also dien ich als Schleifstein, der das Eisen wieder zu schärfen ver mag, doch dem es verwehrt ist, selber zu schneiden. Aufgabe und Pflicht- selbst nichts schreibend- werde ich zeigen: wie man die Mittel bekommt, was den Dichter fördert und bil det, was passend ist, was nicht, wohin Können führt, wohin Irrtum. Die richtige Einsicht ist Ursprung und Quelle, um richtig zu schreiben. [310] Den Gehalt können dir die sokratischen Schriften53 zeigen, die Worte werden dem vorgesehnen Gehalt 23
qui didicit, patriae quid debeat et quid amicis, quo sit amore parens, quo frater amandus et hospes, quod sit conscripti, quod iudicis officium, quae partes in bellum missi ducis, ille profecto reddere personae seit convenientia cuique. respicere exemplar vitae morumque iubebo doctum imitatorem et vivas hinc ducere voces. interdum speciosa locis morataque recte fabula nullius veneris, sine pondere et arte, valdius oblectat populum meliusque moratur quam versus inopes rerum nugaeque canorae. Grais ingenium, Grais dedit ore rotundo Musa loqui, praeter laudem nullius avaris. Romani pueri Iongis rationibus assem discunt in partis centum diducere. >dicat filius Albini : si de quincunce remota est uncia, quid superat? poteras dixisse.< >triens. < >eu, rem poteris servare tuam. redit uncia, quid fit? < >semis.< an, haec animos aerugo et cura peculi cum semel imbuerit, speremus carmina fingi posse linenda cedro et levi servanda cupresso? aut prodesse volunt aut delectare poetae aut simul et iucunda et idonea dicere vitae. quidquid praecipies, esto brevis, ut cito dicta percipiant animi dociles teneantque fideles : omne supervacuum pleno de pectore manat. ficta voluptatis causa sint proxima veris : ne quodcumque volet poscat sibi fabula credi neu pransae Lamiae vivum puerum extrahat alvo. centuriae seniorum agitant expertia frugis,
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nicht ungern folgen. Wer gelernt hat, was man dem Vater land schuldet, was seinen Freunden, wie man den Vater lie ben soll, wie Bruder und Gastfreund, was die Pflicht des Senators, was die des Richters ist, welches die Rolle des Feldherrn, den man in den Krieg schickt - der versteht es bestimmt, einer jeden Person, was ihr zukommt, zu geben. Auf ein vorbildliches Leben und einen vorbildlichen Charak ter heiße ich den kundigen Nachahmer blicken, von dorther lebendige Worte gewinnen. Bisweilen gefällt ein Stück, das durch allgemeine Wahrheiten schön und edlen Charakters ist, [320] aber bar jeder Anmut, ohne Pathos, ohne Kunst, dem Volke mehr und fesselt es besser als Verse, denen Substanz fehlt, und klangvolles Tändeln. Den Griechen verlieh die Muse Talent, den Griechen, gerun deten Mundes zu sprechen, ihnen, die nach nichts außer nach Ruhm süchtig sind. Römische Knaben erlernen, in langwieri ger Rechnung ein Ganzes in hundert Teile zu teilen. »Der Sohn des Albinus geb' Antwort : wenn man von fünf Zwölf tein ein Zwölftel abzieht, was bleibt? Heraus mit der Spra ;:he!c »Ein DritteLe » Richtig. Du wirst dein Geld zusam menhalten können. Ein Zwölftel addiert, was gibt das?c :330] »Ein Halb.c54 Ja hoffen wir denn, wenn einmal die Geister der Rost und die Sorge für das Vermögen befallen hat, man könnte noch Dichtungen schaffen, die wert sind, mit Zedernöl bestrichen und im Zypressenschrein aufgeho ben zu werden?55 Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zu gleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen56• Wozu du auch immer ermahnst, sei kurz, damit deine Worte schnell der gelehrige Sinn erfaßt und treulich bewahrt ; alles, v•as überflüssig ist, entfließt dem vollen Herzen. Was man des Vergnügens wegen erfindet, sei dicht an der Wahrheit: daß nicht das Stück verlange, ihm alles, was ihm gefällt, auch zu glauben, [340] noch aus dem Bauch der gefräßigen Lamia57 einen lebenden Knaben befreie! Die Abstimmungs gruppe der Senioren verleumdet die Dichtungen ohne Nähr2S
celsi praetereunt austera poemata Ramnes : omne tu!it punctum, qui miscuit utile dulci Ieetorern delectando pariterque monendo. 345 hic meret aera liber Sosiis, hic et mare transit et longum noto scriptori prorogat aevum. sunt delicta tarnen, quibus ignovisse velimus: nam neque dlorda sonum reddit quem volt manus et mens, poscentique gravem persaepe remittit acutum, 350 nec semper feriet quodcumque minabitur arcus. verum ubi plura nitent in carmine, non ego paucis offendar maculis, quas aut incuria fudit aut humana parum cavit natura. quid ergo est? ut scriptor si peccat idem librarius usque, 355 quamvis est monitus, venia caret, ct citharoedus ridetur, chorda qui semper oberrat eadem, sie mihi, qui mu!tum cessat, fit Choerilus ille, qucm bis terve bonum cum risu miror; et idem indignor, quandoque bonus dormitat Homerus ; verum operi longo fas est obrepcre somnum. 360 ut pictura poesis: erit quae, si propius stes, te capiat magis, et quaedam, si longius abstes ; haec amat obscurum, volet haec sub luce videri, iudicis argutum quae non formidat acumen ; 365 haec p!acuit semel, haec deciens repetita placebit. o maior iuvenum, quamvis et voce paterna fingeris ad rectum et per te sapis, hoc tibi dieturn tolle memor, certis medium et tolerabile rcbus recte concedi : consu!tus iuris et actor 370 causarum mediocris abcst virtutc diserti Messallae nec seit quantum Casccllius Aulus, sed tarnen in prctio cst: mediocribus esse poctis
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wert, die vornehmen Ramnes lassen die herben links liegen 58 ; jede Stimme erhielt, wer Süßes und Nützliches mischte, in dem er den Leser ergötzte und gleicherweise belehrte. Soi
non homines, non di, non eoneessere eolumnae. ut gratas inter mensas symphonia diseors et erassum unguentum et Sardo eum melle papaver
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offendunt, poterat duei quia eena sine istis: sie animis natum inventumque poema iuvandis, si paulum summo deeessit, vergit ad imum. ludere qui nescit, campestribus abstinet armis indoctusque pilae discive trochivc quiescit,
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ne spissae risum tollant inpune coronae: qui nescit versus, tarnen audet fingere. quidni? liber ct ingenuus, praesertim census equestrem summam nummorum vitioque remotus ab omni. tu nihil invita dices faciesve Minerva: id tibi iudicium est, ea mcns. siquid tarnen olim
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scripseris, in Macci descendat iudicis auris et patris et nostras nonumque prcmatur in annum membranis intus positis: delere licebit, quod non edideris, nescit vox missa rcverti. silvestris homines sacer interpresque deorum
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caedibus et victu foedo deterruit Orpheus, dictus ob hoe lenire tigres rabidosque leones; dietus et Amphion, Thebanae eonditor urbis, saxa movere sono tcstudinis et preee blanda
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ducere quo vellet. fuit haec sapientia quondam, publiea privatis seeerncre, saera profanis, eoncubitu prohibere vago, dare iura maritis, oppida moliri, Ieges incidere ligno. sie honor et nomen divinis vatibus atque carminibus venit. post hos insignis Homerus Tyrtaeusque mares animos in Martia bella versibus exaeuit; dietae per carmina sortes
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Mensdten und nicht die Götter nodt die Ausstellungspfei ler83 erlaubt. Wie an einladender Tafel ein Musikerensemble stört, das sidt uneins ist, wie fettiges Salböl stört und Mohn mit sardinischem Honig84, weil man das Mahl auch ohne das hätte abhalten können, so ist die Didttung bestimmt und erfunden, den Geist zu erfreuen : falls sie auch nur wenig hinter dem Hödtsten zurückbleibt, sinkt sie zur Tiefe. Wer ein Spiel nidtt beherrsdtt, verzidttet auf die Waffen des Marsfeldes85 [380] und hält sidt ruhig, ein Laie bei Ball, Diskus oder Reifen, damit nidtt die dichten Zusdtauertrau ben zu Redtt ein Gelämter erheben ; wer sidt nidtt auf Verse versteht, wagt sie dennoch zu dichten. Warum nidtt! Ist er dodt freigeboren und adlig, gehört vor allem zur Vermö gensklasse der Ritter und hält von jedem Laster sidt fern. Du wirst nidtts sagen oder tun gegen den Willen Miner vas88; so bist du entsdtlossen, so gesinnt. Falls du aber dodt einst etwas verfaßt, das vertraue sich den Ohren des Kunst richters MaeciusB7 und deines Vaters an und den meinen, es bleibe bis zum neunten Jahre in Obhut, verschlossen nodt im Konzept ; dann darfst du vernichten, [390] was du nicht veröffentlidtt hast - das Wort, das du von dir gabst, kennt keine Rückkehr. Die Menschen, noch Wilde, brachte der heilige Orpheus6s, das Sprachrohr der Götter, vom Morden und unwürdigen Lebensunterhalt ab, und daher sagte man von ihm, daß er Tiger und reißende Löwen bezähme, sagte auch von Am phion89, der die Stadt Theben gegründet, er bewege die Steine durch den Klang seiner Leier und führe sie mit schmeichelnder Bitte, wohin er nur wolle. Dieses war Weis heit vor Zeiten: das Gemeingut vom Eigentum zu trennen, den Kult vom Profanen, freizügigen Beischlaf zu hindern, den Ehegatten Rechte zu geben, mächtige Städte zu bauen, Gesetze in Holz einzuschneiden70• [400] So wurden Ehre und Ansehn den göttlichen Sehern und ihren Liedern zuteil. Nach ihnen schärften der große Homer und Tyrtaios71 die Herzen der Männer zu den Kriegen des Mars durch ihre Verse; verkündet in Versen wurden Orakel, gewiesen der
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et V!tae monstrataVIa est et gratla regum Pieriis temptata modis ludusque repertus et longorum operum finis: ne forte pudori sit tibi Musa lyrae sollers et cantor Apollo. natura fieret laudabile carmen an arte, quaesitum est: ego nec Studium sine divite vena nec rude quid prosit video ingenium : alterius sie altera poscit apern res et coniurat amice. qui studet optatam cursu contingere metam, multa tulit fecitque puer, sudavit et alsit, abstinuit venere et vino ; qui Pythia cantat tibicen, didicit prius extimuitque magistrum. nunc satis est dixisse >ego mira poemata pango; occupet extremum scabies ; mihi turpe relinqui est et quod non didici sane nescire fateri<. ut praeco, ad merces turbam qui cogit emendas, adsentatores iubet ad lucrum ire poeta dives agris, dives positis in fenore nummis. si vero est, uneturn qui recte ponere possit et spondere levi pro paupere et eripere artis litibus inplicitum, mirabor, si seiet internoscere mendacem verumque beatus amicum. tu seu donaris seu quid donare voles cui, nolito ad versus tibi factos ducere plenum laetitiae·; clamabit enim >pulchre, bene, recte<, pallescet, super his etiam stillabit amicis ex oculis rarem, saliet, tundet pede terram. ut, qui conducti plorant in funere, dicunt et faciunt prope plura dolentibus ex animo, sie derisor vero plus laudatore movetur.
