L. Annaeus Seneca
De clementia Über die Güte Lateinisch I Deutsch
Übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner
Philipp Reclam jun. Stuttgart
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 8385
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Alle Rechte vorbehalten 1970 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2007 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN 978-3-15-008385-7
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L. Annaei Senecae ad N eronem Caesarem de clementia
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1 ( 1 ) Scribere de clementia, Nero Caesar, inst1tu1, ut quodam modo speculi vice fungerer et te tibi ostende rem perventurum ad voluptatem maximam omnium. Quamvis enim recte factarum verus fructus sit fecisse nec ullum virtutum pretium dignum illis extra ipsas sit, iuvat inspicere et circumire bonam conscientiam, turn inmittere oculos in hanc inmensam multitudinem discordem, seditiosam, inpotentem, in perniciem alie nam suamque pariter exultaturam, si hoc iugum frege rit, <et) ·ita loqui secum: (2) >Egone ex omnibus mortalibus placui electusque sum, qui in terris deorum vice fungerer? Ego vitae necisque gentibus arbiter? Qualern quisque sortem sta tumque habeat, in mea manu positum est ; quid cuique mortalium fortuna datum velit, meo ore pronuntiat ; ex nostro responso laetitiae causas populi urbesque concipiunt ; nulla pars usquam nisi valente propitioque me floret; haec tot milia gladiorum, quae pax mea con primit, ad nutum meum stringentur ; quas nationes fun ditus excidi, quas transportari, quibus libertatem dari,
L. Annaeus Seneca An Kaiser Nero Ober die Güte
Erstes
Buch
1 (1 ) Ich habe mir vorgenommen, Caesar Nero, über die Güte zu schreiben, um sozusagen die Rolle eines Spiegels zu spielen und dir zu zeigen, daß du zu der höchsten aller Freuden gelangen wirst. Mag noch so sehr nämlich der wahre Genuß rechten Handeins darin bestehen, es getan zu haben, mag es keinen der Tugen den würdigen Lohn außerhalb ihrer selbst geben, so ist es doch erfreulich, einen Blick in das gute Gewissen zu tun und es zu mustern, danach aber die Augen zu rich ten auf diese unermeßliche Menge, die da uneins, zwie trächtig, unbeherrscht ist und bereit, sich zu fremdem und eigenem Verderben aufzubäumen, wenn sie dieses Joch zerbricht, und also bei sich zu sprechen : (2) >Ich von allen Sterblichen gefiel und wurde er wählt, auf Erden die Rolle der Götter zu spielen? Ich bin für die Völker Herr über Leben und Tod? Welches Los und welchen Zustand jeder hat, ist in meine Hand gelegt? Was einem jeden der Sterblichen die Schicksals göttin verliehen haben will, verkündet sie durch mei nen Mund? Aus unserem Bescheid empfangen Völker und Städte den Grund zur Freude? Kein Teil steht irgendwo in Blüte, außer wenn ich es will und geneigt bin? Diese so viel tausend Schwerter, die mein Friede bändigt, werden auf meinen Wink gezückt werden? Welche Völkerschaften von Grund aus ausgetilgt, wel che umgesiedelt, welchen die Freiheit gegeben, welchen
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quibus eripi, quos reges mancipia fieri quorumque ca piti regium circumdari decus oporteat, quae ruant ur bes, quae oriantur, mea iuris dictio est. (3) In hac tanta facultate rerum non ira me ad iniqua supplicia con pulit, non iuvenilis inpetus, non temeritas hominum et contumacia, quae saepe tranquillissimis quoque pecto ribus patientiam extorsit, non ipsa ostentandae per ter rores potentiae dira, sed frequens magnis inperiis glo ria. Conditum, immo constrictum apud me ferrum est, summa parsimonia etiam vilissimi sanguinis ; nemo non, cui alia desunt, hominis nomine apud me gratio sus est. ( 4) Severitatem abditam, at clementiam in pro cinctu habeo ; sie me custodio, tamquam legibus, quas ex situ ac tenebris in lucem evocavi, rationem redditu rus sim. Alterius aetate prima motus sum, alterius ultima; alium dignitati donavi, alium humilitati ; quo tiens nullam inveneram misericordiae causam, mihi peperci. Hodie dis inmortalibus, si a me rationem repe tant, adnumerare genus humanum paratus sum.< (5) Potes hoc, Caesar, audacter praedicare omnia, quae in fidem tutelam(que tuam venerunt, tuta ha)beri, nihil per te neque vi neque clam ( damni par )ari rei publicae. Rarissimam laudem et nulli adhuc principum conces sam concupisti, innocentiam. Non perdit operam nec bonitas ista tua singularis ingratos aut malignos aesti matores nancta est. Refertur tibi gratia ; nemo unus
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sie entrissen, welche Könige Sklaven werden und wel cher Männer Haupt die Krone aufgesetzt werden muß, welche Städte einstürzen, welche entstehen sollen, ist mein Rechtsspruch. (3) In dieser so großen Verfü gungsgewalt hat mich nicht zornige Leidenschaft zu ungerechten Strafen getrieben, nicht jugendliches Un gestüm, nicht die Unbedachtheit und der Starrsinn der Menschen, die oft auch den ruhigsten Gemütern die Geduld entwinden, selbst nicht die grauenhafte, aber bei großen Befehlsgewalten häufig zu findende Ruhm sucht, die Macht durch Schrecken zur Schau zu tragen. Eingesteckt, nein gefesselt ist bei mir das Schwert, höchste Sparsamkeit herrscht auch gegenüber dem wertlosesten Blut. Jeder, auch wenn ihm anderes fehlt, ist bei mir doch im Namen des Menschseins in meiner Gunst. ( 4) Strenge halte ich verborgen, Güte hingegen bereit. Ich achte so auf mich, als ob ich den Gesetzen, die ich aus Moder und Finsternis ins Licht gerufen habe, Rechenschaft ablegen müßte. Durch des einen frühes Alter ließ ich mich bewegen, durch des anderen zu Ende gehendes. Einen machte ich seiner hohen Stel lung zum Geschenk, einen andern seiner niedrigen. So oft ich keinen Grund für Mitleid fand, schonte ich mich selber. Heute noch bin ich bereit, den unsterblichen Göttern, wenn sie von mir Rechenschaft fordern soll ten, das Menschengeschlecht herzuzählen ! < ( 5 ) D u kannst dies, Caesar, kühn rühmen, daß alles, was unter deinen Schutz und in deine Obhut (kam, sorgfältig behütet) wird, daß in keiner Weise durch dich weder durch Gewalt noch versteckt dem Gemein wesen (ein Verlust zugefügt) wird. Das seltenste Lob, eines, das bis jetzt noch keinem der Kaiser zugestanden worden ist, hast du begehrt, die Unschuld. Deine Mühe ist nicht vergebens, und diese deine einzigartige Güte hat nicht undankbare oder böswillige Kritiker gefun den. Erstattet wird dir Dank : kein einzelner Mensch
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homo uni homini tarn carus umquam fuit, quam tu populo Romano, magnum longumque eius bonum. (6) Sed ingens tibi onus inposuisti; nemo iam divum Augustum nec Ti. Caesaris prima tempora loquitur nec, quod te imitari velit, exemplar extra te quaerit : principatus tuus ad gust(at)um exigitur. Difficile hoc fuisset, si non naturalis tibi ista bonitas esset, sed ad tempus sumpta. Nemo enim potest personam diu ferre, ficta cito in naturam suam recidunt ; quibus veritas subest quaeque, ut ita dicam, ex solido enascuntur, tempore ipso in maius meliusque procedunt. (7) Ma gnam adibat aleam populus Romanus, euro incertum esset, quo se ista tua nobilis indoles daret ; iam vota publica in tuto sunt; nec enim periculum est, ne te su bita tui capiat oblivio. Facit quidem avidos nimia feli citas, nec tarn temperatae cupiditates sunt umquam, ut in eo, quod contingit, desinant ; gradus a magnis ad maiora fit, et spes inprobissimas conplectuntur inspe rata adsecuti ; omnibus tarnen nunc civibus tuis et haec confessio exprimitur esse felices et illa nihil iam his accedere bonis posse, (nisi) ut perpetua sint. (8) Multa illos cogunt ad hanc confessionem, qua nulla in homine tardior est : securitas alta, adfluens, ius supra omnem iniuriam positum ; obversatur oculis laetissima forma rei publicae, cui ad summam libertatem nihil deest nisi pereundi licentia. (9) Praecipue tarnen aequalis ad
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war einem einzelnen Menschen je so lieb wie du dem römischen Volke, sein bedeutendes und langwährendes Gut. (6) Aber du hast dir eine ungeheure Last aufer legt: niemand spricht schon mehr vom vergöttlichten Augustus und von den ersten Zeiten des Kaisers Tibe rius. Niemand sucht das Vorbild, das er dich nach ahmen sehen möchte, außerhalb deiner : deine Regie rung als Princeps wird nach dem Vorbild der eben ge kosteten gefordert. Das wäre schwierig gewesen, wenn dein Gutsein dir nicht angeboren wäre, sondern nach den Umständen angenommen. Niemand nämlich kann lange eine Maske tragen. Vorgespiegeltes sinkt schnell in seine wahre Natur zurück. Was von wahrem Wesen gestützt wird und was, wenn ich so sagen darf, aus festem Boden entsteht, entwickelt sich gerade mit der Zeit zum Größeren und Besseren hin. (7) Ein großes Glücksspiel begann für das römische Volk, als noch unbestimmt war, in welche Richtung deine edle Anlage gehen würde : jetzt sind die Wünsche des Volkes in Sicherheit. Denn es besteht keine Gefahr, daß dich plötzliches Vergessen deiner selbst befiele. Gewiß macht allzu großes Glück gierig, und nie sind die Begierden so gemäßigt, daß sie bei dem, was zufällt, aufhören. Der Schritt geht vom Großen zum Größeren, und bö seste Hoffnungen hegen die, welche Unverhofftes er langten : doch allen deinen Bürgern wird jetzt erstens das Geständnis entwunden, daß sie glücklich sind, zum andern jenes, daß nicht mehr zum jetzigen Guten hin zukommen kann, ( außer) daß es dauernd ist. {8) Vie les zwingt sie zu diesem Geständnis, das zögerndste, das es im Menschen gibt : die Sicherheit in ihrer Tiefe, in ihrem überfluß, das Recht, das über allem Unrecht steht. Entgegen tritt den Augen die glanzvollste Ge stalt eines Gemeinwesens, dem zur höchsten Freiheit nichts fehlt als die Erlaubnis, zugrunde zu gehen. (9) Vorzüglich aber dringt in gleicher Weise zu den
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maximos imosque pervenit clementiae tuae admiratio ; cetera enim bona pro portione fortunae suae quisque sentit aut expectat maiora minoraque, ex clementia omnes idem sperant ; nec est quisquam, cui tarn valde innocentia sua placeat, ut non stare in conspectu cle mentiam paratarn humanis erroribus gaudeat. 2 ( 1 ) Esse autem aliquos scio, qui clementia pessi mum quemque putent sustineri, quoniam nisi post cri men supervacua est et sola haec virtus inter innocentes cessat. Sed primum omnium, sicut medicinae apud aegros usus, etiam apud sanos honor est, ita clemen tiam, quamvis poena digni invocent, etiam innocentes colunt. Deinde habet haec in persona quoque innocen tium locum, quia interim fortuna pro culpa est ; nec innocentiae tantum clementia succurrit, sed saepe vir tuti, quoniam quidem condicione temporum incidunt quaedam, quae possint laudata puniri. Adice, quod magna pars hominum est, quae reverti ad innocentiam possit. (2) Sed non tarnen volgo ignoscere decet; nam ubi discrimen inter malos bonosque sublatum est, con fusio sequitur et vitiorum eruptio ; itaque adhibenda moderatio est, quae sanabilia ingenia distinguere a deploratis sciat. Nec promiscuam habere ac volgarem clementiam oportet nec abscisam ; nam tarn omnibus ignoscere crudelitas quam nulli. Modum tenere debe mus ; sed quia difficile est temperamentum, quidquid aequo plus futurum est, in partem humaniorem prae ponderet. 3 ( 1 ) Sed haec suo melius loco dicentur. Nunc in tres partes omnem hanc materiam dividam. Prima erit
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Größten wie zu den Niedrigsten die Bewunderung dei ner Güte. Die übrigen Güter spürt nämlich jeder ent sprechend dem Anteil seiner Glücksumstände oder er wartet größere und geringere : von deiner Güte erhof fen alle dasselbe, und es gibt niemanden, dem seine Unschuld so sehr gefällt, daß er sich nicht darüber freute, daß im Gesichtskreis bereit für menschliches Irren die Güte steht. 2 ( 1 ) Ich weiß, es gibt manche, die meinen, daß durch Güte gerade die Schlechtesten unterstützt werden, da sie ja außer nach einem Vergehen überflüssig ist und allein diese Tugend unter Unschuldigen säumig ist. Aber zunächst vor allem : wie die Heilkunst bei den Kranken Nutzen, auch bei den Gesunden Ehre hat, so ehren die Güte, obwohl sie die Strafwürdigen anrufen, auch die Unschuldigen. Dann hat sie ihren Platz auch bei der Person der Unschuldigen, weil inzwischen das Glück als Schuld gilt und nicht nur der Unschuld die Güte zu Hilfe eilt, sondern häufig auch der Vortreff lichkeit, da ja durch die Lage der Umstände manches eintritt, was, obwohl löblich, bestraft werden könnte. Füge hinzu, daß es einen Großteil Menschen gibt, die zur Unschuld zurückkehren können. (2) Freilich ist es nicht richtig, ganz allgemein Nachsicht zu gewähren. Denn wo der Unterschied zwischen Guten und Bösen aufgehoben ist, folgt Chaos und Ausbruch der Laster : darum muß man Mäßigung anwenden, die heilbare Art von hoffnungsloser zu trennen weiß, und man darf weder eine vermengte und gewöhnliche Güte üben noch eine verkürzte. Denn es ist ebenso Roheit, allen zu ver zeihen wie keinem. Maß müssen wir halten. Aber weil das Abwägen schwierig ist, soll sich alles, was mehr als ausgewogen sein wird, zum menschlicheren Teil neigen. 3 ( 1 ) Darüber wird aber besser an seiner Stelle ge sprochen werden. Jetzt werde ich den ganzen Stoff in drei Teile gliedern : der erste wird der menschlichen
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manae condicionis ) ; secunda, quae naturam clementiae habitumque demonstret : nam cum sint vitia quaedam virtutes imitantia, non possunt secerni, nisi signa, qui bus dinoscantur, inpresseris ; tertio loco quaeremus, quomodo ad hanc virtutem perducatur animus, quo modo confirmet eam et usu suam faciat. (2) Nullam ex omnibus virtutibus homini magis con venire, cum sit nulla humanior, constet necesse est non solum inter nos, qui hominem sociale animal communi bono genitum videri volumus, sed etiam inter illos, qui hominem voluptati donant, quorum omnia dicta facta que ad utilitates suas spectant; nam si quietem petit et otium, hanc virtutem (ad finem) naturae suae nanctus est, quae pacem amat et manus retinet. {3) Nullum tarnen clementia ex omnibus magis quam regem aut principem decet. Ita enim magnae vires decori gloriae que sunt, si illis salutaris potentia est ; nam pestifera vis est valere ad nocendum. Illius demum magnitudo sta bilis fundataque est, quem omnes tarn supra se esse quam pro se sciunt, cuius curam excubare pro salute singulorum atque universorum cottidie experiuntur, quo procedente non, tamquam malum aliquod aut noxium animal e cubili prosilierit, diffugiunt, sed tam quam ad darum ac beneficum sidus certatim advolant, obicere se pro illo mucronibus insidiantium paratissimi et substernere corpora sua, si per stragem illi humanam iter ad salutem struendum sit. Somnum eius nocturnis
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Lage gewidmet sein. Der zweite wird der sein, der das Wesen der Güte und ihre Haltung darlegt ; denn da es bestimmte Laster gibt, welche Tugenden vortäuschen, können sie nicht abgetrennt werden, wenn du nicht Kennzeichen, durch die sie auseinandergehalten wer den, aufprägst. An dritter Stelle werden wir unter suchen, wie der Sinn zu dieser Tugend hingeführt wird, wie er sie stärkt und durch Übung sich zu eigen macht. (2) Daß aber keine von allen Tugenden dem Men schen angemessener ist, da keine menschlicher ist, muß notwendig feststehen nicht nur unter uns, die wir be haupten, daß der Mensch, das Gemeinschaftswesen, zum gemeinsamen Wohl erzeugt scheine, sondern auch unter jenen, die den Menschen der Lust überantworten, deren Taten und Worte alle auf ihren eigenen Nutzen gerichtet sind : denn wenn er Ruhe und Muße erstrebt, hat er diese Tugend (für die Vollendung) seiner Natur erlangt, die den Frieden liebt und die Hand zügelt. (3) Niemandem von allen steht aber die Güte besser an als dem König oder dem führenden Mann. So erst nämlich sind große Kräfte Schmuck und Ruhm, wenn sie eine heilsame Macht besitzen. Denn eine verderb liche Gewalt ist es, stark zu sein, um zu schaden. Jenes �annes Größe erst ist fest und gegründet, von dem alle wissen, daß er ebenso über ihnen wie für sie steht, des sen Sorge nach ihrer täglichen Erfahrung zum Heil der einzelnen und der Gesamtheit wacht, bei dessen Er scheinen sie nicht, als ob ein böses oder schädliches Tier aus seinem Lager hervorgesprungen wäre, auseinander flüchten, sondern wie zu einem hellen und wohltätigen Gestirn um die Wette herbeifliegen, bereit, sich für jenen den Dolchen seiner ihm nachstellenden Feinde entgegenzuwerfen und ihre Leiber hinzubreiten, wenn jener durch eine hingestreckte Masse von Menschen den Weg zur Rettung bereiten muß. Seinen Schlaf beschützen sie durch nächtliche Wachen. Sich entgegen-
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excubiis muniunt, latera obiecti circumfusique defen dunt, incurrentibus periculis se obponunt. ( 4) Non est hic sine ratione populis urbibusque consensus sie prote gendi amandique reges et se suaque iactandi, quocum que desideravit inperantis salus ; nec haec vilitas sui est aut dementia pro uno capite tot milia excipere ferrum ac multis mortibus unam animam redimere nonnum quam senis et invalidi. (5) Quemadmodum totum cor pus animo deservit et, cum h oc tanto maius tantoque speciosius sit, ille in occulto maneat tenuis et in qua sede latitet incertus, tarnen manus, pedes, oculi nego tium illi gerunt, illum haec cutis munit, illius iussu iacemus aut inquieti discurrimus, cum ille inperavit, sive avarus dominus est, mare lucri causa scrutamur, sive ambitiosus, iam dudum dextram flammis obieci mus aut voluntariam (in mortem) subsiluimus, sie haec inmensa multitudo unius animae circumdata illius spiritu regitur, illius ratione flectitur pressura se ac fractura viribus suis, nisi consilio sustineretur. 4 ( 1 ) Suam itaque incolumitatem amant, cum pro uno homine denas Iegiones in aciem deducunt, cum in primam frontem procurrunt et adversa volneribus pec tora ferunt, ne inperatoris sui signa vertantur. Ille est enim vinculum, per quod res publica cohaeret, ille spi ritus vitalis, quem haec tot milia trahunt nihil ipsa per se futura nisi onus et praeda, si mens illa inperii sub trahatur.
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werfend und ihn umringend, verteidigen sie seine Flan ken. Hereinbrechenden Gefahren stellen sie sich ent gegen. ( 4) Nicht ohne Sinn ist für die Völker und Städte diese Einmütigkeit, so die Könige zu beschützen und zu lieben und sich und ihre Habe wegzuwerfen, wohin immer das Heil des Herrschenden es verlangte. Und dies ist kein Minderwertigkeitsgefühl oder Wahn sinn, daß so viele Tausende für ein Haupt den Schwert streich empfangen und für den Tod vieler ein einziges Leben erkaufen, bisweilen das eines Greises und Schwa chen. (5) Wie der ganze Körper der Seele dienstbar ist und, obwohl dieser so viel größer und so viel ansehn licher ist, jene im Verborgenen bleibt, fein und unge wiß, in welchem Sitz sie sich versteckt, doch die Hände, Füße und Augen für sie das Geschäft führen, diese Haut jene beschützt, wir auf ihren Befehl liegen oder unruhig auseinanderlaufen, wenn jene befiehlt, sei es, daß sie ein habgieriger Herr ist, wir das Meer um Ge winn durchstöbern, sei's, daß sie ehrgeizig ist, wir schon längst die Rechte ins Feuer gesteckt haben oder (in) einen freiwilligen (Tod) gesprungen sind : so wird diese unermeßli<.he Menge, sich scharend um das Leben eines einzigen, durch seinen Atem regiert, durch seine Ver nunft gelenkt, durch die eigenen Kräfte sich nieder drückend und zerbrechend, wenn sie nicht durch Herr scherweisheit aufrechterhalten würde. 4 ( 1 } Die eigene Unversehrtheit also lieben sie, wenn sie zum Schutze eines einzigen Menschen zehn Legio nen in die Schlacht führen, wenn sie in die erste Reihe vorstürmen und den Wunden die Brust entgegenwer fen, damit die Feldzeichen des Herrschers nicht in die Flucht geschlagen werden. Jener ist nämlich das Band, durch das das Gemeinwesen zusammenhält, er der Lebensatem, den diese so vielen Tausende einziehen, selbst nichts für sich als Last und Beute darstellend, wenn jener Geist der Befehlsgewalt entzogen wird.
