Freder van Holk Der fressende Kreis
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel
Verlag KG, Pabelha...
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Freder van Holk Der fressende Kreis
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel
Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neubearbeitet von Heinz Reck Copyright © 1978 beim Autor und
Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und
nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Waldbaur-Vertrieb, Franz-Josef-Straße 21, A-5020 Salzburg
Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 33 9616 29, Telex 02 161024
Printed in Germany
August 1978
Scan by Tigerliebe 03/2006
Bearbeitung by Brrazo
1.
Entdeckungen und Erfindungen haben manchmal merkwürdige Schicksale. Da beschäftigte sich Professor Kilmanock vom Agrarwissenschaftlichen Institut in Milwaukee zwan zig Jahre lang mit »Grundfragen der Humosität«, die außer ihm kein Mensch wichtig fand. Kilmanock lag daran, die letzten Ursachen für die Humusbildung, etwa die Verwandlung nackten Fels- und Sandbodens in fruchtbare Erde, zu erforschen. Im zwölften Jahr seiner Arbeit stand für ihn fest, daß diese Ursachen nicht allein in gewissen chemischen Vorgängen, son dern vor allem im Vorhandensein eines besonderen Spaltpilzes zu suchen seien. Das wußte zwar die üb rige Welt schon lange, aber das war unwichtig. Im zwanzigsten Jahr seiner Forschungsarbeit hatte Kilmanock den Spaltpilz endlich ergriffen. Mit einem Wolframfaden von unglaublicher Feinheit, mit einer Spitze, die nicht stärker als ein tausendstel Millimeter war, brachte er die mühsam aufgezogene Bakterien kultur in helle Aufregung. Die Bakterien schossen wild hin und her und stürzten sich in unbeschreibli cher Neugier auf den seltsamen Eindringling. Eine kleine Bewegung des sinnreichen Mechanismus, in dem die Nadel hing, und schon war sie der gesuchten Bakterie entgegengerutscht und hatte sie ausgehoben. 5
Dieser gelungene Fischzug war als ein besonderes Glück zu bezeichnen gewesen. In den Wochen darauf erlebte Professor Kilmanock einige merkwürdige Dinge, zu denen nicht zuletzt der Tod von zwei fahrlässigen Assistenten gehörte. Das war so bemerkenswert, daß er darüber seinem ehe maligen Studienfreund Meyer II in Deutschland einen vertraulichen Brief schrieb. Meyer II wiederum hatte es keine Ruhe mehr ge lassen, daß alltäglich Millionen PS mit den Regen güssen ungenützt auf unsere liebe Erde stürzten. Er träumte von einem Verfahren, diese ungeheuren Kräfte auszunutzen und den Menschen ihr elektri sches Licht gewissermaßen in die Wohnungen hin einregnen zu lassen. Im Laufe der Zeit verschob sich jedoch seine Problemstellung, und er suchte nun nach Möglichkeiten, um den in der Luft schwebenden Wasserdampf zu verdichten und abregnen zu lassen. Das gab ihm für Jahre hinaus zu tun. Über das Palladium hinweg, welches das Tau sendfache seines Rauminhalts an Wasser aufzuneh men vermag, kam er nach unzähligen Versuchen auf einen Stoff von geradezu erschreckenden Eigen schaften. Theoretisch mußte eine bescheidene Tonne davon genügen, um über einem ganzen Landstrich einen Wolkenbruch aus heiterem Himmel zu erzeu gen. M II – wie Meyer II in sanfter Anlehnung an seinen Namen den Stoff nannte – riß das Wasser mit 6
so großer Gewalt an sich, daß man mit seiner Hilfe selbst aus entfernteren Gebieten den Wasserdampf der Luft heranholen konnte. Es war zu erwarten, daß er das geeignete Mittel sein würde, um trockene Ge biete der Erde zu beregnen. Die entstehenden Stürme würde man in Kauf nehmen müssen. Man wird jetzt verstehen, warum Kilmanock an Meyer II von seinen Entdeckungen berichtete. Der schönste Spaltpilz nützt einem nichts, wenn man ihn nicht auf die geeignete Weise ansetzen kann. Es war selbstverständlich ausgeschlossen, daß man ihn wie ein Saatkorn über den nackten Boden ausstreuen konnte. Erstens wäre es trotz der ungeheuerlichen Vermehrungsfähigkeit rein mengenmäßig zwecklos gewesen, zweitens hätten sich kaum soviel Selbst mörder gefunden, um diese Arbeit zu verrichten, und drittens und vor allem brauchte man Wasser, Riesen mengen von Wasser. Die gewöhnliche Feuchtigkeit reichte gerade hin, um den Spaltpilz KI – auch Kil manock deutete bescheiden seinen Namen an – küm merlich dahinleben zu lassen. Aber zusammen mit einer kleinen Sintflut würden einige Tonnen K I zu sehends eine Wüste in fruchtbares Land verwandeln. Zwei Forscher sahen ein wundervolles Ziel: statt der Riesenwüsten unseres Erdballs fruchtbares Land. Ihre Erfindungen wuchsen, reiften und mußten sich in absehbarer Zeit miteinander zu einem unsterbli chen Ganzen vereinen. 7
Aber leider… Meyer II vermochte seine Versuche nicht ganz im Verborgenen zu halten, und so waren ihm denn bald ein paar Leute auf den Fersen, die sich geradezu be wunderungswürdig für die Einzelheiten seines Lebens und seiner Arbeit interessierten. Latoff war ein sogenannter freier Agent. Er arbei tete auf eigene Rechnung mit ein paar Leuten, das heißt, er verschaffte sich gewisse Geheimnisse und verkaufte sie meistbietend. Er hatte eine ausgezeich nete Nase für die Bedürfnisse seiner Kunden. Das Geschäft ging immer. Dieser Latoff wurde auf Meyer II aufmerksam und hängte sich wie eine Klette an ihn. Das war in diesem Fall leicht, da kein Mensch daran dachte, in Meyers Arbeit militärische oder sonstige Wichtigkeiten zu sehen. Es fiel ihm nicht schwer, genügend Einzelheiten zu erfahren. Ebensowenig war es ein Kunststück, die Post des Professors mitzulesen und so Kenntnis von den Entdeckungen Kilmanocks zu erhalten. Latoff besaß nicht nur eine feine Nase, sondern auch eine scharfe Kombinationsgabe, die weder durch ein zartes Gewissen noch durch ähnliche gefühlvolle Angelegenheiten behindert wurde. Er erkannte in den beiden Erfindungen Kilmanocks und Meyers das, was die beiden Herren selbst kaum herausgefunden hatten: daß sie beide zusammen ein Kampfmittel von unge heuerlicher Wirkung abgaben. 8
Wolkenbrüche in jedem erwünschten Umfang und an jeder gewünschten Stelle sind bestimmt wirkungs voller als ein Trommelfeuer, aber Latoff war nicht naiv genug, um sich davon allein etwas zu versprechen. Erst durch Kilmanocks Arbeit wurden die künst lichen Wolkenbrüche, deren Erzeugung ein einziger Flugzeugpilot vornehmen konnte, zu einem lohnen den Gegenstand. Wenn man ihn zugleich mit M II einige Tonnen K I verstreuen ließ, so war das herab stürzende Wasser vergiftet, eine einzige flüssige Pest, die rettungslos jeden Menschen erledigte, der auch nur einige Spritzer abbekam. Sobald die Spaltpilze Erde, Steine oder sonstige Mineralien berührten, ent gifteten sie sich selbsttätig und wurden harmlose, brave Arbeiter, aber wo sie unterwegs auf Pflanzen oder Tiere oder Menschen trafen, wirkten sie als er barmungslose Killer. Ihre Winzigkeit erlaubte ihnen, ungehindert in jede Pore einzudringen und die Saft- oder Blutbahnen zu erreichen, in denen sie sich mit ungeheurer Schnel ligkeit vermehrten und zugleich das betreffende Le bewesen vergifteten, und zwar innerhalb von Minuten. Sie machten den lebenden Leib gewissermaßen hu mos, machten ihn zu einem Bestandteil der Erde. Sobald ihnen das gelungen war, erlosch ihre Giftkraft. Latoff sah nicht die segensreichen Folgen der Ver einigung von künstlichem Regen und fruchtbaren Spaltpilzen, sondern er sah nur, daß diesen mit K I 9
beladenen Wassern zwischen Himmel und Erde eine vernichtende Wirkung innewohnte. Nach all dem Gesagten ist es leicht begreiflich, daß die Welt fast gleichzeitig vom plötzlichen Ableben der Professoren Meyer II und Kilmanock unterrichtet wurde. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen wurde nicht gefunden. Ebensowenig tauchte der Verdacht eines Verbrechens auf. Latoff pflegte eben vorzüglich und einwandfrei zu arbeiten. Latoff forderte für seine Beute die bescheidene Summe von hundert Millionen Dollar. Einer seiner Mittelsmänner brachte ihm in kürzester Zeit einen Mann, der sich mit baren fünf Millionen das Vor kaufsrecht sicherte. Es bedeutete für Latoff die stärk ste Überraschung, daß dieser Mann Don Estobal della Chimarez, der Gobernador der mexikanischen Pro vinz Yukatan, war. Er begriff nicht recht, was ein einfacher Gouverneur mit einer derartigen Erfindung anfangen wollte. Um so besser wußte es Don Estobal della Chimarez. Der Ehrgeiz zwickte ihn schon lange. Er fand, daß er der geborene Präsident sei. Andererseits wußte er ganz genau, daß es keinen Zweck hatte, um den Prä sidentenposten zu kämpfen, wenn man nichts Be sonderes und Außergewöhnliches einzusetzen hatte. Don Estobal plante nichts Geringeres, als die alte Abneigung der Mexikaner gegen die Vereinigten Staaten wieder aufzuputschen und sie zur Grundlage 10
einer politischen Bewegung zu machen, die ihn an die Spitze des Staates schwemmen sollte. Das wiederum setzte ein Machtmittel voraus, durch das er seine Bewegung sichern und notfalls den Amerikanern bei einer konventionellen kriegerischen Auseinander setzung die Stirn bieten konnte. Deshalb ließ er durch Mittelsmänner bei gewissen Agenturen herumhor chen, und deshalb griff er auch schnell zu, als ihm das Angebot Latoffs bekannt wurde. Eine solche Erfindung schien ihm gerade für seine Zwecke hervorragend geeignet zu sein. Er befürchtete nur, gründlich enttäuscht zu werden. Deshalb verein barte er eine Probe, die ihm die Brauchbarkeit des Mittels beweisen sollte. Latoff fand das nur selbstverständlich. Er reiste auf Abruf nach Merida, nachdem er seine laufenden Ge schäfte in der Heimat in erfahrene Hände gelegt hatte. * In der achten Abendstunde bummelte Paul Schulze mit weitgreifenden, immer etwas schaukelnden Schritten durch die engen Straßen seiner Heimatstadt, in deren unmittelbarer Nähe seine Maschinenfabrik lag. Er trug rechts und links Pakete, auf die er gele gentlich liebevoll heruntersah. Paul Schulze hatte sich fein gemacht. Er selbst fühlte sich in seiner Kluft freilich nicht allzuwohl. 11
Paul Schulze seufzte, als er an der Tür eines zwei stöckigen Hauses angelangt war. Er setzte seine Pa kete ab, ordnete seine Krawatte, drückte zweimal die Klingel, nahm alles wieder auf und hastete die Treppe hinauf. Oben wurde bereits die Tür aufgerissen. Gesichter lachten ihm entgegen, Hände packten ihn und zerrten ihn mit Triumphgeschrei in das gemütliche Wohn zimmer, bevor er noch einen Ton von sich geben konnte. Familie Lehmann bestand aus drei Köpfen. Da war zunächst Marie Lehmann, eine schlichte, stille Frau mit fast weißem Haar, obgleich sie erst 45 Jahre alt war. Sie hatte nie in ihrem Leben Reichtümer besessen und doch nie die innere Feinheit verloren, die sie ständig mit einem Schimmer von Güte und Vornehmheit umgab. Seit dem Tode ihres Mannes war sie zeitweise recht melancholisch, aber sie holte sich stets aus der Liebe zu ihren beiden Kindern und aus ihrem Glauben neue Kraft und Zuversicht. Ihr äußeres Leben war so bescheiden, wie es durch die schmale Rente diktiert wurde. Ihre Tochter Johanna, gewöhnlich Hanne gerufen, ließ ahnen, wie schön die Mutter einst gewesen war. Sie hatte vor kurzem ihren neunzehnten Geburtstag gefeiert. Hanne Lehmanns Leben pendelte zwischen dem Werksbüro, in dem sie als Stenotypistin arbeitete, und dieser gemütlichen Häuslichkeit hin und her. Sie 12
machte jedoch zu keiner Minute ein Hehl daraus, daß sie von der Büroarbeit nicht übermäßig begeistert war. Ihr Bruder Fritz hatte laut Geburtsschein kaum fünfzehn Jahre hinter sich, aber er fühlte sich als ein ziger männlicher Vertreter der Familie wie dreißig und tat zeitweise wichtig wie fünfundvierzig. Im üb rigen war er ein netter Kerl mit schmalem Gesicht und hellblondem Haarschopf. Paul Schulze war vor fast zwei Jahren durch einen Zufall zu den Lehmanns gekommen. Frau Lehmann, schmerzverwirrt durch den Tod ihres Gatten, wäre eines Tages unter ein Auto geraten, wenn Schulze sie nicht zur Seite gerissen hätte. Er brachte die vor Schreck fassungslose Frau nach Hause und bahnte damit Beziehungen an, die im Lauf der Zeit immer fester und schöner wurden. Ein- oder zweimal in der Woche erschien er in der Familie und genoß ein paar Stunden lang die ungetrübte Freude, mit den drei Menschen zusammen zu sein. Er kam nie, ohne sein Abendbrot mitzubringen, das in Lebensmitteln für eine halbe Woche bestand. Darüber hinaus half er, wo er konnte, ohne daß es die drei recht merkten. Er hatte dem Mädchen ihre Stelle verschafft und für Fritz eine Lehre ausgesucht, er hatte mit dem Hauswirt wegen einer »Mietherabsetzung« gesprochen, die natürlich stillschweigend auf seine Kosten ging. Wo es not tat, sprang er ein – und es tat öfter not, als Frau Lehmann zu ahnen bekam. 13
Zwei Jahre verändern viel. Die wichtigste Verän derung, daß nämlich der Teenager Hanne zu einem schönen, jungen Mädchen wurde, fiel den Mitgliedern der Familie Lehmann weniger auf als Paul Schulze. So fanden sie denn auch nicht die tiefere Ursache dafür, daß die Schüchternheit ihres Freundes nicht allmählich ab-, sondern eher noch zunahm. Sie hielten es für eine seiner Eigentümlichkeiten, schon weil sie ihn anders gar nicht kannten. Denn hier war Paul Schulze schüchtern, unglaub lich schüchtern. Er stand geradezu hilflos in dem Zimmer, in das ihn die beiden Geschwister wie ge wöhnlich hineingezerrt hatten. Und als ihm Hanne nun gar mit lächelndem Vorwurf die Krawatte zu rechtrückte, lief er rot an wie eine Tomate, die zu lange in der Sonne gehangen hatte. »Sie – sie ist verrutscht«, stellte er stotternd fest, als ob er eine Neuigkeit zum besten gäbe. »Freilich ist sie verrutscht«, sagte Hanne lachend. »Sie ist immer verrutscht. Du brauchst eben eine Frau, die dir ein bißchen Ordnung beibringt.« Das hätte sie nicht sagen dürfen, denn nun wurde Paul erst recht verlegen. Es war ihm überhaupt schon länger peinlich, daß sie sich noch duzten. Vor zwei Jahren hatte es sich als selbstverständlich ergeben, aber jetzt kam es ihm wie eine plumpe Zutraulichkeit vor, daß er die hübsche junge Dame so vertraulich anredete. 14
Es war eine Erlösung für ihn, daß Frau Lehmann bat: »Bitte, nehmen Sie Platz, Paul. Ich bringe gleich Tee.« Schulze sank gehorsam auf eine Stuhlkante, aber so, als ob er mit etlichen Nadeln rechnete. Seine Pakete hielt er krampfhaft fest. Fritz wand sie ihm jedoch bedenkenlos aus den Händen. »Leg wenigstens deine Pakete ab, Paul, sonst hast du wieder die Leberwurst zerdrückt wie das letzte mal.« Er hielt sie hin und schüttelte dabei den Kopf. »Es ist – keine Leberwurst heute.« Die drei starrten ihn etwas verblüfft an, und Fritz platzte heraus: »Nicht? Nanu!« Die Leberwurst war seit zwei Jahren eine liebe Gewohnheit, nachdem Frau Lehmann einmal leicht sinnigerweise versichert hatte, daß sie ihr ausge zeichnet schmecke. Schulze fummelte an seinem Kragen. »Etwas anderes – ich habe was anderes mitgebracht. Aber ich kann – auch noch Leberwurst holen.« »Um Gottes willen!« protestierte Frau Lehmann erschrocken. »Sie sind ein guter Mensch, Paul, aber ich habe Ihnen schon oft gesagt, Sie sollen nicht im mer soviel mitbringen.« »Nur – nur eine Kleinigkeit«, stotterte Schulze und zupfte an seinen Manschetten. »Sollen wir die Pakete auspacken, Paul?« 15
Frau Lehmanns Aufforderung war nötig, sonst zog er, wie es zu Anfang wiederholt geschehen war, nach drei Stunden mit seinen Paketen wieder ab und schickte sie am nächsten Tag durch die Post. Schulze nickte halb freudig, halb krampfhaft, und Fritz Lehmann stürzte sich fachmännisch auf die Päckchen. Nach einer Weile brachte er den Inhalt des ersten zutage. »Meine Herren«, stellte er verwundert fest, »das ist doch ein ganzer Lachsschinken, eine Dose Gänseleber und solches Schwabbelzeug, wie heißt’s doch gleich?« »Aspik«, half Paul mit der schuldbewußten Miene eines Massenmörders aus. »Aber Paul«, flüsterte Frau Lehmann, »dieser Lu xus…« Hanne nahm ihn einfach bei den roten Ohren und sagte streng: »Das ist doch unerhört, Paul. Hast du im Lotto gewonnen, daß du solche Sachen kaufst?« Schulze wand sich wie ein Regenwurm. »Nein – ich – nur so… Ich dachte, es braucht nicht immer Leberwurst…« Fritz wickelte inzwischen eifrig weiter und brachte auch aus dem zweiten Päckchen eine Reihe von Deli katessen ans Tageslicht. Aus den übrigen Paketen förderte er in das allgemeine Schweigen der Ver blüffung hinein eine Strickjacke, Hausschuhe für Frau Lehmann, feinen Seidenstoff für Hanne und zuletzt einen Anzug für Fritz. 16
Da war es aus mit dem Schweigen. Fritz schrie vor Freude und verabreichte Paul ein paar schnelle Box hiebe als stärksten Ausdruck seiner Dankbarkeit. Frau Lehmann begann zu weinen, Hanne nahm Paul, der wie ein Häufchen Unglück auf der Stuhlkante hing, zum zweitenmal bei den Ohren und gab ihm einen herzhaften Kuß, der auf der Nase landete, aber auch so den Empfänger um den letzten Rest seiner Besinnung brachte. Es dauerte seine Zeit, bis sich der Trubel gelegt hatte und sich die vier beim Abendbrot gegenüber saßen. Dann aber mußte Schulze endgültig Rede und Antwort stehen. Nach vielem Drücken gestand er endlich, daß er Meister geworden war. Die Freude der drei war herzlich und ehrlich, aber Frau Lehmann vermochte doch ein leichtes Kopf schütteln nicht zu unterdrücken. »Ich weiß nicht, Paul, ich kann Sie mir so gar nicht vorstellen, wenn Sie so schüchtern sind und doch den Leuten befehlen wollen.« Auch in Hannes Blick lag Nachdenklichkeit. Da Schulze nichts antwortete, nahm sie die Bemerkung auf. »Ich glaube, Mutti, Paul ist draußen anders als bei uns. Ich habe mal ein paar Leute über ihn reden hören. Sie haben ihn mächtig gelobt, und von Schüchternheit war da bestimmt nicht die Rede.« Jetzt mischte sich Fritz ein. 17
»Das stimmt. Im Betrieb ist er anders, das habe ich auch schon gehört. Aber schließlich sind dort ja auch keine Frauen.« Wie ein aufflammendes Blitzlicht ging die Bemer kung durch den Raum. Schulze zog den roten Kopf ein, die Blicke der beiden Frauen trafen sich in plötzlicher, neuer Erkenntnis. Dann wurde auch Hanne verlegen. Da alles schwieg, tippte Fritz Paul auf die Schulter und erkundigte sich: »Na, stimmt’s?« Schulze wischte sich mit einer verlorenen Hand bewegung den Schweiß von der Stirn und würgte hilflos: »Unsinn – die Frauen – die Frauen…« Die Mutter sprang ihm taktvoll bei. »Lassen Sie es, Paul. Sie brauchen wirklich nicht so schüchtern zu sein, aber so wie Sie sind, sind Sie uns lieb. Und nun wollen wir endlich von unseren Angele genheiten erzählen. Es hat sich nämlich bei uns aller hand ereignet. Sie waren ja eine Woche nicht da.« »Ich konnte nicht«, entschuldigte sich Schulze zum erstenmal etwas sicherer, »ich hatte viel zu tun. Was ist denn geschehen?« »Wir haben einen Untermieter«, platzte Fritz her aus. Schulze wandte ihm scharf den Kopf zu. »Einen was?« »Einen Untermieter«, bestätigte die Hausfrau. »Unser Hauswirt hat uns das eine Zimmer vorn überlassen, weil seine Tochter jetzt verheiratet ist. 18
Wir haben es ein bißchen vom Überflüssigen einge richtet. Denken Sie sich, wir hatten kaum das Schild draußen, als wir auch schon vermieten konnten.« Der Gast sank in sich zusammen und schwieg. »Du sagst ja gar nichts«, meinte das junge Mäd chen verwundert. »Freust du dich nicht mit uns?« Sein Gesicht sah alles andere als freudig aus, aber er nickte willig. »Doch – nur – es ist eben schade.« »Wieso?« fragte Frau Lehmann. Fritz hatte eine Erleuchtung. »Oh, ich weiß. Herrgott, wir sind aber Brummer gewesen. Wir hätten doch Paul erst fragen sollen, vielleicht hätte er das Zimmer genommen.« Sie sahen es an seinem Gesicht, daß der Junge das Richtige getroffen hatte, und waren tief bestürzt. Daran hatten sie allerdings nicht gedacht. Frau Leh mann weinte gleich wieder, und Hanne sagte kum mervoll: »Ach, Paul, daran haben wir in unserer Aufregung wirklich nicht gedacht. Bitte, nimm es uns nicht übel. Wir werden dem Herrn gleich morgen wieder kündigen, Mutti.« »Er hat doch für ein halbes Jahr im voraus bezahlt, weil er nicht wußte, ob er nicht möglicherweise nur einige Tage bleibt«, schluchzte die Mutter. »Machen Sie sich um Gottes willen keinen Kum mer«, beschwor nun Schulze. »Es war nur so ein Einfall von mir. Wer ist denn der Herr?« 19
»Markert heißt er«, meldete sich der Junge. »Mir gefällt er. Ein feiner Kerl, das kann ich dir versi chern.« »Ein sehr vornehmer, feiner Herr«, gab die Mutter ihr Urteil ab. »Ein hübscher Mensch, sehr höflich und sehr sympathisch in seinem Wesen«, meinte Hanne. Paul Schulzes Gesicht sah aus wie das eines Ko mikers, der noch nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll. »Hm – ja«, druckste er, »ihr seid wohl alle schon – gewissermaßen verliebt…« Merkwürdigerweise lag tiefer Ernst in der Stimme des Mädchens, als sie antwortete: »Nein, Paul, man ist nicht gleich verliebt, weil man die Vorzüge eines Menschen anerkennt.« »Ich – weiß nicht…« »Da müßte Hanne ja bis über beide Ohren in dich verliebt sein«, stellte Fritz mit der ganzen herzlosen Unbefangenheit seiner fünfzehn Jahre fest, »denn sie lobt dich jeden Tag hundertmal über den grünen Klee.« Das Mädchen wurde sprachlos, Schulze sank in halber Bewußtlosigkeit bald vom Stuhl, und Mutter Lehmann schüttelte den Kopf. »Sei nicht so vorlaut, Fritz. Erzähle lieber, was ge stern geschehen ist.« Der Junge legte zur Erleichterung aller los: »Denke dir, Paul, da stand ich gestern nach Feierabend bei 20
Trommer am Fenster und betrachtete die neuen Mo delle, als mich auf einmal ein Herr fragte, ob ich nicht Lust hätte, so’n Ding zu fahren. Ich bejahte natürlich und kam so mit dem Herrn, der wie ein Kellner auf Urlaub aussah, ins Gespräch. Kurz und gut, der schien einen Narren an mir gefressen zu haben. Ich solle ihn im Hotel besuchen, und er tat gerade so, als ob er mir gelegentlich eine Maschine mit allen Schikanen schenken wolle. Was meinst du dazu?« »Laß ihn seine Maschine allein fahren«, erwiderte Schulze sofort und so sicher, daß er wie ein neuer Mensch schien. »Wenn der Fremde Gutes tun will, braucht er nicht fremde Kinder auf der Straße anzu sprechen und kann außerdem vernünftigere Dinge schenken als ein Motorrad. Er will etwas von dir, und das ist sicher nichts Gutes. Vergiß nicht, daß du in ei nem Werk arbeitest, das wichtige Geheimnisse birgt. Was ist übrigens euer Untermieter von Beruf, was treibt er?« »Er hat sich als Kaufmann eingetragen«, gab die Mutter Auskunft. »Was er tagsüber tut, weiß ich nicht, aber ich glaube nicht, daß man ihm mit Mißtrauen begegnen muß.« »Na, ich rate jedenfalls zur Vorsicht. Gangster haben oft sehr angenehme Gesichter und sind in Wirklichkeit eben Gangster.« »Etwas Komisches ist mir aufgefallen«, sagte Fritz nachdenklich. »Als ich heute früh an seiner Tür vor 21
beiging, sprach er mit jemand. Es war kein Selbst gespräch, denn er antwortete auf etwas. Telefon haben wir nicht.« Schulze wulstete beängstigend die Stirnhaut zu sammen. »Sehr verdächtig. Er hat vielleicht einen kleinen Sender bei sich. Und das tut man nicht, wenn man ein gewöhnlicher Kaufmann ist. Haltet nur die Augen offen. Und du, Fritz, läßt die Finger aus dem Spiel, verstanden?« »Den Rat werde ich auch annehmen«, sagte Hanne. »Mir ist nämlich gestern was geschehen, was manche Ähnlichkeit mit dem Erlebnis von Fritz hat. Ich wurde auf dem Nachhauseweg von einer Dame angesprochen. Sie erkundigte sich zuerst nach einer Schule für Sekre tärinnen. Aber dann meinte sie, sie fände doch nichts Zusagendes und fragte mich nach einigem Hin und Her, ob ich nicht Lust hätte, bei ihr einen entsprechenden Posten anzunehmen. Sie bot eine geradezu fabelhafte Bezahlung an – 2000 Mark im Monat. Nun, brauchen könnten wir’s ja, aber ich habe mir Bedenkzeit bis morgen erbeten, und denke, ich werde händeringend verzichten. Die Sache ist mir nicht geheuer.« Paul Schulze schüttelte ein über das anderemal den Kopf. »Komisch, sehr komisch. Hier ist was im Gange. Ihr beide müßt gewissen Leuten sehr wertvoll sein. Hm, hm…« 22
Mehr war ihm nicht zu entlocken. Das Gespräch lenkte allmählich wieder in andere Bahnen ein. Paul Schulze blieb aber den ganzen Abend so nachdenklich, daß er darüber sogar einen guten Teil seiner gewohn ten Schüchternheit vergaß. * Es schlug elfmal vom Kirchturm, als Paul Schulze heimwärts ging. Aus einer dunklen Quergasse hörte er den halberstickten Schrei einer Frauenstimme her ausschallen. Er stutzte, sah ein paar unbestimmte Schatten sich hin und her bewegen, dann lief er auf die nächtliche Gruppe zu. Zwei Männer setzten einer Frau zu, die sich ver zweifelt gegen die Angriffe wehrte. Sie ließen fast unverzüglich los, als Schulze ihnen seine gewichtigen Fäuste in die Rippen setzte. Im Handumdrehen waren sie verschwunden. Die Befreite sank mit einem Seufzer der Erleichte rung ihrem Retter an die Brust. »Oh, wie soll ich Ihnen danken – diese rabiaten Kerle…« Der eben so männliche Held war im Nu wieder ein verlegener Junge. Er stotterte: »Nichts zu – zu danken – Selbstverständlichkeit – nicht wiederkommen.« Sie schluchzte auf. »Oh, ich bin so erschrocken. Bitte, bringen Sie 23
mich nach Hause, sonst fürchte ich mich zu Tode.« Er nickte stumm und hielt ihr den Arm hin. Sie hängte sich zutraulich ein. Unter der Straßenlampe blieb sie jedoch stehen, zog ihren Arm heraus und langte aus ihrer Tasche die verschiedensten Gegen stände, mit denen sie an sich herumzuarbeiten begann. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit einem reizvollen Lächeln, das bereits nichts mehr von den ausgestan denen Ängsten verriet, »ich muß mich doch für mei nen Retter etwas hübsch machen.« Paul Schulze hielt das für völlig überflüssig, erstens weil er keinen Wert darauf legte, und zweitens, weil die Frau oder das Mädchen schon ohnehin verteufelt hübsch war. Nach Minuten war sie fertig. Sie trat ganz dicht an den wartenden Mann heran und fragte sanft: »Ist es gut so?« Ihm wurde es zehnmal hintereinander warm und kalt, und am liebsten wäre er auf und davon. Zu spre chen vermochte er nicht. Sie schien aber auch so mit der Wirkung zufrieden zu sein, denn sie flötete zärt lich: »Sie schmeicheln durch Ihr Schweigen. Kom men Sie.« Der Weg führte sehr bald, wie alle Wege dieser Stadt, in das locker besiedelte Gelände. Vor einer kleinen Villa machte sie schließlich Halt und kramte den Schlüssel aus der Tasche. »Hier wohne ich«, gestand sie. »Ich bin froh, daß ich 24
zu Hause bin. Sie müssen mich aber noch hineinbrin gen, sonst fürchte ich mich auf dem Vorraum.« Er schüttelte hilflos den Kopf. »Ich warte hier, bis Sie Licht haben.« Doch damit war sie gar nicht einverstanden. »Nein, nein, Sie müssen mich hineinbringen. Überhaupt, wollen Sie nicht eine Tasse Tee bei mir trinken? Ich muß doch meinen Retter wenigstens einmal bei Licht besehen und ihm nochmals danken.« Schulze murmelte etwas von Müdigkeit, aber es half ihm nichts. Sie zog ihn mit sanfter Gewalt ins Haus, in den Wohnraum und nötigte ihn schließlich auf die Kissenberge der Couch. Innerhalb von einer Minute hatte sie zwar nicht Tee, wohl aber Wein bei der Hand. Doch diesmal siegte Paul Schulze. Er wies den Alkohol entschieden zurück, daß sie keinen zweiten Versuch machte. Seine Verwirrung war schließlich auch so groß genug. Die junge Dame schien Wert darauf zu legen, sie noch zu vergrößern, denn sie rückte ihm ziemlich nahe auf den Leib. Dabei redete sie ununterbrochen, schwärmte von ihrem Retter und pries seine Uner schrockenheit und seine Heldentaten. Darüber hinaus flocht sie Fragen nach seinem Leben und nach seiner Arbeit ein, die Schulze so gut beantwortete, wie ihm seine Verfassung erlaubte. Von einem gewissen Punkt an, der ziemlich genau damit zusammenfiel, daß Schulze am Ende der Couch angelangt war, wurde das 25
Gespräch sehr schnell bemerkenswert. »Oh, ein so kluger und tüchtiger Mann wie Sie ist sicher etwas Besonderes«, meinte sie. »Sie sind sicher Werkmeister oder so, nicht wahr?« »Ja«, preßte er heraus, »ich bin Meister geworden.« »Herrlich«, rief sie entzückt. »Das müßte man ei gentlich feiern.« »Da haben Sie wohl gar eine eigene Abteilung bekommen?« »Ja«, räumte er ein. Sie staunte mit großen, runden Augen. »Wundervoll! Was müssen Sie für ein tüchtiger Mann sein. Da haben Sie sicher sehr wichtige Arbeit zu verrichten?« Da war es aus. Paul Schulze gab der Frau einen Schwung, daß sie auf die andere Seite flog, stand auf, steckte die Hände in die Hosentaschen und sagte ernst und nachdrück lich, dabei fest und klar: »Nun ist aber Feierabend, meine Dame. Sie müssen mich für verflucht dumm halten, daß Sie aus mir was herausholen wollen. Den Versuch hätten Sie sich sparen können. Paul Schulze plaudert keine Produktionsgeheimnisse aus.« Sie lag sekundenlang halb auf der Seite und starrte ihn fassungslos an, als könne sie die plötzliche Wandlung nicht begreifen. Er schritt zur Tür, aber noch ehe er sie erreichte, kam sie herangestürmt und stellte sich in den Weg. 26
»Einen Augenblick noch, mein Freund«, bat sie sachlich. »Ich will Ihnen einen Vorschlag machen.« »Bitte.« »Angenommen, ich hätte ein Interesse an den Dingen, die im Werk hergestellt werden, an be stimmten Stücken, die Sie herstellen oder herstellen werden, – welchen Preis fordern Sie für eine Auf nahme oder Zeichnungskopie?« »Ich habe keinen Preis«, lehnte er kurz ab. »Hunderttausend Mark.« »Alle Achtung«, staunte er, »das ist viel Geld. Für wen arbeiten Sie?« Sie hob mit leiser Verachtung die Schultern. »Darauf erwarten Sie wohl selbst keine Antwort. Ich bin nur ein kleines Glied, das wissen Sie selbst. Also, wie steht es?« »Nein.« »Zweihunderttausend.« »Wieviel würde der Mann zahlen, der wie ein Oberkellner auf Urlaub aussieht und Motorräder verschenken will?« Sie zuckte zusammen, wurde aber unmittelbar dar auf gleichgültig. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Dreihunderttau send für jede Zeichnung.« »Nein. Und wie gesagt, morgen ist die ganze Ko lonne verschwunden, sonst geht es euch an den Kra gen.« 27
»Sie sind ein Idiot«, zischte die Schöne. »Eine halbe Million und Ihr Leben, wenn Sie unser Mann werden.« »Wünsche wohl zu ruhen«, entgegnete Paul Schulze gleichgültig und schlenderte hinaus. 2. Wenige Stunden später flog er mit dem Häuschen, in dem er wohnte, in die Luft. Leuchtgas-Explosion im Keller. Es war sein Glück, daß er tatsächlich in die Luft flog. Sein möbliertes Zimmer war nichts weiter als ein ausgebauter Dachraum. Die Explosion riß die dünne Dachhaut auseinander und warf den Schläfer samt Bett durch den Riß hindurch. Dabei schlugen seine Beine gegen einen Balken, und seinen Kopf beschä digten einige Dachziegel, aber sonst kam er überra schend heil hinaus und landete im Geäst der Linde, die dicht neben dem Haus stand. Von dort aus rutschte er zur Erde. Er erwachte unter den Bemühungen der Sanitäter. Noch halb geistesabwesend murmelte er: »Diese Schweine.« Dann döste er vor sich hin. Erst als ihn die Männer auf die Bahre hoben, wurde er lebendig. Mit einem Ruck sprang er auf. »Was ist denn los? Wozu die Bahre?« 28
»Ins Krankenhaus, Kamerad«, erwiderte einer der Männer. »Viel ist dir ja nicht passiert, aber es schadet nichts, wenn dich der Arzt gründlich untersucht.« »Ihr seid wohl verrückt«, protestierte Schulze. »Ich habe keine Zeit, ich muß fort.« »Du wirst mit der Untertaille sowieso nicht weit kommen.« Paul Schulze blickte entgeistert an sich herunter. Das ging wirklich nicht. Fürs Bett hätte es genügt, wenn alles noch ganz gewesen wäre, aber auf die Stra ße konnte er sich nicht damit wagen. »Habt ihr nicht einen Mantel?« erkundigte er sich. »Sind wir ein Bekleidungsinstitut?« »Also dann gebt die Decke her!« Er nahm die Wolldecke von der Bahre und wickelte sich darin ein. Die Sanitäter wollten sie ihm wieder abnehmen, aber er hielt sie fest. »Ihr kriegt morgen eine neue«, versprach er. »Wie geht es meinen Wirtsleuten überhaupt?« Der eine hob die Schultern. »Sieht böse aus, aber sie werden wohl durchkom men. Warum drehen Sie aber auch Ihre verfluchten Gashähne nicht zu.« »Ahnungsloser Engel«, meinte Schulze und setzte seine nackten Beine in Bewegung. Das Haus war nichts weiter als ein schwärzlicher, geborstener Haufen. Zwischen den Trümmern krab belten einige Männer herum, die vorschriftsmäßig den 29