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Lebensweg, man suchte die Gunst der Könige mit den Weisen der Musen zu gewinnen, erfand auch das Schauspiel, die Beendigung dauernder Mühen- damit du dich nicht der leier kundigen Muse schämst und nicht des Sängers Apollo72! Ob durch Naturtalent eine D ichtung Beifall erringt oder durch Kunstverstand, hat man gefragt. Ich kann nicht erken nen, was ein Bemühen ohne fündige Ader [410] oder was eine unausgebildete Begabung nützt; so fordert das eine die Hilfe des andren und verschwört sich mit ihm in Freund schaft. Wer sich bemüht, im Wettlauf das ersehnte Ziel zu erreichen, hat schon als Junge vieles ertragen und geleistet, er hat geschwitzt und gefroren und sich des Weibes und Weines enthalten ; wer sich bei den Pythischen Spielen als Flötist hören läßt73, hat vorher gelernt und seinen Lehrer ge fürchtet. Heute genügt die Erklärung: » I ch dichte ganz herrliche Dichtungen. Der Letzte kriege die Krätze! Ich halt es für schändlich, mich überholen zu lassen und zuzugestehn, ich verstünde nicht, was ich, nun ja, nicht erlernt hab . « Wie e i n Marktschreier, der Scharen zum Kauf seiner Waren herbeilockt, [420] so befiehlt seinen Schmeichlern, sich ja den Gewinn nicht entgehen zu lassen, ein Dichter, der reich an Ackerland ist und reich durch Gelder aus Wuchergeschäften. Ist er gar jemand, der es vermag, einen Leckerbissen so, wie sich's gehört, aufzutischen, Bürgschaft für einen leichtsinni gen Armen zu leisten und diesen, ist er in Prozeßnot ver strickt, daraus zu befreien, da sollte es mich wundern, falls er, der Glückliche, zwischen einem falschen und einem wahren Freund zu unterscheiden verstünde. Hast du jemandem et was geschenkt oder willst ihn beschenken, hol ihn, der voller Glückseligkeit ist, nicht zu den Versen, die du gernacht hast; er wird nämlich rufen : » Wie schön, wie gut und wie rich tig!«, er wird erbleichen und sogar auf die Verse aus Freun des [ 430]augen den Tau träufeln lassen, wird hüpfen und stampft mit dem Fuß auf; wie Leute, welche für Lohn auf einer Beerdigung jammern, fast mehr noch sagen und tun als die aufrichtig Trauernden, so zeigt der Spötter sich mehr noch bewegt als wer ehrliches Lob äußert. 31
reges dicuntur multis urgere culillis et torquere mero, quem perspexisse laborent an sit amicitia dignus ; si carmina condes, numquam te fallent animi sub vulpe latentes. Quintilio siquid recitares, >corrige sodes hoc< aiebat >et hoc < . melius te posse ncgares bis terque expertum frustra: delere iubebat et male tornatos incudi reddere versus. si defendere delictum quam vertere malles, null um ultra verbum aut operam insurnebat inanem, quin sine rivali teque et tua solus amares. vir bonus et prudens versus reprehendet inertis, culpabit duros, incomptis adlinet atrum transvcrso calamo signum, ambitiosa recidet ornamenta, parum claris lucem dare coget, arguet ambigue dictum, mutanda notabit : fiet Aristarchus ; non dicet >cur ego arnicum offendam in nugis? < hae nugae seria ducent in mala derisum semel exceptumque sinistre. ut mala quem scabies aut morbus regius urget aut fanaticus error et iracunda Diana, vesanum tetigisse tirnent fugiuntque poetam qui sapiunt, agitant pueri incautique sequuntur. hic, dum sublimis versus ructatur et errat, si veluti merulis intentus decidit auceps in putcum foveamve, licet >succurrite < longum clamet, >io cives < , non sit qui tollere curet. si curet quis opem ferre et demittere funem, >qui scis, an prudens huc se deiecerit atque
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Könige, sagt man, bedrängen mit zahlreimen Bemern und foltern mit Wein einen Mensmen, den sie zu durdismauen versumen, ob er ihrer Freundsmaft wohl würdig sei ; wenn du Gedichte mamst, wird nie dir eine Gesinnung entgehen, die sim im Fumspelz versteckt hält. Wenn du Quintilius74 etwas vortrugst, sagte er wohl: ,. Verbes sere bitte dies hier und dies.« Behauptetest du, du könntest besser nimt mamen, was du [440] zwei- oder dreimal vergeb lim versumt hättest, so hieß er dim, es zu vernichten und die schlecht gedrechselten Verse zurück auf den Amboß zu legen. Wenn du den Fehler lieber verteidigen als ihn ausmerzen wolltest, verschwendete er weiter kein Wort und keine fruchtlose Mühe, damit du dich und das Deine nur ruhig liebtest, allein und ohne Rivalen. Der gute und sachverständige Mann wird kunstwidrige Ver se tadeln, plumpe mißbilligen, zu schmucklosen ein schwar zes Zeichen mit schrägem Federstrich setzen75, üppigen Zierat beschneiden, den Stellen, die nicht hell genug sind, mehr Licht zu geben erzwingen, mißverständlich Gesagtes ver klagen, was zu ändern ist, wird er bezeichnen, er [ 450] wird zum Aristarch78. Er wird nicht sagen: » Warum soll einen Freund ich in Kleinigkeiten verärgern?« Solche Kleinigkei ten bringen den in ernste Not, hat man ihn erst mal ver spottet und übel aufgenommen. Wie einen, den schlimmer Aussatz befallen hat oder die Gelbsucht, Herumirren in göttlichem Rasen und der Zorn der Diana77, so fürchtet, wer recht bei Verstand ist, den wahn sinnigen Dichter zu berühren, und flieht ihn ; ihn hetzen die Kinder und folgen ihm unvorsichtig. Wenn er dann, wäh rend er hochgesinnt seine Verse rülpst und umherirrt, wie ein Vogelfänger, der Amseln nachstellt, in einen Brunnen hinabfällt oder in eine Grube, mag er weithin hörbar auch [460] schreien: » Helft mir, he, Bürger! «, da wird sich wohl kaum jemand finden, der ihm heraushilft. Sollte doch jemand versumen, ihm Hilfe zu bringen und ein Seil hinab zulassen, dann sage ich zu ihm: ,. Wie kannst du denn wissen, ob er sich nicht mit Absicht da hinabgestürzt hat und gar 33
servari nolit?< dicam Siculique poetac narrabo interitum. > deus inmortalis haberi dum cupit Empedocles, ardentem frigidus Aetnam insiluit. sit ius liceatque perire poetis : invitum qui scrvat, idem facit occidenti. nec serriel hoc fecit nec, si retractus erit, iam fiet homo et ponet famosae mortis amorem. nec satis adparet, cur versus factitct, utrum minxerit in patrios cineres an triste bidental moverit incestus : certe furit ac velut ursus, obiectos caveae valuit si frangere clatros, indoctum doctumque fugat recitator acerbus ; quem vero arripuit, tenet occiditque legendo, non missura cutem nisi plena cruoris hirudo. <
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nicht gerettet zu werden verlangt?« und erzähle vom Ende des sizilianischen Dichters78 : »Aus dem Verlangen, für einen unsterblichen Gott gehalten zu werden, sprang Empedokles kalt in den glühenden Ktna79• Sollen die Dichter das Recht und die Freiheit besitzen, zugrunde zu gehen! Wer einen rettet, ohne daß der es will, der handelt so wie ein Mörder. Nicht zum erstenmal hat der da so was getan, und, wird er herausgezogen, wird er nicht gleich schon ein Mensch, nodt hört er auf, sich nach ruhmvollem Tode zu sehnen. [470] Es ist gar nicht so klar, wieso er überhaupt Verse hervor bringt ; ob er wohl seines Vaters Asche bepißt oder fre ventlich ein schaudererregendes Blitzmal weggeräumt hat80? Gewiß ist: er rast und, als sei er ein Bär, der es vermocht hat, durchs Käfiggitter, das ihn einsperrt, zu brechen, ver jagt er Gebildete und Ungebildete, ungenießbar im Vor trag der eigenen Werke. Aber wen er erwischt hat, den hält e1 fest und bringt ihn um durch sein Lesen, ein Egel, der sich erst von der Haut löst, wenn er voll ist vom Blut. «
Anmerkungen
Pisonen : bisher nicht mit Sicherheit identifiziert. Nach dem Horaz-Komment:>r des Pomponins Porphyrio (3. Jh. n . Chr.) ist der Brief des Hora7. an L. Calpurnius Pi so ( 48 v. Chr. bis 32 n . Chr., Konsul 15 v . Chr.) und seine Söhne gerichtet, über die Hinweise fehlen. Piso ist ein Sohn des L. Calpurnius Piso Caesonius, eines Gönners des epikureischen Philosophen Phile dernos (in dessen Werk Ober d i e Gedichte gegen Neoptolemos, dem die A rs Poetica i n einigen Punkten folgt, polemisiert wird), u n d war Patron des griechischen Epigra m matikers Anti patres von Thessalonike. D i e Epistel wäre dann wahrscheinlich in den letzten Lebensjahren des Horaz (gest. 8 v . Chr.) entstanden . - Auf Grund von Beziehungen des Bri efes zu anderen Arbeiten des Horaz und zu seiner Biographie scheint anderen eine frühere Datierung, zwischen 19 und 16 v. Chr., näherzuliegen. Dann könnten die Adressaten Cn. Calpurnius Piso (wie Horaz i n der Schlacht von Phi lippi 4 2 v . Chr. auf Seiten der Cäsarmörde r ; 23 v . C h r . Konsul) und seine Söhne Gnaeus (geboren spätestens 4 3 v. Chr., Konsul 7 v . Chr.) und Lucius (Konsul 1 v . Chr.) sein, von denen literarische I nteressen nicht bekannt sind. Die Entscheidung, ob Horaz den Brief zwischen 23 u n d 1 8 oder zwischen 1 4 und 8 v . Chr. verfaßt hat, Jahre, auf die sei ne Bemerkung V. 306 zutri fft, er schreibe keine Lyrik mehr, kann n u r durch eine Bestimmung der Chronologie des Spät werks auf Grund innerer Kriterien erfolgen. Für eine Frühda tierung tritt zuletzt C . Becker ( 1 8 v. Chr . ) , für eine Spätda tierung C. 0. Brink ein. 2 Ein in Auftrag gegebenes Votivbild der Art, wie es aus Le bensgefahr, bes. Seenot, Gerettete zum Dank in einen Tempel zu stiften pflegten. 3 Schule des Aemilit<s : eine Trainingsstätte zur Ausbildung von Gladiatoren i n Rom ; im Erdgeschoß waren Läden vermietet worden, der Eckladen als Atelier an einen B ronzeziseleur. 3a Gegen die von F. Klingner u . a . vertretene Umstellung des V. 46 vor V. 45 verteidigen die Ü berlieferu n g : M. Fuhrmann, Einfiihmng in die an tike Dicbttmgstbeorie, S . 1 05 , und beson ders K. Büchner, in: Hermes 1 0 8 ( 1 980) S. 476-49 1 . 4 Unter der Tog a trug der Römer i n ältester Zeit statt der Tu-
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einen linnenen Lendensmurz (später campestre oder c:,zctus genannt) ; in der Adelsfamilie der Cetbcger war diese Sitte erhalten geblieben. M. Cornelius Cethegus (Konsul 204 v . Chr.) galt als erster kunstgeremter Redner Roms. 5 Caecilius : römismer Komödiendimter (gest. 168 v . Chr.) ; nam Ciceros Urteil »vielleicht der größte Komiker« Roms, aber • ein smlemter Vertreter der Iateinismen Sprame«. Die erhaltenen Fragmente zeigen seine Vorliebe für Klang- und Wortfiguren, gewagte und originelle Ausdrucksweise, Sentenzen und ita lisme Komik. Plautus : römismer Komödiendimter (gest. 1 84 v. Chr. ) . Seine 2 1 erhaltenen Komödien dokumentieren seine schöpferisme Spramvitalität und mimisme Phantasie. Für Horaz ist er Bei spiel für primitive Komik und für künstlerisme Oberflämlim keit in Metrik (V. 2 70 ff.) und Personengestaltung (Brief an Augustus) . 6 Varius Ru/IIS ( 1 . Jh. v. Chr. ) , römismer Epiker (Uber den Tod, Panegyricus auf Augustus) und Tragiker (sein 29 v. Chr. auf geführter Tbyestes wird von Quintilian und Tacitus gerühmt) , Freund Vergils (Herausgeber seiner Aeneis) und des Horaz, der ihn in seinem B rief an Augz<Stus neben Vergil als Verherr licher des Augustus und Repräsentanten der Epoche nennt. Vergil (70-1 9 v. Chr.), Verfasser der Bucolica, Georgica und Aeneis. Der Ruhm des smon z u seinen Lebzeiten zum Mythos gewordenen Dimters läßt leicht vergessen, daß sein Werk sim nimt sogleim in den Erwartungshorizont seines Publikums füg te. 7 M. Porcius Cato Censorius (234- 1 4 9 v . Chr.) ist der erste be deutende römische Prosasmriftsteller (Origines, De agricultura, Reden) . Sein samgebundener Stil nimmt Elemente der Dichter sprame, Rhetorik und Umgangssprame auf, bleibt aber armai smen Strukturen verhaftet. Seine Wortschöpfungen haben sich meistens nimt gehalten. Zu neuer Wertsmätzung gelangte Cato in der Zeit des Archaismus ( 1 .-3. Jh. n . Chr.) ; Kaiser Had �ian stellte ihn über Cicero. Ennizts : römismer Dichter (239-169 v . Chr. ) , Verfasser von u . a. Tragödien, Komödien, Satiren und dem Epos Annalen, mit dem er sich als Nach folger Horncrs bekannte und den ho merischen Hexameter zum verbindlichen Vers für episme Dich tung in Rom mamte. I n den Annalen setzt er sich von seinem Vorgänger Naevius auf eine Weise ab, die Horaz als verwandt