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>Rege incolumi mens omnibus una, amisso rupere fidem.< (2) Hic casus Romanae pacis exltlum erit, hic tanti fortunam populi in ruinas aget ; tarn diu ab isto peri culo aberit hic populus, quam diu seiet ferre frenos, quos si quando abruperit vel aliquo casu discussos re poni sibi passus non erit, haec unitas et hic maximi inperii contextus in partes multas dissiliet, idemque huic urbi finis dominandi erit, qui parendi fuerit. (3) Ideo principes regesque et quocumque alio nomine sunt tutores status publici non est mirum amari ultra privatas etiam necessitudines; nam si sanis hominibus publica privatis potiora sunt, sequitur, ut is quoque carior sit, in quem se res publica convertit. Olim enim ita se induit rei publicae Caesar, ut seduci alterum non posset sine utriusque pernicie; nam et illi viribus opus est et huic capite. 5 ( 1 ) Longius videtur recessisse a proposito oratio mea, at mehercules rem ipsam premit. Nam si, quod adhuc colligit, tu animus rei publicae tuae es, illa cor pus tuum, vides, ut puto, quam necessaria sit clemen tia ; tibi enim parcis, cum videris alteri parcere. Par cendum itaque est etiam inprobandis civibus non aliter quam membris languentibus, et, si quando misso san guine opus est, sustinenda est (manus), ne ultra, quam necesse sit, incidat. (2) Est ergo, ut dicebam, clementia
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>Solange der König am Leben, ist allen ein einziges Sinnen: ist er verloren, so brechen die Treue sie.< (2) Dieses Unglück wird das Ende des römischen Friedens sein, dieses wird das Glück eines so großen Volkes in Trümmer stürzen. So lange wird dieses Volk von dieser Gefahr fern sein, als es versteht, die Zügel zu tragen. Hat es sie einmal zerrissen oder duldet es nicht, daß sie ihm wieder aufgelegt werden, wenn sie durch irgendein Ereignis abgeschüttelt wurden, wird diese Einheit und dieses Gefüge der größten Herrschaft in viele Teile zerspringen und für diese Stadt wird das Ende des Herrschens dasselbe wie des Gehorchens sein. (3) Darum ist es nicht sonderbar, daß die führenden Ylänner, die Könige und mit welchen Namen auch sonst noch die Schützer des öffentlichen Zustandes ge nannt werden, selbst über persönliche Beziehungen hin aus geliebt werden. Denn wenn von Menschen gesun den Sinnes das öffentliche dem Privaten vorgezogen wird, folgt, daß auch der ihnen teuerer ist, auf den sich das Gemeinwesen hinwendet : seit langem nämlich hat sich der Caesar so in das Gemeinwesen eingefügt, daß eines ohne beider Verderben nicht abgetrennt werden kann. Denn wie jener die Kräfte nötig hat, so dieses das Haupt. 5 ( 1 ) Zu weit seheint meine Rede von meinem Vor satz abgewichen zu sein, aber beim Hercules, sie ist am Kern der Sache. Denn wenn du, was sie aus dem Bis herigen schließt, die Seele des Gemeinwesens bist, jenes dein Körper, siehst du, denke ich, wie unumgäng lich Güte ist : du schonst nämlich dich, wenn du den andern zu schonen scheinst. Schonen mußt du darum auch die verwerflichen Bürger nicht anders als kranke Glieder, und wenn einmal ein Aderlaß notwendig ist, mußt du die Hand in der Schwebe halten, damit sie nicht weiter als notwendig einschneidet. (2) Es ist also,
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omnibus quidem hominibus secundum naturam, maxi me tarnen decora inperatoribus, quanto plus habet apud illos, quod servet, quantoque in maiore materia adparet. Quantulum enim nocet privata crudelitas ! principum saevitia bellum est. (3) Cum autem virtuti bus inter (se sit) concordia nec ulla altera melior aut honestior sit, quaedam tarnen quibusdam personis ap tior est. Decet magnanimitas quemlibet mortalem, etiam illum, infra quem nihil est ; quid enim maius aut fortius quam malam fortunam retundere? haec tarnen magnanimitas in bona fortuna laxiorem locum habet meliusque in tribunali quam in plano conspicitur. (4) Clementia, in quamcumque domum pervenerit, eam felicem tranquillamque praestabit, sed in regia, quo rarior, eo mirabilior. Quid enim est memorabilius quam eum, cuius irae nihil obstat, cuius graviori sen tentiae ipsi, qui pereunt, adsentiuntur, quem nemo interpellaturus est, immo, si vehementins excanduit, ne deprecaturus est quidem, ipsum sibi manum inicere et potestate sua in melius placidiusque uti hoc ipsum cogitantem : >Üccidere contra legem nemo non potest, servare nemo praeter me?< (5) Magnam fortunam ma gnus animus decet, qui, nisi se ad illam extulit et altior stetit, illam quoque infra [ terram] deducit ; magni autem animi proprium est placidum esse tranquillum que et iniurias atque offensiones superne despicere. Muliehre est furere in ira, ferarum vero nec generosa rum quidem praemordere et urguere proiectos. Ele phanti leonesque transeunt, quae inpulerunt ; ignobilis bestiae pertinacia est. (6) Non decet regem saeva nec inexorabilis ira, non multum enim supra eum eminet,
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wie ich sagte, die Güte allen Menschen naturgemäß, am meisten aber steht sie den Herrschern zu Gesicht, je mehr sie bei ihnen findet, was sie erhalten kann, und in je größerem Stoff sie erscheint. Was schadet schon pri vate Grausamkeit? Das Wüten der führenden Männer ist Krieg. (3) Obwohl aber andrerseits Eintracht der Tugenden untereinander herrscht und keine besser oder sittlicher als die andere ist, ist manche doch mehr mit gewissen Personen verbunden: Hochsinnigkeit ziemt sich für jeden Sterblichen, auch für den, unter dem nichts ist. Was gibt es nämlich Größeres oder Tapfereres als ein schlimmes Schicksal zurückzuschlagen? Diese Bach sinnigkeit hat aber bei gutem Geschick ein freieres Feld und wird besser auf der Gerichtsbühne als dem ebenen Zuschauerraum sichtbar. (4) Die Güte macht jedes Haus, in das sie eintritt, glücklich und ruhig, im Palast aber ist sie, je seltener, um so bewunderungswür diger. Was gibt es denn Denkwürdigeres, als daß der, dessen Zorn nichts hindert, dessen zu hartem Spruch selbst die, welche zugrunde gehen, zustimmen, den niemand unterbrechen wird, vielmehr, sobald er hefti ger in Glut gerät, nicht einmal anflehen wird, sich selbst Hand anlegt und seine Macht zum Besseren und Fried licheren nutzt, eben dies bedenkend : >Töten kann jeder gegen das Gesetz, bewahren niemand außer mir. < (5) Einem großen Schicksal ziemt ein hoher Sinn. Hebt dieser sich nicht zu jenem empor, zieht er auch jenes nach unten [zur Erde ] . Es ist aber einem hohen Sinn eigentümlich, friedlich und ruhig zu sein und Un recht und Beleidigungen von oben herab zu verachten. Weibisch ist es, im Zorne zu rasen, Art von Tieren gar und nicht einmal edler, die Niedergeworfenen anzu fressen und zu bedrängen. Elefanten und Löwen gehen an dem vorbei, was sie geschlagen haben : Hartnäckig keit ist Sache einer unedlen Bestie. (6) Nicht ziemt sich für einen König wilder und unerbittlicher Zorn. Nicht
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cui se irascendo exaequat ; at si dat vitam, (si) dat di gnitatem periclitantibus et meritis amittere, facit, quod nulli nisi rerum potenti licet ; vita enim etiam superiori eripitur, numquam nisi inferiori datur. (7) Servare pro prium est excellentis fortunae, quae numquam magis suspici debet, quam cum illi contigit idem posse quod dis, quorum beneficio in lucem edimur tarn boni quam mali. Deorum itaque sibi animum adserens princeps alios ex civibus suis, quia utiles bonique sunt, libens videat, alios in numerum relinquat ; quosdam esse gau deat, quosdam patiatur. 6 ( 1 ) Cogitato, in hac civitate, in qua turba per latis sima itinera sine intermissione defluens eliditur, quo tiens aliquid obstitit, quod cursum eius velut torrentis rapidi moraretur, in qua tribus eodem tempore theatris viae postulantur, in qua consumitur, quidquid terris omnibus aratur, quanta solitudo ac vastitas futura sit, si nihil relinquitur, nisi quod iudex severus absolverit. (2) Quotus quisque ex quaesitoribus est, qui non ex ipsa ea lege teneatur, qua quaerit? quotus quisque accu sator vacat culpa? Et nescio, an nemo ad dandam veniam difficilior sit, quam qui illam petere saepius meruit. (3) Peccavimus omnes, alii gravia, alii leviora, alii ex destinato, alii forte inpulsi aut aliena nequitia ablati ; alii in bonis consiliis parum fortiter stetimus et innocentiam inviti ac retinentes perdidimus ; nec deli-
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viel nämlich ragt er über den hinaus, dem er sich mit seinem Zürnen gleichmacht. Aber wenn er Leben, wenn er Stellung denen verleiht, die in Gefahr sind und ver dienen, sie zu verlieren, tut er etwas, das nur dem Mächtigen erlaubt ist. Das Leben nämlich wird auch dem Höheren entrissen, niemals gegeben außer dem Niederen. (7) Retten ist eigentümlich einem hervor ragenden Geschick. Dieses muß nirgends mehr verehrt werden, als wenn ihm zuteil ward, dasselbe zu können wie die Götter, durch deren Wohltat wir ans Licht ge langen, Gute wie Schlechte. Den Sinn der Götter lege der führende Mann sich daher zu und sehe die einen von seinen Bürgern, weil sie nützlich und gut sind, gern an, andere lasse er zur Vollständigkeit übrig; er freue sich, daß manche leben, bei manchen dulde er es. 6 ( 1 ) überlege, in dieser Stadt, in der die Masse, über die breitesten Straßen ohne Unterlaß hereinströmend, aus der Bahn geworfen wird, sooft etwas im Wege war, was ihren Lauf wie den eines reißenden Sturz baches aufhielt ; in der zu gleicher Zeit für drei Theater Zufahrten gefordert werden ; in der man verzehrt, was in allen Ländern angebaut wird : welche Einöde und Wüste wird entstehen, wenn nichts übrigbleibt, außer was ein strenger Richter freispricht. (2) Wie wenige sind unter den Untersuchungsrichtern, die nicht unter dem Bann eben desselben Gesetzes stehen, nach dem sie untersuchen? Wie wenige Ankläger sind frei von Schuld? Und vielleicht macht niemand mehr Schwierig keiten, wenn es gilt, Verzeihung zu gewähren, als der, der öfter verdient hat, um sie nachzusuchen. (3) Wir haben uns alle vergangen, die einen schwerer, die ande ren leichter, die einen aus Vorsatz, andere durch den Zufall angestoßen oder durch die Schlechtigkeit wie derum anderer fortgerissen ; andere von uns sind in guten Entschlüssen zu wenig standhaft geblieben und haben die Unschuld gegen ihren Willen und widerstre-
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quimus tantum, sed usque ad extremum aevi delinque mus. (4) Etiam si quis tarn bene iam purgavit animum, ut nihil abturbare eum amplius possit ac fallere, ad innocentiam tarnen peccando pervenit. 7 (1) Quoniam deorum feci mentionem, optime hoc exemplum principi constituam, ad quod formetur, ut se talem esse civibus quales sibi deos velit. Expedit ergo habere inexorabilia peccatis atque erroribus numina, expedit usque ad ultimam infesta perniciem ? Et quis regum erit tutus, cuius non membra haruspices colli gant? (2) Quod si di placabiles et aequi delicta poten tium non statim fulminibus persecuntur, quanto aequius est hornirrem hominibus praepositum miti animo exer cere inperium et cogitare, uter mundi status gratior oculis pulchriorque sit, sereno et puro die, an cum fra goribus crebris omnia quatiuntur et ignes hinc atque illinc micant ! Atqui non alia facies est quieti moratique inperii quam sereni caeli et nitentis. (3) Crudele re gnum turbidum tenebrisque obscurum est inter tremen tes et ad repentinum saniturn expavescentes ne eo qui dem, qui omnia perturbat, inconcusso. Facilius privatis ignoscitur pertinaciter se vindicantibus ; possurrt enim laedi, dolorque eorum ab iniuria venit; timent praete rea contemptum, et non rettulisse laedentibus gratiam infirmitas videtur, non clementia; at cui ultio in facili est, is omissa ea certarn laudem mansuetudinis conse quitur. ( 4) Humili loco positis exercere man um, liti-
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bend verloren ; und haben nicht nur gefehlt, sondern werden bis zum Ende des Lebens fehlen. ( 4) Auch wenn einer sein Herz so gut gereinigt hat, daß nichts es mehr trüben und täuschen kann, sind wir doch zur Unschuld durch Vergehen gekommen. 7 ( 1 ) Da ich der Götter Erwähnung getan, werde ich dem Princeps am besten dieses Vorbild aufstellen, nach dem er sich bilden soll, daß er so geartet für die Bürger sein will, wie er für sich die Götter wünscht. Ist es nun nützlich für Vergehen und Irrungen, die Götter un erbittlich, ist es nützlich, sie feindlich bis zum letzten Verderben zu haben? Und wer von den Königen ist sicher, daß die Haruspices nicht einmal seine Gebeine sammeln? (2) Wenn aber versöhnliche und gerechte Götter die Vergehen der Mächtigen nicht sogleich mit Blitzen verfolgen, wieviel gerechter ist es dann, daß ein Mensch, über Menschen gesetzt, mit milder Sinnes art die Herrschermacht ausübt und bedenkt, ob der Zustand der Welt angenehmer für das Auge und schö ner ist an einem heiteren und reinen Tage oder wenn alles von häufigem Krachen erschüttert wird und die Feuer hier und da aufblitzen ! Nicht anders jedoch ist das Gesicht einer ruhigen und gesitteten Herrschaft als das eines heiteren und strahlenden Himmels. (3) Ein grausames Königtum ist aufgewühlt und durch Finster nis verdunkelt, unter Zitternden und bei einem plötz lichen Laut Aufschreckenden, während auch der, wel cher alles aufwühlt, nicht unerschüttert bleibt. Leichter verzeiht man Privatleuten, die sich hart näckig rächen. Sie können nämlich verletzt werden, und ihr Schmerz kommt von angetanem Unrecht. Außerdem fürchten sie Mißachtung, und denen, die sie verletzen, nicht entsprechend vergolten zu haben scheint Schwäche, nicht Güte. Aber wem eine Vergeltung leichtgemacht ist, der erlangt, wenn er darauf verzich tet, den Ruhm der Sanftheit. (4) Für Niedriggestellte
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gare, in rixam procurrere ac morem irae suae gerere liberius est ; leves inter paria ictus sunt ; regi vociferatio quoque verborumque intemperantia non ex maiestate est. 8 (1) Grave putas eripi loquendi arbitrium regibus, quod humillimi habent. > lsta< inquis >servitus est, non inperium.< Quid ? tu non experiris istud esse nobis, tibi servitutem? Alia condicio est eorum, qui in turba, quam non excedunt, latent, quorum et virtutes, ut ad pareant, diu luctantur et vitia tenebras habent; vestra facta dictaque rumor excipit, et ideo nullis magis curandum est, qualem famam habeant, quam qui, qualemcumque meruerint, magnam habituri sunt. (2) Quam multa tibi non licent, quae nobis beneficio tuo licent! Possum in qualibet parte urbis solus ince dere sine timore, quamvis nullus sequatur comes, nullus sit domi, nullus ad Iatus gladius ; tibi in tua pace arma to vivendum est. Aberrare a fortuna tua non potes ; obsidet te et, quocumque descendis, magno adparatu sequitur. (3) Est haec summae magnitudinis servitus non posse fieri minorem; sed cum dis tibi communis ipsa necessitas est. Nam illos quoque caelum adligatos tenet, nec magis illis descendere datum est quam tibi tuturn ; fastigio tuo adfixus es. ( 4) Nostros motus pauci sentiunt, prodire nobis ac recedere et mutare habitum sine sensu publico licet ; tibi non magis quam soli latere
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besteht freiere Möglichkeit, die Fäuste zu brauchen, zu streiten, bis zur Prügelei zu gehen und ihrem Zorn zu willfahren. Unbedeutend sind Hiebe unter seinesglei chen : für den König ist sogar lautes Sprechen und Un beherrschtheit in Worten nicht seiner Größe ent sprechend. 8 ( 1) Du hältst es für belastend, daß den Königen die freie Verfügung über das Sprechen entrissen wird, die auch die Niedrigsten besitzen? >Das ist Knecht schaft<, sagst du, micht Herrschaft.< Wie, machst du nicht die Erfahrung, daß diese uns zufällt, dir die Knechtschaft? Anders ist die Lage derer, die in der Masse, aus der sie nicht herauskommen, verborgen sind, deren Vorzüge lange ringen, um zum Vorschein zu kommen, und deren Laster den Schutz der Dunkelheit genießen: eure Taten und Worte nimmt das Geraune auf, und darum muß sich niemand mehr darum küm mern, welchen Ruf er hat, als der, welcher, was er auch immer für einen sich verdient, einen weitreichenden haben wird. (2) Wieviel ist dir nicht erlaubt, was uns durch deine Wohltat erlaubt ist! Ich kann in jedem be liebigen Teil der Stadt allein ohne Furcht einhergehen, obwohl kein Begleiter folgt, kein Schwert daheim, kei nes an meiner Seite ist ; du mußt in deinem Frieden bewaffnet leben. Abzuirren von deiner Stellung ist dir nicht möglich. Sie hält dich besetzt, und wohin du im mer hinabsteigst, folgt sie dir mit großem Aufwand. (3) Dies ist die Knechtschaft höchster Größ e : nicht kleiner werden zu können. Aber du teilst diesen Zwang mit den Göttern. Denn auch sie hält der Himmel an gebunden, und herabzusteigen ist ebensowenig ihnen erlaubt, wie sicher für dich. Du bist an deine Höhe an geheftet. (4) Unsere Bewegungen spüren wenige. Uns ist es erlaubt, auszugehen, zurückzukehren und die Er scheinung zu wechseln ohne öffentliches Bemerken : dir wird es ebensowenig wie der Sonne zuteil, verborgen
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contingit. Multa contra te lux est, omnium in istam conversi oculi sunt ; prodire te put(a)s? oreris. (5) Loqui non potes, nisi ut vocem tuam, quae ubique sunt, gentes excipiant ; irasci non potes, nisi ut omnia tremant, sie neminem adfligere, nisi ut, quidquid circa fuerit, qua tiatur. Ut fulmina paucorum periculo cadunt, omnium metu, sie animadversiones magnarum potestatum ter rent latius quam nocent, non sine causa : non enim, quantum fecerit, sed quantum facturus sit, cogitatur in eo, qui omnia potest. (6) Adice nunc, quod privatos homines ad accipien das iniurias opportuniores acceptarum patientia facit, regibus certior est ex mansuetudine securitas, quia fre quens vindicta paucorum odium obprimit, omnium in ritat. (7) Voluntas oportet ante saeviendi quam causa deficiat ; alioqui, quemadmodum praecisae arbores plu rimis ramis repullulant et multa satorum genera, ut densiora surgant, reciduntur, ita regia crudelitas auget inimicorum numerum tollendo ; parentes enim liberique eorum, qui interfecti sunt, et propinqui et amici in locum singulorum succedunt. 9 ( 1 ) Hoc quam verum sit, admonere te exemplo domestico volo. Divus Augustus fuit mitis princeps, si quis illum a principatu suo aestimare incipiat ; in cern muni quidem rei publicae gladium movit. Cum hoc aetatis esset, quod tu nunc es, duodevicensimum egres sus annum, iam pugiones in sinum amicorum absconde rat, iam insidiis M. Antonii consulis latus petierat, iam fuerat collega proscriptionis. (2) Sed cum annum qua dragensimum transisset et in Gallia moraretur, dela-
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zu bleiben. Auf dir ruht viel Licht. Aller Augen sind darauf gerichtet. Du glaubst, du erscheinst? Du gehst auf. (5) Du kannst nicht sprechen außer so; daß deine Stimme die Völker, die es überall gibt, vernehmen. Du kannst nicht zürnen außer so, daß alles, was ringsum war, erschüttert wird. Wie Blitze unter Gefahr weniger fallen, aber unter aller Furcht, so schrecken die Ahn dungen großer Gewalten in einem weiteren Bereich, als sie schaden. Nicht ohne Grund. Denn nicht, wieviel er getan hat, sondern wieviel er tun wird, bedenkt man bei dem, der alles kann. (6) Füge jetzt noch hinzu, daß Privatleute das Er dulden zur Hinnahme des Unrechts gefügiger macht : für die Könige ist Sicherheit aus Sanftheit fester, weil häufige Strafe den Haß weniger unterdrückt, den aller aufreizt. (7) Der Wille zu wüten muß vorher aufhören als der Grund dazu. Sonst vermehrt so, wie gestutzte Bäume mit sehr vielen Zweigen wieder ausschlagen und viele Arten von Saaten zurückgeschnitten werden, da mit sie sich dichter wieder erheben, die Grausamkeit des Königs die Zahl der Feinde durch Beseitigen. Die Eltern nämlich und Kinder derer, die getötet wurden, und ihre Nächsten und Freunde rücken an den Platz der einzelnen. 9 ( 1 ) Wie wahr das ist, daran möchte ich dich durch ein Beispiel aus deinem Hause erinnern. Der vergött lichte Augustus war ein milder Princeps, wenn man ihn von seinem Prinzipat an zu beurteilen beginnt. In der Teilhaberschaft am Gemeinwesen hat er das Schwert gerührt. Als er in dem Alter war, wie du jetzt, der du das achtzehnte Jahr überschritten hast, hatte er schon die Dolche in den Busen seiner Freunde vergra ben, hatte er schon hinterhältig auf die Seite des Kon suls Marcus Antonius gezielt, war er schon Kollege der Proskription gewesen. (2) Aber als er das vierzigste Jahr überschritten hatte und sich in Gallien aufhielt,
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turn est ad eum indicium L. Cinnam, stolidi ingenii virum, insidias ei struere; dieturn est, et ubi et quando et quemadmodum adgredi vellet; unus ex consciis de ferebat. (3) Constituit se ab eo vindicare et consilium amicorum advocari iussit. Nox illi inquieta erat, cum cogitaret adulescentem nobilem, hoc detracto inte grum, Cn. Pompei nepotem, damnandum; iam unum hominem occidere non poterat, cui M. Antonius pro scriptionis edictum inter cenam dictarat. ( 4) Gemens subinde voces varias emittebat et inter se contrarias : >Quid ergo ? ego percussorem meum securum ambulare patiar me sollicito ? Ergo non dabit poenas, qui tot civi libus bellis frustra petitum caput, tot navalibus, tot pedestribus proeliis incolume, postquam terra marique pax parata est, non occidere constituat, sed inmolare? < nam sacrificantem placuerat adoriri. ( 5 ) Rursus silentio interposito maiore multo voce sibi quam Cinnae irasce batur: >Quid vivis, si perire te tarn multorum interest? quis finis erit suppliciorum? quis sanguinis? Ego sum nobilibus adulescentulis expositum caput, in quod mu crones acuant; non est tanti vita, si, ut ego non peream, tarn multa perdenda sunt.< (6) Interpellavit tandem illum Livia uxor et: >Admittis< inquit >muliebre con silium? Fac, quod medici solent, qui, ubi usitata re media non procedunt, temptant contraria. Severitate nihil adhuc profecisti; Salvidienum Lepidus secutus est, Lepidum Murena, Murenam Caepio, Caepionem
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wurde ihm die Anzeige hinterbracht, daß Lucius Cinna, ein Mann von törichter Sinnesart, ihm eine Falle be reite. Es wurde gesagt, wo, wann und wie er angreifen wollte. Einer von den Mitwissern hinterbrachte es. (3) Er beschloß, sich an ihm zu rächen. Er ließ den Rat der Freunde einberufen. Die Nacht verging ihm un ruhig, indem er bedachte, daß ein junger Mann von Adel, von diesem einen abgesehen, unbescholten, der Enkel des Gnaeus Pompeius, zu verurteilen sei : schon konnte er einen einzigen Menschen nicht töten, wäh rend ihm Marcus Antonius das Kchtungsedikt beim Essen diktiert hatte. ( 4) Stöhnend stieß er oft verschie dene und einander widersprechende Worte aus : >Wie also ? Ich soll meinen Mörder sorglos herumspazieren lassen, während ich gehetzt bin? Also wird einer nicht büßen, der ein in so vielen Bürgerkriegen vergeblich angegriffenes, in so vielen Seeschlachten, so vielen Landschlachten unversehrtes Haupt, nachdem zu Land und Wasser der Frieden hergestellt ist, nicht zu töten beschließt, sondern hinzuopfern? < Denn man hatte be schlossen, ihn beim Opfern anzugreifen. (5) Dann wie der nach Einschub des Schweigens zürnte er sich selbst mit viel lauterer Stimme als dem Cinna : >Was lebst du noch, wenn so vielen daran liegt, daß du zugrunde gehst? Was wird das Ende der Strafen sein? Was das Ende des Blutvergießens? Ich bin für adlige junge Leute das Haupt, gegen das sie ihre Dolche schärfen. Es liegt nicht so viel am Leben, wenn so viel vernichtet werden muß, damit ich nicht zugrunde gehe !< (6) End lich unterbrach ihn seine Frau Livia und sagte : >Läßt du Frauenrat zu? Tu, was die Krzte zu tun pflegen, die, wenn die gewöhnlichen Heilmittel nicht voran kommen, mit dem Gegenteil einen Versuch machen. �lit Strenge hast du bis jetzt nichts erreicht : auf Salvi dienus ist Lepidus gefolgt, auf Lepidus Murena; auf �lurena Caepio, auf Caepio Egnatius, um andere zu