Ursachen der Explosion nachspürten. Ihnen schloß sich Schulze an. Da er einen bestimmten Verdacht hatte, fanden sie in kurzer Zeit die Stelle, an der am Gasrohr herum manipuliert worden war. Das genügte ihm. Die Bande hatte schnelle Arbeit geleistet. Da er der Frau nicht auf den Leim gegangen war, wollte man ihn als gefährlichen Wisser beseitigen. Um ein Haar wäre es gelungen. Aber nun war er am Zug. Wenige Minuten später hing er am Telefon in ei nem der Nachbarhäuser, dessen Bewohner ohnehin wach waren. Er führte ein kurzes Gespräch und lief sofort weiter. Nun mußte der Inhaber eines kleinen Textilge schäftes dran glauben. Erfreulicherweise kannte er den nächtlichen Kunden wenigstens vom Aussehen, sonst hätte er ihn wohl kaum ohne Bezahlung mit einem seiner besten Anzüge auf dem Leib ver schwinden lassen. Wieder salonfähig, jedoch ohne Fußbekleidung, stand Schulze eine halbe Stunde nach seinem bar geldlosen Einkauf in einem Zimmer des Polizeire viers und stellte sich Inspektor Franke vor. Franke war kaum älter als dreißig. Sein verschlos senes, undurchdringliches Gesicht ließ ihn jedoch älter scheinen. Er verzog keine Miene beim Eintritt seines ein wenig seltsamen Besuchers, sondern schüttelte ihm ernst die Hand und kam sofort zur Sache. 30
»Nehmen Sie bitte Platz. Meine Leute sind noch nicht zurück. Ich habe Ihren Wünschen entsprochen, da ich grundsätzlich lieber einen Fehlgriff mache, als etwas versäume. Wollen Sie mir nun bitte einen aus führlichen Bericht geben.« Schulze tat es. Er war noch nicht ganz fertig, als einer der Kriminalbeamten eintrat. Er meldete, daß man den Mann, der sich Markert nenne, verhaftet habe, daß aber die Frau und der andere Mann, die sich tatsächlich an den angegebenen Stellen aufgehalten hätten, verschwunden seien. Franke nahm den Hörer auf, gab die Beschreibung der Gesuchten, sowie eine Reihe von Anordnungen an die Fahndung durch, dann wandte er sich wieder an den wartenden Beamten. »Führen Sie den Festgenommenen herein.« Eine halbe Minute später erlebte Schulze die größte Überraschung seines Lebens. Ein junger Mann, offensichtlich in höchster Eile angezogen, trat ein. Sein Gesicht sprach ebensosehr von Willenskraft wie Klugheit und wirkte auf den ersten Eindruck angenehm. Er hielt seine Hand schellen in stummer Anklage vor sich hin. Schulze sprang auf und stierte dem Eintretenden ins Gesicht. »Himmel«, murmelte er fassungslos, »das ist doch Herr Markert?« Markert wurde auf ihn aufmerksam. Über sein Ge 31
sicht huschte ein Staunen, dann hatte er den anderen erkannt und sagte lebhaft: »Ist das nicht – Paul Schulze? Na freilich, Paul Schulze, wie er leibt und lebt. Was machen Sie denn hier? Haben sie Sie auch aus dem Bett geholt?« Schulze schüttelte ächzend die gebotene Hand. »Kennen Sie den Herrn?« fragte Franke. Schulze nickte kläglich. »Freilich. Ich habe unter ihm gearbeitet. Er war mein Ingenieur. Es ist ein Mißverständnis, Herr In spektor. Er ist natürlich unschuldig. Ich Quadratidiot!« Jetzt begriff Markert. »Ach – so liegen die Dinge. Sie haben mir die Suppe eingebrockt, Paul? Fabelhaft! Wie das zu sammenhängt, möchte ich gelegentlich auch gern wissen. Aber zunächst, Herr Inspektor, möchte ich Sie zur Abkürzung des Verfahrens bitten, den Besitzer der Maschinenwerke anzurufen. Seine Aussage wird mich vermutlich schnell von diesen Armbändern be freien.« Franke griff bereitwillig zum Hörer. »Gern… Hier Kriminalinspektor Franke. Wir ha ben einen gewissen Fred Markert verhaftet. Er beruft sich auf Sie. Würden Sie bitte sofort… Wie bitte? Ein Mißgriff… Hm, leicht möglich. Die Papiere? Schön, aber Sie kommen auf alle Fälle? Danke… Dr. Bär mann wird in einer halben Stunde hier sein. Er sprach von Ausweisen, die Sie bei sich haben.« 32
Markert lächelte. »Vielleicht bemühen Sie sich selbst in meine Ta sche. Ihre Leute hatten keine Zeit dazu.« »Meine Leute haben ihre Anordnungen«, entgeg nete Franke und holte die Brieftasche aus Markerts Jackett heraus. Die Durchsicht dauerte nur einige Augenblicke, dann winkte er den Beamten. »Handschellen ab.« Als Markert frei war, erhob Franke sich. »Wir haben einen Mißgriff begangen. Ich bitte sie höflichst um Entschuldigung. Ich stelle es Ihnen an heim, sich zu beschweren.« Markert winkte lächelnd ab. »Danke, ich verzichte. Ich darf mich wohl wieder als frei betrachten?« Das Gesicht des Beamten lockerte sich. Fast ge mütlich erwiderte er: »Gewiß, wenn ich Sie auch der Form halber bitten möchte, sich noch bis zur Ankunft Ihres Entlastungszeugen zu gedulden.« Markert nickte. »Schön, dann sagen Sie mir bitte inzwischen, weshalb ich überhaupt festgenommen worden bin.« »Herr Schulze ist seit gestern Meister einer neuen Spezialabteilung der Maschinenwerke. Man bot ihm vor einigen Stunden eine halbe Million für gewisse Auskünfte, und da er ablehnte, sprengte man das Haus in die Luft, in dem er wohnte. Sie standen im Ver dacht, an der Geschichte beteiligt zu sein.« 33
Markert lachte laut auf. »Da wird Dr. Bärmann aber Augen machen. Alle Achtung, Schulze, erstens weil Sie schon Meister ge worden sind und zweitens wegen der halben Million. Aber Sie müssen mir erst ein bißchen mehr erzählen – ganz schlau werde ich aus der Sache noch nicht.« Paul Schulze ließ sich nicht nötigen, sondern gab nun seine Erlebnisse abermals zum besten. Darüber verging die Zeit, und Dr. Bärmann war auf einmal schneller da, als sie erwartet hatten. Er begrüßte Markert sofort lebhaft und erklärte: »Dieser Herr ist selbstverständlich über jeden Ver dacht erhaben. Er ist nämlich der Auftraggeber für un sere neue Abteilung.« Bums. Paul Schulze war restlos vernichtet. An der Unschuld Markerts hatte er ja schon lange nicht mehr gezweifelt, aber daß dieser auch noch der Auftraggeber selbst war, gab ihm den Rest. * Wenige Stunden später schritt er auf das am Rand der Stadt liegende Werk zu. Die Straße war von einzelnen Arbeitsgruppen belebt, die das gleiche Ziel hatten wie er. Trotzdem ging er allein, und der Abstand zur näch sten Gruppe betrug gut fünfzig Meter. Er hatte bereits das Tor in Sicht, als ihm ein Wagen 34
entgegenkam. Er achtete nicht auf ihn, sah erst auf, als er auf seiner Höhe scharf bremste und der Fahrer ihm zurief: »Hallo, der Herr, eine Frage, bitte.« Schulze trat an den Bordstein heran. »Ja, was ist?« Da spürte er auch schon eine Pistolenmündung auf der Brust. Der Fahrer lehnte sich etwas zur Seite. Seine bewaffnete Hand war so dicht an Schulze her angepreßt, daß den Vorübergehenden kaum etwas auffallen konnte. Und tatsächlich gingen kurz darauf die nachkommenden Arbeiter vorüber, ohne sich um die kleine Gruppe zu kümmern. Für sie sah sie gänz lich harmlos aus. Für Schulze bedeutete sie freilich ein lebendes Bild, bei dem jede Bewegung mit dem Tod bezahlt werden konnte. Der Mann am Steuer ließ darüber keinen Zweifel. »Maul halten und nicht gezuckt«, beantwortete er Schulzes höfliche Frage kurz. »Ich knalle Sie sofort nieder, wenn Sie sich mucksen.« Paul Schulze war nie vernünftiger gewesen als in dieser Minute. Er kannte die Menschen gut genug, um hinter der kalten Ruhe seines Gegners die zitternde Unruhe zu spüren, die ihm viel leichter den Tod brin gen konnte als alles andere. Deshalb beherrschte er sich und entgegnete gelassen: »Halten Sie sich nicht so lange bei der Vorrede auf, Mann. Ich muß pünkt lich im Werk sein. Was wollen Sie?« 35
Der andere sprach noch leiser, denn eben gingen Arbeiter vorbei. »Eine Kopie der Werkzeichnung, nach der Sie morgen zu arbeiten beginnen.« »Das habe ich bereits einmal abgelehnt.« »Sie werden es nicht zum zweitenmal tun, wenn Ihnen am Leben von Hanne Lehmann etwas liegt. Keine Bewegung!« Die Mahnung war nötig, denn um ein Haar hätte es eine Katastrophe gegeben. Schulze keuchte plötzlich: »Ihr – ihr Gangster vergreift euch an dem Mädchen?« »Durchaus nicht«, wehrte der andere kalt ab. »Sie ist nur aus Versehen in eine Lage geraten, aus der sie nur durch jene Kopie befreit werden kann. Kommt sie nicht, können wir freilich für nichts garantieren, Al so?« »Ich werde euch von der Polizei zu Tode jagen lassen.« »Seien Sie nicht so albern, Mann. Sie wissen ganz genau, daß uns die Polizei vielleicht für einige Zeit von hier verscheuchen kann, daß aber das dem Mädchen verflucht wenig nützt. Beeilen Sie sich mit Ihren Entschluß, sonst kommen Sie zu spät.« Schulze atmete schwer. »Sie sollen die Kopie haben.« »Na endlich. Aber hüten Sie sich, uns Makulatur zu liefern, sonst haschen wir Ihr Mädchen wieder und schaffen sie ins Ausland.« 36
»Spione und auch noch Mädchenhändler«, knurrte Schulze bitter. »Wo soll die Kopie abgeliefert wer den?« »Tragen Sie sie bei sich und sorgen Sie dafür, daß Sie übermorgen im Verwaltungsgebäude zu tun haben. Man wird sie Ihnen abverlangen.« »Also dort sitzt auch so ein Gauner?« »Zukünftig einer Ihrer Freunde.« Der Chauffeur grinste häßlich. »Die Belohnung erhalten Sie auf dem gleichen Weg. Gehen Sie jetzt weiter.« Schulze trat von der Tür zurück, der Wagen raste davon. Langsam setzte der Mann, der um seiner kaum eingestandenen Liebe willen zum Verräter werden wollte, seinen Weg fort. Sobald er das Tor hinter sich hatte, verwandelte er sich schlagartig. Die furchtbare Aufregung griff auf sein Gesicht und auf seine Bewegungen über. Er hatte kaum seine Karte vorgezeigt, als er auch schon die Arme anwinkelte und auf das Verwaltungsgebäude zustürmte, das zwischen dem ersten und zweiten Sperring stand. Zum Erstaunen aller, die ihn sahen, flitzte er durch die Gänge schob einige abwehrende Bürokräfte beiseite und platzte wie eine Bombe in das Verwaltungszimmer Bärmanns, der gewöhnlich ebenso zeitig wie seine Leute dazusein pflegte. Er war auch heute anwesend. Nach einer Minute wußte er Bescheid. Schon griff er zum Hörer, ließ sich mit einer Abteilung verbinden, die ihm zurückmeldete, 37
daß Fräulein Lehmann nicht zur Arbeit erschienen sei. Nun drückte er den nächsten Knopf. »Alarm V. Niemand darf das Verwaltungsgebäude verlassen.« Nächster Knopf. »Telefonzentrale sperren bis auf die Gespräche, die aus meinem Zimmer kommen.« Nun stand er auf und ging zu einem Apparat, der gesondert in einer Nische hing. Ein längeres Gespräch folgte. Zurück zum Schaltbrett. »Das Gesamtpersonal des Verwaltungsgebäudes muß sich in einer Viertelstunde restlos im Gemein schaftssaal I befinden.« Nun erst wandte er sich wieder zu Schulze. Ruhig, wie er seine Anordnungen gegeben hatte, sagte er: »Mir wie Inspektor Franke war bereits in der Nacht klar, daß wir innerhalb der Verwaltung einen Verräter haben müssen. Sie sind gestern zum Meister ernannt worden. Wenige Stunden später haben es die Spione gewußt. Ich habe gestern erst die neue Zeichnung erhalten und niemandem außer Ihnen Mitteilung ge macht. Daß jene Leute trotzdem darum gewußt haben, ist ein Beweis dafür, daß sich in meiner unmittelbaren Nähe ein Mann befindet, der sich für diese Dinge interessiert. Möglicherweise bringt er es gar fertig, alle Gespräche in diesem Zimmer abzuhören. Wir müssen ihn finden, und ich werde den kürzesten Weg 38
gehen, der mir möglich ist. Fräulein Lehmann wird zwar dadurch nicht ohne weiteres frei, aber vielleicht können wir verhüten, daß man von Ihrem Hiersein erfährt und schneller handelt, als uns lieb ist.« »Hoffentlich«, seufzte Schulze. »Deshalb bin ich ja auch scheinbar auf die Sache eingegangen. Ich hätte nie gedacht, daß Spione so weit gehen.« Bärmann hob die Schultern. »Leicht begreiflich, da Sie bisher weiter nichts als ein unbekannter Arbeiter waren. Die wenigsten mer ken etwas von den Dingen, die um sie herumspielen. Sie machen sich keine Vorstellung, wie sehr wir mit der Werkspionage zu kämpfen haben. Das gilt in er höhtem Maße für solche Spezialfabriken wie unsere. Wir haben nicht umsonst eine eigene Abwehrabtei lung.« »Ja, aber – man muß sie doch einmal ausräumen können.« Bärmann lächelte merkwürdig. »Gegen Industriespionage hilft nichts, wenigstens soweit es uns angeht. Das eine Nest wird ausgehoben, und schon sind wieder neue Leute da. Und es ist unge heuer schwer, sie zu fassen, denn jeder einzelne von ihnen ist ein hervorragendes Stück seiner Gattung. Unsere Abwehrgruppen führen im tiefsten Frieden einen erbitterten Kampf gegen eine Auswahl von Feinden, die vor keinem Mittel zurückscheut.« Schulze schüttelte den Kopf. 39
»Davon hätte ich mir freilich nichts träumen lassen. Gibt es denn gar keinen Schutz gegen solche Spiona ge?« Bärmann erhob sich. »Doch, Schulze. Der beste Schutz ist die Zuver lässigkeit unserer eigenen Arbeiter und Angestellten. Er wird um nichts gemindert dadurch, daß sich mal hier, mal dort eine schwache Stelle zeigt, an der die Spione ansetzen können. Eine solche Stelle haben wir gerade entdeckt. Kommen Sie.« Der Sitzungssaal des Verwaltungsgebäudes war nahezu gefüllt von einer schweigenden Menschen menge, die auf die kommenden Ereignisse wartete. Männer, Frauen und junge Mädchen standen bunt durcheinander, alle ernst. Es war wohl niemand unter den Anwesenden, der nicht die Gründe für die Zu sammenkunft ahnte. Bärmann kam sofort zur Sache. »Vorgänge in den letzten Stunden haben mich veranlaßt. Sie zusammenzurufen. Sie wissen, daß wir in unserem Werk in starkem Maße der Industrie spionage ausgesetzt sind. Jeder einzelne von Ihnen hat in seinem Vertrag unterschrieben, niemals gegen die Belange des Werkes zu handeln. Trotzdem bin ich heute zu der Feststellung gezwungen, daß sich unter meinen engsten Mitarbeitern jemand befinden muß, der wichtige Nachrichten nach außen trägt. Es ist anzunehmen, daß der Betreffende durch irgendwelche 40
Umstände in eine Zwangslage geriet und nicht anders handeln zu können glaubte. Ich bin geneigt, ihm mildernde Umstände zuzubilligen, aber selbstver ständlich muß er die unausbleiblichen Folgen auf sich nehmen. Er mag wissen, daß bereits seit Stunden unsere gesamte Sonderabteilung auf ihn angesetzt ist. Sie kann jeden Augenblick eintreffen und seinen Namen nennen. Er wird fernerhin wissen, daß hier zweihundert stehen, von denen jeder einzelne das vorbringen wird, was ihm am andern verdächtig vorgekommen sein könnte. Jedem von Ihnen traue ich den Mut zu, eine Dummheit auf sich zu nehmen und durch offenes Bekenntnis in letzter Stunde wieder etwas von dem gutzumachen, was er begangen hat. Ich bitte den Betreffenden, vorzutreten.« Tödliche Stille. Dann ein zitternder Seufzer. Ein grauhaariger Mann in der vordersten Reihe sank um. Erschüttert eilte Bärmann auf ihn zu. »Herrgott, Berger, Sie doch nicht etwa?« Im gleichen Augenblick öffnete sich die Saaltür, Franke kam mit einigen Leuten hereingeeilt. Als er die Szene überschaute, rief er: »Ah, Sie haben ihn schon. Berger ist es.« Bärmann schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich kann das nicht recht fassen. Einer meiner be sten Leute, seit Anfang bei mir?« 41
Franke nickte. »Trotzdem. Vor einem Vierteljahr starb seine Frau. Er liebte sie sehr und war vor Kummer außer sich. Wahrscheinlich hat sich in dieser Zeit jemand an ihn herangemacht und hat ihn süchtig gemacht. Wir fan den in seiner Wohnung diese Ampullen.« »Rauschgift? Das würde freilich manches erklären. Wie sind Sie darauf gekommen?« »Stephan waren einige Kleinigkeiten aufgefallen. Er erwähnte sie gestern bei unserer Durchsicht. Nun, was ist mit ihm?« Der Arzt richtete sich auf. »Tot. Herzschlag, vermutlich infolge Aufregung.« Bärmann gab den Leuten einen Wink. Der Saal leerte sich. Zehn Minuten später arbeitete die Ver waltung wie gewöhnlich. * Fritz Lehmann verließ an diesem Morgen wie ge wöhnlich mit seiner Schwester zusammen das Haus. Dicht nebeneinander eilten sie durch die Straßen dem Werk zu. Mitten in der Stadt wurden sie von einem Auto überholt. Es fuhr dicht an die Bordkante heran und hielt. Ein Polizist in Uniform sprang heraus, als sie eben vorübergehen wollten. »Einen Augenblick«, bat er, »Sie sind doch die 42
Geschwister Lehmann?« Die beiden nickten. »Ich kam zu spät zu Ihrer Wohnung und versuchte Sie daher einzuholen«, erklärte der Beamte. »Sie sol len nämlich zum Revier kommen, so schnell wie möglich, damit Sie zwei Leute, die wir gefangen ha ben, identifizieren können. Wenn Sie bitte einsteigen wollen? Sonst denken die Leute, Sie werden verhaf tet.« Hanne Lehmann schickte sich sofort an, einzustei gen, aber Fritz hatte doch seine Bedenken. »Seit wann fährt die Polizei so vornehm im Privat wagen herum?« Der andere lachte. »Der gehört eigentlich dem Gauner, der dir ein Motorrad aufschwatzen wollte.« Fritz’ Mißtrauen schwand, aber er konnte nicht umhin, zu sagen: »Immerhin, der Ordnung halber, zeigen Sie mir bitte Ihren Ausweis.« Der Beamte griff willig in die Tasche und zeigte eine gestempelte Karte, die echt aussah. »Dort drüben steht auch noch ein Kamerad von mir«, meinte er gutmütig. »Soll ich den etwa ranholen?« »Danke, nicht nötig«, wehrte Fritz nun würdevoll ab. »Aber dort sehe ich gerade unseren anderen Lehrling– Augenblick, ich komme gleich wieder.« Er stürzte über die Straße auf einen jungen Bur schen zu, der ebenfalls zur Arbeit wollte. 43
»Karl«, rief ihn Fritz Lehmann schon aus einiger Entfernung an, »bestelle mal dem Alten, ich käme ein bißchen später. Und hier, nimm ihm die Tabellen mit, sonst sucht er sich tot. Er hat sie mir gepumpt, aber er wird sie brauchen.« »Gib her«, antwortete Karl großmütig. »Ich dum mes Pfund habe natürlich den ganzen Quatsch einzeln berechnet. Warum gehst du denn nicht gleich mit?« Fritz tat wichtig. »Muß erst zum Revier – als Zeuge – Spionagesache. Man holt uns extra mit dem Wagen drüben.« Karl grinste. »Da mußt du aber rennen, wenn du noch einsteigen willst.« Der Junge drehte sich herum. Tatsächlich, der Wa gen fuhr in scharfem Tempo davon. »Halt!« rief er hinterher und lief los, aber er sah bereits nach wenigen Metern, daß er mit dem Auto nicht Schritt halten konnte. Da blieb er mitten auf der Straße stehen. Sein Gesicht war alles andere als geistreich. Es dauerte eine Weile, bis er erfaßte, daß er mögli cherweise doch genarrt worden sein könnte. Zu dieser Einsicht trug nicht wenig bei, daß der Wagen rechts abbog, statt sich nach links zum Revier hin zu halten. *
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Hanne Lehmann wunderte sich, als der Wagen um die falsche Ecke bog. Sie schwieg, aber als sie sich dann auf der Straße sah, die aus der Stadt hinausführte, erkundigte sie sich unsicher: »Wo bringen Sie mich eigentlich hin? Ich denke, wir fahren zum Revier?« Der Polizist grinste etwas. »Das habe ich Ihnen nur erzählt, damit Sie keine Schwierigkeiten bereiteten. Wir fahren ein bißchen nach auswärts. Sie brauchen aber nichts zu befürchten. Wenn Ihr Freund, der Schulze, vernünftig ist, werden wir Sie sogar sehr bald zurückbringen.« »Aber…« Der Fahrer, der vor ihr saß, wandte sich flüchtig um. »Sieht aus, als würden wir verfolgt.« »Unsinn!« Der andere beobachtete durch den Rückspiegel die Straße, die nun schnell zur offenen Landstraße wurde. Für Hanne Lehmann hatte er keine Zeit mehr. »Zum Teufel«, murmelte er nach einer Weile, »den Mann habe ich in der letzten Zeit öfter in meiner Nähe gesehen. Es ist der Dicke.« »Hm.« »Vielleicht ist es Zufall«, überlegte der Polizist laut. »Aber wir müssen schon sichergehen. Kannst du ihn abhängen?« »Ausgeschlossen.« »Dann biege in den nächsten Waldweg ein.« 45
»Da setzen wir uns selber fest.« »Wenn es uns gilt, müssen wir ohnehin aufgeben und verschwinden.« »Oder ihm eine Falle stellen.« »Quatsch«, knurrte der Polizist grob. »Dich juckt wohl der Hals.« . Der Wagen rutschte um die Biegung in eine Straße hinein, die durch den Wald führte. Eine Minute später erschien der Verfolger auf der gleichen Straße. »Also doch«, murmelte der Polizist. Dann wandte er sich an Hanne Lehmann, die sich krampfhaft in die Polster gestemmt hatte, um nicht hin und her gewor fen zu werden. »Tut mir leid, mein Fräulein, aber unter diesen Umständen müssen wir Sie ausladen. Es liegt ein kleines Mißverständnis vor. Wenn Sie uns einen Gefallen tun wollen, so halten Sie den Wagen hinter uns an. Wir müßten uns nämlich sonst ziemlich gewaltsam vor weiterer Verfolgung schützen, und das möchten wir aus Rücksicht auf gewisse Gesetze lieber vermeiden. Haben Sie mich verstanden?« Hanne Lehmann nickte. Sie fand diese Entführer etwas seltsam. Aber das kam nur daher, daß sie wie die meisten Leute falsche Vorstellungen besaß. Die Bremsen kreischten, der Wagen hielt, Hanne Lehmann wurde hinausgeschoben. Schon heulte der Motor wieder auf, der Wagen schoß davon. Da kam der Verfolger heran. Das junge Mädchen winkte, aber der zweite Wagen bremste bereits, und 46
ein jüngerer, aber ziemlich dicker Mann sprang her aus. »Schlaue Bande, das muß ich schon sagen«, sagte er, während er Hanne Lehmann die Hand hinstreckte. »Sie sind natürlich ausgeladen worden, weil die Kerle genau wußten, daß ich sie in der Hand hatte. Heinrich Meyer ist mein Name…« »Ich heiße Hanne Lehmann«, erwiderte sie. »Man wollte mich entführen. Ich danke Ihnen für…« »Nichts zu danken«, wehrte Meyer ab. »Es war mir ein Vergnügen. Eigentlich war es ein glücklicher Zufall, daß ich in dem Polizisten meinen guten Freund erkannte. Sie müssen wissen, daß ich ihn aus anderen Gründen beobachte. Ich dachte mir jedenfalls, daß etwas nicht stimmen könne, deshalb fuhr ich hinterher. Aber steigen Sie ein. Sie fahren doch mit in die Stadt zurück?« »Ja«, sagte sie, »in die Maschinenwerke. Ich müßte eigentlich schon bei der Arbeit sitzen.« »Kommt nicht in Frage. Ich bringe Sie nach Hause. So eine Entführung kommt nicht alle Tage vor, das muß man erst einmal verkraften. Außerdem sehen Sie ziemlich blaß aus.« »Aber man wird auf mich warten«, wandte sie ein. »Wozu gibt es Telefon? Warum sollten Sie eigent lich entführt werden?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« 47
»Hm – na, das wird sich ja herausstellen.« Er setzte sich ans Steuer, wendete den Wagen und fuhr zurück. Vom ersten Gasthaus aus verständigte er das Werk, dann brachte er Hanne Lehmann nach Hause. Vorsorglicherweise ging er mit nach oben. Fred Markert unterhielt sich gerade mit Frau Leh mann, als die beiden eintrafen. Er wurde schweigender Zuhörer der Berichte. Frau Lehmann geriet nach träglich ins Zittern, nachdem sie die Gefahr begriffen hatte. Ihre Tochter versuchte sie zu beruhigen. Mar kert zog inzwischen Meyer beiseite und fragte: »Kannten Sie zufällig den Professor Meyer, der vor einiger Zeit gestorben ist?« Meyer blickte ihn überrascht an. »Gewiß, das war mein Onkel. Haben Sie ihn ge kannt?« »Nein, aber ich bin gut befreundet mit Rolf Gärtner, den Sie von Ihrer Schulzeit her als Freund betrachten. Sie haben ihm einen Brief geschrieben?« »Ja, aber…« »Kommen Sie, wir wollen in meinem Zimmer dar über sprechen.« Meyer nickte und schloß sich an, aber Markert mußte erst noch einmal die Flurtür öffnen. Paul Schulze stürmte herein. »Ist sie da?« Fred Markert wies zum Wohnzimmer. Da Schulze in seiner Aufregung die Tür offen ließ, konnten die 48
beiden Herren nicht vermeiden, die Begrüßung mit zuerleben. Paul Schulze hatte alle Schüchternheit vergessen. »Gott sei Dank, Hanne!« rief er, während er auf das junge Mädchen zulief. »Ich habe wahrhaftig vor Angst geschwitzt.« Er nahm sie in seine Arme und drückte sie an sich, und Hanne Lehmann fand das völlig in Ordnung, während ihre Mutter darüber ihren Kummer vergaß. Nur Heinrich Meyer seufzte etwas und murmelte: »Schade, die hat mir gerade gefallen.« Fred Markert führte ihn zur nächsten Tür. »Kunststück«, sagte er lächelnd. »Aber kommen Sie, ich will Sie mit meinem Besucher bekannt ma chen.« Heinrich Meyer wurde verlegen, als er die starken Augen Sun Kohs auf sich gerichtet sah, aber das verlor sich allmählich wieder. »Sie sind der Neffe des verstorbenen Professors Meyer?« vergewisserte sich Sun Koh, wobei er an eine Bemerkung Markerts anknüpfte. »Ja.« »Sie haben einem meiner Freunde, Rolf Gärtner, einen Brief geschrieben. Rolf Gärtner befindet sich in Mexiko. Er übermittelte mir den Inhalt Ihres Schrei bens und bat um Nachforschungen. Es ist ein glück licher Zufall, daß ich Sie gleich hier sprechen kann.« »Gewiß«, sagte Heinrich Meyer vorsichtig. 49
»Ich habe in der Kürze der Zeit ungefähr festge stellt, womit sich Ihr Onkel beschäftigt hat, bin aber noch nicht voll unterrichtet. Aus den Andeutungen Ihres Schreibens entnahm ich, daß es sich um wich tige Angelegenheiten handelte und daß Sie nach dem Tode Ihres Onkels einen Diebstahl feststellten. Sie vermuten den Dieb in Mexiko?« »Vielleicht«, erwiderte Meyer unsicher. »Ich hatte nur einen Gesprächsfetzen aufgefangen, deshalb tippte ich auf Mexiko. Und ich dachte, mein Freund Rolf könnte etwas erfahren und mir behilflich sein. Ich weiß nicht, ob ich Sie damit belästigen soll?« »Sie würden mich durch eine offene Aussprache verpflichten. Es kann für uns von höchster Wichtig keit sein, genau Bescheid zu wissen. Vielleicht be rühren sich unsere Angelegenheiten überhaupt nicht, aber ich bitte Sie trotzdem, mich als den Stellvertreter Ihres Freundes zu betrachten und mich aufzuklären.« Meyer hob die Schultern und meinte sicherer: »An mir soll es nicht liegen, ich wollte nur nicht unnötig jemand behelligen. Sie wissen wahrscheinlich, daß mein Onkel ziemlich plötzlich starb. Ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen ist, weiß ich nicht, aber ich bezweifle es fast. Als ich seinen Nachlaß durcharbeitete, fielen mir einige Blätter in die Hände, die mich erst munter machten. Es handelte sich um Aufzeichnungen, die mein Onkel wohl in einer nachdenklichen Stunde gemacht hat. Er fühlte sich 50
beobachtet, man hatte versucht, bei ihm einzubrechen. Dann schrieb er ungefähr dem Sinne nach: ,Die Welt kümmert sich auch oft um den, der sich nicht um die Welt kümmert. Mir scheint, man sucht bei mir wich tige Dinge. Aber was ist bei mir schon zu stehlen? Gilt es meinem M II? Aber was will man damit anfangen? Gewiß, es ist etwas Besonderes um diesen Stoff, der den Wasserdampf in der Luft in so hohem Maße zu verdichten vermag, daß man künstliche Wolkenbrü che erzeugen kann. Aber wer sollte für etwas Derar tiges praktische Anwendung finden, es sei denn, zum Wohl der Menschheit? Allerdings, wenn man das K I Kilmanocks dazunehmen würde, könnte ein verbre cherisches Gehirn schon Möglichkeiten sehen. MII und KI zusammen ergeben eine Flut, die zwischen Himmel und Erde alles Lebende vernichtet. So se gensreich die Bakterien auf wüstem Boden wirken können, so vernichtend werden sie für Menschen sein, die sie auf ihrem Weg zum Boden treffen werden. Weiß jemand von Kilmanocks Arbeit, der auch meine Arbeit kennt? Ich kann die Briefe nicht mehr finden.’ So ungefähr lautete der entscheidende Teil der Auf zeichnungen, die mich stutzig machten. Ich…« »Einen Augenblick, bitte«, unterbrach Sun Koh. »Ihr Onkel hat also einen Stoff gefunden, mit dem künstlicher Regen erzeugt werden kann. Und jener Kilmanock hat Bakterien entdeckt?« »Er hat sich mit der Reinkultur von Bodenbakterien 51
beschäftigt. Das sind Bakterien, die totes Land in Humus verwandeln. Professor Kilmanock starb fast am gleichen Tag wie mein Onkel.« »Ein eigenartiges Zusammentreffen. Die Boden bakterien sind für Menschen gefährlich?« »Ich nehme an, daß sie in Reinkultur wirksam ge nug sind, um auch das Lebende zu zersetzen, aber ich weiß nichts Genaues. Alles ist nur Vermutung. Je denfalls habe ich mich vergeblich nach den Unterla gen umgesehen, die mein Onkel über sein M II hin terlassen haben mußte. Es war nichts zu finden. Das ganze Zeug muß gestohlen worden sein. Und nach meinen Erkundigungen hat Kilmanock auch nichts hinterlassen – merkwürdigerweise. Aber ich habe wenigstens noch zwei Bilder ge funden, zwei Aufnahmen, die mein Onkel in den letzten Tagen gemacht hatte. Auf der Rückseite steht vermerkt, daß dies die Leute seien, die das Haus immer beobachteten.« »Haben Sie sich mit der Polizei in Verbindung ge setzt?« »Nein, ich wollte mich nicht als Märchenerzähler auslachen lassen. Schließlich wußte ich doch nichts Genaues. Erst in der letzten Zeit habe ich begriffen, daß hier in der Stadt eine Gruppe sitzt, die sich an scheinend mit Werksspionage beschäftigt. Ich ent deckte nämlich zufällig einen der beiden, die mein Onkel fotografiert hatte, auf der Straße. Ich habe ihn 52
im Auge behalten. Es hat aber lange gedauert, bevor ich eine günstige Gelegenheit fand, um etwas mehr zu erfahren. Und das glückte mir wohl auch nur, weil ich ziemlich harmlos aussehe und beim Trinken allerhand vertragen kann. Jedenfalls fiel der Name meines Onkels, und dann war von einem gewissen Latoff die Rede. Der schien der Hauptmacher zu sein. Ich ent nahm, daß er sich in Mexiko befinde, um die Erfin dung meines Onkels zu verkaufen. Daraufhin schrieb ich an Rolf Gärtner. Seitdem habe ich meine Leute noch einige Male hier und dort beobachtet, und heute erwischte ich den einen in der Uniform eines Polizi sten. Das wäre so ziemlich alles. Es ist nichts Ge scheites, aber wahrscheinlich ist doch alles wichtiger, als man nach dem Wenigen annehmen kann.« Sun Koh nickte. »Ich halte diese Angelegenheit sogar für sehr wichtig und danke Ihnen für Ihre Aufschlüsse. Sie dürfen überzeugt sein, daß wir uns bemühen werden, Latoff zu fangen und das Eigentum Ihres Onkels si cherzustellen.« Damit war die Unterhaltung für Meyer beendet. Als Sun Koh später mit Markert allein war, kam er noch einmal darauf zurück. »Wenn Latoff mit Don Estobal in Verbindung steht, so besteht Gefahr. Es ist besser, wir behandeln die Vermutung zunächst als Tatsache. Telexen Sie un verzüglich entsprechende Mitteilungen nach Yukatan. 53
Ich werde zwar morgen abreisen, aber in diesem Fall kann jede Minute wichtig sein.« »Sollen die Nachforschungen nach diesem Latoff aufgenommen werden?« »Das hat Zeit, bis ich drüben bin. Hoffentlich sind unsere Vermutungen richtig.« »Hoffentlich!« »Ja. Gegen Gefahren können wir uns schützen. Darüber hinaus ist ein Mittel, mit dem man in kurzer Zeit wüstes Land in fruchtbaren Humusboden ver wandeln kann, von außerordentlicher Bedeutung für uns. Dieser Punkt war bisher unsere schwächste Stelle. Was nützt uns ein aufsteigender Erdteil, wenn er aus Sand und Fleisch und Wüste besteht? Er ist erst be siedlungsfähig, wenn wir ihn künstlich altern können, wenn wir in Monaten oder wenigen Jahren auf künstlichem Weg erreichen, was die Natur in langen Zeiträumen durch Verwitterung von Bakterien schafft. Wir werden das neue Land haben, wir werden tech nische Machtmittel aller Art besitzen, wir werden Menschen bekommen – aber eben das, was die Arbeit der Professoren Meyer und Kilmanock umschließt, fehlt uns noch. Deshalb hoffe ich, daß die fertige Arbeit tatsächlich vorliegt, wenn sie sich jetzt auch noch in den Händen von Männern befindet, die sie zu eigennützigen Zwecken mißbrauchen wollen. Doch lassen wir das jetzt. Sie wollten mir noch über Ihre Vorbereitungen Bericht erstatten?« 54
Damit ging die Unterhaltung auf ein anderes Gebiet über. Sun Koh lauschte gleich darauf schwierigen technischen Erklärungen. Das war bezeichnend für ihn. Er ließ seinen Mitar beitern und Freunden weitgehende Selbständigkeit und unterrichtete sich doch über jedes Arbeitsgebiet bis in Einzelheiten hinein. Dabei übersah er stets das Ganze und wußte genau, was die ungeheure Aufgabe erforderte. Atlantis konnte aufsteigen. Das würde für die Welt nicht viel mehr als ein Naturereignis sein, das sich ohne Zutun von Menschen vollziehen mußte. Der wüste Erdteil nützte nichts. Er mußte fruchtbar und von Menschen besiedelt, erschlossen und verteidigt werden. Das warf das Schicksal nicht in den Schoß. Deshalb warb Sun Koh schon jetzt um Menschen, die einst auf Atlantis wohnen sollten, deshalb suchte er auf der ganzen Welt nach genialen Geistern, die er einspannen konnte, deshalb fahndete er nach Erfin dungen, mit denen er seine Pläne verwirklichen konnte. Das Ziel lag in der Ferne, und die Anforderungen waren riesengroß, aber Sun Koh sah das Ziel klar vor sich und vertraute auf sich, seine Freunde und die schöpferischen Kräfte des menschlichen Geistes.