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empfinden konnte : und es hat keiner sich innig gemüht vor mir um den Ausdruck• (Übers. K. Büchner). Doch auch gegen ihn muß Horaz den Vorwurf mangelnden künstlerischen Gewissens richten (V. 259 ff. ) . Homer: d e r Oberlieferung n a ch d e r Verfasser d e r Epen Ilias und Odyssee, wohl 8. Jh. v. Chr. Seine normativ� Wirkung auf die antike Literatur zeigt sich formal darin, daß für die Dar stellung mythologischer oder historischer Heldengeschichte nach seinem Vorbi ld der Hexameter (sechsfüßiger Daktylus) als Vers verwendet wurde. Das Epigramm ( • I nschrift • ) , meistens in Gestalt des aus einem Hexameter und einem Pentameter gebildeten elegischen Disti chons ( •Doppelvers • ) , diente den Griechen als vorliterarische Form für Grabinschriften und Inschriften auf Weihegeschen ken, die man als Dank an den Gott im Tempelbereich aufstellte. Das für Griechen und Römer bezeichnende Bemühen, die An fänge auch von literarischen Gattungen z u bestimmen , blieb im Fall des Epigramms ergebnislos ; als » Erfinder• wurden Archi lochos, Mimnermos und Didymos diskutiert. Das elegische Di stichon ist auch das Versmaß der griechischen und römisd1en erotischen Elegie, einer gerade zur Zeit des Horaz blühenden Gattung (Properz, Tibull, Ovid). Arcbilochos : griechischer Lyriker um die Mitte des 7. Jh.s v . Chr. ; •in seinen Versen ist Archilod10s unbedenklich offen bis zur Brutalität, und er bekennt sich frei zu allem, was er tut und nicht tut« (H. Fränkel) . Horaz überliefert, daß Archi lochos den Lykambes, der sein Verspred1en, ihm seine Tochter Neobule zur Frau zu geben , nicht gehalten hatte, samt seiner Tochter durch seine Verse zum Selbstmord trieb. Horaz' frühe Lyriksammlung, die Epoden (von ihm selbst als Jamben be zeichnet) , steht in der Nachfolge des Archilochos . Dieser hat vermutlich die einfachen Versformen Jambus und Trochäus literaturfähi g gemacht ; man faßte sie samt den Epoden auch als literarische Gattung auf und nannte sie Jamben. Archilochos schrieb als erster ganze Ged ichte im Versmaß des jambischen Trimeter (sechsfüßige Jamben ) , der später zum Dialogvers des griechischen Dramas wurde. Socws : leichter, niedriger Schuh der Schauspieler i n der Komö die. Kotbt�rn : Schuh der Schauspieler in der Tragödie, ur sprünglich ein weicher Schuh ohne feste Sohle, erst seit helle nistischer Zeit Stelzschuh mit besonders hoher Sohle. »•
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12 Umschreibungen fü r die verschiedenen Arten der Lyri k : Hym nen und Enkomien (auf Götter und Heroen}, Epinikien (Preis lieder auf Wettkampfsieger) , erotische Verse, Skolien (Gelage lieder) .
1 3 Gastmahl des Thyestes: Episode a u s d e m A tridenmytho s . Nach dem Thyestes versucht hat, seinen Bruder Atreus um die H err schaft über Mykene zu betrügen, rächt sich dieser, indem er heimlich Thyests Kinder töten und diesem als Mahl vorsetzen läßt. Thyestes-Tragödien schrieben Sophokles, Euripides, En nius, Varius (alle nicht erhalten) und Seneca.
1 4 Chremes: (griech . ) Name eines der Väter in den Komödien A n dria, Heau tontimommenos (beide nach Menander) und Pbor mio (nach Apollodor) des Terenz (gest. 1 59 v. Chr . ) . Gemeint ist vielleicht Szene
V, 4 des Heauton timo rumenos, in der Chremes
seinen Sohn Clitipho »allzu unmenschlich• (V. 1046) zurecht weist.
15 Telepho s : sagenhafter König der Myser in Kleinasien. Von Achill im Kampf unheilbar verwundet, erhielt er vom Orakel in Deiphi die Auskunft, nur der könne ihn heilen, der ihn verwu ndet habe. Seine Suche nach Achill hatte nach vielen Bitten oder Drohungen den Erfolg, daß die B erüh rung von Achills Speer die Wunde heilte. Berühmt war die Konzeption des Euripides von dem j ammernden, mitleiderregenden Bettler Telep hos. Telephos-Tra gödien verfaßten Aischylos, Sophokles, Euripides, Ennius und Acciu s . Peleus: mythischer Heros, Vater des Achilleus. D u rch die Abwe senheit und den Tod seines Sohnes vor Troja war der alte Peleus schutzlos seinen Feinden ausgeliefert, wurde vertrieben und starb i n der Fremde. Tragödien von Sophokles, Euripides und Pacuviu s .
1 6 Kal limachos (gest. n a c h 245 v. Chr. ) hatte die Tragödie ironisch »Muse des Lekythion • genannt, nicht wegen des wohlriechenden Öls, der Salben oder Schminken, die in diesem Gefäß aufbewahrt wurden, sondern wegen des hohlen Dröhnens, welches das leere Gefäß erzeugt, wenn man es als Blasinstrument benutzt. Die an derthalb
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langen Wörter charakterisieren den hochpatheti
schen Stil der Tragödie; die langen Wortzusammensetzungen waren auch eine Eigentümlichkeit der archaischen römischen Tragödie.
1 7 Eine andere antike Lesart, in Klingners Ho raz-Ausgabe über
nommen, überliefert statt divzts »Davu s • , einen ' Sklavennamen
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aus Komödien des Menander und Terenz. Die Gegenüberstel lung von Sklave und Adligem würde dann soziale Sprachunter schiede bezeichnen . 18 Nach dem antiken Kommentar Pseudo-Acros soll der Kolch er als wild, der Assyrer als verschlagen, der Mann aus Th eben als einfältig, der aus A •·gos als mutig charakterisiert werden. Zu V. 89-1 1 8 vgl . Aristoteles, Rhetorik 3, 7 über die Entsprechung von Sprache und Emotion, Charakter, Gegenstand . Wie der Redner müssen auch Dichter und Schauspieler das Publikum von der »Echtheit« ihrer Gefühle überzeugen ; dazu müssen sie sich mit der dargestellten Person identifizieren (Aristoteles, Poetik 1 7) . Daß diese Theorie Allgemeingut der zeitgenössischen Rhe torik war, zeigt Cicero, De oratm·e 2, 1 89. Bei Horaz liegt also keine »Rhetorisierung« der Dichtung vor, einfach weil schon vor Aristoteles Redner und Dichter vergleichbare Aufgaben hatten. 1 9 AdJillet�s: in Horncrs Ilias einer der Feldherrn der Gric:chen vor Troja. Als ihm der Oberbefehlshaber Agamemnon eine Beutefrau abspricht und ihn dadurdt demütigt, zieht er sich grollend vom Kampf zurück. Achilleus-Trilogie von Aischylos, Tragödien von Livius Andronicus, Ennius und Accius. 20 Medea : zauberkundige Koldterin im griechischen Mythos, tötet, als ihr Mann Jason sie verläßt, aus Rache die eigenen Kinder und entkommt auf einem Schlangenwagen. Titelheidin bei Euripides, Ennius, Accius, Ovid und Seneca. lno : Frau des thessalisdten Königs Athamas, verläßt ihn in bacchantischem Wahnsinn. Ihr Mann findet sie später, nach dem er sich erneut verheiratet hat, wieder und sucht sie vor seiner neuen Frau Themisto geheimzuha!ten. Diese will mit Hilfe der ihr unbekannten Ino deren Kinder töten , wird aber von lno getäusdtt und tötet ihre eigenen. Ebenfalls Tragödien heidin des Euripides, ferner des Livius Andronicus. l xion : betrog seinen Sdtwiegervater um• den versprochenen Brautpreis, indem er ihn heuchlerisch einlud und dann in eine Fallgrube mit glühenden Kohlen stürzen ließ. Als er von Zeus die Entsühnung erlangt hatte, wollte er dessen Gemahlin Hera verführen, vergewaltigte aber nur ein aus einer Wolke geform tes Trugbild, das dann die Zentauren (Pferdemensdtcn) gebar. Zur Strafe wurde Ixion in der Unterwelt auf ein nie stillste henäes, brennendes Rad geflochten. Tragödien von Aischylos, Sophokles, Euripides.
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lo : von Zeus vergewaltigt, der sie aus Furcht vor Hera in eine Kuh verwandelte. Hera, die den Betrug durchschaute, ließ sie von einer Bremse stechen und so in Wahnsinn versetzen, daß sie durch die Länder bis nach Ägypten irrte. Dort wurde sie zurück verwandelt. Tragödiengestalt bei Aischylos und Accius. Orestes : Sohn des mykenischen Königs A gamemnon ; nachdem dieser von seiner Frau und deren Liebhaber nach der Rückkehr von Troja ermordet wurde, rächt ihn sein Sohn und wird we gen des Muttermordes von den Rachegottheiten in den Wahn sinn getrieben. Held in den Grabspenderinnen des Aischylos, der Elektra des Sophokles, sowie in der Elektra, dem Orestes und der Iphigenie bei den Taurem des Euripides und bei Pacuvius. 2 1 Als epischer Kyklos (•Kreis e) wurden von griechischen G ramma tikern die frühgriechischen Epen - außer llias und Odyssee bezeichnet, die zusammen eine fortlaufende Darstellung der mythischen Vorgänge von der Erschaffung der Welt bis zum Tod des Odysseus, speziell vor und nach der Ilias, bildeten. In hellenistischer Zeit wurde »kyklisch« z u einem negativen lite rarischen Wertbegriff. Aristoteles lobt in seiner Poetik die Auswahl, die Homer aus dem trojanischen Sagenkreis traf, und tadelt die kyklischen Epiker, weil sie einen zu umfangreichen Stoff in einer einzigen vielteiligen Handlung bedichtet hätten. Bei den alexandrinischen Philologen wird der Begriff » kyklisch« auf eine entsprechende epische Kompositionsweise übertragen. Kallimachos : »Kyklischc Dichtung verdrießt mich, und nicht er heitert der Pfad mich, Welcher die Menge bald hier, bald wieder dorthin entführt« (Obers . Howald-Staiger) . Diese Vorstellung von trivialer » kyklischer« Epik liegt auch dem Bild vom • billi gen, allen zugänglichen Kreise • in V. 132 zugrunde. Der mit dem Anfangsvers seines Epos zitierte Autor - das Zitat läßt sich noch auf keine Quelle zurückführen - übernimmt sich, weil er den ganzen Krieg um Troja und die Lebensschicksale seines Königs Priamos besingen will. 22 Horaz gibt in zwei Versen die ersten drei Verse der Odyssee wieder. 23 Auf der Heimfahrt von Troja suchte Odysseus die Insel der Zyklopen, einäugiger Riesen, zu erkunden und wurde dabei mit seinen Gefährten in der Höhle des Zyklopen Polyphem eingesperrt ; erst nachdem sie den Riesen geblendet hatten, ge lang ihnen durch eine List die Flucht (9. Buch). Dann gelangte -
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Odysseus zur Stadt der Lais trygonen, Riesen, denen ihr Herr scher A ntiphates befahl, Felsblöcke auf die im Hafen liegenden Schiffe der Fremden zu schleudern ; nur Odysseus entkam mit seinem Schiff dem Verderben ( 1 0 . Buch). Nach dem Aufenthalt bei der Zaub erin Circe, der Fahrt in die Unterwelt und dem Abenteuer mit den Sirenen mußte Odysseus zwischen zwei Klippen hindurch : von der einen her sog Charybdis alles Wasser ein und spie es wieder aus, von der anderen erbeutete das sechs köpfige Ungeheuer Szylla sechs seiner Gefährten ( 1 2 . Buch).