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Egnatius, ut alios taceam, quos tantum ausos pudet. Nunc tempta, quomodo tibi cedat clementia; ignosce L. Cinnae. Deprensus est; iam nocere tibi non potest, prodesse famae tuae potest.< (7) Gavisus, sibi quod ad vocatum invenerat, uxori quidem gratias egit, renun tiari autem extemplo amicis, quos in consilium roga verat, inperavit et Cinnam unum ad se accersit dimis sisque omnibus e cubiculo, cum alteram Cinnae poni cathedram iussisset : >Hoc< inquit >primum a te peto, ne me loquentem interpelles, ne medio sermone meo proclames; dabitur tibi loquendi liberum tempus. (8) Ego te, Cinna, cum in hostium castris invenissem, non factum tantum mihi inimicum sed natum, servavi, patrimonium tibi omne concessi. Hodie tarn felix et tarn dives es, ut victo victores invideant. Sacerdotium tibi petenti praeteritis conpluribus, quorum parentes mecum militaverant, dedi ; cum sie de te meruerim, occidere me constituisti. < (9) Cum ad hanc vocem ex clamasset procul hanc ab se abesse dementiam : >Non praestas< inquit >fidem, Cinna; convenerat, ne inter loquereris. Occidere, inquam, me paras<; adiecit locum, socios, diem, ordinem insidiarum, cui conmissum esset ferrum. ( 1 0) Et cum defixum videret nec ex conven tione iam, sed ex conscientia tacentem : >Quo< inquit >hoc animo facis? ut ipse sis princeps? male mehercules cum populo Romano agitur, si tibi ad inperandum nihil praeter me obstat. Domum tueri tuam non potes,
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verschweigen, über die ich mich schäme, daß sie so Schlimmes gewagt haben. Jetzt versuche, wie dir Güte hilft. Verzeihe dem Lucius Cinna. Er ist ertappt. Er kann dir nicht mehr schaden, deinem Ruhm nützen kann er. < (7) Er freute sich, daß er einen Beistand ge funden hatte, dankte seiner Frau, befahl, sogleich den Freunden, die er in den Rat gebeten hatte, abzusagen, und rief Cinna allein zu sich ; und als er alle aus dem Schlafgemach weggeschickt hatte, sagte er, nachdem er Cinna einen zweiten Sessel hatte hinstellen lassen : >Darum bitte ich zuerst, daß du mich im Sprechen nicht unterbrichst, daß du nicht mitten in meiner Rede einen Ausruf tust. Es wird dir freie Zeit zum Sprechen ge geben werden. (8) Ich habe dich, Cinna, geschont, als ich dich im Lager der Feinde fand, nicht nur mir zum Feinde geworden, sondern geboren, ich habe dir dein ganzes Vermögen gelassen. Heute bist du so glücklich und so reich, daß die Sieger den Besiegten beneiden. Als du dich um ein Priesteramt bewarbst, habe ich es dir gegeben, wobei ich mehrere überging, deren Väter mit mir zu Felde gezogen waren : obwohl ich mich so um dich verdient gemacht habe, hast du beschlossen, mich zu töten.< (9) Als er bei diesem Worte aufge schrien hatte, dieser Wahnsinn sei weit von ihm ent fernt, sagte er : >Du hältst dein Wort nicht, Cinna. Wir hatten abgemacht, du solltest nicht dazwischenreden. Du triffst Vorbereitungen, mich zu töten, sage ich.< Er fügte Ort, Komplicen, Termin, das Programm des An schlags, wem das Schwert anvertraut war, hinzu. ( 1 0) Und als er ihn erstarrt und nicht mehr aufgrund der Abmachung, sondern seines schlechten Gewissens schweigend sah, sagte er : >In welcher Absicht tust du das? Um selber Princeps zu sein? Schlimm, beim Her cules, steht es mit dem römischen Volk, wenn nichts außer mir dir hinderlich ist zum Herrschen. Du kannst dein eigenes Hauswesen nicht wahren. Neulich bist du
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nuper libertini hominis gratia in privato iudicio supe ratus es; adeo nihil facilius (putas) quam contra Caesa rem advocare? Cedo, sie spes tuas solus inpedio, Pau lusne te et Fabius Maximus et Cossi et Servilii ferent tantumque agmen nobilium non inania nomina prae ferentium, sed eorum, qui imaginibus suis decori sint?< ( 1 1 ) Ne totam eius orationem repetendo magnam par tem voluminis occupem - diutius enim quam duabus horis locutum esse constat, cum hanc poenam, qua sola erat contentus futurus, extenderet -: >Vitam< inquit >tibi, Cinna, iterum do, prius hosti, nunc insidiatori ac parricidae. Ex hodierno die inter nos amicitia incipiat; contendamus, utrum ego meliore fide tibi vitam de derim an tu debeas.< ( 1 2) Post hoc detulit ultro consu latum questus, quod non auderet petere. Amicissimum fidelissimumque habuit, heres solus illi fuit. Nullis amplius insidiis ab ullo petitus est. 10 ( 1 ) Ignovit abavus tuus victis; nam si non igno visset, quibus inperasset? Sallustium et Cocceios et Dellios et totam cohortem primae admissionis ex ad versariorum castris conscripsit; iam Domitios, Messa las, Asinios, Cicerones, quidquid floris erat in civitate, clementiae suae debebat. Ipsum Lepidum quam diu mori passus est ! per multos annos tulit ornamenta prin cipis retinentem et pontificatum maximum non nisi mortuo illo transferri in se passus est; maluit enim illum honorem vocari quam spolium. (2) Haec eum
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durch den Einfluß eines Freigelassenen in einem Privat prozeß unterlegen: so sehr hältst du nichts für leichter, als gegen Caesar Beistand herbeizurufen? Ich trete zu rück, wenn ich deine Hoffnungen allein hindere: wer den dich Paulus und Fabius Maximus und die Familien der Cossi und Servilii ertragen und der so große Zug der Adligen, die nicht leere Namen vor sich hertragen, sondern derer, die ihren Ahnenbildern eine Zierde sind?< ( 1 1 ) Um nicht seine ganze Rede zu wiederholen und damit einen großen Teil der Buchrolle mit Beschlag zu belegen - es steht nämlich fest, daß er länger als zwei Stunden gesprochen hat, da er diese Strafe, mit der allein er sich begnügen wollte, ausdehnte -, so sagte er : >Ich schenke dir ein zweites Mal das Leben, früher dem Feind, jetzt dem Auflaurer und Mörder. Vom heutigen Tage an soll zwischen uns die Freund schaft beginnen. Eifern wir um die Wette, ob ich mit mehr Verlaß das Leben gegeben habe oder du schul dest.< ( 1 2) Später übertrug er ihm von selbst das Kon sulat, sich beklagend, daß er sich nicht darum zu be werben wage. Er hatte ihn zum treusten Freund. Er war sein einziger Erbe. Von niemandem wurde er weiterhin mit Nachstellungen verfolgt. 10 ( 1 ) Verziehen hat dein Urgroßvater den Besieg ten. Denn über wen hätte er gebieten sollen, wenn er ihnen nicht verziehen hätte? Sallust, Leute wie Coc ceius und Dellius und die ganze Schar des ersten Zu tritts hat er aus dem Lager der Gegner rekrutiert. Gar Leute wie Domitius, Messalla, Asinius, Cicero und alles, was es an Blüte des Gemeinwesens gab, dankte er seiner Güte. Lepidus selbst, wie lange ließ er ihn ster ben ! Viele Jahre hindurch ertrug er ihn, wie er die Ab zeichen des Princeps beibehielt, und das Amt des Ponti fex maximus ließ er sich erst nach seinem Tode über tragen. Er wollte lieber, daß es eine Ehre geheißen werde als eine Beute. (2) Diese Güte geleitete ihn zu
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clementia ad salutem securitatemque perduxit; haec gratum ac favorabilem reddidit, quamvis nondum sub actis populi Romani cervicibus manum inposuisset ; haec hodieque praestat illi famam, quae vix vivis prin cipibus servit. (3) Deum esse non tamquam iussi credi mus ; bonum fuisse principem Augustum, bene illi parentis nomen convenisse fatemur ob nullam aliam causam, quam quod contumelias quoque suas, quae acerbiores principibus solent esse quam iniuriae, nulla crudelitate exsequebatur, quod probrosis in se dictis adrisit, quod dare illum poenas adparebat, cum .exige ret, quod, quoscumque ob adulterium filiae suae dam naverat, adeo non occidit, ut dimissis, quo tutiores essent, diplomata daret. (4) Hoc est ignoscere, cum scias multos futuros, qui pro te irascantur et tibi san guine alieno gratificentur, non dare tantum salutem, sed praestare. 1 1 ( 1 ) Haec Augustus senex aut iam in senectutem annis vergentibus ; in adulescentia caluit, arsit ira, multa fecit, ad quae invitus oculos retorquebat. Con parare nemo mansuetudini tuae audebit divum Augu stum, etiam si in certarnen iuvenilium annorum de duxerit senectutem plus quam maturam ; fuerit modera tus et clemens, nempe post mare Actiacum Rarnano cruore infectum, nempe post fractas in Sicilia classes et suas et alienas, nempe post Perusinas aras et pro scriptiones. (2) Ego vero clementiam non voco Iassam crudelitatem ; haec est, Caesar, clementia vera, quam tu praestas, quae non saevitiae paenitentia coepit
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Heil und Unbesorgtheit. Sie hat ihn beliebt und der Gunst wert gemacht, obwohl er dem Nacken des römi schen Volkes die Hand auferlegt hatte, als es noch nicht bezwungen war. Sie verleiht ihm noch heute Ruhm, wie er kaum lebenden Fürsten dienstbar ist. {3) Daß er ein Gott ist, glauben wir nicht wie Leute, denen es be fohlen wurde. Daß Augustus ein guter Princeps ist, daß ihm der Name Vater gut gepaßt hat, bekennen wir aus keinem anderen Grunde, als weil er selbst gegen ihn gerichtete Beleidigungen, die dem Fürsten bitterer zu sein pflegen als Verletzungen seiner Rechte, ohne Grausamkeit verfolgte; weil er Schmähreden gegen sich mit Lächeln begegnete; weil deutlich zutage trat, daß er selbst büßte, wenn er büßen ließ; weil er alle die, welche er wegen der Liebschaften mit seiner Tochter verurteilt hatte, nicht tötete, vielmehr den Ent lassenen, damit sie sicherer wären, Geleitscheine gab: (4) das heißt verzeihen: da du weißt, daß es viele geben wird, die statt deiner zürnen und dir mit frem dem Blute danken, nicht nur Leben zu geben, sondern es auch zu garantieren. 1 1 ( 1 ) So handelte Augustus als alter Mann oder als sich seine Jahre schon zum Alter neigten. In der Jugend geriet er in Hitze, entbrannte im Zorn, tat vieles, auf das er ungern das Auge zurückwendete. Niemand wird wagen, den vergöttlichten Augustus mit deiner Sanft mut zu vergleichen, auch wenn er das mehr als reife Greisenalter in den Wettstreit mit den jugendlichen Jahren führt: mag er maßvoll und gütig gewesen sein, aber doch nach einem von römischem Blut gefärbten Meer von Actium; aber doch nach dem Verlust der eigenen und fremden Flotte bei Sizilien; aber doch nach den Altaropfern und Kchtungen von Perugia. (2) Ich aber nenne Güte nicht eine ermüdete Grausam keit. Das ist, Caesar, wahre Güte, die du beweist, die nicht mit der Reue über das Wüten begann: keinen
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nullam habere maculam, numquam civilem sanguinem fudisse ; haec est in maxima potestate verissima animi temperantia et humani generis conprendens (condicio nem) non cupiditate aliqua, non temeritate ingenii, non priorum principum exemplis corruptum, quantum sibi in cives suos liceat, experiendo temptare, sed hebe tare aciem inperii sui. (3) Praestitisti, Caesar, civita tem incruentam, et hoc, quod magno animo gloriatus es nullam te toto orbe stillam cruoris humani misisse, eo maius est mirabiliusque, quod nulli umquam citius gladius conmissus est. ( 4) Clementia ergo non tantum honestiores, sed tutiores praestat ornamentumque inperiorum est simul et certissima salus. Quid enim est, cur reges consenue rint liberisque ac nepotibus tradiderint regna, tyran norum execrabilis ac brevis potestas sit? Quid interest inter tyrannum ac regem - species enim ipsa fortunae ac licentia par est -, nisi quod tyranni in voluptatem saeviunt, reges non nisi ex causa ac necessitate? 1 2 ( 1 ) >Quid ergo ? non reges quoque occidere so lent?< Sed quotiens id fieri publica utilitas persuadet ; tyrannis saevitia cordi est. Tyrannus autem a :rege fac tis distat, non nomine ; nam et Dionysius maior iure meritoque praeferri multis regibus potest, et L. Sullam tyrannum adpellari quid prohibet, cui occidendi finem fecit inopia hostium? (2) Descenderit licet e dictatura
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Schandfleck zu haben, nie Bürgerblut vergossen zu haben. Das ist bei der höchsten Amtsgewalt die echteste Sinnesbeherrschung und begreift in sich die Lage des Menschengeschlechts : nicht von irgendwelcher Begierde, nicht von Unüberlegtheit sich entflammen zu lassen, nicht, verdorben durch das Beispiel der früheren Prin cipes, durch Versuche abzutasten, wieviel einem gegen Bürger erlaubt ist, sondern die Schärfe der Herrschaft abzustumpfen. (3) Du hast den Staat unblutig gemacht und das, dessen du dich mit großem Sinn gerühmt hast, nämlich auf dem ganzen Erdkreis keinen Tropfen menschlichen Blutes vergossen zu haben, ist um so groß artiger und bewundernswerter, weil keinem jemals schneller das Schwert anvertraut worden ist. (4) Güte macht also nicht nur stattlicher, sondern auch sicherer und ist zugleich ein Schmuck der Reiche und ihre sicherste Rettung. Was ist denn der Grund, warum die Könige zum Greisenalter gelangten und ihren Kindern und Enkeln ihre Herrschaft weitergegeben haben, die Macht der Tyrannen aber fluchwürdig und kurz ist? Was besteht für ein Unterschied zwischen Tyrann und König? Der Anblick ihrer Schicksalslage an sich und die Ver fügungsgewalt ist gleich, außer daß die Tyrannen zum Vergnügen wüten, die Könige nur mit Grund und aus Notwendigkeit. 12 ( 1 ) >Wie also? Pflegen nicht auch Könige zu töten?< Ja, aber nur, sooft der öffentliche Nutzen rät, es zu tun : den Tyrannen macht Grausamkeit Spaß. Der Tyrann aber unterscheidet sich vom König durch seine Taten, nicht durch den Namen. Denn Dionys der ��ltere könnte mit Fug und Recht vielen Königen vor gezogen werden, und was hindert andrerseits, Lucius Sulla einen Tyrannen zu nennen, dem nur der Mangel an Menschen ein Ende des Tötens auferlegte. (2) Mag er von seiner Diktatur herabgestiegen sein und sich
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sua et se togae reddiderit, quis tarnen umquam tyran nus tarn avide humanum sanguinem bibit quam ille, qui septem milia civium Romanorum contrucidari iussit et, cum in vicino ad aedem .ßellonae sedens ex audisset conclamationem tot milium sub gladio gemen tium, exterrito senatu : >Hoc agamus< inquit, >P. C.; seditiosi pauculi meo iussu occiduntur?< Hoc non est mentitus; pauci Sullae videbantur. (3) Sed mox de Sulla consequemur, quomodo hostibus irascendum sit, utique si in hostile nomen cives et ex eodem corpore abrupti transierint; interim hoc quod dicebam, clemen tia efficit, ut magnum inter regem tyrannumque dis crimen sit, uterque licet non minus armis valletur; sed alter arma habet, quibus in munimentum pacis utitur, alter, ut magno timore magna odia conpescat, nec illas ipsas manus, quibus se conmisit, securus adspicit. (4) Contrariis in contraria agitur; nam cum invisus sit, quia timetur, timeri vult, quia invisus est, et illo ex secrabili versu, qui multos praecipites dedit, utitur: >Üderint, dum metuant<, ignarus, quanta rabies oria tur, ubi supra modum odia creverunt. Temperatus enim timor cohibet animos, adsiduus vero et acer et extrema admovens in audaciam iacentes excitat et omnia experiri suadet. (5) Sie feras linea et pinnae clusas contineant, easdem a tergo eques telis incessat : temptabunt fugam per ipsa, quae fugerant, proculca buntque formidinem. Acerrima virtus est, quam ultima
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dem Bürgerkleid wieder zugewandt haben: welcher Tyrann hat je so gierig menschliches Blut geschlürft wie jener, der siebentausend römische Bürger hinmet zeln ließ ? Und als er in der Nähe, beim Tempel der Bellona sitzend, das Geschrei so vieler Tausende unter dem Schwert Stöhnender hörte, sagte er, als der Senat entsetzt war : >Kommen wir zur Sache, Senatoren und Beigeordnete, einige wenige Aufrührer werden auf meinen Befehl hingerichtet. < Das log er nicht: Sulla schienen es wenige. (3) Doch bald werden wir hinsicht lich Sullas sagen können, wie man Feinden zürnen muß, jedenfalls, wenn Bürger und von demselben Kör per Abgesplitterte zum Feindesnamen hinübergewech selt sind. Inzwischen bewirkt die Güte das, was ich sagte, daß nämlich zwischen König und Tyrann ein großer Unterschied besteht, mögen beide auch gleich mit Waffen umschirmt sein. Aber der eine hat Waffen, die er zur Sicherheit des Friedens verwendet, der an dere, um durch große Furcht großen Haß zu zähmen, und er kann selbst jene Hände, denen er sich anvertraut hat, nicht ohne Besorgnis anschauen. (4) Durch Gegen sätzliches wird er ins Gegensätzliche getrieben. Denn da er verhaßt ist, weil er gefürchtet wird, will er ge fürchtet werden, weil er verhaßt ist, und bedient sich des fluchwürdigen bekannten Verses, der viele gestürzt hat: >Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürch ten<, nicht wissend, welches Wüten entsteht, wenn der Haß über das Maß gewachsen ist. Eine gemäßigte Furcht nämlich bändigt die Gemüter, aber eine bestän dige, die geschärfte und äußerste Mittel anwendet, putscht die Geduckten zur Verwegenheit auf und rät, alles zu erproben. (5) So halten Leinen und Federn das Wild eingesdtlossen. Dringt von hinten der Reiter mit Geschossen auf es ein, wird es durch eben das hindurch die Flucht versuchen, vor dem es geflüchtet war, und wird seinen Schreck niedertreten. Die furchtbarste Tap-
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necessitas extundit. Relinquat oportet securi aliquid metus multoque plus spei quam periculorum ostentet ; alioqui, ubi quiescenti paria metuuntur, incurrere in pericula iuvat et aliena anima abuti. 1 3 ( 1 ) Placido tranquilloque regi fida sunt auxilia sua, ut quibus ad communem salutem utatur, gloriosus que miles - publicae enim securitati se dare operam videt - omnem laborem libens patitur ut parentis custos ; at illum acerbum et sanguinarium necesse est graventur stipatores sui. (2) Non potest habere quis quam bonae ac fidae voluntatis ministros, quibus in tormentis ut eculeo et ferramentis ad mortem paratis utitur, quibus non aliter quam bestiis homines obiectat, omnibus reis aerumnosior ac sollicitior, ut qui homines deosque testes facinorum ac vindices timeat, eo per ductus, ut non liceat illi mutare mores. Hoc enim inter cetera vel pessimum habet crudelitas: perseverandum est nec ad meliora patet regressus ; scelera enim sceleri bus tuenda sunt. Quid autem eo infelicius, cui iam esse malo necesse est? (3) 0 miserabilem illum, sibi certe l nam ceteris misereri eius nefas sit, qui caedibus ac rapi nis potentiam exercuit, qui suspecta sibi cuncta reddi dit tarn externa quam domestica, cum arma metuat, ad arma confugiens, non amicorum fidei credens, non pie tati liberorum ; qui, ubi circumspexit, quaeque fecit quaeque facturus est, et conscientiam suam plenam sceleribus ac tormentis adaperuit, saepe mortem timet,
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ferkeit ist die, welche die letzte Notwendigkeit heraus preßt. Die Furcht muß einen Rest Sicherheit lassen und mehr Hoffnung als Gefahren vor Augen ·Stellen. Sonst, wenn von dem Ruhe Haltenden Gleiches befürchtet wird, kommt die Lust an, in die Gefahren hineinzu stürmen und ein Leben, das einem nicht gehört, weg zuwerfen. 13 (1) Einem friedlichen und ruhigen König sind seine Hilfskräfte treu, da er sie zum Heil aller verwen det, und der auf seinen Ruhm stolze Soldat - sieht er doch, daß er für die öffentliche Sicherheit tätig ist erduldet gern alle Mühen wie ein Bewacher des Vaters. Jenen bitteren und blutdürstigen müssen notwendig seine engsten Begleiter drückend finden. (2) Keiner kann zu Dienern guten und treuen Willens die haben, welche er bei Martern, Folter und eisernen Todeswerk zeugen verwendet und denen er nicht anders als den Bestien Menschen vorwirft, elender als alle Schuldigen und gehetzter, da er die Menschen und Götter als Zeu gen und Rächer seiner Untaten fürchtet, so weit getrie ben, daß er seine Art nicht ändern darf. Denn das hat unter dem übrigen die Grausamkeit wohl als das Schlimmste an sich: man muß beharren, und ein Rück zug zum Besseren steht nicht offen. Verbrechen müssen mit Verbrechen gedeckt werden. Was aber gibt es Un glücklicheres als den, für den schon der Zwang besteht, schlecht zu sein? (3) Der Erbarmungswürdige, sich selbst wenigstens ! Denn für die übrigen dürfte es Sünde sein, sich dessen zu erbarmen, der seine Macht mit Mord und Raub ausgeübt und sich alles verdächtig gemacht hat, draußen ebenso wie daheim, da er Waffen fürch tet, während er zu Waffen Zuflucht nimmt, nicht der Treue der Freunde vertrauend, nicht der Liebe der Kin der. Wenn er mustert, was er getan hat und was er noch tun muß, und sein Gewissen voller Verbrechen und Quälereien öffnet, fürchtet er oft den Tod, noch öfter
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saepius optat, invlSlor sibi quam servientibus. ( 4) E contrario is, cui curae sunt universa, qui alia magis, alia minus tuetur, nullam non rei publicae partem tam quam sui nutrit, inclinatus ad mitiora, etiam, si ex usu est animadvertere, ostendens, quam invitus aspero re medio manus admoveat, in cuius animo nihil hostile, nihil efferum est, qui potentiam suam placide ac salu tariter exercet adprobare inperia sua civibus cupiens, felix abunde sibi visus, si fortunam suam publicarit, sermone adfabilis, aditu accessuque facilis, voltu, qui maxime populos demeretur, amabilis, aequis desideriis propensus, etiam iniquis (non) acerbus, a tota civitate amatur, defenditur, colitur. (5) Eadem de illo homines secreto locuntur quae palam; tollere filios cupiunt et publicis malis sterilitas indicta recluditur; bene se me riturum de liberis suis quisque non dubitat, quibus tale saeculum ostenderit. Hic princeps suo beneficio tutus nihil praesidiis eget, arma ornamenti causa habet. 1 4 ( 1 ) Quod ergo officium eius est? quod bonorum parentium, qui obiurgare liberos non numquam blande, non numquam minaciter solent, aliquando admonere etiam verberibus. Numquid aliquis sanus filium a prima offensa exheredat? nisi magnae et multae in iuriae patientiam evicerunt, nisi plus est, quod timet, quam quod damnat, non accedit ad decretorium sti lum ; multa ante temptat, quibus dubiam indolem et peiore iam loco positam revocet; simul deploratum est,
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wünscht er ihn, sich selbst verhaßter als denen, die ihm dienstbar sind. (4) Im Gegensatz dazu wird der von allen Bürgern geliebt, verteidigt und verehrt, dem das Ganze am Herzen liegt ; der das eine mehr, das andere weniger schützt, jeden Teil des Gemeinwesens wie einen seiner selbst fördert, geneigt zum Milderen, auch wenn es von Nutzen ist zu ahnden, offen zeigend, wie wider strebend er zu einem harten Heilmittel greift ; in dessen Sinn nichts Feindliches, nichts Wildes ist; der seine Macht friedlich und heilsam ausübt, erfüllt von dem Wunsch, mit seinen Befehlen den Beifall seiner Bürger zu finden, im Übermaß sich glücklich dünkend, wenn er sein Glück allen mitgeteilt hat, im Gespräch an sprechbar und im Zugang umgänglich, im Gesichtsaus druck, der die Völker am meisten gewinnt, liebenswert, billigen Wünschen gewogen, auch unbilligen gegenüber nicht abweisend. (5) Dasselbe sprechen über ihn die Menschen im geheimen wie öffentlich. Sie wünschen Söhne aufzuziehen und anzuerkennen, und die durch das allgemeine Unglück verordnete Unfruchtbarkeit tut sich auf. Keiner zweifelt, daß er sich wohl verdient um seine Kinder machen wird, denen er ein solches Zeitalter zeigt. Dieser Princeps, durch eigene Wohltat sicher, bedarf nicht der Schutztruppen, die Waffen hat er des Schmuckes wegen. 1 4 ( 1 ) Was also ist nun sein ihm gemäßes Tun? Was das Tun guter Eltern ist, die ihre Kinder bisweilen schmeichelnd, bisweilen drohend zu schelten, manchmal auch mit Schlägen zu mahnen pflegen. Enterbt etwa einer, der gesunden Sinnes ist, den Sohn beim ersten Anstoß? Wenn nicht viele schlimme Unrechtstaten die Geduld zum Erliegen bringen, wenn nicht mehr ist, was er fürchtet, als was er verdammt, schreitet er nicht zum anordnenden Stift. Vieles erprobt er vorher, um damit eine schwankende und schon an schlechterem Platz befindliche Anlage zurückzuholen : sobald man