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3.
Im Urwald von Yukatan träumte die Lichtung vom Glanz vergangener Jahrtausende. Zwischen wucherndem Pflanzenwerk lagen die Trümmer stolzer Paläste, riesiger Bauten aus seltsam verzierten Steinblöcken. Skulpturenbedeckte Säulenstücke, niedergebrochene Stufenwölbungen, geschliffene Platten, Chac mol-Tiger und Yuetzalcoatl-Schlangen bildeten mit dem üppigen Gewirr der Pflanzen ein Stilleben von zauberhafter Wirkung. Auf einem der Blöcke lag Hal Mervin und döste ge langweilt vor sich hin. Das war kein Wunder, da er sich seit zwei Tagen völlig überflüssig auf der Welt fühlte und nichts zu tun hatte. Erfreulicherweise besaß er noch die Fä higkeit, in diesen glücklichen Zustand zwischen Wachen und Schlafen zu versinken, in dem die Seele zu den geheimnisvollen Urquellen ihres Seins zu rückkehrt und heimlich wächst. Die Menschen haben ja leider in ihrer überwiegenden Menge kaum noch eine Ahnung, daß es so etwas wie eine schöpferische Pause gibt. Hal Mervin döste, und so überhörte er die leichten Schritte des riesigen, muskulösen Negers, der von der Seite herankam. Nimba blieb eine Weile neben ihm stehen und blickte auf ihn hinab. Schließlich meinte er mißbilli 56
gend: »Du wirst dir noch einen Sonnenstich holen. Dein Hals sieht wie paniert aus.« Hal wälzte sich träge auf die Seite und blinzelte in das dunkle Gesicht hinauf. »Daß sich darüber ausgerechnet jemand aufregen muß, der selber schwarz wie eine verbrannte Kaffee bohne ist.« »Bei mir ist das was anderes«, erwiderte Nimba abgeklärt. »Die heiße Sonne Afrikas…« Der Junge winkte lebhaft ab. »Werde nur nicht gleich poetisch. Du brauchst mir dein Ländle nicht erst zu erklären. Was macht Sun Koh?« »Er arbeitet.« Hal setzte sich mit einem Ruck auf. Mit einem Unterton von Zorn und Ärger fauchte er: »So, er ar beitet! Natürlich arbeitet er. Seit zwei Tagen hat er nicht geschlafen und nicht anständig gegessen. Er arbeitet ununterbrochen, und unsereinem schläft jedes Glied einzeln ein vor lauter Langeweile.« Nimba grinste. »Du ärgerst dich, weil sie dich an ihrem Werk beteiligen.« Der Junge sah ihn wütend an. »Dir ist wohl das bißchen Gehirn in deinen hohlen Zahn gerutscht. Ich und ärgern… So siehst du aus, du frischgerösteter…« »Reg dich nicht auf«, sagte Nimba kummervoll. »Mir paßt es selber nicht, aber was kann ich machen? 57
Wir müßten uns höchstens hinter Miss Martini stek ken.« Hal tippte sich ausdrucksvoll an die Stirn. »Hör mal, du Überbleibsel von Anno Tobak, das habe ich längst getan. Nach fünf Minuten ist sie wieder herausgekommen und hat genau so ausgese hen, als wüßte sie nicht, ob sie Rizinus oder Honig geschluckt hat. Und Sun Koh hat weiter gearbeitet. Warum tust du das Maul nicht auf, du gehst doch ein und aus?« Nimba wehrte ab. »Ich werde mich schön hüten. Schließlich werde ich auch bloß hinausgeworfen wie du, und dann kümmert sich überhaupt niemand um ihn. So schiebe ich ihm wenigstens schnell noch immer was zu essen unter.« »Die anderen Herren sind ja genau so verrückt. Um was geht es eigentlich?« Nimba hob die Schultern. »Viel weiß ich auch nicht.« »Das glaube ich dir unbesehen«, sagte Hal trocken. »Also, was hast du aufgeschnappt?« »Es handelt sich um Atlantis«, verkündete Nimba wichtig. Hal sah ihn sprachlos an, dann platzte er heraus: »Mensch, und dazu bläst du dich so auf? Bei uns handelt es sich doch immer um Atlantis. Näheres will ich wissen.« 58
»Du weißt doch, daß sich Sun Koh von jedem einzelnen gründlich Bericht erstatten ließ.« »Weiß ich. War schon vor drei Tagen.« »Schön, seitdem organisiert er ununterbrochen.« Hal schluckte ein paarmal. »Kannst du nicht mal Klartext reden?« Nimba feixte. »Ich werde versuchen, volkstümlich zu sprechen. Also, Sun Koh rechnet damit, daß eines Tages Atlan tis auftaucht. Es ist sein Land, was sich da aus dem Meer erheben soll. Kannst du dir vorstellen, was Amerika oder Rußland tun würden, wenn da auf einmal eine neue Insel oder ein neuer Erdteil auftau chen würde?« Hal machte eine wegwerfende Geste. »Sie würden darum kämpfen und eine Kolonie daraus machen.« »Und wenn Sun Koh Anspruch auf das Land er heben würde?« »Klar, daß sie sich zusammentun und wie die Wölfe über ihn herfallen.« Der Neger nickte befriedigt. »Du bist doch klüger, als du aussiehst.« »Und du siehst klüger aus, als du bist«, gab Hal giftig zurück. »Aber rede weiter, deine Stimme klingt so heimatlich.« Nimba riß die Augen auf. »Was?« 59
»Ja«, bestätigte Hal, »sie erinnert mich an den alten Wauwau, der bei uns im Hinterhof immer bellte.« Nimba holte aus, aber Hal war schon geschickt hinter den Stein geglitten. Er bemerkte kummervoll: »Rohe Urwaldinstinkte durchbrechen dünne Schale der Kultur – das gibt geradezu eine fette Überschrift über ein Kapitel Mord. Aber weiter. Sun Koh bereitet also jetzt schon alles zur Verteidigung von Atlantis vor?« Nimba nahm bereitwillig den Faden wieder auf. »Das ist das wenigste. Im großen und ganzen muß schon alles in Ordnung sein. Das neue Land braucht Menschen, Städte, Maschinen, Nahrungsmittel und vieles andere. Da gibt’s viel vorzubereiten. Jeder ein zelne von den Wissenschaftlern hat seine besondere Aufgabe bekommen, für die er einstehen muß. Aber ich hörte schon, daß sie noch lange nicht ausreichen. Ritter soll zum Beispiel die Fliegerei übernehmen, andere Posten sind noch ganz frei.« »Was soll ich zum Beispiel machen?« »Säuglingsheime gründen.« Hal überhörte die Anspielung großzügig. »Wei ter!« »Ich hörte etwas von je einer Million Männern und Frauen, die für eine spätere Auswanderung nach At lantis ausgewählt werden sollen, aber ich weiß nichts Genaues darüber.« »Was noch?« 60
»Mister Peters erzählte davon, daß im Atlantik unterirdische Beben stattgefunden hätten. Nach neu esten Meldungen soll sich das Land an der einen Stelle innerhalb eines Jahres um fünfhundert Meter gehoben haben. In den großen Widerlager-Gebirgen in Europa und Amerika sollen sich tektonische Beben außerordentlich häufig zeigen.« »Du redest wie ein Buch.« »Ich wiederhole nur das, was ich gehört habe«, erwiderte Nimba leicht gekränkt. »Mister Bieder mann sagte außerdem, daß sich auch in den Gebieten, die seit Jahrtausenden keine Erdbeben kennen, jetzt wiederholt Erdstöße und unterirdische Bewegungen bemerkbar gemacht haben.« »Dann wird’s schon stimmen«, murmelte Hal. »Donnerwetter, das wird eine große Zeit werden.« »Sicher«, betonte Nimba mit Überzeugung. »Wenn ich mir vorstelle, wie da auf einmal ein neuer Erdteil aus dem Meer aufsteigt und…« »Ich weiß schon«, unterbrach Hal herzlos. »Du stellst dir das so ungefähr vor wie – wie wenn ein Hefeteig mit großen Rosinen hochgeht. Ganz so ein fach wird die Geschichte nicht werden. Was ist überhaupt mit Mexiko?« Nimba zuckte mit den Schultern. »Nichts.« »Das ist nicht viel. Ich denke, der Pilot mit der flüssigen Pest wird bald erwartet?« 61
»Kann sein. Sun Koh hat Garcia beauftragt, die Geschichte zu regeln. Seitdem habe ich nicht mehr gehört als du. Garcia wird schon alles erledigen.« »Wenn er gerade Lust hat. Ich traue dem guten Manuel immer noch nicht recht über den Weg. Ich werde das Gefühl nicht los, daß er eines Tages doch eine Teufelei ausheckt. Selbst wenn sein Brüderchen Juan eines Tages wieder auftauchte, würde mich das nicht wundern, obwohl wir alle drei gesehen haben, wie ihm die Felsbrocken auf den Kopf fielen.« »Du nimmst eben von jedem immer das Schlech teste an, mein Sohn.« Hal machte ein böses Gesicht. »Nenne mich nicht ›mein Sohn‹, du Schlot, sonst ist es aus mit unserer Freundschaft. Und was Manuel anbetrifft, so wollen wir abwarten, wer recht behält.« »Still.« Nimba lauschte. Aus der Ferne kam ein summendes Geräusch, das allmählich stärker wurde. »Ein Flugzeug?« fragte Hal. Nimba nickte. »Ja. Von uns ist niemand unterwegs, also wird es schon einer von Mexiko sein.« Über den Bäumen erschien ein dunkler Punkt, der sich langsam vergrößerte und höher schob. »Hm«, brummte der Neger, »ich verstehe Garcia nicht. Es ist nichts davon zu merken, daß er auf einen Angriff gefaßt ist. Wenn der Kerl uns nun mit seinem 62
Teufelszeug bepflastert…« »… dann werden wir so eine Art Komposthaufen, wenn ich die Geschichte richtig verstanden habe«, vollendete Hal. »Ich werde doch lieber Sun Koh aufsuchen und ihm Meldung machen.« »Nicht nötig«, meinte eine höhnische, scharfe Stimme hinter der nächsten Säule. »Es ist schon alles in Ordnung.« Die beiden blickten den vortretenden Mexikaner mit dem bleichen, dreieckigen Satansgesicht an, Hal mißtrauisch, der Neger eher mit einem vertrauensse ligen Ausdruck. Nimba meinte denn auch: »Dann ist’s ja gut. Es wird also nichts weiter geschehen, wenn das Flugzeug seine flüssige Pest abwirft?« Die dünnen Lippen Manuel Garcias verzerrten sich zu einem Grinsen. »Nichts weiter als das, was unser junger Freund eben so schön sagte. Ein kleiner Regen, ein paar Tropfen auf die Haut – schon sind wir futsch.« »Mahlzeit«, knurrte Hal und stelzte davon. »Wohin so eilig?« meckerte Garcia hinterher. »Regenschirm holen«, gab Hal lakonisch zur Ant wort. »Mein junges Leben ist zu wertvoll. Auf euch beide kommt’s nicht so an.« »Du kannst ruhig dableiben«, sagte der Mexikaner spöttisch. »Der Regenschirm wird dir wenig nützen. Die feuchte Luft, die du einatmest, trägt genügend Tod in sich.« 63
Da wandte sich Hal mit einem scharfen Ruck wieder um und schrie ihn böse an: »Um so schlimmer. Das Flugzeug dort ist bald über uns. Der Schuft will uns alle erledigen, und Sie stehen hier und quaken in der Gegend herum. Wissen Sie denn nicht mehr, daß Sie von Sun Koh beauftragt worden sind, entspre chende Maßnahmen zu treffen?« Manuel Garcia fuhr erschrocken zusammen. »Was? Ich denke, das sollte ein anderer erledigen?« Hal sank förmlich betäubt auf den nächsten Stein. »Großer Gott«, murmelte er. »Man bringe mir gleich einige Kirschkerne, die ich verschlucken kann, damit wenigstens etwas Anständiges auf mir wächst.« * Leutnant Madras zog den Hebel, der eigentlich für den Bombenabwurf bestimmt war, jedoch jetzt einen besonders gebauten Behälter öffnete. Dann begann er in langen Spiralen, die er über der Lichtung beschrieb, aufzusteigen. Die Luft war eben noch klar und durchsichtig ge wesen. Doch bereits nach Sekunden zeigten sich unter der Maschine weiße, dunstige Schleier. Sie wurden dichter, nahmen in Minuten eine schmutzige graue Farbe an und legten sich in dicken Schichten über einander. Madras fing eine unvermutete Bö ab und brauchte 64
eine Weile alle Aufmerksamkeit für die Maschine. Als er wieder nach unten blickte, regnete es dort be reits in starken, dichten Strömen. Madras war für Gouverneur Don Estobal unter wegs. Er besaß strikten Auftrag, den Schacht über der Lichtung zu öffnen, in der sich die Ausländer festge setzt haben sollten. Er wußte nicht, um was es ging, aber der Gouverneur hatte ihm gesagt, welche Wir kungen auftreten konnten. Er lachte kurz auf. Diese Erfindung schien ja aus gezeichnet zu sein. Eine Handvoll von dem Zeug er zeugte schon einen derartigen Regen. Wenn das Gift da drin so wirksam war, dann konnten die Leute unten bereits als erledigt gelten. Er zog zufriedenen Gemüts weiter seine Kreise. Don Estobal verlangte einen eingehenden Bericht, also mußte er schon warten, bis er mehr sah. Nach fünf Minuten lichteten sich die Schleier und lösten sich dann ebenso schnell auf, wie sie entstan den waren. Der Blick auf die Lichtung wurde frei. Der Pilot zog die Oberlippe zwischen die Zähne und kaute unschlüssig daran. Der Anblick entsprach nicht gerade seinen Erwartungen. Er hatte ange nommen, daß dort unten alles schwarz und verkohlt sein würde, aber statt dessen sah die Lichtung und alles Grüne in ihr und um sie herum um keinen Deut anders aus als vorher. Freilich konnte es ja von oben gewaltig täuschen, sicherlich hatte man unten einen 65
ganz anderen Eindruck von den Wirkungen des Re gens. Und richtig, die flüssige Pest wirkte ja nicht blitzartig, sondern brauchte immerhin kurze Zeit, um sich auszuwirken. Madras hatte sich noch nicht recht damit getröstet, als er plötzlich einen Menschen, kurz darauf einen zweiten auf der Lichtung bemerkte. »Verdammt!« zischte er. »Das ist doch…« Tatsächlich, es waren Menschen, die sich dort so friedlich über die Lichtung bewegten, als ob auch nicht das geringste geschehen sei, als ob man ihnen nicht eines der höllischsten Gifte hinuntergeschickt hätte, das ein Menschengehirn erfinden konnte. Und dabei sollte ein Mensch innerhalb von zwei Minuten dran sterben. Der Leutnant überlegte lange, während er seine Kreise zog. Endlich entschied er sich, zu landen. Viel konnte ihm ja nicht geschehen, denn die Leute würden unmöglich in dem Regen eine Niedertracht seinerseits vermuten. Er kam eben im Regierungsauftrag, um sich höflich zu erkundigen. Die Maschine senkte sich aus dreitausend Meter Höhe in die Tiefe. In fünfhundert Meter Höhe konnte Madras zweifelsfrei feststellen, daß das Gift versagt hatte. Die Lichtung zeigte keine Spuren von Zerstö rung, und die Männer liefen immer noch herum. Dreihundert, zweihundert, hundert Meter. Der Pilot hatte sich seine Landestelle bereits gewählt, ging im 66
Gleitflug darauf zur Erde. Dann geschah das Unfaßbare. Das Flugzeug schwebte in der freien Luft, noch annähernd dreißig Meter über dem Boden, fern vom Wald, von jedem Baum und von jedem Hindernis. Und doch schmetterte die Maschine plötzlich ge gen einen harten Körper. Madras hieb im Anprall, der ihm so unerwartet wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, mit dem Oberkörper nach vorn auf die Arma turen, er hörte das krachende Brechen von Holz und Metall, fühlte, wie die Maschine von der einen Trag fläche her herumgeschleudert und aufgehalten wurde, während sie auf der anderen Seite jäh stürzte, bis sie mit zerreißendem, splitterndem Geräusch irgendwo aufschlug. Er sah die linke Kabinenwand sich ein beulen und auf sich zuschnellen, und dann…… starb er. * »Es ist aussichtslos«, berichtete Nimba zwei Stunden später, nachdem er wieder von dem Baum heruntergesprungen war. Seine Lippen zuckten dabei wie in Nervosität, und sein Gesicht war mehr grau als schwarz. »Es ist unmöglich, ihn herunterzuholen«, fuhr er nach einer kleinen Pause mit leiser Stimme fort. »Die Maschine ist wie ein Trümmerhaufen und derartig mit den Ästen und Stämmen durcheinander 67
gewirrt, daß man die einzelnen Stücke nur mit einem Schneidbrenner auslösen könnte. Und die Kabine ist wie eine zusammengequetschte Konservenbüchse. Es ist kein schöner Anblick, jede Mühe ist zwecklos.« »Verzichten wir also darauf«, entschied Sun Koh. »Er hat böse Absichten gehabt.« Seine Augen leuchteten nicht wie sonst, als er den Blick schweifen ließ. Es war, als läge leise Trauer in ihnen. Der Grund dafür war sicher nicht darin zu su chen, daß er in den letzten drei Tagen übermäßig viel gearbeitet hatte, daß er Hunderte und Tausende ein zelner Entscheidungen getroffen hatte, die für die Zukunft von ungeheurer Bedeutung werden sollten. Nein, die Arbeit, den Mangel an Schlaf sah man die sem schlanken jungen Mann nicht an. Es war etwas anderes, das in seinen Augen lag, und kurz darauf sprach er auch darüber. »Da haben sich ernste Forscher ein Leben lang ge müht, um der Menschheit Segen zu bringen. Sie ha ben Erfolg gehabt, haben etwas geschaffen, das viel, viel Nutzen bewirken kann. Doch da entdeckt ein verbrecherisches Gehirn die vernichtende Wirkung auf den lebenden Organismus, und das, was zum Segen bestimmt war, wird zum Fluch. Seht euch um. Dieser zerfallende Wald, dieser schon halb verweste Affe reden eine furchtbare Sprache. Ein solches Kriegsmittel in der Hand der Menschen ist eine schlimme Bedrohung.« 68
Dr. Peters, der neben ihm stand, nickte trübe. »Die Mexikaner werden allerlei Unheil damit anrichten.« Zwischen Sun Kohs Augen entstand sekundenlang eine steile Falte. »Sie werden nicht mehr viel Gelegenheit dazu ha ben.« »Fein, Sir«, meldete sich Hal, »den Kerlen werden wir schon zeigen, wo’s langgeht.« »Garcia«, wandte Sun Koh sich an den Mexikaner, »wie haben Sie eigentlich diese Angelegenheit berei nigt?« Garcia lachte vergnügt. »Der Pilot hat sein Vergnügen gehabt, und wir haben es nicht bezahlen müssen. Es war ganz einfach. Der Kerl hat eben sein Zeug über der Lichtung los gelassen.« »Eben nicht, denn der vergiftete Regen ist ja hier heruntergegangen.« »Stimmt trotzdem«, versicherte der Mexikaner. »Er hat auf die Lichtung gezielt und hat sogar jemand un ten herumlaufen sehen. Nur leider hat er sich etwas bluffen lassen. Ich habe ihn hypnotisiert…« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Sie reden wieder Unsinn. Halten Sie mich nicht auf, Manuel Garcia, ich habe noch zu tun.« Der Mexikaner senkte die Schultern. »Wenn Sie mich Manuel nennen, werde ich weich wie ein kleines Kind.« 69
»Schnell, hole Windeln«, flüsterte Hal dem Neger zu. »Es war das Kataskop«, erklärte Manuel Garcia. »Ich habe mit zwei Apparaten gearbeitet. Der eine deckte die Sonnenstadt durch ein Waldbild ab, der andere reflektierte das Bild der Ruinen hier an diese Stelle, einige Kilometer von uns entfernt, so daß der Flieger von oben her glaubte, die Lichtung befände sich hier. Er hat entsprechend gehandelt.« Sun Koh nickte. »Sie haben ausgezeichnete Einfälle, Manuel Garcia.« Der Mexikaner verbeugte sich tief. »Vielen Dank. Sie machen einen armen alten Mann glücklich.« »Unheilbarer Spötter«, erwiderte Sun Koh, der den Mann nun ziemlich genau kannte, lächelnd. »Nur um meine Rührung zu verbergen«, meckerte Garcia. Sun Koh wurde ernst. »Sie sagen also gelegentlich auch die Wahrheit?« Der Mexikaner blickte ihn bestürzt an, aber schon wandte sich Sun Koh ab. »Gehen wir.« * In der Nacht, die diesem Tag folgte, senkte sich aus dem dunklen Nachthimmel ein Flugzeug auf das 70
flache Dach des Palastes, den Don Estobal in Merida bewohnte. Abgesehen von einem gelegentlichen schwachen Aufsummen fiel es geräuschlos wie ein Schatten aus senkrechter Höhe und setzte sich weich wie eine Fe der auf den freien Raum. Die Tür zum Steuerraum öffnete sich, eine schlanke, hochgewachsene Gestalt glitt geschmeidig heraus. Sun Koh lauschte. Sein Gesicht zeigte verhaltene Spannung. Alles kam darauf an, ob man ihn in der Minute des Nie dergehens beobachtet hatte. Kein Alarmruf erscholl, kein Arm wies nach oben. Befriedigt ging er ans Werk. Die Dachluke war schnell zu finden und leicht zu heben. Unter dem Deckel stand eine steile Leiter treppe, über die hinweg er in die Bodenräume des Palastes gelangte. Der wandernde Lichtstrahl zeigte rohe Balken, schwere Holzrahmen und Säulen, lat tenverschlagene Bodenkammern und Staubweben. Er zeigte aber auch die Tür, die nach außen führte. Sie war erwartungsgemäß verschlossen. Nach we nigen Minuten hatte Sun Koh die Schrauben, die das Kastenschloß hielten, herausgelöst und konnte sie nun mit Leichtigkeit öffnen. Nicht weit von der Tür führte die Treppe in die Tiefe. Mit leichten schnellen Schritten nahm er Stufe um Stufe. 71
Die Gänge und Treppen, mit dicken Läufern belegt, waren menschenleer. Ohne sich nur ein einziges Mal zu sichern oder zu verstecken, erreichte er den ersten, Stock, in dem die Arbeitsräume des Gobernadors la gen. Hier war Vorsicht geboten, denn es stand nicht ganz fest, ob nicht Diener oder Sekretäre in der Nähe waren. Es mußte aber schon ein böser Zufall sein, der sie um diese Stunde alarmierte. Durch ein Geräusch konnten sie jedenfalls nicht in ihrem Schlaf oder in ihrer sonstigen Beschäftigung gestört werden, denn Sun Koh bewegte sich völlig lautlos. Er lief nach einem Plan, der klar in seinem Gehirn vorgezeichnet war. Obgleich er den Palast noch nie betreten hatte, schwankte er nicht ein einziges Mal über den einzu schlagenden Weg und erreichte tatsächlich den Raum, den er suchte. Dabei mußte er feststellen, daß ein von Soldaten bewachtes Schloß seine besonderen Vor züge hat. Hier oben war nämlich keine einzige Tür verschlossen. Der Gobernador schien sich im Schutz des Militärs völlig sicher zu fühlen. Jetzt stand Sun Koh vor dem massigen Stahl schrank, der die Geheimnisse barg. Nadelscharf fiel das Licht seiner Lampe auf die drei großen Kombi nationsscheiben und fuhr dann an den kaum sichtba ren Kanten der Tür entlang. Er lauschte zum zweitenmal. Durch das Fenster 72
drangen matte Geräusche von außen, innerhalb des Gebäudes schien jedoch alles zu schlafen. Sun Koh zog aus seiner Tasche einen schmalen Metallbehälter, eine Kapsel, der er ein Messer entnahm. Es war ein speziell entwickeltes Messer, lang und schmal wie ein Stilett, aber mit so hauchfeiner Klinge, daß es schien, als halte er nur den weißlich schimmernden Griff in der Hand. Sun Koh setzte die Spitze unterhalb des obersten Kombinationsschlosses ein und drückte sie mit einer energischen Bewegung fast bis an das Heft in die Stahltür hinein. Fachleuten wären in diesem Augenblick vermutlich die Augen aus dem Kopf gefallen. Die Tür des Panzerschrankes hatte nicht nur eine beachtliche Dicke, sie bestand auch aus hochwerti gem Stahl mit Quarzfuttern. Der Konstrukteur hätte es sich jedenfalls nicht träumen lassen, daß jemand in seine garantiert durchbruchfeste Tür mit einem Mes ser hineinstechen könnte. Sun Koh mußte unwillkürlich lachen. Er faßte das Heft fester und zog die Klinge im Kreis um das Kombinationsschloß herum. Mit beiden Händen packte er die vorstehende Scheibe des Schlosses und zog das herausgeschnit tene Stück aus der Tür. Ein zylinderförmiges Loch gähnte ihm entgegen. Er griff hinein, tastete nach den schweren Riegeln, die 73
er durch den Schnitt vom Schloß losgetrennt hatte, und schob sie zurück. Das erste Drittel seiner Arbeit war beendet. Nun setzte er das Messer am zweiten Schloß ein und führte seinen kreisförmigen Schnitt aus. Doch beim Herausziehen des Messers geschah es: Der schwere Zylinder senkte sich, das Messer brach ab. Sun Koh war bestürzt. Die Panne war sehr unan genehm, da er kein zweites Messer bei sich hatte. Die Panzertür hing immer noch mit dem untersten Schloß, das mit zwei waagerechten und einem senkrechten Riegel in die Schrankwände eingriff. Außerdem hing ja die Tür auch noch in den starken Bändern. Sun Koh nahm das ausgeschnittene Stück heraus und setzte es neben sich auf den Boden. Die abgebro chene Klinge wischte er mit dem Heft, an dem sich noch einige Zentimeter der Klinge befanden, heraus. Er hütete sich, sie anzugreifen. Der geringe Druck der Finger hätte bei der außerordentlichen Schärfe und Härte genügt, um die Finger samt Knochen glatt durchzuschneiden. Es war ein Glück, daß wenigstens ein Stück der Klinge geblieben war. Das genügte, um die langen stählernen Türbänder durchzutrennen. Es genügte allerdings nicht, um an die drei innenliegenden Riegel heranzukommen. Sun Koh wußte, daß nun von seiner Kraft alles ab hing. Die drei Riegel waren sicher noch fest genug für 74
fünf Männer, selbst wenn das Gewicht der Tür etwas nachhalf. Er faßte mit beiden Händen gegen die Unterkante der Tür, stemmte sich fest und zog. Sein Körper spannte sich wie die Sehne eines Bogens. Die stäh lernen Riegel gaben nach, an der Oberkante trat die Tür ein Stückchen hervor, Millimeter erst, dann ein, zwei Zentimeter. Es mußte gelingen. Plötzlich flammte das Licht auf. Gleichzeitig schrie eine Männerstimme: »Was machen Sie da? Hände hoch!« Sun Koh stürzte wie ein toter Klumpen zur Erde. Die ungeheuere Anspannung seiner Kräfte führte zu einer derartig starken Reaktion, daß er sekundenlang wie betäubt am Boden liegenblieb, während er mit weit geöffneten Augen auf den Mann starrte, der in der Tür stand. Es sah ganz so aus, als ob der Mann mindestens ebenso überrascht sei wie Sun Koh. Außerdem war er nicht übermäßig mutig, denn seine Hand zitterte, und sein Gesicht war bleich. Trotzdem war die Pistole unmittelbar auf Sun Koh gerichtet. Noch im Liegen begann Sun Koh zu sprechen. Seine Stimme verriet nicht die geringste Erregung. »Ich beobachte Ihren Zeigefinger. Sobald er sich etwas mehr krümmt, schieße ich, und ich bin be stimmt schneller als Sie.« 75
»Sie bluffen«, erwiderte der andere unsicher. Er streckte unwillkürlich seinen Zeigefinger. Nun wußte Sun Koh, daß er gewonnen hatte. Er erhob sich langsam, die rechte Hand in der Tasche, in der sich natürlich keine Waffe befand, und schritt auf den Mann zu. »Draußen liegen Dutzende von Soldaten«, sagte Sun Koh ruhig. »Sie mögen mir vielleicht schaden, aber Ihnen nicht mehr nützen, wenn Sie es wagen, Alarm zu schlagen. Es geschieht Ihnen nichts durch mich, Sie dürfen völlig unbesorgt sein.« Dabei war er schon bei dem andern angelangt und nahm ihm einfach die Pistole aus der schwankenden Hand. Der Mann stierte in das eigenartige Gesicht des Einbrechers und wagte es nicht, zu seinem Entschluß zu kommen. Sun Koh nahm ihn beim Arm. »Ich könnte Sie fesseln oder niederschlagen, aber ich hoffe, daß Sie verständig genug sind, um sich solche Unannehm lichkeiten zu sparen. Stellen Sie sich in diese Ecke und verhalten Sie sich ruhig. In wenigen Minuten bin ich fertig. Bis dahin zwingen Sie mich bitte nicht, Sie unschädlich zu machen.« Der Mann nickte nur und ließ sich willig in die Ecke führen, die durch den vorspringenden Stahl schrank gebildet wurde. Sun Koh wandte sich seiner Tür wieder zu. Er stemmte sich von neuem ein und zog mit aller Gewalt. 76
Die Riegel waren bereits gelockert und gaben ver hältnismäßig schnell nach. Als die Tür in ihrem oberen Teil schon ein ganzes Stück überhing, wechselte Sun Koh die Stellung. Flüchtig streifte er dabei das entsetzte Gesicht seines Gefangenen, dessen Augen förmlich aus den Höhlen traten. Er stemmte sich mit der linken Hand gegen die obere Kante des Schrankes und zog mit der rechten Hand an der Oberkante der Tür. Der Erfolg kam nach dem massiven Einsatz aller Kräfte schneller als er wünscht. Die durchgedrückten Riegel schnappten plötzlich aus, und die zentnerschwere Stahltür polterte mit einem mächtigen dumpfen Krach auf den Boden nieder. Sun Koh biß sich auf die Lippen. Jetzt blieb ihm keine Zeit mehr, denn dieses Geräusch war sicher im ganzen Haus gehört worden. Er griff hastig in den Schrank hinein und riß eine Schublade nach der an deren auf. Die meisten waren unverschlossen, nur eine bot Widerstand. Aber gerade in dem unverschlossenen Laden war das nicht enthalten, was Sun Koh suchte. Unten wurde Alarm geschlagen. Sun Koh griff nach dem Heft mit der abgebroche nen Klinge und stieß sie in den schmalen Spalt des verschlossenen Behälters. Ein kräftiger Schnitt. Jetzt ließ sich der Kasten öffnen. 77
Dokumente, Schriftbündel und drei verschiedene Behälter, dabei ein flacher Kasten, waren der Inhalt des Schränkchens. Mit einem Griff hatte Sun Koh alles herausgerissen. Er warf einen schnellen Blick auf die Aufzeichnun gen. Nichts! Die gesuchten Aufzeichnungen waren nicht vor handen. Die Mühe hatte sich nicht gelohnt. Einige Zettel nahm Sun Koh an sich. Notizen, wahrscheinlich Überwachungsberichte. Sie bezogen sich auf einen gewissen Latoff, wohnhaft im Hotel Calandro in Mexiko-City. Aber da stürmten Menschen heran. Er mußte fort. Zur Flucht war es schon zu spät. Als Sun Koh die Tür aufriß, sah er sich einem halben Dutzend Soldaten und einigen Zivilisten ge genüber. Sie waren jedoch von seinem plötzlichen Auftauchen stärker überrascht als er, und Sun Koh nutzte das aus. Er packte den vornstehenden Soldaten mit der freien rechten Hand an der Brust, hob ihn auf, schleuderte ihn gegen die andern und sprang durch die entstehende Gasse auf die nächste Tür zu. Er kam hindurch und erreichte den Gang, aber die Tür war noch in Bewegung, als schon die ersten Schüsse ge gen die Wand peitschten. Der Gang war leer. Sun Koh konnte die aufwärts 78
führende Treppe erreichen, ohne gesehen zu werden. Während er zum Boden hinaufsprang, hörte er un ten die Verfolger. In der Annahme, er sei nach unten geflüchtet, rannten sie in die Tiefe. Dadurch verloren sie nicht nur Sekunden, sondern Minuten. Ehe ihnen bewußt wurde, daß sich der Einbrecher weiter oben befinden mußte, saß Sun Koh bereits am Steuer seiner Maschine. * Am Nachmittag des gleichen Tages betrat Sun Koh das Hotel Calandro in Mexiko-City. Er erfuhr, daß Señor Latoff im Hotel gewohnt hatte, aber vor weni gen Stunden mit einem Privatflugzeug abgereist war. »Das ist unangenehm«, sagte er etwas später zu Hal, der ihn begleitete. »Die Gefahr für die Sonnenstadt ist beseitigt«, er innerte der Junge. »Das schon, aber ich möchte die Papiere bekom men. Ich brauche das, was Kilmanock und Meyer in Jahrzehnten erarbeitet haben, brauche es dringender als alles andere. Die flüssige Pest tötet zwar das Le bende, verwandelt aber auch totes Land in fruchtbaren Boden. Ich brauche diese Erfindung für Atlantis.« »Dann allerdings.« Hal nickte. »Wir müssen Latoff eben verfolgen.« »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte Sun 79