24 Meleagros (lat. Meleager) : Sohn des Oineus, des Großvaters des Diomedes, und der Althaia. Nach dem Tod des Mel eagros und der Althaia heiratete Oineus wieder ; der Sohn aus dieser Ehe ist Tydeus, der Vater des Diomedes. Tydeus war einer der Heerführer, die den ödipussohn Polyneikes gegen seinen Bru der Eteokles unterstützten, aber er fiel wie diese beim Kampf um Theben (vgl. Aischylos' Tragödie Sieben gegen The ben) . Die Söhne der gefallenen Sieben, unter ihnen Diomedes, wiederholten später den Feldzug gegen Theben mit Erfolg (sog. Krieg der Epigonen ) . Die Heimkehr des Diomedes ist entweder die in seine Heimat .lholien nach der Eroberung Thebens oder die Heimfahrt nach dem Fall Trojas, an dessen Belagerung er teilgenommen hatte. Im ersten Fall würde Horaz an ein ky� klisches Epos Thebais, im zweiten an ein Epos über die Irrfahr ten des Diomedes (vgl. die Odyssee) denken ; in beiden Fällen wäre die Vorgeschichte ungebührend· ausführlich berücksich tigt. 2 5 Dem Doppelei, der Frucht der Begegnung von Leda und dem in einen Schwan verwandelten Zeus, entstammten die Diosku ren und Helena, deren Raub durch Paris der Anlaß zum Krieg gegen Troja war. Ob das kyklische Epos Kyprien ( 8 ./7. Jh. v. Chr.) gemeint ist, das mit der Hochzeit von Peleus und Thetis, der Eltern Achills, und der Liebe des Zeus zu Nemesis (die hier an Ledas Stelle tritt) , der Eltern Helenas, beginnt und bis zu den Ereignissen der llias hinführt, ist zweifelhaft. 26 Der Vorhang vor der Bühne wurde i m antiken Theater bei Spielbeginn niedergelassen. Am Schluß einer römischen Tragö die oder Komödie forderte ein Mitwirkender, wie die Komö dien des Plautus und Terenz zeigen, die Zuschauer im Namen der Schauspielertruppe oder des Dichters auf, Beifall zu spen den. 27 Zu V. 1 56-1 78 vgl. Aristoteles, Rhetorik 2, 1 2- 1 4 über die
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Lebensalter von Jüngling, Mann und Greis (die Kenntnis der Alterspsychologie erleichtert dem Redner die richtige Einstel lung gegenüber seinem Publikum) . Medea : Vgl. Anm. 20. - A treus : Vgl. Anm. 1 3 . Prokn e : Der Thrakerkönig Tereus hatte die Schwester seiner Frau Prokne, Philomela, vergewaltigt und ihr die Zunge her ausgeschnitten. Philomela stickte ihre Nachricht über das Ver . brechen in ein Gewebe und sandte es ihrer Schwester, die sidl dadurch an ihrem Mann rächte, daß sie ihren Sohn I tys tötete und seinem Vater als Mahl vorsetzte. Als Tereus den Frevel erkannte und die Schwestern töten wollte, wurde er in einen Wiedehopf, Prokne in eine Nachtigall, Philomela in eine Schwalbe verwandelt (spätestens seit Vergil wird Prokne zur Schwalbe, Philomela zur Nachtigall). Tereus-Tragödien sdlrie ben Sophokles, Livius Andronicus und Accius (44 v. Chr. wie deraufgeführt) . Kadmos : Nachdem Kadmos, der Gründer Thebens, den Un tergang seiner Nachkommen erleben mußte, verließ er mit seiner Frau Harmonia Theben ; hochbejahrt wurden beide in Schlangen (Symbol der Unsterblichkeit) verwandelt. Euripides verfaßte eine Kadmos-Tragödie. Die für das neuzeitliche Drama so folgenreiche Vorschrift, daß ein Drama aus fünf Akten bestehen solle, ist für uns zum er stenmal bei Horaz belegt. Während die attische Tragödie un terschiedliche Gliederungen zuläßt, scheint sich im hellenisti schen Drama (Menander) die Tendenz zu fünf Akten zuerst durchgesetzt z u haben. Wieweit ein solcher Aufbau für Plautus und Terenz zutrifft, ist umstritten, er liegt jedoch fast allen Tragödien Senecas zugrunde. Der �deus ex machina•, der mittels einer Bühnenmaschine von der Höhe der B ü hnenaufbauten gegen Ende der Tragödie herab schwebende Gott, ist ein besonders von Euripides gesdlätztes Mittel, den tragischen Knoten zu lösen. Die Tragödie des Aischylos kannte nur zwei sprechende Schau spieler in einer Szene ; Sophokles führte einen dritten sprechen den Schauspieler ein. Diese auch von Euripides bewahrte Praxis der attischen Tragödie wurde k anonisiert ; ein vierter gleich zeitig auftretender Akteur bleibt stummer Statist. Das römische Drama muß die Dreizahl oft überschritten haben . Chor: Vgl. Aristoteles, Poetik, c. 1 8 : »Den Chor muß man behandeln wie einen der Schauspieler. Er soll ein Teil des
Ganzen sein und m i t h an d el n
Bei der Mehrzahl freilich ge hören die gesungenen Partien nicht eher zu einem bestimmten Mythos als zu irgendeiner beliebigen andern Tragödie• (Obers. 0 . Gigon) . Der ethische Gehalt der Chorpartien wird erst von Horaz betont. 33 Der Aulos (lat. tibia), meist als Doppelaulos verwandt, ist der .
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Oboe vergleichbar. Er wurde aus Rohr, Holz oder Knochen
verfertigt ; m i t der Zeit wurde das Doppelrohrblatt um wei tere Zungenplättchen vermehrt, das Rohr erhielt zusätzliche Bohrungen - p a rallel zur Vermehrung der Saitenzahl auf der
Kithara - und dreh bare Metallringe ; vielleicht war es auch
ganz in Metall gefaßt. - Die Trompete (lat.
tt
Form eines l a nggestreckten, leicht konischen Rohres mit glok kenförmigem Sch a l l trichter und war aus Bronze oder Erz her gestellt. Musik ist nadt Aristoteles' Poetik e i n es der sechs Elemente, d i e d i e Tragöd i e konstituieren. D i e G e s ä n g e des C h o r s im atti schen Drama wurden von Autosmusik begleitet.
I m 5. J h . v .
C h r . h a t t e d i e Entwick l u n g des •neuen D ithyrambos• zur E r weiterung der musikal ischen Ausdrucksform e n , zur Emanzipa tion der Musik im D rama (Sologesang) u n d Virtuosenturn in Vokal- und Instrumentalmusik geführt, eine neue Konzeption, die im Hellenismus voll entfaltet wurde.
34 Horaz erklärt d i e kulturelle Entwick l u n g nach einem traditio nellen Modell, das für Athen (kulturelle Verfei n e r u n g nach dem Sieg ü b e r die P e r s e r bei S a l a m i s 480 v . Chr . } , z . T. auch f ü r Rom (Wendepunkt hier der Sieg ü b e r die Karthager im 1. Pu nischen Krieg 264-2 4 1 v . Chr.) zutri fft. 3 5 Genius : Nach römischer Vorstellung besitzt jeder Mann, so lange er lebt, den ihm eigenen Genius, die vom Individuum abgelöste,
aber
ihm
zugehörige Zeugungskraft,
im weiteren
Sinn s e i n e Lebensk�aft. Diese wird als Person und Schutzgeist vorgestellt.
36 Bedeutung des Wortes Tragödie (» Bocksgesang •) : D i e bei den wichti gsten antiken Erklärungen deuten
•
Tragödie• e n tweder
als • Gesang von B öcken • , d . h . von als Böcke verkleideten Sängern - Urform der Tragödie ist nach Aristoteles • e ine von Satyrn bestrittene Form chorischer Darbietungen mit drama tischem Einsch l a g • (Lesky) -, oder als • G esang um den Bock « (als Opfertier oder Siegespreis im musischen Wettkampf). D i e s e zweite T h e o r i e , d e r H o r a z f o l g t , wurde von alexandrini-
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; ;:.� c :t Philolo�en vertreten, d i e d a m i t Ansprüche der Pelo p o n ncsier a u f d i e Erfindu n g der Tragödie zurückweisen und d i e Tragödie aus altem attischen Dorfbrauch herleiten konnten ; das Satyrspiel stand dann, wie auch bei Horaz, am Ende der Entwicklung. '57 Satyrspiel : An den Theaterspielen des 5. Jh.s v. Chr. beteiligte sich ein Dichter mit einer Tetralogie, d . h . vier hintereinander aufgeführten Stücken, drei Tragödien und abschließendem Sa tyrspiel. Da der D i chter in allen vier Stücken seiner Tetralogie jeweils dasselbe Schauspielerensemble verwandte, mußten die Schauspieler für das Satyrspiel die langen Gewänder der Tra göd ie ablegen und sich mit den Bocksfellen der Satyrn kostü mieren . Das Personal des Satyrspiels bestand aus dem Chor der Satyrn (dem ausgelassenen, derben Gefolge des Gottes Dionysos, in Menschengestalt, aber mit Pferdeschwanz, -ehren und -hufen ; lat. auch • F auni • genannt) , ihrem Vater, dem Papposilen, und dem der Tragödie entstammenden heroischen Helden. Hier wurde das ernste Geschehen der Tragödie mit dem unproblematischen Treiben naturhafter Wesen komisch kontrastiert. In hellenistischer Zeit hatte Sositheos von Alexandria (3. Jh. v. Chr.) das Satyrspiel erneuert. Ob es auf dem römischen Thea ter weiterlebte, i"st nicht bekannt. Der Horaz-Kommentator Porphyrio nennt Pomponius als Beispiel, mit seinem Zeitge nossen Novius (nach 1 00 v. Chr.) der bedeutendste Verfasser von Atellanen (lateinischen Volkspossen), die in früherer Zeit nach dem Vorbild des Satyrspiels an Tragöd ienaufführungen angeschlossen und von kaiserzeitlichen Grammatikern als rö mische Entsprechung zum Satyrspiel gewertet wurden. Aller dings trat ein Satyrchor in diesen Stücken nicht auf. Auf jeden Fall aber setzen die Worte des Horaz über das Satyrspiel die Möglichkeit zur Aktualisierung dieser Gattung in Rom voraus. 3 8 Dav1H ; Vgl. Anm. 1 7. Pythias : Name einer Sklavin in der Komödie (z. B. im Eilnil ehen des Terenz ) . Sim a : N a m e e i n e s Hausherrn in der Komödie (z. B . in Pselldo l�<s und Mostellaria von Plautus ) . Nach dem antiken Kom mentar Pseudo-Acros spielt Horaz auf eine Szene des Komi kers Caecilius (?) an (s. Anm. 5 ) . 39 Silen : d e r Sage n a ch d e r greise Erzieher und Diener d e s Gottes D ionysos ; als Pappesilen Vater des Satyrnchors im Satyrspiel.