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ultirna experitur. Nerno ad supplicia exigenda perve nit, nisi qui rernedia consurnpsit. (2) Hoc, quod parenti, etiarn principi faciendurn est, quern adpellavirnus Pa trern Patriae non adulatione vana adducti. Cetera enirn cognornina honori data sunt ; Magnos et Felices et Augustos dixirnus et arnbitiosae rnaiestati quidquid potuirnus titulorurn congessirnus illis hoc tribuentes ; Patrern quidern Patriae adpellavirnus, ut sciret datarn sibi potestatern patriarn, quae est ternperantissirna libe ris consulens suaque post illos reponens. (3) Tarde sibi pater rnernbra sua abscidat, etiarn, curn absciderit, re ponere cupiat et in abscidendo gernat cunctatus rnul turn diuque ; prope est enirn, ut libenter darnnet, qui cito ; prope est, ut inique puniat, qui nirnis. 1 5 ( 1 ) Trichanern equitern Rornanurn rnernoria nostra, quia filiurn suurn flagellis occiderat, populus graphiis in foro confodit ; vix illurn Augusti Caesaris auctoritas infestis tarn patrurn quarn filiorurn rnanibus eripuit. (2) Tariurn, qui filiurn deprensurn in parricidii consilio darnnavit causa cognita, nerno non suspexit, quod contentus exilio et exilio delicato Massiliae par ricidarn continuit et annua illi praestitit, quanta prae stare integro solebat ; haec liberalitas effecit, ut, in qua civitate nurnquarn deest patronus peioribus, nerno du bitaret, quin reus rnerito darnnatus esset, quern is pater
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aufgegeben hat, versucht er das Kußerste. Nur wer die Heilmittel aufgebraucht hat, ist bis zur Verhängung der Strafe vorgedrungen. (2) Was der Vater tut, muß auch der Princeps tun, dem wir den Beinamen Vater des Vaterlandes nicht aus leerer Schmeichelei verliehen haben. Die übrigen Beinamen nämlich sind zur Ehre gegeben worden : Große, Glückliche, Erhabene haben wir sie geheißen. Wir haben an Titeln ehrsüchtiger Größe gesammelt, was wir konnten, und ihnen dies zugewiesen : Vater des Vaterlandes haben wir ihn ge nannt, damit er wisse, daß ihm eine väterliche Gewalt verliehen ist, die am gemäßigtsten ist, da sie für die Kinder sorgt und das Eigene ihnen hintansetzt. (3) Spät dürfte sich ein Vater die eigenen Glieder abschneiden. Auch wenn er sie abgeschnitten hat, dürfte er begehren, sie wieder anzufügen, und beim Abschneiden wird er stöhnen, viel und lange zögernd. Nahe daran nämlich, daß er gern verdammt, ist der, welcher es schnell tut. Nahe daran, daß ungerecht straft, wer zu sehr. 1 5 ( 1 ) Tricho, einen römischen Ritter, hat in unserer Zeit, weil er seinen Sohn mit Peitschenhieben getötet hatte, das Volk auf dem Forum mit Griffeln durch bohrt. Mit Mühe hat das Ansehen des Caesar Augustus ihn den erbosten Händen sowohl der Väter wie der Söhne entrissen. (2) Tarius, der seinen Sohn bei dem Verbrechen des Vatermordes ertappt und nach Unter suchung der Sache mit der Verbannung bestraft hatte, wurde von jedem bewundert, weil er, sich mit der Ver bannung und mit der verwöhnten Verbannung in Mar seille begnügend, einen Vatermörder in Schranken hielt und ihm die jährliche Unterstützung in derselben Höhe gewährte, wie er sie dem unbestraften zu gewähren pflegte : diese Großzügigkeit bewirkte, daß in einem Staate, in dem den Schlechteren nie der Anwalt fehlt, niemand zweifelte, daß der Angeklagte zu Recht ver urteilt worden war, da ein Vater ihn hatte verurteilen
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damnare potuisset, qui odisse non poterat. (3) Hoc ipso exemplo dabo, quem conpares bono patri, bonum principem. Cogniturus de filio Tarius advocavit in consilium Caesarem Augustum ; venit in privatos pena tes, adsedit, pars alieni consilii fuit, non dixit : >lmmo in meam domum veniat< ; quod si factum esset, Caesa ris futura erat cognitio, non patris. ( 4) Audita causa excussisque omnibus, et his, quae adulescens pro se dixerat, et his, quibus arguebatur, petit, ut sententiam suam quisque scriberet, ne ea omnium fieret, quae Caesaris fuisset ; deinde, priusquam aperirentur codi cilli, iuravit se Tarii, hominis locupletis, hereditatem non aditurum. (5) Dicet aliquis : >Pusillo animo timuit, ne videretur locum spei suae aperire velle filii damna tione.< Ego cont1:a sentio ; quilibet nostrum debuisset adversus opiniones malignas satis fiduciae habere in bona conscientia, principes multa debent etiam famae dare. (6) Iuravit se non aditurum hereditatem. Tarius quidem eodem die et alterum heredem perdidit, sed Caesar libertatem sententiae suae redemit ; et postquam adprobavit gratuitam esse severitatem suam, quod principi semper curandum est, dixit relegandum, quo patri videretur. (7) Non culleum, non serpentes, non carcerem decrevit memor non de quo censeret, sed cui in consilio esset ; mollissimo genere poenae contentum esse debere patrem dixit in filio adulescentulo inpulso in id scelus, in quo se, quod proximum erat ab inno-
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können, der nicht hassen konnte. (3) Mit eben diesem Beispiel gebe ich dir einen guten Princeps, daß du ihn mit einem guten Vater vergleichen kannst. Als Tarius über den Sohn die Untersuchung führen wollte, bat er Caesar Augustus in das Hausgericht. Dieser kam in ein Privathaus, setzte sich hinzu, war Teil einer fremden Beratungsversammlung. Er sagte nicht : >Nein, er soll in mein Haus kommen.< Wäre das geschehen, hätte es die Untersuchung des Caesar, nicht des Vaters werden müssen. (4) Nachdem man den Fall angehört und alles gründlich erörtert hatte, sowohl das, was der junge Mann zu seinen Gunsten gesagt hatte, wie das, dessen er geziehen wurde, bat er, daß jeder seinen Spruch aufschreiben solle, damit nicht der Spruch Caesars zu dem aller würde. Dann schwor er, ehe die Täfelchen geöffnet wurden, daß er die Erbschaft des Tarius, eines begüterten Mannes, nicht antreten werde. (5) Vielleicht wird einer sagen : >Kleinlichen Sinnes fürchtete er, es könne so scheinen, als wolle er seiner Hoffnung Mög lichkeiten eröffnen durch die Verurteilung des Sohnes.< Ich bin entgegengesetzter Meinung. Jeder von uns hätte gegen bösartige Verdächtigungen genügend Selbstver trauen im guten Gewissen haben müssen, die Fürsten müssen vieles auch dem Gerede einräumen. (6) Er schwor, er werde die Erbschaft nicht antreten. Tarius verlor am selben Tage auch den zweiten Erben. Aber Caesar erkaufte sich die Freiheit seiner Entscheidung. Und nachdem er bewiesen hatte, daß seine Strenge kostenlos sei, worum sich der Princeps immer kümmern muß, sagte er, er sei dorthin zu relegieren, wohin es dem Vater richtig schiene. (7) Nicht den Sack, nicht Schlangen, nicht Kerker verhängte er, eingedenk nicht, über wen er entschied, sondern für wen er im Rat sitze. Mit der mildesten Strafe müsse ein Vater zufrieden sein bei einem so jungen Sohn, der zu diesem Verbre chen angestiftet worden sei, wobei er sich, was der Un-
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centia, timide gessisset; debere illum ab urbe et a pa remis oculis submoveri. 1 6 ( 1 ) 0 dignum, quem in consilium patres advoca rent ! o dignum, quem coheredem innocentibus liberis scriberent ! Haec clementia principem decet ; quocum que venerit, mansuetiora omnia faciat. Nemo regi tarn vilis sit, ut illum perire non sentiat, qualiscumque pars inperii est. (2) In magna inperia ex minoribus petamus exemplum. Non unum est inperandi genus ; inperat princeps civibus suis, pater liberis, praeceptor discenti bus, tribunus vel centurio militibus. (3) Nonne pessi mus pater videbitur, qui adsiduis plagis liberos etiam ex levissimis causis conpescet ? Uter autem praeceptor liberalibus studiis dignior, qui excarnificabit discipu los, si memoria illis non constiterit aut si parum agilis in legendo oculus haeserit, an qui monitionibus et vere cundia emendare ac docere malit? Tribunum centurio nemque da saevum : desertores faciet, quibus tarnen ignoscitur. (4) Numquidnam aequum est gravius ho mini et durius inperari, quam inperatur animalibus mutis? atqui equum non crebris verberibus exterret domandi peritus magister ; fiet enim formidolosus et contumax, nisi eum blandiente tactu permulseris. (5) Idem facit ille venator, quique instituit catulos vestigia sequi quique iam exercitatis utitur ad excitan das vel persequendas feras : nec crebro illis minatur - contundet enim animos et, quidquid est indolis, con-
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schuld am nächsten stand, ängstlich aufgeführt hätte. Jener müsse aus der Stadt und den Augen des Vaters entfernt werden. 1 6 ( 1 ) 0 wert, daß ihn die Väter in ihren Rat berie fen, o wert, daß sie ihn als Miterben für ihre unschul digen Kinder einsetzten ! Diese Güte ziemt sich für einen Princeps, damit er alles, wohin er kommt, sanfter macht. Niemand sei für den König so wertlos, daß er seinen Verlust nicht spürt, ein wie geringer Teil seiner Herrschaft er auch sei. (2) Für große Herrschaftsverhältnisse wollen wir aus kleineren das Beispiel holen. Es gibt nicht eine ein zige Art des Herrschens : es herrscht der Princeps über seine Bürget, der Vater über seine Kinder, der Lehrer über die Lernenden, der General oder Hauptmann über die Soldaten. (3) Wird der nicht als der schlechte ste Vater erscheinen, der die Kinder mit ständigen Schlägen auch aus den geringfügigsten Gründen züch tigt? Welcher von beiden Lehrern ist der freien Studien würdiger : wer seine Schüler martern wird, wenn ihr Gedächtnis etwas nicht behalten hat oder wenn das Auge, zu wenig behend, beim Lesen hängenblieb, oder wer lieber durch Ermahnungen und Respekt verbessern und lehren will? Nimm einen harten General und Hauptmann : er wird Fahnenflüchtige machen, denen man doch verzeiht. ( 4) Ist es etwa billig, daß über einen Menschen drückender und härter geherrscht wird, als man stummen Tieren befiehlt? Jedoch erschreckt ein Dresseur, der sich aufs Dressieren versteht, ein Pferd nicht durch häufige Schläge. Es wird nämlich scheu und verstockt, wenn man es nicht mit schmeichelnder Be rührung streichelt. (5) Dasselbe tut der Jäger, sowohl der, welcher junge Hunde lehrt, den Spuren zu folgen, wie der, welcher schon geübte zum Aufstöbern und Verfolgen des Wildes verwendet. Weder droht er ihnen häufig - er wird nämlich ihren Mut zerschlagen,
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minuetur trepidatione degeneri - nec licentiam vagan di errandique passim concedit. Adicias his licet tar diora agentes iumenta, quae cum ad contumeliam et miserias nata sint, nimia saevitia cogantur iugum de tractare. 1 7 ( 1 ) Nullum animal morosius est, nullum maiore arte tractandum quam homo, nulli magis parcendum. Quid enim est stultius quam in iumentis quidem et canibus erubescere iras exercere, pessima autem condi cione sub (homine) hominem esse? Morbis medernur nec irascimur; atqui et hic morbus est animi ; mollem medi cinam desiderat ipsumque medentem minime infestum aegro. (2) Mali medici est desperare, ne curet : idem in iis, quorum animus adfectus est, facere debebit is, cui tradita salus omnium est, non cito spem proicere nec mortifera signa pronuntiare ; luctetur cum vitiis, resi stat, aliis morbum suum exprobret, quosdam molli curatione decipiat citius meliusque sanaturus remediis fallentibus ; agat princeps curam non tantum salutis, sed etiam honestae cicatricis. (3) Nulla regi gloria est ex saeva animadversione - quis enim dubitat posse? -, at contra maxima, si vim suam continet, si multos irae alienae eripuit, neminem suae inpendit. 1 8 ( 1 ) Servis inperare moderate laus est. Et in man cipio cogitandum est, non quantum illud inpune possit pati, sed quantum tibi permittat aequi bonique natura,
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und was an Anlage in ihnen steckt, wird durch entartete Ängstlichkeit gemindert -, noch gestattet er ihnen die Freiheit, überall herumzuschweifen und herumzuirren. Diesen kannst du die hinzufügen, die säumigere Zug tiere treiben. Obwohl diese für Mißhandlung und Jammer geboren sind, dürften sie durch allzu großes Wüten gezwungen werden, das Joch abzuwerfen. 1 7 ( 1 ) Kein Lebewesen ist heikler als der Mensch, keines ist mit größerer Kunst zu behandeln. Keines ist mehr zu schonen. Was ist nämlich dümmer, als bei Zug tieren und Hunden sich zu schämen, seinen Zorn aus zulassen, während der Mensch unter dem Menschen in schlechtestem Verhältnis lebt? Krankheiten heilen wir und zürnen nicht. Aber auch hier handelt es sich um Krankheit der Seele. Sie fordert ein sanftes Heilmittel und den Arzt selbst, der sowenig wie möglich böse auf den Kranken ist. (2) Art eines schlechten Arztes ist es zu verzweifeln, um nicht heilen zu müssen. Dasselbe wird bei denen, deren Seele angegriffen ist, der machen müssen, dem die Gesundheit aller anvertraut ist : nicht schnell die Hoffnung preiszugeben noch tödliche Zei chen zu verkünden. Er soll ringen mit den Lastern, ihnen Widerstand leisten, den einen ihre Krankheit vorwerfen, manche durch sanfte Fürsorge täuschen1 weil er so in der Lage ist, schneller und besser durch unbemerkte Heilmittel zu heilen. Der Princeps trage Sorge nicht nur für die Rettung, sondern auch für eine schöne Narbe. (3) Ein König hat keinen Ruhm aus einer grausamen Bestrafung (wer zweifelt denn, daß er dazu imstande ist), den größten dagegen, wenn er seine Gewalt zügelt, wenn er viele fremdem Zorn ent reißt, niemanden dem seinen opfert. 1 8 ( 1 ) über Sklaven maßvoll zu gebieten ist ein Lob. Auch bei einem solchen Eigentum muß man bedenken, nicht wieviel es ungestraft erdulden kann, sondern wie viel dir das Wesen des Rechten und Guten gestattet,
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quae parcere etiam capt1v1s et pretio paratis iubet. Quanto iustius iubet hominibus liberis, ingenuis, hone stis non ut mancipiis abuti, sed ut his, quos gradu ante cedas quorumque tibi non servitus tradita sit, sed tu tela. {2) Servis ad statuam licet confugere ; cum in ser vum omnia liceant, est aliquid, quod in hornirrem licere commune ius animantium vetet. Quis non Vedium Pollionem peius oderat quam servi sui, quod muraenas sanguine humano saginabat et eos, qui se aliquid offen derant, in vivarium [ quid aliud quam serpentium] abici iubebat? 0 hornirrem mille mortibus dignum, sive devorandos servos obieiebat muraenis, quas esurus erat, sive in hoc tantum illas alebat, ut sie aleret. (3) Quemadmodum domini crudeles tota civitate con monstrantur invisique et detestabiles sunt, ita regum et iniuria latius patet et infamia atque odium saeculis traditur ; quanto autem non nasci melius fuit quam numerari inter publico malo natos ! 1 9 { 1 ) Excogitare nemo quicquam poterit, quod magis decorum regenti sit quam clementia, quocumque modo is et quocumque iure praepositus ceteris erit. Eo scilicet formosius id esse magnificentiusque fatebimur, quo in maiore praestabitur potestate, quam non opor tet noxiam esse, si ad naturae legem conponitur. {2) Natura enim conmenta est regem, quod et ex aliis animalibus licet cognoscere et ex apibus ; quarum regi
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das auch Gefangene und um Geld Gekaufte zu schonen gebietet. Mit wieviel mehr Recht heißt es, selbständige, freigeborene, gesittete Menschen nicht wie Sklaven zu mißbrauchen, sondern als solche zu behandeln, die du nur der Rangstufe nach überragst und deren Verskla vung dir nicht, sondern deren Obhut dir übertragen ist? (2) Sklaven können zum Götterbild flüchten. Ob wohl dem Sklaven gegenüber alles erlaubt ist, gibt es etwas, was das allgemeine Recht der Lebewesen ver bietet, daß es gegen den Menschen erlaubt sei. Wer hat nicht Vedius Pollio mit schlimmerem Haß verfolgt als seine Sklaven selbst, weil er die Muränen mit Men schenblut mästete und diejenigen, die irgendwie An stoß erregt hatten, in ein Tierbehältnis [in welch ande res als das von Schlangen] werfen ließ ? 0 Mensch, wert eines tausendfältigen Todes ! Sei es, daß er die Sklaven den Muränen zum Verschlingen vorwarf, die er essen wollte, sei es, daß er sie nur zu dem Zweck auf zog, um sie so zu ernähren ! (3) Wie brutale Herren im ganzen Staate auffallen und verhaßt und verabscheuungswürdig sind, so erstreckt sich das Unrecht der Könige weiter, und Schande und Haß werden Jahrhunderten überliefert. Um wieviel besser aber wäre es, nicht geboren, als zu denen gerechnet zu werden, die zum allgemeinen Unglück geboren sind? 19 ( 1 ) Niemand kann sich etwas denken, das einem leitenden Mann mehr ansteht als Güte, auf welche Weise er auch und mit welcher Rechtsbefugnis er den übrigen vorgesetzt ist. Natürlich wird man bekennen, daß dies um so schöner und großartiger ist, in je höhe rer Machtstellung sie geleistet wird, einer Machtstel lung, die nicht schädlich sein darf, wenn sie nach dem Gesetz der Natur aufgebaut wird. {2) Die Natur hat sich nämlich den König ausgedacht. Das kann man an anderen Lebewesen erkennen, vor allem aber an den Bienen, deren König das geräumigste Gemach besitzt,
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amplissimum cubile est medioque ac tutisslmo loco ; praeterea opere vacat exactor alienorum operum, et amisso rege totum dilabitur, nec umquam plus unum patiuntur melioremque pugna quaerunt ; praeterea in signis regi forma est dissimilisque ceteris cum magni tudine turn nitore. (3) Hoc tarnen maxime distingui tur : iracundissimae ac pro corporis captu pugnacissi mae sunt apes et aculeos in volnere relinquunt, rex ipse sine aculeo est ; noluit illum natura nec saevum esse nec ultionem magno constaturam petere telumque detraxit et iram eius inermem reliquit. Exemplar hoc magnis regibus ingens ; est enim illi mos exercere se in parvis et ingentium rerum documenta minima (arces sere). ( 4) Pudeat ab exiguis animalibus non trahere mo res, cum tanto hominum moderatior esse animus de beat, quanto vehementius nocet. Utinam quidem eadem homini lex esset et ira cum telo suo frangeretur nec saepius liceret nocere quam semel nec alienis viribus exercere odia ! facile enim lassaretur furor, si per se sibi satis faceret et si mortis periculo vim suam effun deret. (5) Sed ne nunc quidem illi cursus tutus est ; tantum enim necesse est timeat, quantum timeri voluit, et manus omnium observet et eo quoque tempore, quo non captatur, peti se iudicet nullumque momentum inmune a metu habeat. Hanc aliquis agere vitam susti-
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und zwar in der Mitte und am sichersten Platz. Außer dem ist er frei von Last, ein Prüfer fremder Arbeiten. Und wenn der König verloren ist, fällt das Ganze aus einander. Nie dulden sie mehr als einen und suchen den besseren im Kampf. Außerdem besitzt der König eine auffallende Gestalt. Sie ist verschieden von der der anderen sowohl durch Größe als auch durch Glanz. (3) Durch Folgendes aber hebt er sich am meisten ab. Die Bienen sind überaus jähzornig und im Verhältnis zu ihrer Körpergröße sehr kampflustig, und ihre Stachel lassen sie in der Wunde zurück : der König selbst ist ohne Stachel. Die Natur wollte nämlich nicht, daß er wild sei und nach einer Rache strebe, die teuer bezahlt werden müßte. So hat sie ihm die Waffe ent zogen und seinen Zorn waffenlos gelassen. Das ist für große Könige ein gewaltiges Vorbild. Dieser hat näm lich die Gewohnheit, sich im Geringen zu üben und das Winzigste als Belehrung für ungeheuer große Dinge heranzuziehen. (4) Man sollte sich schämen, von schmächtigen Lebewesen nicht die Gewohnheiten zu übernehmen, wo doch der Sinn des Menschen um so maßvoller sein muß, je heftiger er schadet. 0 wenn doch für den Menschen dasselbe Gesetz bestünde, daß die Zorneswut zusammen mit der Waffe gebrochen würde und es nicht öfter erlaubt wäre zu schaden als einmal und nicht mit fremden Waffen seinen Haß zu üben ! Leicht würde nämlich das Wüten ermatten, wenn es sich durch sich selbst Genugtuung verschaffte und wenn es unter Todesgefahr seine Wucht entlüde. 5) Aber auch nicht einmal so ist sein Lauf sicher. Not v.·endig muß der Mensch nämlich selbst so sehr fürch :en, wie er gefürchtet werden will, er muß die Hände aller beobachten, muß auch zu der Zeit, wo er nicht ;efangen wird, denken, daß man ihn angreift, und hat :10twendig keinen Augenblick frei von Furcht. Ein sol .::,_ es Leben zu führen hält einer aus, obwohl es doch
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net, cum liceat innoxium aliis, ob hoc securum salutare potentiae ius laetis omnibus tractare? Errat enim, si quis existimat tutum esse ibi regem, ubi nihil a rege tutum est ; securitas secilritate mutua paciscenda est. (6) Non opus est instruere in altum editas arces nec in adscensum arduos colles emunire nec latera montium abscidere, multiplicibus se muris turribusque saepire : salvum regem clementia in aperto praestabit. Unum est inexpugnabile munimentum amor civium. (7) Quid pulchrius est quam vivere optantibus cunctis et vota non sub custode nuncupantibus? si paulum valetudo titubavit, rion spem hominum excitari, sed metum? nihil esse cuiquam tarn pretiosum, quod non pro salute praesidis sui conmutatum velit? (8) 0 ne ille, cui con tingit, . . . sibi quoque vivere debeat ; in hoc adsiduis bonitatis argumentis probavit non rem publicam suam esse, sed se rei publicae. Quis huic audeat struere ali quod periculum? quis ab hoc non, si possit, fortunam quoque avertere velit, sub quo iustitia, pax, pudicitia, securitas, dignitas florent, sub quo opulenta civitas copia bonorum omnium abundat? Nec alio animo rec torem suum intuetur, quam, si di inmortales potesta tem visendi sui faciant, intueamur venerantes colentes que. (9) Quid autem? non proximum illis locum tenet is, qui se ex deorum natura gerit, beneficus ac largus et in melius potens? Hoc adfectare, hoc imitari decet, maximum ita haberi, ut optimus simul habeare.
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möglich ist, unschädlich für andere und darum unbe sorgt, ein heilsames Recht der Macht zur Freude aller auszuüben? Es irrt nämlich, wer glaubt, der König sei dort sicher, wo nichts vor dem König sicher ist; viel mehr ist Sicherheit um gegenseitige Sicherheit auszu bedingen. ( 6) Es fruchtet nichts, in die Höhe ragende Burgen zu bauen, schwer zu besteigende Hügel zu be festigen, die Flanken der Berge abzutragen, mit viel fachen Mauern und Türmen sich zu umzäunen : heil be wahren wird im offenen Gelände den König seine Güte. Es gibt eine einzige uneinnehmbare Festung : die Liebe der Bürger. (7) Was gibt es Schöneres, als zu leben, indem alle dies wünschen und ihre Gelübde nicht unter einem Bewacher aussprechen? Als daß, wenn die Gesundheit ein wenig schwankt, dann nicht die Hoff nung der Menschen erweckt wird, sondern die Angst? Daß nichts einem so kostbar ist, was er nicht für die Rettung seines Fürsten eintauschen möchte ? (8) 0 je ner, dem es zuteil wird . . . auch für sich leben muß. Dazu hat er durch beständige Beweise des Gutseins ge zeigt, daß das Gemeinwesen nicht sein ist, sondern er dem Gemeinwesen gehört. Wer wagte, diesem irgend eine Gefahr zu bereiten? Wer möchte von ihm nicht, wenn er könnte, auch das Schicksal abwenden, von ihm, unter dem Gerechtigkeit, Frieden, Anstand, Sicherheit, Würde in Blüte stehen, unter dem eine reiche Bürger schaft überfluß hat an der Fülle aller Güter? Und sie schaut ihren Staatslenker in keiner anderen Gesinnung an, als wir die unsterblichen Götter, wenn sie nur die Gelegenheit gäben, sie zu sehen, betend und verehrend anschauen würden. (9) Wie steht es aber denn? Hat nicht der den ihnen nächsten Rang inne, der sich nach dem Wesen der Götter wohltätig, freigebig und zum Besseren mächtig zeigt? Das zu erstreben ziemt sich, dies nachzuahmen, so als der Größte zu gelten, daß du zugleich als der Beste giltst.