Koh. »Vielleicht können wir noch einiges über sein Reiseziel feststellen.« Er mietete kurzerhand das Zimmer, das Latoff be wohnt hatte. Die Hoffnung, irgendwelche Hinweise zu finden, trog jedoch. Dafür hatte Hal Mervin Erfolg. Hal horchte bei den Kellnern, den Liftboys und Pagen herum. Er hatte dafür eine besondere Ader. Der Liftboy schien etwas zu wissen. »Ich kann mir denken, wohin Señor Latoff gereist ist«, meinte er bedeutungsvoll. »Na?« Der Liftboy hob die Schultern. »Die Angestellten des Hotels sind zur Diskretion verpflichtet.« »Mach dich nicht voll«, sagte Hal. »Unter uns können wir schon davon sprechen. Aber ich wette, daß du dich bloß aufbläst und überhaupt nichts weißt.« »Ich weiß, was ich weiß.« »Zehn Dollar dagegen.« Hal zückte einen Schein. »Zehn gegen eins, daß du nichts weißt.« »Zehn gegen eins? Gemacht. Die zehn Dollar ge hören mir. Señor Latoff ist nach Williamsburg bei Portland in Oregon gereist.« Hal kniff die Augen zusammen. »Hat er es dir erzählt.« »Der? Der erzählt nichts. Aber gestern ist ihm ein 80
Brief weggerutscht, den er mit der Zeitung zusammen unter den Arm geklemmt hatte. Der Brief blieb hier im Lift liegen. Ich merkte es erst im Abfahren, und bevor ich wieder nach oben kam, hatte ich den Brief gelesen.« »Sind die Angestellten des Hotels dazu auch ver pflichtet?« Der Liftboy grinste. »Das weniger, aber manchmal sind das ganz hüb sche Briefe.« »Der auch?« »Nein, da war nur von einem gewissen Burkhardt die Rede, der auf einer Insel leben und allerhand Geheimnisse haben soll. Señor Latoff wurde dringend gebeten, sich um diesen Burkhardt zu kümmern. Es soll sich um ein großes Geschäft handeln.« »Aha. Und wer hat den Brief geschrieben?« Der Liftboy reckte sich. »Erstens weiß ich es nicht, weil ich nicht bis zu Ende gekommen bin, und zweitens würde ich es nicht sagen, wenn ich es wüßte, weil ich keine Hotelge heimnisse ausplaudere. Aber den Ort habe ich mir gemerkt. Wie steht’s nun mit den zehn Dollar?« Hal drückte sie ihm in die Hand. »Nimm hin und da, du teurer Hotelangestellter.« Zwei Minuten später berichtete er Sun Koh. Der Hinweis konnte brauchbar sein. Es gab keinen zwingenden Beweis, daß Latoff tatsächlich nach dem 81
erwähnten Ort geflogen war. Aber was der Liftboy an gedeutet hatte, entsprach so sehr der Beschäftigung Latoffs, daß man mit gewissen Wahrscheinlichkeiten rechnen konnte. Deshalb entschloß sich Sun Koh, ebenfalls nach Oregon zu fliegen. 4. Der Williams River, der vom Mount Jefferson her unterkam, raunte und gurgelte durch das breite Tal in die Ebene hinein. Unwillig teilte er sich um eine kleine Insel herum, die seinen glatten Lauf sperrte. Quer über den Flußarm schoß ein kleines Boot. Sun Koh saß darin und blickte aufmerksam auf die dichtbewaldete Insel, die vor ihm lag. Irgendwo zwischen den Bäumen schienen Gebäude zu stehen. Der Kiel seines Bootes stieß kaum an Land, als auch schon wie aus dem Boden gewachsen wenige Meter vor ihm ein Mann stand. Er hielt ein Gewehr schuß bereit unter dem Arm. Seine Miene war drohend, und seine Stimme klang barsch, als er sagte: »Was wollen Sie hier? Es ist verboten, an der Insel anzulegen.« »Ich möchte den Besitzer der Insel sprechen«, sagte Sun Koh und schickte sich an, das Boot zu verlassen. Aber sofort hob der Mann seine Waffe und erklärte mit ernstem Nachdruck: »Bleiben Sie im Boot. Ich ga rantiere Ihnen, daß Sie eine Kugel im Leib haben, so 82
bald Sie die Insel betreten.« Es war dem Mann anzusehen, daß er es ernst meinte. Er war keiner von denen, die einen rohen und brutalen Eindruck machen und mit drohenden Worten um sich werfen, sondern einer jener entschlossenen Männer, die aus bestimmten Gründen handeln und ihren Worten die Tat folgen lassen. Sun Koh blieb im Boot. »Ich lege dringenden Wert darauf, den Besitzer persönlich zu sprechen. Wenn ich nicht irre, heißt er Ludwig Burkhardt. Stimmt das?« »Mich können Sie nicht aushorchen«, erwiderte der andere kurz. »Sparen Sie sich Ihre Fragen. Im übrigen ist mein Boss nicht zu sprechen.« »Er wird für mich zu sprechen sein«, entgegnete Sun Koh bestimmt. »Wenn Sie Befehl haben, nie mand an Land zu lassen, so rufen Sie ihn hierher.« Der Mann lachte. »Da könnte er jede Stunde unterwegs sein, um mit all den Fremden zu sprechen, die hier herumlungern. Geben Sie sich zufrieden und fahren Sie wieder nach Hause. Hier kommen Sie nicht herein.« Es wäre für Sun Koh ein leichtes gewesen, den Mann unschädlich zu machen, aber er hatte allen Anlaß, nicht mit Gewalt vorzugehen. So begnügte er sich mit einem Nicken. »Gut, ich werde umkehren. Sagen Sie jedoch Ihrem Boss, daß ich ihn heute nacht aufsuchen werde.« 83
»Lassen Sie den Unfug«, knurrte der andere ärger lich. »Wenn Sie sich einbilden, daß die Insel in der Nacht nicht bewacht ist, haben Sie sich getäuscht. Sie werden rücksichtslos niedergeschossen, falls Sie sich bei Nacht hier sehen lassen.« »Dann werde ich mich eben nicht sehen lassen«, meinte Sun Koh und stieß ab. Ludwig Burkhardt saß noch zu später Stunde in seinem Arbeitszimmer über dem Mikroskop. Sein rechtes Auge blickte unverwandt durch die Linsen auf das helle Sehfeld, gleichzeitig schrieb er unaufhörlich Beobachtungen nieder. Ab und zu wischte er sich mechanisch eine der grauen Haarsträhnen, die in borstiger Welle nach vorn fielen, aus der Stirn. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre alt sein. Seine Gestalt war kräftig, nur der Rücken war leicht ge rundet, als habe er sich der dauernden Haltung über dem Mikroskop angepaßt. Das Gesicht zeigte tiefe Furchen, die den Eindruck erweckten, daß dieser Mann viel Schweres hinter sich hatte. Jetzt hob Ludwig Burkhardt den Kopf und wandte sich zum Fenster. Eben wurde dort an die Scheiben geklopft. Gleichzeitig sah Burkhardt die Umrisse einer menschlichen Gestalt. Es war keine Spur von Furcht in ihm, höchstens eine starke Verwunderung, als er sich erhob und auf 84
das Fenster zuging Unbesorgt öffnete er es, um sich zu überzeugen, ob er es mit einer Tatsache oder mit einer Sinnestäuschung zu tun habe. Er hatte den Griff kaum gedreht und den Flügel herumgezogen, als auch schon eine schlanke Gestalt, ein junger Mann mit einem bronzefarbenen Gesicht und hellem Haar ins Zimmer sprang. Es sah gerade so aus, als käme er durch die Luft geflogen. Sekundenlang standen sich die Männer schweigend gegenüber. Dann sagte Sun Koh höflich: »Entschul digen Sie, daß ich Sie zu so später Stunde und auf diesem Weg aufsuche. Ihr Mitarbeiter hat mich wohl bereits angemeldet. Sun Koh ist mein Name.« »Ludwig Burkhardt«, sagte der andere mechanisch in fassungslosem Staunen. Gleich darauf schoß die Erregung in ihm hoch. Er packte Sun Koh an den Schultern und schrie ihn förmlich an: »Mann, wie kommen Sie hierher?« Sun Koh lächelte freundlich. »Hat es Ihnen Ihr Mitarbeiter nicht bestellt, daß ich Sie aufsuchen würde? Ich versuchte, heute nachmittag auf die Insel zu kommen, aber das wurde mir verwehrt. So mußte ich zu einer List greifen.« Burkhardt ließ ihn los, sank in den nächsten Stuhl und deutete auf einen anderen. Er war auffallend bleich. »Sie sind durch die Sperren hindurchgekommen?« fragte er tonlos. »Wie haben Sie das fertiggebracht?« 85
»Es war nicht allzu schwer. Ich hatte zwar nicht vermutet, daß der Zugang zu Ihnen derart gesichert sein würde, aber ich war andererseits vorsichtig genug, um auf den Weg zu achten.« »Die Hochspannungsleitung…« »… entdeckte ich gerade noch rechtzeitig, um dar über hinwegzuspringen.« »Den Graben…« »… übersprang ich ebenfalls. Ich vermutete wohl mit Recht, daß er kein Wasser enthält. Der Graben kam mir gefährlich vor.« »Sie hätten keinen Fuß mehr, wenn Sie aus Ver sehen hineingetreten wären«, stellte der Gelehrte fest. »Sie müssen ein guter Springer sein, daß Sie darüber hinwegkamen. Und wie erreichten Sie dieses Fen ster?« »Die Wand ist nicht glatt. Man findet genügend Anhaltspunkte, um sich festzuhalten.« Burkhardt schwieg nachdenklich, um plötzlich zu fragen: »Sind Sie Artist?« Sun Koh lächelte. »Nein.« »Wer sind Sie?« »Sun Koh.« »Das sagt mir nichts.« »Vielleicht sagt Ihnen der Name Latoff etwas?« »Nein.« »Latoff ist ein Agent, der Industriegeheimnisse, 86
Erfindungen und anderes auf verschiedenste Weise an sich bringt und verkauft. Er hat sich unrechtmäßig in den Besitz wichtiger Papiere gesetzt, die ich gern in meinen Händen sehen möchte. Deshalb verfolgte ich ihn. Latoff hielt sich vor kurzem in Mexiko auf. Er reiste unerwartet ab. Einen Tag vor seiner Abreise erhielt er einen Brief, in dem von Ihnen die Rede war.« »Von mir?« fragte Burkhardt erstaunt. »Ja. Ein anderer Mann benachrichtigte von Wil liamsburg aus Latoff, daß Sie wichtige Geheimnisse zu verbergen hätten und daß es sich wohl lohnen würde, wenn Latoff sich um Sie kümmern würde. Wer dieser Mittelsmann ist, weiß ich nicht. Jedenfalls erhielt ich von dem Schreiben Kenntnis und reiste daraufhin nach Williamsburg in der Hoffnung, Latoff stellen zu können. Es ist mir leider noch nicht ge lungen, seinen Aufenthalt zu ermitteln. Ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt Erfolg haben werde, aber ich hielt es doch für richtig, bei Ihnen nachzufragen und Sie gegebenenfalls zu warnen. Latoff ist auf Sie aufmerksam gemacht worden, und Latoff geht sehr rücksichtslos vor. Ich möchte Ihnen das Schicksal anderer Erfinder ersparen und mir nebenbei eine Ge legenheit schaffen, Latoff zu stellen, falls er bei Ihnen auftaucht.« Burkhardt schüttelte den Kopf. »Ihre Darlegungen sind klar, aber ich begreife 87
trotzdem nicht, was einen Agenten dieses Schlages veranlassen könnte, sich um mich zu kümmern. Ich habe keine verwertbaren Geheimnisse.« »Darüber kann man leicht anderer Meinung werden, wenn man Ihre Sicherungsmaßnahmen kennenlernt«, meinte Sun Koh. »Sie haben sich gut geschützt. Die Annahme, daß Sie wertvolle Dinge zu schützen haben, liegt nahe.« »Sie ist auch nicht unrichtig«, sagte Burkhardt nachdenklich, »aber in anderem Sinn. Meine Sperren dienen weniger zur Sicherung dessen, was sich auf der Insel befindet, als vielmehr zur Sicherung dessen, was sich außerhalb der Insel befindet.« »Das ist mir nicht ganz klar«, entgegnete Sun Koh. »Ich will Ihnen wenigstens in Andeutungen sagen, um was es sich handelt. Sie wissen, daß sich der le bende Organismus aus Zellen aufbaut, daß jede ein zelne Zelle ein Lebenszentrum für sich ist, daß jede einzelne Zelle alle Bestandteile und alle Kräfte enthält, die das Leben ermöglichen und das Leben bedeuten?« »Das ist mir bekannt.« Der Gelehrte starrte erst eine Weile gedankenvoll vor sich hin, bevor er fortfuhr: »Die Fortpflanzung der Zellen erfolgt durch Zellteilung. Die Zelle schnürt sich in der Mitte zusammen, gibt jeder der entste henden Hälften den gleichen Teil ihres vorhandenen Bestandes an Stoffen und Kräften und teilt sich in verhältnismäßig kurzer Frist in zwei gleiche Hälften, 88
die nach einem geringen Zeitraum die Größe der Mutterzelle gewinnen. Auch sie beginnen sich dann wieder zu teilen. Ich erwähne hier gleich, daß man bei der Berechnung solcher Zellteilungen schon nach wenigen Dutzenden von Zellgeschlechtern auf Zahlen kommt, die unser Verstand kaum mehr fassen möchte. Mathematisch gesehen, müßte eine einzige Zelle mit ihren Nachkommen bereits in sehr kurzer Zeit die Erde vollkommen und lückenlos überschwemmt und erobert haben.« »Mathematisch gesehen«, sagte Sun Koh. »Aber die Wirklichkeit wirkt sich etwas anders aus.« »Gott sei Dank. Aber lassen wir das zunächst als unwesentlich beiseite. Nun eine Frage: Halten Sie es für möglich, daß man zum Beispiel eine Fliege ver anlassen könnte, sich durch bloße Teilung in zwei Fliegen zu vermehren?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ich halte die Vermehrung durch einfache Teilung für unmöglich.« »Dann sind Sie genau so weit, wie ich vor zwanzig Jahren. Auch ich sagte mir tausendmal, daß etwas Derartiges unmöglich sei, als zum erstenmal der Ge danke in mir aufschoß. Aber er ließ mir trotzdem keine Ruhe, und so machte ich mich an die Arbeit. Meine Problemstellung war ganz klar: ein vielzelliges Lebewesen, einen höher entwickelten Organismus zu züchten, der sich durch einfache Teilung fortpflanzt.« 89
Sun Koh schüttelte den Kopf. »Und zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekom men?« Burkhardt lehnte sich zurück und sagte einfach: »Es ist mir gelungen, das Problem zu lösen.« Sun Koh fuhr unwillkürlich hoch. »Sie haben…« Der Wissenschaftler nickte. »Ich habe ein Lebewesen gezüchtet, das sich durch einfache Teilung fortpflanzt.« »Unglaublich!« »Eine Tatsache.« Burkhardt lächelte. »Ein Tier, das sich nur durch Teilung vermehrt?« Der andere erhob sich. »Kommen Sie, ich will es Ihnen zeigen.« Sie schritten durch einige Gänge und Treppen in einen unter der Erde liegenden Raum, der als Labor eingerichtet war. Burkhardt gab im Vorbeigehen ei nige Erläuterungen. »Dort die kleinen Glasbehälter sind Zuchtanstalten. Hier sehen Sie Elektronen-Mikroskope. Das hier ist ein Bakterienschneider. Die schneidenden Glasfäden haben eine Stärke von einem dreitausendstel Milli meter. Und hier stehen Sie vor einem Musterexemplar meiner Neuschöpfung.« Er wies auf einen rechteckigen Glasbehälter von geringer Größe, auf dessen Boden ein Tier von fast Zolllänge herumkroch. 90
»Eine Ameise.« »Es ist eine Ameise, und zwar eine Kreuzung der hiesigen grauen Ameisen mit den großen roten Ameisen. Ein gefährliches Insekt. Es hat alle Untu genden seiner Vorfahren in sich entwickelt und ver stärkt. Es ist gefräßig wie ein Löwe und greift alles an, was nicht gerade Stahl oder Glas ist. Alles, was nur einigermaßen in Nahrung verwandelt werden kann, wird von der scharfen Säure und den prachtvoll ent wickelten Freßwerkzeugen zerstört und gefressen. Es hat mich viel Mühe gekostet, diese Exemplare zu züchten.« Sun Koh betrachtete aufmerksam das Tier, das durchaus nicht gefährlich aussah. »Und dieses Insekt pflanzt sich durch Teilung fort?« »Ja«, bestätigte der andere. Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ja – da müßte es sich aber doch jetzt ebenfalls teilen. Ich kann beim besten Willen nichts wahrneh men.« »Die Teilung findet nur statt, wenn das Tier genü gend zu fressen hat. Es lebt augenblicklich unter Be dingungen, die ihm gerade noch das Leben ermög lichen, nicht aber die Fortpflanzung. Mangel an Nah rung ist das einzige, was diese Bestien in Zucht hält. Sobald sie etwas mehr Nahrung haben, beginnen sie sich im schnellsten Tempo zu vermehren.« 91
Er nahm mit der Pinzette aus einem Kästchen einen Brocken, hob die gläserne Verschlußdecke über der Ameise ab und warf den Brocken hinunter. Das Insekt stürzte sich sofort wie wild auf die Nahrung und be gann, sie hastig zu verarbeiten. Zwei oder drei Minuten vergingen. Dann schien sich der Leib des Tieres noch stärker einzuschnüren, bis er zu einem kaum sichtbaren, dünnen Faden wurde. Gleichzeitig begannen die beiden Körperhälften größer zu werden und sich seltsam zu verzerren. Aus Vorder- und Hinterleib wuchs die Gestalt eines neuen, gewissermaßen dop pelten Insekts hervor. Zu dem vorhandenen Kopf und Rumpf bildete sich ein neuer Hinterleib und zu dem vorhandenen Hinterleib ein neuer Rumpf und Kopf. Nun waren auch schon deutlich die Einschnürungen zu erkennen, die die neue Leibmitte kennzeichnen sollten. Nach zehn Minuten riß der dünne Verbindungsfa den, der bisher die beiden Hälften des Insekts zusam mengehalten hatte. Das Wunder war geschehen. Statt einer Ameise befanden sich zwei im Glaska sten. Ein lebender Organismus hatte sich ausschließlich durch Teilung vermehrt. Schon stürzten sich die beiden neuen Insekten auf die Reste der Nahrung. Als diese verschwunden wa 92
ren, gingen sie aufeinander los und begannen einen wütenden Kampf. Es war schaurig anzusehen, wie sie sich umklammerten, miteinander rangen und sich bissen, bis das eine Tier ermattete und nun zum Fraß der Siegerin wurde. Diese verschlang die Unterlegene und begann sich dabei bereits von neuem zu teilen. Sun Koh wandte sich ab. »Grauenhaft. Ich wage es kaum, voll zu erfassen, was Sie da geleistet haben.« Das Gesicht Burkhardts war düster. »Offen gestanden, ich wage es auch nicht. So schön es ist, wenn man das Ziel erreicht sieht, wenn man die Erfüllung jahre- und jahrzehntelanger Arbeit vor sich sieht, so unheimlich wird es mir zumute, wenn ich an manches denke, was mit diesem neuen Geschöpf alles entstehen könnte. Ich habe schon manchmal überlegt, ob es nicht besser wäre, diese entsetzlichen Bestien restlos zu zerstampfen und alles zu vergessen, was man zwanzig Jahre seines Lebens getrieben hat. Meine Ergebnisse und dieses Tier sind für die Erde zu gefährlich. Für mich ist diese Schöpfung ein Über gang, aus der Besseres und Höheres entstehen soll. Wenn es das nicht wäre, hätte meine Arbeit keinen Zweck gehabt. Dieses Insekt ist zunächst nicht mehr wert als eine Spielerei, wenn auch eine sehr gefähr liche.« »Sie haben deswegen die Sperren um das Haus ge legt?« 93
»Wenigstens den Säuregraben. Es ist ein Gemisch besonderer Art, eines der wenigen Dinge, die Amei sen durchaus nicht vertragen können. Sie sterben, sobald sie das Zeug auch nur riechen. Es ist gut, daß es überhaupt solch ein Gegenmittel gibt.« »Nun«, meinte Sun Koh, »schließlich ist es ja nicht das einzige. Man kann diese Insekten doch einfach totschlagen oder sie zum Beispiel durch Feuer ver nichten.« Burkhardt hob die Schultern. »Gewiß, solange sie hier im Labor sind, ist über haupt nichts von ihnen zu befürchten. Aber stellen Sie sich einmal vor, durch irgendeinen Unglücksfall entkämen ein paar von diesen Tieren. Sie würden sich in Stunden zu einer unheimlichen Menge, zu einem vernichtenden Strom vermehren. In ein, zwei Tagen stellten sie eine Flut dar, die sich immer weiter nach allen Seiten in das Land hineinfressen würde. Was wollen Sie dann machen? Sie können hundert oder tausend oder Millionen totschlagen und verbrennen, aber die unheimliche Vermehrungsfähigkeit dieser Insekten ist dann bereits nicht mehr zu überwinden. Wenn von den Milliarden, die in einigen Tagen ent stehen, mit unendlicher Mühe alle vernichtet sind bis auf ein einziges, so wird man nach wenigen Tagen bereits wieder denselben Kampf aufnehmen müssen. Mit meinem Spezialmittel kann man den Bestien beikommen. Da bleibt unter Umständen die Mög 94
lichkeit, vom Flugzeug aus die ganze verseuchte Gegend zu überspritzen. Das würde Erfolg haben, weil die Insekten eben schon gewissermaßen vom Geruch vernichtet werden. Alle anderen Mittel wür den jedoch versagen. Diese Tiere sind zum Beispiel gegen die gebräuchlichen Gase fast vollkommen un empfindlich. Können Sie sich vorstellen, welche un geheuren Gefahren in den wenigen Musterexempla ren stecken, die ich hier aufbewahre?« »In der Tat, ein Ausbrechen dieser Insekten könnte die Vernichtung der Erde bedeuten, wenn nicht Ihr Gegenmittel wäre. Ich verstehe jetzt, warum Sie sich so abgesichert haben.« Burkhardt seufzte. »Die Bestien würden alles auffressen, was ihnen in den Weg kommt. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich um Pflanze, Tier oder Mensch handelt. Es wäre eine kindliche Vorstellung, zu glauben, daß man sich die Tiere gewissermaßen nur abzustreifen braucht. Ich habe den Versuch gemacht. Sie beißen sich derartig fest, daß man die größte Mühe hat, auch nur eins wieder herauszureißen. Ein Mensch, der drei dieser Tiere von seinem Leib ablesen wollte, würde mitt lerweile von einigen tausend andern überfallen und aufgefressen werden. Es ist durchaus keine reine Freude, Hüter dieser Ameisen zu sein. Ich glaube, ich werde mich eines Tages doch entschließen, sie alle restlos zu vernichten.« 95
»Der Ruhm Ihrer Arbeit bleibt Ihnen doch«, sagte Sun Koh. »Ich selbst kann nicht gerade behaupten, daß mir die Tiere besonders angenehm sind. Ich würde sie lieber heute als morgen vernichten.« Burkhardt machte eine abwehrende Bewegung. »So eilig ist es nun doch nicht. Ich habe mich ge nügend gesichert und alles getan, um Gefahren aus zuschließen. Die Ameisen können selbst im Fall eines Entweichens nicht über den Graben hinweg. Und im alleräußersten Fall bleibt mir immer noch das Mittel übrig, dessen Rezept ich hier in diesem Stahlschrank aufbewahrt halte.« Sie gingen wieder nach oben. Im Arbeitszimmer setzten sie sich gegenüber und unterhielten sich noch lange Zeit, hauptsächlich über die Lebensweise, über die Arbeit und die ferneren Ziele des Wissenschaft lers. Erst gegen Mitternacht trennten sie sich. Diesmal ging jedoch Sun Koh nicht heimlich über die Insel, sondern in Begleitung Burkhardts. Er lernte dabei die verschiedenen Sicherungsmaßnahmen, die einesteils den Ameisen und andernteils Neugierigen galten, kennen. Nachdem er zugesagt hatte, am übernächsten Tag zur Insel zurückzukommen, bestieg Sun Koh das Boot, das ihm Burkhardt zur Verfügung stellte, und ließ sich von einem der Wächter hinüberrudern. * 96
Sun Koh fuhr mit Hal und Nimba nach Portland, um dort nach Latoff zu suchen. Er kam ohne Erfolg erst spät abends nach Williamsburg zurück. Als er am nächsten Morgen das Hotel verlassen wollte, fiel ihm eine Zeitungsschlagzeile ins Auge: Ungeheure Ameisenheere von Akron aus im Anmarsch! Durch Sun Kohs Körper hieb es wie ein kalter Blitz. Er fuhr so heftig zusammen und wurde plötzlich so bleich, daß Hal erschrocken ausrief: »Sir, was ist passiert?« Sun Koh winkte stumm ab, riß die Zeitung vom Tresen des Portiers weg und überflog sie mit schnel len Blicken. Dann sagte er: »Schnell, geben Sie mir sämtliche Zeitungen von gestern. Ich brauche alles, was über Akron berichtet wird.« Der Portier griff nach einigen Zeitungen, die im Hintergrund auf einem Tischchen lagen. »Hier, bitte. Was halten Sie von der Sache in Akron, Sir?« Sun Koh gab ihm keine Antwort, sondern zog sich mit den Zeitungen in einen Sessel zurück. Die erste Nachricht über Akron war ganz kurz und durchaus nicht als Sensation aufgemacht. 97
Feuerkampf mit Einbrechern. Auf der oberhalb der Mündung des Williams River gelegenen Insel Akron hat sich in der vergangenen Nacht ein blutiger Kampf abge spielt, dem mehrere Personen zum Opfer gefal len sind. Einbrecher, die auf der Insel vermut lich Wertsachen zu finden hofften, setzten über den Fluß, schossen einen Wächter nieder und drangen dann gegen das einzige Gebäude auf der Insel vor. Die übrigen Bewohner der Insel suchten die Einbrecher in Schach zu halten, diese machten jedoch rücksichtslos von ihren Waffen Gebrauch, so daß mehrere Personen zum Teil schwer verwundet wurden. Die zweite Zeitungsnotiz aus der Mittagszeitung hatte einen größeren Umfang. Mysteriöse Ereignisse auf der Insel Akron Die eigenartigen Ereignisse auf der Insel Akron scheinen von größerer Tragweite zu sein, als ursprünglich angenommen wurde. Von den Bewohnern der Insel ist nur einer der Wächter am Leben geblieben. Der Besitzer und alle anderen wurden von den Einbrechern getötet oder so schwer verwundet, daß sie sich nicht mehr retten konnten. Der nur leicht verwun dete Wächter ist durch den Fluß geschwommen. 98
Die Ereignisse haben sich offenbar so abge spielt, daß die Einbrecher mit Booten zur Insel kamen und ohne vorherige Warnung sofort alles niederschossen, was sich ihnen in den Weg stellte. Einer von den Gangstern wurde in der Gegenwehr erschossen, ein weiterer er trank in einem Kanal, der sich durch die Insel zieht. Der überlebende Wächter meint, daß höchstens zwei der Gangster in das Haus ge langt seien. Es handelt sich vermutlich um ei nen Raubüberfall großen Stils, wie er seit langem nicht mehr registriert wurde. Die dritte Nachricht erschien in der Abendausgabe. Grauenhafte Entdeckungen auf der Insel
Akron
Unheimliche Ameisen, Mordkommission muß fluchtartig die Insel verlassen Das Rätsel um die Ereignisse auf Akron wird immer größer und zugleich grausiger. Heute in den Mittagsstunden traf die Untersuchungs kommission auf der Insel Akron ein, um den Tatbestand der letzten Ereignisse festzustellen. Sie kam jedoch nicht weiter als bis auf zwanzig Meter an das Haus heran, dann stand sie vor ei nem graurot wimmelnden, meterhohen Amei senheer, das sich mit beträchtlicher Geschwin digkeit zu den Ufern vorschob. Die gesamte 99
Mitte der Insel, die dicht mit Wald bewachsen war, zeigte sich als eine einzige kahle Lichtung, die von Milliarden von Ameisen bedeckt war. Nur die Reste des einstigen Wohnhauses standen noch. Der Dachstuhl und die Mauern waren eingefallen, da die Ameisen vermutlich sämtli ches Holzwerk, Balken und Dachgestühl zer fressen hatten. Die Steinruinen selbst waren in dicker Schicht von den Ameisen bedeckt. Die Mitglieder der Kommission mußten vor den wandernden Ameisen fluchtartig zurückweichen. Sie wurden von ihnen gebissen. Der Schmerz soll so stark gewesen sein, daß die Betroffenen auf schrien. Einer der Beamten war in kurzer Zeit so völlig von den Ameisen bedeckt, daß er voller Panik in den wimmelnden Haufen hineinrannte, in dem er sofort spurlos verschwand. Die ande ren rannten daraufhin zum Ufer und warfen sich in die Boote, doch wurde ein zweiter Beamter ein Opfer der wie Termiten wütenden Ameisenheere. Phantastisch klingt ein Bericht von Doc Hunter, einem Mitglied der Untersuchungskommission. Er berichtet, daß sich die Ameisen unter seinen Augen verdoppelt hätten. So will er beobachtet haben, daß sich eine der Ameisen innerhalb von Minuten in zwei Ameisen verwandelte, ungefähr so, wie sich eine Zelle durch Abschnürung in zwei Zellen verwandelt 100
Allein dieser Umstand würde die geradezu un heimliche Vermehrung der Ameisen auf der Insel Akron erklären. Die von der Insel zurückkehrenden Boote und Menschen haben solche Ameisen mit an Land geschleppt. Nach Augenzeugenberichten haben sich am Ufer dichte Haufen von Ameisen gebil det, die sich in den Wald hineinfressen und ständig zunehmen. Inzwischen bekundete der von der Insel ge flüchtete Wächter unter Eid, daß sich Dr. Burkhardt, der Besitzer der Insel, mit der Fort pflanzung von Tieren durch einfache Teilung beschäftigt habe, und daß es ihm gelungen sei, eine Ameise heranzuzüchten, die sich aus schließlich durch die Teilung vermehre. Er ist der Meinung, daß die Einbrecher vermutlich doch in das Labor gelangt seien und dort ver sehentlich die Gläser umgeworfen hätten, in denen sich die Versuchstiere befanden. Er sagte ferner aus, daß das Haus auf der Insel von einem Graben umgeben sei, über den die Insekten un möglich hinwegkönnten. Auf die Vorhalte, daß sie doch darüber hinweggekommen seien, er klärte er, daß wahrscheinlich einer der fliehen den Einbrecher bereits eine oder mehrere Amei sen mit sich über den Graben hinweggeschleppt habe und daß es sich genau genommen nur um 101
zwei Ameisenheere handle: das eine innerhalb des Grabens, das andere außerhalb. Er hält es aber auch nicht für ausgeschlossen, daß die sich rasend vermehrenden Ameisen durch den Druck ihrer eigenen Masse in den Säuregraben hin eingeschoben seien und ihn so ausgefüllt hätten, daß die anderen nun über den Graben hinweg könnten. Sun Koh hielt noch einmal den Artikel in der Hand, der ihm ins Auge gefallen war. Die schlimmsten Befürchtungen sind eingetrof fen: Die Ameisen scheinen tatsächlich die Fä higkeit zu besitzen, sich in Minuten einfach durch Teilung zu vermehren, denn ihre Heere wachsen in geradezu beängstigendem Maße an und breiten sich nach allen Seiten über die Landschaft aus. Im Umkreis von sechs Kilome tern um die Insel Akron herum ist alles eine einzige meterhohe Schicht dieser gefräßigen Raubtiere, die unaufhaltsam mit erheblicher Geschwindigkeit vorrücken. Eine Reihe von Dörfern mußte bereits evakuiert werden. Zur Zeit sind Militärflugzeuge eingesetzt, die mit den modernen Kampfmitteln gegen die Heere dieser winzigen Bestien angehen. Es ist zu hoffen, daß es ihnen gelingen wird, dieser furchtbaren Plage Herr zu werden. 102