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Silen als Erzieher des Dionysos ist neben Odysseus und dem Zyklopen Hauptperson in Euripides' Satyrspiel Der Zyklop. Ironisme Umsmreibung für die G esellsmaftsklasse der Ritter, die bei ihrem Heeresdienst ein Kriegspferd zu stellen hatten. Der Aufstieg in diese Klasse war nur dem möglim, der ein be stimmtes Vermögen namweisen konnte und dessen Vater ein Freigeborener war. (Durm eine Ausnahmeregelung hinsimtlim dieser letzten Bestimmung hatte auch Horaz, Sohn eines Frei gelassenen, den Ritterstatus erhalten.) Jambus : der Spremvers des griech. Dramas war der jambisme Trimeter, in dem ein Metron die Silbenfolge v - v - aufwies. Antike Metriker, vielleimt smon der Athener Darnon (5. Jh. v . Chr. ) , deuteten ein Metron als Verdoppelung eines Versfu ßes (Dipodie) . Danam besteht der jambisme Trimeter also aus sems Jamben, eine Bedeutungsverschiebung, die aum der Iatei nismen Bezeichnung des Verses als Senar (• Sechser•) zugrunde liegt. Horaz, der ebenfalls die Folge von kurzer und langer Silbe Jambus nennt, erklärt den Terminus Trimeter (•Drei maß•) damit, daß ein jambismer Vers in so kurzer Zeit ge spromen wird, daß man ihn nur dreifam, statt semsfam, un terteilen konnte. - Die erste Silbe eines Metrons kann aus einer kurzen oder langen Silbe bestehen (anceps) ; nam der Versfuß Theorie konnte der Jambus als zweiter, vierter (und semster) Versfuß nimt durm einen Spondeus (zwei lange Silben) ersetzt werden. Accius : bedeutendster römismer Tragiker ( 1 70 bis um 8 5 v. Chr.) der älteren Zeit, der in seinen Stücken griemisme Tragö dien der Klassik und des Hellenismus zugrunde legte, daneben aum Stoffe der römismen Gesmimte behandelte. In seinen literaturwissensmaftlimen Werken smrieb er über die Gesmim te des Dramas, Bühnentemnik, poetisme Gattungen, Ortho graphie u. a . Er war als Dramatiker bis in die Kaiserzeit ge smätzt. I n seinen jambismep Senaren überwiegen regelmäßig die Spondeen, was die Verse nachdrüddim, aber aum smwer fällig wirken läßt. Ennius: Vgl. Anm. 7. Plautt<s : Vgl. Anm. 5. Thespis : führte als erster eine Tragödie an dem vom atheni smen Tyrannen Peisistratos eingerichteten Staatsfest der Gro ßen Dionysien auf (zwismen 536 und 532 v . Chr.) . Antike Zeugnisse nennen ihn den Smöpfer der Tragödie, der. den
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Schauspieler und den Sprechvers eingeführt habe. Horaz' Thespiskarren « wird sonst n id1t erwähnt und beruht vielleicht auf der Fehldeutung eines ländlichen Brauches, der • Spötte reien vom Wagen herab « . Auch der Nachricht über das Schmin ken li e g t ei ne V erw e ch s l u ng (in Horaz' · Quelle?) zugrunde : mit Weinhefe sollen sich die ältesten Chöre der Komödie, mit Bleiweiß soll sich Thespis geschminkt haben. 46 Aischylos : athenischer Tragiker (525/524 bis 456/455 v. Chr.). Spätere Zeugnisse schreiben ihm zu Unrecht die Erfindung der (viel älteren) Ma sk e und langen Schauspielergewan dung (Chiton - Palla) und des (viel jüngeren) dicksohligen Kothurns zu. Die nur hier erwähnte Erfindung der Bretter bühne ist als steigernder Gegensatz zum Thespiskarren ge dacht. 47 Alte Komödie : die athenische Komödie des 5 . Jh.s v . Chr. (Hauptvertreter : Aristophanes), staatlime Au ff ü h ru ngen seit 486. Ihre besondere Funktion bestand in der Diskussion und Kritik der die Stadt interessierenden Dinge, von Personen, Institutionen, Zeitersmeinungen, ohne Trennung von öffentli cher und privater Sphäre. Der Chor nimmt das Remt zur Rüge und Unterrichtung vor allem in dem • Parabase« genam i ten Teil bei unterbromener H a n d lu ng und di rekt er Anspra me an das Publikum wahr. Das Remt der freien Polemik wurde nachweislim nur 439 bis 437 v . Chr. (Samismer A u fs ta nd ) und u m 4 1 5 (im Peloponnesischen Krieg) vorübergehend einge smränkt. Spätere Grammatiker erklärten damit den Bedeu tungsverlust d es Chors in d er Mittleren und Neuen Komödie, der jedoch a u f eine Entpolitisierung dieser Gattung a u f Grund der geschimtlimen Ent w icklu n g zurückzuführen ist. 48 Pritetexta : Tr a gödi e über einen Stoff a u s der römischen Ge schichte, benannt nach der Smauspielertramt, der purpurge säumten Toga der kurulismen Beamten (Konsul, Prätor, Cen sor, kurulischer 1\dil} , der Hauptakteure römismer (Kriegs-) Geschichte. Begründer der Praetexta ist Naevius, ih m fo l g te n Ennius, Pacuvius, Accius u. a. Togata : Komödie über einen Stoff aus dem rö m i sche n A l lt a g s leben, benannt nach der Schauspielertracht, der weißen To ga, d em Obergewand der römischen Bürger. Wichtigste Ver treter : Titinius, Afranius, Quinctius (2. Jh. v. Chr.}, die sich vom beherrsmenden Einfluß der griechischen Neuen Komödie (Palliata} nicht lösen konnten . •
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49 Pompili�<s : Aus dem für die römischen Adelsfamilien dieser
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nationalbewußten Zeit typischen Verlangen, den Stammbaun� bis auf die Anfänge Roms zurückzuführen, waren die Cal purnii Pisones auf einen Calpo, Sohn des sagenhaften zweiten Königs von Rom, Numa Pompilius, gestoßen. Demokrit aus Abdera : griedtische,· Philosoph (um 460 bis 3 70 v. Chr. ) , entwickelte vor allem die Lehre von den Atomen weiter. Er ist eine Hauptautorität für die Theorie, daß große D ichtung auf göttlicher Inspiration beruhe : »Alles, was ein Dichter aus Gotterfülltheit und heiligem Anhauch schreibt, ist sicherlich schön • (Frg. 1 8) . Auf ihn beruft sich Cicero : •Demo krit sagt, niemand könne ohne > furor< ein großer Dichter sein«. Horaz entwickelt ironisch die in >furor< enthaltene Wahnsinnskomponente weiter. Helikon : Nach dem griech. Dichter Hesiod (um 700 v . Chr.) ist der bei Theben i n Griechenland gelegene Berg Heimat der Musen. Antikyra : griechische Küstenstadt am Fuß des Parnaß, sprich wörtlich berühmt durch ihre Niesw urz, die gegen Wahnsinn und Schwermut verordnet wurde. Nach der bis ins 1 8 . Jh. herrschenden Lehre von den Säften des Körpers rührte die Melancholie (» Schwarzgalligkeit«) von einer Oberproduktion der dunklen Gallenflüssigkeit her. Sokratische Schriften : die in der Literatur über den atheni schen Philosophen Sokrates z . B. von Platon und Xenophon behandelten ethischen Fragen, im weiteren Sinn die Ethik der hellenistischen und römischen Philosophie ; die verschiedenen Schulen führten ihre Anfänge auf Sokrates zurück. Horaz' Lektüre während der Arbeit an den Satiren und Epoden um faßte z . B . den Philosophen Platon, die Komödiendichter Eupolis und Menander und den Lyriker Archilochos (Satiren II, 3, 1 1 f . ) . Bei dem mathematischen Verfahren der Division bezeichnete as (• Einheit«) das z u teilende Ganze. Teilung nach dem Dezi malsystem wurde zur Berechnung der Zinsen (nach Prozenten) vorgenommen ; Division nach dem Duodez imalsystem war z . B. in Erbschaftsangelegenheiten üblich, bei dene!l das Teil erbe nach Zwölftein berechnet wurde. Wertvolle Buchrollen wurden zum Schutz gegen Schaben mit Zedernöl getränkt und in Kästen aus Zypressenholz aufbe wahrt.
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56 Eratosthenes, der vielseitigste Gelehrte und Sc.'I riftsteller des Hellen ismus (um 295/280 bis End e 3 . Jh. v . Chr . ) , hatte die Behauptu n g aufgestellt, »jeder Did1ter bezwecke Unterhaltung, nicht Belehrung« . Ihn korrigierte - nach Ansicht R . Pfeiffers Neoptolemos von Parion (3. Jh. v. Chr . ) , indem er von der vollkommenen Dichtung sowohl Unterhaltung wie Nutzen for derte, die bisher einzige nachweisbare Vorschrift, die Horaz von ihm übernommen haben könnte. Allerdings hat die griechi sche Literaturtheorie schon seit ihren Anfängen (Hesiod, Ari stophanes, Platon, Aristoteles) beide Forderungen diskutiert und in Relation gesetzt, und die zeitgenössische Rhetorik (Cicero) sieht analog dazu die Aufgabe des Redners im Beleh ren, Erfreuen und Erregen der Hörer. Vor allem ist zu beden ken, daß Horaz sein eigenes Dichten (Satiren, Oden, Episteln) von dieser Polarität her verstanden hat. 57 Lamia : Gestalt der griechischen Vampyrsage, grausiges Ge spenst, das Kinder raubt und frißt. 58 Die römische Bürgerschaft stimmte in der Volksversammlung über Wahlkandidaten, Gesetze, Krieg und Frieden nach der Centurienordnung ab, nath dem extremsten Klassenwahl retht, das die Geschichte kennt (E. Meyer) . Sie war nam dem steuerbaren Vermögen in fünf Klassen gegliedert, die eine unterschiedliche Anzahl von Centurien ( • Hundertschaften«) umfaßten. Die Centurien einer Klasse waren in zwei gleiche Gruppen unterteilt, die Centuriae seniorum und die Centuriae iuniorum (Grenze das 46. Lebensjahr, mit dem die militärische Dienstverpflichtung erlosch ) . Ramnes war die alte Bezeichnung für eine Centurie in der Klasse der Ritter. Horaz bezei chnet komprimiert einen Altersgegensatz (die JUteren - die jungen Ritter) und einen sozialen Gegensatz (Plebejer - Ritter ) , denen die Antithese Nutzen - Vergnügen entspricht. 59 Die Brüder Sosii, Horazens Verleger, waren führende Buch händler in Rom zur Zeit des August us. 60 Choirilos von Jasos (um 330 v. Chr.) schrieb ein Epos zu Ehren Alexanders d. Gr . , das der Gefeierte zwar königlich belohnte, die Nachwelt jedoth als Beispiel für schlechte Dichtung sprichwörtlich machte. 61 M. Valerius Meisalla Corvinus (64 v. Chr. bis 1 3 . n. Chr.), Feldherr und Politiker unter Augustus, Redner und Schrift steller, der für seine sprachliche Sorgfalt bekannt war, Patron eines Literatenkreises, zu dem 'Tibull u nd Ovid gehörten .
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62 Aulus Cascellius : namhafter Jurist zur Zeit Ciceros ; unter seinen Werken wird ein Liber bene dictarum (Bonmots) er
wähnt.