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20 ( 1 ) A duabus causis punire princeps solet, si aut se vindicat aut alium. Prius de ea parte disseram, quae ipsum contingit ; difficilius est enim moderari, ubi do lori debetur ultio quam ubi exemplo. (2) Supervacuum est hoc loco admonere, ne facile credat, ut verum ex cutiat, ut innocentiae faveat et ut adpareat, non minorem agi rem periclitantis quam iudicis sciat ; hoc enim ad iustitiam, non ad clementiam pertinet ; nunc illum hortamur, ut manifeste laesus animum in po testate habeat et poenam, si tuto poterit, clonet, si mi nus, temperet longeque sit in suis quam in alienis in iuriis exorabilior. (3) Nam quemadmodum non est magni animi, qui de alieno liberalis est, sed ille, qui, quod alteri donat, sibi detrahit, ita dementern vocabo non in alieno dolore facilem, sed eum, qui, cum suis stimulis exagitetur, non prosilit, qui intellegit magni animi esse iniurias in summa potentia pati nec quic quam esse gloriosius principe inpune laeso. 21 ( 1 ) Ultio duas praestare res solet : aut solacium adfert ei, qui accepit iniuriam, aut in relicum securita tem. Principis maior est fortuna, quam ut solacio egeat, manifestiorque vis, quam ut alieno malo opinionem sibi virium quaerat. Hoc dico, cum ab inferioribus petitus violatusque est ; nam si, quos pares aliquando habuit, infra se videt, satis vindicatus est. Regem et servus occidit et serpens et sagitta ; servavit quidem
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20 ( 1 ) Aus zwei Gründen pflegt der Princeps zu strafen : wenn er sich selbst rächt oder einen andern. Zuerst werde ich den Teil erörtern, der ihn selbst be rührt. Es ist nämlich schwieriger, sich zu mäßigen, wenn dem Schmerze die Sühne, als wenn sie dem Bei spiel geschuldet wird. (2) überflüssig ist es, an dieser Stelle zu mahnen, daß er nicht leichtfertig Glauben schenkt, daß er die Wahrheit nach allen Seiten er forscht, daß er der Unschuld gewogen ist und daß er weiß, es liegt nicht weniger im Interesse des Angeklag ten als in dem des Richters, daß sie zutage tritt. Das geht nämlich die Gerechtigkeit, nicht die Güte an. Jetzt fordern wir ihn vielmehr auf, daß er, offenkundig verletzt, seine Leidenschaft in seiner Gewalt hat und die Strafe, wenn er es ohne Gefahr kann, erläßt, wenn nicht, ermäßigt und daß er weit mehr bei eigener als bei fremder Kränkung versöhnlich ist. (3) Denn wie nicht großzügig ist, wer mit fremdem Gut freigebig ist, sondern wer, was er dem andern schenkt, sich selber entzieht, so werde ich gütig nicht einen nennen, der bei fremdem Schmerz umgänglich ist, sondern den, der, obwohl er durch eigene Stachel aufgepeitscht wird, nicht losspringt, der einsieht, daß es Art einer großen Seele ist, Kränkungen auf dem Gipfel der Macht zu ertragen, und daß es nichts Rühmlicheres gibt als einen ungestraft verletzten Princeps. 21 ( 1 ) Rache pflegt zwei Dinge zu gewähren : ent weder bringt sie dem, der Unrecht erlitten hat, Trost oder für die übrige Zeit Unbesorgtheit. Des Princeps Stellung ist zu hoch, als daß sie des Trostes bedürfte, und seine Gewalt handgreiflicher, als daß sie sich durch fremdes Leid die Meinung von Kraft suchen müßte. Das sage ich, wenn er von Niedrigeren angegriffen und verletzt worden ist. Denn wenn er die, die er einmal zu Gleichen hatte, unter sich sieht, ist er genügend ge rächt. Einen Kö1;1ig tötet ein Sklave, eine Schlange, ein
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nemo ms1 maior eo, quem servabat. (2) Uti itaque animose debet tanto munere deorum dandi auferendi que vitam potens. In iis praesertim, quos seit aliquando sibi (par) fastigium optinuisse, hoc arbitrium adeptus ultionem inplevit perfecitque, quantum verae poenae satis erat ; perdidit enim vitam, qui debet, et, quisquis ex alto ad inimici pedes abiectus alienam de capite regnoque sententiam expectavit, in servatoris sui glo riam vivit plusque eius nomini confert incolumis, quam si ex oculis ablatus esset. Adsiduum enim spectaculum alienae virtutis est ; in triumpho cito transisset. (3) Si vero regnum quoque suum tuto relinqui apud eum potuit reponique eo, unde deciderat, ingenti incre mento surgit laus eius, qui contentus fuit ex rege victo nihil praeter gloriam sumere. Hoc est etiam ex victoria sua triumphare testarique nihil se, quod dignum esset victore, apud victos invenisse. ( 4) Cum civibus et igno tis atque humilibus eo moderatius agendum est, quo minoris est adflixisse eos. Quibusdam libenter parcas, a quibusdam te vindicare fastidias et non aliter quam (ab) animalibus parvis sed obterentem inquinantibus reducenda manus est ; at in iis, qui in ore civitatis ser vati punitique erunt, occasione notae clementiae uten dum est. 22 ( 1 ) Transeamus ad alienas iniurias, in quibus vin dicandis haec tria lex secuta est, quae princeps quoque
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Pfeil : ihn retten wird niemand, außer wer größer ist als der, den er gerettet hat. (2) Da er mächtig ist, Le ben zu geben und zu nehmen, muß er beherzt dieses so große Amt der Götter üben, besonders bei denen, von denen er weiß, daß sie einst eine ihm ähnliche Höhe eingenommen haben. Dadurch, daß er diese Verfü gungsgewalt erreicht hat,' hat er seine Vergeltung aus geführt und so viel durchgesetzt, wie für eine wahre Buße ausreichte. Verloren hat nämlich das Leben, wer es schuldet, und wer, von der Höhe vor die Füße des Feindes geworfen, einen fremden Spruch über Haupt und Herrschaft erwartet hat, lebt zum Ruhme seines Retters und trägt unversehrt mehr zu seinem Namen bei, als wenn er aus dem Gesichtskreis verschwunden wäre. Ist er doch ein ständiges Schauspiel fremder Größe : im Triumph wäre er schnell vorübergezogen. (3) Wenn gar auch seine Königsherrschaft sicher bei ihm belassen und dort wiederhergestellt werden konn te, von wo sie entglitten war, erhebt sich das Lob des sen mit ungeheurem Zuwachs, der sich begnügte, von einem besiegten Könige nichts als den Ruhm zu neh men. Das heißt sogar, über den eigenen Sieg zu trium phieren und zu bezeugen, daß er nichts bei den Besieg ten gefunden hat, was des Siegers würdig wäre. (4) Mit Bürgern, Unbekannten und Niedrigen ist um so maß voller zu verfahren, je weniger Bedeutung es hat, sie niedergeworfen zu haben. Manche schone gern, ver schmähe an manchen, dich zu rächen, und nicht anders als von kleinen Tierchen, die den beschmutzen, der sie zertritt, muß man von ihnen die Hände zurückziehen ; aber bei denen, die vor den Augen der Bürgerschaft stehen, wenn sie errettet oder gestraft sind, muß man die Gelegenheit zur Güte nützen, die bekannt werden wird. . 22 ( 1 ) Gehen wir zu fremden Kränkungen über, bei deren Bestrafung das Gesetz diese drei Dil;tge im Auge
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sequi debet : aut ut eum, quem punit, emendet, aut (ut) poena eius ceteros meliores reddat, aut ut sublatis malis securiores ceteri vivant. lpsos facilius emendabis mi nore poena ; diligentius enim vivit, cui aliquid integri superest. Nemo dignitati perditae parcit ; inpunitatis genus est iam non habere poenae locum. (2) Civitatis autem mores magis corrigit parcitas animadversionum ; facit enim consuetudinem peccandi multitudo peccan tium, et minus gravis nota est, quam turba damnatio num levat, et severitas, quod maximum remedium habet, adsiduitate amittit auctoritatem. {3) Constituit bonos mores civitati princeps et vitia eluit, si patiens eorum est, non tamquam probet, sed tamquam invitus et cum magno tormento ad castigandum veniat. Vere cundiam peccandi facit ipsa clementia regentis ; gra vior multo poena videtur, quae a miti viro constituitur. 23 ( 1 ) Praeterea videbis ea saepe conmi�ti, quae saepe vindicantur. Pater tuus plures intra quinquen nium culleo insuit, quam omnibus saeculis insutos acce pimus. Multo minus audebant liberi nefas ultimum ad mittere, quamdiu sine lege crimen fuit. Summa enim prudentia altissimi viri et rerum naturae peritissimi maluerunt velut incredibile scelus et ultra audaciam positum praeterire quam, dum vindicant, ostendere posse fieri ; itaque parricidae euro lege coeperunt, et
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hatte, die auch der Princeps befolgen muß : entweder daß es den, welchen es straft, bessert oder daß seine Strafe die übrigen besser macht oder daß die übrigen durch Beseitigung der Schlechten besser leben. Selber wirst du sie leichter durch eine geringere Strafe bessern. Umsichtiger lebt nämlich der, dem et was Unangetastetes verblieben ist. Niemand schont eine verlorene Würde. Es ist eine Art Straflosigkeit, schon keinen Raum mehr für eine Strafe zu bieten. (2) Den sittlichen Zustand der Bürgerschaft bessert mehr die Sparsamkeit der Ahndungen. Die Menge der sich Vergehenden bewirkt nämlich eine Gewohnheit, sich zu vergehen, und weniger lastet der Tadel, den die Masse der Verurteilungen erleichtert, und Strenge ver liert, was sie als wirksamstes Heilmittel hat, die Auto rität, durch Gewöhnlichkeit. (3) Gute Sitten gibt der Princeps der Bürgerschaft und unterdrückt ihre Laster leichter, wenn er sie erträgt, nicht so, als ob er sie bil ligte, sondern so, als ob er ungern und unter großer Qual zum Strafen kommt. Scheu, sich zu vergehen, bewirkt eben die Güte des Leitenden. Viel drückender erscheint die Strafe, die von einem milden Manne ver hängt wird. 23 ( 1 ) Außerdem wirst du sehen, daß häufig began gen wird, was oft geahndet wird. Dein Vater hat mehr innerhalb von fünf Jahren in den Sack. einnähen las sen, als nach unserem Wissen in allen Jahrhunderten eingenäht worden sind. Viel weniger wagten Kinder den äußersten Frevel zu begehen, solange das Ver brechen ohne Gesetz war. Mit höchster Klugheit hatten es nämlich die erhabensten und des Wesens der Dinge kundigsten Männer wie ein unglaubliches und jenseits der Grenzen der Verwegenheit liegendes Verbrechen lieber übergehen wollen, als, während sie es ahndeten, zu zeigen, daß es geschehen könne. Daher begannen die Vatermörder mit dem Gesetz, und die Strafe zeigte
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illis facinus poena monstravit; pessimo vero loco pietas fuit, postquam saepius culleos vidimus quam cruces. (2) In qua civitate raro homines puniuntur, in ea con sensus fit innocentiae et indulgetur velut publico bono. Putet se innocentem esse civitas : erit ; magis irascetur a communi frugalitate desciscentibus, si paucos esse eos viderit. Periculosum est, mihi crede, ostendere civitati, quanto plures mali sint. 24 ( 1 ) Dicta est aliquando a senatu sententia, ut ser vos a liberis cultus distingueret ; deinde adparuit, quan tum periculum inmineret, si servi nostri numerare nos coepissent. Idem scito metuendum esse, si nulli ignosci tur ; cito adparebit, pars civitatis deterior quanto prae gravet. Non minus principi turpia sunt multa supplicia quam medico multa funera ; remissius irrperanti melius paretur. (2) Natura contumax est humanus animus et in contrarium atque arduum nitens sequiturque facilius quam ducitur ; et ut generosi ac nobiles equi melius facili freno reguntur, ita clementiam voluntaria inno centia inpetu suo sequitur, et dignam putat civitas, quam servet sibi. Plus itaque hac via proficitur. 25 ( 1 ) Crudelitas minime humanum malum est in dignumque tarn miti animo ; ferina ista rabies est san guine gaudere ac volneribus et abiecto homine in sil vestre animal transire. Quid enim interest, oro te, Alexander, leoni Lysimachum obicias an ipse laceres dentibus tuis? tuum illud os est, tua illa feritas. 0 quam
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ihnen die Untat. Am niedrigsten stand Kindesliebe, nachdem wir öfters Säcke als Kreuze gesehen hatten. (2) In einem Staat, in dem selten Menschen bestraft werden, entsteht ein Einverständnis über die Schuld losigkeit, und es wird ihr gehuldigt wie einem öffent lichen Gut. Ein Staat möge denken, er sei schuldlos : er wird es sein. Eher wird er zornig sein auf die, welche von der allgemeinen Rechtschaffenheit ablassen, wenn er sieht, daß sie gering an Zahl sind. Gefährlich ist es, glaube mir, einem Staate vor Augen zu halten, in wel cher Überzahl die Schlechten sind. 24 ( 1 ) Es wurde einmal vom Senat der Beschluß ge faßt, daß die Kleidung die Sklaven von den Freien unterscheiden solle. Da zeigte es sich, eine wie große Gefahr drohe, wenn unsere Sklaven uns zu zählen be gännen : dasselbe, wisse, ist zu befürchten, wenn nie mandem verziehen wird. Für einen Princeps sind viele Bestrafungen ebenso schändlich, wie für den Arzt viele Todesfälle. Einem, der lockerer befiehlt, wird besser gehorcht. (2) Von Natur trotzig ist der menschliche Geist und zum Gegensatz und Schwierigen strebend, und er folgt leichter, als daß er sich ziehen läßt. Und wie edle Rassepferde besser mit lockerem Zügel ge lenkt werden, so folgt der Güte freiwillige Unschuld aus eigenem Antrieb, und der Staat hält sie für wert, sie sich zu bewahren. Mehr wird daher auf diesem Wege erreicht. 25 ( 1 ) Grausamkeit ist das am wenigsten menschliche übel und ist unwürdig einer so milden Seele. Tierisch ist diese Wut, sich an Blut und Wunden zu freuen, den Menschen abzuwerfen und in ein wildes Tier überzu gehen. Was macht es denn, Alexander, für einen Unter schied, ob du Lysimachus einem Löwen vorwirfst oder ihn selbst mit eigenen Zähnen zerfleischst? Dein Rachen ist es, dein jene Vertiertheit. Wie wünschtest du, daß
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cuperes tibi potius ungues esse, tibi rictum illum eden dorum hominum capacem ! Non exigimus a te, ut ma nus ista, exitium familiarium certissimum, ulli salutaris sit, ut iste animus ferox, insatiabile gentium malum, citra sanguinem caedemque satietur; clementia iam vocatur, ad occidendum amicum (cum) carnifex inter homines eligitur. (2) Hoc est, quare vel maxime ab ominanda sit saevitia, quod excedit fines primum soli tos, deinde humanos, nova supplicia conquirit, inge nium advocat, (ut) instrumenta excogitet, per quae varietur atque extendatur dolor, delectatur malis ho minum ; tune illi dirus animi morbus ad insaniam per venit ultimam, cum crudelitas versa est in voluptatem et iam occidere hominem iuvat. (3) Matura talem vi rum a tergo sequitur aversio, odia, vemina, gladii ; tarn multis periculis petitur, quam multorum ipse periculum est, privatisque non numquam consiliis, alias vero con sternatione publica circumvenitur. Levis enim et pri vata pernicies non totas urbes movet ; quod late furere coepit et omnes adpetit, undique configitur. (4) Ser pentes parvolae fallunt nec publice conquiruntur ; ubi aliqua solitarn mensuram transit et in monstrum excre vit, ubi fontes potu inficit et, si adflavit, deurit obterit que, quacumque incessit, ballistis petitur. Possunt verba dare et evadere pusilla mala, ingentibus obviam itur. (5) Sie unus aeger ne domum quidem perturbat ; at ubi
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du lieber Klauen hättest, du jenes Maul hättest, groß genug, Menschen zu fressen ! Wir fordern nicht von dir, daß deine Hand, das gewisseste Verderben deiner Freunde, irgendeinem heilbringend sei, daß diese wilde Leidenschaft, das unersättliche Unglück der Völker, von Blut und Mord gesättigt werde : Güte wird es schon genannt, wenn der Henker, der den Freund töten soll, unter Menschen ausgewählt wird. (2) Das ist es, war um wohl am meisten die Wildheit zu verabscheuen ist, weil sie die Grenzen, zuerst die gewöhnlichen, dann die menschlichen, überschreitet. Neue Strafen sucht sie, ruft den Witz zu Hilfe, um neue Marterwerkzeuge auszudenken, um mit ihnen den Schmerz vielfältiger und anhaltender zu machen, und freut sich an den Lei den der Menschen. Dann gelangt diese unheilvolle Er krankung des Geistes zum letzten Wahnsinn, wenn die Grausamkeit sich in Lust verwandelt hat und es schon Freude macht, einen Menschen zu töten. {3) Früh folgt hinter dem Rücken einem solchen Mann Abnei gung, Haß, Gift, Schwert. Von so vielen Gefahren wird er bedroht, wie vieler Menschen Gefahr er selber ist, und bisweilen wird er durch private Anschläge, sonst aber durch öffentliche Empörung überwältigt. Eine leichte und private Vernichtung bewegt nämlich nicht ganze Städte : was weithin zu wüten beginnt und alle angreift, wird von allen Seiten durchbohrt. ( 4) Winzige Schlangen bleiben verborgen und werden nicht öffentlich gesucht : sobald eine das gewohnte Maß überschritten und sich zu einem Ungeheuer ausgewach sen hat, sobald sie die Quellen mit ihrem Trunk ver giftet hat, wenn sie anhaucht, verbrennt und alles niedertritt, wo sie hinkommt, wird sie mit Geschützen beschossen. Zwergübel können täuschen und entkom men, ungeheuren tritt man entgegen. (5) So bringt ein einziger Kranker nicht einmal das Hauswesen in :In ordnung. Sobald aber durch zahlreiche Todesfälle klar-
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crebris mortibus pestilentiam esse adparuit, conclama tio civitatis ac fuga est, et dis ipsis manus intentantur. Sub uno aliquo tecto flamma adparuit : familia vicini que aquam ingerunt ; at incendium vastum et multas iam domos depastum parte urbis obruitur. 26 (1) Crudelitatem privatorum quoque serviles manus sub certo crucis periculo ultae sunt ; tyranno rum gentes populique et, quorum erat malum, et ei, quibus inminebat, excindere adgressi sunt. Aliquando sua praesidia in ipsos consurrexerunt perfidiamque et inpietatem et feritatem et, quidquid ab illis didicerant, in ipsos exercuerunt. Quid enim potest quisquam ab eo sperare; quem malum esse docuit? non diu nequitia ad paret nec, quantum iubetur, peccat. (2) Sed puta esse tutam crudelitatem, quale eius regnum est? non aliud quam captarum urbium forma et terribiles facies pu blici metus. Omnia maesta, trepida, confusa ; voluptates ipsae timentur ; non convivia securi ineunt, in quibus lingua sollicite etiam ebriis custodienda est, non spec tacula, ex quibus materia criminis ac periculi quaeri tur. Adparentur licet magna inpensa et regiis opibus et artificum exquisitis nominibus, quem tarnen Iudi in car cere iuvent? (3) Quod istud, di boni, malum est occi dere, saevire, delectari sono catenarum et civium capita decidere, quocumque ventum est, multum sanguinis fundere, adspectu suo terrere ac fugare? Quae alia vita
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geworden ist, daß es sich um eine Seuche handelt, be deutet das den Klageschrei, das Flüchten der Bürger schaft, und zu den Göttern selbst werden die Hände erhoben. Unter irgendeinem einzelnen Dach hat sich Feuer gezeigt : die Familie und die Nachbarn schütten Wasser darauf. Aber eine weitausgreifende Feuers brunst, die schon viele Häuser versehrt hat, wird mit einem Teil der Stadt erstickt. 26 ( 1 ) Grausamkeit von Privatleuten haben auch Sklavenhände unter sicherer Gefahr der Kreuzigung gestraft : Grausamkeit von Tyrannen haben Stämme und Völker - sowohl die, deren Unglück sie war, wie die, denen sie drohte - zu beseitigen . unternommen. Bisweilen haben die eigenen Wachen sich gegen sie er hoben und haben Verrat, Ruchlosigkeit, Wildheit und alles, was sie von ihnen gelernt hatten, gegen sie selbst geübt. Denn was kann einer von dem erwarten, den er schlecht zu sein gelehrt hat? Nicht lange macht die Schlechtigkeit die Aufwartung und sündigt nicht nur so viel, wie einem andern gut scheint. (2) Aber nimm an, daß Grausamkeit sicher sei : wie beschaffen ist ihre Herrschaft? Nicht anders als das Bild eingenommener Städte und der schreckliche Anblick öffentlicher Angst. Alles ist traurig, aufgeregt, verwirrt. Selbst Vergnü gungen werden gefürchtet. Man geht nicht sicher zu den Einladungen, bei denen die Zunge sogar von den Trunkenen ängstlich gehütet werden muß. Nicht zu Schauspielen, aus denen Stoff für Vorwurf und Gefahr gesucht wird. Mögen sie mit großen Ausgaben, könig licher Pracht, ausgesuchten Künstlernamen hergerichtet werden : wen würden Spiele im Kerker erfreuen? (3) Was ist das, ihr guten Götter, für ein Unheil, z u töten, zu wüten, sich am Klang der Ketten zu ergötzen und die Köpfe der Bürger abzuhauen, wohin man kommt, Massen von Blut zu verströmen, durch den eigenen Anblick zu schrecken und zu scheuchen? Würde
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esset, si leones ursique regnarent, si serpentibus in nos ac noxiosissimo cuique animali daretur potestas? ( 4) Illa rationis expertia et a nobis inmanitatis crimine damnata abstinent suis, et tuta est etiam inter feras similitudo : horum ne a necessariis quidem sibi rabies temperat, sed externa suaque in aequo habet, quo possit exercitatior a singulorum deinde caedibus in exitia gentium serpere. Et inicere tectis ignem, aratrum vetustis urbibus inducere potentiam putat ; et unum occidi iubere aut alterum parum inperatorium credit ; nisi eodem tempore grex miserorum sub ictu stetit, cru delitatem suam in ordinem coactam putat. (5) Felicitas illa multis salutem dare et ad vitam ab ipsa morte revocare et mereri clementia civicam. Nullum orna mentum principis fastigio dignius pulchriusque est quam illa corona ob cives servatos, non hostilia arma detracta victis, non currus barbarum sanguine cruenti, non parta bello spolia. Haec divina potentia est grega tim ac publice servare ; multos quidem occidere et in discretos incendi ac ruinae potentia est.
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das Leben anders sein, wenn Löwen und Bären König wären ? Wenn den Schlangen und gerade den schäd lichsten Lebewesen gegen uns Macht gegeben würde? (4) Sie, die keinen Anteil an der Vernunft haben und von uns des Verbrechens der Bestialität geziehen wer den, halten sich von den Artgenossen fern, und sogar unter wilden Tieren ist die Ähnlichkeit sicher: dieses Wüten enthält sich nicht einmal seiner Verwandten, sondern behandelt Fremdes und Eigenes gleich, um desto geübter vom Mord an einzelnen darauf zum Ver derben von Völkern zu gleiten. Und Feuer auf Dächer zu werfen, den Pflug über alte Städte zu führen hält es für Macht. Und zu befehlen, den einen oder den anderen zu töten, hält es für zu wenig herrscherlich. Wenn nicht zur seihen Zeit eine Schar von Unglück lichen unter dem Beil stand, glaubt es, seine Grausam keit sei in die Ordnung eingeengt worden. (5) Das versprochene Glück besteht darin, vielen Rettung zu bringen, sie vom Rande des Todes zum Leben zurückzuholen und sich durch Güte die Bürger krone zu verdienen. Kein Schmuck ist würdiger des Firstes des Princeps und schöner als jene Krone für die Rettung von Bürgern : nicht Feindeswaffen, die man den Besiegten abgenommen hat, nicht Kampfwagen, vom Blut der Barbaren triefend, nicht im Krieg er rungene Beute. Das ist göttliche Macht : scharenweise und öffentlich zu retten. Viele zu töten und ohne Unterschied ist Macht zu Brand und Zerstörung.