Sun Koh ließ das Blatt sinken. Er wußte, daß diese Hoffnung vergeblich war. »Sir, was ist denn?« fragte Hal Mervin. »Ich habe Sie noch nie so gesehen.« Sun Kohs Gesicht war starr, wie aus Bronze ge gossen. Zugleich sah es unendlich müde aus. »Die Erde steht vor dem Untergang, wenn nicht ein Wunder geschieht. Dr. Burkhardt ist tot, und seine Ameisen schieben sich in Millionen Heeren in das Land. In Wochen oder Monaten wird alles, was auf der Erde lebt, vernichtet sein.« »Verflucht!« murmelte Hal und schwieg dann be stürzt. Sun Koh dachte minutenlang nach. Es gab nur eine Rettung: Das Präparat Burkhardts. Es lag im Labor, tief unten im Kellergeschoß. Das Haus war eingestürzt. Bestand überhaupt die Mög lichkeit, heranzukommen? Das Rezept befand sich in einem Stahlschrank. Den konnten die Ameisen nicht zerstören. Wie aber, wenn es den Einbrechern gelungen war, den Safe aufzubre chen? Doch selbst wenn es einen Zugang zum Labor gab, selbst wenn der Stahlschrank noch verschlossen war, selbst dann war es unmöglich, an das Rezept heran zukommen. Auf Akron wimmelte es von Ameisen. Und selbst Sun Koh würde rettungslos dem Tod 103
geweiht sein, wenn sich einige der furchtbaren Tiere an ihm festbissen. Doch auch wenn alles gelang, dann hatte er erst ein Stück Papier in der Hand. Wer weiß, wie lange es dau ern würde, um das Präparat herzustellen. Man brauchte große Mengen. Viel Zeit konnte vergehen, viel Zeit, in der sich die Ameisen mit zunehmender Geschwindigkeit in das Land hineinfraßen. Lange, unendlich lange überlegte Sun Koh. Dann straffte sich sein Körper, er sprang auf. »Vorwärts, wir müssen versuchen, den Spuk zu bannen. Wir fahren zum Flugplatz.« 5. Sun Kohs Maschine stand in hundert Meter Höhe über der Insel Akron. Es war bereits später Mittag. Sie hatten sich in Portland Gasmasken beschaffen müssen. Die Navy hatte Unmengen von Gas über die Gegend gelegt, so daß der Aufenthalt ohne Atemschutz Selbstmord gewesen wäre. Der Anblick war grauenerregend. Die blühende Landschaft trug eine scheußliche graue Tonsur von rund fünfzehn Kilometer Durch messer, eine schwärzliche Scheibe, die vom Fluß durchschnitten wurde. Sie war völlig kahl, obgleich vor zwei Tagen noch dichter Wald dort gestanden hatte. Die Dörfer – traurige Ruinen. 104
Am Rand des fressenden Kreises befanden sich Feuerzonen. Man hatte ganze Waldviertel in Brand gesetzt, um den Ameisen Einhalt zu gebieten, aber der Anblick von oben zeigte eindeutig, daß dieses Un terfangen zwecklos war. Weiter entfernt standen an den verschiedensten Stellen Geschützbatterien, die im flachen Bogen ununterbrochen Gasgranaten in den Kreis schossen. Flugzeuge warfen in pausenlosem Einsatz Gasbomben ab. Eine Wirkung war nicht zu beobachten. Der graue, scheußliche Kreis dieser Abermillionen von Ameisen fraß sich unaufhörlich weiter. Die Bestien schienen tatsächlich, wie es Burkhardt gesagt hatte, gegen alle Mittel unempfindlich zu sein. Sun Koh sah keinen Grund, seinen Entschluß zu ändern. Er mußte versuchen, das Rezept in die Hand zu bekommen. Die ganze Erde stand auf dem Spiel. In einer Hinsicht schien ihn das Glück zu begün stigen: Die Insel Akron war frei von Ameisen. Im Laufe der Nacht mochte sich hier ein furchtba rer Kampf abgespielt haben. Die Ameisen hatten sich vermehrt, solange sie genug zu fressen fanden. Diese kleine Insel bot jedoch nicht übermäßig viel. So war bald der Zeitpunkt gekommen, an dem den Milliarden Ameisen nichts anderes übriggeblieben war, als sich gegenseitig aufzufressen oder zu versuchen, über das Wasser hinwegzukommen. Sie hatten wohl beides 105
getan, jedenfalls lag die Insel mit den Ruinen des Hauses unten als bleicher weißer Fleck, als ob sie aus Knochen bestände. Die helle Farbe mochte davon herrühren, daß die Säuren der Tiere den Boden völlig verätzt hatten. Dieser Gesamteindruck schloß natürlich nicht aus, daß sich da unten noch einige hundert oder tausend Tiere befanden. Das konnte man nicht sehen. Sun Koh mußte damit rechnen, daß er trotz der anscheinenden Verlassenheit noch gefährlich angegriffen werden konnte. Die Maschine ging tiefer. Zehn Meter über den Ruinen kam sie zum Stillstand. Sun Koh gab genaueste Anweisungen, Nimba und Hal hörten gewissenhaft zu, aber man sah ihnen an, daß sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlten. Dieses Abenteuer wich so sehr von allem ab, was ihnen ver traut war. Sie hielten es für eine höchst ungemütliche Vorstellung, Sun Koh dort unten von Ameisen aufge fressen zu sehen. Endlich war alles klar. Eine dünne Stahltrosse fiel in die Tiefe. Sun Koh ließ die Kabinentür zurückrol len, schwang sich hinaus und glitt an der Trosse hinunter. Wenig später faßte er auf dem stehengebliebenen Mauerkranz Fuß. Glücklicherweise ließ er nicht gleich los, denn die Mauern stürzten fast unverzüglich nach. Er mußte tiefer gehen, bis er sicheren Halt fand. 106
Einen Augenblick schaute er sich um. Das Haus war tatsächlich nur noch ein einziger Schutthaufen. Die Balken der Zwischengeschosse waren von den Ameisen zerfressen worden, die Decken hatten in folgedessen nachgegeben und bildeten einen wüsten Haufen. Irgendwo unter ihnen lag das Labor. Es schien völlig ausgeschlossen, von oben her hinein zukommen. Das Labor selbst mochte erhalten geblieben sein. Soviel sich Sun Koh erinnern konnte, hatte es aus Beton bestanden. Er konnte versuchen, es aufzu sprengen oder einen Fensterzugang zu finden. Sun Koh zog sich an der Stahltrosse ein Stück hinauf und ging dann an der Außenwand des Hauses wieder in die Tiefe, bis er unten auf dem Erdboden stand. Der Boden war wie Asche, leicht und staubig. Ameisen ließen sich nicht sehen. Sun Koh atmete auf, als er entdeckte, daß die Kel lerfenster noch in Ordnung waren. Glasscheiben gab es allerdings nicht mehr darin. Wahrscheinlich hatten die wimmelnden, pressenden Ameisenhaufen sie einfach hinausgedrückt. Aber die Überwölbung der Stütze stand noch, und es sah überhaupt ganz so aus, als ob das Kellergewölbe seinen ursprünglichen Zu stand erhalten hätte. Durch einen reinen Zufall blickte Sun Koh in die sem Augenblick auf seine Füße. 107
Im nächsten Moment hatte er sich auch schon ein Stück am Seil hochgezogen. Seine Schuhe befanden sich in völliger Auflösung. Die Sohlen waren fast ganz zerfressen, das Randleder zeigte schon große Risse und löste sich schwammig auf. Der Boden war derartig voll Säure, daß das Leder zeug davon so stark angegriffen wurde. Obgleich Sun Koh noch nichts von der Säure spürte, zog er sofort die Schuhe aus. Er hielt sich dabei mit einer Hand an der Trosse fest und streifte sich mit der anderen das Leder von den Füßen. Es war tatsächlich höchste Zeit gewesen. Er mußte sogar die Strümpfe noch mit ausziehen. In etwas komischer Verfassung, sonst aber heil, zog er sich zum Flugzeug hinauf. »Nach Portland«, befahl er, während er das Seil hochzog. »Ich brauche anderes Schuhwerk.« * Abermals stand das Flugzeug über den Ruinen auf der Insel. Das Bild in der Tiefe hatte an Schrecklichkeit eher zugenommen als eingebüßt. Es war Nacht. Die Feuer in der Ferne bezeichneten den Rand des fres senden Kreises. Das waren nicht mehr fünfzehn, sondern mindestens fünfundzwanzig Kilometer im Durchmesser. All die Gase, all die Feuer, mit denen man gegen die gefräßigen Ameisen vorgegangen war, 108
mußten versagt haben. Sun Koh ließ sich zum zweitenmal in die Tiefe. Diesmal trug er den Schutzanzug, der ihn vor den fressenden Säuren bewahren sollte. Wieder stand er vor dem Fenster, das in die Kel lerräume führte. Er blieb eine Weile ruhig draußen stehen, dann hob er den Fuß und überzeugte sich im weißen Licht der Scheinwerferlampe, daß die Be kleidung tatsächlich unversehrt war. Nun glitt er durch das Fenster in den Keller hinein. Die Stahltrosse blieb draußen, aber ein feines, dünnes Stahlseil, das er an seinen Gürtel gebunden hatte, folgte ihm. Es war keine Sicherung für seine Person, sondern eine Vorsichtsmaßnahme um der Sache willen. Sun Koh rechnete mit der Möglichkeit, daß es ihm zwar gelingen könnte, das Rezept zu finden, daß ihm aber der Weg zur Rückkehr durch einen Ameisenüberfall oder durch einen anderen Umstand verwehrt werden könnte. Für diesen Fall sollte wenigstens das für die Menschheit so wichtige Rezept gerettet werden. Hal hatte den strickten Befehl, auf ein bestimmtes Zeichen hin das Seil anzuziehen und damit das Rezept hin aufzuholen. Der gleiche Auftrag galt auch für den Fall, daß Sun Koh nicht zurückkehren sollte. Am Ende des dünnen Seils befand sich eine Stahlkapsel, in die Sun Koh auf alle Fälle wenigstens das Rezept einschließen wollte, um es vor den Ameisen zu schützen. 109
Die Luft in dem Keller war dumpf wie der Tod und zugleich scharf wie die ätzende Säure selbst. Sun Koh spürte das allerdings nicht, denn er hatte sich einen Sauerstoffapparat mitgenommen, mit dessen Hilfe er atmete. Es gab kein Holz, keine Lebensmittel oder ir gendwelche verdaulichen Stoffe mehr in dem Keller. Die Ameisen waren hier gewesen. Sie hatten die Holztüren zwischen den einzelnen Kellern zerfressen, so daß nur noch die eisernen Bänder in den Angeln hingen. Und auch diese waren grauweiß überzogen. Und doch stand Sun Koh plötzlich vor einer Tür. Sie bestand aus Stahl. Der Schlüssel steckte, aber es war nicht nötig, ihn zu drehen. Die Tür war nur eingeklinkt. Sun Koh öffnete sie. Vor ihm lag das Labor oder wenigstens das, was von ihm übriggeblieben war. Immerhin war das eine ganze Menge, doch leider meist in Scherben, da die Glasbehälter und die Instrumente auf hölzernen Ti schen und Regalen gestanden hatten. Nicht weit von der Tür lagen weißliche Knochen – das zerfallene, auseinandergeschobene Skelett eines Mannes. Dort, wo der rechte Arm gelegen haben konnte, sah Sun Koh eine Pistole. Waren das die Überreste von Ludwig Burkhardt? Sun Koh wußte es nicht, aber seine Seele war merk würdig düster, als er auf die weißen Knochen, die im 110
Licht der Lampe geisterhaft aufschimmerten, nieder blickte. Vielleicht war es der Wissenschaftler, der hier bis zuletzt gegen die Eindringlinge gekämpft hatte. Er konnte aber ebensogut draußen gestorben sein. Dann handelte es sich bei diesem Menschen um einen der Verbrecher, der vielleicht als erster den Ameisen zum Opfer gefallen war. Einen Augenblick hatte sich Sun Koh ablenken lassen, dann dachte er wieder an seine wichtige Auf gabe. Das Rezept! Sein Blick ging suchend durch den Raum. Er hatte ihn mit Burkhardt zusammen von einer anderen Seite betreten und mußte sich erst ins Bild setzen. Der Stahlschrank mußte in jener Ecke dort stehen. Da sah ihn Sun Koh auch schon. Sein Herz wollte aussetzen. Der Stahlschrank war geöffnet. Ein tiefes Stöhnen ging durch den wüsten Raum. Geöffnet? Dann war das Rezept zerfressen. Das bedeutete das Ende der Welt. Müde schritt Sun Koh zwischen den Glas- und Apparatetrümmern hindurch auf den Safe zu. Es ge schah fast mechanisch. Der Verbrecher hatte den Schrank aufgesprengt. Die Tür war durch den Sprengstoff halb aus ihren Angeln gerissen worden, das Mauerwerk rechts und links zeigte starke Schäden. 111
Der Safe selbst war leer. Grauweiß deckte ihn die dünne Schicht, die die Ameisen zurückgelassen hatten. Sun Koh wandte sich mit einem hoffnungslosen Schulterzucken ab. Alles verloren! Beim zweiten Schritt, den er im Rückweg machte, stockte er. Irgendeine Beobachtung drängte jetzt erst in sein Bewußtsein. Er hatte doch Schrift gesehen? Waren nicht Schriftzeichen in dem Schrank gewe sen? Sun Koh grübelte einen Moment, dann kehrte er entschlossen um. Wieder fiel der helle Schein seiner Lampe in das Innere des kleinen Schrankes. Tatsächlich, auf dem Boden hob sich ein rechtek kiges Feld um wenige Millimeter ab, und auf diesem Feld waren halbverdeckte Buchstaben zu erkennen. Sun Koh lachte bitter auf. Da hatte er sich schön narren lassen. Ha – das war das Firmenschild des Fabrikanten. Aber warum hatte der sein Firmenschild so schräg auf den Boden aufgeschraubt? Mit einem schnellen Griff fuhr Sun Koh in den Schrank hinein und faßte nach der dünnen Platte. Sie war lose. Das war kein Firmenschild. Das war das Rezept! Burkhardt hatte es in eine Stahlplatte geritzt. Er 112
wußte, daß die Ameisen alles zerfressen würden, er wußte, was von diesem Rezept unter Umständen ab hängen konnte, daher hatte er es unvergänglich fest gelegt. Klar und deutlich hoben sich auf der dunklen Un terseite der dünnen Platte die Formeln ab, die die Erde von dem fressenden Kreis erlösen sollten. Wie einen kostbaren Schatz hielt Sun Koh das Rezept eine Weile in der Hand. Dann löste er das Stahlseil vom Gürtel und schlang es um die Platte herum, nachdem er vorher die nun unnütze Kapsel abgehängt hatte. Es war eine im Grunde genommen unnötige Vor sichtsmaßnahme, denn er trat selbst sofort den Rück weg an. Doch da… Mit dem Fenster zusammen, durch das er wieder hinaus mußte, bemerkte er zugleich ein dünnes, schwärzliches Rinnsal, das durch das Fenster hin durch auf ihn zulief. Die Ameisen! Irgendwo mußte sich noch ein Rest von ihnen auf der Insel befunden haben. Mit unheimlich scharfer Witterung hatten sie die Anwesenheit von Freßbarem wahrgenommen und steuerten nun gierig darauf zu. Wie scharf die Witterung und wie groß die Freßlust der Bestien war, sollte Sun Koh eine Weile später be merken. 113
Er richtete den Lichtkegel auf die Spitze des Zuges, die nur noch einen Meter von ihm entfernt war. Ein entsetzlicher Anblick, zumal er wußte, wie die Art genossen dieser Insekten draußen das Land vernich teten. Und Sun Koh mußte mitten durch sie hindurch. Es gab keinen anderen Ausgang, und je länger er wartete, desto größer wurde die Zahl der Angreifer. Ein Glück, daß er wenigstens den Schutzanzug trug. Er würde ihn vorläufig vor den mörderischen Bissen bewahren. Aber Sun Koh wußte, daß die Schwierigkeit nicht darin lag, durch das Fenster ins Freie zu kommen, sondern darin, die Maschine zu erreichen, ohne sie mit Ameisen zu versuchen. Daß die Tiere sich in den Anzug festbissen, war schließlich nicht schlimm, um so schlimmer aber, daß er dann möglicherweise einen Teile von ihnen mit hinauf nahm und dadurch die Pest, die er vernichten wollte, weiter ins Land trug. Sun Koh lief seitlich an dem Ameisenrinnsal vorbei zum Fenster, griff rücksichtslos in die wimmelnde Schicht hinein und zog sich hinaus. Als er sich aufrichtete, nahm er bereits die Ameisen zu Dutzenden mit hoch. Andere begannen schon flink an den Füßen aufwärts zu klettern. Jubelgeschrei begrüßte ihn von oben. Wie ein riesiger Nachtvogel hing die Maschine in der Luft. Die Kabinenöffnung und ein Stück der nie 114
derhängenden Stahlseile waren grell beleuchtet. »Das dünne Seil hochziehen!« rief Sun Koh hinauf. »Das geht nicht so schnell!« schrie Hal. »Die Ameisen kommen an den Seilen hochgeklettert. Die Biester sind wild nach uns wie der Teufel auf eine Seele.« Vor wenigen Minuten hatte er die erste Ameise an der Trosse bemerkt. Ihr folgten, wie eine aufgereihte Kette, Dutzende von anderen, die selbst den anstren genden Marsch in die Höhe nicht scheuten, um zu der gewitterten Beute zu gelangen. Vorwitzigerweise war Hal der ersten Ameise mit dem Zeigefinger zu Leibe gegangen. Er glaubte, sie herunterwischen oder zerdrücken zu können, aber schon hatte sie sich im Fleisch festgebissen. Hal hatte aufgeschrien über den plötzlichen, scharfen Schmerz und hatte die Ameise samt seiner Hand ins Flugzeug hochgerissen und sie Nimba unter die Nase gehalten. Darauf geschah etwas, dessen Nachwirkungen Hal jetzt noch nicht überwunden hatte. Erstens waren Nimbas schwarze Finger vorgefah ren und hatten die Ameisen zu Staub zerdrückt und zerrieben, und unmittelbar darauf hatte Hal eine Ohrfeige bekommen, die ihn über den Haufen warf. Nie war Nimba so ernst gewesen wie in diesem Au genblick, als er in maßloser Wut knurrte: »Sun Koh hat den Befehl gegeben, keine Ameise herauf zulas sen, und wenn wir dabei kaputt gehen sollten, und du 115
erbärmlicher Waschlappen bringst sie selbst hoch, weil’s dich am Finger juckt. Noch einmal, und ich schmeiße dich bei Gott hinunter, verstanden. Und nun los, die Bestien kommen hoch.« Da bewies Hal wieder einmal, daß er Fehler ein gestehen konnte. Er richtete sich totenbleich und mit flackerndem Blick auf, holte tief Atem und sagte überraschenderweise: »Danke.« Dann machten sie sich unverzüglich an die Arbeit. Sie hängten sich aus der Kabine heraus und schabten mit den Messern die mittlerweile schon fast ganz hochgekommenen Ameisen herunter, dann schüttelten sie die Seile. Ein Teil der Tiere konnte sich nicht halten, andere hatten sich aber derart festge klammert, daß sie selbst bei den energischen Rucken nicht abfielen. Sie mußten mit den Messern förmlich abgeschnitten werden. Nimba hatte den Vorzug, daß er sein Seil allmäh lich in die Höhe ziehen und reinigen konnte. Hal da gegen blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis die dünne Kette wieder in den Bereich seines Messers vorstieß. Und nun kam Sun Koh. Jetzt begann auch Hal hochzuziehen. Immerhin dauerte es eine Weile, bis er das Ende des Seiles vor seinen Augen baumeln sah. Die Ameisen hatten sich in den Verschlingungen des Knotens so festgenistet, daß der Junge mit größter Sorgfalt vorgehen mußte, 116
um nicht eine der Bestien zu übersehen. Es war eine schwere Arbeit. Das Blut staute sich in Kopf und Armen und machte sie allmählich schwer wie Blei. Endlich konnte er mit gutem Gewissen zu der Platte greifen und sie nach abermaliger Prüfung in die Ka bine werfen, während Nimba mittlerweile auf alle Fälle das freie Ende des Seiles noch einmal abging. Erst als er sich davon überzeugt hatte, daß alles ameisenfrei war, zog er es ein. Sun Koh war mittlerweile unten nicht müßig ge wesen. Die Ameisen konnten sich infolge Mangels an Nahrung nicht weiter vermehren, es sei denn durch gegenseitige Vernichtung, die denn auch ununter brochen stattfand, aber die Gesamtzahl der Tiere nicht wesentlich vermehrte. Es handelte sich also nur um die begrenzte Horde, die Sun Koh als Rinnsal auf sich hatte zukommen sehen. Da die Ameisen naturgemäß in ihren Bewegungen bedeutend langsamer waren als er, konnte er ihnen bequem ausweichen, indem er einfach einige Meter zur Seite sprang und seinen Standplatz veränderte, sobald sie ihn aufgespürt und nahezu erreicht hatten. Es blieb ihm genügend Zeit, um sich um die Ameisen zu kümmern, die sich in seine Schutzklei dung festgebissen hatten. Soweit er sie erreichen konnte, nahm er eine nach der anderen zwischen seine 117
umhüllten, stählernen Finger und zerrieb sie zu Brei. Und als er keine mehr sah, wandte er einen Trick an. Er entblößte seine Hand und gab damit den Tieren eine stärkere Witterung. Tatsächlich dauerte es auch gar nicht lange, da kamen einige vom Rücken her über den Arm gekrochen. Sie starben wie alle anderen. Endlich war er der Überzeugung, von Ameisen frei zu sein. Er hob den Kopf. »Fertig dort oben?« »Sofort, Sir«, scholl es zurück, »eben holen wir die Platte ein.« »Dann kommt zu mir herüber.« Kurz darauf schwebte das Flugzeug um eine kleine Strecke weiter, bis es wieder genau über Sun Koh stand. »Die Trosse herunter, aber langsam, sie darf nicht bis zum Boden«, rief Sun Koh. »In das dünne Seil bindet eine feste Schlinge. Hal, du trittst in die Schlinge, bindest dich extra fest und kommst fünf Meter weiter herunter. Bring deine mexikanische Klinge mit. Alles klar?« »Ja, Sir.« »Dann los.« Die Stahltrosse fiel, bis Sun Koh sie mit den Hän den greifen konnte. »Fest?« »Fest«, scholl es zurück. Sun Koh kletterte nach oben. Mittlerweile ließ Nimba den Jungen ein Stück herunter. Als sich Sun Koh und Hal in der Luft gegenüberstanden, wies ihn 118
Sun Koh an: »Du wirst mich zunächst ringsum ab suchen, ob noch irgendwo Ameisen sitzen. Fang oben beim Kopf an.« Hal nahm die Sache sehr genau. Es war ein phan tastisches Bild, die beiden dort unter dem Flugzeug hängen zu sehen. Wie ein Spuk schwebten sie in der Luft, Hal etwas im Schatten, mit spähenden Augen, Sun Koh im grellen Licht, sich langsam drehend. »Bis zum Gürtel nichts zu sehen«, meldete Hal im Ton eines Generalstabsoffiziers, der über den Verlauf einer Schlacht Auskunft gibt. »Schön«, sagte Sun Koh befriedigt, »paß gut auf.« Er löste mit einigen schnellen Griffen die Schutz haube, die am Hals dicht anschloß, und warf sie zu rück. »Das Messer.« Dann biß er sich mit den Zähnen in dem Seil fest und machte seine linke Hand frei. Hal hielt ihm das schmale Heft entgegen, so daß Sun Koh die kaum als bläulichen Schatten sichtbare Klinge nur herauszuziehen brauchte. Es war eines jener Messer, deren Geheimnisse Sun Koh einst in Mexiko kennengelernt hatte, eines jener Messer, das selbst Stahl so gut schnitt wie andere Messer Butter. Der Schutzanzug saß dicht und eng am Leib. Es war unmöglich, ihn jetzt herunterzuziehen. Die Ver hältnisse erforderten es, daß er heruntergeschnitten wurde. 119
Es war ein gar nicht so ungefährliches Stück, zu dem ruhige Nerven und feines Gefühl gehörten. Schließlich stand Sun Koh ja nicht auf fester Erde, sondern pen delte in der Luft, nur durch die Kraft seiner Hände ge halten. Aber Sun Koh verzichtete selbst auf sie. Wie der schlug er seine Zähne um die Stahltrosse, so daß nun sein Körpergewicht an den Kiefern hing. Dann begann er sicher und schnell zu schneiden. Nach wenigen Schnitten löste sich die Hülle vom Oberkörper und fiel in breiten Stücken herunter. Dann kamen die Beine dran. Jetzt fiel das letzte Stück vom Fuß herunter in die Tiefe. »Etwas bemerkt, Hal?« »Nein, Sir, keine Ameisen gesehen.« »Hinauf.« Sun Koh hangelte sich hoch, während Hal sich be quem von Nimba hochziehen ließ. Aufatmend standen die drei sich in der Kabine des Flugzeugs gegenüber. »Das Schwerste ist geschafft«, stellte Sun Koh fest. »Hoffentlich gelingt es nun auch, das Gegenmittel schnell herzustellen und zu verbreiten. Und hoffent lich – hilft es auch.« * General Brade, der Befehlshaber der in der Nähe von
Portland zusammengezogenen Luftstreitkräfte, war
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als grober Polterer bekannt. Sechzehn Stunden hatte er getobt, gewütet und geschimpft, aber nun saß er bleich, still und gedrückt über seiner Karte, auf der rote Fähnchen die immer größer werdende Ausdeh nung des fressenden Kreises markierten. Ein Ordonnanzoffizier trat ein. »Sir, ein Mann mit Namen Sun Koh ist draußen und bittet um eine Unterredung. Es sei dringend, sagt er. Er bringt Hilfe gegen die Ameisen.« »Soll sich zum Teufel scheren«, knurrte Brade mit einem Rückfall in seine gewohnte Tonart. »Das fehlte mir gerade noch, daß sich jetzt Besserwisser in die Sa che mischen und mir gute Ratschläge geben wollen. Ab damit!« Der Offizier verschwand. Nach einer Minute war er wieder da. »Der Fremde läßt sich nicht abweisen.« Der General drehte sich halb um. »Ich habe doch gesagt, daß ich den Mann nicht sprechen will.« Der junge Offizier verschwand wieder. Kurz darauf wurde die Tür heftig aufgerissen – Sun Koh stand auf der Schwelle. Brade, wohl in der Meinung, sein Ordonnanzoffizier komme zum drittenmal mit demselben Anliegen zu ihm, brüllte: »Himmeldonnerwetter, habe ich Ihnen…« Er verstummte, denn schon trat Sun Koh mit drei schnellen Schritten auf ihn zu und sagte scharf: »Sir, 121
Sie wagen es, einen Mann abzuweisen, der Hilfe ge gen die Ameisen verspricht? Sind Sie verrückt oder wissen Sie nicht, was auf dem Spiel steht? Sie haben nicht das Recht, irgendein Mittel, und wenn es auch nur die allerschwächste Hoffnung bietet, unversucht zu lassen.« Der General wurde rot und blaß. »Mann«, keuchte er, »Mister, wie können Sie…« Sun Koh schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Wir haben keine Zeit, uns über die An sprüche Ihrer Eitelkeit oder Ihres gewohnten Dienst weges zu unterhalten. Amerika und nach Amerika die ganze Welt ist in Gefahr, von den Ameisen aufge fressen zu werden. Ich bringe Hilfe.« Ein höhnisches Lächeln zuckte um den Mund des Generals. »Hilfe? Wo alle anderen Mittel, wo die nieder trächtigsten Giftgase versagt haben? Wollen Sie mir etwa eine Sympathiekur oder ähnlichen Humbug empfehlen?« »Nein«, erwiderte Sun Koh kalt. »Der Mann, dem die Bestien ihr Leben verdanken, hat ein Rezept hin terlassen, die Anweisung für ein Mittel, durch das die Ameisen getötet werden können. Sie sind gegen die ses Mittel so empfindlich, daß schon die allerfeinste Verdünnung im Geruch sie unschädlich macht. Ich habe dieses Rezept geholt und stelle es Ihnen zur Verfügung.« 122
Der General wischte sich über die Augen. »Ist das Tatsache?« erkundigte er sich ungläubig. »Hier ist das Rezept.« »Das Zeug hilft?« »Dr. Burkhardt, der Züchter dieser furchtbaren Ameisen, bürgt dafür.« Da sprang Brade auf. Er streckte Sun Koh beide Hände hin. »Sir, wer Sie auch sein mögen, Sie bringen mir die Rettung Amerikas. Was ist zu tun?« Die Frage aus dem Mund eines führenden Generals war seltsam, aber sie war erklärlich bei der starken Wirkung von Sun Kohs Persönlichkeit. Sun Koh antwortete knapp und sachlich: »Ich habe das Rezept bereits einem Apotheker in Portland vor gelegt. Der Stoff ist nicht schwer herzustellen, aber je weils nur in kleinen Mengen. Einesteils sind die vor handenen Rohstoffe beschränkt, und andernteils ist eine chemische Durcharbeitung erforderlich, die ei nige Stunden in Anspruch nimmt. Wir können natür lich mit dem, was hier in Portland hergestellt wird, nicht viel anfangen. Mein Ratschlag ist folgender: Sie lassen sofort mit Hilfe der Ihnen zur Verfügung ste henden Nachrichtenmittel alle Apotheken, chemische Fabriken und sonstigen Produktionsstätten, die den Stoff herstellen können, alarmieren. Sie geben ihnen das Rezept durch. In sechs Stunden muß in Dutzenden von Städten und Hunderten von Fabriken, Apotheken 123
und Drogerien eine gewisse Menge des Gegenmittels zur Verfügung stehen. Sie verfügen über einige hun dert Flugzeuge. Sorgen Sie dafür, daß jeder Pilot seine Zielstation erhält, von der er mit größtmöglicher Be schleunigung eine Portion von dem Zeug abholt. Lassen Sie die Flugzeuge dann planmäßig gegen den fressenden Kreis von allen Seiten angehen und das Mittel über den Ameisenhaufen werfen. Wenn alle diese Maßnahmen klappen – und das müssen sie –, kann in vierundzwanzig Stunden die Pest beseitigt sein.« Brade grüßte. »Danke. Ihre Anweisungen sind so klar, daß ich keine Frage mehr zu stellen habe. Sie gestatten?« Eine Minute später schlug er die größte Schlacht seines Lebens. Er war wieder ganz der alte. Die Schimpfworte strömten fast unablässig aus seinem Mund. Er fluchte und wetterte, aber man merkte ihm an, daß er seine helle Freude dabei hatte. Er brachte es tatsächlich fertig, daß noch in der gleichen Stunde Tausende von Leuten aus ihren Bet ten geholt und an die Arbeit geschickt wurden. Während die Flugzeuge das nutzlose Abwerfen von Gasbomben einstellten, wurden an Hunderten von Stellen in den Städten die Pulver gemischt, gewogen, gerührt und gepocht. Der Großkampf hatte mit einem Schlag eingesetzt. Der fressende Kreis kümmerte sich nicht darum. 124
Das Gewimmel der Ameisen drang mit gleichmä ßiger Geschwindigkeit vorwärts. Eine ganze Land schaft ging durch ihre gefräßigen Leiber und ver wandelte sich in neue Ameisen. Wie Lava kam der Strom geflossen, zwar nicht so glühend wie diese, sondern mit einem kalten, unheimlich beizenden Geruch von Säure, aber mindestens ebenso vernich tend. Bäume im Weg. Eben noch stand er, der Baum, dann krachte er zusammen, als ob ihn eine Kreissäge durchgeschnitten hätte. Tausende und Abertausende von Ameisen wirkten schneller und sicherer als eine Kreissäge. Die Äste, der Stamm fielen in die wim melnden Schichten hinein, schmetterten auf sie nieder. Hunderttausende und Millionen der Bestien wurden erschlagen, aber ihre Leiber verschwanden im Vor beigehen ebenso wie der eben noch blühende Baum. Häuser im Weg. Die entsetzliche Lawine staute sich an der Mauer, drückte mit dicken Strömen zur Haustür, zu den Fenstern hinein, schob sich an der Wand hoch, füllte die Kammern, flutete immer höher bis in das Dachgebälk. Die Möbel verschwanden, versanken in der Flut, die Betten, die Gardinen, die Kleider, das Gebälk zwischen den Stockwerken, bis dann endlich die steinernen Lasten haltlos zusam menstürzten. Auch sie erschlugen Millionen, aber statt der Millionen, die in das Haus eindrangen, ver ließen es Milliarden. 125