63 Der Buchladen, meist in der Nähe des Forums, war zur Straße
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hin nur durch Pfeiler abgeschlossen, die zugleich als » Schau fenster• dienten, indem an ihnen ein Verzeichnis der käuflichen Buchrollen hing und dort gelegentlich auch die Büste eines Autors aufgestellt war. Honig von Sardinien galt als schlechtschmeckend. Das Marsfeld, nordwestl. der Stadtgrenze Roms im Tiberbo gen gelegen, diente als Versammlungsplatz für Volksversamm lungen und als militärisches Exerziergelände. Hier übte sich die römische Jugend in Springen, Werfen des Wurfspeers, Laufen mit und ohne Waffen, Reiten, Schwimmen, Waffen- ur.d Faustkampf; Übungen, die auf den Kriegsdienst vorbereitelen. Der griechische Wettkampfsport gewann erst gegen Ende der Republik an Boden. Jetzt fanden auf dem Marsfe ld auch d i e friedlicheren griechischen Sport- u n d Spielarten Eingang, Diskuswurf, Ball- und Rei/enspiele. Agrippa, zweiter Mann unter Augustus, errichtete dort das erste Gymnasium für die sportlichen Übungen der Jugend. Minerva (griech. Pallas Athene) , Schutzgöttin der Handwer ker und Künstler. Das Sprichwort »gegen den Willen Miner vas handeine erklärt Cicero als •gegen den Widerstand der eigenen Natur handelnc. Sp. Maecius Tarpa : Kunstrichter, der 5 5 v . Chr. die Auffüh rungen zur Einweihung des von Pompejus erbauten ersten fe sten römischen Theaters bestimmte und Mitte der 30er Jahre die Jury bei Dichterlesungen im Tempel der Musen vertrat, vielleicht als Vorstand des korporationsrechtlich organisierten Kultvereins der Dichter. Orpheus : mythischer Sänger der Vorzeit, dem Werke über die Götter und die Entstehung der Welt sowie über die Vorberei tung der Seele auf das Jenseits zugeschrieben wurden. Im My thos wird die magische Kraft seines Gesanges und Leierspiels betont : wilde Tiere und Bäume folgen ihm lauschend, die F.lüsse stehen still, und sogar die Mächte der Unterwelt werden v� rzaubert, als er seine verstorbene Frau Eurydike von ihnen zurückerbittet. Amphion : Gestalt des griechischen Mythos, erbaut zusammen mit seinem Zwillingsbruder Zethos die Mauern Thebens, wobei
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er die Steine durch sein Leierspiel lenkt ; er gilt in manchen Quellen als Erfinder der Leier und der Musik ; in der Antiope des Eurip ide s und der des Pacuvius ist er der Vertreter der theoretischen Lebensweise, sein kriegerischer Bruder der der pra kti s che n . D e r athenische Gesetzgeber Salon l i e ß seine Reformgesetze auf hölzerne Tafeln schreiben (594/593 v. Chr.}, deren Reste noch zur Zeit Plutarchs in Athen gezeigt wurden (um 1 00 n. Chr . ) . Tyrtaios : Lyriker um d i e Mitte d e s 7. Jh.s v. Chr. in Sparta, Verfasser von Elegien politischen Inhalts, die an die aristo kratische Kriegerethik der Spartaner in ihren Kämpfen gegen die Aufstände der Landschaft Messeoien appellieren. Seine Verse » Schön ist der Tod, wenn man fällt in der vordersten Reihe der Krieger, I als ein tüchtiger Mann, der um sein Va terland kämpft« (Obers. H. Fränkel) werden von Horaz in seiner 2 . Römerode aufgenommen : » Süß ist's und ruhmvoll : fallen fürs Vaterland• (Obers. R. A. Schröder). Einen Katalog von Dichtern, die Lehrer der Menschheit waren, stellt schon Aristophanes in seinen Fröschen (405 v. Chr.) zu sammen : Orpheus (Weihen und Verbot des Tötens) , Musaios (Heilmittel und Orakel) , Hesiod (Landwirtschaft) , Homer (Kriegskuns t), dem Aischylos nachfolgt. Die Muse und der Gott Apollon, Schützer der Künstler und Dichter, werden stellvertretend für die Dichtkunst genannt. Bei den Pythien, Spielen, die zur Erinneru ng an die Erlegung des Pythondrachens durch Apolien alle 4 Jahre im Tal von Deiphi veranstaltet wurden, standen die musischen Wett kämpfe (Gesa•1g zur Kithara und zum Aulos, Flötenspiel) im Mittelpunkt ; die Sp1ele verfielen seit dem Ende des 2 . Jh.s v . Chr. - Eine andere übersetzungsmöglichkeit des Verses 4 1 4 f. : . . wer die pythischen Weisen auf der Flöte vor trägt«. Der Auloskünstler Sakadas von Arges hatte an den Pythien dreimal (zuerst 586 v. Chr.) mit musikalischen Fassun gen der Sage vom Kampf des Gottes mit dem D rachen gesiegt ; sein Stil wurde für Kompositionen dieses Stoffes verbindlich. Bearbeitungen seiner Komposition wurden noch in hellenisti scher Zeit in Deiphi vorgetragen. Quintilius Varus : aus dem römischen Ritterstand, geboren i n Cremona, wo d e r junge Vergil zur Schule ging, lebenslan ger Freund Vergils, studierte wohl wie dieser bei dem Epikureer Philodern von Gadara (um 1 1 0 his 40/35 v. Chr.) bei Neapel, •.
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Freund des Horaz . der in einem Gedicht Vergil über den Tod des Quintilius (24/2:l v. Chr.) tröstet (C. I, 24). Der • Querstrich in schwarzer Tinte• enthält eine doppelte An spielung : 1. Die hellenistischen Philologen in Alexandria führ ten in ihren kritischen Ausgaben griechischer Klassiker Mar kierungszeichen an Textstellen ein, deren Echtheit oder Stellung zweifelhaft waren, und fügten ihren Kommentar an. Das erste kritische Zeichen erfand Zenodot von Ephesos (seit etwa 284 v . Chr. erster Leiter der B ibliothek von Alexandria) : den übelos (-), einen Q uerstrich , der links neben den für u n echt gehaltenen Vers gesetzt wurde. »Dies war das erstemal, daß ein Herausgeber dem ernsthaften Leser und G elehrten die Mög lichkeit gab, seine kritische Entscheidung zu b ewerten• (R. Pfeif fer). - 2. Man markierte auf Namenslisten mit einem {} (Anfangs buchstabe für {}avm:o;, »Tod•) in schwarzer Tinte die Namen von Verstorbenen. A ristarchos von Samothrake (um 216 bis 1 44 v. Chr.), bedeu tendster alexandrinischer Philol oge, der die textkritische Me thode vollendete - seine Klassikerausgaben erlangten kano nische Geltung - und u. a . Kommentare und Monographien über klassische Autoren verfaßte. Cicero und Horaz bezeugen, daß sein Name sprichwörtlich für einen ernsthaften und laute ren Kritiker war. fanatiws erro r : Die kappadokische Göttin Ma wurde von den Römern mit ihrer Kriegsgöttin Bellona gleichgesetzt und er hielt 48 v . Chr. einen Tempel (fanum) in Rom. Ihre kappado kischen Priester und Priesterinnen (fanatici) steigerten sich an Festtagen durch orgiastische Tänze und Selbstverwundungen ZU einer verzückten Raserei, in der sie weissagten. Diana (griech. Artemis) : hier vielleicht als Mondgöttin gemeint, die den Wahnsinn schickt. Gemeint ist Empedokles aus Akragas (Agrigent auf Sizilien) : griechischer Naturphilosoph und Dichter (um 500 bis 430 v . Chr. ) , verstand sich als Weiser und Wundermann. I n seinem Werk Reinigt
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menschlichem Stamme entsprossen scheint« (übers. W. Kranz). Seine Persön lichkeit regte zur Legendenbildung an ; der späte Komp ilator Hippobotos überliefert, • er sei in d ie R i chtun g zum ll.tna gegangen und dann, an den Feuerkesseln angekom men, hineingesprungen und verschwundene (Übers. W. Kranz) .
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Empedocles, ardenttm /rigidHs Aetnam insil11it :
Empedokles,
Schöpfer der klassischen Lehre von den vier Elementen, läßt die Dinge aus Mischungen von Feuer, Luft, Wasser und Erde bestehen ; sie sind in stetem Werden und Übergang, bewegt von Liebe und Streit. Horaz bildet die Mischung durch die Stilfigur des Chiasmus (Kreuzstellung : Substantiv - Adjektiv I Adjektiv - Substantiv) mit zusätzlicher Umstellung der beiden inneren Glieder ab. • Frigidus• bezeichnet den Geisteszustand ; nach Empedokles ist das Denken von dem das Herz umkreisen den Blut bestimmt, es geht bei sinkender Temperatur zurück nach (Pscudo-Acro) ; mit • frigidusc ('ljiU)(.Q6;) wurde ferner ein dummer, trivialer, abgeschmackter Mensch charakterisiert ; in der Rhetorik bedeutet es das Oberschießen des Ausdrucks über den Gedanken. 80 Stellen, wo ein Blitz eingeschlagen hatte, wurden nach etruski schem Brauch für heilig gehalten und mit einem Steinring ein gefaß t ; wer ihn beseitigte, versündigte sich und wurde unrein.
Nachwort
Quintus Horatius Flaccus (65-8 v. Chr.) muß uns heute als der am deutlichsten faßbare antike Vertreter eines Dichter typs gelten, der sein dichterisches Schaffen durch theoretische Aussagen über �ein Dichten, ja über Dichtung überhaupt er gänzt. Diese Reflexionen des Dichter-Kritikers treten nicht als Abhandlungen neben das poetische Werk, sondern sind integrierter Bestandteil der Dichtungen selbst, stehen also unter dem Gesetz der Form, über das sie aussagen. Von sei nen ersten Werken an hat Horaz diese Art der Reflexion geübt, von den Literatursatiren der 3 0er Jahre bis zu den Literaturbriefen aus seinem letzten Lebensjahrzehnt. Der Themenkreis ist recht konstant : Das Gesetz der literarischen Gattung wird bestimmt, von anderen Gattungen abgegrenzt und in seinem Verhältnis zur Tradition gesehen, der Cha rakter der zugehörigen poetischen Sprache festgelegt, die ge sellschaftliche Funktion der Dichtung bedacht und die For derung, ein vollkommenes Kunstwerk zu schaffen, gegen die kritiklosen Liebhaber der traditionellen römischen Literatur und gegen oberflächliches modernes Virtuosenturn verteidigt. Anliegen der Literaturtheorie, der Literaturgeschichte und der Literaturkritik gehen dabei eine enge Verbindung ein. Aber erst nachdem sich Horaz durch ein umfangreiches <Euvre ausgewiesen hat - Satiren (Sermones) waren in den Jahren 35 und 30, Epoden (lambi) 30, drei Bücher Oden (Carmina) 23 und ein Buch Episteln (Epistulae) 20 v. Chr. ersChienen -, bezieht er diese Thematik nicht mehr auf die jeweilige Gattung, in der sie behandelt wird, sondern weist ihr als Gegenstand Dichtung überhaupt zu. Dies geschieht zu einer Zeit, als die größten Dichtungen der ersten Generation der Augusteischen Klassik bereits vorliegen (Vergil und Ti bull waren im Jahre 19 gestorben) und sich Kaiser Augustus nachdrücklich inneren Reformen zuwendet ( 1 9 hatte er die » Fürsorge für Gesetze und Sitten « übernommen). So sind die 55
Literaturbriefe des Horaz - vor allem sein » Brief an die Pisonen« - nicht nur Sammelbecken der Ergebnisse aus 25 Jahren selbstreflektierter dichterischer Tätigkeit, sondern man kann sie zugleich als bewußte Manifeste der Kunst gesinnung einer bestimmten Dichtergruppe betrachten. Der »Brief an die Pisonen«, als poetische Epistel an eine brei tere tlffentlichkeit gerichtet, war bald nach seiner Veröffent lichung als wissenschaftlicher Text in den Händen professio neller Literatunheoretiker ; der Rhetoriklehrer Quintilian zitiert ihn als erster unter dem anspruchsvollen Titel De arte poetica. Obwohl der Brief damit den gleichen Titel trägt wie die Poetik des Aristoteles, muß er den enttäuschen, der ihn in Erwartung einer gelehrten Abhandlung liest. Man sieht sich wie durch die improvisierte Rede in einem ver traulichen Gespräch von Gegenstand zu Gegenstand geführt, ohne eine systematische Anordnung zu bemerken. Eindring liche Belehrung wechselt mit launiger Satire, Versenkung ins Detail mit summarischer Eile. Resigniert stellte Scaliger, der erfolgreichste Dichtungstheoretiker des Humanismus, fest : » Horaz trägt seine so betitelte >Kunstlehre < so kunstlos vor, daß seine ganze Schrift eher eine Satire zu sein scheint«, und sah sich u. a. dadurch veranlaßt, eine neue, systematische Poetik vorzulegen ( 15 6 1 ) . D a s kleine Werk hat i n der europäischen Literaturgeschichte gleichwohl als >Poetik< seine Wirkung getan, und bis heute hat die Literaturwissenschaftler nicht die Hoffnung verlas sen, unter der beweglichen Gesprächsführung des Pisonen briefes den von einer theoretischen Schrift zu fordernden systematischen Grundriß entdecken zu können. So glaubte Joachim von Watt, Verfasser einer Humanistenpoetik (1 5 1 8) , wie viele nach ihm, einige Verarbeitungsphasen der Rheto rik, nämlich Findung (inventio), Anordnung (dispositio) und sprachliche Gestaltung (elocutio) des Stoffes, vermehrt um die Aspekte Nachahmung (imitatio) und kritisches Urteil (iudicium), wiederzuerkennen. Und mußte nicht eine Bemer kung des spätantiken Horaz-Kommentators Porphyrio - » in diesem Buch hat Horaz die Lehren des Neoptolemos von 56
Parion über die Dichtkunst zusammengestellt, nicht alle, aber die wichtigsten« - dazu ermuntern, den Brief mittels Quel l enanaly se als versifizierte Poetik zu erweisen? Porphyr ios Hinweis wurde allerd in gs erst überprüfbar, als man in Her culaneum, das 79 n. Chr. zusammen mit Pompeji durch einen Ausbrum des Vesuv versmüttet worden war und seit der Mitte des 1 8 . Jahrhunderts ausgegraben wurde, in einer Villa, die wahrsmeinlim einst einem Mitglied der Pisonen sippe, dem Konsul L. Calpurnius Piso, gehört hatte, die Reste einer Bibliothek fand. Unter diesen waren Teile aus dem Bum des epikureismen Philosophen Philadernos von Gadara Vber die Gedichte, in dem er u. a. gegen die Auf
fassungen des Neoptolemos von Parion, eines Dimters und Theoretikers aus dem 3. Jahrhundert, polemisierte. Dadurm sind uns einige seiner Lehren faßbar, die wir hier in der Form und Anordnung, die C. 0. Brink rekonstruiert hat, einrücken : ( 1 ) Neoptolemos hat die spramlime Gestaltung (ouvitEOI� •i'i� 1.. t ;Eoo�) von den Gedanken getrennt, als er jene als den nimt kleineren oder größeren Teil bezeichnete. (2) Er stellt den, der über die Dimtkunst verfügt und eine Befähigung dazu besitzt, als einen Faktor (döo�) neben :ltOL'I](.l.a und :ltOL'I]Ol�. (3) Er nennt die Ausübung Dimtkunst (:nOil]"tlx.i]). (6) Jedem ist klar, daß Stoff (u:noitEOLS) und spramlime Ge staltung Aufgabe des Dimters sind. (7) Stoff und spramliche Gestaltung (:noli](.l.a•a) haben kei nen Anteil an den Fehlern des Dimters. (4) Der Stoff allein gehört zur :noL'I]OI�. (5) Nur die spramliche Gestaltung gehört zum :noL'I](.l.a, aber nimt die Gedanken, . . . , Handlungen und die Personen gestaltung. (8) :noli]Jla•a sind die ersten unter den Elementen (döl]) . (9) Er ( d er gute Dimter) wird aum großen Gedimten (:noli](.l.a•a) Harmonie und Kohärenz verleihen.