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1 ( 1 ) Ut de clementia scriberem, Nero Caesar, una me vox tua maxime conpulit, quam ego non sine admira tione et cum diceretur audisse memini et deinde aliis narrasse, vocem generosam, magni animi, magnae leni tatis, quae non conposita nec alienis auribus data su bito erupit et bonitatem tuam cum fortuna tua litigan tem in medium adduxit. (2) Animadversurus in latro nes duos Burrus praefectus tuus, vir egregius et tibi principi natus, exigebat a te, scriberes, in quos et ex qua causa animadverti velles ; hoc saepe dilatum ut aliquando fieret, instabat. lnvitus invito cum cartam protulisset traderetque, exclamasti : > Vellem litteras nescirem ! < (3) 0 dignam vocem, quam audirent omnes gentes, quae Romanum inperium incolunt quaeque iuxta iacent dubiae libertatis quaeque se contra viribus aut animis adtollunt ! 0 vocem in contionem omnium mortalium mittendam, in cuius verba principes reges que iurarent ! 0 vocem publica generis humani inno centia dignam, cui redderetur antiquum illud saecu lum ! (4) Nunc profecto consentire decebat ad aequum bonumque expulsa alieni cupidine, ex qua omne animi malum oritur, pietatem integritatemque cum fide ac modestia resurgere et vitia diuturno abusa regno dare tandem felici ac puro saeculo locum. 2 ( 1 ) Futurum hoc, Caesar, ex magna parte sperare
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1 ( 1 ) über die Güte zu schreiben, Caesar Nero, hat mich ein Wort von dir ganz besonders bestimmt, das ich, wie ich mich erinnere, nicht ohne Bewunderung, als es gesprochen wurde, gehört und darauf anderen erzählt habe, ein edles Wort, von großem Sinn, von großer Sanftheit, das, nicht berechnet und für fremde Ohren bestimmt, plötzlich erklang und deine gute Art im Streit mit deiner Stellung vorführte. (2) Als dein Präfekt Burrus, ein hervorragender Mann und wie ge boren für dich als Princeps, gegen zwei Straßenräuber vorgehen wollte, verlangte er von dir, du möchtest schreiben, gegen wen und aus welchem Grunde du stra fend vorzugehen hießest. Dies, oft verschoben, drängte doch, daß es einmal geschähe. Als er widerwillig einem Widerwilligen das Papier brachte und überreichte, riefst du aus : > I ch möchte, ich könnte nicht schreiben ! < ( 3 ) Ein Wort, wert, daß e s alle Völker hörten, die das römische Reich bewohnen, ebenso wie die, welche in zweifelhafter Freiheit daran grenzen und welche sich mit ihrer Macht und ihrer Gesinnung dagegen erheben ! Ein Wort, das man in einer Versammlung aller Men schen verbreiten müßte, damit auf seinen Wortlaut alle Fürsten und Könige schwüren. Ein Wort, würdig der allgemeinen Unschuld des Menschengeschlechtes : daß ihm jenes ehrwürdige Zeitalter wiedergegeben werde ! (4) Jetzt ziemte es sich in der Tat, im Rechten und Guten einig zu sein, nach der Vertreibung der Gier nach fremdem Gut, aus der alles übel der Seele ent steht, daß Frömmigkeit und Unbescholtenheit mit Treue und Bescheidenheit wieder erstünden und die Laster nach dem Mißbrauch einer langen Herrschaft endlich einem glücklichen und reinen Zeitalter Platz machten. 2 ( 1 ) Daß dies zu einem großen Teil geschehen wird,
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et confidere libet. Tradetur ista animi tui mansuetudo diffundeturque paulatim per omne inperii corpus, et cuncta in similitudinem tuam formabuntur. A capite bona valetudo (exit : omnia) vegeta sunt atque erecta aut languore demissa, prout animus eorum vivit aut marcet. Erunt cives, erunt socii digni hac bonitate, et in totum orbem recti mores revertentur; parcetur ubi que manibus tuis. (2) Diutius me morari hic patere, non ut blandum auribus tuis. Nec enim hic mihi mos est ; maluerim veris offendere quam placere adulando. Quid ergo est? praeter id, quod bene factis dictisque tuis quam familiarissimum esse te cupio, ut, quod nunc natura et inpetus est, fiat iudicium, illud mecum con sidero multas voces magnas, sed detestabiles, in vitam humanam pervenisse celebresque volgo ferri, ut illam : >oderint, dum metuant<, quoi Graecus versus similis est (eius), qui se mortuo terram misceri ignibus iubet, et alia huius notae. (3) Ac nescio quomodo ingenia inmania et invisa materia secundiore expresserunt sensus vehementes et concitatos; nullam adhuc vocem audivi ex bono lenique animosam. Quid ergo est? ut raro, invitus et cum magna cunctatione, ita aliquando scribas necesse est istud, quod tibi in odium litteras adduxit, sed, sicut facis, cum magna cunctatione, cum multis dilationibus. 3 ( 1 ) Et ne forte decipiat nos speciosum clementiae
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Caesar, möchte ich hoffen und bekennen. Weiterge geben werden wird diese Sanftheit deiner Gesinnung, sie wird sich allmählich durch den ganzen Körper des Reiches verströmen, und alles wird sich nach der Xhn lichkeit mit dir bilden. Vom Haupt geht die Gesund heit aus : alles ist lebendig und aufgerichtet oder in Mattigkeit niedergedrückt, je nachdem sein Geist lebt oder welkt. Es werden die Bürger, es werden die Bun desgenossen dieses Gutseins würdig sein und richtige Gesittung wird in den ganzen Erdkreis zurückkehren : man wird überall deine Hände schonen. (2) Laß mich hier länger verweilen, nicht als Schmeichler für deine Ohren. Denn das ist nicht meine Art. Ich würde lieber durch Wahrheiten Anstoß erregen als durch Schmeiche lei gefallen. Worum handelt es sich also? Abgesehen davon, daß ich wünsche, daß du mit deinen rechten Taten und Worten so vertraut wie möglich bist, damit, was jetzt Wesen und Drang ist, zum Urteil werde, er wäge ich bei mir, daß viele, aber verabscheuungswür dige Worte in das menschliche Leben eingedrungen sind und allgemein als berühmt gebraucht werden, wie zum Beispiel das bekannte >Mögen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten ! < , ein Wort, dem der griechische Vers jenes Mannes ähnlich ist, der nach seinem Tode Erde sich mit Feuer vermischen heißt, und anderes die ser Art. (3) Und irgendwie haben unmenschliche und verhaßte Naturen in einem fügsameren Stoff mitrei ßende und schwungvolle Gedanken zum Ausdruck ge bracht. Aus dem Munde eines Guten und Sanften habe ich bis zu diesem Tage nie ein Wort von elementarer Leidenschaft gehört. Wie steht es also nun? Selten, ungern und mit gro ßem Zögern mußt du doch einmal das schreiben, was dir die Buchstaben so verhaßt gemacht hat, aber, wie du es tust, mit langem Zögern, mit vielen Aufschüben. 3 ( 1 ) Und damit uns nicht vielleicht einmal der schön
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nomen aliquando et in contrarium abducat, videamus, quid sit clementia qualisque sit et quos fines habeat. Clementia est temperantia animi in potestate ulci scendi vel lenitas superioris adversus inferiorem in con stituendis poenis. Plura proponere tutius est, ne una finitio parum rem conprehendat et, ut ita dicam, for mula excidat ; itaque dici potest et inclinatio animi ad lenitatem in poena exigenda. (2) Illa finitio contradic tiones inveniet, quamvis maxime ad verum accedat, si dixerimus clementiam esse moderationem aliquid ex merita ac debita poena remittentem : reclamabitur nullam virtutem cuiquam minus debito facere. Atqui hoc omnes intellegunt clementiam esse, quae se flectit citra id, quod merito constitui posset. 4 ( 1 ) Huic contrariam inperiti putant severitatem ; sed nulla virtus virtuti contraria est. Quid ergo oppo nitur clementiae? Crudelitas, quae nihil aliud est quam atrocitas animi in exigendis poenis. >Sed quidam non exigunt poenas, crudeles tarnen sunt, tamquam qui ignotos hornirres et obvios non in conpendium, sed occi dendi causa occidunt nec interficere contenti saeviunt, ut Busiris ille et Procrustes et piratae, qui captos ver berant et in ignem vivos inponunt.< (2) Haec crudelitas quidem ; sed quia nec ultionem sequitur - non enim laesa est - nec peccato alicui irascitur - nullum enim antecessit crimen -, extra finitionem nostram cadit ; finitio enim continebat in poenis exigendis intempe-
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klingende Begriff Güte täuscht und in sein Gegenteil abirren läßt, wollen wir prüfen, was Güte ist, wie be schaffen sie ist und welche Grenzen sie hat. Güte ist MäP.. igung der Leidenschaft in der Macht, sich zu rächen, oder die Sanftheit des überlegenen gegen den Niederen in der Bestimmung der Buße. Mehreres vorzuschlagen ist sicherer, damit nicht eine Begrenzung die Sache zu wenig umfaßt und sozusagen, weil nicht die Prozeßformel erfüllend, verworfen wird : daher kann man sie auch eine Neigung der Seele zur Sanftheit im Fordern von Buße nennen. (2) Jene Bestimmung wird Widerspruch finden, mag sie der Wahrheit noch so nahe kommen : wenn wir sagen, Güte ist Mäßigung, die etwas von verdienter und geschulde ter Strafe nachläßt, wird entgegnet werden, daß keine Tugend einem etwas weniger als das Schuldige erweist. Jedoch dies verstehen alle darunter, daß Güte etwas ist, das sich diesseits dessen beugt, was mit Recht fest gesetzt werden könnte. 4 ( 1 ) Für ihr entgegengesetzt halten die Unerfahre nen die Strenge. Aber keine Tugend ist einer Tugend entgegengesetzt. Was also stellt man der Güte ent gegen ? Grausamkeit, die nichts anderes ist als Roheit der Seele im Fordern der Bußen. >Aber manche fordern zwar keine Bußen, sind aber doch grausam, so wie die, welche unbekannte, ihnen begegnende Menschen nicht zum Gewinn, sondern des Tötens wegen töten. Und nicht damit zufrieden zu töten, wüten sie, wie der be rüchtigte Busiris, Procrustes und die Seeräuber, die ihre Gefangenen peitschen und lebend ins Feuer werfen.< (2) Das ist zwar Grausamkeit ; aber weil sie keiner Rache nachgeht - denn sie ist nicht verletzt - und kei nem Vergehen zürnt - denn es ist kein Verbrechen vorausgegangen -, fällt sie aus unserer Bestimmung heraus. Denn die Bestimmung umfaßte Unbeherrscht heit der Leidenschaft beim Fordern der Bußen. Wir
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rantiam animi. Possumus dicere non esse hanc crudeli tatem, sed feritatem, cui voluptati saevitia est ; possu mus insaniam vocare : nam varia sunt genera eius et nullum certius, quam quod in caedes hominum et la niationes pervenit. (3) Illos ergo crudeles vocabo, qui puniendi causam habent, modum non habent, sicut in Phalari, quem aiunt non quidem in homines innocen tes, sed super humanum ac prohabilem modum sae visse. Possumus effugere cavillationem et ita finire, ut sit crudelitas inclinatio animi ad asperiora. Hanc cle mentia repellit longe iussam stare a se; cum severitate illi convenit. ( 4) Ad rem pertinet quaerere hoc loco, quid sit mise ricordia ; plerique enim ut virtutem eam laudant et bonum hominem vocant misericordem. Et haec vitium animi est. Utraque circa severitatem circaque clemen tiam posita sunt, quae vitare debemus ; (per speciem enim severitatis in crudelitatem incidimus, ) per speciem clementiae in misericordiam. In hoc leviore periculo erratur, sed par error est a vero recedentium. 5 ( 1 ) Ergo quemadmodum religio deos colit, superstitio violat, ita clementiam mansuetudinemque omnes boni viri prae stabunt, misericordiam autem vitabunt ; est enim vi ti um pusilli animi ad speciem alienorum ( malorum) suc cidentis. Itaque pessimo cuique familiarissima est ; anus et mulierculae sunt, quae lacrimis nocentissimorum moventur, quae, si liceret, carcerem effringerent. Mise ricordia non causam, sed fortunam spectat ; clementia rationi accedit. (2) Scio male audire apud inperitos sectarn Stoicorum tamquam duram nimis et minime
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können sagen, daß dies nicht Grausamkeit ist, sondern tierische Wildheit, der das Wüten Genuß bereitet. Wir können es auch Wahnsinn nennen ; denn seine Spiel arten sind mannigfaltig und keine von größerer Be stimmtheit als die, welche zu Morden an Menschen und Blutrünstigkeiten gelangt. (3) Die werde ich also grau sam nennen, die Grund zum Strafen haben, aber kein Maß kennen, wie bei Phalaris, von dem man sagt, er habe zwar nicht gegen unschuldige Menschen, aber über menschliches und erträgliches Maß gewütet. Wir kön nen Haarspaltereien entgehen und so bestimmen, daß Grausamkeit eine Neigung der Seele zum Roheren ist. Diese stößt die Güte zurück und heißt sie weitab von ihr stehen ; denn mit der Strenge einigt sie sich. ( 4) Es gehört zur Sache, hier zu untersuchen, was Mitleid ist ; sehr viele nämlich loben es wie eine Tugend und nennen einen guten Menschen mitleidig. Auch das ist ein Mangel der Seele : beide nämlich liegen am Rande der Strenge und der Güte. Wir müssen sie vermei den ; im Blick auf die Strenge geraten wir nämlich in die Grausamkeit, im Blick auf die Güte ins Mitleid. Hierin irrt man mit geringerer Gefahr, aber gleich ist das Irren der von der Wahrheit Abkommenden. 5 ( 1 ) Wie nun die Religion die Götter verehrt, der Aberglaube sie verletzt, so werden alle guten Männer Güte und Sanftheit zeigen, Mitleid aber vermeiden ; es ist nämlich der Mangel eines kleinen Geistes, der beim Anblick fremder Leiden zusammenbricht. So ist es gerade den Schlechtesten am vertrautesten : alte Frauen und Weiblein sind es, die sich von den Tränen der Schuldigsten rühren lassen, die, wäre es erlaubt, den Kerker aufbrechen würden. Mitleid sieht nicht den Sachzusammenhang, sondern das Los an : die Güte schließt sich an die Vernunft an. (2) Ich weiß, daß bei den Unkundigen die Schule der Stoiker verschrien ist als allzu hart und keineswegs in der Lage, Fürsten und
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principibus regibusque bonum daturam consilium ; ob icitur illi, quod sapientem negat misereri, negat igno scere. Haec, si per se ponantur, invisa sunt ; videntur enim nullam relinquere spem humanis erroribus, sed omnia delicta ad poenam deducere. (3) Quod si est, quidnam haec scientia, quae dediscere humanitatem iubet portumque adversus fortunam certissimum mu tuo auxilio cludit? Sed nulla secta benignior leniorque est, nulla amantior hominum et communis boni adten tior, ut propositum sit usui esse, ut auxilio nec sibi tan tum, sed universis singulisque consulere. (4) Misericor dia est aegritudo animi ob alienarum miseriarum speciem aut tristitia ex alienis malis contracta, quae accidere inmerentibus credit ; aegritudo autem in sa pientem virum non cadit ; serena eius mens est, nec quicquam incidere potest, quod illam obducat. Nihil que aeque hominem quam magnus animus decet ; non potest autem magnus esse idem ac maestus. (5) Maeror contundit mentes, abicit, contrahit ; hoc sapienti ne in suis quidem accidet calamitatibus, sed omnem fortunae iram reverberabit et ante se franget; eandem semper faciem servabit, placidam, inconcussam, quod facere non posset, si tristitiam reciperet. 6 ( 1 ) Adice, quod sapiens et providet et in expedito consilium habet ; numquam autem liquidum sincerum que ex turbido venit. Tristitia inhabilis est ad dispi ciendas res, utilia excogitanda, periculosa vitanda, aequa aestimanda ; ergo non miseretur, quia id sine miseria animi non fit. (2) Cetera omnia, quae, qui
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Königen guten Rat z u erteilen. E s wird ihr nämlich vorgeworfen, daß sie bestreitet, der Weise erbarme sich und verzeihe. Wenn dies für sich aufgestellt würde, ist es abscheulich : scheint es doch keine Hoffnung zu las sen für menschliches Irren, sondern alle Vergehen der Strafe zuzuführen. (3) Wenn das so ist, wie sollte diese Wissenschaft dann nicht verhaßt sein, die befiehlt, die Menschlichkeit zu verlernen, und den zuverlässigsten Hafen gegen das Geschick, nämlich gegenseitige Hilfe, verschließt? Aber keine Schule ist gütiger und milder, keine menschenfreundlicher und wacher für das allge meine Wohl, so daß es Ziel ist, nützlich und hilfreich zu sein, und nicht nur für sich, sondern für die Gesamt heit und ihre einzelnen Glieder zu sorgen. ( 4) Mitleid ist ein Kummer der Seele beim Anblick fremden Elends oder Betrübnis aufgrund fremden Unglücks. Sie glaubt, es sei ihnen zugestoßen, ohne daß sie es verdiepten : Kummer aber trifft einen weisen Mann nicht. Seiri Sinn ist heiter, und es kann nichts geschehen, was ihn um wölkt. Und nichts ziemt einem Menschen in gleicher Weise wie ein hoher Sinn : er kann aber nicht zugleich hoch und traurig sein. (5) Trauer zerbricht den Sinn, wirft ihn nieder, zieht ihn zusammen. Das wird dem Weisen nicht einmal bei eigenen Unglücksfällen zu stoßen, sondern er wird allen Zorn des Geschickes zu rückschlagen und vor sich brechen. Denselben Ausdruck wird er immer bewahren, friedlich, unerschütterlich. Er könnte es nicht, wenn er der Betrübnis Eingang ge währte. 6 ( 1 ) Füge hinzu, daß der Weise vorausschaut und seine Geisteskraft bereithält. Niemals aber kommt Klares und Reines aus Trübem. Betrübnis ist unge schickt, die Dinge zu durchschauen, Nützliches auszu denken, Gefährliches zu vermeiden, Billiges abzuschät zen. Also erbarmt sich der Weise nicht, weil das ohne Elend des Geistes nicht geschieht. (2) Alles übrige, was
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miserentur, volo facere, libens et altus ammo faciet ; succurret alienis lacrimis, non accedet ; dabit manum naufrago, exuli hospitium, egenti stipem, non hanc contumeliosam, quam pars maior horum, qui miseri cordes videri volunt, abicit et fastidit, quos adiuvat, contingique ab iis timet, sed ut homo homini ex com muni dabit ; donabit lacrimis maternis filium et catenas solvi iubebit et ludo eximet et cadaver etiam noxium sepeliet, sed faciet ista tranquilla mente, voltu suo. (3) Ergo non miserebitur sapiens, sed succuret, sed proderit, in commune auxilium natus ac bonum publi cum, ex quo dabit cuique partem. Etiam ad calamitosos pro portione inprobandosque et emendandos bonita tem suam permittet; adflictis vero et forte laboranti bus multo libentius subveniet. Quotiens poterit, fortu nae intercedet ; ubi enim opibus potius utetur aut viribus, quam ad restituenda, quae casus inpulit ? Val turn quidem non deiciet nec animum ob crus alicuius aridum aut pannosam maciem et innixam baculo senec tutem ; ceterum omnibus dignis proderit et deorum more calamitosos propitius respiciet. ( 4) Misericordia vicina est miseriae ; habet enim aliquid trahitque ex ea. Inbecillos oculos esse scias, qui ad alienam lippitudi nem et ipsi subfunduntur, tarn mehercules quam mor-
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nach meinem Willen die tun sollen, die sich erbarmen, wird er gern und erhobenen Sinnes tun. Fremden Trä nen wird er zu Hilfe eilen, nicht nahekommen. Er wird dem Schiffbrüchigen die Hand, dem Verbannt.en Obdach, dem Bedürftigen eine Gabe geben, nicht diese verletzende, mit der die Mehrheit derer, die mitleidig erscheinen wollen, wegwerfend und hochmütig die be handelt, denen sie hilft, und fürchtet, von diesen be rührt zu werden, sondern wie ein Mensch wird er einem Menschen aus gemeinsamem Besitz geben. Er wird den mütterlichen Tränen den Sohn geben, wird die Ketten lösen lassen, ihn aus der Kaserne holen und wird auch einen schuldbeladenen Leichnam begraben, aber er wird das tun mit ruhigem Sinn, mit dem ihm eigenen Ausdruck. (3) Also wird der Weise sich nicht erbarmen, sondern wird zu Hilfe eilen, wird nützen, geboren zu gemeinsamer Hilfe und zum öffentlichen Wohl, von dem er jedem einen Teil geben wird. Auch auf die Unglücklichen, die verhältnismäßig zu miß billigen und zu bessern sind, wird er sein Gutsein über gehen lassen. Den Niedergeschlagenen gar und durch das Schicksal Leidenden wird er viel lieber zu Hilfe kommen. Sooft er kann, wird er dem Geschick in die Arme fallen. Wo wird er denn seine Mittel oder Kräfte besser gebrauchen, als um wiederherzustellen, was ein Schicksalsschlag traf? Den Blick wird er nicht sinken lassen ebensowenig wie den Mut wegen irgendeines dürren Schenkels oder lumpiger Magerkeit und seiner auf den Stock gestützten Greisenhaftigkeit. Im übrigen aber wird er allen, die es verdienen, nützen, und nach Götterart wird er die in Not Geratenen gnädig an blicken. ( 4) Erbarmen ist benachbart der Erbärmlich keit; es hat nämlich etwas und zieht etwas aus ihr. Schwach sind die Augen, mußt du wissen, die bei frem der Bindehautentzündung sich selber mit Tränen fül len, ebenso, beim Hercules, wie es eine Krankheit ist,
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bum esse, non hilaritatem, semper adridere ridentibus et ad omnium oscitationem ipsum quoque os diducere ; misericordia vitium est animorum nimis miseria paven tium, quam si quis a sapiente exigit, prope est, ut la mentationem exigat et alienis funeribus gemitus. 7 ( 1 ) [ At quare non ignoscet? vacuum] Constituamus nunc quoque, quid sit venia, et sciemus dari illam a sapiente non debere. Venia est poenae meritae remis sio. Hanc sapiens quare non debeat dare, reddunt ra tionem diutius, quibus hoc propositum est ; ego ut bre viter tamquam in alieno iudicio dicam : >Ei ignoscitur, qui puniri debuit; sapiens autem nihil facit, quod non debet, nihil praetermittit, quod debet ; itaque poenam, quam exigere debet, non donat. (2) Sed illud, quod ex venia consequi vis, honestiore tibi via tribuet ; parcet enim sapiens, consulet et corriget ; idem faciet, quod si ignosceret, nec ignoscet, quoniam, qui ignoscit, fatetur aliquid se, quod fieri debuit, omisisse. Aliquem verbis tantum admonebit, poena non adficiet aetatem eius emendabilem intuens ; aliquem invidia criminis mani feste Iaborantern iubebit incolumem esse, quia deceptus est, quia per vinum lapsus ; hostes dimittet salvos, ali quando etiam laudatos, si honestis causis pro fide, pro foedere, pro libertate in bellum acciti sunt. (3) Haec omnia non veniae, sed clementiae opera sunt. Clemen tia liberum arbitrium habet ; non sub formula, sed ex aequo et bono iudicat ; et absolvere illi licet et, quanti
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nicht Heiterkeit, immer Lächelnden zuzulächeln, und bei dem Gähnen aller auch selber den Mund ausein anderzuziehen : Erbarmen ist das Laster der Seelen, die sich allzusehr über Erbärmlichkeit erschrecken. Wenn einer es vom Weisen fordert, kommt es dem nahe, daß er Jammern und Schluchzen bei einem Begräbnis for dert, das ihn nicht betrifft. 7 ( 1 ) [Aber warum wird der Weise nicht verzeihen?] Legen wir jetzt noch fest, was Gnade ist, und wir wer den wissen, daß sie vom Weisen nicht gewährt werden darf. Gnade ist Erlaß verdienter Strafe. Warum diese der Weise nicht gewähren darf, darüber geben die län ger Rechenschaft, deren Aufgabe das ist ; um es von mir aus kurz, gleichwie in einem fremden Prozeß, zu sagen : >Dem wird verziehen, der hätte bestraft wer den müssen. Der Weise tut aber nichts, was er nicht soll, und unterläßt nichts, was er soll. Daher schenkt er nicht die Strafe, die er fordern muß. (2) Aber das, was du aus Gnade erlangen willst, teilt er dir auf sittlich schönere Weise zu. Der Weise schont nämlich, er sorgt und er richtet gerade. Er tut dasselbe, was er tun würde, wenn er verziehe, und verzeiht doch nicht, da, wer verzeiht, gesteht, daß er etwas unterlassen hat, was er hätte tun müssen. Irgendeinen wird er nur mit Worten mahnen, ihn nicht mit Strafe belegen im Blick auf sein besserungsfähiges Alter. Einen anderen, der handgreiflich unter der Verhaßtheit eines Verbrechens leidet, wird er unversehrt zu sein heißen, weil er ge täuscht wurde, weil er durch den Wein strauchelte. Landesfeinde wird er heil entlassen, manchmal sogar mit Lob, wenn sie durch anerkennenswerte Gründe für gegebenes Wort, für ein Bündnis, für die Freiheit zum Kriege aufgerufen waren. (3) Dies alles sind nicht Werke der Gnade, sondern der Güte. Die Güte hat freie Verfügungsgewalt, sie urteilt nicht im Rahmen einer Prozeßformel, sondern aufgrund des Billigen und
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vult, taxare Iitern. Nihil ex his facit, tamquam iusto minus fecerit, sed tamquam id, quod constituit, iustissi mum sit. lgnoscere autem est, quem iudices puniendum, non punire ; venia debitae poenae remissio est. Clemen tia hoc primum praestat, ut, quos dimittit, nihil aliud illos pati debuisse pronuntiet ; plenior est quam venia, honestior est. ( 4) De verbo, ut mea fert opinio, contro versia est, de re quidem convenit. Sapiens multa re mittet, multos parum sani, sed sanabilis ingenii serva bit. Agricolas bonos imitabitur, qui non tantum rectas procerasque arbores colunt; illis quoque, quas aliqua depravavit causa, adminicula, quibus derigantur, ad plicant ; alias circumcidunt, ne proceritatem rami pre mant, quasdam infirmas vitio loci nutriunt, quibusdam aliena umbra Iaborantibus caelum aperiunt. (5) Vide bit, quod ingenium qua ratione tractandum sit, quo modo in rectum prava flectantur . . . <
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Guten. Ihr ist es sowohl erlaubt freizusprechen als auch das Streitobjekt so hoch einzuschätzen, wie sie will. Nichts von diesen Dingen tut sie so, als ob sie weniger als der Gerechte getan hätte, sondern so, als ob das, was sie festsetzt, am allergerechtesten sei. Verzeihen aber heißt, einen, der nach deinem Urteil zu bestrafen ist, nicht zu bestrafen. Gnade ist Erlaß verdienter Strafe : Güte leistet zunächst dies : sie verkündet, daß die, welche sie entläßt, nichts anderes hätten erleiden dürfen. Sie ist also abgerundeter als Gnade und statt licher. (4) Ums Wort geht, wie ich denke, der Streit, über die Sache besteht Einigkeit. Der Weise wird vie les erlassen, viele von zu wenig gesunder, aber heil barer Anlage wird er bewahren. Er wird die guten Landwirte nachahmen, die nicht nur gerade gewach sene und schlanke Bäume pflegen : auch denen, die irgendeine Ursache verkrümmt hat, legen sie Stützen an, damit sie dadurch begradigt werden, andere be schneiden sie, damit die Aste ihrem schlanken Wuchs nicht zur Last sind, bestimmte, die durch Mängel des Bodens schwach sind, nähren sie, bestimmten anderen, die unter fremdem Laub leiden, öffnen sie Licht. (5) Der Weise wird sehen, welche angeborene Art auf jeweils verschiedene Weise zu behandeln ist, wie Krum mes zur Gradheit gebogen wird.<
ANMERKUNGEN Der Text beruht auf einer neuen Interpretation, die sim vor allem an die Ausgabe von C. Hosius (BGT Leipzig 2 1 9 1 4) häl t ; von den anderen gängigen Ausgaben sind vor allem die ältere Gesamt ausgabe von F. Haase (Leipzig 1 8 8 1 ) und die von F . Premac (Paris 2 1 9 6 1 ) ständig erwogen worden . In der Frage der Handsmriften überlieferung smeint Premac in der Alleinberüduimtigung des Codex Nazarianus z u weit zu gehen. Im übrigen ist die Ober lieferung nimt smlemt, es finden sim aber eine Reihe Korruptelen, um deren Heilung man sim seit der Renaissance teilweise vergeb lim bemüht hat. An einigen ungeheilten Stellen sind, als Ergän zungen oder Bumstabenänderung kenndim gemamt, eigene Vor smläge i n den Text gesetzt worden, deren wimtigste i n den An merkungen erläutert worden sind.
Erstes Buch 1 , 1 Nero, 37 n. Chr. als Sohn des Gaius Domitius Ahenobar bus und der Urenkelin des Augustus, der jüngeren Agrip pina, geboren, wurde von seiner Mutter, die in dritter Ehe mit Claudius als dessen zweite Gattin verheiratet war, mit Hilfe der Prätorianer zum Kaiser gemamt und nannte sim von da an Nero Claudius Drusus Germanicus Caesar. 6 Hier wird das Motiv des milden Friedenskaisers Augustus angesmlagen, das im ersten Bum eine beherrsmende Rolle spielt. Die erste Zeit des Tiberius stellt Tacitus in den drei ersten Bümern der Annalen als relativ gut hin, bis mit dem Wirken des Vertrauten Sejan sim alles zum Smlemten wen det (dargestellt in den Bümern 4-6 der Annalen). überliefert ist principatus tuus ad gustum exigitur. Lipsius verbesserte zu (anni) gustum, Premac zu ad gustum (istum). Wahrsmeinlimer ist, daß gustatum sc. principatum zu lesen ist : das Jahr der Regierung Neros ist sozusagen die gu statio, das Hors-d'ceuvre, das man sim weiter in diesem Stile wünsmt. 3, 1 Zu der Konjektur humanae condicionis ist das Namwort S . 1 1 3 zu vergleimen. manu als Korruptel von humanae be-
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Anmerkungen gegnet bei Cicero de leg. 2,28 ; die Endung -onis wird heil sein , condicio ist ein zentrales Wort des ersten Buches und bei Seneca überhaupt.
2 Unter denen, die den Menschen der Lust überantworten, sind hier die Epikureer zu verstehen .
5 Angespielt wird auf Mucius Scaevola, der seine rechte Hand im Feuer freiwillig verkohlen ließ, um dem Etruskerkönig Porsenna die Härte der römischen Jugend z u demonstrieren. Ob im nächsten B eispiel an Marcus Curtius gedacht ist, der sich für das Vaterland opferte, indem er i n einen auf dem Forum sich auftuenden Schlund sprang - es hieß, die Römer würden siegen, wenn das Beste des Staates geopfert wür de -, ist nicht so sicher : subsiluimus scheint einen Sprung von unten nach oben zu meinen .