Ein Bach im Weg. Der scheußliche Strom der Ameisen wollte sich stauen, aber von hinten schob es unaufhaltsam nach, schob es die vordersten hinein in das Wasser. Sie wurden fortgespült, aber schon stürzten die dicken Schichten von Millionen nach, schon drückten Milliarden hinter ihnen her, füllten das Bett aus, bis sich die große Lawine ungestört darüber hinwegschieben konnte. Der fressende Kreis wuchs. Wälder, Dörfer, Städte – kein Hindernis. Berg und Tal und Fluß – alles wurde genommen. Die Ameisen fraßen, fraßen und fraßen. Vor ihnen war eine blühende Landschaft, hinter ihnen eine grauweiße, auf Jahrzehnte hinaus unfruchtbare Wü ste. Verzweifelt kämpften die Menschen. Die Bauern, die ihr Land, ihren Heimatboden, ihre. fruchtbare Scholle in der Gefahr der Vernichtung se hen – die Eltern, deren Heim, deren Kinder von den gefräßigen Heeren bedroht wurden – die Alten, die die Stätte ihrer Jugend und die Stätte des letzten Friedens verloren – die Jungen, die die Trostlosigkeit der Zu kunft und vielleicht dunkel die Größe der Gefahr ahnten – sie alle kämpften, kämpften mit erbittertem Eifer, mit fanatischer Sorge und Wut, rastlos und un ermüdlich, das Grauen im Herzen. Sie warfen Gräben aus, in denen sich die Ameisen verfangen sollten, sie zündeten Feuer an, um die Be 126
stien zu verbrennen, Menschen mit der letzten Ver zweiflung im Herzen stürzten sich mit Knüppeln auf die heranschiebenden Ameisen und gaben ihnen da mit nur neue Nahrung. Es half alles nichts! Alles vergebens! Immer weiter mußten sich die Verteidiger zurück ziehen. Und wenn sie es nicht rechtzeitig taten, mußten sie ohnmächtig weichen. Sie gingen zurück. Die Dörfer, in die sie kamen, waren meistens bereits geräumt, leer und verlassen. Panik lag über dem Land. Die Menschen strömten nach allen Himmelsrichtungen weg und fürchteten doch zugleich insgeheim, daß sie laufen mußten, bis der Ozean ihnen Einhalt gebot, oder bis sie den Lauf um die halbe Erde vollendet hatten. Der fressende Kreis wuchs. Der Todeskampf der Menschheit hatte bereits be gonnen. Elf Uhr vormittags. General Brade tobte wie ein Berserker. »Hölle und Teufel, die Kerle schlafen sich wahr scheinlich erst noch aus. Um elf Uhr soll alles zurück sein. Jetzt habe ich erst die Hälfte meiner Leute da. Ich werde die Kerle alle standrechtlich erschießen lassen.« Sun Koh legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. 127
»Geduld, General. Ihre Leute haben Befehl, die vorgeschriebenen Mengen zu fassen. Die Apotheker werden nicht immer rechtzeitig damit fertig geworden sein. Ihre Leute kommen schon.« Tatsächlich verging keine Minute, in der nicht gleich mehrere über den Horizont geschossen kamen. Auf der weiten Ebene standen sie bereits gestaffelt, rund dreihundert Maschinen, jede von ihnen mit dem kostbaren Stoff beladen, der die Ameisen töten sollte. Über vierhundertfünfzig Flugzeuge standen start bereit, als der General den Angriff befahl. Wie ein summender Hornissenschwarm stieg das große Ge schwader auf, lockerte sich etwas und flog in geringer Höhe auf die zehntausend Quadratkilometer zu, die der fressende Kreis bereits in eine schaurige Einöde verwandelt hatte. Sun Koh selbst war mit an der Spitze. Als eines der ersten verließ das stiebende Pulver sein Flugzeug und sank zur Erde auf die grauroten Schichten nieder. Die unerträgliche Spannung wartete auf die ersten Zeichen des Erfolgs. Das Pulver fiel nieder, verteilte sich. Es war bereits nichts mehr von ihm zu sehen, als es unten landete. Nichts war von einer Wirkung zu spüren. Die grauen Schichten veränderten sich nicht, es entstanden keine Lücken in ihnen, sie schmolzen nicht zusammen. Sun Koh starrte hinab, Entsetzen im Blick. 128
Alles vergebens? Nein! Das Wunder geschah. Die Ameisen veränderten sich nicht, das war das Wunder. Der fressende Kreis fraß sich nicht mehr weiter vorwärts. Er war zum Stillstand gekommen. Und wieder war Sun Koh einer der ersten, der kühn zur Erde niederstieß und sich an die grausige Lawine heranwagte. Die Ameisen waren tot. Sun Kohs Gestalt straffte sich unter einem erlösten Aufatmen. Er war erfüllt von einem einzigen Triumpf gefühl. Denn der Tod dieser Ameisen bedeutete die Ret tung: Die Rettung Amerikas, die Rettung der Welt. 6. »… aber Latoff haben wir noch immer nicht gefun den«, stellte Sun Koh am nächsten Morgen fest. »Wer weiß, ob wir ihn jemals finden werden«, meinte Hal Mervin bedeutungsvoll. »Wenn er den Überfall auf die Insel geleitet hat…« »Zu rechnen ist schon damit«, sagte Sun Koh nachdenklich. »Ich kann mir nicht denken, daß ein Dritter zufällig zu diesem Zeitpunkt eingegriffen hat. 129
Der Streich ist wahrscheinlich vorbereitet und sofort nach der Ankunft Latoffs durchgeführt worden.« »Dann dürfte also Latoff ein Opfer der Ameisen ge worden sein.« »Möglich, aber es fehlt der Beweis dafür.« »Es wird aber schwer sein, Latoff oder den Beweis für seinen Tod zu finden.« »Ja. Aber ich hoffe, daß sich Latoff bemerkbar machen wird, falls er noch lebt.« Nimba trat ein. Er brachte eine Zeitung mit. »Da steht ein merkwürdiger Artikel drin, Sir, daß Sie bei Burkhardt wichtige Dinge gerettet hätten, hochbedeutsame Erfindungen und anderes. Der Schreiber trägt dick auf.« Hal verstand und stieß einen Pfiff aus. »Das geht, in Ordnung«, sagte Sun Koh. »Der Ar tikel ist auf meinen Wunsch erschienen.« »Auf Ihren Wunsch, Sir?« fragte Nimba verwundert. »Lange Leitung!« höhnte Hal. »Selbstverständlich ist das ein Köder, damit Latoff anbeißen soll, falls er noch lebt.« »Das kann ich doch nicht wissen«, wehrte sich Nimba. Hal tippte sich an die Stirn. »Denken muß man sich das, verehrter Schwarzkünstler, denken. Weißt du, was das ist?« »Dummheiten anstellen«, sagte Nimba grinsend. »Du willst in solchen Fällen immer gedacht haben.« 130
»Ich – ich…« Er sprach nicht weiter, weil das Telefon klingelte. Sun Koh hob den Hörer ab. Als er ihn wieder auflegte, wandte er sich an seine beiden Freunde. »Laßt mich allein. Ein Mr. Putley, Anwalt des ver storbenen Burkhardt, will mich sprechen. Hal, du stellst fest, ob es einen derartigen Anwalt gibt und ob er zu mir gefahren ist. Gib telefonisch Bescheid.« »Ja, Sir.« Die beiden zogen sich zurück. Etwas später er schien der gemeldete Anwalt Putley, ein jüngerer Mann mit einem schmalen, aber nicht besonders an genehmen Gesicht. Er war gut gekleidet und trat sehr sicher auf. »Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, daß Sie mich empfangen haben«, versicherte er verbindlich. »Es schien mir meine Pflicht zu sein, mich bald möglichst mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Dr. Burkhardt war einer meiner Klienten. Obgleich mir vorläufig keine Erben bekannt sind, muß ich doch seinen Nachlaß in Ordnung bringen. Viel ist ja infolge der tragischen Umstände nicht übriggeblieben, aber das Wenige muß wohl geregelt werden.« »Gewiß«, stimmte Sun Koh zu. »Es ist mir lieb, daß Sie zu mir gekommen sind. Ich muß Ihnen die Platte aushändigen, die ich von der Insel geholt habe.« Er zog sie aus einer Schublade und reichte sie Putley. 131
»Das ist sie. Sie besitzt zwar kaum irgendwelchen Wert mehr, aber sie gehört immerhin zum Eigentum des Verstorbenen.« Der Anwalt betrachtete die Platte und blickte dann auf. »Hm, ist das alles? Auf dieser Platte steht doch das Rezept für jenes Pulver, mit dem die Ameisen vernichtet wurden?« »Gewiß. Es ist natürlich nun allgemein bekannt, aber das ist ja belanglos.« »Tja – und sonst?« »Sonst nichts«, erwiderte Sun Koh ruhig. »Das ist alles, was ich von der Insel holte.« Putley schien das schwer zu verdauen. »Ja, aber«, meinte er, »die Zeitungen schrieben doch noch von anderen Aufzeichnungen?« »Irgendein Journalist hat eine Äußerung mißver standen und falsch darüber berichtet. Dr. Burkhardt hat sicher über einige wichtige Erkenntnisse verfügt, aber sie sind verlorengegangen.« »Ach. Ich nahm allerdings an, daß Sie mehr gerettet hätten?« »Nichts als diese Platte.« Putley schwieg eine Weile, dann setzte er vorsich tig an: »Hm, hm, ich kann mir natürlich denken, daß Sie wichtige Gründe haben, um über gewisse Funde zu schweigen. Ich wäre der letzte, der Sie nicht ver stehen würde, aber als Nachlaßverwalter müßte ich doch wenigstens unterrichtet werden.« 132
Sun Koh spürte den Mann an der Angel. Ein rich tiger Anwalt wäre kaum so weit gegangen. »Sie irren«, gab er zurück. »Ich habe wirklich nichts anderes gefunden als diese Platte.« Telefon. Hal erstattete seinen Bericht. »Einen Anwalt Putley gibt es. Ich habe mit ihm gesprochen. Der Mann bei Ihnen ist also nicht Put ley.« »Danke«, sagte Sun Koh und legte auf. Dann wandte er sich wieder an den falschen Putley. »Sie haben wahrscheinlich der Zeitung entnommen, daß ich den Stahlschrank Burkhardts aufgebrochen vorgefunden habe. Es scheint nicht ausgeschlossen, daß die Einbrecher sich wichtiger Dinge bemächtigt haben. Kennen Sie einen gewissen Latoff?« Der falsche Putley besaß gute Nerven. Obwohl die Frage sehr plötzlich kam, zuckte er nur ganz wenig zusammen. »Latoff? Den Namen habe ich nie gehört. Wer ist das?« »Der Mann, der den Tod Dr. Burkhards und alle an schließenden Ereignisse auf dem Gewissen hat. Ich werde ihn hetzen, bis er dafür gesühnt hat.« Putley verschob die Lippen zu einem Lächeln. »Das klingt ja sehr gefährlich. Woher kennen Sie denn den Namen dieses Mannes?« Sun Koh wollte den anderen nervös machen, aber 133
ihn nicht einweihen. Er konnte Latoff sein, aber auch einer von dessen Helfern oder überhaupt ein Außen stehender. »Dr. Burkhardt selbst hat ihn mir genannt, als ich ihn vor dem Unglück besuchte«, sagte er lässig. »Er fühlte sich durch einen Latoff bedroht.« »Ausgeschlossen!« entfuhr es dem Besucher. »Das ist – ich meine, ein Irrtum ist dann natürlich nicht ausgeschlossen. Doch nun entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie so lange belästigt habe. Ich muß zu einem wichtigen Termin.« Er verabschiedete sich hastig. Sun Koh war mit diesem Ergebnis nicht unzufrie den. Der Mann hatte sich gut beherrscht, aber seine Nerven hatten an einer Stelle doch nachgegeben. Selbstverständlich war es ausgeschlossen, daß Burk hardt vor Latoff gewarnt hatte, aber nur Latoff oder einer seiner Helfer konnten darüber unterrichtet sein. Der falsche Anwalt war kaum hinaus, als Hal schon eintrat. »Na?« fragte er. »Nimm die Verfolgung auf. Wir müssen erfahren, wo der Mann wohnt und wer er ist. Es kann sich um Latoff handeln.« »Habe ich mir gedacht. Mein Wagen steht schon bereit.« Damit verschwand er wieder. Kaum eine Viertelstunde später rief er an. 134
»Es ist Latoff, Sir!« teilte er erregt mit. »Ich bin ihm in seine Wohnung gefolgt. Er wohnt in einer Pension, Garden Street 10. Ich habe eine Minute später geklingelt und einfach nach Mr. Latoff gefragt. Die Vermieterin sagte mir, er sei eben nach Hause gekommen. Daraufhin habe ich mich mit einer Aus rede wieder verdrückt.« »Das hättest du nicht tun sollen«, erwiderte Sun Koh unmutig. »Aber ich konnte doch nicht einfach zu ihm hi neingehen.« »Du hättest nicht nachfragen sollen. Die Vermie terin wird ihn verständigen und damit warnen.« »O Gott, daran habe ich nicht gedacht. Was soll ich nun tun?« »Bewache das Haus. Ich komme gleich hin. Unter diesen Umständen ist es besser, wenn ich ihn sofort stelle.« »So schnell wird er schon nicht ausreißen«, beru higte Hal. »Ich passe auf.« Hal irrte sich jedoch. Kaum eine Minute später, als Sun Koh eben das Zimmer verlassen wollte, rief er wieder an. »Gott sei Dank, daß Sie noch da sind, Sir. Latoff setzt sich eben in einen Wagen. Er hat einen Hand koffer bei sich.« »Folgen!« wies Sun Koh kurz an. »Ich warte auf Anruf.« 135
Sun Koh verlangte die Rezeption und bat um die Rechnung. Es war besser, für alle Fälle gerüstet zu sein. Nimba saß ja bereits im Wagen und wartete. Fünf Minuten vergingen. Die Rechnung kam. Endlich klingelte das Telefon. »Sun Koh!« »Hal. Ich bin am Bahnhof, Sir. Er hat eine Karte ge löst und ist zum Bahnsteig gegangen. Der Nord-Süd-Expreß fährt bald ab. Auf dem Bahnsteig hat er sich mit einem anderen Herrn getroffen, Latoff natürlich. Sein Gesicht habe ich nicht gesehen.« »Löse für uns Fahrkarten, wir kommen!« »Aber schnell!« Sun Koh stürmte hinaus. Nimba fuhr wie der Teufel, aber der Weg bis zum Bahnhof dehnte sich. Am Eingang schliffen die Reifen eine schwarze Spur in den Asphalt, die beiden Männer jagten in die Halle. Zu dritt stürmten sie nach oben. Der Zug fuhr schon. Ein Beamter winkte erregt ab, aber die drei sprangen trotzdem nach den Griffen, landeten sicher auf den Trittbrettern und stiegen ein. »Geschafft!« Hal atmete auf. »Hoffentlich ist er auch im Zug«, meinte Nimba. »Was denn sonst?« begehrte der Junge auf. »Das war der einzige Zug, der abfuhr.« »Wir werden sehen«, beruhigte Sun Koh. »Gehen wir den Zug ab.« 136
»Aber da wird man uns sehen, Sir.« »Der Zug fährt so schnell, daß niemand mehr ab springen wird. Und Haltestellen wird es für ihn vor läufig kaum geben.« Sie befanden sich im letzten Wagen und gingen nun langsam nach vorn. Als die drei endlich den vorder sten Wagen erreicht hatten, blickte Sun Koh fragend auf Hal, während Nimba den Kopf schüttelte. Sie hatten den Gesuchten nicht im Zug gefunden. Das war ein schwerer Brocken für Hal. Er wagte kaum aufzusehen. »Ich verstehe das nicht«, murmelte er. »Er ist auf den Bahnsteig gegangen und in den Zug gestiegen. Ich habe ihm nachgesehen. Und der andere ist auch mit eingestiegen, aber von dem habe ich nicht das Gesicht gesehen. Latoff müßte aber hier sein. Er ist nicht zurückgekommen, und das war der einzige Zug.« »Er kann sich über die Gleise hinweg entfernt ha ben«, erwog Sun Koh ohne Vorwurf. »Aber es gibt auch in einem solchen Zug manche Möglichkeit, sich zu verstecken, zum Beispiel in den Waschräumen, die wir nicht überprüft haben. Wir wollen später noch einmal genau durchgehen. Vorläufig werden wir diese Fahrt wohl mitmachen müssen. Der Zug hält erst nach Stunden wieder, bis dahin ist viel Zeit. Kommt.« Sie besetzten eines der leeren Abteile. Hal und Nimba verdrückten sich freilich bald wieder auf den 137
Gang, weil sie sich einiges an den Kopf zu werfen hatten. Hal fühlte sich schuldlos, aber Nimba unter stellte ihm einen Fehler. Die Auseinandersetzung war leise, ließ aber an Of fenheit nichts zu wünschen übrig. Sie endete damit, daß sich Hal giftig vor Wut zurückzog und allein durch den Zug wanderte, bis er im Aussichtswagen landete. Dort warf er sich in einen der Sessel und grübelte vor sich hin. Bald aber fesselte ihn der Rundblick derart, daß er darüber seinen Ärger mehr und mehr vergaß und das Panorama genoß. Der Expreß nahm eben die ersten langen Steigun gen. Es war gerade, als müßte er in so unmittelbarer Nähe des majestätischen Mount Hodd tief atmen. Bei Salem wurde es zunächst etwas besser, aber dann begann die lange Anstiegstrecke über Hunderte von Kilometern, auf der die Geschwindigkeit über sechzig zu halten war. Wie eine dunkle Schlange mit einem mächtig kraftvollen Kopf wand sich der Zug donnernd durch die Schluchten und engen Täler, ständig am Fuß des Cascade Ranges entlang, die von Takoma bis zum Shasta in schweigender, düsterer Herrlichkeit eine ununterbrochene Kette bildeten. So vertieft war Hal doch nicht, daß er die heranna henden Schritte überhörte. Er wandte sich um. Ein hochgewachsener breiter Mann trat auf die Plattform hinaus. Der dunkle lange Rock und der breitrandige 138
schwarze Hut kennzeichneten ihn als einen Sekten priester, darüber hinaus schien der stattliche, wallende Vollbart einen Anspruch auf Würde zu erheben. »Nun, so allein hier?« fragte er den Jungen mit kräftiger Stimme. »Jawohl, Ehrwürden«, versicherte Hal nicht ohne den schuldigen Respekt. »Ich bin allein, den anderen Fahrgästen ist es vermutlich zu kühl.« Der Priester blieb dicht neben Hals Sessel stehen. »Die Menschen sind geneigt, die Herrlichkeit der Schöpfung zu bewundern«, sagte er mit sanftem Pa thos, »aber nur, wenn es ihre Bequemlichkeit nicht beeinträchtigt. Wie findest du die Cascade Ranges?« »Großartig, Ehrwürden«, erklärte der Junge über zeugt. Der Priester nickte. »Fährst du allein nach San Francisco, mein Sohn?« »Nein, Ehrwürden, ich fahre in Begleitung meiner Freunde.« »Ach, richtig, ich sah dich schon mit dem jungen Herrn, der bereits in Vancour allgemeine Aufmerk samkeit erregte. Es muß eine besondere Ehre sein, mit einem solchen Mann befreundet zu sein.« Hal warf dem Priester von unten her einen abwä genden Blick zu, weil die Frage ganz nach Neugierde geklungen hatte. »Gewiß, Ehrwürden«, bestätigte er dann, »ich bin stolz darauf.« 139
Der Priester lächelte freundlich. »Leicht zu be greifen, mein Sohn. Er stammt gewiß nicht aus Ame rika?« Der Junge kniff das linke Auge zusammen. »Glauben Sie?« »Ich stellte nur eine Vermutung auf«, erwiderte der Priester mit leichter Zurückweisung. Hal nickte mehrmals nachdenklich. »Tja, ich weiß nicht, man müßte ihn mal fragen. Ich kenne ihn leider selbst erst seit einigen Tagen, so daß ich so gut wie gar nichts weiß.« Die kräftigen Brauen des Priesters zogen sich stark zusammen. »So. Das dachte ich freilich nicht. Aber es ist ja gleichgültig. Wichtig ist allein, daß Gott dich segnen möge, mein Sohn.« »Danke, Ehrwürden«, gab der Junge friedlich zu rück. Als der Priester davonging, wandte er sich wieder der Landschaft zu. Doch der Genuß war sehr kurz, denn einige Sekunden später hörte er aus ir gendeiner Versenkung eine piepsige Stimme. »Ist er fort?« »Was?« erkundigte er sich. »Ist er fort?« Die Frage war unverkennbar ängstlich und sorgenvoll. Der Junge blickte mißtrauisch herum und knurrte: »Er ist fort. Aber wer, in Dreiteufelsnamen, piepst denn hier in der Gegend herum?« Aus dem Sessel linkerhand ging der Mond auf. Er 140
entpuppte sich nur eine Sekunde später als die er staunlich vollkommene Glatze eines übergroßen Schädels, unter dem ein kindlich winzig wirkendes Gesicht auftauchte. Diesem folgte ein dürrer, unent wickelter Körper in einem Anzug, der fünf Nummern zu weit war. Und schließlich stand vor dem verblüff ten Hal das ganze Männchen, das durch das Mißver hältnis zwischen der riesigen Kopfpartie und der sonstigen Kümmerlichkeit geradezu grotesk wirkte. Dieser Eindruck wurde selbst dadurch nicht gebessert, daß die Lippen festgeschnitten und von starken Falten umgeben waren. Rund geschätzt machte der Mann den Eindruck eines Fünfzigjährigen, er konnte aber auch erst vierzig sein. »Fluche nicht, mein Sohn«, mahnte er mit der glei chen dünnen Stimme, »ich bin schon da, wie du siehst.« »Ich sehe es, Großpapa«, gab Hal trocken zur Ant wort. Er hatte nicht die geringste Lust, sich von dieser Karikatur so anreden zu lassen, wie von dem Priester. »Wo kommen Sie denn so plötzlich her?« Der andere wies auf den Sessel. Er grinste spöt tisch. »Dort drin habe ich gesessen. Hat schon seine Vorteile, wenn man nicht viel Platz ausfüllt. Du hast mich nicht bemerkt, und er hat mich auch nicht ge sehen.« »Wer?« 141
Das Männchen machte eine unbestimmte Geste. »Eben er. Du hast doch eben mit ihm gesprochen.« Hal war ehrlich überrascht. »Der Priester?« »Der und Priester? Weil er einen schwarzen Rock trägt, ist er noch lange kein Priester.« »Sie haben wohl ein schlechtes Gewissen?« Das Männchen beugte sich mit einem Ruck nieder, legte seinen Mund fest an Hals Ohr und flüsterte: »Ich will dir sagen, was ich habe, mein Junge. Angst habe ich, ganz niederträchtige Angst, obwohl ich wie ein wandelnder Waffenladen herumlaufe. In dem Zug hier ist der Teufel los, und der Mann, der als Priester herumläuft, ist der erbärmlichste Verbrecher, den es auf der Erde gibt.« Hal hatte gemischte Gefühle. Er wußte nicht, was er von der Sache halten sollte und antwortete halb mitleidig, halb geringschätzig: »Ich würde an Ihrer Stelle weniger starken Kaffee trinken und weniger Krimis lesen, Mister.« Der andere schien die Bemerkung nicht übelzu nehmen. Er seufzte und flüsterte weiter: »Du hast gut reden, aber paß auf, es wird hier noch Tote geben. Jefferson geht auf’s Ganze. Einer von uns beiden muß dran glauben. Er denkt, ich ahne von nichts, aber da hat er sich getäuscht. Ich werde mich meiner Haut wehren, sobald er mir zu nahe kommt.« Hal schüttelte den Kopf. 142
»Nehmen Sie mir’s nicht übel, Mister, aber das klingt alles recht überspannt. Wenn Sie solche Angst haben, steigen Sie doch einfach aus.« Der Kleine, dessen Hände sich dauernd unruhig bewegten, sah Hal mit einem merkwürdig starren Blick an. »Wenn du meine Angst hättest, wärest du schon lange verrückt geworden. Ich lasse mich von meiner Angst nicht unterkriegen. Ich kann gar nicht ausstei gen, erstens gibt es keine Haltestelle, und zweitens muß ich nach San Francisco. Ich fürchte freilich, daß…« Er brach ab und lauschte. Der Junge beobachtete ihn, ohne sich schlüssig werden zu können, ob der Mann nur hochgradig nervös war oder an Verfol gungswahn litt. Ausgerechnet der Priester sollte ein Verbrecher sein? »Wenden Sie sich an das Zugpersonal, wenn Sie etwas befürchten«, riet er schließlich, um den anderen loszuwerden. Doch dieser antwortete nicht mehr. Er lief davon und verschwand hinter der Tür. Der Junge wollte sich gerade erheben, da er ohne hin jede Andacht verloren hatte, als Nimba erschien. Sofort ließ er sich zurückfallen und schlug die Beine übereinander. »Nun, Hal?« fragte Nimba grinsend. Eisiges Schweigen. »Hal?« 143
Hal bohrte mit seinen Augen Löcher in die Land schaft. Seine Ohren schienen auf beiden Seiten taub zu sein. Der Neger kratzte sich hinter den Ohren. »Hm, mir soll’s recht sein, aber Sun Koh läßt fra gen, ob du dich bald ausgeheult hast.« Das war zuviel. »Pah!« schnaubte der Junge in wilder Verachtung. »Heulen? Allenfalls könnte man über deine Dumm heit heulen, du niederträchtiger Lügner. Sun Koh weiß ganz genau, daß ich kein Waschlappen bin und nur mit dir ganz gewöhnlicher Zirkusatrappe nichts mehr zu tun haben will. Jedenfalls hat er dich herge schickt, damit du Abbitte leistest.« Nimba malte sich einen Kreis auf seine Stirn. »Ich denke nicht daran. Wenn du mich einen ange kohlten Gorilla schimpfst, dann…« Hal sprang entrüstet auf. »So? Und du hast mich Fliegenheini genannt, oder nicht?« »Hinterher, hinterher«, verteidigte sich Nimba, aber er kam damit nicht durch. »Hinterher?« höhnte Hal. »Du hast mich beleidigt. Das kann nur mit Blut gesühnt werden.« Nimba riß die Augen auf, aber gerade dadurch wurde Hal erst richtig lebendig. Das vorangegangene Gespräch spukte noch in ihm, und plötzlich geriet er in ein furchtbares Pathos hinein. Er zog ein Gesicht 144
wie ein dramatischer Held im letzten Akt, den die Schuhe drücken, und flüsterte im Tonfall einer Souf fleuse, die dem Mörder Kunibert dem Heizbaren im Schauerstück »Grauen um Mitternacht« souffliert: »Nur mit Blut! Ich sage dir, es wird noch Tote in diesem Zug geben, bevor der Tag sich neigt. Du oder ich – nur diesen Zipfel hat die Wurst wider Wurst, dein Augenzahn gegen mein Hühnerauge, das Band gerissen, der Teufel ist los, zittern wirst du wie ein schwarzer Schokoladenpudding, der mit allen Hun den gewaschen und mit allen Wassern gehetzt ist. Blut, sage ich dir. Blut bringe Leben und Tod, borge Lampen und Teewärmer, brauche List und Tücke, backe Lebkuchen und Torten, der See ist dunkel, und die Nacht geht hoch, was willst du mit der Mord spritze, du Mann mit der Sportmütze, mach den Mund zu, sonst friert dein Bandwurm – Mahlzeit, olles Missionsbaby.« Feierlich stolzierte er davon. Nimba blieb eine Weile sprachlos stehen, dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn und mur melte: »Jetzt ist er vollkommen verrückt geworden.« Hal schlenderte zu frieden grinsend durch den Gang. Dem Neger hatte er einen Brocken hin geworfen, an dem er eine Weile zu kauen haben würde. Der Zug legte sich in die Kurve. Hal schwankte 145
nach der Innenseite und landete etwas unsanft an der Tür eines Einzelabteils. Vielleicht hatte sein Arm dabei die Klinke gedrückt, vielleicht hatte die Er schütterung allein genügt – jedenfalls schwang die Tür auf. Als gut erzogener junger Mann griff Hal sofort zu und wollte die Tür wieder schließen, wobei er pflichtschuldigst ansetzte: »Ich bitte um Ent…« Weiter kam er nicht, denn er sah auf dem Boden zwei leicht verdrehte Beine, die eigentlich dort nichts zu suchen hatten. Letzten Endes legte man sich ja nicht auf den Boden des Abteils schlafen. »Nanu?« Er stutzte unwillkürlich, dann verschlug es ihm für eine Weile die Sprache. Seine Augen waren der Linie der Beine gefolgt. Sie trafen zunächst auf einen langen, dunklen Priesterrock, dann auf eine krampfig gespreizte Hand, kurz darauf sahen sie das Heft eines Messers aus der Brust des Mannes ragen, dann verweilten sie auf einem nach oben gereckten Vollbart, der nur ein Stück des weißen Gesichts sehen ließ, sowie auf einem breitkrempigen Hut, der dicht hinter dem Kopf lag. Der Priester! Ermordet? Kein Zweifel, der Mann war ermordet worden. Man hatte ihm das Messer ins Herz gestoßen. Und der Mörder? Hal sah eine winzige Gestalt mit einem riesigen, blanken Schädel und hörte eine piepsige Stimme von 146
Mord reden. Es war klar, wer hier als Mörder in Frage kam. Der Junge hatte wahrhaftig keine schwachen Ner ven. Er hatte schon selbst um sein Leben kämpfen müssen und eine ganze Anzahl von Toten aus näch ster Nähe gesehen. Deshalb schrie er auch nicht auf und rannte nicht davon. Ruhig und kühl betrachtete er den Mann am Boden und prägte sich Einzelheiten ein, ohne einen Schritt heranzugehen. Dann zog er die Tür sorgfältig zu. Schon im nächsten Wagen traf er auf Nimba, der eben auch nach vorn gehen wollte. Der Neger, der den Jungen sehr genau kannte, sah ihm sofort an, daß et was Besonderes geschehen war. Damit war alle Rei berei unverzüglich vergessen. »Was ist, Hal?« Der Junge legte den Finger auf die Lippen. »Nicht so laut. Er ist tot.« Nimba prallte förmlich zurück. »Mensch, du hast doch nicht etwa…« »Du bist verrückt«, wies Hal die irrsinnige Vermu tung zurück. »Das war doch alles Spaß.« »Wer ist tot?« Der Junge berichtete in kurzen Zügen von seiner Unterhaltung mit den beiden Männern. »Der Kleine muß es gewesen sein«, schloß er. »Es hat aber keinen Zweck, wenn wir den ganzen Zug verrückt machen und dadurch den Täter erst richtig 147
warnen. Komm, wir gehen zu Sun Koh und melden ihm die Geschichte. Vielleicht können wir den Mör der unauffällig greifen, während er sich noch sicher glaubt.« Nimba nickte, und sie schritten beide nach vorn. Ursprünglich wollten sie erst noch einen Blick in das Abteil werfen, da aber gerade einige Fahrgäste vo rübergingen, verzichteten sie darauf, um niemanden aufmerksam zu machen. Sun Koh blickte auf, als Nimba und Hal eintraten. Er winkte ihnen, sich zu setzen. Innerhalb von drei Minuten war Hal seine ganze Geschichte los, und zwar so ordnungsgemäß, daß Sun Koh völlig im Bild war. »Das sieht freilich für den kleinen Herrn übel aus«, stellte Sun Koh fest. »Dein Zeugnis belastet ihn. Aber vielleicht weist er Notwehr nach, offensichtlich hat er doch für sein Leben gefürchtet. Kommt, ihr beiden, wir wollen einen Blick auf den Toten werfen.« Sie gingen durch den Gang zurück nach dem Abteil, in dem der Tote lag. Glücklicherweise kamen gerade keine Fahrgäste, so daß der vorangehende Hal sofort die Tür öffnen konnte. Wenn sie nicht die feste Absicht gehabt hätten, einzutreten und sofort wieder die Tür zu schließen, wären sie wohl draußen stehengeblieben, nachdem sie einmal einen Blick hineingeworfen hatten. So aber vollendeten sie die begonnene Bewegung und standen 148
dicht nebeneinander in dem kleinen Raum, bevor ei ner von ihnen ein Wort geäußert hatte. Sun Koh und Nimba waren nicht recht im Bild und blickten fragend auf Hal, der Junge aber würgte noch an einem Kloß, der nicht aus seinem Hals heraus wollte. Das Abteil war leer. Kein Toter war zu sehen. Es war ein ganz gewöhnliches Abteil mit den bei den Polstersitzen rechts und links, die man durch ei nen Griff in Betten verwandeln konnte. Gepäck oder Kleidung war nicht zu sehen. »Ja«, stieß Hal endlich heraus, »wo ist denn der Kerl hingekommen?« »Vielleicht ein bißchen spazierengegangen?« schlug Nimba anzüglich vor. Der Junge warf ihm einen bitterbösen Blick zu. »Quatsch, der konnte nicht mehr Spazierengehen. Der Dolch steckte bis ans Heft in seiner Brust.« »Trotzdem ist nicht daran zu zweifeln, daß hier kein Toter liegt«, wandte Sun Koh ruhig ein. »Du hast dich vielleicht im Abteil getäuscht.« Hal schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen, Sir. Aber passen Sie auf, das werden wir gleich sehen.« Er schlüpfte hinaus. Die beiden Männer hörten ihn rechts und links rumoren, dann kam er zurück. »Auf dieser Seite sitzt eine Mutter mit drei Kindern, auf der anderen sind vier Kartenspieler. Ich habe mich 149