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( 1 0) Der vollkommene Dichter muß, um Vollkommenheit zu erreichen, nicht nur auf die Zuhörer wirken (1Jiuxayroyta ) , sondern ihnen auch nützen und gute Lehren geben. ( 1 1 ) Homer erfreut und nützt am meisten. ( 1 2) Homer war der größte Dichter. Die berühmteste Maxime der Ars Poetica, die über die Ver bindung von Unterhaltung und Belehrung, geht demzufolge auf Neoptolemos zurück ; bezeichnend ist jedoch, daß Horaz sie auf einem Wege ableitet, wie es Neoptolemos gar nicht möglich war, n:imlich aus der Einstellung der Römer zur Kunst. Im übrigen lassen die Fragmente des Griechen philo logischem Scharfsinn nur zu weiten Spielraum. Geben sie wenigstens Aufschluß über den Aufbau der Ars Poetica ? Die Unterscheidung von n:OL'I] flU ( mit dem Aspekt des Stils ver bunden) , n:ol'I]O't; (mit dem Aspekt des Gegenstandes ver bunden) und >Poet< hat dazu veranlaßt, sie als Gliederungs prinzip auf die Ars Poetica anzuwenden, bisher ohne über zeugenden Erfolg, weil einerseits die Ars Poetica sich solcher Schematisierung widersetzt, andererseits die Kategorien des Schemas selbst zu undeutlich bleiben. Möglicherweise hat Neoptolemos in viel äußerlicherer Weise als Vorlage gedient, nämlich für apodiktische Kunstregeln, die bewußt im Lehr buchten vorgetragen werden, aber bei Horaz eine zusätzliche oder geänderte Funktion erhalten haben. Das würde der Angabe Porphyrios nicht widersprechen und überdies zu dem Verfahren römischer Lehrdichtung stimmen, wie es z. B. Vergil in seinem Lehrgedicht über die Landwirtschaft an wendet. Die verschiedenen Gliederungsversuche moderner Forscher haben im Grunde nur den negativen Beweis erbracht, daß sich die Ars Poetica nicht in Paragraphen zerlegen läßt, ein Triumph des Dichters, der in derselben Dichtung Integration fordert und schafft. Daher können wir uns den Aufbau des Briefes an die Pisonen nur in Umrissen bewußtmachen. Eine einheitliche Fragestellung umfaßt das Ganze : Was muß der Dichter tun, um ein vollkommenes Kunstwerk herzustellen? 58
Sie wird im ersten Teil des Gedichts mit den Forderungen beantwortet, die das Werk erfüllen muß, im zweiten mit denen, die an das Ethos des Dichters zu stellen sind. Dem nach ist der zweite Teil grundsätzlicher als der erste : Der Dichter muß nicht nur die konkreten Kunstgesetze kennen, er muß die rid1tige Einstellung zur Kunst überhaupt besit zen. Andererseits impliziert die Befol gung der Kunstgesetze die rechte Kunstgesinnung ; insofern sind die Grundgedanken des zweiten Teils schon im ersten wirksam. Der Eingang des Gedichtes macht an einer verwirrenden Fülle satirischer Beispiele die Notwendigkeit bewußt, das Schaffen an Kunstprinzipien zu kontrollieren, wenn ein in sich stimmiges Kunstwerk entstehen soll. Dieses allgemei ne, aber entscheidende Gebot ist Ausgangs- und ständiger Bezugspunkt für die nun zu Teilaspekten vordringende Erörterung. Das Thema der sprachlichen Gestaltung, das zunächst folgt, beginnt mit einer Verteidigung von Wortneu bildungen und An p a ssun g an die Sprachentwicklung (46 bis 72) . Es wird, nach einem Überblick über metrische Formen und die ihnen zugeordneten Stoffe und Sprachhaltungen (73-8 8 ) , anfangs noch in dem Hauptabschnitt fortgesetzt, der dem Schauspiel, speziell der Personencharakteristik, ge widmet ist (89-250). Die Forderungen, zuerst von allgemei nen Grundsätzen ausgehend, werden immer detaillierter und strenger, bis sie beim Satyrspiel (220-25 0) , einer scheinbar zwangloseren Gattung, höchsten Ansprüchen genügen. Nach dieser Demonstration des Kun stideals am Werk wendet sich der Ratgeber scheinbar noch einmal dem Dramenvers (251 bis 262) und der Geschichte des Dramas (275-288) zu, lenkt aber in Wirklichkeit auf das zentrale Thema der zweiten Epistelhälfte hin : Kunstethos und die Situation der Lite ratur in Rom. Im Wechsel mit kritischer Distanzierung von der römischen Nachlässigkeit in Kunstfragen, die teils auf traditioneller Fremdheit gegenüber dem Anspruch der Form, teils auf einseitiger Wertschätzung genialischer Spon taneität beruht, sucht Horaz im römischen D ichter ein Kunstbewußtsein zu wecken, das die ethische Aufgabe der
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Dichtung einbezieht, zu ständiger Selbstkritik bereit ist und mit den höchsten Maßstäben mißt (25 8-476) . Horaz berücksichtigt einerseits Aspekte des literarischen Werkes, die von gattungsmäßigen Einschränkungen nicht be rührt werden, andererseits die Bedingungen der Gattung. Letztere werden am Schauspiel verdeutlicht, und zwar an der Tragödie - mit Ausblicken auf die Komödie - und dem Satyrspiel ; andere Gattungen treten zurück. Daraus erklärt sich, daß Horaz bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit der römischen Dichtung fast ausschließlich die anerkannten Tragödien- und Komödienautoren der Vergangenheit an führt ; ferner spielte der Anschluß an griechische Stoffe und deren griechische Gestaltungen und damit die imitatio der »exemplaria Graeca «, die in der Ars Poetica so stark betont wird, für keine Gattung eine so große Rolle wie für das römische Drama. Leider können wir uns vom Schauspiel der Augusteischen Zeit kein rechtes Bild machen, vom Satyrspiel überhaupt keines. Immerhin stellt Quintilian die Tragödie Thyestes des Varius Rufus, die bei dem großen Triumph Octavians 29 v. Chr. uraufgeführt wurde, den griechischen Meisterwerken an die Seite, ein Stück, dem die Medea des Ovid, um dieselbe Zeit geschrieben wie die Ars Poetica, nach dem Urteil des Tacitus und Quintilian kaum nachstand. Daß man außerdem damit rechnen kann, adlige Dilettanten beim Tragödienschreiben anzutreffen, dafür ist nicht nur der junge Piso, den Horaz so eindringlich berät, ein Beispiel, sondern sogar Augustus, der an einem Aiax dichtete, ihn schließlich aber, wie der Princeps resigniert scherzte, sich in den Schwamm statt ins Schwert stürzen ließ. Das Drama war von den augusteischen Dichtern vernachlässigt worden, und so könnte die Ars Poetica neben anderen ·Absichten auch die verfolgen, diese ein weiteres Publikum ansprechende Gat tung nicht l änger der Willkür kunstvergessener Arehaisren und Modedichter zu überlassen, sondern nach den Kunst idealen der Augustcer zu erneuern. Exemplarisch wird von Horaz ein Weg vorgezeichnet, den er und seine Kollegen in anderen Gattungen - Epode, Satire, Ode, bukolisches Ge60
dient, LehrgedidJ.t, Epos, Elegie - bereits zurückgelegt hat ten : Neugewinn traditioneller Formen durch Besinnung auf ihre Gesetze. In diesem Streben nach vollkommener Dich tung liegt zugleich ein nationaler Anspruch : der politischen Geltung der Römer nicht die kulturelle hintanzusetzen. Es geht in der Ars Poetica weniger um eine bestimmte Lite raturgattung als um ,die Einstellung zur Kunst überhaupt. Daher ist die Ars Poetica auch keine deskriptive Poetik, die sich die Erkenntnis von Kunstgesetzen zum Ziel bestimmt, sondern ein Literaturprogramm, das auf ein bestimmtes Kunstideal verpflichten will. Was man den Horazischen Kunstregeln gern zum Vorwurf macht, daß sie nämlich tra ditionelles Gut seien, ist eine Voraussetzung dafür, die Ge setze der Dichtung als fraglos gültig erscheinen lassen zu können. In der Tat entbehren die einzelnen Lehren zumeist eigentlicher Originalität. Sie entstammen zum großen Teil der Rhetoriktheorie und hellenistischen oder römisdien Untersuchungen zur Dichtung, lassen in einer Reihe von Fäl len letztlich aristotelischen Ursprung vermuten, ohne daß eine direkte Benutzung des Aristoteles nachweisbar wäre, und wenn auch oft kein Vorgänger namhaft gemacht werden konnte, so ist schon von der Grundhaltung der Ars Poetica her zu erwarten, daß auch solche Regeln gut autorisiert waren. Die spezifisch römische Spielart eines geistigen Kon servativismus, der die wertvollen und dauernden Ergebnisse der Vergangenheit, selbst wenn ihre Prinzipien einander widerstreiten sollten, gemeinsam bewahrt, zeigt sich auch im Verhältnis der Ars Poetica zur Poetiktradition. Wie sich Horaz keiner einzelnen Philosophenschule verschrieben hat, so hat er hier z. B. neben der Forderung des Kallimachos nach künstlerischer Perfektion auch die produktive Nach ahmung Homers befürwortet, obwohl sich die Kallimacheer gegen die epische Großform aussprachen. In der Epoche eines Klassizismus in Literatur und Kunst dokumentiert auch die Ars Poetica die Rückkehr zu den Klassikern unter Bewah rung des alexandrinischen Kunstethos. Dieses Verhältnis zur Tradition hat es den Dichtern und
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Literaturtheoretikern der Neuzeit leichter gemacht, ihre antiken Ratgeber - vor allem Aristoteles, Horaz, Cicero und Quintilian - zu harmonisieren. Das wird besonders an der Rezeption der beiden wichtigsten antiken Poetiken, der des Aristoteles und der Ars Poetica, im 16. und 1 7. Jahrhundert deutlich. Indem die Humanisten die Weisheit der Alten zu einer antiken O ffenbarung zu vereinheitlichen strebten, schienen sich ihnen die beiden Poetiken gegenseitig zu er gänzen und zu bestätigen. In die Ars Poetica las man die aristotelische Mimesis-Theorie hinein, in der Poetik des Aristoteles, speziell in seinem Katharsis-Begriff, fand man die horazische Doppelfunktion von Unterhaltung und Nutzen wieder. So konnte der englische Dichter Philip Sidney in sei ner Defence of Poesy (1595) beide Wesensbestimmungen zu der knappen Formel verbinden : Die wahre Poesie » ahmt nach, um zu belehren und zu erfreuen « . In diesem Harmo nisierungsvorgang lag die Führung anfangs bei der Ars Poe tica ; denn obwohl man Horaz als Schüler des Aristoteles betrachtete, behandelte man seine Ars Poetica nicht als Kom mentar, son dern zog umgekehrt die Poetik des Aristoteles zur Illustration der Ars Poetica heran. Erst seit dem 1 8 . Jahrhundert wurde die Ars Poetica endgültig von Aristoteles' Poetik verdrängt. Goethe unternahm noch 1 806 » das Wagniß kühner und wunderlicher Auslegungen des Ganzen sowohl als des Einzelnen «, fixierte aber nur seine Auseinandersetzung mit Aristoteles (Nachlese zu Aristoteles' Poetik 1 827) . Vom 1 5 . b i s zum 1 8 . Jahrhundert jedoch h a t die Ars Poetica fast kanonische Geltung besessen und - eine schöne Bestäti gung ihres Hauptanliegens - die Besinnung auf die Gesetze der Dichtung gefördert. Man hat beobachtet, daß der An fang der formalen Literaturkritik in Italien, Frankreich und England ungefähr mit den ersten Obersetzungen der Ars Poetica in die betreffenden Nationalsprachen zusammen fällt. Viele der späteren Poetiken stehen deutlich in der Nachfolge der Ars Poetica und bekennen sich dazu : Martin Opitz stellt sein Buch von der Deutschen Poeterey (1 624) , 62
die erste deutsche Poetik, programmatisch unter ein Motto aus dem Pisonenbrief, Nicolas Boileau bezeichnet seine Vers poetik L' Art Poetiqt�e (1 674) als »Lehren, die meine Muse, noch jung, vom Umgang mit Horaz zum Parnaß mitge bracht hat«, und Johann Christoph Gottsched leitet seinen rationalistischen Versuch einer critischen Dichtkunst (1 729) mit einer Übersetzung der Ars Poetica ein. Die anregende oder bestätigende Wirkung der Ars Poetica auf das Schaffen der Dichter ist schwer abzuschätzen ; daß sie sich an ihren Forderungen maßen, läßt sich durch eine Fülle von Zeugnissen belegen. Hier sollen nur drei repräsen tative Beispiele aus den Bereichen Lyrik, Epos und Tragödie zeigen, wie man sich an den Normen der Ars Poetica orien tierte. Ronsard empfiehlt dem Leser seiner Oden, der sich über deren Thematik wundert, immer der einschlägigen Vor schrift des Horaz (V. 83-85) eingedenk zu sein ( 1 5 87) . Ed mund Spenser nimmt für sein Versepos The Faerie Queene (1590-96) in Anspruch, mit seinem Aufbau das horazische »in medias res« (V. 148) eingelöst zu haben. Racine ist stolz darauf, mit der » simplicite d'action « · seiner Tragödie Bere nice eine der wichtigsten Forderungen der Ars Poetica er füllen zu können ( 1 6 7 1 ) . Gerade das klassische Drama der Neuzeit ist der Ars Poetica verpflichtet, am auffallendsten in seiner Gliederung : die Theorie der fünf Akte geht - außer auf eine Notiz Donats - direkt auf die Ars Poetica (V. 1 89) zurüCk. Aber es wurden nicht nur Kunstregeln beachtet, sondern die Poeten, die bis ins 1 8 . Jahrhundert hinein in der lateinischen Dichtungstradition stan den, konnten ihr Selbstporträt wie derfinden in dem horazischen Bild des >poeta doctus<, der die Gesetze seiner Kunst reflektiert, die großen Muster der Vergangenheit studiert, sein Werk im Ganzen und im Detail immer weiter zu vervollkommnen strebt, auf das kritische Urteil seiner Kollegen hört und bereit ist, Rechenschaft ab zulegen ; ein Dichterbegriff, der sich scharf von der Vorstel lung des spontanen Genies und einsamen Schöpfers unter scheidet, durch die er im 1 8 . Jahrhundert abgelöst wurde. ·
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Sowenig der horazische Dichtertyp durch die Genieepoche verdrängt wurde, so wenig sind die grundsätzlichen Pro bleme abgetan, die Horaz im zweiten Teil seiner Epistel er örtert. Vor der Frage, ob der Rang eines Dichters mehr auf Naturanlage oder Kunstbeherrschung beruhe, haben sich seit dem 16. Jahrhundert rationalistische und irrationalistische Literaturrichtungen verantwortet. Vor allem aber hat Horaz mit seiner Forderung nach der Verbindung von Unterhal tung und Nutzen eine entscheidende Frage in die Debatte um das Wesen der Dichtung geworfen, deren Beantwortung sich noch keine Zeit entziehen konnte. ,. Die Geschichte der i\sthetik läßt sich beinahe als ein dialektischer Vorgang zu sammenfassen, in dem das horazische dulce und utile, Dich tung ist süß und nützlich, als These und Gegenthese wirken« (Wellek-Warren) . Daß es sich hierbei um mehr als um eine ästhetische Frage handelt, hat die Zürcher Rede des Germa nisten Emil Staiger von 1 966, in der er die moderne Litera tur an der Horaz-Maxime mißt, und der durch sie ausgelöste Sturm leidenschaftlicher Reaktionen gezeigt. Obwohl sich die Normen der Ars Poetica heute überlebt haben, bleiben die Forderungen des Horaz bedenkenswert, wenn man sie wieder in die Fragen auflöst, die sie beant worten wollen. Die Ars Poetica, als normative Poetik be trachtet, bleibt die Rechtfertigung ihrer Grundkategorien ge nau so schuldig wie die meisten Poetiken vor und nach ihr. Sie könnte heute dadurch Interesse erwecken, daß sie als ein repräsentatives Beispiel für den Typ der klassizistischen Kunstauffassung gelten kann. Hier können nur Anregungen zu produktivem Lesen gegeben werden. Wenn wir das Kunstideal der Ars Poetica auf seine Voraussetzungen hin befragen, erkennen wir hinter den Regeln als letzte Regula tive des Dichtens u. a. die Forderungen, sich an der Natur, der Tradition, der Gesellschaft und einer bestimmten Schön heitsvorstellung zu orientieren. Diese Bejahung des All gemeinen, Dauernden, Harmonischen, auch für andere »klassische« Epochen typisch, ist auf sinngebende Einschrän kungen angewiesen. So ist unter > Natur< der Normalfall zu 64
verstehen, das Wahrscheinliche. Schon bei Horaz wird der Gegensatz, die Phantasie, welche die Wirklichkeit selbst herrlich umgestaltet, durch die eindrucksvollen Bilder vom Fabelwesen und vom Fiebertraum verdeutlicht, die von neu zeitlichen Anti-Klassikern übernommen wurden. Tradition bedeutet humanistisches Bekenntnis zu den griechischen Klas sikern, deren Gültigkeit ihren geschichtlichen Raum über steigt. Eine Rückkehr zu ihnen erscheint zwar als Fortschritt gegenüber der römischen Tradition, droht aber deren Eigen wert zu verkennen ; zugleich begünstigt die Fixierung eines übergeschichtlichen Ideals die Erstarrung in Nachahmung, wenn dieses Ideal nicht schon aus der eigenen geschichtlichen Situation heraus verstanden würde. Leitvorstellung dieser Poetik ist die Wahrung des Angemes senen (decorum), nicht nur im Hinblick auf das Wahrschein liche und das Kunstideal, sondern auch auf das gesellschaft lich Verbindliche. Daher die Abwertung genialischer Verein zelung, die Berücksichtigung des gesamten Publikums. Doch bewirkt die soziale Sensibilität des Römers gerade hier, daß aus der Bejahung des Allgemeinen seine Veränderung wird. Denn während zunächst das gesamte Theaterpublikum Schieds richter ist, wird dann das Urteil der Ritter, aus deren Reihen die führenden Dichter der Augusteischen Zeit stammen, maß gebend, bis auch diese Gruppe der Kritik nicht standhält und nur, als Glücksfall, der selbstlose Freund bleibt, eindrucks voller Hinweis darauf, daß die großen Werke der römischen Klassik die Erwartung des Publikums. nicht erfüllten, son dern erst zu sich erziehen mußten. Trotzdem wird der Wider stand nicht ohne Rücksicht auf die Gesellschaft überwunden, denn die erstrebte Synthese von ethischem Gehalt und Kunst form soll die Interessen des ganzen römischen Publikums binden, das damit wie der Dichter zu echter Kunstgesinnung erzogen wird. Was könnte diesem Verhältnis zur Umwelt und Geschichte eher entsprechen als ein Schönheitsbegriff, der das Verschie dene im umfassenden Ganzen zur Stimmigkeit bringt? Seine Stärke liegt wohl darin, daß Harmonie und Zeitlosigkeit op65
timistisch gegen herrschende Widerstände behauptet werden, das Klassische im Grunde einsame Vollkommenheit ist. Die Rolle der Ars Poetica in der europäischen Literatur läßt leicht vergessen, daß sie in erster Linie nicht eine Dichtungs poetik, sondern eine Dichtung ist (auch wenn Horaz selbst seine Satiren und Episteln nicht zur eigentlichen Dichtung gerechnet hat) . In weitaus kühnerer Weise, als seine Kunst lehren vermuten lassen, fügt er die verschiedenen Darstel lungsweisen, die vom prosaischen Rechenexempel bis zum lyrischen Naturvergleich reichen, zu einer spannungsvollen Einheit zusammen und realisiert so das, was er zur Aufgabe macht. Selbst das Zwitterwesen des Gedichtanfangs, Beispiel verfehlter Stimmigkeit, erscheint ironisch als integrierter Be standteil. Doch vor allem verrät die Konzeption des Satyr spiels als Mitte zwischen Tragödie und Komödie, bezeich nenderweise in das Zentrum der Epistel gerückt und als eigener Entwurf vertreten, das Gesetz horazischen Dichtens, die Vereinigung von Spiel und Ernst, Freiheit und Notwen digkeit, - mit den Worten seiner Florus-Epistel : Wer eine legitime Dichtung zu machen den Wunsch hat, Wird sich den Anschein des Spiels geben und wird sich drehen wie einer, Welcher den Satyr tanzt und jetzt den plumpen Zyklopen. Seit seinen Anfängen und mit wachsender Entschiedenheit unternahm es Horaz, seine Dichtung in den Dienst der Ethik zu stellen : Der Ablauf des Gedichtes befördert psychago gisch den Prozeß der Selbstfindung. Das Gedicht sollte zum rechten Leben anleiten ; mit der Ars Poetica will Horaz zum rechten Dichten führen und sieht seine Hauptaufgabe als Ratgeber darin, auf die ethische Funktion der Dichtung hin zuweisen. Er formuliert nicht nur seine Auffassung vom Ziel der Dichtkunst, sondern führt den Partner und Leser schrittweise - im ersten Teil sozusagen parallel zur Gestal tung der Dramenperson - von der anfänglichen Willkür der 66
Extreme zu einem immer strengeren Ethos der Kunst, das sich gegenüber den ausgegrenzten Bereichen von Kunstmiß achtung und Dilettantismus durchzusetzen hat. Die Ars Poetica potenziert sich zu einer Dichtung über (horazische) Dichtung. Der englische Augusteer Alexander Pope hat diese Identifizierung von Appell und Form verstanden : Yet judg'd with Coolness tho' he sang with Fire, His Precepts teach but what his Works inspire. Was die eigentliche Originalität der Ars Poetica gegenüber den anderen antiken Poetiken ausmacht, ist die Übersetzung von Dichtungstheorie in praktizierte Dichtung, eine Lei stung, welche Dichter von Hieronymus Vida (Poetica, 1 520) über Nicolas Boileau (L'A rt Pohique, 1 6 74) und Alexander Pope (An Essay an Criticism, 1 7 1 3) bis zu u. a. Pablo Neru das kleiner Arte Poetica durch ihre poetischen Poetiken auf ihre Weise zu wiederholen versucht haben.
Literaturhinweise
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