4,1 Das Zitat stammt aus Vergils georg. 4,2 1 2 f. 6,1 Die drei Theater sind die des Balbus, des Marcellus und des Pompeius. Das 5 5 v. Chr. eingeweihte Pompeiustheater ist das erste steinerne Theater Roms. D as Bild soll von der Menge der Menschen eine Vorstellung geben. Der Text ist unsicher.
7,1 Jupiter straft die Könige mit seinem Blitz. Hatte ein Blitz einen Menschen getötet, sammelten die etruskischen Leber schauer die Gebeine und begruben sie an Ort und Stelle. Ein solches Blitzmal hieß bidental.
9 , 1 Nach dieser Stelle bestimmt sich die D atierung von de clem. D a sich duodevicensimum egressus annum als Explikation des quod tu nunc es auf Nero bezieht und der Text heil ist, muß die Schrift nach dem Dezember 55 n. Chr. geschrieben sein, da Nero im Dezember 3 7 geboren wurde. Bei Augustus wird die Zeit des Prinzipats abgesetzt von der Zeit, i n der er am Gemeinwesen teilnahm. in communi rei publicae wird als Substantivierung des Neutrums mit abhän gigem Genitiv im Sinne von in communi re publica für kühn, aber möglich gehalten . Der bezeichnete Zeitraum schließt die Zeit vor dem Triumvirat und dieses selbst mit ein. Die haltlos en Verdächtigungen, denen Seneca offenbar Ver trauen schenkt, beziehen sich der Reihe nach 1. auf den Ver dacht, die Konsuln Hirtius und Pansa im April 43 v. Chr. umgebracht zu haben (Sueton, Aug. 1 1 ; Cassius Dio 46,39, 1 ; Tacitus, ann. 1 , 1 0), 2 . ein Attentat auf Antonius Anfang
Anmerkungen
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Oktober 44 geplant zu haben (Cicero, epist. 1 2,23,2) und 3 . die Tatsache, daß er seit 27. November 43 als Triumvir mitschuldig an den Proskriptionen war. Der spätere Augu stus war am 23. September 45 achtzehn Jahre alt. Es han delt sich also um einen approximativen Vergleich, der .im Gegensatz zum hohen Alter gesehen werden muß : sed cum annum q11adragensimum transisset, und der statt der Grenze, die das Plusquamperfekt erlauben würde, diese u m zwei Jahre nach rückwärts verschiebt, weil Nero damit verglichen werden kann. Das Ganze ist stark rhetorisch gefärbt. Wir könnten umschreiben : ungefähr in deinem Alter - du bist jetzt achtzehn - hatte er schon .
.
•
2 Die mysteriöse Verschwörung des Cn. Cornelius Cinna Ma gnus wird noch von Cassius Dio 5 5 , 1 4 , 1-22,2 erzählt und in das Jahr 4 n . Chr. gesetzt, was zu 1 ,9 , 1 2 stimmt, wenn post hoc sich unmittelbar an die gewährte Verzeihung an schließt (vgl. die Diskussion bei Fitzier - Seeck, RE 1 9 . Hbb. 1 9 1 8 , S p . 370) . Dazu paßt allerdings nicht d i e Alters angabe cum annum quadragensimum transisset (das wäre Ende 23 v. Chr. oder 22 v . Chr.) . Ganz schwierig ist die Angabe cum in Gallia moraretur. Sie paßt weder zu 23/22 v. Chr. noch 4 n. Chr. (Augustus hielt sich in den J ah ren 27, 25/24, 1 6-1 3, 10 v. Chr. i n Gallien auf.) Soll die Geschichte, die Corneille den Stoff für sein Meisterwerk
Cinn.a gab, von Seneca erfunden sein (wie Seeck annimmt), oder soll man Überlieferungsfehler annehmen
(Prechac),
oder soll man schließlich an I rrtümer Senecas glauben, die ja den tiefen römischen Ernst der Geschichte nicht tangieren (wozu diese Ausgabe neigt) ?
3 Den Proskriptionen der Triumvirn fiel Cicero zum Opfer, in d essen Tod Octavian nach langem Widerstand hatte ein willigen müssen.
6 Livia, Mutter des Tiberius und Drusus aus der Ehe mit Tiberius Claudius Nero, war seit 3 8 v. Chr. mit dem spä teren Kaiser Augustus verheiratet und hat nach dessen Tode unter dem Prinzipat des Tiberius eine wichtige Rolle ge spielt. Ihre Villa bei Prima Porta, aus der die Panzerstatue des Augustus stammt, und ihr Haus auf dem Palatin geben heute noch Zeugnis von ihrem großzügigen und doch schlichten Stil.
Anmerkungen
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Q. Salvidienus
Rufus, Freund und Gehilfe Octavians, führt vor dem Frieden von Brundisium (Herbst 40 v. Chr.) ge heime Verhandlungen mit Antonius, die von diesem Octa vian mitgeteilt wurden. Vor dem Senat wegen Hochverrats angeklagt, beging er Selbstmord. Marcus Aemilius Lepidus, Sohn des Triumvirn (s. Anm. zu 1 , 1 0, 1 ) , zettelte 30 v. Chr. ein Komplott an. Lucius Terentius Varro Murena und Fannius Caepio ver schworen sich im Jahre 22 v . Chr. gegen Augustus. Seneca trennt die beiden der rhetorischen Steigerung wegen. Marcus Egnatius Rufus wurde 20 v . Chr. hingerichtet, weil er eines geplanten Attentats auf Augustus bezichtigt wurde.
1 0 adeo nihil facilius potes quam contra Caesarem advocare ist überliefert, Prechac klammert adeo nihil facilius potes als Interpolation ein, die Herausgeber schreiben statt potes mit leichter 1\nderung P�
11 Der erste Satz beweist nicht, daß das Werk de clem. nur aus einer Rolle bestand. Ein volumen umfaßte vielmehr ge wöhnlich ein Buch.
12 Cinna war Konsul im Jahre 5 n . Chr. 10,1 Gaius Sallustius Crispus war der Großneffe des Historikers Sallust (vgl. Horaz, c. 2,2) ; Marcus Cocceius Nerva, Ur großvater des Kaisers Nerva (96-9 8 n . Chr. ) , Konsul 39 v. Chr., hatte beim Frieden von Brundisium mitgewirkt (Horaz, sat. 1 ,5,28) ; Quintus D ellius hatte es fertiggebracht, von Dolabella zu Cassius, von diesem zu Antonius und vor Actium noch zu Octavian überzuwechseln, von Messalla als desultor bellorum civilium bezeichnet (Horaz widmet ihm
c. 2,3) . Das Hofzeremoniell kannte verschiedene Gruppen von Freunden, darunter die vornehmste derer, die allein und
zuerst vorgelassen wurden (darüber Seneca, de ben. 6,34,2 :
Anmerkungen
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apud nas primi amnium Gracchus et max Livius Drusus in stituerunt segregare turbam suam et alias in secretum reci pere, alias cum pluribus, alias universas. Habuerunt itaque isti amicos primos, habuere secundos, numquam veros) . Cn. Domitius, der Urgroßvater des Kaisers Nero, Asinius Pollio, der Geschichtsschreiber der Bürgerkriege (vgl. Ho raz, c. 2 , 1 ) , Marcus Valerius Messalla Corvinus, Gönner Tibulls und der letzte, der als Privatmann 27 v . Chr. einen Triumph feierte, Cicero, der Sohn des großen Redners und Denkers : jeder von diesen hing auf seine Weise am alten Freistaat. Marcus Aemilius Lepidus, der Triumvir, erhielt nach Caesars Tode durch Antonius die Würde des Pontifex maximus. Octavian ließ ihm diese, obwohl er ihn 36 v . Chr. in seiner Hand hatte, bis z u seinem Tode 1 3 / 1 2 v . Chr. Am 6. März 12 v . Chr. wurde Augustus Pontifex maximus .
3 2 v. Chr. ging Augustus gegen die Liebhaber seiner mit Tibe rius verheirateten Tochter Julia vor, und zwar nicht nur wegen Ehebruchs, sondern wegen Hochverrats un d Sakrile ges. Julius Antonius, der Sohn des Triumvirn, mußte ster ben, die andern wurden auf Inseln verbannt, Julia auf die Insel Pandateria.
1 1 , 1 Der Blick geht von der letzten g ioßcn Gewalttat, dem See sieg bei Actium, zurück zum Jahre 36 v . Chr., wo Octavian bei Naulochos die Flotte des Sextus Pompeius vernichtete. Aber er hatte bei mehreren Gelegenheiten viel von der ei genen verloren. Und - Seneca rafft rhetorisch zusammen weiter zurück bis zum Jahr 40, wo Octavian nach der Über gabe von Perugia am 1 5 . März am Altar des Divus Julius 300 seiner Feinde, Senatoren und Ritter, hatte hinrichten lassen.
2 Die schwierige korrupt überlieferte Stelle, die im Nazaria nus canpraendite sibi mor lautet, ist, von Erasmus ange fangen, auf die verschiedenste Weise v erbessert worden. Den Sinn scheint Haase mit seinem humani generis canprendet terminos am besten zu treffen . Hier wird vorgeschlagen, den B egriff terminos durch das zentrale Wort condicionem zu ersetzen. Das hat im überlieferten Buchstabenbestand ebenfalls Stützen und empfiehlt sich wegen des gleichen Be
ginns mit dem vorhergehenden Wort, wodurch eine Kor-
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Anmerkungen ruptel leicht entstehen konnte. Zu com prehendit vgl. de
clem. 2,3, 1 . 1 2, 1 Dionys d . i\ . regierte 405-367 v . Chr. i n Syrakus (vgl. Schillers Bürgschaft) und hatte als Usurpator doch auch ei nige menschliche Züge. Sulla legte unter dem Konsulat der beiden Patrizier P . Servilius Vatia und App . Claudius Puleher Anfang 79 v . C h r . seine Diktatur nieder und w u r d e deshalb v o n Caesar als Analphabet der Macht bezeichnet. Gestorben ist er 78. Die grausige Szene, die im Folgenden erzählt w i r d , geschah im Jahre 82 v. Chr., als Sulla nach der Schlacht am Colli nischen Tor 3 000-4000 Gefangene hinrichten ließ (Momm sen, Römische Geschichte Il, S . 329) . 2 Der Temp el der Bellona, der Kriegsgöttin, lag außerhalb der Stadtgrenze auf dem Marsfeld. In ihm fanden Senats sitzun gen statt. 3 Der Text ist unsicher. Lipsius hat de Sulla als Interpolation eingeklammert. Doch sollte man diesen Hinweis auf Spä teres nicht verdächtigen - wer sollte ihn hinzugefügt haben ? - und auch das überlieferte conscq11eremus, consequemur, mm sequimur nicht in mm quaeremus ändern. Der Text wird glatter, aber die offenbar intendierte Idee, daß das Beispiel Sullas es erlaubt, Schlüsse über Behandlung von ab gefallenen Bürgern im Bü rgerkrieg zu ziehen, käme zu kurz. Der Vers oderint, d11m metuant stammt aus dem A treus des Accius.
15,1 Die Geschichte von dem römischen Ritter Tricho, den die empörte Menge fast mit ihren Schreibgriffeln gelyncht hätte, steht nur hier bei Seneca. Lucius Tarius Ru fus gehört zu den tüchtigen Helfern des Augustus aus niederem Stande (vgl. Groag, in RE 2 . Reihe, 8 . Hbb. 1 932, Sp. 2320 ff. ) . Wahrscheinlich spielt Sueton A11g. 33 auf die tragische Begebenheit an.
1 8 ,2 Publius Vedius Pollio war ein unerfreulicher und moralisch stark belasteter Anhänger des Augustus. Die Geschichte wird ferner erzählt bei Plinius, nat. bist. 9 , 7 7 ; Seneca, de ira 3,40,2, Cassius Dio 54,23,2.
23,1 Der Vatermörder wurde in einen Sack eingenäht (culle11m) und ins Meer geworfen. Cicero gibt in seiner Rede für
Anmerkungen
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Sextos Roseins aus Ameria eine Interpretation dieser ur tümlichen Sitte, die den Mörder nicht nur aus der Gesell schaft, sondern auch der Berührung mit den Elementen aus schließen wollte. Unter dem Vater ist Claudius zu verstehen, der Nero adop tiert hatte (25 . Februar 49 n . Chr . ) .
25,1 Großartige allocutio an Alexander d e n Großen, f ü r den Stoiker der Inbegriff des Tyrannen und des Typhos , on kontrollierter Leidenschaft. Lysimachos, der Diadoche Alexanders, König von Thrakien und" Makedonien, soll von Alexander einmal einem Lö wen vorgeworfen worden sein, den er aber tötete (Curtius 8 , 1 , 1 4 ff. ; Iustinus 1 5 , 3 , 7 ff. ; Pausanias 1 ,9,5 ; Plutarch, Demetr. 27 ; Valerius Maximus 9,3 ext. 1 ; Seneca, de ira 3 , 1 7 ; Plinius, nat. bist. 8,54) . . . . das gewissesec Verderben deiner Freunde . . . : angespielt ist auf die Ermordung des Freundes Klei tos.
26,5 Die corona civica ist eine unter den zahlreichen Kranz ehrungen . Es war ein Eichenkranz. Er wurde verliehen, wenn ein Bürger in der Schlacht einen anderen Bürger ge rettet hatte. Augustus erhielt ihn 27 v . Chr. Er war sehr stolz darauf und erzählt in seinem Tatenbericht ( Mom<men tllm Ancyranum) Kap. 32 : coronaque civica super iam
Zweites Buch 1 , 2 Burrus, der Präfekt der Prätorianergarde Neros, der in Zu sammenarbeit mit Seneca das berühmte gute Jahrfünft un ter Nero zustande brachte.
2,1 Die Stelle ist korrupt. überliefert ist in omnes. O ffenbar soll aber noch nicht futurisch die Wirkung des princeps, sondern erst ein allgemeines biologisches G esetz aufgestellt werden. Die Verbesserung nach Gertz.
2 Das Zitat, das Seneca hier dadurch verfremdet, daß er es
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Anmerkungen seines Pathos entkleidet und i n indirekter Rede umschreibt, stammt aus einer unbekannten griechischen Tragödie (EflOÜ
-frav6v-to(; yai:a JleL:X:-fr�'t'ID nugt,
Trag. /ragm. adesp. 5 1 3
e d . Nauck) . E s bedeutet etwa : »Nach mir d i e Sintflut . «
3 , 1 formula excidere, ein Bild a u s d e r Rechtssphäre. I m For mularprozeß ist die Sache verloren, wenn der Tatbestand der vom Prätor gegebenen Formel nicht entspricht. Keine Stelle kann deutlicher machen, daß es Seneca auf eine ge naue Eingrenzung der clementia auf ein Rechtsprinzip nicht ankommt, sondern auf die Weite des Menschlichen . Richtig schon W. Grewe, Gnade und Recht, Harnburg 1 936, S . 67 : »Die Lösung dieser Widersprüche scheint darin zu liegen, daß die clementia in einem umfassenden Sinne verstanden wird, der einerseits indt�lgentia, Gnadengesinnung, anderer seits aequitas, Billigkeit, fordert . « Dieses Resümee über Se necas Schrift scheint das Wesentliche zu fassen, nur sollte man den weiten Inhalt auf die humanitas, nicht auf Rechts begri ffe wie aequitas beziehen.
4,1 Busiris, ein von griechischen Seefahrern im 7. Jh. v . Chr. erfundenes Symbol für die Fremdenfeindschaft der i\gypter. In der Folge entwickelt es sich zum rhetorischen Exempel für tyrannische Grausamkeit. Procrustes, ein attischer Unhold, der von Theseus getötet wird. Procrustes zwang den vorbeikommenden Wanderer auf ein Lager und hieb dem zu großen das Oberstehende ab, den zu kleinen streckte er durch Schlagen (daher der Name). 3 Phalaris, Tyrann von Agrigent auf Sizilien, schon von Ci cero i n de rep. und de off. als Urbild der Grausamkeit vor gestellt. Pindar erwähnt das berüchtigte Folterinstrument, den Stier, in dem er Menschen röstete. 554 v . Chr. ist er durch Volkserhebung gestürzt worden.
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Literaturhin'Weise
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1 976.
V. Serensen, Seneca. Ein Humanist an Neros Hof, München
1 984.
NACHWORT
L. Annaeus Seneca ist der römische Denker, der in beson derem Maße die Epoche der frühen Kaiserzeit, vor allem die Zeit Neros, geprägt hat. Tacitus, der in den Annalen mehrfach von ihm zu sprechen hatte, sagt, er habe eine an genehme Begabung besessen, die das Ohr seiner Zeit gehabt habe (Tacitus, Annales 1 3,3 fuit illi viro ingenium amoenum et temporis eius auribus accommodatum). Er gehört zu den großen >Spaniern< der römischen Lite ratur. Einige Jahre vor Christi Geburt wurde er in Corduba als Sohn des Rhetors Seneca geboren, durch dessen erhaltene Suasorien und Controversien (Darlegungen und Streitreden der Redelehrer und ihrer Schüler) wir einen guten Einblick in den Lehrbetrieb der frühen Kaiserzeit haben, der unserem Universitätsstudium entspricht. Es war selbstverständlich, daß er in Rom erzogen wurde, daß er beim Rhetor war, daß er sich philosophisch vertiefte. Wir kennen seine philoso phischen Lehrer, die alle einer strengen Lebensphilosophie zuneigten. Nach einer Kgyptenreise - zu seiner Tante, die mit dem damaligen Präfekten Galerius verheiratet war betätigte er sich als Gerichtsredner und begann die Beamten laufbahn mit der Quästur. Der Gefahr eines Todesurteils durch Caligula (37-4 1 n. Chr.) entging er nur, weil man ihm wegen seiner Kränklichkeit keine Lebenschancen gab. Unter Claudius traf ihn der harte Schlag der Verbannung auf die Insel Korsika. Er sollte Beziehungen zu Julia Livilla, der Schwester des Caligula, gehabt haben. Messalina, die Frau des Claudius, war die treibende Kraft bei dieser Bestrafung. Agrippina war es, die nach acht Jahren (49 n. Chr.) öden Verbannungslebens seine Rückberufung durchsetzte, ihm die Prätur verschaffte und ihn zugleich zum Erzieher ihres Soh nes Nero machte. Als Nero Kaiser wurde (54-68 n. Chr.), er hielt Seneca das Konsulat und hatte als Erzieher des Kai sers gesteigerten Einfluß. Zusammen mit dem Prätorianer-
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präfekten Burrus hat er bis zu dessen Tod (62 n. Chr.) ge meinsam mit ihm durch diesen Einfluß die Geschicke der Welt bestimmt, noch von Trajan darum gelobt. Ein Mann, der das Auf und Ab des Lebens zur Genüge kennengelernt und selbst höchste Verantwortung getragen hatte, war es, der da mit seinem Griffel bald die Zeit beherrschte. Darin hat er viel Ji.hnlichkeit mit Cicero. Wieviel an Zugeständ nissen er auch hat machen müssen, um sein Ziel einer ge rechten und menschenfreundlichen Verwaltung des Reiches zu erreichen, das beste Zeichen seiner moralischen Kraft ist dies, daß er Nero bald unbequem wurde. Nach Burrus' Tode zog sich darum Seneca vom Hofe zurück. Für Neros Grau samkeit bot die Pisanische Verschwörung den Anlaß, den Verhaßten zu beseitigen. Im Jahre 65 n. Chr. hat er Selbst mord verüben müssen. Seneca hat eine Unmenge von Schriftwerken hinterlassen. Nicht nur der Mensch, sondern auch die Natur fanden sein Interesse. Allein die Liste der verlorenen Schriften umfaßt siebzehn Nummern. Erhalten sind zehn unter dem Titel Dialogi zusammengefaßte Werke, zu denen der Sache nach auch das Werk über die Wohltaten (De beneficiis) und unse res (De clementia) gehören. Sie enthalten praktische Philo sophie und heißen Dialoge, der griechischen Diatribe ent sprechend, weil der Gedanke in stetem Konnex mit einem gedachten Gegenüber entwickelt wird. Oft ist, ohne daß es aber zum Zwiegespräch käme, das Gegenüber bestimmend für die Struktur des Werkes (so in den Trostschriften), bald steht die eigene Entwicklung und die Selbstbesinnung im Vordergrund (De otio). Um moralische Probleme im weite sten Sinne des Wortes, wie es die französischen Moralisten gebrauchten, geht es auch in den zwanzig Büchern Briefe an den jüngeren Freund Lucilius. Die immer neuen Pro bleme menschlichen Handeins werden dabei mit Hilfe der Philosophen, vor allem der Stoiker - aber selbst Epikur spielt neben Peripatus und Plato eine Rolle -, im aktuellen Fall geklärt. Das richtige, wesentliche Handeln, fern aller
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curlOSltas, antiquarischem Bemühen, wird gesucht und mit allen Mitteln suggeriert. Denn Seneca will auf den Willen wirken. Die sieben Bücher der Quaestiones nawrales wider sprechen dem nicht. Himmelserkenntnis ist Gotteserkenntnis. Sosehr sich Seneca in diese wissenschaftlichen Fragen ver tieft, ist für ihn doch die Frucht der Naturbetrachtung für die Menschenbildung entscheidend. Seine Naturbeschreibun gen, die einen Alexander von Humboldt entzückten, können noch heute lehren, Naturwissenschaft für den Menschen fruchtbar zu machen. Als Dichter hat er in sieben Tragödien - die Octavia, ein Stück mit hochaktuellem Stoff, in dem Seneca selbst Nero entgegentritt, als er Octavia, seine Frau, die Tochter des Claudius, der Poppaea zuliebe beseitigen will, ist in der Echtheit umstritten - das Amt des philoso phischen Mahners zur Vernunft weiter geübt. Nicht Mitleid und Furcht, sondern Abscheu und Schrecken erregen bei ihm die Gestalten, die die Grenzen des Menschlichen überschrei ten, weil sie auf der Höhe der Macht zum Unmenschen werden. Sprühender Witz zeichnet seine Satiren auf den Tod des Kaisers Claudius aus, die Apocolocyntosis. Die Wirkung seiner vielfach neuen, bis ans Christliche reichenden Gedanken beruht auf seinem Stil. In ihm ist die Periode nicht vorherrschend, sondern der kurze abgerissene Satz. Freilich erklärt dieser Zug, der einer nervösen Zeit entspricht, noch nicht die Wirksamkeit und ist, wenn man die vorliegende Schrift betrachtet, nicht einmal das Hervor stechendste. De clementia baut an herausgehobenen Stellen Riesenperioden mit ungeheurer Dynamik auf. Näher kommt man dem Wesentlichen, wenn man auf die gesuchte Pointie rung, die Antithesen, das Vermeiden des Gewöhnlichen und die überraschenden Wendungen, die gegen das Erwartete einen völlig neuen Aspekt bringen, achtet. Ein rhetorisch gebildetes und blasiertes Publikum, zu dem auch Nero ge hörte, mußte die Wahrheit in immer neuem Schliff darge boten erhalten, wenn es hinhören sollte. Dazu gehören die poetischen Elemente, die man in De clementia unschwer her-
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auskennen wird und deren Mischung mit nüchterner Prosa überhaupt das Kennzeichen der > silbernen < Latinität ist. In ihnen ist die gesamte Bildungswelt eingefangen, die auch in der Gedankenführung und der Wahl der Begrifflichkeit gegenwärtig ist, Cicero, Horaz, Vergil, Sallust vor allem. Letztlich aber beruht das alles darauf, daß Seneca die sel tene Fähigkeit hat, eine Lage oder ein Problem in aller Sinn lichkeit zu erfassen und es in seinem menschlichen Sinn, in der Wahrheit für den Menschen zu begreifen und auszu drücken. Daher die Bildlichkeit aus allen Bereichen der Natur, die den Zusammenhang aller Dinge und das Wesen zu fassen sucht, das zum Guten will oder sich von ihm ab wendet. Cicero sagte während der Greuel der Sulla-Zeit, die Grausamkeit der Zeit hätte an so viel Roheit gewöhnt, daß man alles Empfinden für Menschlichkeit verloren habe, omnem sensum humanitatis amisimus. In De clementia sucht Seneca wie in anderen Schriften das Sensorium für eigentliches Menschsein zu bilden und zu schärfen, in einer Zeit, in der es aus vielen anderen Gründen gefährdet war. Er glaubte fest, wenn man das Nützliche und Schöne an der Vernunft zeige, werde sich der Mensch von ihr auch leiten lassen. Kaiser Nero wurde im Dezember 37 n. Chr. geboren, kam am 1 3 . Oktober 5 4 zur Herrschaft und war 18 Jahre alt, als ihm Seneca die Schrift De clementia widmete (nach 1 ,9, 1 : cum hoc aetatis esset, quod tu nunc es, duodevicensimum egressus annum, besteht kein Anlaß, den klaren Wortlaut zu ändern oder ihn nicht auf Nero zu beziehen) . Das war um die Wende der Jahre 55 auf 56 n. Chr. Ein Jahr vorher hatte Nero den Sohn des Claudius, Britannicus, umbringen lassen (Tacitus, Annales 1 3 ; 1 5 ff.) , weil Streit und gefährliche Worte des Britannicus das Bedrohliche des Nebeneinanders zwischen dem Kaiser und dem in der Anwartschaft auf den Rang des Princeps näheren Jüngeren offenbar gemacht hat ten. Hat sein Lehrer Seneca davon gewußt, als er die vor liegende Schrift schrieb? In der Todesstunde jedenfalls
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scheint es ihm bekannt ; denn er sagt nach Tacitus (Annales 1 5 ,62) : »Wem sei die Grausamkeit Neros unbekannt ge wesen? Und es bleibe jetzt nichts übrig, nachdem er Mutter und Bruder getötet habe, als daß er den Mord am Erzieher und Lehrer hinzufüge.« Durch die Schrift geht das Leitmotiv, daß Nero im Ge gensatz zu dem großen Vorbild Augustus zur Herrschaft gelangt sei und sie jetzt führe, ohne einen Tropfen Blut ver gossen zu haben. Soll man die Schrift darum - im Wider spruch zu 1 ,9 - vor den Februar 55 datieren? Soll man an nehmen, daß Seneca nichts von dem Mord gewußt habe? Oder soll man schließlich glauben, Seneca habe die Tat igno riert und ein Bild von Nero entworfen, das diesem die Schrift um so wertvoller machen mußte? Alle Möglichkeiten sind von den Gelehrten vertreten worden. Die Schrift vor den Tod des Britannicus zu datieren wird schwerlich gelin gen : man müßte einen durchaus heilen Text ändern oder annehmen, sie sei in der Zeit der hervortretenden Feind schaft als Warnung konzipiert und später mit korrigiertem Zeitansatz herausgegeben worden. Daß Seneca volle Kennt nis von Neros teuflischem Anschlag gehabt habe, kann man niemanden zwingen zu glauben. Nero wies beim Zusammen brechen auf die Epilepsie hin, an der Britannicus litt (Bri tannicus trank den vergifteten Becher bei einer Abendgesell schaft, die nach seinem Tode fortgesetzt wurde, da Nero erklärt hatte, er werde bald wieder zu sich kommen). Jedoch ist De clementia durchaus nicht die Schrift eines naiven Schriftstellers und ist auch nicht für naive Leser berechnet. Tacitus erzählt (Annales 1 3 , 1 7) , daß es beim Begräbnis auf dem Marsfeld in Strömen regnete, so daß das Volk darin Götterzorn gegen die Untat sah, eine Untat, der - wie er sarkastisch bemerkt - sogar die meisten Menschen verziehen, da sie Bruderzwist und Absolutheitsanspruch des Regie rungsamtes in Rechnung setzten. Wird man einerseits nicht so weit gehen, Seneca zu dieser Mehrheit der Menschen zu rechnen, die statt mit Recht als Menschen empört zu sein,
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diesen Zorn lieber den Göttern überließen, an deren Zeichen die Masse glaubte, so wird man andererseits nicht anneh men, daß er nichtsahnend gewesen sei. Daß er die Tat ver abscheut hätte, wenn sie ihm bewiesen erschienen wäre, daß er sein gutes Gewissen nicht verkauft hätte, um Nero wo möglich bei jeder folgenden Untat mit einer philosophischen Schrift ein moralisches Alibi t.u schaffen, dessen darf man sicher sein. Man muß dabei bedenken, daß Seneca, was in dieser Gesellschaft besonders gefürchtet wurde, sich zugleich mit der oben zitierten Beurteilung von Neros Herrschaft der Lächerlichkeit preisgegeben hätte, falls irgend etwas Sicheres bekannt gewesen wäre. Vor allem aber : Seneca hätte das Ziel der Schrift, Nero mit allen Mitteln der Kunst der Überzeugung auf Recht und Güte zu verpflichten, illusorisch gemacht, wenn er gewußt hätte, daß er sich mit dem Ver such, durch Lob Neros Anlagen zum Guten zu wenden, einem Mörder hörig machte. Diese Erwägungen sollen nicht dazu dienen, Seneca moralisch zu belasten oder von einem machiavellistischen Standpunkte aus zu entlasten. Die Nachwelt und die Menschheit geht letztlich die Schlüssigkeit der Gedanken und die Wirkkraft der Form und des Stils dieser Schrift an, deren Einfluß auf die Jahrhunderte unabsehbar geworden ist. Ihrer Interpretation sollte die Erörterung der Frage die nen, ob Seneca vom Mord an Britannicus gewußt habe. Und unsere Erwägung läßt jedenfalls so viel erkennen, daß sie tiefster Sorge entspringt, daß sie ein Versuch ist, ohne jede Macht, allein mit den Waffen des Geistes und des Wortes den jugendlichen, zur Brutalität neigenden Alleinherrscher über die Welt für das Recht zu gewinnen. Man weiß, wie es ausgegangen ist : nach dem berühmten quinquennium, dem Jahrfünft, in dem Seneca im Zusammenwirken mit dem Prätorianerpräfekten Burrus der Menschheit eine glückliche Zeit bescherte, mußte er immer mehr das Vergebliche seines Bemühens einsehen. Er ging in den Tod, vielleicht nicht ganz untheatralisch, aber mit der Würde des Philosophen, treu
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seinen Überzeugungen. De clementia ist ein Dokument die ser eigenen Tragik. Nichts ist darum grotesker, als in De clementia einen juri stischen Traktat zu sehen, durch den statt strenger Anwen dung der Gesetze die Berücksichtigung mildernder Umstände empfohlen werden soll, statt des ius strictum die Billigkeit. Wahrlich ein ungeeigneter Adressat für juristische Finessen und ein dringendes Problem, wenn es um die Verhinderung von Gewalttaten des Princeps geht ! Mit dem Werk sind zwei im engeren Sinne philologische Fragen verbunden, die voneinander abhängig sind und ohne eine dritte wesentlichere nicht gelöst werden können. Seneca gliedert seine Schrift (1, 3, 1 ) in drei Teile. Seneca nennt sie partes. Da der zweite Teil mit dem Inhalt des zweiten Buches zusammenstimmt, hat man allgemein ange nommen, daß das Werk aus drei Büchern besteht und, da vom zweiten Buch nur der Anfang erhalten ist, unvollstän dig überliefert ist. Leider ist die Inhaltsumgrenzung des ersten Teiles in der Überlieferung verdorben worden : das tradierte und noch von Haase akzeptierte manumissionis ist sicher eine Korrupte!. Bei der Unsicherheit über Senecas Ab sicht im ersten Punkt konnte von Prechac die Behauptung gewagt werden, die Schrift, die mitten im zweiten Buche abzubrechen scheint, sei vollständig erhalten. Der erste Punkt behandle die humane Art Neros, zu lesen sei dem nach >humanissimi Neronis<. Die Anfangskapitel des zwei ten Buches 2, 1-2 erfüllten diesen Punkt, seien also umzu stellen. Der zweite Punkt, >Wesen und Beschaffenheit der clementia und ihre Abgrenzung von verwandten Begriffen<, sei in den Kapiteln 2,3-7 vollständig erhalten und müsse auf den Lobpreis Neros folgen, und das obengenannte erste Buch müsse sich anschließen. Es behandle den dritten Punkt, wie man den Sinn zur clementia hinführe, sie festige und sich zu eigen mache. Leider kann man dieser Theorie nicht folgen. Sie ist widerlegt. Die Schrift ist in drei Büchern ge plant gewesen. Es läßt sich nicht verkennen, daß die Kapi-
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tel 2,1-2 eine Vorrede zum zweiten Buch sind, zumal wenn man den versteckten Hinweis erkannt hat, daß der zweite Punkt genau von den folgenden Kapiteln 2,3-7 (wenn auch unvollständig) erfüllt wird. Das erste Buch handelt jeden falls nicht davon, wie man seinen Sinn an clementia ge wöhnt, sie festigt und sich zu eigen macht. Es vermittelt keine praecepta, sondern gibt eine überaus wichtige denke rische Grundlegung. Mit der Beantwortung der ersten Frage, ob die Schrift vollständig erhalten ist, ist freilich die zweite noch nicht be antwortet, wie Seneca den Inhalt des ersten Buches um schrieben hat und aufgefaßt wissen wollte. Sie ist von der Antwort auf die dritte nicht unabhängig, was für Seneca clementia überhaupt bedeutet. Nur aus der Analyse des Aufbaus des ersten Buches läßt sich günstigenfalls die er wähnte· Korruptel heilen oder jedenfalls erkennen, was er gewollt hat. Dann wird man im Vergleich mit dem voll ständigen zweiten Buch auch die Frage nach der clementia beantworten können. So hangen die philologischen Fragen im engeren und weiteren Sinne mit dem zusammen, was der Leser im Nachwort eines Werkes über seinen Sinn billiger weise erwarten darf. Seneca schickt beiden Büchern Vorworte voraus. Im ersten Proömium legt er dar, er wolle Ncro zeigen, daß er zur höchsten Freude gelangen werde. Sie ist das Glück, Men schen zu erhalten, wie am Schluß des ersten Buches formu liert wird, divina potentia, Göttermacht. Im Proömium des zweiten Buches ist sein Ziel wohl in 2,2 versteckt : er möchte Nero mit seinen guten Worten und Taten so vertraut machen, daß das, was jetzt gute Natur und Spontaneität ist, bewußtes Urteil wird. Er sieht ihn also auf dem Wege zum richtigen Handeln, das erst in voller Bewußtheit gelingt. Wenn die clementia am Handeln des Weisen geprüft wird, ist das zweite Buch insofern unvollständig, als der B ezug auf den Bemühten, der dieses Ziel noch nicht erreicht hat, nicht mehr in dem Erhaltenen behandelt wird. Das Verhält-
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nis von der clementia des Weisen zu der des gewöhnlichen Menschen konnte nicht unerörtert bleiben und wird zu dem dritten Buch übergeleitet haben. Seneca ist weit davon entfernt, die Monarchie zu recht fertigen. Gewiß, er sagt einmal ( 1 , 1 9,2), daß die Natur sich den König ausgedacht habe, dieser also naturgemäß sei. Im übrigen aber geht er von der Gegebenheit aus, daß dem einen alles erlaubt ist, wie er an anderer Stelle sagt. Hier läßt er es Nero aussprechen ( 1 , 1 ,2-4), noch dazu in der Antithese, daß er aller Macht zum Trotz noch heute Rechenschaft für jede ihm anvertraute Seele geben könne. Zu den Gegeben heiten, die sich nicht ändern lassen, gehört aber auch, daß Caesar und Volk, Kopf und Leib, sich nicht mehr trennen lassen, nachdem der Caesar mit der res publica unauflösbar verschmolzen ist ( 1 ,4,3) . Und noch eine andere, die an ver steckter Stelle angebracht und zu einer paradoxen Sentenz zugespitzt (1,1 ,8) ist : unter Nero hat das Gemeinwesen seine prächtigste Form angenommen, der zur höchsten Frei heit nichts weiter fehlt als die freie Verfügung über den Untergang, pereundi licentia. Für den wachen Hörer sind das ausreichende Hinweise auf die necessitas, die ausweglose Situation, in der es gilt, dem Princeps die Aufgabe zu zei gen, die Möglichkeit zum höchsten Glück, aber auch zu Ver haßtheit und Verderben, wenn er zum Tyrannen wird. Es ist vergebens versucht worden, die Gedankengänge auf eine systematische, womöglich juristische Ordnung festzu legen. Solche Gliederungen schweben als Phantasmagorien idealistischer Prägung über dem Text. Demgegenüber lassen sich in der poetischen, mehrstimmi gen Gedankenführung Leitmotive erkennen, etwa der Ge danke des Schonens und Bewahrens, die Götterähnlichkeit des hohen Amtes, die Verknüpfung von Nutzen und Ruhm, des u tile und honestum, sie mag die Lektüre aufspüren. Schließlich kann man drei Bewegungskurven herausheben, an deren Ende jeweils der wahre väterliche Herrscher dem Tyrannen entgegengestellt wird (Kap. 3-1 3 ; 1 4-1 9 ; 20-26) .
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Dabei ist clementia kein Rechtsprinzip, sondern die menschlichste Tugend. Sie macht jedes Hauswesen glücklich und friedlich, in dem sie herrscht, ist aber bei einem König oder Princeps besonders angebracht. Denn nur die Macht ist rühmlich, die auch heilbringend ist. Und nur so ist eine Herrschaft fest. Das ist ihr Nutzen. Die Untertanen gehen für ihren Herrscher in den Tod. Sie tun es nicht aus Wahn sinn oder weil sie den eigenen Wert geringachten, sondern aus der Erkenntnis heraus, daß ungeordnete Macht zusam menbräche, wenn sie nicht von dem Band der Herrscherweis heit gehalten würde (consilium 1 ,3,5 ; vinculum 1 ,4,1 ; consensus 1 ,3,3). Der Fürst ist der spiritus vitalis, der den Leib bewegt und belebt. Eines ist ohne das andere nichts, so wenig wie der Leib ohne den Kopf. Ihre Unversehrtheit lie ben also die Völker, wenn sie ihren Regenten lieben. Und so ist clementia für den Caesar nötig, weil er sich selbst schont, wenn er seine Glieder schont. Das ist die Grundlegung, nach der das Begonnene wieder aufgenommen wird, daß nämlich clementia besonders dem Herrscher ansteht. Er hat erstens mehr Möglichkeiten, sie zu " üben, als ein Privatmann, zum andern sind zwar die Tugen den von gleichem sittlichem Wert, aber in bestimmter Situa tion zeigen sie sich deutlicher. Wenn der Herrscher gütig ist, obwohl er nicht gezwungen werden kann, ist das rühmlicher als in anderen Fällen. Schonung gewähren ist der hohen Stellung wesentlich zugeordnet, ein wahrhaft göttliches Ver mögen. Das Folgende ergänzt das Gesagte locker mit neuen Aspekten. Man würde eine Großstadt wie Rom entvölkern, wenn man jeden bestrafen wollte, der es verdient hat : jeder Mensch irrt (Kap. 6) . Und da man die Götter erwähnt hat : wie der Kaiser nicht einen Jupiter haben möchte, der bei jedem seiner Mißgriffe einen Blitz auf ihn niederschmettern ließe, so ist es um so billiger, daß ein Mensch, über Menschen gesetzt, eine milde Herrschaft ausübt (Kap. 7). Leichter ver zeiht man Privatleuten Rachsucht, weil ein Privatmann ge troffen und angegriffen werden kann und Friedfertigkeit
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als Schwäche ausgelegt wird. Der Herrscher steht z u hoch, als daß er getroffen werden könnte, und seine Auswirkung ist so gefährlich, daß er selbst sein Wort zügeln muß. Es s ind Gedanken wie in der Caesarrede in Sallusts Catilina, wenn die Verschiedenheit der condicio, der Lage von Herrscher und Untertan, gerade in der stärkeren Gebundenheit des Höheren gesehen wird. Der Caesar kann von seiner Höhe ebensowenig heruntersteigen wie die Götter vom Himmel. Hinzu kommt, daß für Privatleute Hinnehmen von Unrecht die Gefahr erhöht, für den Herrscher die Sicherheit, weil bei grausamer Bestrafung nu·r einer getroffen werden kann, aber unzählige Gegner nachwachsen ( 1 , 7,3-8). Das Beispiel des Augustus, der auf Rat der Livia dem Cinna einen Anschlag auf ihn selbst verziehen hat, kann beides lehren, daß bei Güte Sicherheit und Ruhm wachsen. Dieses bewegend aus gestaltete exemplum (Kap. 9) gibt weiter Gelegenheit, die Güte des Augustus zu würdigen, zu der er nach seiner durch Grausamkeiten befleckten Jugend gelangte, und Nero dazu in Vergleich zu setzen, der die Chance hat, ihn in diesem Ruhm zu übertreffen ; denn er ist zur Regierung gelangt und herrscht jetzt über ein Jahr, ohne einen Tropfen Blut vergossen zu haben. Und der Gedankenzug (Kap. 1 0-1 1 ,4) wird folgerichtig abgeschlossen mit dem Urteil, das Nutzen und Ehre zusammenfaßt : Clementia ergo non tantum hone stiores, sed tutiores praestat ornamentumque inperiorum est simul et ce1·tissima salus. Der Princeps ist jetzt so in den Vordergrund gerückt, daß mit bewegten Fragen fast ohne Einschnitt ein Vergleich zwi schen dem König und dem Tyrannen ansetzen kann. Der Tyrann ist nicht nur der Unglücklichste aller Menschen, weil für ihn der Zwang besteht, immer weiter schlecht zu sein, sondern auch der durch den Haß der anderen Gefährdetste, während vom wahren König das Gegenteil gilt. Die Milde ist es, die den Unterschied zwischen ihnen ausmacht, gütiges Handeln im Gegensatz zu grausamem. Hier nimmt Seneca Ciceros Staatsdenken auf und modi-
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fiziert es. Cicero hatte politisches Leben als ein Widerspiel zwischen ichbezogenen tyrannischen und dienstbereiten, Ge meinschaft verwirklichenden Menschen angesehen. Die Güte, die für Seneca den Unterschied zwischen Tyrann und Prin ceps ausmacht, war ihm weniger wichtig gegenüber dem Faktum, daß es sich doch um einen >Herrn< , einen dominus handelt, der in einem wirklich' gerechten Gemeinwesen kei nen Raum hat. Für Cicero ist das consilium, an dem alle mit ihrer Würde und ihrem Können beteiligt sind, das Entschei dende, für Seneca ist in neuer historischer Situation der Princeps das consilium. Im übrigen aber erkennt man leicht an einer Fülle von Wendungen, daß es die Ciceronische Theorie ist, die auf den Princeps umgebogen wird. Das Con silium ist das Band (vinculum), das den Staat zusammen hält, es garantiert das Heil (salus), die Bürger sind in der Liebe (amor) zum Princeps geeint. Die Güte . ist an Stelle dessen getreten, was Cicero mit iustitia bezeichnet. Sie garan tiert den glücklichsten Zustand des Gemeinwesens, dem zur Freiheit nichts fehlt als die freie Verfügung über den Unter gang. Cicero hatte der libertas wegen jede Herrschaft ab gewiesen. Die menschliche Lage, die ohne Führung der Massen nicht denkbar ist, ist das Thema dieses Gedankenzuges. Sie wird immer wieder angedeutet und tritt vor allem in dem beherr schenden Vergleich zwischen der Stellung des Herrschenden und des P rivaten hervor. Die sich aus der theoretischen Grundlegung des Anfangs ergebenden Konsequenzen und das Herausarbeiten der Verschiedenheit der condiciones, die den notwendigen Gliedern eines Gemeinwesens zukommen, läßt das Schwergewicht immer mehr auf den Princeps fallen, wobei Nero direkt ins Spiel kommt. Der Vergleich zwischen dem Tyrannen und seinem Gegenbild aber verliert die con dicio humani gencris nicht aus dem Auge. Die zwei folgenden Abschnitte berühren wir nur kurz. Der zweite fragt nach der Pflicht des Herrschers und ver gleicht sie mit der eines gütigen Vaters. Ein exemplum er-
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härtet das. Das Beispiel der übrigen möglichen Herrschafts verhältnisse, die alle ihr Ziel nur durch Güte erreichen, illustriert weiter und läßt erkennen, daß es doch die größte Schande wäre, wenn ein Mensch unter einem Menschen in schlechtester Lage wäre, pessima condicione ( 1 , 1 7, 1 ) . Der Gedanke läuft wieder in einem Vergleich zwischen König und Tyrann aus, im Bild des Bienenkönigs ohne Stachel. Ebenso ist es beim dritten und letzten Abschnitt, wo der Tyrann durch Alexander verkörpert und ihm am Schluß der Princeps entgegengestellt wird, der sich durch Erhaltung sei ner Bürger die >Bürgerkrone< verdient, die man als Orden erwarb, wenn man einem römischen Bürger das Leben geret tet hatte. Ausgangspunkt dieses Teiles aber ist die Frage, aus welchen Gründen der Princeps straft. Das officium des Princeps, sein rechtes, gemäßes Handeln, wird also in einem weiteren Schritt durchleuchtet und nachgewiesen, daß alle denkbaren Gründe für ihn keine Geltung haben, daß die severitas nur das letzte Heilmittel bei Unheilbaren ist. Auch hier geht es um menschliche Natur ( 1 ,24,2) und menschliche Grenzen ( 1 ,25,2), also um die menschliche Lage. Alles das zeigt, daß der Vorschlag Prechacs, der freilich auf das Proömium des zweiten Buches gemünzt wurde, auf das erste Buch nicht zutrifft. Es geht vielmehr darum, von der menschlichen Notwendigkeit der Herrschaft her dieses Problem in bestimmter historischer Situation in Hinsicht auf den Herrscher und die Privatleute durchsichtig zu machen und im Gegensatz von Princeps und wahrem Königtum auf der einen und dem Tyrannen auf der anderen Seite Heil und Unheil des Menschenwesens zu erkennen. So dürfte die Hei lung der Korrupte! manumissionis am ehesten gelingen, wenn man dies bedenkt und humanae condicionis schreibt (vgl. Anm. I 3 , 1 ) . Das erste Buch ist nicht so sehr ein lntrodukto rium, sondern eine Wesensanalyse dessen, was Güte im staat lichen Wesen des Menschen bedeutet. Das quid wird erörtert. Nach dem Proömium des zweiten Buches richtet sich der Blick auf den Begriff an sich, das quale und seine Grenzen
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sollen bezeichnet werden. Die Feststellung des qztid geht hier also nicht auf den Gesamtzusammenhang des Menschlichen, sondern die Essenz einer Tugend (2,3 , 1 videamus, quid sit clementia qualisque sit et quos fines habeat) . Güte ist nicht der Gegensatz von Strenge, weil beides Tugenden sind, sondern von Grausamkeit, die definiert wird als ein Übermaß einer an sich verdienten Strafe. Mitleid ist davon zu unterscheiden. Es ist dem Weisen verboten, weil es eine Trübung der Klarheit des Verstandes ist, die für rechtes Handeln des Weisen unabdingbar ist. Man darf die Stoa deshalb nicht schelten, weil sie dem Weisen verbietet, zu ver zeihen und sich zu erbarmen : der Weise tut in der Erkennt nis, daß jeder Mensch irrt, dasselbe wie der Mitleidige, nur mit vollem Bewußtsein und unerschüttertem Gemüt. Wie Grau samkeit die Entartung der Strenge, so ist Mitleid die - ver zeihlichere - Entartung der Güte. Der Weise gewährt keine Gnade, sondern er handelt dem Wesen entsprechend richtig. Sein Handeln ist summa ratio, vollendete Vernunft, die Ge rechtigkeit selber. Es sind Gedanken, deren sich Cicero auch in seinem Werke über die Rechtlichkeit (De legibus) be diente. Die Art, wie das beschrieben wird (2,7,2), zeigt, daß es sich bei dem Handeln des Weisen nicht um ein Gerichts verfahren handelt, sondern überhaupt um Menschlichkeit im Miteinander der Menschen in hoher fürstlicher Stellung. Auch von den Feinden wird gesprochen, deren Handeln nicht bestraft wird, wenn es bejahenswerte Motive hat. Im Proömium des ersten Buches war Seneca weniger wählerisch in seinen Worten, da war das ignoscere positiv, hier negativ. Aber ist es nicht etwas anderes, wenn man sich mit gewöhnlichen Worten an einen gewöhnlichen Menschen wendet und wenn man das Handeln des Weisen davon ab hebt, indem man scharfe Unterscheidungen trifft? Der Widerspruch ist ein Indiz, daß Seneca auf diesen Unter schied, den er im Proömium zum zweiten Buche berührt hatte, im Verlaufe des zweiten Buches - wie übrigens Cicero oft - eingegangen ist.
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Clementia ist in dieser Schrift mit Güte übersetzt worden. Milde schien weniger aufs Handeln zu gehen als auf mildes Wesen, auf das Mürbe an sich. Güte erstreckt sich auf das Handeln - der gütige Vater sagen auch wir - und beruht zu gleich auf einem Gutsein, einer naturalis bonitas, wie bei Seneca. Darum wurde diese Übersetzung vorgezogen. Den noch darf nicht verkannt werden, daß kein Begriff einer be stimmten Zeit sich mit einem einer anderen vollständig deckt. Wenn wir im Hinblick auf die dritte Frage bestimmen wollen, was clementia eigentlich ist, dürfen wir die lange Geschichte des Wortes nicht vergessen. Imperator clemens, pater clemens, dominzts clemens, der begnadigende Feldherr, der gütige Vater, der milde Herr über die Sklaven, das sind die Gewaltverhältnisse, in denen die clementia seit alten Zeiten eine Rolle spielt. Der Feldherr schonte die Feinde, deren Stadt der Widder noch nicht durchstoßen hatte, wenn sie sich in seine fides begaben, das heißt, sich ihm ausliefer ten, aber mit seiner menschlichen Zuverlässigkeit rechneten. Diese clementia kann Cicero mit humanitas, Menschlichkeit, bezeichnen. Sie ist ohne Gerechtigkeit nicht denkbar. In die sem Verhältnis zwischen Bürgern spielt sie erst in der be rühmten clementia Caesaris eine Rolle, als alle Bürger in der Gewalt des Siegers waren. Auf dem Ehrenschild des Augu stus erscheint als eine seiner Grundtugenden, also als Tugend des Princeps, die clementia neben der virtus, der pietas und iustitia. Im Stoischen war die Tugend der Philanthropia etwas, was dem nahekam. Seneca hat diese Tugend für prädestiniert zur Herrschertugend gehalten und sie vom menschlichen Wesen her interpretiert. Es ist die noch mög liche Form der iustitia, die nach Cicero den Staat zusammen hielt und dessen Idee war. Stoische und römische Gedanken fließen in dieser Interpretation des menschlichen Wesens zu sammen. So ist die clementia nicht weit von der humanitas entfernt, die menschliches Leben leicht und glücklich machen könnte. Güte und Menschlichkeit können wir ebenfalls
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nebeneinanderstellen. So weit aber ist der Begriff für Seneca. Strenge und Ernst darf der Herrscher nur anwen den, wenn er anders nicht heilen kann. Weit entfernt also, ein Rechtsbegriff im Sinne der Billigkeit zu sein, die mil dernde Umstände berücksichtigt, stellt uns die Schrift in dringlicher Lage ein Bild von der Möglichkeit menschlicher Güte und dem Grauen ihres Versäumens hin, was auf die Herrscher der kommenden Jahrhunderte die Wirkung nicht verfehlt hat und auch unsere Zeit anruft, wofern sie Wert darauf legt, hinter der erreichten Höhe menschlichen Füh lens nicht zurückzubleiben.