also nicht getäuscht. Hier hat der ermordete Priester gelegen, darauf wette ich meinen Kopf.« Sun Koh kannte den Jungen genau, um zu wissen, daß an seinen Worten nicht zu zweifeln war. Ande rerseits sprach der leere Raum. »Hm, Blutspuren sind nicht zu sehen, wie eigent lich zu erwarten wäre, auch keine sonstigen Spuren von Kampf oder Mord. Aber wir wollen Stück für Stück untersuchen.« »Das ist zum Verrücktwerden«, stöhnte Hal. »Er kann sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst ha ben?« Nimba legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter und grinste. Sun Koh, der mittlerweile den Boden näher unter sucht hatte, richtete sich auf und sagte kopfschüttelnd: »Ich kann beim besten Willen nichts finden. Der Boden ist zwar auffallend staubfrei, und es scheint nicht ausgeschlossen, daß man einen Körper darüber hinweggeschleift hat, das ist aber auch alles. Ich denke, wir kommen weiter, wenn wir zunächst den Zug nach dem vollbärtigen Priester und dem Mann mit dem großen Schädel absuchen. Vielleicht finden wir bei dieser Gelegenheit endlich Latoff.« Hal biß sich auf die Lippen. »Sie glauben mir nicht, Sir?« »Doch, Hal«, beruhigte ihn Sun Koh, »aber du kannst dich sowohl in der Person wie in der Schwere 150
der Verwundung getäuscht haben.« Sie verließen das Abteil und gingen zum Aus sichtswagen. Von dort aus begannen sie eine plan mäßige Durchsuchung des Zuges. Hal hatte hierbei die Hauptarbeit zu verrichten. Er riß eine Tür nach der andern auf, steckte den Kopf hinein und überprüfte die Fahrgäste, wobei er sich höflich erkundigte, ob ein »Mister Meier« unter den Anwesenden sei. Bevor diese aber noch recht zur Antwort gekommen waren, hatte er die Tür schon wieder zugeworfen. Einmal wäre die Sache freilich bald schief gegangen, denn der gesuchte Meier meldete sich tatsächlich. Aber Hal ließ sich nicht unterkriegen. »Mit a oder y?« fragte er geistesgegenwärtig. »Ypsilon natürlich.« »Ich suche einen mit i. Kommt also nicht in Frage, danke sehr, mein Herr, bitte um Entschuldigung.« Schon war er an der nächsten Tür. So klapperte er alle Wagen mit Einzelabteilen ab – es waren nicht allzuviel. Er sah Dutzende von Menschen, Männer und Frauen, junge und alte, und er schaute sie sich bei aller Schnelligkeit so genau an, daß ihm schließlich lauter Gesichter vor den Augen kreisten. Das Ergebnis war eindeutig. Weder der Mann mit dem Vollbart und dem langen Rock noch der andere mit der Glatze befanden sich im Zug, von Latoff ganz zu schweigen. 151
Hal wußte wahrhaftig nicht, ob er triumphieren sollte. Das Fehlen des Priesters bewies zwar seine Aussage über den Ermordeten, aber das Fehlen des anderen war eher ein schlechtes Zeichen. »Reichlich unverständlich«, meinte Sun Koh ver wundert. »Der Zug hat bisher immer eine Geschwin digkeit gehabt, bei der so leicht kaum ein Mensch ab springen würde. Und außerdem ist das Gelände rechts und links der Schienen nicht gerade einladend.« Er beugte sich nach diesen Worten zum Fenster hinaus. Tatsächlich, dieses Gewirr von Felsbrocken versprach bei einem Absprung den sicheren Tod. Der Zug legte sich gerade in eine Kurve, und zwar nach der Seite, auf der Sun Koh stand. Dadurch wurde die ganze Länge des Zuges sichtbar. Unwillkürlich gingen seine Augen der Linie der Trittbretter entlang. Etwas hinter der Mitte des Zuges stand ein Mann auf dem Trittbrett. Er trug einen grauen Mantel und eine Mütze. Vom Gesicht war nur soviel zu erkennen, daß der Mann bartlos war. Erschien es an sich schon merkwürdig, daß einer der Reisenden auf dem Trittbrett stand, so war das Verhalten des Mannes darüber hinaus mehr als auf fällig. Er schlich geduckt auf dem Laufbrett entlang, wobei er sich von einer Griffstange zur anderen hangelte. Jetzt blieb er stehen, streckte sich und blickte von außen in eines der Abteile hinein. Es war das, welches Sun Koh gehörte. 152
Das war Sun Koh kaum zum Bewußtsein gekom men, als ihn der Mann auf dem Trittbrett schon zum Handeln zwang. Der Fremde hob die Hand, die eine Pistole umklammerte. Mit einer fliegenden Bewegung riß Sun Koh seine eigene Waffe aus der Tasche und schoß. Der Mann zuckte zusammen, seine Waffe fiel nieder. Es war ein glücklicher Treffer gewesen, da die Schwankungen des Zuges die Zielsicherheit außeror dentlich beeinträchtigten. Der Zug legte sich in die Gegenkurve; der Wagen mit dem Mann auf dem Trittbrett verschwand hinter der Kurve. Nimba und Hal standen in atemloser Spannung. »Was ist, Sir?« »Ein Mann wollte schießen. Schnell!« Damit rannte Sun Koh auch schon in langen Sätzen den Gang hinunter, ohne sich um die verwunderten Blicke zu kümmern. Nimba und Hal folgten unver züglich. Obwohl sie sich gelegentlich an Reisenden vorbei drücken mußten, waren sie bald in ihrem Wagen an gelangt. Der vorausjagende Sun Koh sah die Tür seines Abteils offen, davor jedoch stand ein Mann der Zugbegleitung, der nach ihnen blickte. »Was ist hier los?« fragte Sun Koh scharf. Der Schaffner grüßte. »In dieses Abteil wurde von außen geschossen. Sie 153
sehen, daß die Scheibe oben durchgeschlagen wurde. Ich hörte den Knall und wollte mich mal umsehen.« Sun Koh musterte den Mann kurz. Besonders sympathisch war er nicht, obwohl er dem prüfenden Blick standhielt. »Sie werden den Vorfall sofort melden. Schicken Sie bitte den Zugführer her, ich muß mit ihm spre chen.« »Sofort, Sir«, versicherte der Schaffner ehrerbietig. »Vielen Dank. Ich werde Mister Letters sofort be nachrichtigen.« Er ging nach vorn. Sun Koh, Nimba und Hal traten in das Abteil ein. Sun Koh ging ans Fenster und sah hinaus, aber auf dem Trittbrett war niemand mehr zu sehen. Er schloß es wieder und wollte sich setzen, aber da wurde es unter der Bank lebendig. Vor den drei verblüfften Männern kam unter der einen Bank, unter der die Heizrohre liefen, ein dünnes Bein hervor, dann ein zweites, dann eine schlottrige, staubbedeckte Hose, ein dünner Oberkörper in einer zerknitterten Jacke und schließlich ein kleines, schar fes Gesicht mit einem übergroßen kahlen Schädel. »Das ist er!« schrie Hal. »Das ist der Mörder!« Das Männchen nieste ausdrucksvoll, blinzelte und machte schließlich eine etwas mißratene Verbeugung. »Ich bin kein Mörder. Jefferson ist hinter mir her.« »Der Priester?« fragte Hal scharf. Byler warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. 154
»Ja, der Priester«, bestätigte er dann kurz. Hal lachte höhnisch. »Ach nein, und gerade den habe ich mausetot ge sehen, wenige Minuten, nachdem Sie es angedroht hatten.« Das Männchen wandelte sich mit einem Schlag. Sein Körper straffte sich, und seine Stimme wurde kalt und scharf. »Ich bin kein Mörder. Du solltest den Mund halten, mein Junge, solange du die Sache nicht durchschaust.« Hal wollte ihm seine Meinung sagen, aber Sun Koh befahl ihm kurz, zu schweigen. »Sie werden verstehen«, wandte er sich in gelas senem Ton an den Fremden, »wenn ich Sie um Auf klärung bitte.« Das Männchen war bereits wieder zusammenge sackt und antwortete piepsig und ängstlich: »Selbst verständlich, Byler heiße ich. Ich will Ihnen alles er zählen, aber – draußen ist jemand auf dem Gang. Sehen Sie um Gottes willen nach, sonst bin ich ein toter Mann.« Sun Koh schüttelte den Kopf. Ohne Zweifel war die Angst des Mannes nicht geheuchelt. »Ihre Befürchtungen sind übertrieben, Mister Byler. Wir decken Sie zu dritt. Außerdem wird das Zug personal gleich kommen.« »Um Gottes willen, gerade das nicht. Jefferson ist dabei. Sie haben doch selbst mit ihm gesprochen.« 155
Sun Koh verstand sehr schnell. »Der Schaffner ist der Mann, den Sie fürchten?« Byler nickte krampfhaft. »Er war es, verkleidet.« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Das Männchen rieb sich mit zitternden Fingern das Kinn. »Ich – ich fürchte mich vor ihm. Er hätte mich er schossen, wenn er mich gesehen hätte. Sagen Sie nicht, daß er es nicht hätte tun können. Jefferson bringt alles fertig.« Sun Koh gab Hal einen Wink. »Suche den Mann auf. Ich will wissen, ob die Be schuldigung stimmt. Nimm ihn notfalls vor deine Pistole.« Hal verschwand. »Sie glauben mir nicht?« seufzte Byler, »aber ich…« »Einen Augenblick«, unterbrach Sun Koh sofort. »Sie waren bereits hier drin, als geschossen wurde?« »Ja.« »Gut, das spricht für Sie. Ich sah einen Mann draußen auf dem Trittbrett stehen und die Pistole heben. Mein Schuß hat wohl seinen noch ausgelöst, bevor die Waffe fiel. Sie behaupten nun, jener Mann und der Schaffner seien eine Person gewesen?« Byler feuchtete seine Lippen an. Fest erklärte er: »Ja, so ist es. Jefferson hat Interesse an meinem Tod.« 156
Sun Koh sah ihm nachdenklich in die Augen. Dabei fiel ihm auf, wie stark sich trotz aller Verstörtheit die Klugheit in diesen grauen Augen ausdrückte, so daß er unwillkürlich abschweifte und sagte: »Sie sind sehr klug, Mister Byler.« Dieser verstand es offensichtlich falsch, denn er wehrte sich: »Ich lüge nicht.« Ein flüchtiges Lächeln ging über Sun Kohs Ge sicht. »Das wollte ich nicht behaupten. Aber erklären Sie mir folgenden Widerspruch: Nach Ihrer Meinung ha ben Sie einen Feind, der als Schaffner hier in der Tür stand. Zwei Minuten früher sah ich jedoch einen Mann vom Trittbrett schießen, der einen grauen Mantel und eine Mütze trug.« Byler wischte sich den Schweiß von der Glatze. »Durchaus kein Widerspruch«, murmelte er unsi cher. »Jefferson bringt alles fertig. Er ist eben sofort hereingekommen, hat sich umgezogen und hat es dann von hier aus versucht.« In Sun Kohs Stimme schwang feiner Spott. »Sie trauen dem Mann allerhand an Geschwin digkeit zu, nicht wahr?« Der Kleine schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so schlimm. Er brauchte doch bloß den Mantel abzulegen und eine andere Mütze aufzuset zen.« »Hm«, antwortete Sun Koh nach einer kleinen 157
Pause, »vielleicht haben Sie recht. Aber dann muß er in allernächster Nähe eingestiegen sein und dort Mantel und Mütze gelassen haben. Nimba, sieh dich in den angrenzenden Abteilen um.« Nimba verschwand. »Er kann die Sachen auch zum Fenster hinausge worfen haben«, sagte Byler leise. Sun Koh hob die Schultern. »Es gibt in dieser Sache für mich sehr viele Mög lichkeiten, aber wenige Tatsachen. Es gibt sogar einen Toten, der keiner sein soll.« Byler wollte etwas erwidern, aber schon trat Nimba wieder ein. »Im Nebenabteil liegt ein Toter«, teilte er tonlos mit. »Er trägt einen grauen Mantel und eine Mütze.« Das Männchen stöhnte auf. Sun Koh sah es nach denklich an und sagte langsam: »Das – Mister Byler, ist eine Tatsache, die nicht gerade zur Aufklärung beiträgt. Ein gewisser Jefferson tritt als Priester auf und wird später tot aufgefunden, nicht lange danach steht er draußen und schießt in neuer Verwandlung, tritt hier als Schaffner auf und liegt schließlich ne benan als Toter. Ich muß gestehen, daß mir das alles noch ein wenig rätselhaft vorkommt.« Der Kleine sank seufzend auf die Bank. »Es ist unmöglich, es kann nicht Jefferson sein. Er hat sich ein neues Opfer gesucht.« »Auf alle Fälle ist es ratsam, wenn Sie das Gesicht 158
des Toten sehen.« Byler sprang auf. Neue Energie schien ihn zu durchfließen. »Ich will ihn sehen.« »Dann kommen Sie.« Nimba schritt voran, der Kleine folgte, und hinter ihm kam Sun Koh und deckte seinen Rücken. Der Gang war leer, sie kamen ungesehen hinüber. Der Tote lag halb über die Bank gestreckt. Es war ein jüngerer Mann mit schmalem Gesicht. Er trug einen eleganten hellen Anzug, der von einem guten Schneider stammte, darüber jedoch einen nicht son derlich wertvollen grauen Mantel. Die Knöpfe waren nicht geschlossen, der Mantel war von der linken Schulter halb heruntergerutscht. In der Ecke der Bank lag die Mütze. Auf der linken Brustseite des Mannes war die Jacke zerschnitten und mit Blut durchtränkt. Der Mörder mußte ihm einen breiten Dolch ziemlich genau ins Herz gestochen und dann wieder herausge rissen haben. Sun Koh wischte sich unwillkürlich über die Augen. Dieser Tote war der gleiche Mann, der ihn als Anwalt Putley besucht hatte. Latoff also, falls Hals Feststellungen zutrafen. Latoff tot? Das verwirrte die Angelegenheit voll ends. Sun Koh beugte sich nieder und tastete den Toten ab. 159
Er trug keine Brieftasche bei sich und keine Papiere. Auch eine Geldbörse war nicht vorhanden. Man hatte ihn wohl beraubt. Latoff tot? Sun Koh richtete sich auf. »Es ist Latoff«, sagte er leise. »Kennen Sie den Mann?« Byler war leichenblaß, aber seine Stimme klang fest. »Ich habe ihn nie gesehen und kenne ihn nicht. Es ist jedenfalls nicht Jefferson.« »Wie erklären Sie sich das Vorhandensein dieses Toten?« Der Kleine löste schaudernd den Blick von der blutbefleckten Brust. »Ich weiß nicht. Jefferson ist vielleicht hier einge stiegen, hat ihn niedergestochen und den Mantel übergezogen.« Sun Koh sah ihn verwundert an. »Alles in höchstens einer Minute? Sie trauen die sem sagenhaften Mann reichlich viel zu.« »Alles.« Sun Koh untersuchte den Toten. Der Stich hatte gut gesessen. Er war, wie sich bei näherer Betrachtung zeigte, leicht schräg von oben und von rechts geführt worden. »Gehen wir wieder hinüber«, schlug Sun Koh schließlich vor, indem er sich aufrichtete. »Hier er 160
fahren wir nichts mehr, und ich habe den dringenden Wunsch, Ihren Bericht zu hören.« Sie hatten kaum die Abteile gewechselt, als Hal zurückkam. »Der Mann ist nicht zu finden«, gab er Auskunft. »Ich habe den ganzen Zug durchsucht. Vorn im Dienstabteil fragte ich den Zugführer nach dem Mann, den ich suchte. Ich erzählte ihm allerdings, es wäre mir gewesen, als ob ich einen Bekannten gesehen hätte und so weiter. Er fragte mich nach dem Namen, aber den hatte ich natürlich vergessen. Da brachte er mich dann ins Dienstabteil hinein und zeigte mir zwei Schaffner, die dort saßen. Sonst sei weiter niemand in Uniform hier. Die beiden waren mir fremd. Der Zugführer sah nicht so aus, als ob er sich einen Witz machen wollte. Der Mann hat also eine falsche Rolle gespielt und ist nun spurlos verschwunden.« Byler atmete tief auf. »Also hatte ich doch recht. Hoffentlich werden Sie mir nun glauben.« Sun Koh nahm weiter keine Kenntnis davon, son dern fragte Hal: »Sonst nichts Verdächtiges bemerkt? Es ist kaum möglich, daß ein Mensch einfach ver schwindet!« Hal kratzte sich am Ohr. »Tja, Sir, einer kam mir zwar seinem Gesicht nach bald so vor wie der Schaffner, aber er trug eine Brille 161
und einen eleganten Anzug und wirkte höchst ungnä dig.« »Hat er vorhin bei der Durchsuchung schon dort gesessen?« Der Junge stutzte. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich glaube nein, aber ich will es nicht beschwören. Und vielleicht kann er ja auch im Speisewagen gesessen haben?« »Möglich.« Sun Koh nickte. »Übrigens, bist du davon überzeugt, daß der falsche Putley und Latoff eine Person waren?« »Bestimmt, es sei denn, daß sich der Mann auch zufällig Latoff nannte. Ich war dicht hinter ihm her, und die Wirtin versicherte mir, daß es Mister Latoff gewesen sei, der eben die Wohnung betreten habe.« »Gut, dann sieh dir den Toten im Nebenabteil an.« Hal blickte verwundert, aber Nimba zog ihn hinaus. Nach zwei Minuten kamen beide zurück. »Das ist der gleiche Mann, den ich verfolgt habe«, sagte Hal ernst. »Und er muß von dem Unbekannten ermordet worden sein, der auch den Priester getötet hat. Die Stich wunden sind ganz gleich.« »Es ist außerdem jener Mann, der vom Trittbrett aus geschossen hat«, ergänzte Sun Koh. »Seine rechte Hand beweist es. Doch lassen wir das alles für später. Jetzt möchte ich erst einmal Sie hören, Mr. Byler.« Das Männchen nickte. Es schien sich etwas beru higt zu haben. 162
»Sie sollen alles wissen. Aber tun Sie mir bitte den Gefallen und stellen Sie Ihre Leute als Wachen auf. Jefferson bringt es fertig und schießt mich aus Ihrer Mitte heraus.« Sun Koh tat ihm den Gefallen. Er schickte Nimba auf den Gang und ließ ihn sich vor der Tür des Abteils postieren. Hal stellte er an das Fenster, um den Wagen von au ßen zu bewachen. Dann begann der kleine Mann seinen Bericht. 7. »Ich heiße mit vollem Namen Reginald Algernon Byler, bin fünfundvierzig Jahre alt und wohne in New Westminster bei Vancouver. Bis vor zwei Jahren lebte ich allerdings in San Francisco. Ich war dort Privat sekretär von Samuel Jefferson.« »Ist das der Mann, vor dem Sie…« »Nein, natürlich nicht. Dieser Jefferson ist ein Neffe des alten Herrn. Aber ich will Ihnen die Ge schichte von Anfang an erzählen. Also, ich geriet vor über zehn Jahren als junger Mensch an den alten Jefferson. Er war damals schon fast an die siebzig Jahre und hatte sich halb zur Ruhe gesetzt, nachdem er sich in seinem Leben ein paar Millionen zusam mengekratzt hatte. Ich will Ihnen auch sagen, wie ich ihn kennenlernte. Ich war nach Frisco gekommen, 163
hatte aber kaum mehr als ein paar Dollar und bum melte vor der Börse herum. Plötzlich stand ich neben zwei Gentlemen, die sich unterhielten, und hörte, wie der Weißhaarige, den ich dann als Jefferson kennen lernte, erklärte, er werde die Moonvalley-Aktien alle abstoßen. Da faßte ich mir ein Herz und machte ihn darauf aufmerksam, daß er dabei Geld verlieren würde, weil die Aktien vor einer Hausse ständen. Er lachte mich aus und ging seiner Wege, aber am nächsten Tag, als die Papiere wie wahnsinnig stiegen, wurden wir miteinander bekannt.« »Wie konnten Sie wissen, daß die Papiere steigen würden?« Byler machte ein verlegenes Gesicht. »Tja, wie soll ich Ihnen das erklären? Bitte, halten Sie mich nicht für eingebildet, aber ich habe gewis sermaßen einen sechsten Sinn für alle kaufmänni schen Dinge. Ich wußte es aus Instinkt. Die Natur hat mich auf diesem Gebiet für alles andere entschädigt. Kurz und gut, ich wurde Sekretär bei Jefferson. In nerhalb von zehn Jahren besaß er viele Milliarden und gehörte zu den reichsten Leuten der Welt. Die Men schen haben diesen Aufstieg in solchem Alter nie recht verstanden, zumal ich immer im Hintergrund blieb, aber Sie dürfen mir glauben, daß Jefferson das Wenigste dazu tat. Zehn Jahre lang spielte ich mit den Weltbörsen, dann hatte ich es gründlich satt. Jefferson wurde auch immer hinfälliger, so daß wir schließlich 164
zu dem Entschluß kamen, aufzuhören. Er gab mir ein paar Millionen, wir schüttelten uns die Hand, und dann setzte ich mich in New Westminster zur Ruhe.« Sun Kohs Augen prüften jedes Zucken im Gesicht des Mannes. Als dieser einen Augenblick schwieg, warf er ein: »Das verstehe ich nicht ganz. Man sollte annehmen, Sie hätten nun auf eigene Faust weiter gearbeitet.« Um den Mund des Männchens huschte ein schüchternes Lächeln. »Ich habe keine Machtgelüste, und die ich gehabt habe, die konnte ich in zehn Jahren austoben. Ich habe auch keine Gier nach Geld, und wenn ich sie gehabt hätte, so hätte ich sie zehn Jahre lang befriedigen können. Meine Millionen, die ich besitze, geben schon viel mehr Zinsen, als ich je verbrauchen kann. Essen und Trinken, Blumen und gute Musik, nach mehr habe ich kein Verlangen. Zehn Jahre lang habe ich geschuftet und geherrscht und Milliarden zu sammengeworfen, aber weder Jefferson noch ich wurden einen Deut glücklicher davon. Im Gegenteil, ich litt ständig unter dem Bewußtsein, Unzählige durch meine Börsenmanöver unglücklich zu machen. Und dann noch eins: Zehn Jahre immer das gleiche, das hängt einem zum Hals heraus. Die Welt ist klein und wiederholt sich, und einen Milliardär noch rei cher zu machen, erscheint mir kein besonderes Ver dienst.« 165
»Ihre Ansichten sind Einsichten ehrenvoller Art«, antwortete Sun Koh sanft. »Immerhin wundert es mich doch, daß die Gaben und Fähigkeiten in Ihnen so wenig nach Betätigung drängen. Sie sind doch noch jung. Aber vielleicht ist es nur die große Aufgabe, die Ihnen fehlt.« Byler seufzte. »Sie wissen genau Bescheid. Ja, manchmal treibt mich die Unrast, aber ich halte mich zurück.« Sun Koh lächelte fein. »Bis sich die Aufgabe lohnt. Doch nun fahren Sie bitte fort.« »Richtig, ich bin ja ganz abgekommen. Also vor zwei Jahren verließ ich Frisco. Kurz vorher machte Jefferson sein Testament, setzte mich als Erben ein und erklärte dabei: ,Sie sollen das Geld haben, Byler. Behalten Sie es meinetwegen, oder wenn Sie sich nicht damit belasten wollen, machen Sie ein paar Dutzend junge, tüchtiger Kerle damit glücklich. Ich lasse Ihnen freie Hand. Letzten Endes ist es Ihr Geld. Sie werden es so wenig brauchen wie ich, außerdem können Sie sich jederzeit mehr verdienen. Also ma chen Sie, was Sie wollen. Verwandte habe ich keine außer einem Neffen, und der ist ein Halunke und wird keinen Cent zu sehen bekommen, das müssen Sie mir versprechen. Ich versprach es ihm. Er hinterlegte ein Exemplar des Testamentes bei seinem Anwalt, das 166
andere in einem Safe der Nationalbank, zu dem er mir den Schlüssel gab. Vor wenigen Wochen ist der Alte gestorben. Kurz darauf teilte mir der Anwalt mit, daß das Testament aus seinem Safe verschwunden sei. Einen Tag später wurde der erste Versuch gemacht, mich zu ermorden.« »Sie meinen, daß der Neffe dahintersteckt?« Byler bestätigte durch ein Nicken. »Wenn kein Testament auftaucht, ist er der Erbe. Das könnte mir ja gleich sein, wenn ich nicht Jeffer son das Versprechen gegeben hätte. Außerdem halte ich es wirklich nicht für richtig, das Geld einem Verbrecher zu geben. Jedenfalls habe ich mich nun auf den Weg gemacht, um die Kopie aus meinem Safe zu holen. Ganz so schlimm hatte ich mir’s freilich nicht vorgestellt. Dieser Neffe ist ein Satan.« »Erklären Sie mir bitte die Vorgänge hier im Zug. Wer war der Tote, den der Junge sah?« Bylers Gesicht verzog sich schmerzlich. »Es war mein Butler Lex. Er war früher Sekten prediger gewesen und liebte es, sich feierlich zu kleiden und einen Vollbart zu tragen. Ich war ehrlich erschrocken, als ich merkte, daß sich Jefferson unter einer Maske verbarg, in der er auffällig meinem But ler glich. In dieser Maske hat ihn der Junge dort kennengelernt, während er den Zug nach mir durch stöberte. Dann kam er in unser Abteil und hat Lex ohne viel Worte erstochen. Ich sah ihn niederstürzen, 167
als ich gerade eintreten wollte, war aber zu feige, um Jefferson zu stellen. Ich versteckte mich. Jefferson kletterte auf das Trittbrett und wollte den Ermordeten herauszerren. Lex war ein schwerer Mann. Ihr Junge kam dazwischen. Während er die Innentür öffnete, stand Jefferson vor der Außentür. Als der Junge fort ging, schleppte er sein Opfer heraus und ließ es he runterfallen. Seinen Mantel und Hut warf er hinterher. Das letzte habe ich gesehen, das andere nicht, aber ich kann mir zusammenreimen, wie alles gewesen ist.« »Warum schossen Sie den Mörder nicht nieder?« »Ehrlich gestanden, ich habe in meinem Leben noch keinen Schuß abgegeben. Es wäre mir sicher nicht gut bekommen.« »Und wie kamen Sie hier herein?« »Jefferson lief am Zug entlang und verschwand in einem der Abteile. Ich nahm an, daß er nun wieder innen alles absuchen würde und kletterte in meiner Angst auf das Trittbrett hinaus. Kaum war ich ein Stück voran, da erschien er – oder vielmehr der Mann, den ich für ihn hielt – zu meinem Schrecken ebenfalls auf den Laufbrettern. Da riß ich die nächste Tür auf. Es war mein Glück, daß ich gerade an einem dieser modernen L-Wagen mit Sondertüren stand, sonst hätte er Zeit gehabt, mich zu töten.« »Hm, und der Mann folgte Ihnen, schoß, wobei ich ihn störte, drang ins Nebenabteil ein, wurde dort aber von dem richtigen Jefferson ermordet und beraubt. 168
Ich denke, nun sehe ich einigermaßen klar.« Byler sah ihn unsicher an. »Glauben Sie mir meine Geschichte?« Sun Koh nickte. »Ja, so seltsam sie auch teilweise klingt. Auf jeden Fall steht einwandfrei fest, daß Sie den Mann nebenan nicht getötet haben können. Und nun wollen wir uns von neuem nach dem Mörder umsehen. Ist dir etwas aufgefallen, Hal?« »Der Mann, von dem ich vorhin sprach«, sagte Hal, »hat wiederholt herausgesehen und mich angestarrt.« »Aha. Wir werden ihn nach den Gründen seiner Anteilnahme fragen. Hol Nimba herein!« Hal Mervin drückte sich durch. Als er Bylers Knie streifte, blieb er stehen und reckte seine Hand hin. »Entschuldigen Sie, Mister«, sagte er, »ich glaube, ich habe Sie vorhin in einem falschen Verdacht ge habt. Ich habe alles gehört, und wenn Sun Koh Sie für ehrlich hält, dann habe ich keinen Grund, es nicht zu tun.« Über das Gesicht des kleinen Mannes flog es wie Sonnenschein. Er schüttelte lebhaft die gebotene Hand und antwortete mit gerührter Stimme: »Ich danke dir, du bist ein großartiger Kerl. Es war dir nicht übelzunehmen, aber jedenfalls hast du mir eine große Freude gemacht.« »Unsinn«, murmelte Hal, »nichts zu danken. Wenn man jemandem Unrecht getan hat, soll man’s auch 169
eingestehen. Nimba!« Er riß die Tür auf und zog den Neger herein. »Komm, du schwarzes Schäfchen, bist wohl ein genickt?« »Langsam«, brummte Nimba, »ich wollte nur se hen, ob er tatsächlich umkehrt. Eben war der gleiche Mann zum viertenmal hier in der Nähe, Sir. Er steckte seinen Kopf durch die Zwischentür und verschwand jedesmal blitzschnell wieder, wenn er mich sah. Der Kerl hat bestimmt was auf dem Kerbholz.« »Trug er einen dunkelgrauen Anzug?« fragte Hal eifrig. »Die Haare sind kurz, der Hinterkopf halb wie zu einer Spitze gedrückt, und das linke Auge schielt etwas?« »Stimmt auffallend«, sagte der Neger. »Das ist Jefferson«, hauchte Byler. »Das ist der Mann, der ein paarmal aus dem Fenster blickte«, ergänzte Hal. »Es ist der gleiche, der mich an den Schaffner erinnerte.« »Dann sofort los«, befahl Sun Koh. »Nimba, du bleibst hier und schließt die Tür hinter uns zu. Sie wird nur geöffnet, wenn du meine oder Hals Stimme hörst, sonst keinesfalls. Im übrigen bleibst du am Fenster und hältst die Laufbretter im Auge. Mister Byler, Sie brauchen sich nicht zu verstecken, unter Nimbas Schutz sind Sie vollkommen sicher. Hal, du kommst mit mir und zeigst mir den Mann, der Jef ferson zu sein scheint.« 170
Man sah es Byler an, daß er am liebsten niemand hätte fortgehen lassen, während Nimba mehr aussah, als wäre er gern mit Sun Koh gegangen, aber sie hat ten selbstverständlich nichts gegen die Anordnung einzuwenden. Sun Koh und Hal verließen das Abteil, die anderen warteten voll Spannung auf die kom menden Ereignisse. Wieder klapperte Hal zur Empörung der Fahrgäste durch sämtliche Abteile, während Sun Koh den Gang und die Laufbretter im Auge behielt. Sie hätten auch sofort jenes Abteil von vorn aufsuchen können, aber Sun Koh wollte dem Mann keine Lücke zum Durch schlüpfen lassen. Endlich erreichten sie doch das Abteil, in dem er sitzen mußte. Hal riß es auf wie alle andern. Sun Koh trat mit schußbereiter Pistole heran. Das Abteil war leer. In der Ecke hing ein Mantel, im Gepäcknetz stand ein Koffer, aber der Fahrgast war nicht zu sehen. »Er ist getürmt«, rief der Junge. »Dann muß er weiter vorn sein.« Sie gingen weiter. Am Ende dieses Wagens mußten sie minutenlang warten, weil die Toilette besetzt war. Sie benutzten die Gelegenheit, um auch auf dieser Seite die Trittbretter zu überfliegen. Da der Zug ge rade wieder in einer günstigen Kurve lag, konnten sie sich mit Nimba verständlich machen. Er teilte ihnen durch Gesten mit, daß er noch nichts bemerkt hatte. 171
Endlich öffnete sich die bewachte Tür – eine dicke Dame quoll heraus. Hal verdrehte die Augen und lief entrüstet weiter. Der letzte Wagen brachte kein besseres Ergebnis. Jefferson befand sich nicht im Zug. Sie standen am Anfang des Zuges und hatten noch niemanden entdeckt, der dem Gesuchten geglichen hätte. Entweder verbarg er sich sorgfältig unter ir gendeiner Bank oder in einem Bettschrank, oder er war abgesprungen. Doch gerade letzteres schien we nig wahrscheinlich, denn es wäre gleich Selbstmord gewesen. Sun Koh drückte die abschließende Tür auf und sah hinaus. Vor ihm war nur noch der Aufbau der Loko motive. Von einem Menschen war nichts zu sehen. Der Mörder war verschwunden. Irgendwo mochte er auf der Lauer liegen. * Byler war von dem Ergebnis der Streife alles andere als beruhigt, aber es blieb ihm wohl oder übel nichts anders übrig, als dem Schutz der Männer zu vertrau en. »Ich werde Sie schon sicher nach San Francisco bringen«, versprach Sun Koh. »Wenn dieser Jefferson wieder an Sie heranzukommen versucht, werden wir ihn fassen.« 172
Der Kleine nickte dankbar. »Gott gebe, daß alles gut geht. Wollen Sie den Mord nebenan nicht melden?« »Wir wollen noch abwarten«, erwiderte Sun Koh. »Der Trubel kommt noch früh genug und gibt Ihrem Feind nur Möglichkeiten. Kurz vor dem Ziel ist auch noch Zeit.« Hal, der wie vorhin das Fenster im Auge behielt, drehte sich um. »Ich hätte eine Frage, Sir. Aber Sie dürfen nicht denken, Mister Byler, daß ich Ihnen deswegen miß traue.« »Sprich, Hal«, forderte ihn Sun Koh auf. »Sie sagten vorhin, Sie wüßten bestimmt, daß Mi ster Byler den Mord nicht begangen haben könnte. Wie haben Sie das eigentlich herausbekommen?« »Sehr einfach, Hal. Mister Byler ist linkshändig.« Der Junge legte die Stirn in Falten. »Linkshändig?« grübelte er laut nach dem Zusam menhang. »Allerdings«, warf Byler unsicher ein, »ich bin linkshändig. Aber ich verstehe auch nicht ganz, wie so…« Hal schnippte mit den Fingern. »Halt, ich hab’s. Sie sahen sich die Wunde an, Sir. Der Stich ist mit der rechten Hand geführt worden.« Sun Koh lächelte. »Richtig, Hal. Mister Byler hätte niemals der 173
Wunde einen derartigen Verlauf geben können, zumal nicht in der Eile. Weil er linkshändig ist, deshalb schied er als Täter aus.« Der Junge starrte den kleinen Mann nachdenklich an, dann wandte er sich an Sun Koh. »Sir, warum sind manche Menschen linkshändig?« »Warum bist du eigentlich rechtshändig, Hal?« fragte Sun Koh. »Ich? Ich weiß es nicht. Alle Menschen sind doch rechtshändig.« »Ich zum Beispiel nicht. Meine linke Hand arbeitet genau so gut wie die rechte.« »Ja, Sie, Sir«, meinte Hal, »Sie sind auch eine Ausnahme. Aber sonst sind doch die meisten Men schen rechtshändig.« Sun Koh schüttelte den Kopf, dann fragte er plötz lich: »Was ist das?« Die Insassen des Abteils lauschten. Irgendwo war ein feines Zischen, das durch das rollende Wiegen hindurchdrang. »Gas?« hauchte Byler mit blassem Gesicht. Hal lachte auf. »Kein Gedanke daran. Der Lokführer läßt Luft von der Bremse.« Die Spannung in Sun Kohs Gesicht löste sich. »Ja, so ist es. Die Bremsklötze schleifen schon eine ganze Weile, wenn ich mich nicht irre.« »Er hat sicher bloß mal probiert, ob alles in Ord 174
nung ist und löst nun wieder aus. Es muß doch hier bald allerhand Gefälle geben.« Byler hatte aufgeatmet und sah nun zum Fenster hinaus. »Der Mount Shasta wird sichtbar. Wir sind tat sächlich bald an der Wasserscheide und kommen dann auf die lange Fallstrecke zum Sacramento hin unter.« Sun Koh war beruhigt. »Dann ist ja alles in Ordnung. Also Hal, ich glaube, ich kann dir einen Hinweis geben. Die Menschen hatten tatsächlich schon in grauester Urzeit einen Grund, die Arme verschieden zu gebrauchen. Sie kämpften nämlich. Kampf ist Angriff und Verteidi gung. Während man warf, stach und schleuderte, mußte man gleichzeitig das wertvollste Organ schüt zen. Das wertvollste Organ, der Sitz des Lebens, ist das Herz. Das Herz aber liegt auf der linken Seite.« »Ich weiß, ich weiß«, sagte Hal. »Deswegen nah men sie den Schutzschild in die linke Hand und die Waffe in die rechte.« »So ist es«, sagte Sun Koh. »Und weil die Men schen über die Jahrtausende hinaus nichts häufiger taten als zu kämpfen, führte das zu einer Überent wicklung des rechten oder richtiger zu einer Unter entwicklung des linken Armes beziehungsweise der entsprechenden Gehirnteile. Die Linkshändigkeit ist ein Rückschlag, ein Ausbrechen aus der Entwick 175
lungslinie. An sich neigt die Natur mehr dazu, die Seite des Herzens zu bevorzugen, weil dort das Blut lebendiger fließt. Man kann das sogar beweisen, aber ich will mich damit begnügen, dir einige Andeutun gen zu geben. Die linke Körperhälfte der Menschen ist gewöhnlich stärker entwickelt. Du weißt, daß die Gesichter durchgängig unsymetrisch sind. Die linke Hälfte ist größer. Der Soldat hat den Marschrhythmus auf links. Jeder Schuhmacher sagt dir, daß die linken Füße gewöhnlich eine Kleinigkeit größer sind als die rechten. Vielleicht findest du selber noch mehr. Doch nun achte wieder auf die Trittbretter.« Sun Koh wandte sich an Byler: »Wir unterhielten uns vorhin über Ihre kaufmännischen Fähigkeiten, Mister Byler. Ich kenne Sie zwar noch kaum, aber ich bin einigermaßen überzeugt, daß Sie nicht übertrieben haben.« »Das dürfen Sie getrost«, antwortete der andere ruhig. »Ich habe weder Veranlassung, Ihnen etwas vorzumachen, noch bin ich eitel. Ich könnte jederzeit innerhalb von wenigen Jahren einige Millionen ver dienen.« »Ausgezeichnet«, sagte Sun Koh. »Würden Sie unter Umständen in meine Dienste treten? Ich bin selbst sehr reich und benötige gewissermaßen zur Verwaltung meines Geldes einen Mann von seltenen kaufmännischen Fähigkeiten und hervorragendem Organisationstalent für finanzielle und kaufmänni 176
sche Dinge, einen Mann mit einem festen Sinn für so etwas, jemand, der weit über dem Durchschnitt steht und dem ich restlos vertrauen kann. Ich habe das Gefühl, daß Sie der Mann sind, den ich suche.« Byler verbeugte sich, aber seine Miene war etwas kummervoll. »Ich tue Ihnen natürlich den Gefallen, aber offen gestanden, ich bin – ich wollte sagen, es gibt schließ lich tausend andere, die ein großes Vermögen ver walten können.« Jetzt lächelte Sun Koh. »Kaum zu bestreiten, aber darum handelt es sich nicht. Es… Nanu, will der Zug auf freier Strecke hal ten?« Er war tatsächlich immer langsamer gefahren und ruckte jetzt zusammen, als ob er stehenbleiben wollte. »Er muß nur den Berg schaffen«, sagte Hal. »Jetzt zieht er schon wieder an.« Sun Koh beugte sich vor. »Also hören Sie, Mister Byler. Sie sagten vorhin, daß eine ganz große Aufgabe Sie reizen würde. Nun gut, ich will Ihnen eine solche Aufgabe stellen. Nehmen Sie an, aus der Tiefe eines Ozeans wird in absehbarer Zeit ein neuer Erdteil aufsteigen. Ein Mann rechnet fest damit und ist entschlossen, diesen Erdteil für sich in Anspruch zu nehmen, gegen die Besitzansprüche der Völker zu verteidigen, ihn zu bevölkern und von Grund auf zu kultivieren. Er ist 177
von dem Naturereignis so überzeugt, daß er alles vorbereiten will. Da gibt es unzählige Fabriken zu bauen und zu führen, in denen die überraschendsten technischen Mittel hergestellt werden, da heißt es für den Ernstfall riesige Kampfmittel bereitzustellen, Seeund Luftflotten zu schaffen, es muß für die Lebensbe dingungen von Millionen Neusiedlern gesorgt werden, eine Volkswirtschaft ist aufzubauen, und was der ge waltigsten Dinge mehr sind. Nehmen Sie einmal die sen Fall an. Glauben Sie wirklich, daß die finanzielle Organisation eines derartigen Vorhabens von einem Durchschnittskaufmann bewältigt werden könnte? Wäre Ihnen eine solche Aufgabe groß genug?« Byler sah ihn bestürzt an. »Ihre Phantasie, Mister…« Sun Koh war sehr ernst. »Ich phantasiere nicht. Nehmen Sie an, daß ich der Mann bin, der derartige Pläne hat. Was sagen Sie zu der Aufgabe?« Bylers Augen glänzten auf. Seine Finger machten mechanisch abzählende Bewegungen. »Das wäre eine Sache. Etwas Außergewöhnliches. Ja, das könnte mich reizen. Man müßte erstens…« »Über Einzelheiten lassen Sie uns später sprechen«, unterbrach Sun Koh. »Sind Sie nun bereit, in meine Dienste zu treten?« Byler sah ihn an, als ob er aus einem Traum er wache. 178
»Ja, ich verstehe nicht, sprechen Sie im Ernst?« »In vollem Ernst.« Der Kleine schüttelte ungläubig den Kopf. »Unmöglich. Selbst wenn es mit dem Erdteil stimmte, zu so etwas gehören ungeheure Geldmittel.« »Zweihundert Milliarden werden für den Anfang sicher genügen«, erwiderte Sun Koh. Byler prallte zurück. »Sir, wer sind Sie?« »Sun Koh.« Die leuchtenden Augen hielten das Männchen in Bann. Byler keuchte. Dann streckte er plötzlich seine schmale Kinderhand aus. »Ich bin Ihr Mann. Mir ist zu wirr, um Ihre Pläne zu erfassen, aber Sie dürfen auf mich zählen.« »Ich danke Ihnen«, antwortete Sun Koh. »Wir werden bald mehr darüber sprechen.« Byler fiel wieder zusammen. »Vorausgesetzt, daß ich überhaupt lebend nach Frisco komme.« »Dafür lassen Sie mich sorgen«, beruhigte Sun Koh. »Übrigens fahren wir ja jetzt sehr schnell.« Hal drehte sich um. »Meine Herren, der hat aber ein Tempo vorgelegt. Wahrscheinlich hat er Verspätung und will aufholen.« Sun Koh trat an das Fenster. Der Zug raste mit hoher Geschwindigkeit dahin. Die Strecke fiel sicht lich ab. Die steilen Felswände schossen fast beäng 179
stigend vorbei. Die Räder quietschten gegen die Kurvenstücke. »Hohe Geschwindigkeit«, stellte Sun Koh fest. »Das sind bestimmt 180 Kilometer.« Nimba steckte den Kopf herein. »Allerhand Leute auf dem Gang, Sir«, meldete er. Sun Koh trat auf den Gang. Tatsächlich war es dort ziemlich unruhig geworden. Die Leute drängten sich in Gruppen und starrten zu den Fenstern hinaus oder fuchtelten mit den Händen. Eine Frau kreischte hy sterisch, als der Zug gegen eine Kurve raste, andere schimpften wild durcheinander. »Unerhört! Grober Unfug! Das heißt das Schicksal herausfordern! Der Führer ist wahnsinnig!« Dutzendfach schwirrte es durcheinander, jeder war unruhig, und das wahrhaftig nicht ohne Grund. Dabei nahm die Geschwindigkeit eher noch zu als ab. Sun Koh stürzte plötzlich ans Fenster. Die Felswand sprang zurück, dort lag eine Station oder mehr eine Haltestelle. Auf dem Bahnsteig stan den einige Leute mit verstörten Gesichtern. Ein uni formierter Mann winkte wie besessen mit einer roten Haltescheibe. Das war unmißverständlich. Der Zug sollte halten, statt dessen raste er mit höchster Geschwindigkeit durch. Das Signal stand auf Halt – der Arm war waage recht. 180
»Nimba, du bleibst hier als Wache, ich werde mich beim Zugführer erkundigen. Augen auf, vielleicht will Jefferson die Lage nutzen.« »Ich werde aufpassen, Sir.« Sun Koh eilte nach vorn. Er entdeckte den Zug führer inmitten einer wild schreienden Menge, die den Mann am liebsten gelyncht hätte. Entschlossen drängte er sich durch, bis er vor dem Mann stand, der die Mütze in der Hand hielt und sich den kalten Schweiß von der Stirn wischte. Sun Koh wandte das Gesicht den Menschen zu und hob die Hand. »Ruhe, bitte!« Seine starke Persönlichkeit wirkte auf diese ver wirrten Menschen, doppelt stark. Fast unverzüglich verstummte das Geschrei. Sun Koh sah wieder den Zugführer an. »Der Zug fährt viel zu schnell, nicht wahr?« Der Mann nickte nur stumm. »Er hat eben eine Station durchfahren, obwohl er halten sollte. Was ist vorn auf der Lokomotive los?« Der Beamte hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Sir. Die Kerle muß der Teufel reiten. Jeden Augenblick kann es ein Unglück geben.« Die Menge schrie entsetzt auf. »Ruhe!« gebot Sun Koh scharf. »Können Sie sich nicht mit dem Lokführer verständigen?« »Ich habe es versucht, aber sie lassen nichts von 181
sich hören.« »Dann bringen Sie bitte den Zug von sich aus zum Stehen. Ziehen Sie die Notbremse.« Der andere nickte eifrig. »Eben wollte ich es tun.« Er griff nach dem rotangestrichenen Griff, riß mit einem Ruck die Plombe durch und zog. Nichts. Kein Ruck, kein Anschlagen der Bremsen. Mit unverminderter Geschwindigkeit raste der Zug in seiner höllischen Fahrt weiter. Der Zugführer starrte entgeistert auf seine Hand, die noch in dem Griff ruhte. Dann weiteten sich seine Augen in unbegreiflichem Entsetzen. »Notbremsen ziehen!« schrie er mit überschla gender Stimme in die Menge hinein. Der Ruf wurde weitergetragen. Sun Koh sah, wie weiter unten die Hebel heruntergerissen wurden. Nichts. Die Bremsen versagten. Sun Koh hörte wieder das feine Zischen, das ihm schon vorhin aufgefallen war. Eine furchtbare Ah nung bemächtigte sich seiner. Der Beamte ließ den Griff los und sank stieren Blicks zusammen, wobei er sinnlose Worte murmelte. Sun Koh riß ihn mit hartem Griff hoch. »Nehmen Sie sich zusammen, Mann«, sagte er kalt. »Wie ist es möglich, daß die Luftbremsen versagen?« »D – das – ist unmöglich. Sie müssen vorn ganz all 182
mählich die Preßluft abgelassen haben. Die Bremsen schliffen vorhin.« »Eine Beschädigung?« Der Zugführer schüttelte den Kopf. »Es hätte gebremst. Nur absichtlich – vorn – die Leute sind verrückt – Gott im Himmel…« Sun Kohs Gesicht war schmerzhaft starr. Welche Teufelei war hier im Gange? »Sind wir bald auf ebener Strecke, daß der Zug sich unter Umständen ausläuft?« Der Beamte schlug die Hände vor das Gesicht. »O Gott, nein – Gefälle bis zum Sacramento hin unter. Dort fahren wir in den Tod, wenn nicht schon früher.« »Könnte man versuchen, den Zug auf ein Neben gleis zu bringen?« »Unmöglich«, ächzte der andere. »Sie sind alle kurz, es wäre der sichere Tod für uns alle.« »Wieviel Leute sind vorn?« »Auf jeder Maschine zwei.« Sun Koh ließ den Mann zusammensacken, drängte sich durch die Umstehenden hindurch und raste nach vorn, der Lokomotive zu. Der Fernschreiber ratterte, der Papier streifen glitt durch die Finger des Beamten. »Chef, Chef, hallo – um Gottes willen. Malburn meldet, daß L 103 mit über 180 Kilometer Ge 183
schwindigkeit den Berg herunterkommt. Sämtliche Haltesignale überfahren. Lokpersonal läßt sich nicht sehen. Katastrophe unvermeidlich. Nicht aufhalten. Geschwindigkeit für Ableitung zu groß. Fahrt frei stellen! Knallkapseln legen!« Der andere Beamte war totenblaß, riß sich den Kragen auf. »Um Himmels willen, sind die Kerle verrückt? Das ist – ist…« Mit zitternden Händen griff er zum Hörer, schrie hinein: »Dort Stellwerk eins? Hier Mapper. L 103 kommt wie wahnsinnig, überfährt alle Signale. Strecke für Durchfahrt frei machen, schnell!« Stammelnd kam es zurück: »Strecke ist noch be setzt – besetzt. G 54 ist eben herein.« »Hölle und Teufel! Frei machen, sag ich dir, frei machen um Gottes willen! L 103 fährt ins Unglück.« »Keine Zeit zum Rangieren«, schrie es zurück. »Ablaufen lassen nach Marhow, dort auf Neben gleis. Höchste Geschwindigkeit. Los, los!« Er warf den Hörer hin, brüllte den Assistenten an. »Mensch, worauf wartest du noch? Weitergeben nach Marhow, sie sollen Durchfahrt frei machen. G 54 kommt, soll auf Nebengleis. Muß weg sein, bevor der Höllenzug kommt.« Der Mann gab seine Schreckensnachricht an die nächste Station. »Gib Signal, du Idiot«, knurrte der Lokführer von 184
G 54 ärgerlich und biß in sein Brot. »Hallo? Höchster Notruf? Was ist denn da los?« Das Brot flog in die Ecke, die Hand drückte den Signalknopf, dann betätigte der Mann einen Hebel. Schwerfällig ruckte der lange Zug an, begann zu rollen. Der Zugführer winkte wild und hatte noch keine Lust, aufzuspringen. »Lauf zu Fuß, Idiot«, knurrte der Lokführer. Er wäre kein Lokführer gewesen, wenn er nicht seinem Zugführer einen kleinen Reinfall gegönnt hätte. Am Stellwerk stand schon der Weichenwärter und winkte wie besessen. Der Lokführer bremste ab, aber der von unten schrie: »Weiter, weiter!« Schon hing er am Trittbrett, schien zu fallen, klet terte dann hoch. »Mit größter Geschwindigkeit nach Mathow, ihr kommt dort auf Abstellgleis. L 103 ist hinter euch her, das Lokpersonal ist anscheinend betrunken, geht über alle Signale hinweg, hat über 180 Kilometer Ge schwindigkeit. Wenn ihr euch nicht beeilt, knallen sie auf euch auf.« »Verdammt!« fluchte der Lokführer. »Drückt drauf, Jungens!« schrie der Stellwerks mann und glitt hinunter, sprang, stürzte und kam wieder auf die Beine. G 54 donnerte los. Dort kommt er. »Halt! Halt! So haltet doch an! Halt! Halt!« 185
Wie eine Höllenerscheinung raste L 103 heran, donnerte, klirrte und rasselte über die Weichen und verschwand wie ein fauchender Spuk in der Ferne. Zwei Lokomotiven und kein Mensch zu sehen. Dutzende von Luftbremsen und keiner zog sie. Hunderte von Menschen und alle waren verloren. Würde es G 54 schaffen? Kam er rechtzeitig durch, daß die Strecke frei wurde? Er schaffte es. Eben knirschte die Weiche herum, als der rasende Zug auch schon darüber hinwegdon nerte. Durch die Schluchten der Felsen und durch das fassungslose kalte Grauen der Stationen hindurch raste L 103 in die sichere Katastrophe hinein. * In Rantown wurde bereits der Hilfszug alarmiert, die Schnellzuglokomotive 17 835 stand auf dem Neben gleis und wartete auf die Weiche. Dicht neben ihr wuchtete Stellwerk zwei hoch. Das vorspringende Fenster war geöffnet, der Stellwerker beugte sich eben hinunter und schrie: »Eben durch Yelling durchgerast. Sie werden kaum bis zu uns kommen, bleiben sicher schon in der Kurve bei 201 hängen.« Ralph Kettwright, der Lokführer, reckte sein rot braunes, hartes Gesicht nach oben. »Und wenn sie durchkommen?« 186
»Dann fahrt ihr mit dem Hilfszug hinterher, damit ihr gleich an Ort und Stelle seid. Bis Morrison geht’s, ist freie Strecke und etwas Steigung, aber dann gnade ihnen Gott. Bei der Brücke gehen sie zum Teufel.« »Verdammt«, fluchte Kettwright, »und wir trotten hinterher und sehen zu. Mein bester Freund ist auf der Maschine. Warum versucht man nicht, sich hinten anzuhängen und so abzustoppen?« Der Stellwerker schlug sich an die Stirn. »Narr, verfluchter! Du weißt ganz genau, daß nie mand den L 103 einholt. Und wer soll denn kuppeln?« Kalt und verächtlich schallte es zurück: »Meine Maschine kommt hinterher. Und das andere traue ich mir allemal zu. Ich bin nicht umsonst eine Zeitlang zur See gefahren.« Der Weichenwärter stierte hinunter, murmelte et was und verschwand ziemlich plötzlich. Man hörte ihn am Telefon schreien. Dann warf er sich förmlich heraus. »Kettwright, ich habe mit dem Boss gesprochen. Er hält dich für verrückt, aber du sollst es versuchen. Tausend Dollar will er aus seiner Tasche zahlen.« In den Augen des Lokführers blitzte es auf. Er ließ die Tür los, spuckte in seine Hände. »Die kann er sich sonstwohin stecken.« »Ich lasse euch raus, sobald der Zug über die Weiche ist«, brüllte der Stellwerker herunter. »Das will ich hoffen. Ich zerre dir die Ohren lang, 187
wenn du nicht schnell genug bist. Und – wenn es nicht glückt, wenn wir zum Teufel gehen und den Zug bis Morrison nicht kriegen, dann gebt um Gottes willen Nachricht hinunter, daß die in Morrison die Weiche unter dem letzten Wagen springen lassen.« »Du bist verrückt!« »Das gibt ein oder zwei Wagen voll Tote, aber die letzten, die durch die Weiche umgeworfen werden, halten die andern auf. Besser zwanzig Tote als zwei hundert.« »Die Kupplungen werden reißen. Aber ich werde mit dem Boss sprechen.« »Achtung!« Sekunden und Minuten dehnten sich. Dann schob sich die schwarze Spitze zwischen den Felsen heraus, dumpfes Rollen brummte aus den Gleisen hoch, die Weichenlampen zitterten, der Zug donnerte klirrend heran, brauste vorüber, heulend wie ein Höllenspuk. »Ein Mann auf der Lokomotive. Eben springt er über!« gellte der Weichenwärter und fuchtelte mit dem Arm. »Wirf deine Weiche um«, schrie Kettwright grob hinauf und drückte gleichzeitig den Hebel nach links. Die Lokomotive stampfte förmlich sprunghaft vor wärts, gewann Tempo, die Speichen der Räder be gannen sich zu verwischen. Dreißig Meter hinter dem Schlußzeichen des Zuges fledderte die Lokomotive über die Weiche. 188
Sun Koh sah bereits die nächste Station vorüber blitzen, als er von der Tür des ersten Wagens aus auf den Tender der Lokomotive aufsprang. Er schnellte sich hoch, fing einen wilden, schaukelnden Stoß ab und sprang schon wieder in die Tiefe, in die Loko motive hinein. Auf dem Lokführerstand lagen zwei Männer. Der eine war sitzend zusammengesunken, der andere lag mit dem Oberkörper über der Steuerung. Beide waren tot. Der Lokführer war in den Rücken geschossen worden, der zweite Mann wohl kurz darauf in die Brust. Sun Koh stellte das flüchtig fest, dann kümmerte er sich um die Maschine selbst. Er verstand wenig von all den Apparaten und Hebeln, doch er besaß ein feines Kombinationsvermögen. So stellte er sich denn breitbeinig vor die Apparatur und dachte mit unbeweglichem Gesicht nach. Es sah aus, als ob er ungeheuer viel Zeit hätte. Trotzdem wußte keiner so genau wie er, daß jede Sekunde wertvoll war. Aber er wußte zugleich auch, daß sinnloses Herumprobieren nicht den geringsten Zweck hatte und die Zeit nur vergeudete. Noch immer war das Denken der schnellste Weg zum Handeln gewesen. Minuten vergingen. Endlich kam Leben in die starre, nur unter den 189
Stößen leicht schaukelnde Gestalt. Sun Koh griff nach einem Hebel, der links an der Backe lag. Ein Ruck, dann schlug er rechts an. Der zweite Griff galt einem Metallbügel weiter hinten. Er kam herunter, wollte zurück, bis Sun Koh die Stange mit einem harten Druck quer gegen die Öffnung bog. Das geöffnete Sicherheitsventil zischte. Ziehen würde diese Ma schine nicht mehr. Aber auch nicht bremsen. Sun Koh erfaßte die Be deutung der endlosen Schraube mit der vorliegenden gesperrten Kurbel, die der Körper des Lokführers deckte. Er wagte es aber nicht, die Steuerung her umzulegen, weil er nicht genau wußte, ob nicht da durch eine Katastrophe hervorgerufen werden würde. Nun kletterte Sun Koh hinaus, lief auf dem schmalen Steg entlang, hielt sich am Gestänge fest, schwang sich um die Windschneider herum und stand vorn auf dem breiteren Absatz. Vor ihm schlingerte die vordere Lokomotive. Station. Wie eine Vision huschte sie vorbei. Er sprang nach vorn. Im Führerstand fand er nur einen Mann, den Rük ken durchschossen, Blutstreifen am Mund. Die rechte Tür war halb geöffnet. Wo war der Lokführer? Sun Koh brauchte jetzt nicht von neuem nachzu denken. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er den 190
Fahrthebel herumgelegt, das Ventil aufgerissen und die Handbremse eingeworfen. Verlangsamte sich die Fahrt? Es war keine we sentliche Verminderung der Geschwindigkeit festzu stellen. Voraus geisterte der krachende, zermalmende Tod. Die Lokomotive zogen zwar nicht mehr, aber ihre Last und die des Zuges würde in Verbindung mit dem dauernden Gefälle genügen, um im gleichen wahnsinnigen Tempo weiterzurasen. Da wagte er das Äußerste. Er warf sich auf die Handbremse, drückte sie mit voller Kraft hinunter, daß sich die Bremsbacken fest bissen und die Räder blockierten, so daß diese krei schend und wimmernd über die Schienen glitten. Dann riß er den Sperrhebel der Steuerung zurück und drehte die Kurbel, vorsichtig erst, dann entschlossen, bis der Läufer anschlug. Nun bog er mit einem Druck die Ventilstange wieder zurück, schließlich drückte er vorsichtig den Fahrthebel nach links. Die Maschine bockte, stampfte und schlingerte, als wolle sie im nächsten Augenblick aus den Schienen springen. Die Last hinten schien sie erdrücken, über rennen zu wollen. Aber dann wurde die Fahrt lang samer. Höchste Zeit – schon kam die nächste Station in Sicht. Höchste Zeit, denn dem unerschrockenen Kett 191
wright war es noch immer nicht gelungen, die Kupp lung überzuwerfen. Allerhöchste Zeit, denn schon hatte ein Weichen wärter die Hand am Hebel, um ihn unter dem letzten Wagen umzulegen und mindestens dessen Insassen in den sicheren Tod zu schicken. Aber eben noch zur rechten Zeit. An Hunderttausenden von Rundfunkapparaten at meten die Menschen freier, als die farblose Stimme des Ansagers flüsterte: »Eben kommt die Meldung, daß man den Zug in Morrison glatt durchgelassen hat, weil sich seine Geschwindigkeit sichtlich vermin dert.« Eine Stunde später fuhren Sun Koh und seine Begleiter auf dem Hilfszug die Strecke zurück. Immerhin dauerte es lange, bevor die Wasser scheide erreicht wurde. Jenseits dieser Wasserscheide mußte der fehlende Lokführer die Lokomotive frei willig oder unfreiwillig verlassen haben. Das konnte nicht besonders weit vom höchsten Steigpunkt ent fernt geschehen sein. Ivers galt als zuverlässiger Mann, der das Äußerste getan hätte, um ein Unglück zu verhüten. Der Verbrecher konnte aber auch nicht viel früher abgesprungen sein oder überhaupt nicht früher, sondern sicher erst später. Man mußte ihn also auch kurz hinter dem Paß finden, wenn er sich über haupt noch in der Nähe der Gleise befand. 192
Die mächtigen Scheinwerfer des Hilfszuges warfen ihre weißen, grellen Lichtfluten auf die Streifen rechts und links von den Schienen. Der Zug fuhr langsamer. Ein Dutzend Männer starrte nach vorn und zur Seite. Zwei Mann schrien auf, im gleichen Augenblick schlugen auch schon die Bremsklötze an. Die Eisen räder rutschten kreischend über die Schienen, rollten wieder, kreischten von neuem, dann stand der Zug. Die Männer sprangen in die Nacht hinaus und rannten zurück. Sun Koh jagte allen voran. Als erster erreichte er die dunkle Gestalt neben dem Schotterdamm. Das war der Lokführer. Wenige Meter entfernt lag ein zweiter Mann. Er war ein Stück tiefer gerollt. Das konnte nur Jefferson sein. Sun Koh eilte zu ihm hinunter. Um den Lokführer würden sich die anderen kümmern. Da lag eine Brieftasche kurz vor Jefferson. Sun Koh hielt an und nahm sie auf. Ein Paß auf den Namen Latoff und ein zweiter auf fremden Namen, amerikanische und mexikanische Dollars, ein Scheckheft, ein Bündel enggefalteter Pa piere mit Formeln und Entwicklungsreihen, der Name Kilmanock… Die Brieftasche Latoffs. Die Papiere, die Sun Koh suchte. Die flüchtige Durchsicht dauerte nur Sekunden, 193
dann steckte Sun Koh die Brieftasche ein und trat vollends an Jefferson heran. Er lag auf dem Rücken. Die offenen Augen starrten leblos zum Nachthimmel. Jefferson war tot. Er hatte sich das Rückgrat gebrochen, wie der Arzt später feststellte. Aber Stephe Ivers, der Lokführer, lebte noch. Er war durch einen glatten Durchschuß schwer, aber nicht hoffnungslos verletzt worden und konnte den Männern des Hilfszuges einen Bericht abstatten, aus dem der Verlauf des Dramas ersichtlich wurde. Stephe Ivers hörte rund hundert Kilometer vor der Wasserscheide plötzlich einen Schuß. Als er sich verwundert umwandte, sah er seinen Kollegen neben sich zusammenbrechen. Er entdeckte auf dem Tender eben noch einen Fremden, dann spürte er einen Schlag gegen die Brust und verlor das Bewußtsein. Ungefähr eine Stunde lang blieb er bewußtlos auf dem Führer stand liegen, während Jefferson sein verbrecherisches Werk einleitete. Dann kam er wieder zu sich und wurde sich bewußt, was geschehen war. Er sah wie durch einen Schleier hindurch, daß der Fremde eben die Lokomotive verlassen wollte. In einer Aufwallung von Wut und Pflichteifer warf er sich auf Jefferson, der schon halb draußen stand und von dem Angriff völlig überrascht wurde. Auf dem schmalen Blech rahmen an der Tür der Lokomotive entspann sich ein 194
kurzer, aber dramatischer Kampf, der für beide Männer mit einem Sturz in die Tiefe endete. Im Aufschlagen verlor Stephe Ivers wieder das Be wußtsein. Dieser Bericht trug wesentlich zur Klärung bei. Auch Sun Koh hätte noch einiges dazu beitragen können, aber er besaß wichtige Gründe, darauf zu verzichten. »Es war ein Glück, daß ich die gesuchten Papiere so schnell fand«, sagte er später zu seinen Begleitern. »Die Öffentlichkeit wird so nichts von den Dingen erfahren, die sich am Rand der Ereignisse abgespielt haben.« »Man hat aber den toten Latoff im Zug gefunden«, warf Hal ein. »Und ganz richtig angenommen, daß Jefferson der Mörder war und den ganzen Zug vernichten wollte, um seinen Mord zu vertuschen.« »Das stimmt ja auch.« »Gewiß, nur hoffte Jefferson noch mehr zu errei chen. Er wollte auch Mister Byler beseitigen. Wahr scheinlich wußte er, daß wir Latoff verfolgten.« »Gott sei Dank, daß dieser Mensch tot ist«, seufzte Byler. »Ich habe nie vor jemandem solche Furcht gehabt wie vor ihm. Er hat mich völlig aus der Fas sung gebracht. Hoffentlich denken Sie deswegen nicht schlecht von mir?« Sun Koh lächelte ihn beruhigend an. 195
»Keineswegs, Mister Byler. Im übrigen ist es ja nicht Ihre Aufgabe, den Helden zu spielen. Auch Sie werden Schlachten schlagen, aber solche, bei denen wirtschaftlicher Instinkt, Klugheit und Geld eine Rolle spielen.« Byler lächelte halb erleichtert, halb schüchtern zurück. »Offen gestanden, das ist mir auch lieber, als mit der Pistole in der Tasche herumzulaufen.« »Zumal wenn man sich ohnehin nicht zu schießen traut«, feixte Hal. »Sind denn die Papiere nun eigent lich die richtigen?« »Sehr wahrscheinlich. Es sind die Aufzeichnungen der Professoren Kilmanock und Meyer. Sie müssen natürlich erst gründlich durchgeprüft werden, aber Jefferson hatte außerdem nichts Wichtiges bei sich.« »Dann hätten wir unser Ziel doch noch erreicht.« Sun Koh nickte. »Also alles in Butter«, stellte Hal fest. »Du tust gerade wieder einmal so, als ob du dich höchst persönlich angestrengt hättest.« »Habe ich doch auch«, begehrte Hal auf. »Wenn ich nicht im Aussichtswagen meine Augen offen gehalten hätte…« ENDE Bitte beachten Sie die Vorschau auf der nächsten Seite. 196
Als SUN KOH-Taschenbuch Band 8 erscheint:
Freder van Holk
Die flüsternden Knoten
Ein Bündel Knotenschnüre verschwindet, und Hal trinkt zuviel. Die Steine beginnen zu reden, Atarasca erkennt den Sohn der Sonne, und die Berginkas öffnen Sun Koh ihr verschlossenes Reich. Im Tempel der Sonne entdeckt Sun Koh, was Pizarro entging. Hal reist Huckepack, eine Expedition geht einen gefährlichen Weg und ein Minister wird eifrig. Eine verratene Kultur wird nicht wieder lebendig, erhält aber einen Natur schutzpark. Vergangenheit und Zukunft verkno ten sich in Sun Koh. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschrif ten- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich.