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Über dieses Buch Ota Filip, der tschechische Fabulierer von Seltenheitswert, hat mit seinem dritten Buch einen bitter-komischen Schelmenroman geschrieben. In der kleinen tschechischen Bergbaustadt Schlesisch Ostrau, dort an der Dreiländerecke, aus der Ota Filip stammt, ereignen sich merkwürdige Geschicke und Geschichten im Wandel der politischen Zeitläufte zwischen 928 und 945. Chaotisches würde im Städtchen passieren bei diesem seltsamen Gemisch seiner Bürger aus Tschechen, Polen, Deutschen und Juden, aus Nationalisten, Kommunisten, Opportunisten und Verrätern, wenn es nicht eine gemeinsame Leidenschaft gäbe, nämlich die für die Fußball- und Eishockeymannschaft F. C. Schlesisch Ostrau. Sicher ist es kein Zufall, jedenfalls für den Leser nicht, daß der kleine Held und Erzähler der Geschichte, Lojzek Lapáček, just in der Stunde am ersten Septembersonntag des Jahres 928 zur Welt kam, als der F. C. Schlesisch Ostrau nach einem sensationellen Sieg über den F. C. Mährisch Ostrau in die obere Klasse aufstieg. Diese Sternstunde der Geburt und Lojzeks Vater, der Vereinssekretär des F. C., sorgten dafür, daß sich das Leben des mit medialen Kräften begabten Traumtänzers Lojzek von Anfang an eng mit den wechselnden Geschicken der Fußballelf und seiner »Manager« verband. Trickreich wie ein Dribbelkünstler des F. C. läßt sich der kleine verträumte Schweijk durch diese verwirrende Welt treiben, die doppelt kompliziert, gefährlich und unverständlich wird durch die wechselnden politischen Ereignisse, das Kommen und Gehen des Großdeutschen Reiches. Skurrile Typen gedeihen in dieser Stadt – Spiritisten, Taschendiebe, Nationalisten, Heilsverkünder, Kollaborateure, vergrämte und lüsterne Frauen, Geldfälscher, Spekulanten, Funktionäre und die neuen Genossen. Der Fußballklub, so zeigt sich, bildet einen Mikrokosmos in einer Stadt, in der sich wie nirgend und überall Geschäfte, Politik und private Rankünen zu einem schwer durchdringbaren Knäuel verstricken. Aber der kleine Lojzek, vom Mystizismus der Gegend durchdrungen, kann sich, wenn es zu schlimm wird, in Trance versetzen und über Fußballplatz und Stadt dahinfliegen. Für Ota Filip vielleicht der einzige Ausweg aus der Unveränderbarkeit des Allzumenschlichen.
Über den Autor Ota Filip, 930 in Ostrava/Tschechoslowakei geboren, verbrachte seine Jugend in Prag. Nach dem Abitur zunächst Sportredakteur, dann Studium der Literatur. Zwischen 960 und 968 mehrfache Haft und Verurteilung zur Zwangsarbeit. 968/69 Verlagslektor. Nach 5monatiger Haft wegen »Unterwühlung von Staat und Gesellschaft« Möbelmonteur, Lastwagenfahrer und Bauarbeiter. Ota Filip lebt seit seiner Ausbürgerung im Sommer 974 als freier Schriftsteller und Verlagslektor in München. Die bekanntesten Veröffentlichungen: »Das Café an der Straße zum Friedhof« (968), »Ein Narr für jede Stadt« (969), »Zweikämpfe« (975) und »Maiandacht« (977).
Ota Filip Die Himmelfahrt des Lojzek aus Schlesisch Ostrau Roman
Fischer Taschenbuch Verlag
Fischer Taschenbuch Verlag März 978 Ungekürzte Ausgabe Umschlagentwurf: Studio Laeis unter Verwendung einer Illustration von D. Spengler Titel der Originalausgabe ›Nanebevestoupení Lojzka Lapácke ze Slezské Ostravy‹ Übersetzt von Josefine Spitzer Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages GmbH, Frankfurt am Main © Ota Filip, 972 Deutsche Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 973 Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany 780-ISBN-3-596-22.02-2
Personenverzeichnis Ludva Kocifaj: Torwart; Schauspieler in der religiösen Gruppe seines Vaters; später Plakatkleber Emerich Cach: Verteidiger; Metzger Václav Jurzena: 2. Verteidiger; Plakatkleber; Jurastudent; später Ankläger Karel Pastrňák: Läufer; Sodawasser-Erzeugung; später Speditionsunternehmen; Dispatcher des Staatlichen Transportunternehmens Herbert Gozco: Mittelläufer; Hauer auf der Dreifaltigkeit David Wiesenthal: Läufer; Inhaber der Branntweinschenke »Zur Eiche« Jan Krajiczek: Stürmer; gilt als Intellektueller Vlasta Plevka: Stürmer; Hauer Karel Hyneš: Mittelstürmer; Langstreckenläufer; Geldfälscher; Funktionär des Städtischen Nationalausschusses; Gründer der Gesellschaft »Obroda« Hubert Mušial: Innenstürmer; Erfinder; Leiter des Spiritistenzirkels »Die Jünger« Áda Lakubec: Stürmer; Linksaußen; »der blonde Blitz« Jaroslav Lapáček: Bäcker; Geschäftsführer des F. C. Schlesisch Ostrau; Soldat; ungesichert, ob Vater von Lojzek Lojzek Lapáček: »Leichtsinniges Individuum«; zugleich Erzähler Anna von Zabalski: Großmutter von Lojzek; Witwe des Rittmeisters Georg von Zabalski Anna Lapáček, geb. Zabalski: Mutter von Lojzek, die einmal bessere Zeiten gekannt hatte Řehoř Kocifaj: Schneider; Ludvas Vater; Gründer der Sekte vom »Heiligen Kreuz« Hermína Nosálová: Spiritistin und Kartenlegerin aus Radvanice Emil Votoček: Magister; Apotheker; Schwarzhandel mit Alkohol Frau Rosa Preis: Witwe des Nathan Preis Erich Preis: ihr Sohn; Mitschüler und Nachbar von Lojzek Heinz Hupka: Mitschüler von Lojzek; der mit dem wunden Fuß Adalbert Kudlatschek, genannt Vojta: Freund und Mitschüler von Lojzek Anka Kocifaj: Schwester von Ludva; spielt ebenfalls Theater Karel Motl: späterer Verteidiger beim F. C.; einarmig Kurt Wagner: Gruppenführer bei der HJ
Wenzel (Václav) Deutscher: Lehrer; früher beim S. C. Mährisch Ostrau Eva Schubert: Mitschülerin von Lojzek Josef Tenkler: Lehrer; Klavierspieler; Leiter der Schrammelkapelle Graf Arpád Medessy: wahrscheinlich Vater von Lojzek; Mittelstürmer der Eishockey-Mannschaft H. C. Budapest Dr. Henryk Staniolowský: Vorsitzender des F. C. Schlesisch Ostrau Jakob Hiršl: Lebensmittelerzeugung und Versandfirma Richard Ryšánek: später Läufer beim F. C.; Profiboxer »Rick Ricky«; Europameister im Halbschwergewicht Joža Chryzcke: Torwart beim F. C. 940; Schwarzhändler Arnošt Kremla: Veranstalter von Boxkämpfen Hebrle: Polizeiinspektor; später Oberwachtmeister des Korps der Nationalen Sicherheit Friedrich Tietze: Juwelier Josef Burian: Tietzes Gehilfe Dr. Arnošt Wurzel: Gerichtsrat Freddy Bogner: Kaufhausinhaber Isaak Nesselroth: Seiden- und Stoffgeschäft Josef Humpálek: Aktionär des Kaufhauses ASO Dr. Málek: Steuerberater; Kassierer beim F. C. Schlesisch Ostrau Jerzy Nowakovský: Abgeordneter der polnischen Minderheit Hans König: armamputierter, einäugiger Mediziner und Bataillonsarzt
Die Mannschaftsaufstellung des F. C. Schlesisch Ostrau am ersten Sonntag im September 1928, an dem Lojyek Lapáček geboren wurde Ludva Kocifaj Emerich Cach Václav Jurzena Karel Pastrňák Herbert Gozco David Wiesenthal Vlasta Plevka Hubert Mušial Jan Krajiczek Karel Hyneš Áda Lakubec Spielbeginn: 15.00 UHR
1 Ich kam am ersten Sonntag im September des Jahres 928 zur Welt, gerade in dem Augenblick, als unten auf dem Fußballplatz im Entscheidungsspiel um den Aufstieg in die erste B-Klasse ein Strafstoß ausgeführt wurde. Der F. C. Schlesisch Ostrau hatte damals auf seinem Platz den S. C. Mährisch Ostrau zu Gast. Zu diesem wichtigen Match trat der F. C. Schlesisch Ostrau in folgender Aufstellung an: Im Tor stand selbstverständlich Ludva Kocifaj in seinem violetten Sweater. Doch Ludva war nicht in Form, denn er hatte am Vormittag, vor dem Spiel, mit seinem Vater, dem Schneider Řehoř Kocifaj, Streit gehabt, der Ludva nicht an dem Match teilnehmen lassen wollte, denn er, der sich hauptsächlich seiner Sekte vom »Heiligen Kreuz« und den regelmäßigen sonntäglichen Theateraufführungen widmete, hatte für diesen Sonntagnachmittag die Aufführung einer großen Tragödie im Hof geplant; er hatte sie selbst verfaßt und ihr den Titel »Der Weg des Kreuzes« gegeben. Er hatte Ludva die Hauptrolle zugedacht; denn der Torwart des F. C. Schlesisch Ostrau war ein ausgesprochener Märtyrertyp. Řehoř Kocifaj sollte den Judas darstellen, seine 7
Tochter, die zweijährige Anka, ein sündenloses Englein. Mehr Rollen gab es in diesem Stück nicht. Ich willnichtbehaupten, der Schneider Kocifaj sei nicht fähig gewesen, ein Stück mit größerer Besetzung zu schreiben. In der Tat lehnte er aber jedes Angebot zur Erweiterung der Schauspielerbesetzung ab. Ludva Kocifaj war nach dem Mittagessen von daheim verduftet, hatte sich hinter den Waschkörben in der Fußballer-Garderobe versteckt; mein Vater ließ den Schneider Kocifaj nicht in die Garderobe hinein, und so schrie und drohte der Schneider bis zum Spielbeginn, er werde die ganze Tribüne anzünden. Als dann Ludva Kocifaj in seinem violetten Sweater auf dem Platz antrat, mußten fünf Ordner den alten Kocifaj zurückhalten, damit er sich nicht auf seinen Sohn stürzte. Die Verzweiflung des Schneidermeisters war durchaus begreiflich. In diesem Augenblick, da Ludva den Platz betreten hatte, war es bereits absolut klar, daß die Nachmittagsvorstellung für ein paar alte Weiber aus der Siedlung ins Wasser fiel. Kocifaj tobte, schimpfte und fluchte ganz unchristlich, sein Gesicht lief dunkelrot an, so daß man seine Farbe ganz gut mit der des violetten Torwarttrikots vom hiesigen F. C. hätte vergleichen können. Řehoř Kocifaj resignierte erst, als der Schiedsrichter dieses Entscheidungsspiel anpfiff. In der Verteidigung spielte der Metzgergeselle Emerich Cach. Sein Spiel war stets bedächtig und fußballerisch einwandfrei. Wenn er jemandem einen Tritt versetzte, dann war der Getroffene krankenhausreif. Damit will ich freilich nicht behaupten, daß Emerich Cach ein Rowdy war. Im Gegenteil. Schon auf den ersten Blick verriet 8
seine ganze Persönlichkeit eine friedliche Unsicherheit. Anders läßt sich das nicht ausdrücken. Cach war in seinen Bewegungen und im Denken langsam, wenn man ihm aber im richtigen Augenblick zuflüsterte, was er tun sollte, tat er es sofort, indem er seiner Tat den Stempel gründlicher Vollkommenheit aufdrückte. Václav Jurzena, der zweite Verteidiger, war wiederum ein ganz anderer Typ; ein unbotmäßiger und zorniger Plakatkleber. Nur zu oft ließ er sich zu einem unsauberen Spiel hinreißen und beging seine Fouls mit großem Vergnügen. Es ist also verständlich, daß Jurzena bei den Begegnungen auf dem eigenen Platz zu den Publikumslieblingen gehörte, zugleich aber der Schrecken aller Schiedsrichter und auf den gegnerischen Plätzen der Blitzableiter war, an dem sich aller aufgestauter Groll der lokalen Fußballfans entlud. Der Unterschied zwischen Cach und Jurzena bestand darin, daß Cach Fouls nur auf Anweisung von außen herausführte, Jurzena aber sich derlei bei jeder Gelegenheit leistete. Die stärkste Spielerreihe des F. C. Schlesisch Ostrau in diesem Existenzkampf waren die Läufer. Karel Pastrňák, ein Mann mit dem Horizont und der Moral eines Gewerbetreibenden, der gerade seine Sodawasser-Erzeugung aufgemacht hatte, spielte im Leben wie auf dem Fußballplatz stets so, als ginge es um die nackte Existenz. Er tat immer das Nötige, doch er verstand es, alles so schlau einzufädeln, daß dabei seine Person und seine Fähigkeiten, von denen er eine hohe Meinung hatte, in den Vordergrund traten. Der Mittelläufer, Herbert Gozco, Hauer auf der Drei9
faltigkeit, war sehr schwach. Er raste über das ganze Spielfeld, kein Ball ging bei ihm verloren, aber in den kritischen Augenblicken, wenn es um die Entscheidung ging, klappte Herbert nervlich zusammen und verwandelte sich in einen verzweifelten Halbverrückten, der gerne alle Verantwortung für das Ergebnis allein auf sich genommen hätte. Das Schlimmste aber war, daß diese wütende Aktivität bei ihm mit Momenten totaler Depression rasch abwechselte, und dabei war er sogar imstande, sich zu Fouls zu bekennen, die er gar nicht begangen hatte. Herbert Gozco war von besessener Redlichkeit, ein Mann jenes Schlages, der seine menschliche Unzulänglichkeit durch übersteigerte Gewissenhaftigkeit zu kompensieren suchte. Der dritte Läufer war David Wiesenthal, der jüdische Inhaber der Branntweinschenke »Zur Eiche«, in der der Ausschuß des F. C. Schlesisch Ostrau seine Sitzungen abhielt. David war ein Player, wie man sich einen richtigen Fußballspieler vorstellt. Ich würde sagen, daß er als Fußballer seiner Zeit um gute dreißig Jahre voraus war. Ich habe mir dieses Urteil aus den Legenden gebildet, die noch heute über Wiesenthal kursieren. David war schnell, hart, schoß links und rechts, er konnte Bombenschüsse abgeben, die Verteidigung unterstützen, Steilpässe waren seine Spezialität, er vermochte das Spiel in die Breite zu ziehen oder wiederum rasch anzugreifen und Torchancen für die Stürmer herauszuholen. Als Schankwirt »Zur Eiche« taugte David Wiesenthal nicht viel, er hielt sich in seinem Geschäft gerade über Wasser, er schenkte auf 10
Ankreiden aus und verlieh Geld ohne Zinsen; ich nehme an, die gewerbliche Existenz bot Wiesenthal sozusagen nur den für ihn notwendigen stillen Winkel, in dem er seine Kräfte für die Spiele am Sonntag sammeln konnte. Der Sturm spielte in folgender Aufstellung: Jan Krajiczek, Vlasta Plevka, Karel Hyneš, Hubert Mušial und Áda Lakubec. Jan Krajiczek galt in der Mannschaft als der Typ eines Intellektuellen. Tatsächlich war Krajiczek ein Mann, der an zahlreichen Komplexen litt, von denen der wichtigste und gravierendste darin bestand, daß er nicht wußte, welcher Nationalität er angehörte. Es gab Tage, an denen sich Krajiczek stolz zur polnischen Nationalität bekannte, aber in Depressionsphasen gestand er reumütig, er fühle sich eigentlich von seiner Mutter her als Deutscher. Zu jedem Übertrittstermin hefteten sich die Abwerber des polnischen F. C. Karvin an seine Fersen, steckten Jan die Übertrittserklärung zu und appellierten unter Berufung auf seinen polnischen Vater an seinen polnischen Nationalstolz. An diesen Tagen aber besuchten Krajiczek auch die Funktionäre des deutschen S. C. Mährisch Ostrau und bedrängten ihn, sich doch auf seine deutsche Mutter zu besinnen, dem Ruf seines Blutes zu folgen und die Übertrittserklärung zu ihrem Verein zu unterschreiben. Mein Vater Jaroslav Lapáček, der Geschäftsführer des F. C. Schlesisch Ostrau, hatte aber bereits seine Vorkehrungen getroffen; er hatte Krajiczek ein paar Hunderter zugesteckt und sein Zugehörigkeitsgefühl zu den gelben Farben unseres Clubs auf diese Weise gestärkt. So konnte dann Jan Krajiczek weder den Polen noch den 11
Deutschen die Übertrittserklärung unterschreiben und litt dann gewöhnlich eine Zeitlang unter dem quälenden Gefühl, daß er sich habe kaufen lassen. Daher ist es verständlich, daß Krajiczek ein nervöser, launenhafter Spieler war, daß es eine Ewigkeit dauerte, bis er sich richtig eingespielt hatte; aber wenn ihm dies einmal auf dem Spielfeld gelungen war, hatten alle Torhüter einen heillosen Respekt vor ihm. Vlasta Plevka war ebenfalls Hauer auf der Dreifaltigkeit. Er und Gozco bildeten ein unzertrennliches Paar. Ihr Zusammenspiel auf dem Platz zu beobachten, war ein Genuß für jeden Fachmann, aber leider war Vlasta auch ein Weichling. Wenn Gozco seinen schwachen Moment hatte und zu spinnen begann, wurde auch Vlasta nervös, die Mitte des Spielfeldes wies gähnende Leere auf, der Gegner beherrschte das Feld rings um die Mittellinie, und dort nimmt immer, wie alle Experten wissen, das Unheil für den Torwart seinen Anfang. Ein weiterer Fehler Vlasta Plevkas war dessen Furcht vor dem direkten Zweikampf. Wenn der Gegner ihn scharf anging, wich Vlasta bis zur Flanke aus, schnitt dadurch Gozco, der sich hinter Vlasta zurückziehen mußte, vollkommen ab, und das Ergebnis war das gleiche: Die Mitte des Spielfeldes beherrschte der Gegner. Sonst war Vlasta Plevka ein ziemlich rechtschaffener Bursche. Er war als erster auf dem Platz, half meinem Vater beim Befestigen der Netze an den Toren und beim Nachkalken der Linien. Wenn er für ein gewonnenes Spiel zwanzig Kronen bekam, faltete er die Banknote sorgfältig zusammen und steckte sie ein, bedankte sich 12
mit artiger Verbeugung, wartete auf Gozco und ging dann gemeinsam mit ihm heim. Karel Hyneš, der Mittelstürmer, spielte in der Mannschaft den großen Herrn. Mein Vater hatte Hyneš irgendwo in Brünn eingekauft, wo er in der Division gespielt hatte; aber da er nun schon auf die Dreißig zuging, begann sein Nimbus langsam zu verblassen. Für den F. C. Schlesisch Ostrau aber war er immer noch eine Stütze, auch wenn er manchmal ganz deutlich herumtrödelte und auf das Zuspielen des Balls wartete, um ihn abfeuern zu können. Wenn er nicht seinen idealen Flankenball bekam, machte er innerhalb von fünf Minuten die ganze Mannschaft durch seine Reden sauer. Hyneš wurmte es, daß er es im Sport zu nichts gebracht hatte. Als Nachwuchsspieler hatte man ihm eine große Fußballkarriere prophezeit. Dann hatte er im Divisionsclub gespielt und auf seine große Chance gewartet, die sich aber nie einstellen wollte. Er war ein routinierter Fußballprofi; doch konnte jedermann sehen, wie er Vlasta Plevka auf dem Spielfeld ausnützte, der sich zusammen mit dem Halbstürmer Hubert Mušial für Hyneš zerfranste. Hubert Mušial war der Typ eines mitdenkenden Spielers. Er tat auf dem Platz keinen überflüssigen Schritt, war aber stets da, wo sich gerade der Ball befand. Er verteilte die Bälle geradezu ideal, nur dann, wenn Hyneš zu trödeln begann, wurde Mušial nervös, seine Präzision ließ nach, er schnitt Áda Lakubecs linken Flügel ab, und das Spiel zerflatterte. Wenn Mušial nicht die Katastrophe mit seinem unversenkbaren Tauchboot widerfahren 13
wäre, hätte er bestimmt nicht ein so unrühmliches Ende gefunden. Áda Lakubec spielte am Flügel. Es hieß von ihm, er sei der beste Linksaußen gewesen, der jemals in den Farben des F. C. Schlesisch Ostrau angetreten war. Áda Lakubecs ganzes Leben war damals von einem zweifachen Glauben ausgefüllt: Er glaubte, daß der F. C. bald in die Division aufsteigen würde und ihm, Áda, konnte ferner niemand ausreden, daß die beste Gesellschaftsordnung in der Sowjetunion verwirklicht sei. Für diese Überzeugungen war Áda Lakubec alles zu tun bereit. Auf dem Fußballplatz kämpfte er um den Aufstieg in die höhere Klasse, in der kommunistischen Jugendorganisation für eine bessere Gesellschaftsordnung. Es stimmt, Áda war etwas jähzornig. Ich habe seinen Jähzorn am eigenen Leibe verspürt, als er mir am 4. März 939 in dem Augenblick eine Ohrfeige verpaßte, während ich mir gerade eine Kremrolle, die ich von einem deutschen Soldaten geschenkt bekommen hatte, in den Mund stopfte. Áda Lakubec führte in der Mannschaft das große Wort. Alle respektierten ihn als Autorität, auch wenn dies allen in bestimmten Situationen ziemlich unbequem, ja zuweilen sogar unerträglich lästig war. So, wenn zum Beispiel Áda nach einem verlorenen Spiel theoretisch und praktisch völlig überzeugend nachwies, aus welchem Grunde man es verloren hatte. Bei seiner Argumentation lief es stets darauf hinaus, daß er selbst aus dem Debakel auf dem Fußballplatz mit reinem Schild hervorging, wogegen die anderen den ihren befleckt hatten. Doch niemand wagte es, Áda einen Vorwurf zu machen, 14
Vorwürfe durfte allein Áda machen. Wahr ist jedoch, daß Lakubec während der ganzen neunzig Minuten wie ein Motor auf vollen Touren lief, er spielte noch, wenn die anderen bereits längst resignierten. Aber in seinem Spiel machte sich stets eine gewisse Verzweiflung bemerkbar. Ich glaube, Áda spielte nicht aus Freude am Spiel, sondern um des Sieges willen. Zu gewinnen und zu triumphieren, darin sah Áda den Sinn des Spiels. Verlieren konnte er nicht. Aber selbst wenn ein Spiel verloren wurde, war er imstande, noch aus der schlimmsten Niederlage einen theoretischen Sieg, selbstverständlich nur für sich, herauszuschlagen. Schade, daß ich das berühmte Match am ersten Sonntag im September des Jahres 928 noch nicht selbst sehen konnte. Aber später habe ich von dieser Begegnung und allen, die daran teilnahmen, so viel erzählen gehört, daß ich wohl jede Minute des Spiels rekapitulieren könnte. Ich kam in der sechzigsten Minute dieses grandiosen Matchs zur Welt, als nach einer herrlichen Flanke Hubert Mušials Áda Lakubec das Führungstor schoß. Es stand 3 : 2 für den F. C. Schlesisch Ostrau. Eintausendneunhundertdreizehn zahlende Zuschauer, darunter mein Vater als nichtzahlender Zuschauer, denn er war ja der Geschäftsführer des Clubs und hatte das Privileg, seine Brezeln in den Halbzeiten verkaufen zu dürfen, brüllten: Tor! Das erste, was ich vermutlich vernahm, als ich mich auf die Welt herausschälte, war das Gebrüll vom Platz unter unseren Fenstern. Es war ein warmer Sonntag, die Fenster unserer Woh15
nung standen weit offen, und sowie unten das Gebrüll der eintausendneunhundertdreizehn Zuschauer verstummte, begann ich zu schreien. Mein Vater stand in diesem Augenblick beim Südtor, das Ludva Kocifaj verteidigte. Der Vater hörte mein Schreien und konnte sich wohl gleich denken, daß er einen Sprößling bekommen hatte. Er konnte jedoch seinen Standort hinter dem Tor des F. C. nicht verlassen, denn er mußte den Verteidiger Emerich Cach im Auge behalten, der, weil von etwas langsamer Denkart, von Zeit zu Zeit einen Rat nötig hatte. Wahrscheinlich trieb es meinen Vater in die Wohnung hinauf, um nachzusehen, was ihm da eigentlich geboren worden war, aber gerade, als er daran dachte, wenigstens auf einen Sprung sich davonzumachen, wälzte sich ein hervorragender Angriff des deutschen S. C. Mährisch Ostrau gegen das Tor unseres F. C. Der Vater ließ Cach nicht aus den Augen und hielt sich bereit, den Metzger zu beraten. In einer so kritischen Situation war nicht mehr daran zu denken, vom Platz wegzugehen und den langsamen Cach sich selbst zu überlassen. Der rechte Innenstürmer des S. C. Mährisch Ostrau, Václav Deutscher, drang mit einem unaufhaltsamen Dribbling durch die Mitte des Spielfeldes, wo Karel Hyneš wieder einmal herumtrödelte, spielte den Ball seinem Verbindungsmann zu, bekam ihn wieder, und da war Václav Deutscher – damals nannte er sich noch Václav, später nur noch Wenzel – auch schon vor dem Tor des F. C. Schlesisch Ostrau, und im Wege stand ihm lediglich der unentschlossene, langsam denkende 16
Emerich Cach. Emerich sah sich verzweifelt nach dem eigenen Tor um, hinter dem mein Vater stand, und in seinen Augen stand die Frage: ›Was soll ich jetzt tun, Herr Geschäftsführer?‹ Mein Vater trat hinter dem Tor von einem Fuß auf den anderen, der Korb mit den Brezeln stand zu seinen Füßen, in seinem Rücken vernahm er mein Schreien, denn eintausendneunhundertdreizehn zahlende Zuschauer erstarrten und hielten den Atem an. Vor sich sah der Vater den verzweifelten Emerich Cach mit seiner Frage in den Augen und sah auch, wie Václav Deutscher sich bereit machte, das Leder in das Tor des F. C. hineinzupfeffern, in dem Ludva Kocifaj stand; und Ludva war nicht in Form. Jedermann wird begreifen, daß sich mein Vater in einem solchen Augenblick unmöglich vom Tor wegstehlen konnte. »Jesus Maria«, hauchte mein Vater, »Jesus Maria!« Dann aber raffte er sich doch auf und rief: »Emerich, leg diesen Intelligenzler um, leg ihn um!« Den Deutscher nannte mein Vater nur »Intelligenzler«, denn Deutscher studierte zu dieser Zeit bereits an der deutschen Lehrerbildungsanstalt und widmete sich auch dem Operngesang auf einer Laienbühne. »Aus dem wird nie ein Fußballer werden«, pflegte angeblich mein Vater zu sagen, »diese Intelligenzler sind als Fußballer überhaupt nichts wert.« Emerich Cach, Metzger und Verteidiger, von schwerfälliger Denkart, handelte augenblicklich, aber dennoch zu spät. Deutscher wurde zwar von ihm niedergestoßen, 17
aber bereits hinter der Strafraumgrenze und noch dazu in einer ausgesprochenen Torschußposition, so daß der Schiedsrichter gar nicht anders konnte, als gegen die Platzherren einen Elfmeter zu verhängen, auch wenn er zu dieser Entscheidung offensichtlich den letzten Rest seiner Standhaftigkeit mobilisieren mußte. In einer solchen Situation konnte mein Vater unmöglich den Platz verlassen. Ludva Kocifaj im Tor fühlte sich wahrscheinlich auch nicht sehr wohl. Offenbar begann er aufrichtig zu bedauern, jetzt nicht lieber in der Rolle eines Märtyrers auf der Bühne zu stehen. Lieber Gott, betete er vermutlich, vergib mir meinen Ungehorsam gegen meinen Vater. Lieber Gott, betete wohl mein Vater hinter dem Tor, wenn dieser Intelligenzler den Strafstoß in ein Tor verwandelt, wenn er ihn verwandelt, dann weiß ich nicht, was passiert … lieber soll es ein Mädchen sein, Allmächtiger, aber er soll ihn nicht verwandeln! Deutscher legte sich den Ball auf der Markierung zurecht. »Ludva«, flüsterte mein Vater dem Tormann zu, »gib auf die linke Ecke acht, die linke Ecke war schon immer deine schwache Seite, bestimmt weiß das dieser Intelligenzler … Jesus Maria, wenn das der Deutscher doch lieber nicht wüßte!« Eintausendneunhundertdreizehn zahlende Zuschauer schwiegen betroffen. Die Vision eines Aufstiegs zerrann. »Du hättest ihn dir, Emerich«, flüsterte mein Vater 18
dem Verteidiger zu, »hart hernehmen sollen, damit er nicht mehr aufstehen konnte …« »Dieser Bastard ist wie eine Katze, wie eine Katze, ich habe ihn mir hergenommen, ganz schön, einen anderen hätten die Sanitäter schon längst weggetragen, aber dieser Bastard wird einen Elfmeter schießen …« »Mein Gott, lieber soll es ein Mädchen sein, nur soll er den Elfmeter nicht verwandeln«, hauchte mein Vater. Angeblich schrie ich aus vollem Hals, aber niemand hörte mich. »Lieber Gott«, flüsterte mein Vater, »sei wenigstens an dem Tag, an dem ich Vater geworden bin, gerecht zu mir. Ich kann doch unmöglich heute eine so große Enttäuschung erleben, soll es also ein Mädchen sein, nur soll er ihn nicht verwandeln!« Die Sonne verbarg sich bereits hinter dem Rathausturm. Ludva Kocifaj entledigte sich seiner Mütze. »Achtung auf die linke Ecke, Ludva«, flüsterte mein Vater. »Lieber Gott, ich ergebe mich in deinen Willen, wenn Kocifaj den Ball fängt, habe ich bestimmt einen Jungen, wenn er ihn durchläßt, ist es ein Mädchen … aber dieser Intelligenzler soll den Elfmeter nur nicht verwandeln, dann nehme ich auch ein Mädchen in Kauf.« Václav Deutscher schoß einen scharfen Flachball ab. Er ging knapp neben dem rechten Pfosten ins Aus. Ludva Kocifaj lag beim linken Pfosten und begriff wahrscheinlich überhaupt nicht, was da geschehen war. Meinem Vater begannen die Knie zu zittern. »Jesus Maria, wetten, daß es Zwillinge sind«, hauchte er, »bestimmt habe ich Zwillinge.«
2 Im Frühjahr des Jahres 968 empfing unser Haus den tödlichchen Stoß. Es empfing ihn und stürzte zusammen. Doch es hielt sich gut. Erst als die an dem Riesenarm eines Krans befestigte Stahlkugel in seine Zimmerdecken einschlug, wurde es ächzend in die Knie gezwungen. Den letzten Volltreffer bekam das Haus in den Fußboden unseres Kabinetts, das unser Untermieter, Herr Magister Emil Votoček bewohnt hatte. Der Fußboden des Kabinetts bog sich ganz deutlich durch, schnellte zurück, gab aber dann doch nach; die Mauern stürzten ein, dennoch blieb ein Rest der Zwischenwand stehen, die unsere Wohnung vom Korridor der Frau Rosa Preis getrennt hatte. Frau Preis war Jüdin und kochte daheim für private Mittagsgäste. An dieser Wand war einst Frau Preis gestanden, gegen den rauhen Verputz gelehnt, als der Herr Magister Votoček einmal durchs Vorzimmer an ihr vorbeigegangen war. Die Jüdin hatte ihren Busen vorgestreckt, so daß der Herr Magister ihre Brustwarzen streifen mußte, 20
denn der Vorraum war ziemlich schmal. Doch nicht einmal das hatte Herrn Votoček dazu bewegen können, ihr zu sagen, er habe sich alles endlich überlegt und wolle sich mit Frau Preis zusammentun, damit beide nicht so allein dahinleben müßten, er, ein alter Junggeselle, und sie, die Witwe von Nathan Preis, dem Alteisen- und Altpapierhändler, der aber auch Lumpen, Knochen und Leder annahm. Die Decke unseres Kabinetts stürzte direkt in unseren früheren Bäckerladen hinunter. Von der Backstube meines Vaters im Hof war bereits keine Spur mehr zurückgeblieben. Die Planierraupe hatte sie eingeebnet und auch die Sodawasser-Erzeugung des Herrn Karel Pastrňák mitgenommen, des ehemaligen Läufers des F. C. Schlesisch Ostrau, der aber in seiner Branche nicht sehr erfolgreich gewesen war und später dann ein Speditionsunternehmen gegründet und meinen Vater ins Geschäft mit hineingenommen hatte. Auch unseren Kaninchenstall hatte bereits irgend jemand zerlegt. Vom Dach dieses Kaninchenstalls aus hatte ich immer als Geist meine Großmutter Zabalski erschreckt; in besseren Tagen nannte sie sich Anna von Zabalski, als sie noch die Gattin des Rittmeisters Georg von Zabalski gewesen war, der angeblich im Jahre 9 in Krakau die Regimentskasse veruntreut hatte und zusammen mit der unter dem Namen »Rote Nina« bekannten Soubrette aus der Stadt verschwunden war. Meine Großmutter war eine notorische Alkoholikern. Allerdings trank sie nur Sherry, der ihrer Ansicht nach 21
gar kein Alkohol war. Sobald sie aber zwei oder drei tüchtige Züge aus der Flasche getan hatte, begann sie mit dem Großvater Gespräche zu führen, zu weinen und zu jammern. In solchen Augenblicken stieg ich auf das Dach unseres Kaninchenstalls, von wo aus ich gut in ihr Kämmerchen hinter der Küche hineinblicken konnte, in das sie mein Vater einquartiert hatte, nachdem wir unser Kabinett an Herrn Votoček, den Magister in der Nebenstraße, vermietet hatten. Ich freute mich, meine Großmutter klagen und weinen zu sehen. ›Das ist die Vergeltung dafür‹, sagte ich mir mit Genugtuung, ›daß du meinen Kopf immer mit deinem Knochenfinger so traktierst!‹ Die Großmutter unterrichtete mich in Deutsch, und immer, wenn ich die Konjugation der unregelmäßigen Verben nicht beherrschte, gab sie mir mit ihrem Zeigefinger eine Kopfnuß auf den Hinterkopf. Am Hinterkopf war ich sehr empfindlich, und sie, dieses Aas, wußte das ganz genau. »Georg«, jammerte die Großmutter, »was hast du mir nur angetan, was hast du mir da angerichtet!« ›Recht hat er gehabt‹, sagte ich zu mir, ›sehr gut, daß der Großvater ihr das angetan hat!‹ Ich war von dem Wohlgefühl durchdrungen, daß jemand die Ungerechtigkeit, die meine Großmutter erst später an mir begehen sollte, schon im voraus bestraft hatte. An der Stelle, an der sich mein Vater die Backstube eingerichtet hatte, waren nur die Bodenfliesen zurück22
geblieben. Mein Vater hatte sich auf ihnen Rheuma und chronischen Schnupfen zugezogen; wo er stand und ging, mußte er niesen. Lange Jahre hindurch litt er an Schnupfen. Als unser Haus in die Knie ging, glaubte ich förmlich, meinen Vater niesen zu hören. Die Staubwolke, die sich aus unserem Haus herauswälzte, brachte mir sofort wieder den Duft der Backstube meines Vaters in Erinnerung. Und gleich neben der Backstube schauten die Überreste verrosteter Rohre heraus. Hier hatte Herr Karel Pastrňák, Läufer des F. C. Schlesisch Ostrau, seine Sodawasser-Erzeugung betrieben. Kurz darauf, als Herr Pastrňák bankrott gemacht und der Exekutor ihm die ganze Einrichtung gepfändet hatte, übernahm Emerich Cach, Verteidiger beim F. C. Schlesisch Ostrau, seine Betriebsanlage und begann hier mit seiner Fleischverarbeitung, indem er Kessel aufstellte und eine Selchkammer einrichtete. Aber das war bereits zu einer Zeit gewesen, als Herr Emerich Cach an Gewicht zugenommen hatte und für einen Aufstieg in die Division nicht mehr in Frage kam und mein Vater seinen Platz als Verteidiger des F. C. Schlesisch Ostrau mit dem einarmigen Karel Motl besetzte, den er in Friedek eingekauft hatte. Herr Cach war dem Sport gram geworden, kaufte sich einen Blechkessel und begann jeweils während der Halbzeit seine heißen Würstchen zu verkaufen; doch das Geschäft ging nicht sehr gut, und so ließ er es bald wieder sein. Herr Cach hat es meinem Vater nie verziehen, daß er ihn in der Verteidigung des berühmten F. C. durch einen einarmigen Krüppel ersetzte. 23
Gleich um die Ecke hatte sich die Apotheke befunden, die Herr Magister Votoček leitete. Aus einem Zimmer unserer Wohnung, wo es dem Vater wenigstens zum Teil gelungen war, die Wanzen zu vernichten, hatten wir ein Kabinett abtrennen lassen, das Herr Votoček mietete, um es näher in seine Apotheke zu haben. Sooft ich heute in den Zeitungen lese, daß sich irgendwo wieder einmal ein Regierungskabinett aufgelöst hat, taucht sogleich wieder die Erinnerung an Herrn Votočeks Wanzenburg in mir auf. Herr Magister Votoček beschäftigte sich nebenbei auch mit der Herstellung von stimulierenden Liebeslikören, was ihm ein schönes Geld einbrachte. Außerdem veranstaltete er auch in seinem Kabinett Orgien. Zweimal mußte die Polizei, das heißt Herr Inspektor Hebrle, einschreiten; denn meine Großmutter hatte Herrn Votoček angezeigt, er bringe minderjährige Mädchen in seine Wohnung mit, mache sie mit seinen Tränklein berauscht und führe sich dann unsittlich auf. Nach zweimaligem Einschreiten des Herrn Inspektor Hebrle ging Herr Votoček in sich; er brachte nicht mehr junge Mädchen aus der Siedlung mit heim, sondern stellte sich auf Buben um. Mit mir und Vojta, der eigentlich Adalbert Kudlatschek hieß, hat Herr Votoček keine Orgien veranstaltet. Zweimal versuchte er es zwar, aber als ich und Vojta gegen den Herrn Magister unsere Dolche zückten, wie wir sie zur Uniform des deutschen Jungvolks trugen, begnügte er sich damit, uns als Faschistenbälger zu beschimpfen. Aber dann später, als wir Jungens uns mit Anka Kocifaj verabredeten, mit ihr einmal einen richtigen Beischlaf 24
auszuprobieren, stahlen wir dem Herrn Magister eine Flasche seines wunderwirkenden Liebeslikörs. Und er hat auch verläßlich gewirkt. Neben Herrn Votoček hatte Frau Preis gewohnt. Nach dem tragischen Tod ihres Ehemannes Nathan Preis, der mit seinem Zweitonnen-Laster tödlich verunglückt war, hatte sich Frau Preis einen privaten Mittagstisch für solide Herren und Damen eingerichtet; doch richtige Damen kamen eigentlich nie zu ihr, denn von Frau Preis hieß es, sie sei eine schmuddelige Jüdin. Frau Preis besaß einen Sohn, Erich, der genauso alt war wie ich. Kaum daß ich sprechen gelernt hatte, schimpfte ich schon Erich einen Stinkjuden. Nie schimpfte Erich zurück. Er ertrug die Beleidigungen mit geduldigem Lächeln; und wenn ich ihn mit besonderer Lautstärke beschimpfte, ging er zur Backstube meines Vater, von wo es immer wunderbar nach Brot, Vanille und Mandeln duftete, öffnete die Tür einen Spalt und sagte mit einem Flehen in der Stimme: »Herr Meister, Ihr Lojzek hat mich wieder einen Stinkjuden geheißen …« Dann spendierte mein Vater dem Erich stets eine frische Semmel oder eine Brezel. Nachher beachtete mich Erich nicht mehr, setzte sich auf die Treppe und verspeiste langsam den Leckerbissen, den er bekommen hatte. Aus Beharrlichkeit beschimpfte ich ihn gewöhnlich noch eine Weile, doch konnte ich deutlich beobachten, wie alle meine Schmähungen an dem kleinen Juden 25
abprallten; ich war für ihn nur noch Luft, ich interessierte ihn nicht mehr. Er genoß ganz einfach seinen hart erkämpften Triumph. Es war kein Geheimnis, daß es Herr Karel Pastrňák, Läufer und Sodawasser-Erzeuger, auf das Silber der Frau Preis abgesehen hatte. Frau Preis hatte schon selbst dafür gesorgt, daß man von ihrem Silber in der ganzen Umgebung erzählte. Dann und wann servierte sie den Mittagsgästen ihren sagenhaften Pudding auf wunderschönen Silberschüsseln und prahlte, all das habe ihr der selige Nathan Preis, dieser rechtschaffene Jude, der für seine Familie immer gut gesorgt habe, hinterlassen. In den Jahren, als Frau Preis in unserem Haus für Mittagsgäste kochte, tuschelte man, ihr Silber sei ein Schatz von unvorstellbarem Wert. An einem Wintermorgen des Jahres 94 – es war vor Tagesanbruch und noch dunkel – stand Frau Preis mit ihrem Bündel und ihrem Sohn Erich im Hausflur; sie warteten gemeinsam auf Herrn Karel Pastrňák, jetzt bereits Spediteur, der sie mit dem Lastauto, das er vor Jahren von Frau Preis gekauft hatte und zu dessen Bezahlung er immer noch nicht gekommen war, zum Bahnhof bringen sollte. Im Winter 94 war Herr Pastrňák zu der Überzeugung gelangt, solche alte Schulden zu bezahlen, sei überflüssig, zumal jetzt doch klar war, daß Frau Preis in dem Arbeitslager irgendwo im Osten kein Geld brauchen werde, da von nun an das Großdeutsche Reich für ihren und Erichs ganzen künftigen Unterhalt direkt aufkommen würde. Dennoch hatte sich Herr Karel 26
Pastrňák, ehemaliger Läufer des F. C. Schlesisch Ostrau, verkrachter Sodawasser-Erzeuger und jetziger Spediteur, mutig dazu entschlossen, die Jüdin zum Bahnhof zu bringen, was er jedoch mit einem Wortschwall und einer Geste tat, die eindeutig zum Ausdruck brachte, daß er mit dieser wackeren und patriotischen Tat die ganze Angelegenheit mit dem Lastauto und der Schuld als erledigt betrachtete. Frau Preis stand unten im Hausflur, meine Mutter fünf bis sechs Treppenstufen über ihr. »Glauben Sie, Frau Lapáčková«, fragte Frau Preis, »daß man im Lager gute Köchinnen brauchen wird?« Meine Mutter erwiderte, das sei doch selbstverständlich, wer würde denn sonst für die Leute, die arbeiten müßten und kräftige Kost benötigten, kochen? Ich erinnere mich noch wie heute an Frau Preisens Augen. Sie waren ganz verschattet gewesen. Schatten stiegen ihr vom Fußboden her ins Gesicht und fielen ihr von den Wänden, von links und rechts, in die einzelnen Furchen; nur das Weiße ihrer wunderschönen Augen leuchtete hervor. »Geben Sie auf mein Silber acht, Frau Lapáčková«, sagte Frau Preis, »geben Sie gut darauf acht, geben Sie nur gut acht!« Meine Mutter erwiderte, das sei doch selbstverständlich, Frau Preis möge unbesorgt sein. Erich hielt sich am Rockzipfel seiner Mutter fest und heulte leise vor sich hin. Und wir warteten weiter auf Herrn Pastrňák.
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Mein Mund brannte wie Feuer, meine Lippen waren ganz wund, und vorne fehlten mir zwei Zähne. Am Abend zuvor hatten wir mit einer Gruppe des Jungvolks »Bolschewiken« und »Deutsche Polizei« gespielt. Wie nicht anders zu erwarten war, hatten sie mich zu den »Bolschewiken« eingeteilt, und bei der abschließenden Rauferei auf dem Hühnerring hatte mir dann Kurt Wagner die beiden Vorderzähne eingeschlagen. Den Einser oben hatte ich gleich auf dem Ring ausgespuckt, den Zweier mir dann daheim selbst herausgezogen. Die ganze Nacht hatte ich Blut gespuckt. Am Morgen, als wir mit Frau Preis im Treppenhaus auf Herrn Pastrňák warteten, wurde ich mir dessen bewußt, daß es nicht so sehr die wunde Lippe war, die mich brannte, als vielmehr ein neuer Herd der Pein, ein Reißen, Zucken und Bohren, ein schwärender Schmerz. Und ich konnte auch nicht von Kurt Wagners Augen loskommen. Immer noch ruhte sein Blick mit kaltem, prüfendem Interesse auf mir, vor dem ich mich geduckt und zwei Hiebe direkt auf die Zähne kassiert hatte. Jemand hatte geschrien: »Du tschechisches Schwein!« Kaum hatte ich dieses Schimpfwort vernommen, wurde mir auch sofort klar, wem diese Faust, die mich traktierte, gehörte. Dann wurde auch der Arm sichtbar, ein schwarzer Arm in dunklem Tuch, ich erblickte auch den Kragen der Uniformbluse und darüber Kurt Wagners Gesicht. Ich sagte zu ihm: ›Einmal werde ich dich dafür umbringen!‹ Aber höchstwahrscheinlich habe ich das nicht laut gesagt. 28
Ununterbrochen habe ich diesen Satz für mich wiederholt, ich bemühte mich sehr, mich gehörig in Rage hineinzusteigern, doch Kurt hielt mich mit seinen Augen unten, auf das Pflaster des Hühnerrings hingeduckt. ›Einmal werde ich dich umbringen‹, sagte ich zu mir – und das beruhigte mich. Ich muß etwas über meine wunderbare Fähigkeit sagen. Ich kann fliegen. Wenn ich Lust dazu verspüre, schwebe ich über der Stadt empor, kreise um den Turm des neuen Rathauses, segle gegen den Wind, der aus den Beskiden kommt, oder hinab den Fluß entlang. Sobald ich mich über unser Haus erhebe, sehe ich schon unter mir die weißen Linien des Fußballplatzes des F. C. Schlesisch Ostrau, auf dem zum Beispiel mein Vater gerade die Netze für das sonntägliche Match in die Tore spannt, ich sehe die Schrammen auf dem Pflaster und im Verputz der Häuser, besonders die Schrammen auf der Mauer des neuen Rathauses. Wenn ich über der Stadt schwebe, fühle ich mich von einer ungewöhnlichen Kraft getragen, jegliche Schwere, alle Schmerzen und alles Brennen fallen von mir ab, ich sage, was mir beliebt, ich singe, ich brülle, von einem Gefühl berauscht, das sich nicht so recht beschreiben läßt, ich schreie meine Lästerungen, die mir dort unten das Leben kompliziert machen, aus mir heraus. Meine Fähigkeit zu fliegen ist offenbar eine zusätzliche Begabung, mit der mich die Natur ausgestattet hat. Als Medium war ich nämlich schon immer Klasse. Bereits im zarten Alter hatte Frau Hermína Nosálová, 29
eine Spiritistin aus Radvanice, meine außergewöhnlichen medialen Fähigkeiten erkannt. Lange Jahre hindurch benötigte ich Frau Nosálová dazu, mich in Trance zu versetzen. Aber im Laufe der Zeit hatte ich mich selbständig gemacht, und heute kann ich in Trance fallen, wann immer es mir beliebt. Man sagt von mir, ich sei ein Lügner, das sei alles Erfindung, und was könne man auch anderes von einem notorischen Alkoholiker erwarten. Es stimmt, ich bin auch Alkoholiker. Aber daran ist mein Großvater schuld, der Rittmeister Georg von Zabalski vom 9. Dragoner-Regiment in Krakau. Meine Großmutter hatte das Gerücht verbreitet, mein Großvater sei auf tragische Weise ums Leben gekommen, was nicht der Wahrheit entsprach. Das fand ich sofort heraus, als ich meine medialen Fähigkeiten feststellte. Zusammen mit Frau Nosálová versuchten wir, den Großvater herbeizuzitieren, doch nie meldete sich der Herr Rittmeister; er befand sich nicht unter den Toten. Erst im Jahre 960 zeigte sich mir mein Großvater zum ersten Male – so erkannte ich, daß er das Zeitliche gesegnet hatte – und sagte zu mir, er habe mir 8926 Dollar und 38 Cent vermacht. Als mir die Dollar-Erbschaft in den Schoß fiel, begann ich zu trinken. Und sobald ich mir einen antrinke, scheint es mir sogleich, daß ich rascher in Trance fallen und auch leichter fliegen kann. In nüchternem Zustand dauert es etwa zwanzig Minuten, bis ich in Trance komme. Meine Methode, wie 30
ich sie mir selbst entwickelt habe, ist ganz einfach: Ich muß mich hinlegen, die Arme ausbreiten, meinen Atem zügeln und dann wie ein Vogel, der sich erheben will, aber noch unschlüssig ist, die Arme bewegen. Nach einer Weile muß ich mich in die Unterlippe beißen, aber ganz gehörig, damit es wehtut. Sowie ich mich in die Lippe beiße, beginnt sie zu bluten; an den Lippen bin ich empfindlich. Ich muß also den mit Blut vermischten Speichel hinunterschlucken, dadurch wird mein Brennen angefacht, ich schüre mein inneres Feuer, das mir bis zum Herzen steigt. In dem Augenblick, in dem ich spüre, daß mich der Schmerz betäubt, muß ich meine Armbewegungen beschleunigen, aber ich muß sie rechtzeitig beschleunigen, solange ich noch nicht das Bewußtsein verloren habe. Das ist der kritische Punkt. Wenn ich meine Armbewegungen nicht rechtzeitig beschleunigte, würde mich der Schmerz überwältigen und mich an die Erde festschmieden. Wenn ich aber nicht fliegen, sondern in Trance bleiben und irgendeinen mir bekannten Verstorbenen zitieren will, dann beschleunige ich meine Armbewegungen nicht. In den letzten Jahren ist es mir bereits auf das perfekteste gelungen, den richtigen Augenblick wahrzunehmen, der darüber entscheidet, ob ich mich erheben werde oder liegenbleibe. Die Bahn, die ich über der Stadt beschreibe, ist keine zufällige. Sie ist eigentlich eine Acht. Die nördliche Schlinge ist etwas größer und gedehnter als die südliche, auf deren Bahn ich an Höhe gewinne oder sinke. Ich starte stets im Mittelpunkt der Acht, wo sich die Bahnen überschneiden, 31
das ist direkt über unserem Haus. An Höhe gewinnen kann ich nur über dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau, wo genügend Raum ist. Nach anderen Richtungen hin gibt es für mich Hindernisse: den Rathausturm, das Hügelland Bazaly und die Häuser. Ich steige also zuerst über dem Fußballplatz auf, fliege dann über die Tribünen hinweg, da habe ich bereits die genügende Höhe und überblicke die ganze Siedlung Na Kamenci, die Straße Na zámoští, den Fluß Ostravice und die Dreifaltigkeitszeche, wo gleich nebenan Heinz Hupka, der mit dem wunden Fuß, gewohnt hat. Unmittelbar darauf aber biege ich in Richtung Hrušov ab, zu den Teichen hin, wo Hubert Mušial, ehemaliger Innenstürmer des F. C. Schlesisch Ostrau, Erfinder und später dann Leiter des Spiritistenzirkels »Die Jünger« von Radvanice, sein selbstgebasteltes Tauchboot gleich bei der ersten Erprobung versenkte. Dann nehme ich Kurs auf die Oder, überfliege genau die Stelle, wo ich Ende April 945 das trübe Wasser durchwatet und auf dem anderen Ufer Kurt Wagner mit seiner großen Angst zurückgelassen hatte. Doch dann trete ich bereits den Rückflug zur Stadt an und fliege von hier aus noch über das Haus der Frau Hermína Nosálová, der Spiritistin aus Radvanice. Schließlich verbleibt nur noch das Landungsmanöver; ich sinke zu unserem Haus hinab, fliege durchs Fenster nach innen, lasse mich aufs Bett fallen und kann schon ruhig schlafen. Bevor ich aber wirklich einschlafe, lausche ich noch auf den Glockenschlag der Turmuhr am neuen Rathaus. Nie weiß ich, welche Stunde es schlägt, aber die Glocken tönen sanft wie Himmelsgeläute; immer 32
noch fühle ich mich leicht, doch schon spüre ich, wie die Schwere in meinen Körper eintritt. Dann kommt mein Herrgott zu mir und sagt, ich möge doch schon endlich meinen Sinn den Dingen der Ewigkeit zuwenden. Und ich sage darauf, ich sei erfüllt von Liebe zu Ihm, sie breche sogar bisweilen durch das Loch unter dem Hals nach außen durch. Und der Herrgott lächelt und sagt, er habe so seine Absichten mit mir. Die Glocken des Rathausturmes tönen noch. Nun kann ich ruhig einschlafen. Es war damals, in jener Winternacht, als mir mein Vater auf der Eisbahn einen Schlag mit dem schweren Ende des Gummischlauchs versetzte. Er spritzte das Eis nach, und es herrschte Frostwetter. Ich stand in dem gefrierenden Matsch, konnte mich nicht rühren und spürte, wie ich ins Eis festwuchs und in den Boden darunter, irgend etwas zog mich in die Erde hinein, als wollten sich zwei Feuer miteinander vereinigen: das meine mit dem da unten. Ich ließ den Kopf zurücksinken, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob ich die Sterne oder die Funken ausbrechender Explosionen sah. Bis heute weiß ich nicht, was ich gesehen habe. Doch ich erinnere mich, daß ich ein Zittern an den Fußsohlen verspürte, daß mich dieses aus der Mitte der Erde kommende leise Vibrieren hinunterzog. Mein Vater schrie mir etwas zu. Heute kann ich mir erklären, daß der Vater mir 33
zuschrie, ich solle den Gummischlauch in die entgegengesetzte Ecke der Eisbahn hinüberziehen. Ich hörte ihn aber nicht. Dann folgte der Schlag mit dem Ende des Gummischlauchs. Ich weiß auch nicht, wo mich der Schlag meines Vaters hingetroffen hatte. Erst am nächsten Morgen sah ich unter dem Hals, dort, wo der Brustkorb beginnt, von dem Schlag eine ins Violette spielende Spur. Mein Vater hatte ein Loch in mich hineingeschlagen. Genau nach einem Monat, nachdem Herr Pastrňák Frau Preis zum Bahnhof gebracht hatte, zeigte sie sich mir. Ihre Augen flackerten, und ihr Weißes schimmerte silbern. »Wo befindet sich Erich?« fragte ich sie. »Mein Erichlein ist nicht hier«, erwiderte Frau Preis, »er ist noch nicht hier. Es hat überhaupt nicht wehgetan, Lojzek, nicht ein bißchen. Gebt nur gut auf mein Silber acht!« »Wenn Erich ankommen sollte«, sagte ich, »dann richten Sie ihm aus, daß ich seinen gelben Stern aufbewahre.« »Ich will nicht, daß er mir nachfolgt«, sagte Frau Preis, »das will ich nicht …« Erichs gelben Stern hatte ich mir unters Kopfkissen gelegt. Ich hatte ihn mir von Erich zwei Tage vor seinem Abtransport ins Lager gegen einen LebensmittelkartenAbschnitt auf 200 Gramm Mehl eingetauscht. Wie oft habe ich mir diesen Stern an die Jacke geheftet und mir dabei vorgestellt, was wohl geschehen würde, wenn ich so mit dem gelben Stern der Kinder Israels unsere Schulklasse 34
beträte und mich unserem Herrn Lehrer Wenzel Deutscher präsentierte, jenem, der sich früher Václav genannt hatte und im Entscheidungsspiel um den Aufstieg in die höhere Liga für den deutschen S. C. Mährisch Ostrau gegen F. C. Schlesisch Ostrau angetreten war, gerade an dem Tag, an dem ich zur Welt kam. Damals hatte Herr Deutscher den Strafstoß nicht in ein Tor verwandelt – und war damit für meinen Vater erledigt gewesen. Später wollte der Ausschuß des F. C. Schlesisch Ostrau Deutscher für die Farben unseres F. C. einkaufen, doch mein Vater war dagegen; denn Deutscher war in seinen Augen ein Intelligenzler und Schwächling, der nicht imstande gewesen war, Ludva Kocifaj, den Torhüter des F. C. Schlesisch Ostrau, zu überspielen. Von dem Zeitpunkt an, da der F. C. Schlesisch Ostrau in die höhere Klasse aufgestiegen war, begann man sich eifrig nach einer Verstärkung der Mannschaft umzusehen, und so kam auch die Rede auf Deutscher. Mein Vater war dagegen und sagte, Deutscher sei ein Schwächling mit einem labilen Nervensystem, was er durch die Tatsache bewiesen habe, daß er den Strafstoß in der entscheidenden Begegnung nicht in ein Tor verwandelt hatte, wo doch ganz deutlich zu sehen gewesen war, daß Ludva Kocifaj, der Torhüter unseres F.C, nicht in Form war, weil er mit seinem Vater, dem Schneider Řehoř Kocifaj, Großpriester der Sekte des »Heiligen Kreuzes«, Streit gehabt hatte, der Ludva nicht auf den Platz lassen wollte, weil ihm sonst in seiner biblischen Tragödie der wichtigste Schauspieler gefehlt hätte. 35
Der Ausschuß machte sich die Argumentation meines Vaters zu eigen, und so entging Václav Deutscher die Gelegenheit, in der höheren Klasse Tore zu schießen. Im Jahre 935 stieg der F. C. Schlesisch Ostrau in die Division auf und benötigte erneut Verstärkung, und wiederum kam der Vorschlag, Wenzel, jetzt bereits Wenzel Deutscher, einzukaufen. Die Argumente meines Vaters galten nicht mehr, und er wurde beauftragt, Deutscher aufzusuchen und bei ihm zu sondieren, welche Ansprüche wohl Wenzel für einen Übertritt stellte. Zu jener Zeit begann Wenzel Deutscher bereits den Fußballsport zu vernachlässigen, denn er hatte sich entschlossen, sein weiteres Leben nicht mehr dem unnützen Jagen nach dem Leder, sondern sich der großen Sache des Führers des Deutschen Reiches, Adolf Hitler, zu widmen. Deutscher trat in die Sudetendeutsche Partei ein, schaffte sich kurze Hosen und weiße Strümpfe an, was Wenzel übrigens sehr gut stand, denn er hatte vom Fußballsport gut durchtrainierte Beine. Herrn Wenzel Deutschers Entschluß, den Fußball sein zu lassen, war ein harter Schlag für den Ostrauer Fußballsport an beiden Ufern der Ostravice; denn in den letzten Jahren hatte sich Deutscher zu einem Spieler von hervorragender Qualität hinaufgearbeitet. Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte Wenzel Deutscher im Jahre 935 seine Pläne einer politischen Karriere noch zurückgestellt und die Übertrittserklärung zum F. C. Schlesisch Ostrau unterschrieben, doch das Problern bestand darin, daß der F. C. mit ihm als rechtem Innenstürmer rechnete, so daß der Arier Deutscher mit 36
dem jüdischen Läufer David Wiesenthal, dem Inhaber der Branntweinschenke »Zur Eiche«, im Rücken und mit dem Bolschewiken Áda Lakubec am Flügel hätte zusammenspielen müssen. »Das fehlte mir gerade noch«, erregte sich Wenzel Deutscher, als ihm mein Vater die taktischen Pläne unseres F. C. unterbreitete, »daß ich auf die Vorlage dieses Drecksjuden oder auf den Zuruf des Bolschewiken: ›Zuspielen!‹ warten müßte.« Gegen dieses Argument war mein Vater mit dem Vorschlag herausgerückt, der Ausschuß des F. C. Schlesisch Ostrau sei bereit, Deutscher für den Übertritt fünf Tausender bar auf die Hand auszuzahlen. In diesem Moment war Deutscher sichtlich schwankend geworden, doch seine Nationalehre gestattete es Wenzel nicht mehr, das Angebot anzunehmen. Mein Vater, als erfahrener Abwerber, hatte Wenzels Unschlüssigkeit genau durchschaut, den Ausschuß darüber informiert, und der Ausschuß hielt vorläufig die ganze Angelegenheit geheim, denn jedermann konnte sich leicht vorstellen, was Áda Lakubec wohl aufführen würde, wenn er Wind davon bekäme, was sich da zusammenbraute. Mein Vater hatte dann Deutscher noch ein halbes Jahr lang bearbeitet und langsam auch Áda Lakubec auf die unvermeidlichen Veränderungen in der Mannschaft vorbereitet, wobei es sich ja dann herausstellen würde, wer es mit dem Club aufrichtig gut meinte. Dem Wenzel lag mein Vater in den Ohren, beim Sport müßten Nationalität und Rassefragen zurückstehen, er, der Geschäftsführer des F. C. Schlesisch Ostrau müsse stets nur den Aspekt der 37
zukünftigen Entwicklung im Auge behalten und ohne Rücksicht auf kleinliches Gezänk für eine Anhebung der Spielerstärke in der Mannschaft Sorge tragen. »Es geht doch um die Entwicklung des Sports in unserer Stadt«, hatte mein Vater gesagt, daher müßten Nationalität, Rasse, Religion und politische Überzeugung zurückstehen. Doch Herr Deutscher blieb hartnäckig dabei, er wolle keinesfalls mit einem Juden und einem Bolschewiken in einer Mannschaft zusammenspielen. Im geeigneten Augenblick erhöhte mein Vater das Angebot des F. C. Schlesisch Ostrau auf sechstausend Kronen. Deutscher blieb aber diesmal unerschütterlich. Der Vater ging auf siebentausend hinauf, doch Deutscher reagierte nicht, er biß nicht an. Von diesem Moment an wurde die Frage von Deutschers Übertritt zu unserem F. C. für meinen Vater zur persönlichen Prestigefrage. »Herr Deutscher«, sagte mein Vater, »ich überschreite die mir vom Ausschuß übertragenen Befugnisse … ich biete Ihnen für Ihre Unterschrift achttausend!« Ein solches Angebot brachte Deutscher aus der Fassung. Ganz deutlich gaben seine starken Knie nach. »Also acht Scheine«, flüsterte er. »Acht Scheine auf die Hand, Herr Deutscher«, bestätigte ihm mein Vater. »Das ist ganz schön viel Kies, Herr Geschäftsführer«, meinte Deutscher. Alles wäre jetzt in schönster Ordnung gewesen, hätte der Ausschuß zu den acht Tausendern seine Zustimmung 38
gegeben. Aber der Ausschuß sagte sechs und nicht eine Krone mehr. Die Verhandlungen gerieten ins Stocken, inzwischen hatte Wenzel Deutscher sein Definitivum als Lehrer an der deutschen Volksschule erhalten und war zu irgendeinem Funktionär der Henlein-Partei gewählt worden, so daß er schließlich, als der Vater den Ausschuß endlich überredet hatte und für Deutscher achttausend Kronen bewilligt bekam, bereits finanziell gesichert war und sich die grundsätzliche Erklärung gestatten konnte, er werde mit einem Juden und einem Bolschewiken nicht in einer Mannschaft zusammenspielen. Deutscher ging es offensichtlich bei seinem Übertritt zum F. C. Schlesisch Ostrau nur mehr um den politischen Beigeschmack der ganzen Angelegenheit, deshalb wollte er eben auch seinen Triumph bis zur Neige auskosten. Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr es Deutscher danach verlangte, den Dreß der besten Mannschaft der Stadt anzuziehen, aber es kam nicht dazu. In dem Moment, als er bei der Frage seines Übertritts die Politik mit ins Spiel brachte, scheiterte er. Die Verhandlungen zerschlugen sich. Wenzel Deutscher hatte nun endlich Gelegenheit, sich mächtig aufzuregen und sich beleidigt zu fühlen, und er begann herumzuschreien, er habe die verbündete jüdischbolschewistische Front gegen sich, und er würde es denen schon zeigen. Und er bewies es auch. Er hängte seine Fußballschuhe an den Nagel und widmete sich von nun an nur noch dem politischen Leben. Es genügt, daß ich alte Photos der Mannschaft des F. C. Schlesisch Ostrau auf dem Tisch ausbreite – und sofort 39
bin ich wieder mitten drin. Als erstes sticht mir Áda Lakubecs Bild ins Auge, die Zeitungen apostrophierten ihn immer als »Blonden Blitz« Auch in mich hat dieser »Blonde Blitz« einmal eingeschlagen. Áda Lakubec war es gewesen, der mir am Abend des 4. März 939 vor dem Haupteingang des Stadions des F. C. Schlesisch Ostrau eine Ohrfeige verpaßte, so daß sich mir der Kopf drehte. Ich glaube, ich habe damals schon eine übers Maul verdient, aber darum geht es gar nicht so sehr. Das Wesentliche an der Geschichte ist, daß Áda Lakubec dieser Ohrfeige wegen ins Gefängnis kam. Das letzte Mal, als ich Áda Lakubec sah, da lag er schon tot auf dem Vorstandstisch in einem Saal, in dem im Jahre 968, irgendwann im Juni, eine öffentliche Sitzung der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei abgehalten wurde. Bei dieser Sitzung bekam Áda Lakubec, der ehemalige »Blonde Blitz« des F. C. Schlesisch Ostrau, seinen Todesstoß. Es traf ihn mitten ins Herz, und Áda hatte aufgeschrien; wenn ich jetzt nur nicht lügen müßte und mir nur einfiele, was Áda da eigentlich geschrien hatte, doch ich werde mich schon noch erinnern, bestimmt werde ich mich erinnern, er hatte sich auf den Tisch gestützt und war dann zusammengesunken. Man hatte ihn auf den mit rotem Tuch überzogenen Vorstandstisch gelegt. Ich will versuchen, zwischen mir und Áda Lakubec eine Verbindungslinie zu ziehen. 40
Ich möchte wie auf einem Fußballplatz deutliche Grenzlinien erkennen können, die die Angriffs- und die Verteidigungszone markieren. Áda Lakubec spielte ständig am linken Flügel. Seine Methode war stets die gleiche, auf dem Spielfeld wie auch im Leben. Áda mußte gewinnen. Die Folgen seiner Niederlagen, auch wenn er es immer wieder verstand, sie als theoretisch konstruierte Siege und natürlich als seine Siege hinzustellen, haben ihn wahrscheinlich doch mit der Zeit verbraucht. Von seiner Niederlage im Juni 968 aber hat sich Áda nicht mehr erholt. Ich möchte gerne lügen und sagen: Áda sei brutal niedergestoßen worden. Oder: Er sei den modernen Methoden des Fußballspiels nicht mehr gewachsen gewesen, bei denen redliche Mühe fast gar nichts mehr bedeutet, da sich die Technik des Fußballsports ja weiterentwickelt hat und heute mit einer Methode voller Finten, Schliche, Kniffe und taktischer Züge gespielt wird. Dieser Art des Spiels war wohl Áda eben nicht mehr gewachsen. Mit Áda Lakubec spreche ich jetzt ziemlich oft. Sowie ich in Trance falle, erinnere ich mich sogleich an Áda. Es drängt mich manchmal, ihn zu fragen, wie er mit seinem Tod fertig geworden ist. Aber ich mag nicht. Ich weiß, daß er selbst seinen Tod vor mir mit meisterhaft theoretischen Belehrungen als seinen Sieg herausstreichen würde. Und so sprechen wir nicht darüber. Wir unterhalten uns lieber über die ruhmreichen Zeiten des F. C. Schlesisch Ostrau, als dieser mit dem S. C. Mährisch Ostrau um den Aufstieg gekämpft hatte. Ich neige zu dem Verdacht, daß Ádas Tod die Folge 41
seiner Machtlosigkeit war. Wahrscheinlich hatte er erkannt, daß er und seinesgleichen ausgespielt hatten, daß sie nicht mehr Schritt halten konnten. Andererseits muß ich auch zugeben, daß Ádas Spiel redlich war, zumindest war er immer davon überzeugt, daß er fair spielte. Ich selbst habe nur ganz selten fair gespielt. Beide spielten wir aber stets nach bestem Vermögen. Bisweilen waren wir einander, ohne voneinander zu wissen, für eine Zeitlang sogar unter denselben Farben begegnet. Aber ich habe bald wieder meinen Übertritt angemeldet, sowie ich erkannt hatte, daß Ádas Mannschaft und sein unerschütterlicher Anspruch auf Autorität für mich gleichermaßen unerträglich und deformierend waren wie meine eigene permanente Freiheitsliebe – oder wenigstens meine Sehnsucht danach. Meine Erinnerungen gleichen einem abgespielten Film, einer schlechten Kopie. Ich erkenne jeden einzelnen Schauspieler wieder und stelle fest, daß wir alle miteinander schlecht spielen, doch wenn ich mir etliche Details wegdenke, dann ist der Film auch wieder nicht so schlecht. Ich bemühe mich sehr, meinen Film von einer besseren Seite zu sehen, sofern es freilich an ihm überhaupt eine solche gibt. Ich gebe zu, daß dieser Film viele schwache Szenen hat. Zum Beispiel jene Szene mit meinem Vater, als er im Jahre 946 vor dem Volksgericht stand und man ihm einige Paragraphen des kleinen Retributionsdekretes an den Kopf warf, da er offenbar ein Hochverräter war. 42
Das Wort: Hochverräter imponiert mir irgendwie. Es hat Format. Doch mein Vater hatte für dieses Wort nicht das entsprechende Format. Aber wenigstens war er vor dem Gericht bemüht, sich den Anschein zu geben, als wäre er auf eine solche Apostrophierung stolz. Er nahm den Hochverrat wie eine Selbstverständlichkeit hin. Wahrscheinlich fühlte er, daß er in dem Augenblick, als sie ihm den Hochverrat anhängten, zu einer Dimension emporwuchs, in der er sich trotz aller Gefahr, die ihm drohte, gut ausnahm. Ich hatte den Eindruck, daß mein Vater vor dem Gericht eine undurchdringliche Miene aufgesetzt hatte und entschlossen die Atmosphäre der bombastischen Gerichtsphraseologie in sich einsog; er bemühte sich in seiner ganzen äußeren Haltung, sich seiner Umgebung anzupassen. Und das gefiel mir auch. ›Er sitzt bis über beide Ohren in der Tinte‹, sagte ich mir, ›doch er beweist Haltung.‹ Selbstverständlich würde ich heute an meinem Vater ohne große Mühe mancherlei Details entdecken die diesen ursprünglichen Eindruck, wie ich ihn aus dem Gerichtssaal mitnahm, zerstören. Ich bin mir darüber klar, daß die Haltung meines Vaters eine starre Pose war, in die er sich hineingezwungen hatte und von der er nicht um Haaresbreite abweichen wollte. Ich sehe noch ganz deutlich seine Augen vor mir: ihr Blick irrte unruhig umher. Ich habe auch den Eindruck, daß sich sein Körper nach links neigt, daß er im nächsten Augenblick wie gefällt 43
umsinken wird, seine Stirn ist blaß, seine Kehle zieht sich krampfhaft zusammen, doch das Zusammenziehen der Kehle ließe sich auch durch seinen chronischen Schnupfen und seine Anstrengung erklären, vor dem Gericht nicht zu niesen, um nicht dadurch mit einem Schlage die feierliche Stimmung, die sich ganz bestimmt meines Vaters bemächtigt hatte, zu beeinträchtigen. Und ich sehe auch Áda Lakubec vor mir. Selbstsicher betritt er stets den Verhandlungssaal, doch mit jedem Schritt, mit dem er sich dem Richtertisch nähert, büßt er ein Stück seiner Selbstsicherheit ein, so daß er dann vor den Herren im Talar mit gekrümmtem Rücken dasteht, im Flüsterton spricht, sich nervös über das blonde Haar streicht und nicht den Mut hat, meinem Vater in die Augen zu schauen, während mein Vater – seine Augen irren wieder umher – seine ganze innere Energie anspannt, um sein Gesicht Áda zuzukehren; der Kommunist Lakubec legt seine zitternde Hand auf die Bibel und schwört. Vermutlich verflucht er in einem Atemzug seine Schwäche. Ich kann mir vorstellen, wie er sich noch vor Betreten des Gerichtssaals fest vorgenommen hatte, sich dem Gericht als beherzter Vertreter des Proletariats zu präsentieren, er hatte sich ein paar effektvolle Sätze zurechtgelegt, mit denen er den Schwur auf die Bibel verweigern wollte, aber sobald er die strengen Gesichter der Richter sah, hatte er den Mut verloren, krümmte den Rücken und wiederholte demütig die Eidesformel, innerlich vor Wut über sich selbst schäumend. Diese Begegnung mit Áda Lakubec, dem ehemali44
gen Linksaußen des F. C. Schlesisch Ostrau, zählt nicht. Eigentlich sind wir einander damals nicht richtig begegnet; Áda hatte keine Ahnung, daß ich mich im Saale befand, und ich selbst habe lieber die Augen geschlossen, als ich ihn so geduckt vor dem Gericht dastehen sah. Ich hörte, wie der Richter fragte, ob Herr Lakubec den Brief, den der Angeklagte, also mein Vater, an die Ostrauer Gestapo geschrieben habe, wiedererkenne. Áda Lakubec erschrak bei dieser Frage, er zuckt immer zusammen, wenn wir auf diesen Brief zu sprechen kommen. Doch sein Erschrecken dauert stets nur einen Moment, das erkenne ich immer an der nervösen Bewegung der linken Hand, mit der er sich über das blonde Haar fährt. Dann stößt Áda, lauter als nötig, hervor, er erkenne diesen Brief wieder. »Ich erkenne diesen Brief wieder«, sagte Áda vor Gericht. »Aber ich bitte Sie«, hörte ich die Stimme des Richters sagen, »wie können Sie ihn wiedererkennen, wenn er Ihnen noch nicht vorgelegt worden ist!« Dann erst ist das Rascheln von Papier zu vernehmen. Áda Lakubec stößt laut hervor, das sei derselbe Brief, der ihm schon im Jahre 939, irgendwann im Dezember, vorgelegt worden war, als man ihn damals verurteilt hatte. Dann tritt mein Vater vor, um den Brief zu besichtigen, und beantwortet die Frage, ob er seine Handschrift wiedererkenne. »Ja«, sagt mein Vater, »ich erkenne meinen Brief wieder.« 45
Bei diesen Worten ändert sich nichts an seiner starren Haltung. Es folgt eine peinliche Szene: Dr. Láska, der Verteidiger meines Vaters, redlich bemüht, wenn ich bedenke, daß er die Verteidigung ex officio übernommen hatte, fährt in die Höhe und ruft pathetisch aus, was sich aber gut in die ganze Atmosphäre fügt, er verlange, daß der Brief in seinem vollen Wortlaut verlesen werde. Das Gericht stimmt zu, mein Vater richtet sich kerzengrade auf, Lakubec duckt sich vielleicht noch tiefer – und der Brief wird vorgelesen. Wahrscheinlich schaut Lakubec schon bei den ersten Worten des Briefes schuldbewußt drein, ich brauche Áda gar nicht anzusehen, nur zu gut kenne ich seine Miene, die er immer aufsetzte, wenn der Schiedsrichter bei ihm ein Foul gepfiffen hatte. Nach dem Verlesen erhebt sich der Prokurator, Herr Dr. Václav Jurzena, ehemaliger Verteidiger des F. C. Schlesisch Ostrau, Plakatkleber und Rohling auf dem Spielfeld, der noch schnell vor dem Jahre 939 seinen Doktor gemacht hatte. Herr Dr. Jurzena stand also auf und sagte ebenfalls pathetisch, auch er habe die Absicht gehabt, zu beantragen, daß der Brief verlesen werde, denn dieser beinhalte den Tatbestand einer Straftat, und zwar die Anzeige bei der Gestapo; bei der Klage gehe es vor allem um dieses Faktum, und er gebe sich mit der Protokollierung dieser Tatsache zufrieden. Jetzt hätte ich gerne in die Verhandlung eingegriffen, doch ich kann nicht. Gern hätte ich etwas Näheres über den Tatbestand berichtet, in den ich hineinverwickelt 46
wurde, als mir Áda Lakubec am Abend des 4. März 939 vor dem Haupteingang des Stadions des F. C. Schlesisch Ostrau eine Ohrfeige versetzte. Ich hatte mir damals gerade eine Kremrolle in den Mund gestopft, die mir ein deutscher Soldat zuvor geschenkt hatte. Bei Ádas Hieb wäre ich an der Kremrolle fast erstickt, sofort floß das Blut von meinen Lippen, aber sie bluten ja immer sehr leicht. Ich weiß nicht, ob ich meinem Vater jetzt helfen könnte, wenn ich sage, wie das alles wirklich gewesen war. Ich bin mir auch bis heute nicht ganz sicher, ob sich das alles genauso zugetragen hat, wie ich es jetzt erfunden habe. Es war mir auch klar, daß mein Vater vor Dr. Jurzena Angst hatte, auch das mußte ich berücksichtigen. Mein Vater hatte nämlich Jurzena im Jahre 934 aus der Mannschaft genommen, da sein Nervensystem, wie mein Vater vor dem Ausschuß bekundete, nicht in Ordnung war und er mit seinem rohen Spiel in der Division der Mannschaft nur schaden würde. »Ein solcher Spieler«, argumentierte damals mein Vater, »kann unmöglich in den höheren Klassen spielen. Jetzt brauchen wir geschickte Dribbler und Techniker, die Ära der brutalen Spieler liegt bereits hinter uns!« Václav Jurzena mußte damals aus der Mannschaft heraus, dadurch verlor er sein regelmäßiges Monatseinkommen von hundert tschechoslowakischen Kronen und mußte sich dann mit einem mageren Stipendium und dem Verdienst eines Plakatklebers durchs Studium durchschlagen. Dieses Unrecht hatte Jurzena nie verdaut, 47
und es stand nun von dem Moment an in seinem Gesicht geschrieben, da er seinen Platz als Ankläger vor dem Gericht einnahm. Da ich schweigen mußte, rekapitulierte ich wenigstens im stillen, was ich sagen würde, wenn man mich tatsächlich aufrufen würde. Meine Aussage hätte wohl kurz und bündig gelautet: Áda Lakubec hat mir die Kremrolle in den Mund gehauen, und die Schlagsahne hat sich von dem Blut meiner Lippen rosa verfärbt. Dann ist Áda weggelaufen, mein Vater hat ihn wegen Körperverletzung bei der tschechischen Polizei angezeigt, doch der Herr Inspektor Hebrle wollte mit der Sache nichts zu tun haben, und so beschwerte sich mein Vater bei der Polizeidirektion, wo er aber in diesem Chaos des Umsturzes bereits die Kerle von der Gestapo vorfand, denen der Name Áda Lakubec bereits so manches sagte. Mein Vater hatte seine Anzeige wegen Körperverletzung vor den Herren der Gestapo eigenhändig unterschrieben. Und dann wird das Urteil verkündet. Drei Jahre Gefängnis. Mein Vater hält sich kerzengerade. Áda Lakubec hat jetzt wohl eine trockene Kehle und schluckt, er ist bleich. Dr. Václav Jurzenas Gesicht, des Prokurators und ehemaligen Verteidigers des F. C. Schlesisch Ostrau, den der Vater wegen rohen Spiels aus der Mannschaft herausgenommen hatte, drückt Zufriedenheit aus. ›Und die Rechnung ist beglichen‹, lese ich in seinen Zügen.
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Wenn ich über meinen Vater zu Gericht sitzen müßte, würde die Anklage ganz anders lauten. Ich würde mich wahrscheinlich überhaupt nicht an Paragraphen halten und würde ihn ziemlich belasten. Wenn ich aber meinen Vater verteidigen müßte, so könnte ich das unmöglich, wenngleich ich auch ein ganzes Arsenal von Argumenten zusammentragen könnte, die seine Handlungsweise als Bäcker und Geschäftsführer des F. C. Schlesisch Ostrau und als späteren Wehrmachtssoldaten Jaroslav Lapáček erklären würden. Besonders das eine könnte ich meinem Vater keinesfalls verzeihen. Am . September 939 schleiften er und meine Großmutter Zabalski mich in die deutsche Volksschule. Den ganzen Weg über heulte ich, doch das half nichts. In der Schule setzte man mich in die letzte Bank, und das erste, was ich dort zur Kenntnis nahm, war Eva Schuberts wunderschönes blondes Haar. Sie saß eine Bank vor mir. Sooft mir in der Schule schlimm zumute war, und das ist wohl immer der Fall gewesen, denn der Herr Lehrer Wenzel Deutscher, ehemaliger Spieler des S. C. Mährisch Ostrau, hatte es auf mich abgesehen, senkte ich meinen Kopf, doch wieder nicht zu tief, und beobachtete Evas wunderschönes Haar. Sie trug es in Zöpfe geflochten. Ich phantasierte mir vor, ich würde mich ganz in diese Haare einwickeln, sie seien mein Wind, der Luftzug aus meines Vaters Backstube und dufteten genauso wie der Wind, der mir ins Gesicht wehte, wenn ich mich mit meinem Herrgott unterhielt. 49
Eva sprach ein reizendes Gaumen-R, und das gefiel mir außerordentlich. Später dann brachte sie mir die deutsche Schrift bei, und gleich darauf verliebte ich mich in sie. Aber weil ich die deutsche Sprache nicht beherrschte, konnte ich ihr auch nicht verständlich machen, wie gern ich sie hatte. Wie ihr Schatten zog ich hinter ihr her. An Evas Seite schritt stets Heinz Hupka, der mit dem wunden Fuß. Heinz Hupka war für alle Krankheiten anfällig, er war ein nervöser, für sein Alter hochaufgeschossener Junge; an seinem linken Bein hatte er ein häßliches Geschwür, ich glaube es war Knochenfraß. Wenn ich mit Eva und Heinz herumstrich, hörte ich, wie sie sich amüsierten und war überzeugt, daß sie sich über mich lustig machten. Ich verstand nur jedes vierte, fünfte Wort, den Rest mußte ich mir dazudenken – und was ich dabei herausfand, war immer nur Spott über mich. Einmal konnte ich nicht mehr an mich halten und begann Heinz zu beschimpfen, er sei ein Krüppel, dem einmal sein Bein bis zum Hintern hinauf abfaulen werde. Heinz ging auf mich los, aber gerade darauf hatte ich gewartet. In Evas Gegenwart bezog er eine ganz gehörige Tracht Prügel von mir, und sofort fühlte ich mich erleichtert. Doch zum Unglück hatte ich Heinz bei der Rauferei die Pelerine zerrissen, so daß ich gleich am nächsten Tag mit meinem Vater zur Familie Hupka zitiert wurde, denn der alte Hupka, Ingenieur in der Kokerei, bestand darauf, daß wir den Schaden ersetzten. 50
Die Hupkas waren eine noble deutsche Familie, denen sich offensichtlich nur irgendein tschechischer Großvater mit Namen Hupka einst durch Zufall ihren sonst tadellosen Vorfahren beigesellt hatte. In der Diele der Familie Hupka prangte ein Ölgemälde Adolf Hitlers. Frau Hupka trug ein österreichisches Dirndl, obwohl sie aus der Troppauer Gegend stammte, aber so war es eben damals Mode. Das Haar hatte sie hinten zu einem Knoten aufgesteckt, ähnlich wie Kristina Söderbaum, die im Film »Jud Süß« ihren Busen entblößt. Zweimal habe ich mir diesen Film angesehen. Der Herr Ingenieur ließ einen ganzen Wasserfall von Beschwerden auf uns niedergehen, die mein Vater genausowenig verstand wie ich, denn damals befand er sich mit der deutschen Sprache noch auf Kriegsfuß. Darüber hinaus ließ uns der Herr Ingenieur in der Diele stehen, wo es zog, mein Vater wurde sogleich wieder von Niesen befallen, er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, um sich nicht allzu laut Luft machen zu müssen; die verzweifelten Anstrengungen meines Vaters, die Nasenlöcher mit Hilfe der Gesichtsmuskeln zusammenzupressen, hielt Herr Ingenieur Hupka wohl für ironischen Spott, was er als Beleidigung empfand, er regte sich schrecklich auf und wiederholte in einem fort, das sei eine sehr ernste Angelegenheit, es gehe um meine Erziehung, die allem Anschein nach gröblich vernachlässigt worden sei. Als der Herr Ingenieur mit seiner Rede zu Ende war, neigte der Vater den Kopf und schneuzte sich geräuschvoll, wodurch er sich wahrscheinlich etwas erleichterte, so daß er ein paar verballhornte deutsche Worte als Entschul51
digung hervorzustammeln vermochte, doch das nützte ihm nichts, denn durch sein schlechtes Deutsch hatte er wiederum Frau Hupka sichtlich schockiert, die von dem Zeitpunkt an, da sie von dem einfachen Mädchen vom Lande zur Frau Ingenieur aufgestiegen war, ihren schlesischen Dialekt, wie man ihn am linken Ufer der Oder spricht, ganz vergessen zu haben schien und sich um einen wienerischen Akzent bemühte, der ihr, wie es hieß, zuweilen auch gelang. Frau Hupka begann die Nase zu rümpfen. Mein Vater schlug vor, sich auszusöhnen und zog einen Hunderter heraus. Jetzt würde ich mir gerne vorlügen, Herr Ingenieur Hupka hätte die Banknote mit zwei spitzen Fingern in Empfang genommen, doch das entspricht nicht der Wahrheit. Er nahm den grünen Schein auf ganz normale Weise entgegen, steckte ihn in seine Brieftasche und erteilte dabei meinem Vater nochmals Belehrungen über die Grundlagen moderner Erziehungsmaßnahmen, die seiner Ansicht nach in einer vernünftigen und pädagogisch ausgewogenen Kombination von militärischer Disziplin und Prügel bestünden. Mein Vater seufzte, sah mich an, und ich konnte in seinen Augen eine Kombination von Unsicherheit und Verwirrung lesen. Dann klebte er mir eine, so daß ich mich an der Wand, an der das Ölgemälde Adolf Hitlers hing, festhalten mußte. ›Und wir sind also ein hergelaufenes Pack‹, sagte ich mir. 52
Ich wischte mir das Blut vom Mund ab. Immer wenn ich eins übers Maul bekomme, fließt mir sofort das Blut von den Lippen. Das sieht aus, als ob ich weiß Gott wie darunter litte, aber schon von zarter Jugend an konnte ich auf Befehl so viel Blut, wie man nur wünschte, von der Ober- oder Unterlippe herabfließen lassen. Mein blutverschmierter Mund erregte bei den Hupkas so etwas wie Mitleid; sowie ich das merkte, öffnete ich den Mund ein wenig, nun floß mir das Blut übers Kinn und die Wirkung war perfekt. Frau Hupka wischte mir mit ihrem weißen Taschentuch das Kinn ab, dabei hob ich den Kopf und erblickte Adolf Hitlers Augen über mir. Teilnahmslos sah er auf mich herab, der Blick seiner grauen Augen war außergewöhnlich hart, fast genauso wie der Kurt Wagners. Auch wir hatten bei uns daheim im Vorzimmer unseren Hitler hängen, aber der unsere gefiel mir damals bedeutend besser. Zwar hatte der Vater nur eine eingerahmte Photographie angeschafft, doch auf ihr wirkten die Augen des Führers ganz eigenartig. Nachdem mein Vater das Bild an der Wand befestigt hatte, mußten wir alle, ich, die Mutter und die Großmutter, daran vorbeidefilieren und auf Hitlers Augen blicken: überall hin, auf Schritt und Tritt folgten uns Adolfs Augen im Vorzimmer. Frau Hupka wischte mir also das Kinn ab, selbstverständlich machte ich ein leidendes Gesicht, aber im Innern fühlte ich das Aufflackern einer Befriedigung besonderer Art, die erst später auf dem Hühnerring voll heranreifte, als mir Kurt Wagner zwei Zähne ausschlug. 53
›Nichts werde ich vergessen‹, sagte ich mir, ›überhaupt nichts. Und einmal werde ich mich revanchieren, für alles werdet ihr mir bezahlen … ihr Hundesöhne …‹ Mein Vater war für mich vorläufig unerreichbar, aber ich hatte Heinz Hupka an der Hand. Ich heftete mich an seine Fersen und begann ihn zu beobachten, bis ich dahinterkam, daß Heinz im Luftschutzraum, den sich die Hupkas im Garten hatten errichten lassen, heimlich rauchte. In der Schule sagte ich Heinz rundheraus, ich würde ihn wegen seines Rauchens beim Lehrer und daheim verpetzen, wenn er nicht einen Hunderter herausrücke. Heinz Hupka erbleichte, unter der Nase brach ihm der Schweiß hervor. Das war immer der Fall, wenn ihn Angst oder Nervosität befiel. Ich fürchtete mich vor Heinz Hupka nur dann, wenn ihn Angst oder Unruhe packte, in solchen Momenten verlor er nämlich seine Selbstbeherrschung. Ich schätzte, er hatte gerade dieses Stadium erreicht, so daß er mir an die Kehle springen würde und ich ihn wieder gehörig verdreschen müßte. Doch Heinz flüsterte mir nur zu: »Willst du den Hunderter sofort haben oder hat das bis morgen Zeit?« »Das hat Zeit bis morgen«, erwiderte ich. Am nächsten Tag steckte mir Heinz in der großen Pause einen zusammengefalteten Hundertkronenschein in die Hand. Der Schein war von seinem Schweiß ganz feucht. Wahrscheinlich hatte er diesen Hunderter den ganzen Schulweg über und noch bis zur großen Pause, krampfhaft zusammengepreßt, in der Hand gehalten. Ursprünglich hatte ich mir vorgenommen, den Hunder54
ter meinem Vater zurückzugeben, ich dachte mir, er würde doch sicherlich Sinn für ein faires Spiel haben, etwas mußte er doch vom Fußballplatz abgeguckt haben. Ich sah mich schon den Hunderter dem Vater zurückgeben, hörte ihn lachen und vielleicht sagen, daß er das mit der Ohrfeige bei den Hupkas doch etwas übertrieben habe. In diesem Fall hätte ich mir gesagt: ›Mein Vater ist ein Mordskerl.‹ Später aber faßte ich einen ganz anderen Entschluß: Ich gebe den Hunderter dem Vater nicht zurück. Er muß doch genau wissen, daß er mir bei den Hupkas nur um des Effektes willen eine heruntergehauen hat, soll ihn das also nur ruhig wurmen. Und wenn ihn diese ungerechte Ohrfeige nicht bedrückt, dann ist es auch überflüssig, ihm die Banknote zurückzugeben. Diesen Hunderter habe ich dann für einen anderen und viel besseren Zweck verwendet. Der Herr Lehrer Wenzel Deutscher kam mit dem Vorschlag, in der Klasse Geld zu sammeln, um einem tapferen Wehrmachtssoldaten ein Päckchen an die Front schicken zu können. Der Herr Lehrer fragte sogleich, wer die Sammlung übernehmen wolle. Als erste meldete sich Eva Schubert. Nachdem sich Eva gemeldet hatte, hob auch ich sofort die Hand. Dann richtete ich es so ein, daß Heinz Hupka mitansehen konnte, wie ich den Hunderter, den ich aus ihm herausgeschlagen hatte, in die Gemeinschaftskasse der Klasse hineinlegte. Selbstverständlich trat ihm sogleich 55
wieder der Schweiß unter der Nase hervor, und ich sah deutlich, wie er nervös wurde. Heinz trat zu mir und flüsterte mir zu: »Du bist ein Schwein, ein ganz gemeines Schwein.« Damit wollte er mich herausfordern, aber diesmal tat ich dem Hupka nicht den Gefallen, ihm auch nur einen einzigen Schlag zu versetzen. Etwas in mir raunte mir zu, meine Rache wäre nicht vollständig, wenn ich ihm jetzt eine klebte. »In Ordnung, Heinz«, sagte ich, »geht in Ordnung, aber morgen erwarte ich einen weiteren Hunderter.« Heinz brachte mir das Geld, und ich gab es mit Eva zusammen auf dem Ringelspiel und für Eis aus. »Liebst du mich noch?« hatte mich Eva Schubert im Mai des Jahres 945 im Hof des Speditionsunternehmens der Firma Karel Pastrňák & Co. gefragt. Herr Pastrňák, der in unserem Hof als Sodawasser-Erzeuger pleite gegangen war, hatte sich doch wieder einigermaßen auf die Beine gebracht, hatte von Frau Preis das beschädigte Lastauto des tödlich verunglückten Nathan auf Schuld gekauft, diese Schuld aber nie beglichen. Während des Krieges hatte sich Herr Pastrňák noch mehr geholfen, sich drei Holzgas-Laster und sechs Paar Pferde angeschafft und sich darüber hinaus noch einen geräumigen Hof mit Magazin und einigen Garagen zugelegt, und das alles hatte er mit Hilfe meines Vaters, der in seine Firma als stiller Gesellschafter eingetreten war, ganz billig von einer jüdischen Firma aufgekauft, deren Inhaber in ein Arbeitslager nach dem Osten verschickt worden war. Der Hof der Firma Karel Pastrňák & Co. diente im 56
Mai 945 als Sammellager für die Ostrauer Deutschen vor ihrem Abtransport aus der Stadt. Eva Schubert war bereits kahlgeschoren. Auf dem Rükken trug sie ein unförmiges Bündel. Die Sonne schien ihr auf den kahlen Kopf. »Liebst du mich noch?« hatte sie mich gefragt und dabei ein wenig den Mund geöffnet; mich befiel damals das unangenehme Gefühl, als wolle Eva alles, was ich jetzt sagen würde, jedes Wort, in sich hineinsaugen, es bei sich aufbewahren und mit sich nehmen. »Ja«, erwiderte ich, »ich liebe dich.« Doch mit Absicht sagte ich das nicht ganz überzeugend, ich gab meiner Stimme einen müden Klang, wahrscheinlich war ich aber auch wirklich ziemlich müde gewesen. Nein, damals wußte ich noch nicht, wen ich leiden mochte und wen nicht. Eine Menge von Leuten war mir ganz gleichgültig; jene, die ich nach besten Kräften haßte, hätte ich an den Fingern einer Hand abzählen können. Ich vermochte mir nicht darüber klar zu werden, ob ich Eva haßte oder ob sie mir gleichgültig war. Aber weil ich noch die Gewohnheit der vergangenen Jahre, in denen ich Eva geküßt hatte, in mir nachwirken fühlte, sagte ich: »Ja, ich liebe dich.« Ich hätte damals wahrheitsgemäß antworten müssen: ›Nein, ich habe dich nicht gern, aber es ist auch nicht so, daß ich dich nicht mag, darüber muß ich mit mir noch ins reine kommen. Hier aber hat nichts von all dem, was ich dir sage, Gültigkeit. Ich will mich nicht für die Zukunft binden, nachdem ich endlich meine 57
Vergangenheit losgeworden bin und ich jetzt neu anfangen kann, zum Beispiel hier, in diesem Lager, das zur Hälfte noch meinem Vater gehört. Ich fühle mich an nichts gebunden, was immer einmal vor diesem Lager gewesen sein mag.‹ Genau das hätte ich sagen müssen, doch ich schwieg. Ich konnte mich an Evas geschorenem Kopf nicht sattsehen, irgend etwas hielt mich fest in seinen Krallen, irgend jemand wühlte in meinem Loch unter dem Hals und packte mich an meinem Herzen. Und ich sah wieder ganz deutlich Ludva Kocifaj, den ehemaligen Torwart des F. C. Schlesisch Ostrau und jetzigen Lagerleiter, damals in der Garage vor mir, als sich Eva in eine dunkle Ecke drückte. Jetzt darfst du lügen‹, sagte ich mir, ›jetzt ist der Moment da, in dem jede Lüge erlaubt ist, wiederhole ihr nochmals, daß du sie liebst.‹ »Noch immer liebe ich dich«, sagte ich laut, »ich liebe dich so sehr, wie ich noch niemanden zuvor geliebt habe, niemanden werde ich mehr so gerne haben wie dich, Eva.« »Wenn du mich liebst«, hatte Eva gesagt, »dann komm mit mir.« »Ich kann nicht«, hatte ich erwidert und dabei nicht einmal gelogen. Aber da hatte sich auch schon der Gedanke in mir festgesetzt, ich gehöre zu jenen, die diese Stadt nie verlassen würden. Selbst wenn man mich vertreiben sollte, sagte ich mir, würde ich hierher zurückkehren, und sei es durch die 58
Hintertür, ich würde mich durchgraben, mich durch die Gänge der Kohlenschächte heranschleichen, würde mich vom Fluß zur Stadt hintragen lassen, würde durch die Rohrleitungen durchkriechen. »Ich gehe nicht mit dir, Eva«, hatte ich noch gesagt, »ich gehöre hierher …« Eva hatte ihr Bündel zurechtgerückt und den geschorenen Kopf gehoben. »Du gehörst nirgends hin«, hatte sie zu mir gesagt, »du weißt ja nicht, wohin du gehörst, und das ist das Schlimmste daran!« Ihre Stimme hatte dabei ganz ruhig geklungen, ich rede mir heute ein, sie hätte ruhig geklungen, damit ich mich nicht schämen muß, wenngleich ich nicht genau weiß, wofür ich mich jetzt noch schämen müßte. Ich hörte nicht die geringste Enttäuschung aus ihrer Stimme, sie sprach vollkommen ruhig; ich bemühte mich, einen Blick ihrer Augen zu erhaschen, doch ich weiß, daß sie mich nicht mehr ansah, sondern über mich hinwegblickte. »Darf ich dich küssen?« hatte ich gefragt. »Nein«, hatte Eva darauf erwidert, »das genügt mir, das genügt mir vollauf …« »Ja, das genügt«, hatte ich gesagt. Und gleich darauf hätte mir der Mund abfallen und ich zu Stein erstarren sollen, denn ich brachte die Rede auf Ludva Kocifaj, auf die Garage, in der sich Eva ausziehen mußte, als ich damals noch nicht den Mut besaß, Ludva oder irgend jemanden anderen umzubringen. Kaum war ich mit meiner Rede zu Ende, wandte sich Eva zum Gehen. Ich kann mir denken, daß sie mich die 59
ganze Zeit über, während ich mit ihr redete, forschend angeblickt hatte. Ich kann mir sogar denken, daß sie schließlich in Lachen ausbrach. »Also leb wohl«, sagte sie dann. Ich wünschte mir sehr, daß sie jetzt zu weinen anfinge. Doch Eva beherrschte sich tapfer. Ich weiß überhaupt nicht, wie ihre Augen aussahen, als sie inmitten ihrer Angehörigen aus dem Hof hinaus zum Bahnhof geschritten war.
3 Es war nicht das erste Mal, daß ich in Bedrängnis geriet, weil ich ein Ungetaufter war, später, in gereifterem Alter, nahm man wiederum Anstoß daran, daß ich Katholik war. Die ersten Schwierigkeiten mit der Religion begannen für mich in der deutschen Volksschule, in die mich mein Vater und meine Großmutter am . September 939 hingeschleift hatten. Den ganzen Weg über heulte ich, doch das half nichts. Und so kam es, daß ich auch in die katholische Religionsstunde, wo ich eigentlich gar nicht hingehörte, hineingeriet; denn mein Vater hatte mich nicht taufen lassen. Hätte ich gewußt, daß jetzt die Religionsstunde begann, so wäre ich rechtzeitig aus der Klasse verschwunden, aber in dem Augenblick, als das Fräulein Katechetin, wohl eine alte Jungfer, mit erhobener Rechten und dem Hitlergruß das Schulzimmer betrat und gleich darauf das Vaterunser zu beten begann, war es bereits zu spät, mich zu entfernen. 61
Die Katechetin fragte mich dann etwas, wahrscheinlich ob ich katholisch sei, und weil ich meine Situation nicht noch mehr erschweren wollte, bejahte ich ihre Frage. Einiges beantwortete Eva Schubert für mich, und das Resultat meines Gesprächs mit der Katechetin lief darauf hinaus, daß ich in der katholischen Religionsstunde verbleiben sollte, was mir sehr behagte, denn Eva war auch Katholikin, Heinz Hupka dagegen, der mit dem wunden Fuß, Protestant. Ich nahm also regelmäßig an den katholischen Religionsstunden teil, erfaßte nur ungefähr, wovon die Rede war, bis ich eines Tages kapierte, daß unsere Schulklasse am Samstag gemeinsam zur Beichte und am Sonntag zur heiligen Kommunion gehen werde. Schon wollte ich mich aus meiner Bank erheben und der Katechetin melden, ich könne mich nicht an der Beichte beteiligen, da ich noch nicht getauft sei, aber als ich mir meine Rede im stillen zurechtlegen wollte, mußte ich feststellen, daß ich mehr als die Hälfte der deutschen Wörter, die ich hätte sagen müssen, nicht kannte. Ich wußte zum Beispiel nicht, wie das Wort »heilig« oder »Beichte« und dergleichen mehr auf deutsch hieß. Es war also nichts zu machen, ich begab mich am Samstagnachmittag in die Schlesisch Ostrauer Kirche zur Beichte, wohin man eigens zu diesem Zweck einen deutschen Priester aus Witkowitz eingeladen hatte, denn der tschechische Pfarrer verstand kein Deutsch, und selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, wer weiß, ob ihm die deutschen Ämter gestattet hätten, sich die Sünden der Kinder des Großdeutschen Reiches anzuhören. 62
In der Schlange vor dem Beichtstuhl stehend, drängte ich mich nicht allzusehr nach vorn, ja im Gegenteil, ich trachtete, hübsch hinten zu bleiben. Doch bevor ich an die Reihe kam, wäre ich beinahe vor Angst gestorben: Ich kannte keine einzige deutsche Bezeichnung für meine einzelnen Sünden. Auch begann ich ein wenig zu schwitzen. Ich spürte, wie sich eine eigenartige Mattheit in meinem ganzen Körper ausbreitete; von Angst und Schwäche ganz benommen, kniete ich mich endlich vor das vergitterte Fensterchen hin und sagte: »Grüß Gott!« »Nun also«, flüsterte mir der Pfarrer zu. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, mich im stillen einen Idioten zu heißen, der sich unterstanden hatte, hierher in die Kirche zu kommen – und das eigentlich nur Eva Schubert zuliebe, doch auch Heinz Hupka war hier anwesend. Er hatte sich bequem in einer Kirchenbank niedergelassen und wartete, bis wir alle mit unserer Beichte fertig waren und dann unsere Bußgebete verrichtet hatten. Der Pfarrer im Beichtstuhl begann sichtlich unruhig zu werden, er flüsterte mir etwas auf deutsch zu, doch ich verstand kein einziges Wort. Er flüsterte und flüsterte in einem fort, ich begriff, daß ich es wiederholen sollte, und so sagte ich etwas her, was ich nicht verstand; ich bekam Angst, ich würde irgendeine geheimnisvolle Beschwörungsformel aussprechen, ich plapperte etwas nach, indem ich dem Pfarrer durch das vergitterte Fensterchen auf die Lippen sah: sie waren schmal und scharf. Mit einem Mal überkam mich ein Weinkrampf. 63
Vielleicht war meiner armen Seele angst und bange, oder aber hatte ich instinktiv herausgespürt, daß ich irgendwohin geraten war, wo ich eigentlich nichts zu suchen hatte, daß ich mich in eine Sache und in Worte verstrickt hatte, die ich nicht verstand. Ich war bereits vollkommen erledigt, mein Kopf sank auf das vergitterte Fensterchen, und ich heulte und heulte. Dann spürte ich jemandes Hand auf meinem Kopf. Sie strich mir übers Haar, und eine Stimme sagte irgendwelche liebe Worte zu mir, wiederum auf deutsch, doch ich glaubte, sie diesmal ganz genau zu verstehen. Ich hörte die Stimme zu mir sagen, ich möge mich nicht fürchten, kein Sterblicher auf dieser Welt sei ein so großer Sünder, daß ihm nicht vergeben werden könnte, Gottes Barmherzigkeit reiche für alle aus, besonders aber für solche Jungen wie ich hätte der liebe Gott nicht nur eine einzige befreiende Lossprechung zur Hand, ich solle also keine Angst haben und mir alles, was mich so bedrücke, daß ich nicht sprechen könne, von der Seele reden. »Mein Sohn«, sagte der Pfarrer, denn was hätte er wohl anderes sagen können? »bekenne dich aufrichtig zu deinen Sünden, und du wirst von allem Bösen gereinigt werden.« Dann fuhr er fort, er sei dafür da, mir dabei zu helfen, von meinen Sünden loszukommen, falls ich überhaupt welche hätte, er bezweifle das wirklich, denn was für Sünden könne denn schon so ein Bürschlein haben, das direkt vor dem Beichtstuhl in Weinen ausbricht. Ich weiß nicht genau, was mir der Pfarrer da alles erzählt hatte, aber wenn ich auch die Worte nicht verstand, 64
so doch den Tonfall seiner Rede, ich fühlte augenblicklich die wohltuende Wirkung seiner Worte, sie beruhigten mich und gaben mir wieder Kraft. Und so nahm ich mich zusammen und stotterte hervor, ich verstünde kein Deutsch. »Aber Tschechisch verstehst du gut«, fragte der Pfarrer in schlechtem Tschechisch, das in meinen Ohren wie paradiesische Musik klang, wie Orgeltöne vom Chor, wie Jubelklänge in dieser langsam in die Erde versinkenden heiligen Kirche. Ich hielt mich im Beichtstuhl fest, um nicht gleichfalls mitzuversinken. »Ja«, erwiderte ich, »Tschechisch kann ich sehr gut.« »Warum besuchst du also die deutsche Schule?« »Mein Vater und meine Großmutter haben mich mit Gewalt dorthin geschleift, ich wollte nicht und habe den ganzen Weg über geheult.« »Hm«, sagte der Pfarrer, »kommst du aus einer Mischehe, dein Vater ist wohl Deutscher und die Mutter Tschechin, ist das so oder umgekehrt?« »Nein, so ist das nicht«, erwiderte ich. Und dann strömten mir die Worte wie von selbst zu, ich fing an zu sprechen und mich zu erleichtern. Ich flüsterte in das vergitterte Fensterchen hinein, mein Vater besitze eine Bäckerei, gleich neben dem Fußballplatz des F. C. Schlesisch Ostrau, dessen Geschäftsführer und Platzwart er zugleich sei, er müsse vor jedem Spiel die Netze in die Tore einhängen und die Linien nachkalken, die Spielerdresses vorbereiten, die die Mutter dann nach jedem Match in der Küche wasche; in den Halbzeiten verkaufe der Vater seine Brezeln, niemand anderer 65
als der Vater dürfe in der Halbzeit Brezeln auf dem Platz verkaufen, die Mutter bekomme für das Waschen der Trikots fünfzig Kronen in der Woche, aber meiner Großmutter Zabalski sei das nicht recht, sie zetere und schreie herum, eine Geborene von Zabalski hätte ein besseres Los verdient, als ihren Rücken über die verschwitzten und beschmutzten Trikots der Sportler zu krümmen, wenn der Großvater noch lebte, damit meint sie den Rittmeister Georg von Zabalski, den besten Läufer und Reiter des Regiments, wäre alles ganz anders, doch der Großvater ist mit der Regimentskasse und so einem Fräulein vom Theater durchgebrannt und in der weiten Welt verschwunden, und die Großmutter sagt, gut so, wenigstens habe ich vor diesem nichtsnutzigen Taugenichts Ruhe, wahrscheinlich liegt er bereits unterm Rasen, »aber ich, Herr Pfarrer«, sagte ich mit gesenkter Stimme, »ich weiß, daß der Großvater noch am Leben ist, denn er hat sich mir noch nie gezeigt …« »Wieso hat er sich noch nie gezeigt«, flüsterte der Pfarrer. »Wenn ich und Frau Hermína Nosálová, die Spiritistin aus Radvanice, kennen Sie sie, Herr Pfarrer? die Geister zitieren, hat sich der Großvater noch nie gemeldet. Frau Nosálová sagt, ich sei das beste Medium, mit dem sie jemals zusammengearbeitet hat, und wenn es nicht einmal mir gelinge, den Großvater aus dem Jenseits herbeizurufen, dann befinde er sich mit Bestimmtheit nicht unter den Toten. Aber der Großmutter Zabalski wäre es wohl lieber, wenn sich der Großvater bereits unterm Rasen befände; denn nach jeder erfolglosen Séance beschimpft sie die 66
Frau Nosálová als Scharlatan und ohrfeigt mich, weil ich sie nicht mit dem Großvater in Verbindung gebracht habe.« »Bei allen Wunden Christi«, flüsterte der Herr Pfarrer. »Mein Vater hat die Volksliste unterschrieben«, fuhr ich fort, »aber er hatte keine große Lust dazu, doch Herr Wenzel Deutscher – ich habe ihn schon gekannt, als er noch Václav hieß – der ehemalige Spieler des S. C. Mährisch Ostrau, hat so lange auf meinen Vater eingeredet, bis der nachgegeben hat. Und auch die Großmutter ist ihm in den Ohren gelegen und hat gesagt, jetzt winke uns allen eine bessere Zukunft, und wenn der Vater sich weigere, die Volksliste zu unterschreiben, dann würde sie selbst und ihre Tochter, also meine Mutter, sie unterschreiben, denn sie wisse nur zu gut, was die Witwe eines Rittmeisters der österreichisch-ungarischen Armee jetzt zu tun habe. Die Großmutter hat meinem Vater direkt ins Gesicht gesagt, falls er nicht unterschreibe, würden beide von ihm wegziehen und ihn seinem Bäckerelend überlassen. Und so hat mein Vater dem Herrn Deutscher die Volksliste unterschrieben, und nachdem das geschehen war, hat sich Herr Deutscher die kurzen Hosen hochgezogen und hat zum Vater gesagt, sie hätten sich also wegen des Übertritts doch noch geeinigt. ›Als Innenstürmer‹, sagte Herr Deutscher, ›habe ich Ihnen für den F. C. nicht gepaßt, und als ich Ihnen später dann doch entsprochen hätte, hat es wiederum mir nicht gepaßt, neben einem Juden und einem Bolschewiken zu spielen, und jetzt sind Sie es also, Herr Geschäftsführer, der sich für uns als Kanonenfutter 67
eignete Herr Deutscher hat gelacht, auch der Vater, die Großmutter Zabalski hat sich vor Lachen ausgeschüttet und zu Herrn Deutscher gesagt: ›Ach gehen Sie, Herr Deutscher, machen Sie keine Witze!‹ Nur meine Mutter hat sich über den Waschtrog mit den von dem Sonntagsspiel schmutzigen Trikots gebeugt und hat geweint, doch niemand hat sie beachtet. Aber das muß ich sagen, Herr Deutscher war ein guter Spieler, und nachdem er genügende Routine bekommen hatte, gehörte er zu den besten Fußballern unserer Stadt, mein Vater wollte ihn für acht Tausender kaufen, doch das ist nicht zustande gekommen … Was meine Mutter sich nur wegen dieser Unterschrift auf der Volksliste die Augen ausgeweint hat, sie weint jetzt in einem fort und sagt, das alles habe sie bereits auf den Tod ermüdet, die Trikots, der Vater, das Geschäft, und jetzt das noch, sie pfeife auf den ganzen Rittmeister von Zabalski, dieser Name habe sie schon ganz verrückt gemacht, wir sollten uns ein für allemal klarmachen, daß der Großvater ein Schürzenjäger und Kartenbruder gewesen sei und die Großmutter solle froh darüber sein, daß er sich aus dem Staube gemacht habe. Dann hat die Mutter gesagt, sie fühle die Last einer großen Sünde auf sich, sie wolle diese nur mehr durch Demut von sich abwaschen, den Vater beschützen, auch wenn er die größte Dummheit beginge, doch das mit der Volksliste hätte er nicht tun dürfen …« »Jesus Maria!« stieß der Pfarrer hervor. Dann fragte er mich, ob man mir daheim vor dem Schlafengehen Märchen erzähle. »Nein, Märchen nicht«, erwiderte ich, »aber wenn mein 68
Vater guter Laune ist, dann erzählt er mir immer, wie er einmal eine Küchenschabe verspeist hat. Das gibt dann bei uns stets ein Riesengelächter! Am lautesten lacht die Großmutter, sie muß sich an die Wand lehnen, um nicht umzufallen, und dann zeigt sie in einem fort auf den Vater und sagt: ›Schaut euch nur den an, er hat eine Schabe verspeist, eine Schabe!‹ Die Mutter lächelt von ihrem Waschtrog zu uns herüber, aber mit einem Male sagt sie ›also genug damit!‹« Aber ein so großer Spaß war das mit dieser Küchenschabe nun auch wieder nicht. Mein Vater erzählt diese Episode immer wieder, bis zum Überdruß, er weiß nämlich aus den Jahren seiner Gesellenzeit in der Bäckerei und Konditorei des steinreichen Herrn Meister Josef Kadlec auf dem Stadtplatz nichts/Besseres zu berichten. Herr Kadlec war Senator der Gewerbepartei gewesen, und so kam es häufig vor, daß er sich in seiner Backstube vor den Gesellen in Reden über die strebsamen Gewerbetreibenden erging, die sich durch persönlichen Fleiß in den Sattel geschwungen und es zu führenden Stellen in der Stadt und im Staat gebracht hatten. Offenbar hatte sich auch mein Vater recht lebhaft vorgestellt, wie er sich emporarbeiten würde, doch schon nach einem oder zwei Jahren hatte er gewissermaßen die Geduld verloren, als es sich nämlich gezeigt hatte, daß der Herr Senator im Laufe der Zeit seine Schilderungen zwar in den leuchtendsten und verlockendsten Farben ausschmückte, die Realität für einen Bäckergesellen aber von Tag zu Tag düsterer wurde. 69
Mein Vater hat sich nie dazu bekannt, doch ich kann mir gut vorstellen, daß er so etwa im zweiten Jahr Herrn Kadlec zu hassen begann. Das ist nur ganz natürlich. Er hatte dann nur noch auf eine passende Gelegenheit gewartet, um den wackeren Meister und Senator Kadlec eins auswischen zu können. Die Gelegenheit bot sich, und der Vater benützte sie auch, doch war dies keine Gelegenheit von besonderem Format, eben nur so eine Episode. Es war irgendwann im Jahre 926, als Frau Luisa Hrnčárková, die Inhaberin einer Elektroinstallations- und Neonleuchten-Firma, in der Konditorei des strebsamen Herrn Senator Josef Kadlec ihren Nachmittagskaffee einnahm und sich dazu ein Stück Biskuittorte bestellte. Als Frau Luisa Hrnčárková, Elektroinstallation und Neonleuchten, mit ihren feinen Zähnchen in die Biskuittorte hineinbiß, stellte sie fest, daß in diesem Gebäck eine Küchenschabe eingebacken war, deren Hälfte sie bereits hinuntergeschluckt hatte. Frau Luisa Hrnčárková, die größte Klatschbase der Stadt und Inhaberin einer eingeführten Firma, eine energische Frau, die ihren Gatten schon nach zehnjähriger Ehe unter den Rasen gebracht hatte, schrie entsetzt auf. Der Herr Chef, der Senator Kadlec, war selbstverständlich sofort zur Stelle und stand der gnädigen Frau zur Verfügung, und als er dieses ärgerliche Malheur mit der eingebakkenen Küchenschabe feststellte, ließ er sich sofort den Gesellen Jaroslav Lapáček kommen, der diesen Biskuit gebacken hatte. Der Herr Senator, von Beruf Inhaber eines Bäckerund Konditorgewerbes, erklärte meinem Vater vor allen 70
Anwesenden im Laden, ihm habe die letzte Stunde bei seiner Firma geschlagen, er möge seine Sachen zusammenpacken, sich seinen Lohn auszahlen lassen, er könne gehen. Und wenn er sich darüber wundere, aus welchem Grunde er, ein Chef von außerordentlicher Rücksicht seinen Angestellten gegenüber, ihn entlasse, dann möge er sich nur gefälligst davon überzeugen, was die gnädige Frau in ihrem Biskuit, den Lapáček gebacken hatte, vorgefunden habe. Der Herr Senator hielt meinem Vater den Teller mit der Hälfte des Biskuits unter die Nase und brüllte: »Ihretwegen lasse ich mir den guten Ruf meiner Firma nicht ruinieren!« Frau Luise Hrnčárková, Elektroinstallation und Neonleuchten, saß verlegen da und wurde sichtlich blaß. Mein Vater sah sich die Hälfte der Küchenschabe an, die von den feinen Zähnchen der korpulenten Inhaberin des Elektroinstallateurgeschäftes schön exakt abgebissen war. An diesem Tag mußte den Vater wohl der heilige Geist, oder was es sonst gewesen sein mag, erleuchtet haben, er nahm den Rest des Biskuits vom Teller und untersuchte die eingebackene Küchenschabe. »Herr Chef«, begann mein Vater vor Aufregung über seinen genialen Einfall hervorzustottern, »Herr Chef, das ist doch gar keine Küchenschabe, wo würden denn in unserer Backstube Schaben herkommen, das ist doch nur eine eingebackene Rosine, sie ist ein bißchen angebakken, ich muß mich bei Ihnen, gnädige Frau, für diese angebackene Rosine entschuldigen, ich bitte vielmals um Entschuldigung …« 71
Mein Vater schälte dann die eingebackene Küchenschabe, jetzt eigentlich nur mehr die Hälfte davon, mit dem Fingernagel aus dem Gebäck heraus, steckte sie in den Mund und zerkaute sie mit Genuß. »Ich habe es doch gleich gesagt, Herr Chef«, bemerkte der Vater, indem er seinen Mund zu einem Lächeln verzog, »das war nur eine angebackene Rosine, nichts weiter.« Schon wollte der Senator Kadlec den Mund öffnen, um den Vater für diese ungeheuerliche Frechheit zu beschimpfen, doch dann schloß er ihn wieder, denn dem Meister war aufgegangen, daß sich hier eigentlich ein Ausweg aus der Misere anbot. Der Frau Luisa Hrnčárková war wieder die Farbe ins Gesicht zurückgekehrt; und sie begann über das ganze Lokal zu kreischen, sie würde es nicht dabei belassen, es sei eine Schabe gewesen, und sie würde das bei den Ämtern anzeigen. »Meine Gnädigste«, sagte der Herr Senator mit einer Verbeugung, »es hat sich doch herausgestellt, daß es nur eine angebackene Rosine war, Madame, Sie haben sich bestimmt geirrt, wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen das Gebäck gegen ein neues austauschen …« »Ich werde es nicht dabei belassen«, erwiderte Frau Luisa Hrnčárková, ihre Stimme bis zu massiver Schroffheit steigernd, »es war eine Schabe und damit basta!« »Meine Gnädigste«, sagte der Herr Senator Kadlec lächelnd, »ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie eine eventuelle Beschwerde belegen müßten … ehm … durch den Beweisgegenstand, nicht wahr, also in diesem Fall durch eine in meinem Teig eingebackene Küchen72
schabe. Und weil Sie die in meinem Teig eingebackene Schabe nicht vorlegen können, so mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich jede Verbreitung von Verleumdungen dieser Art als Schädigung des guten Namens und Rufes meiner Firma auffassen müßte.« Frau Luisa Hrnčárková verstummte und senkte die Augen. Sie mußte sich ihre Niederlage eingestehen und ließ sich ohne Widerrede ein anderes Gebäck bringen. In der Backstube nahm sich der Herr Meister meinen Vater beiseite. »Herrgott, Lapáček«, sagte der Herr Senator voll Verwunderung, »wie konnten Sie nur eine Schabe hinunterschlucken, verdammtnochmal, Sie Kerl, Sie haben aber einen guten Magen … und über die Sache mit der Kündigung machen Sie sich weiter kein Kopfzerbrechen. Und damit ist die ganze Angelegenheit erledigt.« »Das ist sie nicht«, erwiderte mein Vater und zog den Herrn Senator näher zu sich heran, »der Fall dieser einen Schabe ist erledigt, doch vielleicht könnten sich im Gebäck weitere und weitere finden … und wenn dann irgendwer das Gewerbegremium darauf aufmerksam machte, wenn jemand zum Beispiel in einer kommunistischen Zeitung einen Artikel darüber schriebe, so ein kleines Feuilleton, wie ein strebsamer Gewerbetreibender und Senator seinen Teig aufbessere, das würde die ganze Stadt außerordentlich amüsieren …« Der Bäcker und Konditor Kadlec erbleichte. Mit forschendem Blick betrachtete er meinen Vater, er begann erst gar nicht zu toben, schüttelte nur den Kopf, schwieg einen Moment und sagte dann: 73
»Schau, schau, wer hätte das nur von Ihnen gedacht, Lapáček, falls Sie nicht einmal ein ganz böses Ende nehmen, dann werden Sie es bestimmt noch weit bringen, wer hätte das nur von Ihnen gedacht!« »Ich will den guten Namen Ihrer Firma nicht beschmutzen, Herr Chef«, flüsterte der Vater, »denn ich will es doch auch einmal zu einem eigenen Laden und zu einer eigenen Backstube bringen. Und jetzt, Herr Chef, glaube ich, ist die günstige Gelegenheit für mich da, ich habe mir bereits eine Räumlichkeit in hübscher, frequentierter Lage, beim Platz des F. C. Schlesisch Ostrau ausgesucht, und ich würde nur noch ein paar Kleinigkeiten benötigen, die ich Ihnen billig abkaufen möchte. Könnten wir uns nicht jetzt, gleich auf der Stelle, darüber einig werden, Herr Chef? Sie überlassen mir etwas von Ihrer älteren Einrichtung zu einem anständigen Preis … und diese Schabe wollen wir für immer vergessen …« »Verdammtnochmal«, stieß der Herr Senator hervor, »verdammtnochmal, Sie gehen da ganz schön scharf ran, Lapáček, das ist halt die Jugend, ja die Jugend. Wir werden das alles noch genau besprechen …« Das war der Beginn von meines Vaters Gewerbe im Haus beim Platz des F. C. Schlesisch Ostrau. »Meine Mutter sagt: ›Also genug damit‹, Herr Pfarrer, die Großmutter verschluckt sich noch zweimal und verschwindet dann in ihr Kämmerchen. Und am Abend erzählt mir dann der Vater statt eines Märchens diese Geschichte, wie er einmal eine Küchenschabe verspeist hat.« 74
»Jesus Maria«, stieß der Pfarrer nochmals hervor. Ich hatte mich schon an das Dämmerlicht in der Kirche gewöhnt. Ich beobachtete die Lippen des Herrn Pfarrers und wünschte mir, daß er für mich betete. Dann senkte der Pfarrer den Kopf. »Soll ich jetzt mit der Beichte beginnen?« fragte ich. »Nein, mein Sohn«, erwiderte der Priester, »das genügt mir. Geh zum Hauptaltar hin, knie dort nieder, und denke etwas Schönes über den Vater, die Mutter und die Großmutter. Das ist alles.« Ich war mir dessen bewußt, daß ich alles sagen mußte. Ich mußte mich nicht überwinden, nicht ein bißchen. Ich sagte nur leise: »Herr Pfarrer, ich bin gar nicht getauft …« Ich hatte befürchtet, er würde mich aus der Kirche weisen, zumindest würde der Boden erzittern, die Erde sich öffnen und ich in die alten Gänge der Kohlenschächte, in die Finsternis, hinabsinken. »Ist dir jetzt leichter zumute, mein Junge?« fragte der Priester. »Ja«, erwiderte ich, denn ich war wirklich überzeugt, eine Erleichterung zu verspüren. »Also geh schon zum Altar hin«, sagte lächelnd der Pfarrer. »Und morgen, darf ich morgen auch kommen?« fragte ich. »Komm nur«, erwiderte der Priester und preßte die Lippen zusammen, »komm und empfange den Leib des Herrn! Amen!« Eva Schubert kniete bereits beim Altar, und als ich 75
mich neben sie hinkniete, neigte sie sich zu mir und flüsterte mir zu, ich müsse wohl verdammt viel Sünden gehabt haben, daß mich der Pfarrer so lange zurückgehalten habe. Ich schwieg. »Wirst du nicht dein Bußgebet verrichten«, flüsterte mir Eva ins Ohr. »Nein«, erwiderte ich, »der Herr Pfarrer hat zu mir gesagt, ich müsse nicht beten.« Ich senkte den Kopf und dachte an den Vater, die Mutter und die Großmutter. Ich bemühte mich wirklich, im guten an sie zu denken, doch das gelang mir nicht, zumindest nicht beim Vater und bei der Großmutter Zabalski. Und als ich an die Mutter dachte, fühlte ich mich dem Weinen nahe, doch ich weiß nicht, warum, ob aus Mitleid oder Wut, ich war ganz einfach dem Weinen nahe, ich sah die Mutter vor mir, über den Waschtrog mit den verschwitzten Trikots des F. C. Schlesisch Ostrau gebeugt und wußte überhaupt nicht, was ich über sie denken sollte. Nur die Tränen, die mir den Blick auf den wunderschönen Altar verschleierten, brachten mich in Verwirrung. Dann sagte ich mir, ich stecke wieder einmal mitten im Malheur drin, der Vater hat mich in dieses Malheur gebracht, ich habe mich in all dem verfangen und weiß nicht, wie ich da herauskommen soll, ich weiß eigentlich nicht, ob es nicht besser wäre, mich zu erheben, aus der Kirche wegzugehen, die Tür zuzuschlagen und keinen Schritt mehr hierher zu tun. Mit einem Male wußte ich überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte. Und so 76
blieb ich nur beim Hauptaltar knien, ich erinnere mich aber nicht mehr genau daran, ob ich den Vater und die Großmutter Zabalski verwünscht oder aber auf meine Weise für sie gebetet hatte. Am nächsten Tag empfing ich, wenn auch als Ungetaufter, den Leib des Herrn.
4 Während der letzten Jahre hat sich der Geist meiner Großmutter Zabalski total verwirrt, sie selbst ist zusammengeschrumpft, verkümmert, sie hat sich ganz nach innen verzogen und ihre letzten Lebensreste so fest in ihr Inneres hineingepreßt, daß sich ihre arme Seele nicht mehr herauszuwinden vermag. Die Alte weigert sich zu sterben. Wenn ich daran denke, daß sie vielleicht noch zwei oder drei Jahre leben sollte, wird mir ganz übel. Es ist auch ein Problem, daß ich nicht einmal weiß, wie alt sie eigentlich ist. Nach dem Jahre 945 haben wir ganz vergessen, ihre Geburtstage zu zählen; zwar besitzt die Alte irgendwelche Personaldokumente, aber aus ihnen kann niemand klug werden. Sie sind von drei verschiedenen Regimes ausgestellt, jedes von ihnen hat irgend etwas weggelassen oder dazugetan, so daß sich heute niemand mehr in diesen Papieren auskennt. Ich will jedoch nicht behaupten, daß mir die Alte zur Last fiele. Sie kostet mich so gut wie nichts. Von etwas Suppe und Tee lebt sie den ganzen Tag; wenn ich guter 78
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Laune bin, bringe ich ihr eine Flasche Sherry mit, und der belebt sie immer ein bißchen; ihre Augen werden munterer, ihr Geist gewinnt auf erstaunliche Weise an Klarheit, und dann erzählt sie mir immer eine solche Menge von Dingen, daß sich mir der Kopf zu drehen beginnt. Die Alte ist unverwüstlich. Sie hat Kaiser, Präsidenten, den Führer, Reichsprotektoren und so manchen kommunistischen Führer, einschließlich Stalin, überlebt. Nichts vermochte ihr etwas anzuhaben. Stets fand sie ein Schlupfloch, durch das sie dann immer wieder mit verhältnismäßig heiler Haut, wenn auch manchmal ein wenig ramponiert, davonkam. Am meisten hat ihr der Rittmeister Georg von Zabalski zugesetzt. Auf den Großvater kann sich die Großmutter nicht genug zugute tun. Er stammte aus der Familie derer von Zabalski, die durch Generationen hindurch Ihrer kaiserlich-königlichen Majestät ergebene Rittmeister, Majore und Oberste stellte, durchwegs Frauenhelden und Kartenspieler, wie man sie suchen muß. Als der Großvater im Jahre 9 den Sold seiner Soldaten im Kartenspiel durchbrachte, ien J rlic r n
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daß er ein Schlachtermesser und einen Schleifstein in Händen hielt; er vernahm ein scharfes Ritsch, Ritsch, Ritsch, während er automatisch die Schneide des Messers abzog und Frau Preis mit gläsernem Blick wie einen Geist anstarrte. Aber die gleichmäßigen, tausendmal wiederholten Bewegungen entlang der Schneide des Messers wirkten beruhigend auf ihn, so daß er jetzt zu sprechen imstande war. Der Metzger begann mit stockender Stimme, doch dann löste sich seine Zunge, und er wurde gesprächig. »Ich bin nun einmal so, Frau Preis, immer mutterseelenallein, wie könnte ich mich denn trauen, Frau Preis, ich, ach nein, ich würde Sie fürs ganze Leben unglücklich machen! Schauen Sie mich nur an, ich kann doch nicht einmal ordentlich reden. Nicht einmal der Fußballsport interessiert mich mehr, seitdem der Lapáček diesen einarmigen Krüppel aus Friedek hergebracht hat, sieht es mit mir schlimm aus. Sie müssen doch zugeben, Frau Preis, der Motl, der ist kein Spieler …« »Nein, wahrhaftig nicht, Herr Cach, der Motl, der kann sich doch mit Ihnen überhaupt nicht messen!« »Wenn die mir zugerufen haben, ich soll einen Spieler umlegen, dann ist der Kerl auch zu Boden gegangen und hatte mit sich zu tun, um bis zum Ende des Spiels durchzuhalten. Und jetzt soll ich auf einmal keine Technik mehr haben …« »Aber gewiß, Herr Cach, Sie haben Technik, das kann ich bestätigen!« »Jetzt spielt man angeblich nur mit Technik, Kraft bedeutet überhaupt nichts mehr …« 146
»Ein starker Mann hat immer noch seinen Wert, Herr Cach«, flüsterte Frau Preis. »Ach, haben Sie aber schöne Muskeln«, fügte sie noch hinzu. Herr Emerich Cach schwieg, das scharfe Ritsch, Ritsch, Ritsch tönte durch den Metzgerraum, und von Zeit zu Zeit drang das Geschrei vom Fußballplatz herüber. Dann setzte sich Frau Preis neben Herrn Cach aufs Bett und begann seine muskulösen Arme zu streicheln, blieb aber stumm, denn sie führte im Geiste mit dem seligen Nathan Preis ein Gespräch, dem strenggläubigen Juden und vormaligen Inhaber eines Altpapier- und Alteisenhandels, der aber auch Lumpen, Knochen und Leder annahm. ›Schließ jetzt die Augen, Nathans sagte Frau Preis für sich, ›schließ die Augen und sei deiner armen Rosa nicht böse … was habe ich doch die ganzen Jahre hindurch in Emerich hineingeredet, du hast mir doch von drüben ausrichten lassen, ich dürfe ihn heiraten, aber er will nicht, Nathan, er will nicht … deine Rosa kann schon nicht mehr, die Erde unter mir schwankt, Nathan, was geht da vor, ich versinke …‹ Bestimmt hatte jetzt Frau Preis ihre Bluse aufgeknöpft, und ich kann mir auch denken, daß ihre Finger dabei zitterten, dann preßte sie sich mit ihrer Blöße an Herrn Cach; die Armbewegungen des Metzgers verlangsamten sich nun, es ist nicht sicher, ob vor Erregung oder auch nur deswegen, weil er in dem Augenblick, als Frau Preis ihren Busen an seine Arme preßte, ganz einfach mit dem Schleifstein nicht mehr so rasch über die Schneide des Messers fahren konnte wie zuvor, da er noch seine Arme frei gehabt hatte. 147
Offenbar war aber in diesem Moment mit Herrn Cach erneut eine Veränderung vor sich gegangen. Auf diesen Augenblick hatte Frau Preis lange gewartet. Dem Metzger schien nämlich, als verlangsame sich alles, auch die Geräusche vom Fußballplatz her wurden langsamer, er versuchte noch zwei oder drei Schleifbewegungen zu machen, doch bei der letzten fiel Herrn Cach das Messer aus der Hand. Er lächelte, denn alle Klänge schienen ihm wie aus einem alten Grammophon zu kommen, dessen Feder keine Energie mehr hat, um die Umdrehungen des Plattentellers gleichmäßig einzuhalten. »Die Töne gehen unter«, flüsterte Herr Cach, »und alles wird still sein.« Weil Herr Cach die Hände jetzt bereits frei hatte, kam wieder diese Unruhe in seine Arme, er spürte, wie sich alle Muskeln in ihm spannten, und dann kehrte endlich Ruhe in ihn ein: Fest umarmte er jetzt Frau Preis. »Ach, Herr Cach«, hauchte Frau Preis. Und dann herrschte vollkommene Stille. Herr Cach war über die so plötzlich eingetretene Stille sehr froh. Wenigstens mußte er nicht mehr reden. Auf dem Platz des F. C. schrien die Zuschauer »Tor«, doch Herr Cach, Metzger und ehemaliger Verteidiger, hörte nichts mehr. Und auch Frau Rosa Preis nicht. Ich schäme mich vor Frau Preis. Sobald sie in ihrer gestreiften KZ-Kluft und dem geschorenen Kopf an meinem Bett erscheint, habe ich das Gefühl, als blicke sie mich nur allzu vorwurfsvoll an, als prüfe sie mich. 148
»Frau Preis«, sage ich, »Ihr Nathan hat Ihnen damals nichts ausrichten lassen, über Emerich Cach haben wir miteinander überhaupt nicht gesprochen. Ich hatte Angst vor Ihrem Nathan.« »Ich weiß«, erwidert Frau Preis lächelnd, doch ich bin überzeugt, sie mußte sich dieses Lächeln abringen, um mich zu beruhigen. »Diese Lüge habe ich dir, Lojzek, schon längst verziehen, du hast es gut mit mir gemeint. Diese paar Jahre der Liebe mit Herrn Cach waren die schönsten, die ich hatte … nach diesen Jahren konnte nichts mehr anderes kommen als das große Feuer, Lojzek. Ich wäre sowieso an meinem Feuer zugrunde gegangen, Lojzek, ich hätte mich um Cachs willen zu Tode gequält, so sehr habe ich ihn geliebt.« »Vergessen Sie den Cach«, sage ich. »Er ist keiner Erinnerung wert …« »Doch, er ist es, Lojzek«, erwidert Frau Preis lächelnd. »Er hat Sie im Stich gelassen, als Sie ihn am meisten gebraucht hätten.« »Er hatte große Angst«, sagt Frau Preis, »heute weiß ich bereits, was Angst ist.« »Auch ich, Frau Preis.« »Wer hätte denn im Jahre 939 noch eine Jüdin mit einem Kind geheiratet?« »Aber ihr hättet doch früher heiraten können …« »Ja, das hätten wir schon, aber er hat immer darauf gewartet, bis es mit seinem Geschäft etwas aufwärts ginge. Er wollte mich nicht heiraten, damit ich nicht glaubte … er habe mich des Geldes wegen genommen. Er war kein schlechter Kerl …« 149
Dann schweigen wir nur noch. Ich möchte aber Frau Preis nicht an Karel Pastrňák erinnern, den ehemaligen Läufer des F. C. Schlesisch Ostrau und verkrachten Sodawasser-Erzeuger, der sich später als Spediteur selbständig gemacht hatte. Nachdem man Emerich Cach herausgenommen hatte, konnte sich Karel Pastrňák noch zwei oder drei Jahre in der Mannschaft halten. Als man ihn aber dann dennoch durch einen jüngeren Fußballer ersetzte, hatte dabei das Vordringen einer Konkurrenz-Limonadenfirma auf das Schlesisch Ostrauer Ufer eine gewisse Rolle gespielt. Karel Pastrňák hatte nämlich das vertraglich zugesicherte Privileg, bei den Begegnungen auf dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau dürfe während der Pausen nur seine Limonade verkauft werden; freilich hatte der Sodawasser-Erzeuger die Verbreitung seiner Produkte bei den Geschäften und Wirtshäusern in Schlesisch Ostrau falsch eingeschätzt, so daß er auf dem rechten Ufer des Flusses fast alle seine Abnehmer verlor. Die Firma Jakob Hiršl, Erzeugung und Versand von Lebensmitteln aus Mährisch-Ostrau, beherrschte mit ihrer billigen gelben Limonade nach und nach den ganzen Schlesisch Ostrauer Markt. Endgültig ereilte den ahnungslosen Karel Pastrňák die Katastrophe an jenem Tag, an dem der Ausschuß des F. C. Schlesisch Ostrau in der Wirtsstube »Zur Eiche« seine Verhandlungen mit einigen einflußreichen Bürgern aus Mährisch Ostrau, die den Club finanziell unterstützen wollten, aufnahm. Diese Verhandlungen kann man als bedeutsamen Wendepunkt in der Geschichte des F. C. Schlesisch Ostrau bezeichnen. Bislang hatten 150
die begüterten Bürger von Mährisch Ostrau das proletarische Schlesisch Ostrau ignoriert, doch mit einem Male hatte es sich gezeigt, daß sich die sportlichen Zukunftschancen der Stadt, vor allem aber ihr Fußballruhm, definitiv auf den Platz des F. C. Schlesisch Ostrau verlagert hatten. Zwar erntete der Club genug Ruhm, aber der Ausschuß mußte feststellen, daß zu einer weiteren Entfaltung das Geld fehlte. Es war notwendig geworden, Barmittel zum Einkauf neuer Spieler aufzutreiben, und so begann man die Fühler nach Mährisch Ostrau auszustrecken. Einf lußreiche und vermögende Fußballfans aus Mährisch Ostrau boten großzügige finanzielle Hilfe an und versprachen auch für die Errichtung einer neuen Tribüne ihr Scherflein beizutragen, unter der Voraussetzung, der F. C. gestatte ihnen, das Aussehen des Platzes durch die Reklame ihrer Firmen bunter zu gestalten. Zwei oder drei Herren erklärten sich bereit, in Zukunft wichtige Funktionen im Club übernehmen und auch für finanzielle Zuwendungen sorgen zu wollen, deren Absetzung dann in den betreffenden Einkommensteuererklärungen beim Finanzamt so manche Verwirrung stiftete. Dem Ausschuß trat auch Herr Jakob Hiršl bei, Inhaber einer Lebensmittelerzeugungs- und Versandfirma, mit dem man ein Abkommen traf, das ihm für die nächste Saison den Monopolverkauf seiner Limonaden auf dem Platz zusicherte. Herr Hiršl revanchierte sich dem Club gegenüber: Er bezahlte die Miete für die an der Haupttribüne angebrachten Reklametafeln seiner Firma für fünf Jahre im voraus. 151
Nach einem halben Jahr war Herr Karel Pastrňák, Läufer und Sodawasser-Erzeuger, bankrott. Alles nahm erstaunlich rasch seinen Lauf und begann damit, daß die Städtische Sparkasse, in deren Verwaltungsrat Herr Hiršl den Vorsitz führte, Herrn Pastrňák den Kredit kündigte. Das Fundament für eine weitere Entfaltung des F. C. Schlesisch Ostrau und seinen Ruhm war also gelegt. In der nächsten Saison, im Jahre 936, kämpfte sich der F. C. in die Division hinauf. Noch am selben Abend, nachdem der Exekutor Herrn Pastrňáks Betrieb gepfändet hatte, kam der SodawasserErzeuger zu Frau Preis, setzte sich an den Tisch, ließ den Kopf hängen und sagte, nun sei er also erledigt. Sogar das Abendbrot wies er zurück. »Trinken Sie einen Schluck Kaffee, Herr Pastrňák«, redete ihm Frau Preis gut zu, »ich werde Ihnen einen starken Kaffee aufbrühen, der wird Sie schon wieder auf die Beine bringen. Mein Nathan hat sich dreimal niedergelegt, sich aber immer wieder aufgerappelt. So ist das nun mal beim Geschäft, Herr Pastrňák, anders ist das nicht zu machen.« Herr Pastrňák schlürfte dann seinen heißen Kaffee, seine Züge belebten sich allmählich, und nachdem er ihn ausgetrunken hatte, war die Blässe bereits wieder aus seinem Gesicht gewichen. »Frau Preis«, begann er mit Demut in der Stimme, »wie wär’s mit uns beiden, wenn wir uns zusammentäten … Sie mit Ihrem Geld … ich würde meine ganze Seele da hineinlegen.« 152
Ich kann mir vorstellen, wie Frau Preis den Kopf zurückwarf und lachte. »Aber Herr Pastrňák, was ich brauche, ist Liebe, hören Sie, Liebe … mir geht es um nichts anderes als um Liebe …« »So verkaufen Sie mir«, flüsterte Herr Pastrňák, »wenigstens das Auto Ihres seligen Nathan.« »Ich brauche ein tüchtiges Mannsbild mit viel Liebe«, lachte Frau Preis. »Die Liebe würde schon von selbst kommen«, sagte Herr Pastrňák und hob den Kopf, »das alles würde kommen, sobald ich mich nur wieder auf die Beine gestellt hätte. Glauben Sie mir, Frau Preis«, beteuerte Herr Pastrňák, und seine Stimme überschlug sich, »ich würde Sie sehr liebhaben«; aber offenbar hatte er sich allzusehr bemüht, seine Stimme im rechten Augenblick und beim rechten Wort überschlagen zu lassen. Ich muß sie unbedingt direkt am Herzen packen, hatte er sich gesagt. Doch Frau Preis war nicht auf den Kopf gefallen; sie erlebte in diesen Jahren gerade ihre große Liebe zu Herrn Emerich Cach, sie fühlte sich in dieser Liebe geborgen wie hinter einem sicheren Schutzwall, den nicht einmal die sich überschlagende Stimme des verkrachten Sodawasser-Erzeugers zu erschüttern vermochte. »Machen Sie mir doch nichts vor, Herr Pastrňák«, fuhr Frau Preis lachend fort, »Sie tun mir ja leid, aber machen Sie mir nichts vor, ich bin keine barmherzige Samariterin, ich will in erster Linie immer nur mich selbst retten.« 153
Und ich kann mir gut vorstellen, mit welcher Anstrengung Herr Pastrňák seine Rolle gespielt hatte. Als er aber erkannte, daß das mit dem Überschlagen der Stimme ein Hereinfall gewesen war, daß er damit hier nichts erreichen könne, entschloß er sich, sich in dieser Angelegenheit wie ein Mann zu benehmen. Schon wollte er stolz mit erhobenem Kopf zu Frau Preis sagen, sie möge also ihre jüdischen Moneten für sich behalten, er sei nicht gekommen, um sich erniedrigen zu lassen, sie habe seinen Antrag abgelehnt, nun gut. Doch zu diesen Worten konnte er sich nicht durchringen, dazu fehlte ihm der Mut. Die Pfändung hatte ihn zu stark mitgenommen. Er sah nur, wie Frau Preis sich durchbog und ihr Kehlkopf vor Lachen vibrierte; er erkannte, daß er verloren war, und da versagte Herrn Pastrňák die Stimme endgültig. Um das Maß seines Pechs vollzumachen, war Frau Preis so mit ihrem Lachen beschäftigt, das heißt, sie war bemüht, sich mit ihrem Lachen vor Pastrňák wirkungsvoll in Szene zu setzen, daß sie überhaupt nicht merkte, wie dem Sodawasser-Erzeuger die Stimme diesmal wirklich versagte. »Ich bin total ruiniert«, sagte Herr Pastrňák. Jetzt hörte Frau Preis zu lachen auf, nur noch ein unterdrücktes Gurgeln war aus ihrer Kehle zu vernehmen. »Also Herr Pastrňák«, sagte sie, »damit Sie nicht ganz mit leeren Händen von hier weggehen, will ich Ihnen Nathans Auto verkaufen, ich gebe Ihnen den Wagen zu einem sehr billigen Preis, Sie können sich ihn ja noch etwas instand setzen lassen …« »Wieviel verlangen Sie dafür?« flüsterte Herr Pastrňák. 154
»Fünf Tausender«, erwiderte Frau Preis, »er ist noch fast neu.« Ich bin überzeugt, Frau Preis hätte ihm bestimmt noch einen Tausender nachgelassen, wenn Herr Pastrňák sie nur darum gebeten hätte. Aber der Sodawasser-Erzeuger war wirklich bereits ganz fertig. Nur die Vorstellung, wie er sich schon hinter dem Volant des Dreitonnen-Lasters Marke »Praga« sitzen sah, hielt ihn davon zurück, in Frau Preisens Küche daraufloszuheulen. »Ich nehme ihn«, sagte er. Herr Karel Pastrňák unterschrieb Frau Preis einen Schuldschein. Aber später dann wollte er sich nicht dazu bequemen, ihn auch einzulösen. Im Jahre 939, als er zu zahlen schon wieder in der Lage gewesen wäre, war der schlaue Herr Pastrňák zu der Überzeugung gekommen, er würde wohl nichts mehr zu bezahlen brauchen. Und er bezahlte auch nichts.
10 In jenem Augenblick, da die Stahlkugel auf den Fußboden von Herrn Votočeks Kabinett niederging und sich unser Haus auf Nimmerwiedersehen empfahl, hatte ich das Gefühl, in die Erde zu versinken. Ein Schmerz befiel mich und senkte sich durch das Loch unter meinem Hals auf mein Herz herab, so daß ich glaubte, es nicht überleben zu können. Mir war zumute, als sei der letzte Wall gefallen, der mir noch Schutz geboten hatte. Ich wußte, unser Haus war ja keineswegs ein fester Wall gegen alle Zugluft und eisigen Winde gewesen; doch konnte ich mich wenigstens dieser Illusion hingeben. Es ist wahr, unser Haus hatte so manchen Riß aufgewiesen, durch des es scheußlich hereinzog; in den engeren Ritzen hatten sich Wanzen eingenistet. Ich kann mich noch genau an jeden einzelnen Riß erinnern. Diese Sprünge hatten eine seltsame Landkarte unbekannter Flüsse mit ihren Zuläufen gebildet. Das Meer, in das sich alle ergossen, war der Fußboden gewesen. 156
Während der Stille der Nacht vernahm ich immer, wie unser Haus in seinen Fugen barst und entdeckte dann am Morgen neue Flüsse und Zuläufe. Dieses von Rissen zerfurchte Haus war, so würde vielleicht ein Dichter von ihm sagen, keine wahre Heimstätte der Liebe gewesen. Liebe gab es genug in unserem Haus, nur war das offenbar eine etwas andere Liebe als jene, die uns in der Phantasie vorschwebt. Die Menschen in unserem Haus waren anders geartet gewesen. Wenn ich an die Liebe und an unser Haus zurückdenke, dann taucht Frau Preisens Bild vor mir auf, wie sie, unterm Arm einen Zuckerkarton, in dem sie ihr Silber verstaut hatte, in unserem Haus von Tür zu Tür geht, um zu sondieren, wer ihren Schatz in Verwahrung nehmen würde. »Frau Preis«, sagte Herr Emerich Cach leise, als sie vor ihm in seiner Metzgerei stand, »ich kann Ihnen das unmöglich aufbewahren, ich auf keinen Fall, ich habe doch ein Gewerbe …« Herr Cach wandte sich von ihr ab und griff zu Messer und Wetzstein. Die Schleif bewegungen entlang der Schneide des Messers wirkten stets beruhigend auf ihn. »Sie mögen mich also nicht mehr, Herr Cach?« »Aber gewiß«, erwiderte Herr Cach, »ich mag Sie, gibt es sonst noch was?« »Nichts mehr, Herr Cach«, erwiderte Frau Preis, »gar nichts mehr. Leben Sie wohl.« Ich könnte mir vorlügen, Frau Preis habe im Trep157
penhaus zu weinen begonnen. Doch dem war nicht so. Frau Preis hatte sich nur im Treppenhaus an die Wand gelehnt und versucht, sich ein wenig zu sammeln, denn sie glaubte, ihre Gedanken seien im Verlauf ihres Gesprächs mit Herrn Cach etwas in Unordnung geraten. Als sie so an die Wand gelehnt dastand, stellte sie jedoch fest, daß sie bereits alles vergessen hatte. Offenbar auch Herrn Cach. Nun marschierte sie auf Herrn Magister Votočeks Kabinett los. Unmittelbar darauf, nachdem sie bei ihm angeklopft hatte, öffnete ihr der Herr Magister, blickte sich um und ließ Frau Preis ein. Der Karton mit dem Silber lag jetzt auf einem Stuhl in der Mitte des Kabinetts, und Herr Votoček bemühte sich sehr, den Karton zu übersehen. Er wandte sich dem Fenster zu und sagte, seiner Meinung nach sei die Angelegenheit, über die er gerne mit Frau Preis sprechen möchte, niederträchtig und schmutzig. »Gleichwohl«, stieß Herr Votoček hervor, »in der heutigen schweren Zeit muß man auch die Gemeinheit ins Leben miteinkalkulieren … und sich manchmal sogar danach richten.« »Aber Herr Votoček«, hauchte Frau Preis, doch der Herr Magister ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich habe einen anonymen Brief erhalten, Frau Preis«, fuhr er fort, »in dem mir irgend jemand droht, falls ich mich noch länger bei der Jüdin verköstigen würde … dann … den gleichen Brief hat auch Herr Cach bekommen, er war deswegen bei mir …« Herr Votoček kehrte sich jetzt vom Fenster ab und Frau Preis zu und blickte 158
sie an, den Karton mit dem Silber wollte er nicht sehen. »Frau Preis«, fügte er noch hinzu, »nehmen Sie diesen Karton und gehen Sie, bitte gehen Sie!« Dann drehte sich Herr Votoček wieder zum Fenster und sah zum Platz des F. C. Schlesisch Ostrau hinüber, auf dessen verschneiter Spielfläche die erste Mannschaft ihr Training vor der Frühjahrssaison 94 abhielt. Wahrscheinlich war dann der Herr Magister froh darüber gewesen, nicht bemerkt zu haben, daß Frau Preis sein Zimmer bereits verlassen hatte. Des weiteren möchte ich mir auch vorlügen, Herr Votoček habe sich in dem Augenblick, nachdem er sich vom Fenster wieder dem Zimmer zugewandt und festgestellt hatte, daß Frau Preis bereits fort war, wenigstens ein bißchen geschämt. »Nein«, sagte Herr Votoček zu mir, als ich ihn im Trancezustand herbeirief, »ich habe mich nicht geschämt, ich glaube, ich fühlte mich bloß erleichtert. Niemand konnte doch von mir verlangen, das Silber der Jüdin aufzubewahren …« Mit Herrn Votoček kann man jetzt nicht mehr vernünftig reden. Seitdem er gewaltsam ums Leben kam – ist er zum Helden geworden. Herr Votoček wurde Ende April 945 auf dem »preußischen« * Ufer der Oder erschossen, wo er in Ludvikovice
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vgl. Anm. d. Ü. Seite 37
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an der weißen Mauer eines Bauernhauses sein Leben beendete. Wäre Herr Votoček auf der mährischen Seite der Oder geschnappt und erschossen worden, dann hätte man wohl aus ihm keinen Helden gemacht, denn auf der mährischen Seite gab es genug Helden, in Ludvikovice dagegen waren sie rar. Die Leute aus dem »Preußischen« waren nie dafür berühmt gewesen, aus ihren Reihen jemals Helden geliefert zu haben. Im Jahre 938 und vielleicht sogar schon etwas früher hatten sich die »Preußischen« plötzlich darauf besonnen, »heim ins Reich« zu wollen. Sieben Jahre später dann, als sie bereits den Donner der sowjetischen Kanonen vernahmen, sagten sie sich wieder, eigentlich seien sie doch keine »Preußischen«, sondern Mährer. Solange sie bei der Wehrmacht gedient hatten, waren sie haufenweise zu den Russen übergelaufen und hatten von sich behauptet, sie seien eigentlich Tschechen. Der Rest der Männer, der eingerückt war, hatte sich in sichere Verstecke hinter der Front verkrochen, aus denen er dann bei der Ankunft der Befreier, für die er zur Abwechslung jetzt wieder die Rote Armee hielt, als die Wiederverkörperung loyaler tschechoslowakischer Staatsbürger aufzutauchen gedachte. Das waren die Ursachen, deren historischen Hintergrund ich nicht analysieren will, da die »Preußischen« an ihnen ohnehin genug zu tragen haben, warum sich in Ludvikovice selbst keine Widerstandsgruppe gebildet hatte, so daß der Leichnam des Herrn Votoček, der 160
während der Zeit der Widerstandstätigkeit nachweisbar auf dem Terrain dieses Dorfes hingerichtet worden war, den neugebackenen Patrioten sehr in den Kram paßte. Unmittelbar nach dem Einzug der Roten Armee beschafften sich die beflissenen »Mährer« einen Sarg, nähten in aller Eile eine tschechoslowakische Fahne und paradierten mit des Herrn Magisters Leiche im ganzen Dorf herum; an Herrn Votočeks Grab feuerten dann die Rotarmisten eine Ehrensalve ab. Das war der Ursprung der Legende vom glorreichen Widerstandskämpfer in Ludvikovice, und bekanntlich sind Legenden stets tabu, so daß die Bürger von Ludvikovice, sofern sie einige Phantasie besaßen, die Mär erfinden konnten, sie hätten mit dem Magister während des Krieges zusammengearbeitet. Heute sind in Ludvikovice die Hauptstraße, die Schule und ein verwilderter, nicht instand gehaltener Park nach Herrn Votoček benannt. Die Legende vom heldenhaften Magister entwickelt sich weiter, und jedes Jahr, wenn die Dorfbewohner Ende April die Befreiung vom faschistischen Joch feiern, unter das sie sich mit so großer Freude und Eile selbst begeben hatten, kommen zu dieser Legende neue Ergänzungen hinzu, so daß in etwa fünfzig Jahren der Herr Magister Votoček zu den Ausmaßen eines gefährlichen Teufelskerls emporgewachsen sein wird, vor dem die Gestapo, die Polizei und auch die Wehrmacht des Großdeutschen Reiches gezittert hatten. Bereits heute hat jeder Bürger von Ludvikovice den Eindruck, Herrn Votoček eigentlich gut gekannt zu haben, er sei ja einer von ihnen gewesen. 161
Tatsache aber bleibt, daß Herrn Votoček sein postmortaler Ruhm nur allzusehr zu Kopf gestiegen ist. Jetzt will er mit mir von nichts mehr anderem sprechen als von seinem ruhmreichen Ende. Ständig denkt er sich neue Details aus, die er der momentanen politischen Situation des Landes geschickt anpaßt. Als er mir seine Hinrichtung zum ersten Mal schilderte, das war irgendwann im Jahre 946, behauptete er, er sei mit dem Ruf gestorben: Es lebe Präsident Beneš! Nach der Version aus dem Jahre 950 hatte er angeblich ausgerufen: Es lebe der große Stalin! Im Jahre 968 aber wollte mir Herr Votoček einreden, er habe seine Seele mit den Worten ausgehaucht: Für die Demokratie! Der Tod des Herrn Votoček aber beruht ganz einfach auf der schlichten Tatsache: Ein Korporal hatte ihm aus drei Schritt Entfernung eine Kugel in den Kopf gejagt. Zuvor noch hatte Herr Votoček die Hände gerungen, geweint und war auf die Knie gefallen. Der Gesamteindruck, den ich mir damals von dieser Szene mitnahm, war ein sehr peinvoller. Mit dem Zuckerkarton unterm Arm ging Frau Preis an jenem Wintertag in ihre Wohnung zurück. Am Tisch in der Küche saß David Wiesenthal, ehemaliger Läufer des F. C. Schlesisch Ostrau und ehemaliger Inhaber der Schenke »Zur Eiche«. »Ich bin spät gekommen, nicht wahr, Frau Preis«, sagte David lächelnd. Frau Preis legte den Karton auf den Tisch. Sie blickte David an und brach dann in Weinen aus. Vielleicht hatte sie in ihrem Innern eine Stimme vernommen, die 162
ihr sagte, der hier sei jener brave Jude, von dem Nathan gesprochen hatte, diesen Juden hier hätte sie heiraten sollen, sie habe ihre Zeit mit dem Goj Emerich Cach vertan. »Ich bin zu spät gekommen«, wiederholte David. »Jawohl, Sie sind zu spät gekommen«, weinte Frau Preis. »Aber was läßt sich da jetzt noch machen, jetzt noch …« »Ich wollte schon früher kommen, Frau Preis, wirklich, glauben Sie mir, ich wollte, aber …« »Reden wir nicht mehr davon, Herr Wiesenthal«, sagte Frau Preis und wischte sich die Tränen ab, »wir müssen uns eben mit allem abfinden. Erwarten Sie nicht von mir, daß ich Ihnen jetzt um den Hals falle …« »Ich wäre darüber überhaupt nicht böse, Frau Preis«, erwiderte David lächelnd. »Es ist bereits zu spät, Herr Wiesenthal«, sagte Frau Preis. Herr Wiesenthal erhob sich. Als er an Frau Preis vorüberging, drückte er ihr einen Kuß aufs Haar. »Ich habe mich geirrt«, sagte Frau Preis, »es ist doch noch nicht ganz zu spät.« Sie lehnte sich an den Tisch und wartete geduldig, bis sich David Wiesenthal entschließen würde, sie auf den Mund zu küssen. Ich wünschte mir jetzt sehr, daß dem wirklich so gewesen war.
11 Meine Großmutter Zabalski möchte ich jetzt gerne loswerden. Ich will nicht behaupten, das Leben mit ihr sei eine Plage für mich; aber ich bin ihrer schon müde. Bereits vor Jahren hatte ich ihr einen Platz in einem Altersheim besorgt, aber als ich sie dort hinbringen wollte, erhob die Großmutter ein so lautes Geschrei, daß es im ganzen Haus zu vernehmen und ich erstaunt war, wo sie die Kraft dazu hernahm. Sie klammerte sich an das Küchenbuffet, und ich konnte sie nicht einmal mit Gewalt davon losreißen. Nach etwa einer Stunde gab ich alles auf: Überzeugungskünste, gutes Zureden und Gewalt. Auf diese Weise hatte sich die Großmutter ihren Platz in meiner Wohnung durch Geschrei ertrotzt. Weil wir nach diesem Schreien und Ringen beide erschöpft waren, öffnete ich eine Flasche Sherry, und wir tranken einen Schluck. Doch jeden Morgen beim Erwachen stehe ich mit der Hoffnung auf, sie bereits tot vorzufinden. Sie geht vielleicht schon auf die Neunzig zu, aber sie hat einen guten Kern. 164
Großmutter Zabalskis Verstand ist jetzt schon getrübt, nur wenn wir uns einen genehmigen, lebt sie auf und vermag dann zusammenhängend zu erzählen. Drei Gläschen Sherry erhalten sie so zwei bis drei Stunden bei Sinnen, und in solchen Augenblicken drischt die Großmutter das ewige Einerlei vom Vater, der meine Mutter zu Tode gequält habe, vom Großvater, dem Rittmeister Zabalski, der so ein strammer, fescher Kerl, ein Reiter und Läufer gewesen war, wie man ihn nicht so leicht findet. Die Regimentskasse erwähnt die Großmutter mit keinem Wort, von der in Krakau unter dem Namen »Rote Nina« bekannten Soubrette Jerzykowská sagt sie auch nicht mehr viel. Vom Großvater geht dann die Großmutter zu ihren Erlebnissen auf dem Ostrauer Ring über, wo sie in ihrem schlimmsten Zeiten Gemüse verkauft hatte, als sie damals im Jahre 926 schon ganz heruntergekommen war, doch da gerät sie bereits in weinerliche Stimmung, sie preßt sich ein paar Tränen ab, verwünscht den Bäckermeister Jaroslav Lapáček, über den sie ihren ganzen Ärger ausgießt, weil er nicht nur ihr, sondern auch meiner Mutter das Leben verpatzt habe. In der letzten Zeit vermisse ich in den Verwünschungen der Großmutter Saft und Kraft, sie leiert sie mit ihrem zahnlosen Mund nur mehr aus Gewohnheit herunter, und ich habe den Eindruck, daß ihr eigentlich alles bereits egal ist. Nur ab und zu gerät die Großmutter in echte Rage, dann beginnt sie mit schmatzenden Lippen von dem Langstreckenläufer Karel Hyneš zu erzählen, dem ehemaligen Spieler des F. C. Schlesisch Ostrau, einem Wichtigtuer, den der Vater in Brünn zu einer Zeit eingekauft hatte, 165
als sich Hyneš bereits mit der Tatsache abgefunden hatte, wohl niemals ein Fußballer von internationaler Klasse werden zu können. Der Ausschuß hatte Hyneš unmittelbar darauf, nachdem der F. C. in die höhere Klasse aufgestiegen war, aus der Mannschaft ausrangiert, da seine physischen Kräfte nicht mehr ausreichten, wenngleich er andererseits eine gute Technik besaß und auch ein guter Torschütze war. »Herr Hyneš«, sagt die Großmutter, »war einer der letzten Gentlemen, ich kann nur nicht begreifen, wo er so lange bleibt …« »Er trainiert für seinen Langstreckenlauf«, so gehe ich jetzt auf das Spiel ein, »er hat sich eine sehr schwierige Strecke ausgesucht, aber er muß jeden Tag eintreffen, ich erwarte sein Telegramm.« »Das ist gut, das ist gut«, sagt die Großmutter und nickt dazu, »Hyneš, ja der war ein rechtschaffener Mann.« Ich schweige und leere den Rest aus der Flasche. Die Großmutter schlurft dann zu ihrem Bett, legt sich ächzend hin und schläft ein. Ich horche eine Weile, ob sie vielleicht nicht schon zu atmen aufgehört hat. Ständig bringt mir die Großmutter Geschehnisse in Erinnerung, von denen ich schon gerne loskommen möchte. Während der Jahre meines Zusammenlebens mit ihr habe ich mir stets suggeriert, ich würde mich, sobald sie gestorben sei, von allem befreien können, was uns aneinander kettet. Schon zwei- oder dreimal wollte ich die Großmutter ins Jenseits befördern. 166
Gründe, sie zum Beispiel zu vergiften, gab es für mich mehr als genug. Es genügt schon, wenn ich mir zum Beispiel den Morgen des 20. April 940 ins Gedächtnis zurückrufe. Die Großmutter bügelte mein braunes Hemd, denn ich sollte am Nachmittag auf dem Stadtplatz vor dem Rathaus meinen Eid auf den Führer und das Großdeutsche Reich ablegen; gemeinsam mit mir sollten auch Vojta, also Adalbert Kudlatschek, und Heinz Hupka, der mit dem wunden Fuß, vor dem Rathaus aufmarschieren. Am Vormittag mußten sich alle aus unserer Gruppe auf dem Appellplatz einfinden, um den Paradeschritt einzuüben. Die Großmutter bügelte also mein Hemd, alles andere hatte ich schon bereitgelegt: das Halstuch, die weißen Strümpfe, die schwarze Manchesterhose und auch den Dolch in der Metallscheide. Unser Gruppenführer, Kurt Wagner, wachte stets darüber, daß unsere Dolche geölt waren und schön glänzten. Derjenige, der einen rostigen Dolch vorwies, mußte sechsmal um den Appellplatz herumlaufen und dann seinen Dolch so lange im Sand abreiben, bis er wie neu glänzte. Mein Dolch machte mir Sorgen. Am Vorabend des 20. April hatte ich ihn fein säuberlich abgerieben und mit dem Kunstfett, das der Vater fürs Gebäck verwendete, eingeschmiert. Als ich aber das Messer am Morgen kontrollierte, mußte ich feststellen, daß es rostrot wie ein Fuchsschwanz war; es blieb aber keine Zeit mehr, den Dolch nochmals mit Sand abzureiben, denn weitere 167
Schwierigkeiten stellten sich ein, nämlich mit meiner Manchesterhose. Laut Vorschrift mußten die Hosenbeine genau acht Zentimeter oberhalb der Knie enden, doch die Großmutter war dagegen gewesen, daß ich eine so unanständig kurze Hose tragen wollte, hatte sich schrecklich aufgeregt und gesagt, sie müßte es doch am besten wissen, was Vorschrift sei, denn kurze Sporthosen habe sie dem Rittmeister Georg von Zabalski schon vor seinem siegreichen Langstreckenlauf anläßlich der kaiserlich-königlichen Manöver in Krakau genäht. Auf die Parade am 20. April hatte ich mich schon sehr gefreut, doch die Großmutter hatte mir alles verdorben. Die Hosenbeine meiner Shorts reichten mir über die Knie. Ich wußte nur zu gut, daß ich in einer solchen Hose unmöglich auf dem Appellplatz erscheinen konnte, also hatte ich mir am Abend zuvor eine Schere im Keller versteckt und war am Morgen des 20. April unbemerkt in den Keller geschlüpft, um mir dort die Hosenbeine auf die richtige Länge zurechtzuschneiden. Leider aber war es im Keller zu finster gewesen und der Korrekturschnitt mißlungen. Bei Tageslicht hatte ich festgestellt, daß das linke Hosenbein noch angehen mochte, das rechte aber etwas länger war. Es blieb jedoch keine Zeit mehr, in den Keller zurückzukehren, also bog ich kurzerhand das rechte Hosenbein ein wenig um, wodurch sich aber eine weitere Komplikation ergab, denn der Bug wollte nicht halten. Das rechte Hosenbein war ganz einfach etwas länger als das linke. 168
An meinen Dolch wollte ich am liebsten gar nicht denken. Ich verließ mich auf mein Glück, Kurt Wagner würde vielleicht mein Messer gar nicht untersuchen, doch als ich an unser gegenseitiges Verhältnis dachte, begann meine Hoffnung zu schwinden. Es tröstete mich etwas, daß ich wenigstens das vorschriftsmäßige Päckchen Verbandszeug in der rechten Hemdbrusttasche vorweisen konnte. Vojta erwartete mich schon bei der Häuserecke an der Brücke. An jenem festlichen 20. April mußten wir nicht zum Mittagessen heimgehen, denn wir sollten zu Ehren von Führers Geburtstag aus den Gulaschkanonen verköstigt werden; diese waren bereits auf dem Nordende des Appellplatzes aufgefahren und dampften. Ich freute mich schon sehr auf diese Soldatenmahlzeit. Mit dem Marschieren ging es gut, denn wir drei, ich, Vojta, vielmehr Adalbert Kudlatschek, und Heinz Hupka waren im Marschieren schon von der Schule her trainiert, wo uns der Herr Lehrer Wenzel Deutscher, statt uns Turnunterricht zu geben, immer mit Ordnungsübungen traktierte. Heinz Hupka hätte sich wegen seines kranken Fußes, dessen Geschwulst im Frühjahr immer aufbrach, zu eitern begann und sich zum Knochen weiterfraß, nicht am Marschieren beteiligen müssen. Aber am Festtag des 20. April wollte Heinz unbedingt mitmarschieren, wenngleich ihm schon Blut und Eiter durch den Verband und die weißen Strümpfe durchzusickern begannen. Heinz verbiß jedoch seinen Schmerz, der Schweiß trat ihm unter der 169
Nase hervor, er marschierte exakt mit und hob beim Paradeschritt die Beine, daß es eine Freude war. Ich hatte ihm geraten, sich doch vom Marschieren zu drücken, sich zu sagen, ich pfeif drauf, das Mittagessen würde er doch ohnedies bekommen, aber nein, er wollte eben durchhalten. »Ich bin doch nicht wegen dieses Soldatenfraßes hier, aber das kannst du natürlich nicht begreifen«, sagte Heinz und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Vojta meinte, Heinz sei und bleibe eben ein Idiot. Gegen Mittag dampften die Kessel der Feldküche nicht mehr, aber über den ganzen Appellplatz direkt an meiner Nase vorbei zog der Duft des militärischen Eintopfs, und mir begann schon der Mund wässrig zu werden. Vor dem Mittagessen aber mußten wir nochmals antreten, und ein beleibter Herr in brauner Uniform inspizierte uns. Er griff jedem von uns an die Brusttasche des braunen Hemdes, ob das vorschriftsmäßige Verbandpäckchen vorhanden war. Manchen Jungen kontrollierte er auch den Dolch – und da wußte ich bereits, daß es schlimm mit mir ausgehen würde. Als der Herr in der braunen Uniform immer näher an mich heranrückte, begann ich zu ahnen, daß der Hauptanlaß für das über mich hereinbrechende Unheil meine Hose sein würde; das rechte Hosenbein, das ich etwas eingeschlagen hatte, begann langsam aber sicher herunterzurutschen. Ich wollte mich unmerklich bücken, um mir die Hose zu richten, aber da schrie auch schon Kurt Wagner hinter mir, was mir denn einfiele, mich zu rühren, ohne das Kommando abzuwarten, und wenn 170
ich es unbedingt haben wollte, würde er mir schon das Kreuz zurechtbiegen. »Verdammte Hose«, schimpfte ich innerlich, »verdammte Großmutter, warum bin ich nur hierher gekrochen …« Aber es war bereits zu spät. Der Herr in der braunen Uniform stand vor mir, griff an die rechte Brusttasche meines braunen Hemdes, das war in Ordnung. Dann glitt sein Blick zu meinen Hosenbeinen hinunter, und das war viel schlimmer. Der Herr in der braunen Uniform holte Atem und begann mich dann fünf Minuten lang, ohne Unterbrechung, zusammenzubrüllen, aber vielleicht übertreibe ich ein bißchen, wahrscheinlich hat er nicht so lange gebrüllt. Ich mußte vortreten, damit alle sehen konnten, was ich doch für ein Lumpenkerl war, der seine Uniform so wenig in Ehren hielt. Ich fing noch einen Blick von Heinz Hupka auf, der wohl gleichgültig tat, aber seine Schadenfreude nicht verbergen konnte. Vojtas Gesicht zeigte den Ausdruck eines erschreckten Kaninchens. Zu allem Unglück mischte sich in dieses Mißgeschick noch eine deutsche Dame in der Tracht einer Sanitätsschwester ein und bot sich an, meine Hose in Ordnung bringen zu wollen, denn in ihrer Feldapotheke befänden sich auch Nadel und Faden. »Hosen runter«, brüllte der Mann in der braunen Uniform. Heinz Hupka konnte sich jetzt nicht mehr zurückhalten, 171
er begann loszuprusten und mit ihm die ganze Einheit; fünfhundert Jungen brüllten vor Begeisterung über meine Schmach, Kurt Wagner vergaß ganz, das Kommando »Rührt euch!« zu geben und zog gleichfalls sein Maul in die Breite. Nur Vojta stand traurig da, sah mich an, und ich konnte in den Augen meines Freundes lesen, wie gerne er mir aus der Patsche geholfen hätte, aber das war unmöglich. »Na wird’s bald, herunter mit den verdammten Hosen«, brüllte der Herr in der braunen Uniform. Ich biß mir in die Unterlippe. Sogleich spürte ich den süßlichen Geschmack des Blutes auf meiner Zunge. Die Jungen erzählten mir später, ich hätte in diesem Augenblick die Arme ausgebreitet und sie wie Flügel hinund herbewegt. Alle hätten vor Begeisterung gejohlt. Heute kann ich sagen, ich hatte mich in die Lippen gebissen, um nicht laut loszuschimpfen. Es reichte mir gerade. Zuallererst hätte ich am liebsten die Großmutter zu allen Teufeln gejagt, dann mit dem Vater abgerechnet und auch mit diesem Kerl in der braunen Uniform. Aber ich schwieg, kaute nur an meiner Unterlippe und spürte, wie sie blutete. Mehr weiß ich nicht. Aber bestimmt hatte ich nicht mehr den Duft des militärischen Eintopfs wahrgenommen. Der Herr in der braunen Uniform hatte mir dann angeblich eine Ohrfeige geknallt. Doch ich hatte sie überhaupt nicht gespürt, nur die anderen Jungen sagten mir, nach dieser Ohrfeige hätte 172
ich die Hose auszuziehen begonnen, sei dabei wie ein Mondsüchtiger hin- und hergetorkelt, was sie dem Hieb zuschrieben, denn danach sei ich ein wenig zusammengesackt. Ich hätte mich dann in meinem Hosenriemen verfangen, und zu allem Pech sei mir noch der Dolch aus der Scheide herausgefallen und bei den Stiefeln des Herrn in der braunen Uniform liegengeblieben; Vojta hatte mir nachher gesagt, in der Aprilsonne habe mein Dolch wie ein mit Schuhwichse eingeschmierter Fuchsschwanz geglänzt. Dem muß wohl so gewesen sein, denn plötzlich begann ich alles in rötlichen Farben zu sehen: Der Herr in der braunen Uniform war jetzt wundervoll rot. Besonders sein Gesicht leuchtete wie glühendes Kupfer, Kurt Wagner war vom Kopf bis zu den Füßen fuchsrot, auch alle anderen Jungen, nur Vojta war ganz weiß, von den Füßen bis zu den Haarwurzeln hinauf. »Du Saukerl, womit hast du ihn denn eingerieben«, brüllte der Herr in der braunen Uniform, die mir jedoch total rötlich erschien. »Mit Margarine, mit dem Kunstfett, das mein Vater fürs Gebäck verwendet«, hatte ich angeblich automatisch geantwortet. Heute meine ich, damals noch so weit meiner Sinne mächtig gewesen zu sein, daß ich meine Stimme hören konnte und offenbar aus ihr so etwas wie Mut schöpfte, ich fürchtete mich nicht mehr, das Gejohle der Jungen schlug über mir zusammen, doch ich ertrank nicht darin, ich fühlte nur, wie die Erde unter meinen Füßen schwankte, sich auftat, mich verschlang und mich rettete; ich erblickte 173
eine rötliche Wand vor mir und stellte beim näheren Hinsehen fest, das war die deutsche Dame, die jetzt einen rötlichen Kittel trug. In der einen Hand hielt sie meine Hose, in der anderen Nadel und Faden, hatte aber noch nicht mit dem Nähen begonnen; stumm blickte sie mit glänzenden roten Augen wie die eines Angorakaninchens zu mir herunter. Über ihrer linken Schulter erblickte ich Heinz Hupkas Gesicht, rötlicher Schweiß trat auf seine Oberlippe, er hopste auf seinem wunden Fuß herum und lachte; am Zaun hinten standen die Mädchen aus unserer Klasse, unter ihnen auch Eva Schubert, auch sie war ganz rot, alle lachten aus vollem Hals, und ihre Mundhöhlen waren noch röter als ihre Gesichter. Alles um mich herum lachte. Die Großmutter Zabalski lachte, auch der Vater; Wenzel Deutscher wieherte vor Vergnügen, nur die Mutter lachte nicht; ganz erhitzt von rötlicher Glut, stand sie stumm und gebückt daneben, wie über den Waschtrog mit der Schmutzwäsche der Mannschaft des F. C. Schlesisch Ostrau gebeugt, rötlicher Dampf stieg ihr bis zum Haar hinauf und bildete einen herrlichen Glorienschein um ihren Kopf. Ich wollte zur Mutter hinlaufen, stellte aber plötzlich fest, daß ich mich nicht vom Fleck rühren konnte. »Zehn Runden um den Appellplatz«, brüllte der Herr in der braunen, aber jetzt rötlichen Uniform. Doch ich konnte mich nicht bewegen, ich will damit nicht sagen, ich hätte keine Lust dazu gehabt, es ging ganz einfach nicht. Ich will auch nicht behaupten, ich hätte mich widersetzt, dazu fehlte mir noch die Kraft, 174
die stellte sich erst später ein. Ich weiß nur, daß ganz am Rande dessen, was ich noch vernahm, der Ärger in mir auftauchte, ich würde wohl nicht mehr zu meinem Mittagessen aus den Gulaschkanonen kommen, obgleich ich große Anstrengungen machte, zu ihnen hinzugelangen. Ich war nicht imstande, ein Glied zu rühren, die Feldküchen schienen für mich in den Hintergrund wegzurücken, und so bemühte ich mich, wenigstens etwas von dem Speisenduft zu erhaschen, doch schon spürte ich nichts mehr. Der Sportplatz öffnete sich unter meinen Füßen, und ich versank bis über die Knie in die Erde. Um mein weiteres Hineingleiten zu verhindern, stemmte ich meine Hände gegen den Erdboden. Ein schwarzer Stiefel trat mir auf die Finger der rechten Hand, ich empfand jedoch keinen Schmerz. Ganz deutlich aber war ich mir bewußt, daß meine rechte Hand auf dem Dolch ruhte. Dann spürte ich nur noch winzige, aber schmerzhafte Schläge auf meinen Hinterkopf. Ich vernahm eine Stimme, die sagte: »Ich werde dir’s schon zeigen, ich werde dir’s schon zeigen, ich werde dir’s schon zeigen …« Die Stimme wurde jedoch immer schwächer, und andere Töne, die über den Fluß herüberschwebten, tauchten auf: Ich vernahm die Melodie von Tschaikowskis Klavier-Konzert in b-Moll, wie es der Herr Lehrer Tenkler auf seinem Klavier gespielt hatte, ich erblickte jene dicke Frau mit den entblößten Schenkeln, wie sie, ganz rot vor Anstrengung, durch den Fluß auf unsere Seite herüberwatete. 175
Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, daß meine rechte Hand auf dem Dolch lag und auf ihr ein schwarzer Stiefel stand. Ganz deutlich konnte ich jetzt die rötlichen Umrisse der Dame vom Sanitätsdienst wiedererkennen und die johlenden Jungen, die ganze Welt hatte sich mit einem Schlag für mich in scharf abgegrenzte Konturen verwandelt, die mich wie eine undurchdringliche Bastion umgaben. ›Ich muß sie durchbrechen‹, sagte ich mir. Mit großer Anstrengung versuchte ich, meine Füße vom Boden zu lösen. Ich spannte meine ganze Kraft an, um von der Erde hochzukommen. Ich neigte den Kopf vor, und es gelang mir. Ich hatte zwar viel Kraft verloren, aber ich kniete bereits, jetzt galt es nur noch, meine rechte Hand zu befreien, den Arm anzurucken und meine Hand unter dem Stiefel hervorzuzerren. Ein paar Augenblicke lang sammelte ich Kraft in mir, dann war der richtige Moment gekommen: Mit einer heftigen Bewegung befreite ich meine rechte Hand. Mir kam gar nicht zum Bewußtsein, daß ich mir dabei am Handteller und Handrücken die Haut abgeschürft hatte. Den Schmerz spürte ich dann erst daheim. Es gelang mir, mich ganz auf die Beine zu stellen. Die Jungen erzählten mir nachher, ich sei ziemlich wacklig dagestanden, aber davon hatte ich nichts gemerkt, ich sah nur überall um mich diese rötliche Bastion. Und jetzt wußte ich mir nicht mehr anders zu helfen, als zwei saftige Worte zu gebrauchen, die Herr Karel Pastrňák, der verkrachte Sodawasser-Erzeuger und jetzige 176
Spediteur, auf dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau immer dem Schiedsrichter zugeschrien hatte, wenn er glaubte, dieser habe ein ungerechtes Foul gepfiffen: »Liž cyp!« schrie ich, drehte allen den Rücken und marschierte, nur mit der Sporthose bekleidet, vom Appellplatz auf die Straße hinaus. Draußen spuckte ich verächtlich aus und fühlte mich sogleich wieder wohl. Zwei Straßen weiter holte mich die Dame vom Sanitätsdienst ein. In der Hand hielt sie meine Manchesterhose. »Du bist krank«, sagte sie, mit den Armen herumfuchtelnd, »du bist krank, du hattest einen Anfall.« »Einen Dreck hatte ich«, gab ich ihr zur Antwort und ging weiter. Offenbar war die Dame stehengeblieben. Die Straßen waren menschenleer und glänzten von der milden mittäglichen Aprilsonne. Bei unserem Haus angekommen, fühlte ich mich wieder ganz hergestellt, nur die abgeschürfte Hand schmerzte mich. Ich kletterte auf das Dach des Kaninchenstalls, von wo aus ich in das Kämmerchen der Großmutter hineinsehen konnte. Vor dem Mittagessen tat die Großmutter immer einen tüchtigen Zug aus der Flasche mit dem selbstangesetzten Wein, denn Sherry gab es nicht mehr zu kaufen. Am Feiertag genehmigte sie sich eine doppelte Portion, so daß sie in der Regel schon vor dem Mittagessen ziemlich betrunken war. 177
Die Großmutter war gerade wieder beim Trinken. Ich duckte mich etwas und wartete, bis der Wein bei ihr seine Wirkung getan haben würde. Es dauerte auch gar nicht lange, und ich vernahm ihre Stimme aus dem Zimmer. Sie beschimpfte wieder einmal ihren Rittmeister von Zabalski, woran ich erkannte, daß sie so richtig voll war. Ich hockte mich direkt unters Fenster, dämpfte meine Stimme zur Baßlage und sagte in meinem bestmöglichen Deutsch, dessen ich fähig war: »Säufst du schon wieder?« Ich wollte meine Frage wiederholen, meine Stimme schien mir aber nicht überzeugend genug zu klingen. Es fehlte die Akustik unseres Vorzimmers. Ja, wenn ich mich in der Nacht zur Tür der Großmutter stahl, das Gesicht direkt an die Bodenfliesen anlegte, dann erschrak ich manchmal vor mir selbst, wie gut es mir gelang, die schneidige Stimme des Schürzenjägers und Kartenbruders von Zabalski, so wie ich ihn mir vorstellte, nachzuahmen. Die Großmutter hatte nur einen leichten Schlaf, sie erwachte immer und begann ein Vaterunser herunterzuleiern, doch dann ließ es ihr keine Ruhe mehr, sie richtete sich in ihrem Bett auf – ich hörte ihre Drahtmatratze knarren – und sagte leise: »Bist du es, Georg?« »Verflucht«, gab ich mit barscher Stimme zur Antwort, »hast du denn einen anderen Kerl erwartet?« »Nein, ach nein«, murmelte die Großmutter, »wen anderen als dich sollte ich denn erwarten … ich warte immer nur auf dich …« 178
»Na also!« »Sei mir nicht böse, Georg«, flüsterte die Großmutter, »aber damals hättest du nicht von mir fortlaufen dürfen und schon gar nicht mit dieser Schlampe vom Theater. Schau nur, was aus uns beiden, aus mir und unserer Tochter geworden ist. Deine Tochter hat einen Bäcker geheiratet und ich … ich …« Am Morgen beim Frühstück vertraute die Großmutter meiner Mutter dann unter vier Augen an, sie habe wieder mit Zabalski gesprochen; meine Mutter schwieg und dachte sich wohl das Ihre. Als ich also am 20. April auf dem Dach des Kaninchenstalls hockte, schien mir meine Stimme nicht überzeugend genug zu klingen. Ich fürchtete, die Großmutter würde den Unterschied merken, zum Fenster hinausschauen, und dann würde der Teufel los sein. Aber sie merkte nichts. Ich wagte es also doch, mich ein wenig auf die Fußspitzen zu stellen, um besser ins Zimmer hineinsehen zu können. Die Großmutter trank direkt aus der Flasche. »Zum Teufel«, sagte ich jetzt mit näselnder Stimme, »du kannst halt dieses Saufen nicht lassen!« »Verzeih mir, Georg«, flüsterte die Großmutter, »verzeih mir, was habe ich denn vom Leben, du hast mir mein Leben ruiniert, der Bäcker quält mich zu Tode, was willst du denn noch?« »Trink nicht so viel«, sagte ich, des Großvaters Stimme nachahmend. »Du hast gut reden«, erwiderte die Großmutter mit gesteigerter Stimme, »aber warum bist du dann mit der 179
Kasse und dieser Dirne vom Theater durchgebrannt … du hast mich zugrunde gerichtet, du Schürzenjäger, ich will nichts mehr von dir wissen, ich bin eine vom Unglück geschlagene Frau, aber jetzt habe ich wenigstens eine Rente, bis zum Jahre 939 habe ich nicht einen roten Heller bekommen!« Die Großmutter schrie bereits, und so zog ich es vor, mich vom Dach des Kaninchenstalls zu verdrücken. In unserem Hof begegnete ich Erich Preis mit dem gelben Stern der Kinder Israels an seiner Jacke. Auch Vojta, vielmehr Adalbert Kudlatschek, war in seiner Uniform aufgekreuzt. »Deine Großmutter ist ja heute wieder in Hochform«, sagte Vojta. »Wie du hörst«, erwiderte ich. Die Großmutter schrie jetzt in ihrem Zimmer, so daß sich ihre Stimme überschlug. »Sie wird sehr bald aufhören«, sagte ich noch. »Aber wie kommt es, daß du hier bist?« fragte ich Vojta. Wir sprachen jetzt tschechisch miteinander, das taten wir nur dann, wenn wir allein waren. Erich Preis zählte nicht, wenn er mit uns zusammen war, dann war das für uns genauso, als wären wir allein. »Ich bin abgehauen«, sagte Vojta und blickte nachdenklich zum Fenster der Großmutter hinauf. »Die Alte, die ist in Fahrt«, bemerkte ich. »Ich hab mir gesagt, das Mittagessen aus den Gulaschkanonen ist doch Scheiße«, fuhr Vojta fort, »wer soll denn das fressen … der Vater hat das Fleisch geliefert, lauter Abfälle und fünf Kilo von einem halbkrepierten Vieh.« 180
»Und was ist mit dem Eid?« fragte ich. »Ich pfeif darauf«, sagte Vojta. »Ich auch.« »Ich muß heim«, flüsterte Erich, »ich muß schon heim …« »Du Scheißkerl«, sagte ich zu ihm. »Du Stinkjud«, fügte Vojta hinzu. Erich wandte sich von uns ab, damit wir den gelben Stern an seiner Jacke nicht sehen sollten. Es war mir schon aufgefallen, daß er sich ständig herumdrehte, um sein Zeichen vor uns zu verstecken. »Erich«, sagte ich jetzt, denn ich hatte mich wieder daran erinnert, »ich und Vojta wollen heute abend ins Fackeldepot einsteigen und rechnen mit dir, du hast die richtige Figur dafür …« »Nein, nur das nicht«, erwiderte Erich erschrocken. »Ich hab dir doch schon immer gesagt«, mischte sich Vojta ein, er sprach bedächtig, wie es seine Art war, »mit dem Juden ist nichts los, er hat Angst, er hat eine Scheißangst …« »Nein, ich hab keine Angst«, erwiderte Erich. »Du hättest ihm von den Fackeln erst gar nichts sagen sollen«, fuhr Vojta fort, »der Judenkerl wird uns noch verpfeifen, die Juden sind schon einmal so, das sagt mein Vater auch immer …« »Ich verrat euch nicht«, sagte Erich und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Vojta ging gemächlich auf Erich zu, er bewegte sich stets nur langsam, aber wenn er einmal in Fahrt kam, war er nicht mehr zu bremsen. Er packte Erich an der Gurgel. 181
»Du Judenkerl«, sagte Vojta in seiner langsamen Art, »damit du es nur weißt, wenn du nicht dicht hältst, prügle ich dir die Seele aus dem Leib …« Erich blieb fest auf seinen Beinen stehen. Erneut leckte er sich die Lippen. »Wenn ihr mich nicht mitnehmt«, sagte er wenig später, »dann werde ich euch ja verpfeifen.« Vojta versetzte Erich einen Hieb, einen wohlgezielten, festen Schlag. »Schmier ihm auch eine«, sagte Vojta zu mir, »ich hab es dir doch gesagt, die Juden sind stets nur Verräter!« Ich trat zu Erich und schlug ihn mit der Faust in den Bauch. Nach dem ersten ihm verabreichten Hieb hatte ich ein Gefühl, als sei aus meinem Panzer, der mich seit dem Morgen zusammengepreßt hatte, ein kleines Schuppenplättchen abgefallen. Kaltblütig drosch ich auf Erich ein, verprügelte ihn lange, so lange, bis ich in seinen Augen die gleiche Angst erblickte, wie sie auch in meine Augen gekommen war, als ich mich vor Wenzel Deutscher, vor Kurt Wagner und vor jenem Kerl in der braunen Uniform geduckt hatte; ich sagte mir, das sei eine Angst von jener Art, die man entweder selbst aus sich – oder die ein anderer aus einem herausprügeln müsse. Heute ist mir bereits klar, warum ich Erich verdroschen hatte, damals konnte ich es mir nicht erklären, ahnte nur dunkel die tiefere Ursache. Nach dem fünften Hieb stand Erich noch geduckt da, dann schien er knieweich zu werden; ich sagte mir: ›Wenn er in die Knie geht, werde ich aufhören.‹ 182
Aber in dem gleichen Augenblick, da es schon schien, als ob Erich genug hatte, richtete sich der Judenjunge auf, als sei der Blitz in ihn gefahren, schnellte in die Höhe und verpaßte mir einen solchen Schlag, daß mir Hören und Sehen verging. Nachdem ich mich abgeschüttelt und vom Boden aufgerappelt hatte, sah ich, wie Erich jetzt auf Vojta eindrosch. Vojta war sichtlich überrascht und stand wie vom Donner gerührt da, er lehnte sich an die Wand des Kaninchenstalls und war unfähig, sich zu wehren. Als ihm die Knie einzuknicken begannen, fragte ihn Erich: »Hast du genug?« »Ja«, erwiderte Vojta, »zum Teufel ja …« Am Abend brachen wir drei in das Depot ein, in dem die Fackeln aufbewahrt wurden, die für die Festbeleuchtung bei den verschiedenen Aufmärschen anläßlich der Feierlichkeiten des Großdeutschen Reiches bestimmt waren.
12 Mein Großvater Lapáček hatte nahe der Oder, schon auf der preußischen Seite, ein Häuschen besessen und sich in dem kleinen Hof einen an einer Schnur festgemachten Hund gehalten. Damit sich der Hund vom Gartenpförtchen zu den Stalltüren hin frei bewegen konnte, hatte der Großvater zwischen der Scheune und dem Pfosten der Gartentür einen Draht gespannt, den Hund an eine drei Meter lange, an ihrem Ende mit einem Stahlring versehene Schnur festgebunden und diesen Ring dann auf den Draht geschoben. Auf diese Weise konnte der Hund unbehindert im ganzen Hof herumlaufen, war aber dennoch in seiner Bewegungsfreiheit eingeengt. Manchmal kam es mir vor, als laufe auch ich so herum wie Großvaters Hund, an einem solchen Draht festgemacht. Zwar schien es, als hätte ich eine gewisse Bewegungsfreiheit, doch reichte diese nur bis zu einer bestimmten Grenze. Dieser Tatsache wurde ich mir im Jahre 960 deutlich bewußt, als man mich aus der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ausschloß. 184
Mir schien, als hätten die Genossen zwischen jenem 20. April 940 und dem Jahre 960 einen Draht gespannt. Das eine Ende hatten sie in unserem Hof befestigt und das andere an einem Bein des Verhandlungstisches, an dem der vollzählige Ausschuß der Partei-Ortsgruppe tagte, so daß ich den Eindruck hatte, ich könne mich nur auf der kürzesten Bahn zwischen diesen beiden Punkten fortbewegen. Aber wahrscheinlich hätte ich das alles vergessen, wenn mir nicht das Leuchten des zu Ehren des Führer-Geburtstags mit Glühbirnen geschmückten neuen Rathausturms im Gedächtnis haftengeblieben wäre. Bei Einbruch der Dunkelheit hatten wir drei, ich, Erich und Vojta, den ich aber in der Schule mit Adalbert Kudlatschek ansprechen mußte, das Fackeldepot ausgeplündert. Danach konnte ich nicht einschlafen. Die Helligkeit des beleuchteten Turms schien mir in die Augen, sein Licht durchdrang mich, fiel durch das Loch unter meinem Hals in mich hinein und wärmte mich; ich fühlte mich so frei und leicht, daß ich mich noch gar nicht so richtig in die Lippe gebissen hatte, auch weiß ich nicht, ob ich die Arme richtig ausgebreitet hatte – doch schon schwebte ich über dem erleuchteten Turm. Das Licht der Glühbirnen wärmte mich, ich vernahm Musik und Gesang. Aber plötzlich wurde es dunkel. Ich erschrak, ich vergaß ganz, meine Arme zu bewegen, schrie entsetzt auf und spürte, wie ich herabsank – und dann erfolgte ein dumpfer Aufprall. 185
Ich öffnete die Augen und lag in Schweiß gebadet auf meinem Bett. Der Turm draußen war dunkel. In diesem ersten Kriegsjahr war er nach Einbruch der Dunkelheit nur eine Stunde lang beleuchtet gewesen, dann hatte man die Lichter ausgeschaltet. Es genügt, mir das Bild des beleuchteten Turms zu vergegenwärtigen, und schon habe ich auch jenen 20. April des Jahres 940 vor Augen, ich kann jede Einzelheit unterscheiden, jede meiner Bewegungen genau beschreiben. Bei dem Disziplinarverfahren der Partei las man mir die Aussage des Herrn Karel Pastrňák vor, des ehemaligen Läufers beim F. C. Schlesisch Ostrau, verkrachten Sodawasser-Erzeugers, späteren Spediteurs und jetzigen Dispatchers des staatlichen Transportunternehmens. In dieser Aussage brachte Herr Pastrňák den Parteiorganen zur Kenntnis, daß Lojza, vielmehr Lapáček, also ich, am 20. April 940 einen jüdischen Jungen blutiggeschlagen hatte, was höchstwahrscheinlich, wie Herr Pastrňák in seinem Schreiben darlegte, darauf zurückzuführen sei, daß genannter Alois Lapáček von der Feier, an der er aktiv teilgenommen hatte, in fanatische Erregung versetzt worden war. Der aggressive Charakter des Genannten, so hatte Herr Karel Pastrňák geschrieben, sei das Ergebnis nazistischer Erziehung, und so sei es höchst bedenklich, daß sich ein solches Individuum in die Reihen der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei hineingedrängt hatte. Herr Karel Pastrňák war bei der Verhandlung als 186
Vorsitzender der Kommission anwesend, und so fragte er mich auch sogleich, wie sich das damals mit diesem Juden zugetragen hatte. Ich gab zur Antwort, ich hätte Erich Preis aus dem Grunde verprügelt, um ihm die Angst auszutreiben. »Eine etwas sonderbare Art«, sagte Herr Pastrňák lächelnd, »die Angst auszutreiben, glaubst du nicht auch, Genosse?« Es sieht also schlimm aus, sagte ich zu mir, er hat mich nur mit »Genosse« angeredet, das ist arg, hätte er »Genosse Redakteur« gesagt, wäre das besser für mich. »Ja, eine sonderbare Art, die Angst auszutreiben«, erwiderte ich, »aber eine sehr wirksame. Erich hat mir dann die Hiebe zurückgegeben.« »Hm«, meinte Herr Pastrňák, begann in seinen Schriftstücken zu wühlen und wendete das Blatt um. Man ging zum Fall Áda Lakubec über, dem »blonden Blitz« des F. C. Schlesisch Ostrau, den man meinetwegen gleich zu Beginn der Okkupation eingesperrt hatte. »Also wie hat sich das damals zugetragen?« fragte mich Herr Pastrňák. Jetzt hatte er mich nicht einmal mehr mit »Genosse« angeredet. Und daran erkannte ich, daß ich verloren war, hier hatte ich nicht mehr die geringste Chance, etwas erklären zu können. Es blieb mir nichts anderes übrig, als diese Komödie bis zum Ende mitzumachen. Also begann ich damit, wie am 4. März 939 eine Kolonne deutscher Militärfahrzeuge vor dem Haupteingang des Platzes des F. C. Schlesisch Ostrau angehalten hatte, einer der Soldaten hatte mir dann eine Kremrolle 187
geschenkt, eine weitere lag noch auf seinem Papierteller. Ich stand daneben und gaffte, und weil ich schon die Kremrolle in der Hand hatte, stopfte ich sie mir in den Mund. Wäre Áda Lakubec damals nicht gerade im Haupteingang des Sportplatzes aufgetaucht, hätte ich wahrscheinlich die Kremrolle aufgegessen und wäre meiner Wege gegangen, so aber kam Lakubec herausgelaufen, sprang mit einem Satz zu mir und versetzte mir mit seiner abgearbeiteten Bergarbeiter-Pranke eine Ohrfeige, so daß er mir dabei die Kremrolle völlig in den Mund schlug, und schrie, er werde mir zeigen, was dem passiere, der sich den Bauch mit Kremrollen von Faschisten vollstopfe. Ich bekam keine Luft, denn ich hatte mich verschluckt, ich spie die Sahne zum Teil aus und erschrak, als ich sah, daß sie rosa verfärbt war. Mit der Zunge betastete ich meine Oberlippe, sie war ganz zerfetzt. Dabei hatte ich gar nicht bemerkt, daß zwei Soldaten Áda Lakubec bereits gepackt hatten, von denen der eine ihn jetzt in schlechtem Tschechisch anherrschte: »Wie heißt du, sag deinen Namen!« Dann trat dieser Soldat zu mir und fragte mich, ob ich diesen Burschen kenne. Ich erwiderte, er heiße Áda Lakubec und sei Spieler beim hiesigen F. C. Ostrau, aber offenbar verstand mich der Soldat nicht, denn ich hatte den Mund voller Sahne und konnte auch wegen meiner zerschlagenen Oberlippe nur schlecht sprechen. Während der eine Soldat noch mit mir sprach, nahm Áda Lakubec die Gelegenheit wahr, entriß sich jenem anderen, setzte zu seinem gewohnten Sprint an, mit dem er schon 188
auf dem Fußballplatz stets Bewunderung erregt hatte, und verschwand um die nächste Ecke. Die Soldaten liefen ihm zwar nach, aber die Gasmasken, die gegen ihre Schenkel schlugen, behinderten sie, ebenso die auf ihren Köpfen auf und ab hüpfenden Helme, die langen Mäntel verfingen sich in ihren Beinen, auch konnten sie wahrscheinlich in ihren Stiefeln nicht allzugut laufen, so daß ihnen Lakubec in der Dämmerung mit Leichtigkeit entkam. Ich spuckte den letzten Rest der zerquetschten Kremrolle, rosa Sahne und Blut aus und wollte nach Haus verschwinden. »Also das hast du ebenfalls vor der Partei verschwiegen«, sagte Herr Pastrňák lächelnd und fügte hinzu: »Genosse …« Ich erinnerte mich an alles, was ich vor der Partei verschwiegen hatte und bedauerte das nicht im geringsten. ›Das ist ganz in Ordnung, Lojzek‹, sagte ich mir, ›du mußt niemandem etwas auf die Nase binden, du gehörst nur dir allein. Von jetzt an wieder nur dir selbst …‹ Ich war so froh, so viel vor der Partei verschwiegen zu haben, und stellte mit Schadenfreude fest, wie schwer sich die Kommission durch meine verworrenen Angelegenheiten durcharbeiten mußte, und falls sie doch etwas in die Finger bekäme, würden das immer nur irgendwelche Bruchstücke sein, die sie dann mit einem ziemlichen Aufwand von Partei-Phantasie so zusammensetzen müßte, damit diese Mosaiksteinchen schließlich ein abstoßendes Gesamtbild von dem Opportunisten Lojzek Lapáček ergaben. 189
Ich mußte aber zugeben, die Disziplinarkommission hatte ein gut Stück Arbeit geleistet. Mit Befriedigung stellte ich auch fest, meine Lügen hatten sich gelohnt. Die Kommission war von den festgestellten Tatsachen total durchgedreht und versuchte, sie mühselig zu ordnen, dennoch aber blieben in ihrem Kadermaterial eine Menge wunderbarer Lügen zurück, auf die ich sehr stolz war. Wesentlich sind nur die Schlußfolgerungen, zu denen die Kommission kommt, oder besser gesagt: zu denen sie kommen muß. Das Schlußwort behielt sich Herr Karel Pastrňák vor. Ich hätte eins zu fünf wetten können, Herr Karel Pastrňák, derzeit Dispatcher, vormals Spediteur und Sodawasser-Erzeuger, Fußballer beim F. C. Schlesisch Ostrau, würde jetzt sein Schlußwort mit der Schilderung einiger eindrucksvoller Begebenheiten aus seinem Leben einleiten. Ich hatte mich nicht geirrt und hätte eine Wette gewonnen. Herr Pastrňák begann damit, daß er in seiner Jugend auch im Winter barfuß zur Schule gehen mußte; verbreitete sich dann über die schmutzige Politik des Großkapitals und der Kapitalisten im allgemeinen, wofür er als Beispiel den konkreten Fall des Herrn Jakob Hiršl, Inhaber einer Lebensmittel-Erzeugungs- und Versandfirma, heranzog, erwähnte aber mit keinem Wort, daß er seine Sodawasser-Erzeugung vernachlässigt und sich durch seinen eigenen Schlendrian vom Markt auf dem 190
rechten Ufer der Ostravice hatte verdrängen lassen, indem er sich ausschließlich auf den privilegierten Verkauf seiner Erfrischungsgetränke auf dem Platz des hiesigen F. C. verlassen hatte, so daß er schließlich pleite gegangen war. Ich ahnte schon, und meine Ahnung erwies sich auch als richtig, daß Herr Karel Pastrňák als Clou seiner Schlußrede sein großes Abenteuer vom 4. März 939 zum besten geben würde, als er damals, geduckt im Fenster seiner Parterrewohnung in unserem Haus, mit seinem Luftgewehr auf die deutschen Militärfahrzeuge gezielt hatte, die an dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau vorbei irgendwohin in die Stadt zogen. Jawohl, der Genosse Karel Pastrňák führte das alles jetzt an und würzte diesen letzten Vorfall überdies noch mit der Feststellung, er persönlich habe an jenem tragischen Tag in der Geschichte unseres Volkes mit dem Luftgewehr auf die Okkupanten gezielt, wogegen ich mich mit einer Kremrolle, die ich von einem faschistischen Soldaten bekommen hatte, seelenruhig vollgestopft hätte. Und wiederum wurde es mir mit aller Deutlichkeit bewußt, daß ich an einem Draht festgemacht, daß mein Bewegungsradius begrenzt war, wogegen sich Herr Pastrňák für seine Person ein nur allzu weites Aktionsfeld vorbehielt, auf dem er sich jetzt sogar wie ein Held ausnahm. Karel Pastrňák wollte ganz einfach, daß ich mich wie ein an einem Draht festgemachtes Hündchen nur auf der von ihm bestimmten Bahn fortbewegte. Und da überkam mich doch die Lust, mein Schweigen zu brechen, und so erhob ich mich und sagte: 191
»Du hattest eine Scheißangst, Genosse, aber offenbar kam es dir sehr gelegen, daß die Deutschen in unsere Stadt einmarschierten, wenigstens mußtest du dann nicht deine Schuld bei der Jüdin, Frau Preis, für das Auto bezahlen. Bis heute hast du diesen Laster nicht bezahlt und wirst ihn wohl auch nicht bezahlen, denn Frau Preis ist durch den Kamin direkt in den jüdischen Himmel aufgefahren!« Herr Karel Pastrňák schrie etwas, doch ich verstand kein Wort. Es war mir ganz egal, was er schrie, aber es freute mich, daß er schrie. Ich wußte, ich hatte mir jetzt den letzten Nagel in meinen Sarg geschlagen, in dem sie mich partei- und kadergemäß begruben. Ich kehrte ihnen den Rücken und verließ das Lokal. Aber weil Herr Karel Pastrňák mit seinem Geschimpfe nicht aufhören wollte, drehte ich mich in der Tür nochmals um und schleuderte ihm jene Worte ins Gesicht, die ich von ihm aufgefangen hatte, als Herr Karel Pastrňák noch Läufer beim F. C. Schlesisch Ostrau gewesen war, jene Worte, die er dem Schiedsrichter zugeschrien hatte, wenn dieser bei ihm ein Foul gepfiffen hatte. Kaum waren diese Worte aus mir heraus, fühlte ich mich auch sogleich erleichtert. ›Also nun gehörst du wieder nur mehr dir selbst‹, sagte ich mir. Vielleicht habe ich mich schon damals geirrt.
13 Ich habe andauernd das Gefühl zu versinken. Der Boden unter meinen Füßen bewegt sich. Unzählige Male schon habe ich mir ein gewaltiges Erdbeben herbeigewünscht, nur um endlich ein für allemal zu versinken. Die Stadt, in der ich lebe, versinkt nur ganz allmählich. Ich muß mich in Geduld fassen. Es wird vielleicht noch Jahrhunderte dauern, bis meine Gebeine zu den untersten Kohlenschichten absinken und ihren Abdruck als versteinerte Chiffren im tauben Gestein hinterlassen werden. Dann erst könnte ich das Gefühl haben, endlich daheim zu sein, für immer. So mancherlei mißfällt mir hier. Zum Beispiel das Stadtwappen von Ostrau. Ich kann es nicht abändern, aber gerne möchte ich einmal nur so für mich ein Bild entwerfen, das die Stadt bis in alle Einzelheiten charakterisierte. Die sich auf ihren Hinterbeinen hoch aufbäumende Schimmelstute im Stadtwappen von Ostrau würde eher zu einem Ort passen, der sich altertümlicher Gäßchen rühmen kann, mit Häusern voll von Bildnissen schon 193
verstorbener und noch lebender Patrizier, aus deren Blikken ich wohl ablesen könnte, wie sehr sie bei all ihrer Würde darüber verärgert sind, daß ihr Städtchen mit einer so ruhmvollen Vergangenheit noch immer ein unbedeutendes Nest geblieben ist, während sowohl Schlesisch als auch Mährisch Ostrau voller Raffgier reich geworden, gewachsen sind und sich ausgebreitet haben, ohne dabei auch nur im geringsten auf Schönheit und Würde bedacht zu sein. Wenn ich malen könnte, so würde ich in mein Bild der Stadt zwei Flüsse hineinpinseln, links die Oder, rechts die Ostravice. Im oberen Teil des Bildes müßten sich beide Flüsse vereinigen. Und das Wasser dieser Flüsse würde ich in Farbe ausführen, das Gewässer der Oder würde braun sein, damit jedermann deutlich wird, daß es Lehmerde von der Mährischen Pforte mit sich führt, und das Gewässer der Ostravice müßte die Farbe reifer Oliven haben, aber vielleicht etwas dunkler sein; ich würde auch einen Spritzer Rostrot dazutun, von jener Farbe der Abwässer, die aus den Eisenwerken in die Ostravice fließen. Auf das rechte Ufer der Ostravice würde ich dann noch einen schwarzen Streifen malen, der die Verschmutzung aus den Papierfabriken darstellte. In den von der Oder und der Ostravice begrenzten Raum würde ich eine robuste Frau mit aufgeschürztem Rock und stämmigen, rötlichen Schenkeln hineinmalen. Mit dem rechten Bein würde die Frau im Flußbett der Oder stehen, mit dem linken dagegen in dem der Ostravice, 194
und zwar an der Stelle, wo sich die Lucina in sie ergießt. Die ganze Darstellung müßte den Eindruck erwecken, als sei diese Frau soeben erst auf das linke und dann auf das rechte Bein so schwerfällig aufgetreten, daß sich die Erde geöffnet hat; unterhalb ihrer Fußsohlen würde ich den matten Schimmer von Kohlengestein malen. Die Arme müßte diese Frau in die Hüften gestemmt haben. Auf ihre Stirn würde ich fettig glänzende Schweißtröpfchen setzen. Ihr werdet lächeln, wenn ich sage, ich wünschte mir, auf dem Bild noch einige weitere Details festzuhalten: Kohlenhalden mit den die Stadt einschließenden Schwefeldämpfen, am tiefliegenden, südlichen Horizont eine blutrote Wunde, die sich erst in der Morgendämmerung zu schließen beginnt, aber noch lange vormittags warm bleibt. Erst wenn die Wunden um die Mittagszeit zuheilen, bedeckt den südlichen Horizont grauer Staub; der Wind weht ihn empor und schleudert ihn die Stadt herab. Und natürlich könnte ich auch den Rathausturm nicht weglassen, den von Staub eingehüllten Turm, alle Schrammen an den Frontmauern des Rathauses möchte ich auf dem Bild einfangen, alle Haken, Kratzer und Löcher im Verputz hineinmalen. Auch wünschte ich mir, daß der Turm seinen Schatten über den Fluß hinüber auf unser Haus werfe. Ich denke mir, die Oder müßte braun, die Ostravice dagegen olivenfarben sein. Doch das Problem liegt darin, daß sich die Farben dieser Flüsse mit der jeweiligen Jahreszeit verändern. 195
Wahrscheinlich würde mir der Farbton der Ostravice während der Frühjahrsüberschwemmungen nicht recht gelingen. In die Färbung ihres Flußbettes mischt sich dann ein Braun hinein mit Flecken von Öl darin, das vom Treibeis und den Eisschollen scharfkantige Stücke absprengt; in der Frühlingssonne glitzert dann das Eis wie mit Edelsteinen übersät. Das sind die bunten Farbflecken von den Rückständen der verschiedenen Chemikalien aus den Fabriken, die auf ihm schimmern. Nirgends anderswo habe ich ein Wasser von so eigenartiger Färbung gesehen wie jenes, das die Ostravice im Frühjahr führt. Das Wasser der Oder wiederum bekommt bei den Frühjahrsüberschwemmungen eine dunklere Färbung, denn es tritt über die Ufer und nimmt etwas vom Schwarz der dortigen Kohlenhalden an. Und auch die Sonne über Ostrau wünschte ich mir mit hineinmalen zu können. Nirgends ist die Sonne von so glühendem Rot wie hier. Ich sehe sie zwischen den Schornsteinen des Elektrizitätswerkes aufgehen. Sie macht auf mich den Eindruck, als stiege sie, mit der Glut für den ganzen Tag voll gesättigt, direkt aus den Feuerherden der Elektrizitätsöfen empor. Ich habe von der Sonne gesagt, sie sei glühend rot, aber manchmal scheint sie sich braun zu verfärben, ein andermal wieder nimmt sie eine violette Tönung an. Wenn über der Stadt eine graue Wolke hängt, kommt mir die Sonne wieder wie ein in ein Aschensegel hineingeschossenes weißes Loch vor. 196
Ich weiß jedoch nicht, wie ich auch das Meer ins Wappenbild hineinbringen könnte. Ich kann mir aber das Stadtwappen nicht ohne Meer vorstellen, denn wo Ostrau steht, war vor Zeiten einmal Meeresboden gewesen, und das Meer wird wieder hierher zurückkehren. Ich habe im Jahre 96 achthundert Meter unter der Stadt, als ich im Stollen dreizehn verschüttet wurde, bitteres Meerwasser getrunken. Ich trank dieses bittere Wasser und spürte, wie meine Zunge anschwoll. Solange meine Grubenlampe leuchtete, konnte ich dicht vor meinem Gesicht den Abdruck eines vorgeschichtlichen kleinen Lebewesens wahrnehmen, so wie ihn die Jahrtausende im Gestein bewahrt hatten. Nichts war von diesem Tierchen übriggeblieben als nur dieser Abdruck im Gestein. Vielleicht sollte auch ich mir wünschen, daß nach mir wenigstens ein Abdruck zurückbliebe. Bevor meine Grubenlampe erlosch, hatte ich noch auf die Decke hinaufgeleuchtet. Von neuem hatte sie sich gesenkt. ›Wenn sie noch um einen halben Meter herabsinkt‹, sagte ich mir, ›dann wird sie mich bereits zermalmen, zusammenpressen und der allmähliche Abdruck meiner Gebeine im Gestein wird einsetzen.‹ Ich bekam es mit der Angst zu tun, doch vor dem Hintergrund der Angst beruhigten mich das Bewußtsein und die Vorstellung, die Stadt würde sich im nächsten Augenblick mit ihrem breiten und harten Hinterteil auf mich setzen, ich würde mich in ihr Gedärm hinein197
zwängen, mich darin verstecken und dort ganz hineinkriechen. Ich sagte mir, das sei jetzt die einzige Möglichkeit, die sich mir biete, um auf ewig mit der Stadt zusammenbleiben zu können. Im Mund spürte ich den Geschmack von Kohle. ›Das ist in Ordnungs sagte ich mir, ›ganz in Ordnung, ich befinde mich bereits direkt in ihren Därmen.‹ Immer, wenn ich großmäulig erzählen hörte, diese Stadt sei das stählerne Herz des Landes, sagte ich mir: ›Nein, sie ist kein Herz, sie ist ein Arsch voller Kohle.‹ Dann erlosch die Grubenlampe, und ich vernahm nur noch Geräusche. Ich hörte jedes Steinchen von der sich senkenden Decke herabfallen, jeden Riß, der sich mit überaus feinem Knistern öffnete; in diesem Augenblick erinnerte ich mich an meinen kleinen Stein. Erich Preis und ich hatten einmal auf dem Hügelgelände Bazaly eine Höhle gegraben und waren dabei auf kleine, runde Steine gestoßen. Sie waren von hellbrauner Farbe gewesen mit einer abbröckelnden Oberfläche. Mit Leichtigkeit schlugen Erich und ich die bräunliche Oberschicht ab. Unter der Hülse kam ein harter, grauer Granitkern zum Vorschein, doch ich weiß nicht, ob das wirklich Granit gewesen ist. Unter großen Mühen war es mir und Erich gelungen, den harten Kern des Steins herauszuschlagen. Seine Kanten waren dann messerscharf gewesen. Inmitten des Steins erblickten wir den Abdruck eines seltsamen Blattes, dessen Zeichnung etwas heller als der Stein war. 198
Die Hälfte des Steins mit dem Abdruck nahm ich mir, die andere Hälfte behielt Erich. Dieses Steinchen trage ich noch immer mit mir herum. Seine Kanten bröckeln bereits ab, doch in der Mitte ist es noch hart; der Blattabdruck ist durch die Jahre hindurch immer heller geworden. Jetzt ist er bereits silbern. Sollte ich einmal ein Stadtwappen von Ostrau malen, so möchte ich gern auch meinen Stein mit dem Blattabdruck darin abbilden. Ich stelle mir das so vor: Die breitbeinig über der Stadt dastehende Frau müßte nicht beide Arme, sondern nur den linken Arm in die Hüfte stemmen; den rechten könnte sie mit leicht abgewinkeltem Unterarm vor sich hinstrecken und auf der geöffneten Hand mein Steinchen mit dem Blattabdruck liegen haben. Vielleicht könnte sie auf ihrer Hand auch Erichs Steinhälfte präsentieren. Ich hatte keine Gelegenheit, Erich zu befragen, ob er damit einverstanden wäre. Aber ich glaube, er wäre es. Ich schlage vor, Ostrau umzubenennen. Ich habe keinen konkreten Vorschlag für einen neuen Namen, der sowohl zu Schlesisch als auch zu Mährisch Ostrau passen würde, möchte aber auf die Konfusion hinweisen, die entsteht, wenn man dem Ursprung des Ortsnamens Ostrau nachzuforschen beginnt. Der Herr Lehrer Wenzel Deutscher, vormaliger Spieler beim S. C. Mährisch Ostrau, für den sich auch der F. C. Schlesisch Ostrau interessiert hatte, wobei aber die 199
Verhandlungen ergebnislos verlaufen waren, hatte uns in der Schule erklärt, der Name Ostrau lasse sich von dem Namen der germanischen Göttin Ostara ableiten und keineswegs, wie die Mährer behaupteten (dem Herrn Lehrer Deutscher widerstrebte es, von Tschechen zu sprechen), von dem tschechischen Eigenschaftswort »ostrá« (was soviel wie scharf oder spitz bedeutet), auf das sich die mährisch-tschechischen Sprachchauvinisten in ganz unwissenschaftlicher und unqualifizierter Weise beriefen und mit voller Absicht den Einfluß des germanischen Elements ignorierten, dessen Spuren man in dieser Gegend angeblich bis in die vorslawische Zeit verfolgen könne. »Schon der Name Ostrau allein«, behauptete der Lehrer Wenzel Deutscher, der sich noch zu Beginn der dreißiger Jahre Václav genannt hatte, »beweist, daß sich zwischen der Ostravice und der Oder ein germanischer Volksstamm niedergelassen hatte, der damals die altgermanische Göttin Ostara verehrte, so daß wir die wirren Auslegungen des Herrn Lehrers Josef Tenkler, der nämlich behauptet, einer der slawischen Volksstämme hätte dem Fluß und der Siedlung an seinem Ufer den Namen gegeben, ruhig unbeachtet lassen können.« »Wie kann nur der Herr Lehrer Tenkler«, sagte Herr Deutscher in Fahrt kommend, »dem historisch bewiesenen Namen der altgermanischen Göttin Ostara das simple tschechische Eigenschaftswort ›ostrý‹ entgegenstellen, das man zu jener Zeit, als der Fluß und die Siedlung bereits ihre feste Bezeichnung hatten, sprachgeschichtlich überhaupt nicht nachweisen kann. Das Tschechische war und ist eine rückständige Sprache«, fuhr der Herr Lehrer 200
Deutscher fort (der frühere Fußballer), der sich nun auf das Gebiet der Politik begeben hatte, »das läßt sich, liebe Kinder, dadurch beweisen, daß es im Tschechischen auch heute noch Wörter ohne Vokale gibt. Versucht doch nur, liebe Kinder, folgenden tschechischen Satz auszusprechen: Strč prst skrz krk! (was auf deutsch heißt: Steck den Finger durch den Hals!)« Eva Schubert meldete sich, um es zu versuchen, aber außer ein paar Kehllauten brachte sie nichts zustande. In der vierten Volksschulklasse stand ich mit meinem Deutsch noch ziemlich auf Kriegsfuß, doch ich hatte bereits begriffen, worum es ging. »Liebe Kinder«, fuhr der Herr Lehrer Deutscher fort, »wir haben auf anschauliche Weise vorgeführt, daß das Tschechische eine mißtönende, primitive Sprache ist. Daher ist es töricht anzunehmen, diese Sprache könnte vor einem Jahrtausend dem Fluß und der Siedlung an ihrem Ufer den Namen gegeben haben. Erinnert euch dieser Satz ›strč prst skrzkrk‹, meine lieben Kinder, nicht direkt an die unartikulierten Laute von Sprachen irgendwelcher afrikanischer Volksstämme?« Die Kinder, obgleich sie niemals zuvor unartikulierte Laute einer Sprache afrikanischer Volksstämme gehört hatten, brüllten ja, dieser abscheuliche tschechische Satz habe sie stets an eine der Sprachen wilder Volksstämme Zentralafrikas erinnert. Eva Schubert bemühte sich unentwegt, den Satz »strč prst skrz krk« auszusprechen, aber es ging nicht. In der Schule hatte ich verdammt wenig Gelegen201
heit zu beweisen, daß auch ich etwas könne, und so ergriff ich die Chance. Ich hob die Hand und meldete mich. »Nun, was gibt’s, Lapatschek«, sagte der Herr Lehrer Deutscher, »was möchtest du uns denn sagen?« »Ich kann es«, erwiderte ich. »Also zeig uns, was du kannst«, forderte mich der Herr Lehrer auf. Ich holte Atem in dem Bewußtsein, ich müsse ihnen wenigstens einmal zeigen, daß auch ich etwas zustande brachte, denn bisher hatte ich in der deutschen Schule nur wenig an Können bewiesen, und stieß dann mit betont lauter und deutlich im ganzen Klassenzimmer vernehmbarer Stimme aus mir heraus: »Strč prst skrz krk!« Die Klasse schrie vor Begeisterung, Eva Schubert bog sich vor Lachen, Heinz Hupka, der mit dem wunden Fuß, versuchte, mich nachzuäffen und wiederholte: »Strsch péršt skrsch kérkh …« Das Gesicht des Herrn Lehrers Wenzel Deutscher lief rot an, aber weil er weiter nichts sagte, nahm ich meinen restlichen Mut zusammen, und da sogar Eva Schubert lachte, glaubte ich, mein großer Moment sei gekommen. Ich holte erneut Atem und schnarrte dann aus mir heraus: »Třiatřicet střibrných křepelček přeletělo přes třiatřicet stříbrných střech (was auf deutsch heißt: dreiunddreißig silberne Wachteln flogen über dreiunddreißig silberne Dächer)… Pane Petře propepřete toho vepře (Herr Peter, tun Sie etwas Pfeffer in dieses Schwein)… Šel pštros se 202
pštrosici a pštrosičaty! (Der Strauß ging mit der Straußenfrau und den Straußenkindern!)« »Ruhe«, brüllte der Herr Lehrer, doch schon schwieg die Klasse, sie hing an meinem Mund, und ich sah deutlich, wie Eva Schubert ihre reizenden Lippen bewegte und sie dabei verzog. »Ruhe«, schrie der Herr Lehrer zum zweiten Mal. Und es herrschte Stille. Auch ich schwieg schon. Die Vergangenheit unserer Stadt interessiert mich jedoch nicht sonderlich. Ich bezweifle, daß ich auf ihre Vergangenheit, selbst wenn sie eine solche hätte und ich sie kennen würde, stolz wäre. Die Stadt gefällt mir, weil sie keine ruhmreiche Vergangenheit hat. Vor langer Zeit einmal war sie ein Dorf gewesen, später dann wurde hier Kohle gefunden. Und das ist auch alles. Für mich beginnt die Geschichte unserer Stadt mit dem ersten Sonntag im September des Jahres 928, an dem ich zur Welt kam. Das war in der zweiten Halbzeit, genauer gesagt, in der sechzigsten Minute des Spiels gewesen, gerade in dem Augenblick, als der F. C. Schlesisch Ostrau im Meisterschaftskampf gegen den deutschen S. C. Mährisch Ostrau, in dem es um den Aufstieg in die höhere Klasse ging, durch einen herrlichen Torschuß von Áda Lakubec 3 : 2 in Führung kam. Gleich darauf hatte Herr Emerich Cach, der Metzger aus unserem Haus, Herrn Václav Deutscher – damals nannte er sich noch Václav, später dann nur noch Wenzel – gefoult und der Schiedsrichter hatte einen Strafstoß verhängt. Herr Deutscher hatte ihn nicht verwandelt. 203
Und damit beginnt meine Geschichte. Das, was von unserer Stadt für mich wissenswert ist, kann ich aus den Schrammen im Verputz der Frontmauer des neuen Rathauses ablesen. Jede Schramme, sei es ein Strich, eine Kerbe oder ein Loch in der Mauer des neuen Rathauses, bedeutet für mich den Vermerk irgendeines Ereignisses. So zum Beispiel steckt heute noch ganz oben in der Frontmauer, unterm Gesims, ein großer Haken. Sooft mein Blick auf diesen Haken fällt, taucht sofort wieder das Bild jenes 20. April 940 vor mir auf, als an diesem Haken eine riesige Hakenkreuzfahne gehangen hatte und der ganze Turm mit Glühlampen geschmückt gewesen war, die nach Einbruch der Dunkelheit nur eine Stunde lang geleuchtet hatten, denn es war bereits Krieg gewesen und Verdunkelung angeordnet. Das Licht vom Turm fiel bis zu uns hin, hinter den Fluß, ich stellte mir vor, mein Bett sei das Oberdeck eines Ozeandampfers, der direkt auf einen Leuchtturm zusteuerte. Ich spürte, wie sich das Schiff im abendlichen Wellenschlag sanft wiegte, und schon vernahm ich vom Ufer her schneidige Militärmärsche. Aber mit einem Male wurde es dunkel und still. Ich schloß die Augen, biß mich in die Unterlippe, breitete die Arme aus, bewegte sie, wie um emporzufliegen, und schon segelte ich über dem Fußballplatz dahin, gewann an Höhe und flog direkt auf den Turm zu. Die Reihen der Glühlampen waren noch nicht ausgekühlt. Ihr Glas war warm und glatt. Ich glitt zum Gesims über der Frontmauer herab und 204
klammerte mich an den Haken, an dem die Fahne hing. Auf dem Stadtplatz unten wurde es hell: Kurt Wagner marschierte an der Spitze unserer Abteilung, eine Militärkapelle spielte dazu, die Jungen bewegten sich im Gleichschritt, daß es eine Freude war; nur Heinz Hupka hinkte mit seinem wehen Fuß ein wenig nach, aber er hielt sich, wenngleich ihm der Schweiß unter der Nase ausbrach. Dann sah Heinz Hupka auf die Mauer hinauf, wahrscheinlich hatte ich ihn mit meinem Blick angezogen, er starrte zu mir hinauf, wie ich dort oben an dem Haken hing, kam aus dem Tritt, auch die anderen hinter ihm; Kurt Wagner, der an der Spitze marschierte, drehte sich instinktiv um, sah, was für ein Malheur passiert war, und schrie im Kommandoton: und links, und links, und links, doch niemand konnte mehr Schritt halten, denn Heinz Hupka blickte unentwegt auf die Mauer zu mir hinauf, vergaß sogar weiterzumarschieren und trat auf der Stelle. Kurt Wagner verließ seinen Platz, lief zu Heinz hin und brüllte ihm etwas ins Ohr. Heinz schwieg und wies nur stumm mit erhobenem Arm zu mir hinauf. Alle Jungen hoben jetzt ihre Gesichter und blieben stehen; jene am hinteren Ende, die noch nicht wußten, warum das Marschieren nicht weiterging, drängten sich an die Rücken ihrer Vordermänner, manche von ihnen marschierten noch im Rhythmus der Musik auf der Stelle, da aber sahen auch die Musikanten schon, was los war; 205
zuerst verstummten die Trompeten, dann die Klarinetten, dann das große Blech, und zum Schluß hieb nur noch der Tambour auf das Trommelfell ein, hörte aber auch sehr bald damit auf. Kurt Wagner holte jetzt Atem und brüllte zu mir hinauf: »Lapatschek, komm sofort herunter!« Ich streckte Kurt nur die Zunge heraus. »Komm herunter«, brüllte Kurt. Erneut streckte ich ihm die Zunge heraus; um ihm zu zeigen, wozu ich imstande sei, stieß ich mich von der Mauer ab, breitete die Arme aus und glitt langsam auf den Stadtplatz hinunter. Alle gafften und sperrten ihre Mäuler auf, nur Kurt Wagner preßte seine Lippen zusammen. Als ich über Kurt hinwegflog, erblickte ich in seinen Augen etwas, was mich erschrecken ließ. Beinahe hätte ich die Flugbewegungen meiner Arme vergessen und wäre fast auf das Pflaster geknallt. Kurts Augen waren böse. Ich bekam Angst vor ihnen, und so verschwand ich lieber aus Kurts Sichtweite, schwebte aufwärts, versteckte mich hinter dem Turm und steuerte direkt heim. Kurt Wagners böse Augen erblickte ich gleich am nächsten Tag im Kabinett des Herrn Lehrers Wenzel Deutscher, wo mich beide zu den ausgestopften Tieren und den Vögeln mit den Glasaugen hinbeordert hatten. Der Herr Lehrer Deutscher versetzte mir drei Hiebe. Damit hatte ich gerechnet. Kurts Augen hatten mich von diesem Zeitpunkt an unablässig verfolgt. 206
Ganz aus der Nähe hatte ich sie dann erblickt, als mir Kurt auf dem Hühnerring, wo wir »Deutsche Polizei« und »Bolschewiken« spielten – ich war selbstverständlich ein Bolschewik –, zwei Zähne ausschlug. Den Einser vorn hatte ich gleich auf der Stelle ausgespuckt, den Zweier mir dann daheim selbst herausgezogen. Schon von Beginn des Spiels an hatte ich gewußt, daß es Kurt nur auf mich abgesehen haben würde. Doch ständig gelang es mir, den Nachstellungen der »Polizisten« zu entgehen, und ich glaubte schon, diesmal mit heiler Haut davonzukommen. In einem dunklen Hausflur wartete ich dann, bis sie das Ende des Spiels abpfeifen würden. Dann erst zeigte ich mich wieder auf dem Stadtplatz. Kurt Wagner erblickte mich und schrie: »Da ist noch ein Bolschewik.« Und gab mir einen Faustschlag übers Maul. Wahrscheinlich hatte ich ausgerufen, das Spiel sei ja bereits zu Ende. Aber möglicherweise war ich gar nicht mehr dazu gekommen, diesen Schrei auszustoßen. Ich spie Blut. An der Oberlippe bin ich sehr empfindlich, ich tastete sie mit der Zunge ab und spürte, daß mir auf der Innenseite der Lippe die Haut in Fetzen herunterhing. Verstohlen beobachtete ich Kurt Wagner, ich war auf einen weiteren Schlag gefaßt. Seine Augen faszinierten mich: Sie waren grau und verfolgten mich mit teilnahmslosem Blick; ich hatte erwartet, in ihnen Genugtuung zu lesen, und um wenigstens dieses eine Gefühl in Kurt zu erwecken, spuckte ich mehr Blut als nötig war. 207
Kurts Augen blieben jedoch unverändert. »Du hast also noch nicht genug, was«, sagte Kurt leise, »du hast noch nicht genug …« Ich kann nicht behaupten, in Kurts Augen Haß entdeckt zu haben, nie habe ich eigentlich in ihnen jemals etwas feststellen können, was einer Gefühls- oder Sinneserregung gleichgekommen wäre. Stets nur prüfende Kälte und vielleicht ein wenig Neugier. Kurt versetzte mir einen zweiten Schlag. Ich ging in die Knie. Ich war groggy. Als ich dann meinen Kopf zum Pflaster senkte, wußte ich bereits, daß mich Kurt nicht noch ein drittes Mal schlagen würde. Mein persönlicher Herrgott trat zu mir und sagte zu mir, Er sei jetzt mit mir zufrieden, Er könne gut in mein Inneres hineinsehen, es freue Ihn, mit welcher Demut ich die Schläge entgegengenommen hätte. »Vergiß Kurts Augen«, flüsterte mir mein Herrgott zu, »vergiß sie.« »Lieber Gott«, flüsterte ich, »du hast ganz richtig gesagt, daß ich demütig bin, aber Kurts Augen kann ich nicht vergessen, gib, daß ich in ihnen wenigstens einmal Angst erblicken könnte, vergönn mir das, lieber Gott …« Fünf Jahre später, Ende April 945, lagen wir beide, Kurt und ich, mit alten Gewehren ausgerüstet, auf dem linken Ufer der Oder, also auf der preußischen Seite, bei Ludvikovice, und dreihundert Meter von uns entfernt schwankten die russischen Panzer durch die Felder. Ich lag neben Kurt Wagner, beobachtete sein blei208
ches Gesicht und wartete, daß sich Angst darauf zeigen würde. Wagner hatte die Lippen zusammengespreßt, in seinen Augen konnte ich jedoch keinerlei Veränderung entdekken. Ich bekam Angst, aber nicht vor Kurt. Ich dachte daran, daß wir beide hier ein für allemal unser Leben beenden würden und ich niemals mehr Gelegenheit haben würde, in Kurts Augen Angst erblicken zu können. ›Der liebe Gott hat mich im Stich gelassen‹, sagte ich mir, ›Er läßt mir Seine Gnade nicht zuteil werden, Kurt und ich werden hier ins Gras beißen, und nichts wird sich ändern. Kurt wird mit zusammengepreßten Lippen und mit Augen voller Verachtung in den Tod gehen.‹ Daher sagte ich zu ihm: »Wann fangen wir also an, Kurt?« Kurt blickte zu den russischen Panzern hinüber. »Das hat wohl keinen Sinn mehr«, erwiderte er leise, »wir wollen es sein lassen und verschwinden.« Dann begann Kurt langsam auf dem Bauch in einen tiefen Hohlweg hineinzukriechen. Mir kam der Gedanke, jetzt sei endgültig Schluß damit, ich würde wohl niemals mehr in Kurts Augen Angst zu sehen bekommen. Ich fühlte mich betrogen, ich glaubte mich von allen betrogen, von meinem persönlichen Herrgott, vom Vater, von der Großmutter, vom Herrn Lehrer Deutscher, ganz einfach von allen. Ich hatte nämlich ständig darauf gehofft, alles, was mir in den vergangenen Jahren widerfahren war, würde sich durch irgendein Wunder wenigstens in einem einzigen Augenblick wie zu einem Kristall verdich209
ten, und zur Abwechslung würde dann ich einmal mit Befriedigung feststellen können, daß auch die größten Verrücktheiten, Albernheiten und alles, was mir zugestoßen war, doch einen verborgenen Sinn gehabt hatten, den ich durch all die Jahre hindurch nicht wahrzunehmen und nicht zu begreifen imstande gewesen war. Da sich außer Kurt Wagner niemand anderer in meiner Nähe befand, vertraute ich darauf, alles würde jetzt für mich in dem Erlebnis gipfeln, endlich in Kurts Angst die Bestätigung für alle Sinnlosigkeiten zu finden, die ich mit einer mir unbewußten Resignation ertragen hatte. Doch Kurt war dabei, sich in Sicherheit zu bringen. Ich wußte, daß ich in dem Augenblick, in dem er den Hohlweg erreicht haben und sich in dessen schützenden Graben hinabfallen lassen würde, meine letzte Chance verlor. Ich begann zu ahnen, daß Kurt Wagner sich verdrükken und mit einem Schlag aus dem Spiel ausscheiden wollte. »Dieser verdammte Kurt«, fluchte ich, »jetzt entwischt er mir, er verkriecht sich in den Hohlweg und wird über die Oder abhauen. Kurts Augen werden dieselben bleiben und nichts wird sich ändern. Und wieder wird ihm irgend jemand irgendwelche Versprechungen machen, er wird sich einfangen lassen, denn er hat sich immer wieder von Versprechungen einfangen lassen und sich an sie festgeklammert. Kurt wird auf einen weiteren Betrug hereinfallen, aber ich nicht mehr.« ›Ich hätte verdient‹, schrie ich in mich hinein, ›zu sehen, wie sich Kurt vor Angst bescheißt, wenigstens das hätte ich, lieber Gott, verdient!‹ 210
Und weil ich wußte, ich würde wohl nie mehr in Kurts Augen Angst entdecken können, ich würde mich auch nie mehr durch den Glauben an Versprechungen und Vorspiegelungen anderer retten wollen, und weil ich mir dessen bewußt war, daß ich noch nicht die Kraft besaß, selbst betrügen zu können, und ahnte, daß ich an einer Grenze stand, die ich nie überschreiten könnte, ohne mich zuvor von meinen eigenen Ängsten und Befürchtungen befreit zu haben, erhob ich mich, zielte mit meinem Gewehr auf einen russischen Panzer und schoß. Beim Abfeuern kam mir wieder die Erinnerung an Herrn Karel Pastrňák, den gewesenen Läufer beim F. C. Schlesisch Ostrau, den verkrachten Sodawasser-Erzeuger und jetzigen Spediteur, wie er am 4. März 939 aus dem Fenster seiner Parterrekammer in unserem Haus auf die deutschen Militärfahrzeuge mit einem Gewehr gezielt hatte – mit einem Luftgewehr. »Ich werde auf sie schießen«, hatte mir Herr Karel Pastrňák damals zugeflüstert, als ich ihn gefragt hatte, was er denn mit seinem Luftgewehr da vorhabe. »Ich werde auf sie schießen«, hatte er gesagt, »ich habe es mit Salz geladen und werde denen dort mit dem Salz den Arsch zerfetzen … geh lieber heim. Hier wird jetzt noch ein Unglück passieren.« Ich bin damals nicht heimgegangen, sondern nur bis zum Haupteingang des Platzes des F. C. Schlesisch Ostrau, von wo aus ich im angelehnten Fenster des Parterrezimmers Herrn Pastrňáks bleiches Gesicht erblickt hatte; in der Abendbeleuchtung hatte es wie ein an der Fenster211
scheibe haftender großer Klumpen Butter ausgesehen. Ich hatte darauf gewartet, daß sich jetzt das Unglück ereignen und Karel Pastrňák den deutschen Soldaten Salz in den Hintern pfeffern würde. Dann hatte ich eine Kremrolle geschenkt bekommen, Áda Lakubec war aufgekreuzt und hatte mir mit seiner abgearbeiteten Bergmanns-Pranke eins übers Maul gegeben. Mit einem Schlag hatte ich dann Herrn Pastrňák vergessen. Herr Karel Pastrňák hatte nicht abgefeuert. Hätte er damals tatsächlich geschossen, wäre er mit diesem Trumpf im Jahre 960, als man mich aus der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ausschloß, bestimmt herausgerückt. Ich schoß ein zweites Mal auf die russischen Panzer. ›Ich habe es also doch zustande gebracht‹, sagte ich mir, wenigstens das.‹ Heute weiß ich gar nicht, ob ich damals auf die richtige Seite gezielt hatte, aber um die ging es mir nicht. Einfach nur darum: daß ich zu schießen imstande gewesen war. Herr Pastrňák hatte das nicht zuwege gebracht. Ich befinde mich hier auf dem linken Ufer der Oder, dreihundert Meter von mir entfernt schwanken Panzer vorüber. Man hat uns Gewehre in die Hand gedrückt, damit wir die Panzer mit einer Abteilung siebzehnjähriger Jungen aufhalten. Ich gab einen weiteren Schuß ab. Erneut hatte ich also mein Gewehr abgefeuert, Herr Pastrňák hatte nicht geschossen, und Kurt verkroch sich jetzt in den Hohlweg. 212
Ich sagte mir, ›du hast also gesiegt‹. Das Gefühl, den Krieg zu gewinnen, erfüllte mich. ›Dieser Krieg wird nur meinetwegen geführte versicherte ich mir. ›Das ist mein großer Krieg. Und so muß ich nach allen Seiten schießen. Alle führen Krieg gegen alle. Auch ich.‹ Und wieder schoß ich. Dann spürte ich, daß mich jemand an der Schulter packte und mich zu Boden riß. Es war Kurt Wagner. »Du bist wohl verrückt«, brüllte er, »willst du uns alle vernichten?« »Jawohl«, erwiderte ich, »das will ich. Ich will, daß du hier umkommst, Kurt.« Ich erhob mich und feuerte von neuem. Keiner der Panzer nahm Kenntnis von mir. »Lojzek, ich bitte dich«, flüsterte jetzt Kurt, »laß das sein, es ist sinnlos.« Ich blickte Kurt an und bemerkte Angst in seinen Augen. Kurts Augen standen voller Tränen, die perlengleich hervorstömten, und an jeder großen Träne schimmerte eine wunderschöne Angst; auf seiner Stirn brach grauer Schweiß aus und verbreitete sich über sein Gesicht, das ganz aschfahl wurde. »Kurt«, schrie ich, »noch habe ich nicht den Mut, dich abzuknallen, aber wahrscheinlich werden das die Bolschewiken für mich tun, ich will diese Arbeit ihnen überlassen, auch wenn ich glaube, ich sollte sie selbst tun … Du hast uns immer wieder eingehämmert, dieser 213
Krieg werde nur für uns geführt, also fang an, mit deinem Krieg, Kurt, zu allen Teufeln, fang an damit!« »Nein, Lojzek«, flüsterte Kurt, »ich werde es nicht tun, es hat bereits keinen Sinn mehr, begreif doch, wir sind betrogen worden, sie haben uns blauen Dunst vorgemacht, dir und mir …« ›Das ist wirklich zum Lachen‹, dachte ich und freute mich darüber, ›Kurt ist jetzt erst auf diesen gloriosen Gedanken gekommen, von diesem Augenblick an wird er nur noch verkünden, er sei betrogen worden, und mit der Zeit wird er sich das so einsuggerieren, daß er es auch selbst glauben wird. Ein sehr einfacher und großartiger Einfall: Wenn man in der Patsche sitzt, braucht man nur zu schreien, man sei betrogen worden.‹ »Steh auf, Kurt«, brüllte ich dann, »und schieß!« Kurt war nicht dazu fähig, aber ich muß sagen, er versuchte es wenigstens, er wollte sich erheben, doch die Angst drückte ihn wieder zu Boden. Kurts Angst war jetzt voller Demut. Anders kann ich das nicht beschreiben. So hatte ich also doch gesiegt, endlich hatte auch ich so etwas wie einen Sieg errungen. Erneut lud ich mein Gewehr und feuerte. Nach jedem Schuß blickte ich Kurt an. Die Angst preßte ihn fest an den Boden, mir schien, als sauge ihn die Erde in sich auf, schon verschmolz er mit ihr. Ich fühlte mich erhoben, mir schien, als stünde ich hoch über der Landschaft, um mich herum schwankten Panzer vorbei, ich feuerte auf sie, meine Schüsse prallten an den Panzern mit tönendem Klang ab. Es war für mich ein wunderbares Klingen. 214
»Jetzt kannst du schon gehen, Kurt«, sagte ich zu ihm. »Sie haben uns betrogen«, schrie Kurt und kroch zurück, » sie haben dich und mich betrogen.« »Sag das nicht noch einmal«, schrie ich zurück, »es genügt mir schon.« »Lieber Gott«, flüsterte ich und schoß, »ich danke dir für Kurt, ich danke dir, daß meine Angst sich von mir auf ihn übertragen hat … Allmächtiger, beschütz mich nicht in diesem Augenblick, steh mir nicht bei, verlaß mich, lieber Gott, laß mich hier allein sein, ohne Angst, laß mich, lieber Gott, schießen …« Ich schoß und die russischen Panzer fuhren durch die Felder an mir vorbei. Sie schwankten gleichgültig in dreihundert Meter Entfernung von mir dahin. Dann herrschte Stille. Die Panzer waren in den Wald hinein verschwunden. Ich stand allein auf dem Feld und schoß in Richtung Osten, doch dort erblickte ich bereits kein Ziel mehr.
14 Sobald ich Herrn Richard Ryšánek, den ehemaligen Läufer beim F. C. Schlesisch Ostrau und späteren Profiboxer, herbeizitiere, erscheint er in seinem hellen Paradeanzug, in einem gelben Hemd mit brauner Krawatte; Herr Ryšánek sieht recht elegant aus. Als man ihn im Jahre 946 hängte, war sein letzter Wunsch, zu diesem bedeutendsten Ereignis seines Lebens jenen Paradeanzug anziehen zu dürfen. Am Morgen vor der Hinrichtung war Herr Ryšánek noch rasiert worden, er selbst hatte ein ganzes Fläschchen Kölnischwasser über sich ausgesprüht; Herr Ryšánek war stets darauf bedacht gewesen, tadellos rasiert zu sein und gut zu riechen. Jetzt trägt Herr Ryšánek überdies noch einen gelben Seidenschal um den Hals. Er achtet stets darauf, daß sein Auftreten den Eindruck erlesener Eleganz hervorruft, er ist ständig bemüht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten, nur von Zeit zu Zeit wird er nervös und rückt mit einer hastigen Bewegung sein Halstuch zurecht, damit man die Strangulierungsspuren nicht sieht, die der Strick des Scharfrichters an seinem Hals hinterlassen hat. 216
Zur Mannschaft des F. C. Schlesisch Ostrau stieß Herr Richard Ryšánek im Frühjahr 939, als der Ausschuß Herrn David Wiesenthal herausnehmen mußte, weil ein Teil der Gönner des Klubs, Mitglieder der faschistischen Nationalpartei, auf dem Fußballplatz Krawalle inszenierte, wenn David Wiesenthal antrat. Mein Vater hatte Ryšánek in Prag eingekauft, mußte aber zuvor noch einige Forderungen begleichen, die irgendwelche Frauen an ihn hatten; doch auch so kam Ryšánek den F. C. Schlesisch Ostrau ziemlich billig zu stehen, wenn man bedenkt, daß er damals ein erstklassiger Läufer gewesen war. Herr Ryšánek erhielt zehntausend Kronen bar auf die Hand, und außerdem bezahlte der F. C. auch noch seine Schulden in Höhe von sechstausend Kronen. Im Jahre 939 war der F. C. endlich in die erste Liga aufgestiegen, so daß jetzt ein Tausender mehr oder weniger für den Vereinsausschuß keine große Rolle spielte. In den Vorbereitungsspielen zeigte Herr Ryšánek phantastische Leistungen, zu Schwierigkeiten aber kam es dann vor dem ersten Spiel in der Frühjahrsrunde, als Herr Ryšánek in der Garderobe erklärte, er werde nur dann zum Match antreten, wenn er zweihundert Kronen bar auf die Hand bekäme, und zwar noch vor Beginn des Spiels. Mit vereinten Kräften hatten der Vater und der Ausschuß Ryšáneks Forderung auf einen Hunderter heruntergehandelt, mußten aber Ryšánek noch einen weiteren Hunderter versprechen, falls seine Leistung im Spiel gegen die Brünner zur Zufriedenheit ausfallen würde. Der Ausschuß hatte nämlich von vertraulicher Seite erfahren, daß drei Tage vor dieser Begegnung den Ryšánek 217
zwei Herren besucht und für ihn dreihundert Kronen bezahlt hatten, die Herr Ryšánek Frau Preis für Verpflegung und Wohnung schuldete. Die verläßliche Quelle, von der der Ausschuß diese Nachricht erhalten hatte, war Frau Preis gewesen, die vor meinem Vater nicht genug betonen konnte, was für spendable Freunde doch Herr Ryšánek besaß. Nachdem der Vater alle Einzelheiten über diesen Besuch aus Frau Preis herausgelockt hatte, machte es ihm keine allzugroße Mühe mehr, weiterzukombinieren, daß Herr Ryšánek von dem Vorsitzenden des S. K. Brünn, Herrn Josef Nováček, und dem Geschäftsführer des gleichen Klubs, Herrn Ervín Hampjez, besucht worden war. Ob Herr Ryšánek von den Brünnern noch zusätzlich irgendeinen Geldbetrag erhalten hatte, war nicht mehr festzustellen, Tatsache aber ist, daß das »České Slovo« in seiner Abendausgabe Herrn Ryšáneks Leistung im Spiel gegen den S. K. Brünn als für die gesamte sportliche Öffentlichkeit der Stadt ziemlich enttäuschend hinstellte. In der zweiten Runde spielte der F. C. in Olmütz, wo Herr Ryšánek eine hervorragende Leistung bot: Er schoß zwei Tore und gab die Vorlage zu einem weiteren Tor. Das »České Slovo« hatte dann in seiner Abendausgabe geschrieben, der F. C. Schlesisch Ostrau hätte endlich einen leistungsfähigen Motor gefunden. Nach dem Wettkampf in Olmütz verlangte Herr Ryšánek fünfhundert Kronen, bekam jedoch nur zweihundertfünfzig, mit denen er sich zufriedengeben mußte, als ihm der Vater andeutete, der Ausschuß sei über seine Verhandlungen vor dem Spiel 218
gegen die Brünner informiert. Herr Ryšánek nahm die zweihundertfünfzig Kronen, verkündete aber voll Ärger, er werde zu einem künftigen Spiel nicht mehr antreten, falls er nicht im voraus zweihundertfünfzig Kronen bekäme. Der Ausschuß und mein Vater begannen mit einem Male zu verstehen, warum sich der Prager Klub Ryšáneks auf so billige Weise entledigt hatte. Vor dem Ende der Frühjahrs-Spielsaison 959 fand sich Frau Preis im Geschäftszimmer des F. C. Schlesisch Ostrau ein und legte eine Rechnung über eintausendsechshundertfünfzig Kronen für Herrn Richard Ryšáneks Verpflegung und Unterkunft vor. Der Vorsitzende des F. C., Herr Dr. Henryk Staniolowský, sagte, er bezahle diese Rechnung nicht, denn der Klub habe keine Verpflichtung übernommen, für Ryšáneks Kost und Wohnung aufzukommen. Frau Preis brach vor dem Ausschuß in Weinen aus, wer ihr denn jetzt diese sechzehnhundertfünfzig Kronen bezahlen würde, dieser Betrag sei doch für eine Witwe keine Lappalie, der Ausschuß möge doch bedenken, daß sie noch ein unversorgtes Kind habe. Darüber hinaus erklärte Frau Preis, Herr Ryšánek hätte bei seinem Einzug gesagt, Wohnung und Verpflegung würde der Klub für ihn bezahlen. Da gerade der Übertrittstermin für den Sommer lief und sich der Ausschuß in Verhandlungen mit einigen hoffnungsvollen Übertrittskandidaten befand, konnte es sich Herr Dr. Staniolowský erlauben, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und zu verkünden, der F. C. würde also seinen Spielervertrag mit Ryšánek lösen, Herr 219
Ryšánek könne gehen, wohin es ihm beliebe, in dem noch zu absolvierenden Spiel der Frühjahrsrunde würde Herr David Wiesenthal antreten, und da es auswärts ausgetragen werde, habe man keine antisemitischen Krawalle zu befürchten. Frau Preis begriff, so konnte sie ihre Forderung in den Kamin schreiben, und daher hörte sie zu weinen auf und begab sich heim, wo sie sofort auf Herrn Ryšánek losging, er habe eine arme Witwe betrogen und bestohlen, was solle sie nun tun, sie könne es sich nicht erlauben, so für nichts und wieder nichts sechzehnhundertfünfzig Kronen aus dem Fenster zu werfen. Herr Richard Ryšánek hatte gerade seinen reizvollsten Dreß an: seine Sporthose und ein ärmelloses Trikot; seine Brustmuskeln und sein Bizeps traten durch die Haut in ihrer ganzen Schönheit hervor. Sowie Frau Preis Herrn Ryšáneks Muskeln erblickte, schlug sie sofort ihre Augen nieder. Es stand ihr nicht mehr der Sinn danach, einen muskulösen Mann anzuschauen, sie wollte nur ihr Geld haben. Ich bin mir jedoch nicht sicher, was geschehen wäre, wenn Herr Ryšánek die sechzehnhundertfünfzig Kronen wortlos auf den Tisch gelegt und gesagt hätte: »Hier haben Sie Ihr Geld, Frau Preis, wählen Sie zwischen sechzehnhundertfünfzig Kronen und mir!« Ich glaube, Frau Preis hätte sich für Herrn Ryšáneks Muskeln entschieden. Herr Ryšánek begann mit leiser, beruhigender Stimme auf Frau Preis einzureden, fixierte sie und achtete sehr 220
darauf, sich im richtigen Seitenlicht zu zeigen, das die Umrisse seines muskulösen Körpers vorteilhaft nachzeichnete. Es konnte gar nicht anders gewesen sein, als daß Frau Preis jetzt nur noch warme Feuchtigkeit um sich herum spürte und offenbar vermeinte, bis zum Hals hinauf in Honig zu stecken, so daß sie sich nicht rühren könne und der ihr noch verbleibende Zwischenraum direkt zu Herrn Ryšáneks Brustkorb hinführe. »Ich bin ein fairer Bursche«, sagte Herr Ryšánek, »wenn schon die Leute vom Ausschuß nicht ein Quentchen Gewissen und Charakter haben, so werde ich Ihnen selbstverständlich alles bezahlen, Frau Preis, ich werde Sie doch nicht im Stich lassen, was denken Sie denn von mir …? Frau Preis«, sagte Herr Ryšánek jetzt mit gedämpfter Stimme, »ich habe mich doch schon deutlich genug darüber geäußert, ich kann doch nichts dafür, daß Sie diesem Dummkopf von Metzger in die Klauen geraten sind … Sie werden doch nicht am Ende wollen, Frau Preis, daß unser beiderseitiges Verhältnis, an dem zumindest mir sehr viel liegt, wegen lumpiger sechzehnhundertfünfzig Kronen leidet …« Ich stelle mir vor, Frau Preis hätte in diesem Augenblick am liebsten aufgeschrien. Sie hätte Lust gehabt, aus sich herauszuschreien, mit Emerich Cach sei längst Schluß, Emerich habe sie nur schändlich ausgenützt, und jetzt, wo er sein wahres Gefühl für sie beweisen solle, habe er sich zurückgezogen. ›Ich bin frei‹, hätte Frau Preis am liebsten ausgerufen, ›ich bin frei für Sie, Herr Ryšánek! Reden wir nicht 221
mehr von diesem lumpigen Geld, reden wir lieber von uns und unserer Zukunft!‹ Aber zu diesem glücklichen, erlösenden Aufschrei kam es nicht, Frau Preis hob nur ihren Kopf, ja so war es gewesen: Sie hatte nicht aufgeschrien, sondern nur den Kopf zurückgeworfen und Atem geholt, damit ihr Herz nicht aussetzte. »Frau Preis«, flüsterte Herr Ryšánek, »nur ungern möchte ich wegen lumpiger sechzehn Hunderter bei Ihnen scheitern, das wäre ein zu niedriger Preis für das, was ich für Sie empfinde … ich habe Zeit, Frau Preis, ich kann so lange warten, bis Sie sich von Ihrer Betörung, in die Sie dieser dämonische Metzger gestürzt hat, befreit haben werden …« »Nein«, flüsterte Frau Preis zurück, »aus dieser Betörung bin ich längst heraus, du hast mich, Liebster, davon befreit.« Herr Ryšánek umarmte Frau Preis. Ganz bestimmt ließ er es sich sehr daran gelegen sein, daß seine Muskeln gerade in jenen Partien, mit denen er den vor Erregung zitternden Körper der Jüdin Preis berührte, ganz hart wurden. »Nein, jetzt noch nicht«, sagte Frau Preis mit bebender Stimme, »was würde denn Nathan dazu sagen …« »Der wird nichts mehr sagen, Frau Preis«, flüsterte Herr Ryšánek, »der wird niemals mehr etwas sagen, jetzt bin ich an der Reihe …« »Das war von Ihnen kein faires Spiel, Herr Ryšánek«, sage ich zu ihm, als der ehemalige Fußballer und Profiboxer an meinem Bett erscheint. 222
»Nein, das war es nicht«, erwidert Herr Ryšánek, »das muß ich zugeben, aber das Geld hatte ich schon bereit, doch dann … hat sie mich, Lojzek, geliebt … aber das Geld für sie hatte ich. Später, als ich schon in der Arena boxte, habe ich es fortwährend aufbewahrt, doch dann hat man Frau Preis abtransportiert und …« »Sie hätten dieses Geld doch eher zurückzahlen können«, sage ich. »Ja, das hätte ich können, das schon«, erwidert Herr Ryšánek nervös und schiebt sich das Halstuch zurecht, um die Strangulierungsspur zu verdecken. »Auch dir, Lojzek«, sagt er dann, »könnte einmal noch so manches bitter leid tun, bereite dich darauf vor!« »Das war einmal, Herr Ryšánek, jetzt bin ich schon auf alles vorbereitet.« »Erinnere dich nur daran, wie ihr damals den Erich verprügelt habt«, sagt Herr Ryšánek lächelnd. »Für diese Rauferei bei uns im Hof schäme ich mich nicht im geringsten, das zweite Mal hat dann Erich die Prügel selbst herausgefordert, Herr Ryšánek, er hat uns verraten.« »Aber ihr seid doch zu dritt auf ihn losgegangen …« »Stimmt, wir waren drei«, erwidere ich. »Vojta, den ich damals mit Adalbert ansprechen mußte, hat gesagt, eine solche Lumperei dürften wir nicht ungestraft lassen; Heinz Hupka hat uns wiederum die Ohren vollgeblasen, das hätten wir nun davon, daß wir einen Juden in unsere Clique aufgenommen hatten. Er kenne schon eine Methode, wie man Juden Mores lehre, damit sie ihre Zunge im Zaum hielten. Und Heinz hat gesagt, es sei überhaupt ein Fehler 223
von uns, mit einem Stinkjuden befreundet zu sein, er, Hupka, würde viel besser in unsere Clique hineinpassen, auch wenn er einen wunden Fuß habe. Auf dem Heimweg aus der Schule hat uns dann Heinz bekniet, die Sache mit Erich doch sofort auszutragen, er sei bereit, uns dabei zu helfen, damit wir sehen könnten, daß er trotz seines eiternden Beins ein ganzer Kerl sei. Und dann brüstete sich Heinz damit, er könne uns einen besseren Tip geben, Fackeln zu stehlen sei doch sinnlos, er aber wisse von einem Delikatessen-Lager im Hotel Palace, das sein Onkel als arischer Treuhänder verwalte. Er habe bereits alles ausspioniert, es genüge, nur das Fenster einzuschlagen, und wir hätten direkten Zugang zum Lager, von wo wir volle Taschen mit Freßsachen wegschleppen könnten. Heinz sagte, er selbst könne wegen seines wehen Beins nicht durchs Fenster kriechen, er würde aber Schmiere stehen, und danach würden wir halbpart machen.« »In drei Teile wird geteilt«, sagte Vojta. Und da wußte ich bereits, daß alles entschieden war. Auch entschlossen wir uns, sogleich zur jüdischen Schule zu gehen, auf Erich zu warten und ihn alle drei tüchtig zu verprügeln, in Zukunft würden dann nur wir drei zusammenhalten. Und so begaben wir uns zur jüdischen Schule. Sofort, als Erich herauskam, trat Heinz Hupka zu ihm und sagte: »Also du schuftiger Jud, jetzt kannst du mal einen Tanz erleben.« »Was willst du, du denn hier …«, stotterte Preis und warf einen Blick auf Vojta und mich, »das ist doch nur unsere Angelegenheit.« 224
»Jetzt auch schon meine«, erwiderte Heinz Hupka, und der Schweiß trat ihm auf die Oberlippe. Wir schleiften Erich zum Flußufer hin. Dort lehnte er sich an das Eisengeländer, klammerte sich daran fest und sagte zu uns: »Also los, fangt an!« Erich hatte schöne Augen, sie waren von brauner Farbe wie Mandeln und drückten Verachtung für uns aus. Als erster versetzte ihm Heinz Hupka einen Tritt, der wehe Fuß schien ihm gar nichts auszumachen. Dann ging Vojta auf Erich los. »Du Schwein«, sagte Vojta, »deinetwegen hat mir mein Vater den Arsch zu Hackfleisch zerfetzt.« Ruhig und bedächtig schlug Vojta auf Erich ein, der rührte sich überhaupt nicht, sondern klammerte sich nur fest an das Geländer über dem Fluß. »Jetzt bist du an der Reihe, Alois«, sagte Heinz zu mir. Ich ging auf Erich zu, näherte mich ihm aber nur langsam, etwas in meinem Innern sagte mir, Erich brauche jetzt etwas Zeit, und so gewährte ich ihm diese paar Sekunden, damit er das Geländer loslassen konnte. Ich gönnte ihm noch zusätzlich ein paar Sekunden, und er nützte sie gut. Er versetzte mir einen Schlag ins Gesicht. ›Gut‹, sagte ich mir, aber es tat weh, Erichs Hieb schmerzte mich wirklich, ich spürte noch genau die Stellen von Herrn Wenzel Deutschers Ohrfeigen vom Vormittag im Kabinett unter den ausgestopften Tieren. Dann verpaßte ich Erich einen, es war ein guter, ja ein sehr guter Schlag, und ich war zufrieden. 225
Erich reagierte darauf mit einem Hieb in meine Magengegend. Ich fing ihn zwar mit dem Ellbogen auf, doch der Schlag saß trotzdem. Mir wurde ganz schwindlig, doch das ging schnell vorüber. Jetzt sprang ich Erich an die Gurgel und riß ihn zu Boden. Erich stieß mir sein Knie zwischen die Beine. Sofort ließ ich von ihm ab und fiel ins Gras. Nachdem ich mich wieder erhoben hatte, sah ich, wie jetzt beide, Heinz und Vojta, auf Erich knieten und auf ihn einschlugen. »Er hat schon genug«, sagte ich, »hört auf damit, er hat genug.« Doch sie hörten mich nicht. »Erich«, brüllte ich, »sag ihnen doch, daß du genug hast!« »Ich hab genug«, röchelte Erich. Dann ließen wir ihn beim Geländer liegen, packten zusammen und gingen heim. Heinzens Stimme überschlug sich vor Erregung, als er sagte: »Diesem Knoblauchjuden haben wir es aber ordentlich gegeben, dem haben wir die Fresse poliert, so, daß ihn seine Mutter nicht wiedererkennt …« Unter Heinzens Nase perlten silberne Schweißtröpfchen. Nervös leckte er sie mit der Zunge ab. ›Das kotzt mich alles an‹, sagte ich mir auf dem Heimweg, ›verzeih mir, Erich, wenn du kannst. Ich danke dir für jeden Hieb, Erich, du hättest mich noch härter 226
verprügeln sollen. Ich hasse Heinz, diesen Krüppel mit seinem Fuß. Das Bein soll ihm bis zum Hintern hinauf abfaulen! Das werde ich Heinz noch einmal heimzahlen, Erich, ganz bestimmt zahle ich ihm das heim!‹ Oftmals glaube ich, daß es über die Vergangenheit eines ganzen Jahrzehnts hinweg scharfe Häkchen an Silonfäden nach mir auswirft, ich fange sie begierig mit meinem Mund auf, sie spießen sich in ihn ein – und dann spüre ich, wie sich der Faden strafft und mich zurückreißt. Manchmal sträube ich mich dagegen, es hilft mir nichts, der Haken steckt nur allzufest in meiner Oberlippe, die so oft blutet. Oder ich spüre den Duft von Salbei, und sofort zieht es mich wieder in das Jahr 940 zurück, als der Vater im März mit seiner obligaten Frühjahrsangina zu Bett lag und mit einem Salbei-Absud gurgelte. Damals hatte der Ausschuß des F. C. Schlesisch Ostrau meinem Vater mitgeteilt, er reflektiere nicht mehr auf seine Dienste als Geschäftsführer und als Platzwart, meine Mutter müsse auch nicht mehr die Fußballer-Trikots waschen und den Brezelverkauf habe der Ausschuß an eine andere Firma vergeben. Der Vater habe innerhalb von vierzehn Tagen, so ließ ihn der Ausschuß wissen, seine Dauer-Eintrittskarte für den Fußballplatz und seine Klublegitimation abzugeben. Wegen des kranken Halses konnte mein Vater nicht losschimpfen, er brachte nur ein paar krächzende Laute heraus, dabei war wohl in seinem Hals die feuerrote Eitergeschwulst aufgeplatzt, und wir mußten den Arzt rufen. 227
Am Sonntag, als das Spiel der ersten Frühjahrsrunde stattfand, verhängte meine Mutter die Fenster mit Dekken, damit der Vater nicht den Lärm vom Fußballplatz vernehmen konnte, aber das half nicht viel. Sowie der Vater im lokalen Rundfunk die Zusammenstellung der Mannschaft hörte, verschlimmerte sich sogleich sein Zustand. »Jesus Maria«, krächzte er, »wer hat denn nur diese Mannschaft aufgestellt, wer hat so etwas gemacht, das ist doch ein Haufen von Versagern.« Mein Vater zog das Kissen über den Kopf, um nichts sehen und hören zu müssen. Beim nächsten Spiel, das der F. C. wieder auf dem eigenen Platz austrug, war der Vater nicht mehr zurückzuhalten. Er warf dem Kassierer seine Dauerkarte hin und verlangte einen Tribünen-Sitzplatz. »Jaroslav«, sagte der Herr Kassierer, »für dich ist hier ein für allemal ausverkauft, du hast hier, Jaroslav, auf Lebenszeit Platzverbot. Anders kann ich dir das nicht klarmachen.« Der Vater, noch vom Fieber geschüttelt und zusätzlich von Wut gepackt, verließ wortlos die Kasse und ging von hier schnurstracks in die Schenke »Zur Eiche«, wo er hinter dem Schankpult Herrn David Wiesenthal antraf, den früheren Läufer des F. C. Schlesisch Ostrau, der Spielverbot hatte, weil er Jude war. »David«, sagte mein Vater zu ihm, »von heute an haben wir beide Platzverbot, gib mir einen Kognak.« David zog die Kognakflasche unter dem Schankpult hervor, er schenkte davon nur Bekannten ein, und meinte, 228
soweit er sich erinnere, seien es jetzt zwölf Jahre her, daß sich mein Vater einen Kognak gegönnt habe. »Erinnere mich lieber nicht an diesen Abend nach dem Eishokkey-Match gegen den H. C. Budapest, David«, sagte mein Vater. »Ich spreche doch nicht vom Eishockey«, lachte David, »sondern vom Kognak.« Und dann fügte David hinzu, er wäre sehr froh, wenn mein Vater seine Schuld bei ihm bezahlen würde, diese lumpigen fünf Tausender, denn die Zeiten seien sehr unsicher. »Und nicht einmal Zinsen verlange ich, Herr Lapáček«, sagte David lächelnd. »David«, erwiderte mein Vater, »dir gebe ich die Moneten zurück … wir beide sind jetzt im Abseits und sind beide gleich daran …« »Aber es besteht doch ein gewisser Unterschied zwischen uns beiden«, meinte David von neuem lächelnd. »Ich für meine Person wurde ins Abseits abgedrängt, aber Sie, Herr Lapáček, sind selbst hineingelaufen. Oder, wenn wir das von einer anderen Seite betrachten, besteht der Unterschied zwischen uns beiden wohl darin, daß jetzt jeder von uns für andere Farben, in einer anderen Mannschaft spielt.« Mein Vater schwieg, trank ein Schlückchen und meinte dann, David habe wahrscheinlich recht. »Aber zumindest wir beide«, sagte der Vater lachend, »wir werden doch immer fair spielen, nicht wahr, David?« »Wir werden nicht fair spielen«, erwiderte David lächelnd, »wir werden es nicht, selbst wenn wir es wollten.« 229
Mein Vater nahm wieder einen geräuschvollen Schluck, Alkohol pflegte er stets zu schlürfen. Er spürte, wie der Kognak seinem wunden Hals wohltat. »Schenk mir noch einen ein, David«, sagte er. »Der Kognak tut meinem Hals gut, er kitzelt mich so angenehm an den entzündeten Stellen.« Nach dem dritten Kognak war der Vater bereits betrunken, er konnte nie viel vertragen. Zuerst wünschte er alle Ausschußmitglieder des F. C. Schlesisch Ostrau zum Teufel, diese undankbare Bande, diese Spitzbuben, und dann schrie er in Wiesenthals Gegenwart in der leeren Schankstube herum, wenn er erst von den Machenschaften, die der Ausschuß ausgeheckt und durchgeführt habe, offen reden wollte, dann käme es zu einem Skandal, der für drei Abendausgaben des ›České Slovo‹ ausreichte, dann würden die Leute bei der Gauleitung Augen machen, was für unsaubere Schiebungen hier gemacht würden. »Aber Sie haben doch auch selbst kräftig mitgemischt, Herr Lapáček«, sagte David von neuem lächelnd, »wenn die Schachergeschäfte bei den Übertritten aufgedeckt werden, dann kämen doch Sie als erster an die Reihe!« »Diese Schweine«, so machte mein Vater seinem Herzen Luft, »überall haben sie mich vorgeschoben, und wenn etwas aufgeflogen ist, dann hat sich dieser Herr Dr. Staniolowský fein herausgehalten, ist schön hinterm Wind geblieben … und jetzt haben sie mir für all das einen Tritt gegeben …« »Trinken Sie noch eins«, sagte David und schob dem Vater das gefüllte Gläschen hin. »Ich bin erledigt, David«, seufzte der Vater, »wenn mir 230
heute einer einen Tritt versetzt, dann wird niemand ein Foul abpfeifen.« Vom Platz herüber vernahm man das Gebrüll: »Tor!« »Die Unsern gewinnen«, sagte mein Vater. Aber ich stelle mir vor, mein Vater hat wohl dann den Eindruck gehabt, daß das Gebrüll auf dem Platz nicht nachlassen wollte, daß es anwuchs, daß ihn dieses Gebrüll einschloß, er hörte das Geschrei vor sich, hinter sich, zu seiner Rechten und zu seiner Linken, es umgab ihn immer dichter; der Vater mochte sich jetzt einbilden, er stecke inmitten eines sich verdichtenden Gebrülls, das wie ein Teig aufging, sich durch den Mund in seinen Hals hineinzwängte und ihn würgte. »Tor, Tor, Tor«, erscholl es rings um meinen Vater, er mußte sich durch dieses Geschrei hindurchzwängen, er begann mit den Armen herumzufuchteln, in der Kehle mochte er wohl einen schneidenden Schmerz verspüren, er wollte aufschreien, doch er konnte nicht. Dennoch gelang es ihm, zwei oder drei Schritte vorwärts zu tun, aber da stieß er auch schon mit dem Kopf an den Kleiderhaken, der an der Wand hing. Nachdem sich mein Vater vom Fußboden der Schenke »Zur Eiche« wieder aufgerappelt hatte, mochte es ihm scheinen, als sei durch den Anprall in seinem Kopf alles durcheinandergeschüttelt worden, er sah jetzt alles in einem klareren und schärferen Licht. ›Endlich bin ich aus diesem Teig heraus‹, sagte sich mein Vater, ›ich höre nicht mehr dieses Gebrüll, und ich werde es auch nie mehr hören wollen, nie werde ich 231
jemals wieder meinen Fuß auf den Platz des F. C. setzen, alle können mir den Buckel herunterrutschen.‹ Dann richtete sich mein Vater kerzengerade auf. »Du willst also dein Geld haben, David«, sagte er, »du willst dein Geld zurück und bist plötzlich so großmütig, nicht einmal Zinsen zu verlangen. Nichts werde ich dir geben, nicht einen roten Heller bekommst du von mir, merk dir das. Wenn du willst, dann geh doch zum Gericht und sag dort: Ich, der Jude David Wiesenthal, klage gegen den Bäcker Jaroslav Lapáček, der die Volksliste unterschrieben hat, daß er mir schon seit drei Jahren Geld schuldet! Geh nur hin, David, du wirst schon sehen, was sie dir dort sagen werden! Ich habe dich drangekriegt, David, eigentlich habe ich euch alle drangekriegt! Ich habe meinen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht bekommen, und wenn du mir also eine Mahnung wegen des Geldes schicken willst, dann schick sie gefälligst an die Adresse: Jaroslav Lapatschek, Gefreiter irgendwo bei der Wehrmacht!« Der Vater knallte die Tür hinter sich zu. David Wiesenthal machte sich dann wohl daran, die Gläser zu spülen und zu polieren und wartete, bis von dem geölten Fußboden der Schenke »Zur Eiche« die Dämmerung aufsteigen und den Raum bis zur Decke füllen würde. Dann schloß er sorgfältig seine Schankstube ab, an deren Eingangstür ein Zettel angebracht war: »Jüdisches Unternehmen«, streifte seinen Trainingsanzug über und begab sich zum Fluß hinunter, um seinen gewohnten Trainingslauf zu absolvieren. 232
Herr David Wiesenthal achtete darauf, in Form zu bleiben. Mein Vater gurgelte daheim mit Salbei. Noch heute sehe ich vor mir, wie aus dem Mund meines Vaters Bläschen hervortreten, zur Decke aufsteigen, dort mit kaum vernehmbarem Geräusch zerplatzen und ihren Inhalt über meinen Kopf sprühen: den würzigen Duft dieser Heilpflanze. Noch immer bewahre ich alte, längst verfallene Sparbücher auf. Ich hätte sie natürlich schon verbrennen oder wegwerfen können, aber sooft ich daran denke, mich ihrer zu entledigen, vermeine ich wieder jenes bewußte Häkchen zu spüren, das sich in meine Handfläche einspießt, der Silonfaden strafft sich, und da weiß ich auch schon, er wird mich abermals in die Vergangenheit zurückziehen, zu einigen bestimmten Geschehnissen hin. Das erste dieser Geschehnisse, mit dem mich der Silonfaden und das in meiner Hand steckende Häkchen verbindet, hat sich im März 940 abgespielt, als mein Vater damals, den Einberufungsbefehl zur Wehrmacht in der Hand, in der Küche saß. Die Wirkung des Rausches, den er sich in der Schenke »Zur Eiche« angetrunken hatte, war im Abklingen, und er begann langsam wieder nüchtern zu werden. Die Großmutter Zabalski sagte zu ihm, was sei denn so Schlimmes an der Einberufung, der Großvater von Zabalski habe doch so viele Jahre gedient, und hätte ihn nicht das Unglück ereilt – meine Großmutter pflegte gelegentlich vom Malheur des Großvaters in Krakau als 233
von einem »Unglück« zu sprechen –, so hätte er bestimmt bis zum heutigen Tag den Waffenrock getragen, so daß mein Vater, der Bäcker Jaroslav Lapáček, eigentlich stolz darauf sein müßte, eine Uniform anziehen zu dürfen, deren Farbe auch der Großvater, Rittmeister von Zabalski, ganz gewiß als die seine akzeptiert hätte. »Ach, lassen Sie mich doch endlich damit in Ruhe, Mutter«, seufzte der Vater. »Wir alle müssen Opfer bringen«, fuhr die Großmutter fort, »anders geht das eben nicht. Auch ich bringe mein Opfer, damit ihr nur wißt, wie ich bin. Das ganze Geld, das ich jetzt als Rente von meinem Ehegatten von Zabalski beziehe, zahle ich auf ein Sparbuch für den Lojzek da ein, so daß Sie, Lapáček, sich also überhaupt keine Sorgen machen müssen. Und sollten Sie im Krieg fallen, so werde ich schon für Ihren Sohn, meinen Enkel, sorgen!« Der Vater seufzte wieder und schwieg. Die Großmutter hatte mich dann all die Jahre hindurch immer wieder daran erinnert, welches große Opfer sie für mich gebracht habe. Fortwährend kam sie auf diese Sparbücher zurück, die ich, wenn sie einmal nicht mehr sein werde, von ihr bekäme, damit ich wüßte, was für eine gute Großmutter ich doch hatte. Die Sparbücher bewahrte sie in einem zusammengeknoteten Tüchlein unter der Unterlage des Kopfkissens auf und bewachte sie mit Argusaugen. Tag für Tag ermahnte mich meine Großmutter, sie nur ja mit der gebührenden Achtung zu behandeln, sonst würde sie mir die Sparbücher nicht vererben. Und ich wiederum hatte nicht den Mut, 234
ihr klarzumachen, daß alle diese Sparbücher schon längst ungültig, die Einlagen verfallen waren, daß sich ja im Frühjahr 945 so mancherlei geändert hatte. Ich schwieg also, denn ich wußte genau, daß die Großmutter keinerlei Veränderungen zur Kenntnis genommen hatte, sie hatte sich in sich selbst zurückgezogen, ihre eigene Welt, an die sie sich klammerte, mit in sich hineingenommen und war keineswegs gewillt, bis an ihr Lebensende eine andere Welt als die ihre anzuerkennen und sich an sie anzupassen. In rührseligen Augenblicken, wenn die Alte glaubte, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, zog sie die Sparbücher hervor, hielt sie mir mit zitternder Hand vor die Augen und sagte zu mir, in diesen Büchlein liege meine Zukunft. Einmal aber konnte ich das dauernde Geschwätz der Großmutter von den Sparbüchern nicht mehr ertragen. Mir kam der Einfall, ihr die Sparbücher zu stehlen, das würde sie bestimmt nicht überleben. Also dachte ich mir aus, mit ihr wieder einmal Geburtstag zu feiern, kaufte eine Flasche Sherry und stellte sie am Nachmittag meiner Großmutter auf den Tisch. »Die habe ich dir zu deinem heutigen Geburtstag mitgebracht«, sagte ich zu ihr. »Ich freue mich, daß du sie nicht vergessen hast, mein Mann, der Rittmeister von Zabalski …« »Trinken wir lieber, vom Rittmeister kannst du mir nachher erzählen«, sagte ich und schenkte schnell die Gläschen voll. Meine Großmutter tat selbstverständlich so, als hätte 235
sie wirklich Geburtstag, ich schwatzte ihr vor, für eine Siebzigerin sehe sie noch recht gut aus, aber bis heute bin ich mir eigentlich nicht darüber im klaren, wie alt die Großmutter tatsächlich ist. Soweit ich mich erinnern kann, haben wir ihren Siebzigsten schon mindestens fünfmal miteinander gefeiert. Auch diesmal spielte meine Großmutter das Geburtstagskind ganz hervorragend, das heißt, sie trank mehr als gewöhnlich, so daß sie bald in die richtige Stimmung kam, mir ihre Hände auf den Kopf legte und sagte: »Denk daran, Lojzek, dein Großvater war der Rittmeister von Zabalski, also mach ihm keine Schande … du bist allerdings etwas aus der Art geschlagen, aber schließlich ist Medessy auch kein schlechter Name … wenn mein letztes Stündlein kommen wird, will ich dir die Sparbücher übergeben, damit du weißt, daß deine Großmutter kein armer Schlucker war! Komm, gib mir einen Kuß, Lojzek!« Ich muß also der Großmutter einen Kuß geben, vorher hole ich immer tief Atem und halte dann die Luft an. Ich bilde mir ein, daß unter der Berührung meiner Lippen die Haut auf der Stirn der Großmutter knistert. Ich wollte meine Großmutter rasch betrunken machen, und das gelang mir auch, so daß sie jetzt bei unserem gemeinsamen Feiern alle üblichen Stadien der Trunkenheit ungewöhnlich rasch durchlief; kaum hatten meine Lippen die Stirn meiner Großmutter berührt, schon fiel sie der Länge nach hin aufs Bett. Wenig später zog ich das verknotete Päckchen mit den Sparbüchern unter der Unterlage des Kopfkissens hervor. 236
Die Einlagen betrugen insgesamt achtzehntausend Mark. Ich kippte den restlichen Sherry hinunter und fühlte mich ziemlich elend. Doch dann befiel mich ein Riesendurst. Und weil es nichts mehr anderes zu trinken gab, goß ich mir den Rest der Rum-Essenz, die im Schrank stand, in ein mit Wasser gefülltes Glas und trank wenigstens dieses Gesöff. In zunehmendem Maße wurde mir elender zumute. Ich konnte meine Großmutter nicht mehr anschauen, wie sie so ruhig atmend auf dem Bett dalag, die Nase zur Zimmerdecke gestreckt, die dürren, bis zu den vertrockneten Ellbogen entblößten Arme manierlich über dem Bauch gekreuzt. Mitleid begann sich in mir zu regen. Aber wirklich nur für einen Moment. Es war nur so etwas wie ein momentaner Anfall, der mich in dem Augenblick überkam, als ich die Sparbücher wieder zu einem Bündelchen verknotete und sie mir unters Hemd steckte. Dann war alles vorbei und wieder in Ordnung. Von neuem bekam ich eine Mordswut auf meine Großmutter, eine kalte, elende bis auf Haut und Knochen nackte Wut. Ich wünschte mir, meine Großmutter möge zu atmen aufhören. Ich bildete mir ein, mit ihrer Atemluft müßte ich auch einen Teil ihres Wesens in mich aufnehmen. »Du unersättliches Biest«, flüsterte ich vor mich hin, »hör doch zu atmen auf, hör endlich zu atmen auf!« Ich holte wie zum Schlag gegen die Großmutter aus, 237
nein, wirklich schlagen wollte ich sie nicht, ich holte nur aus, um die sie umgebende Atmosphäre, die ich mit einem Male nicht mehr einzuatmen vermochte, zu zerschlagen. Klirrend zerbrach die Flasche mit der Rum-Essenz auf dem Fußboden, ich hatte sie vom Tisch heruntergestoßen. Im Zimmer verbreitete sich ein wundervoller Duft. Schon konnte ich wieder leichter atmen. Der Duft Jamaikas erfüllte das ganze Zimmer, ich weiß nicht, warum gerade der Duft Jamaikas, aber irgendwo hatte ich gelesen, daß man dort den besten Rum herstelle. Ich sah Jamaika vor mir, diese Insel stellte ich mir als riesige auf der Meeresoberfläche schwimmende Flasche Rum vor, die Menschen dort bohrten das Glas der Flasche an und zapften Rum aus diesen strömenden Brunnen. Morgens und abends wurde eine Kollektiv-Sauferei veranstaltet. Zehntausend Menschen drängen sich auf einem dafür bestimmten Raumabschnitt zusammen, der Vorsitzende des dortigen Natioalausschusses hat auf dem Balkon eine Feuerwehrspritze montiert, die Leute öffnen den Mund, und jedermann bekommt seinen täglichen Schuß Rum verpaßt. Ich träumte von Jamaika. Die ganze Nacht befand ich mich auf Jamaika und trank Rum. Am nächsten Morgen erwachte ich noch vor der Großmutter. Ich hob meinen Kopf von der Tischplatte und beobachtete die auf dem Bett liegende Greisin. 238
Kaum erwacht, war ihr erstes ein Griff unter die Unterlage des Kopfkissens. Dann richtete sie ihre Augen auf mich und blickte mich an: »Du Bankert«, kreischte sie, »du hast mir meine Sparbücher gestohlen.« »Ja«, erwiderte ich. »Du hast mir die Sparbücher gestohlen«, kreischte meine Großmutter von neuem, »und hast das ganze Geld in Rum versoffen. Ich spüre noch jetzt den Geruch …« »Ja«, erwiderte ich, »ich habe dir dein ganzes Geld gestohlen und mich in der Nacht hier in Rum gebadet, man riecht es noch ganz deutlich.« »Ich werde sterben«, sagte die Großmutter wütend. »Ich warte darauf«, gab ich zur Antwort.
15 Als mein Vater im Jahre 940 zu seinem Bataillon nach Prerau eingerückt war, kam es in unserem Haus zu keinen größeren Veränderungen. Der F. C. Schlesisch Ostrau begann die neue LigaSaison mit Joža Chryzcke im Tor; Ludva Kocifaj war aus der Mannschaft genommen worden, da seine Qualitäten für eine Konkurrenz in der höchsten Liga nicht mehr ausreichten. Die Herausnahme aus der Mannschaft war Ludva Kocifaj sehr nahegegangen; um nichts in der Welt hätte er zugegeben, daß seine Kondition nachgelassen hatte. Weil er aus Leidenschaft zum Fußball keinerlei Handwerk erlernt hatte, warf er sich aufs Plakatkleben, was gewissermaßen schon zur traditionellen Beschäftigung aller ehemaligen Fußballer geworden war, die keine anderen Kenntnisse und Fähigkeiten besaßen. Ludva konnte sich jetzt auch ganz der Schauspielerei widmen; jeden Sonntag führte er gemeinsam mit seinem Vater, dem Schneider Řehoř Kocifaj, biblische Tragödien auf. 240
Ludva Kocifaj übernahm in der Regel die Rolle des Christus, denn er befand sich gerade in jenem Alter, in dem auch Christus den Höhepunkt seines Wirkens erreicht hatte. Ludvas Schwester, Anka Kocifaj, spielte je nach Bedarf die Jungfrau Maria, Maria Magdalena oder irgendeine andere Heilige. Sich selbst behielt Vater Řehoř Kocifaj Rollen vor wie die des Judas, Gott Vaters, des Erzengels Gabriel und andere. Die Charaktere, die diese drei Schauspieler zu verkörpern hatten, waren ein für allemal festgelegt: Ludva spielte vornehmlich die heiligsten Gestalten, Anka wiederum die heiligen Mädchen und Frauen oder aber umgekehrt: moralisch gefallene Frauen, die jedoch im Verlaufe der Tragödie durch Buße auf den rechten Weg kamen und es oftmals bis zur Heiligsprechung brachten, was dann den Höhepunkt vieler Stücke bildete. Der Schneider, Herr Kocifaj, dagegen verkörperte das Böse, den Verrat oder ein andermal wieder so etwas wie das unerbittliche Schicksal oder die endgültige Weisheit. Als Schauspieler-Trio ergänzten sich diese drei auf hervorragende Weise; von dem Zeitpunkt an, da Ludva Kocifaj nicht mehr das Tor des F. C. Schlesisch Ostrau verteidigte, widmete er seine ganze Kraft der Schauspielkunst und reifte zum Mimen. Den Höhepunkt aller dieser Dramen, deren Verfasser stets Herr Řehoř Kocifaj war, bildeten die Monologe des Autors, in denen er weitschweifig die verschiedensten Arten von Leiden schilderte, vor allem aber das Leiden am Kreuz, wobei er das hölzerne Kruzifix emporhob, das er sich aus den ausrangierten Tor-Pfosten selbst 241
zusammengezimmert hatte, als sie vom F. C. Schlesisch Ostrau durch neue ersetzt worden waren. Selbstverständlich pflegte Herr Řehoř Kocifaj für seine Stücke keinen feststehenden Text auszuarbeiten, der Schneider ließ seinen Partnern bei ihren Variationen auf das Grundthema nahezu volle Freiheit. Er selbst trat mit seinem Monolog immer erst dann vor die Zuschauer, wenn die etwa zwanzig oder dreißig Frauen aus der Siedlung Na Kamenci oder aus Jaklovec, die den Grundstock seines Publikums bildeten, richtig weich geworden waren. Niemand war in der Lage, den rechten Augenblick, da es notwendig wurde, vom Leiden am Kreuz zu sprechen, so genau abzuschätzen wie Řehoř Kocifaj. Sein Monolog war immer auf die Stimmung des Publikums eingestellt, sozusagen maßgeschneidert. Herr Kocifaj begann seine Monologe stets mit der allgemeinen Feststellung, die Sünde sei überall gegenwärtig. Dann ging er zu dem großen Leiden über, sprach vom Höllenfeuer, dessen Flammen durch die Erdrinde hervorbrechen und uns unserer Sünden wegen ewig peinigen würden. Die Weiblein im Zuschauerraum fingen an zu weinen. Auch Herr Kocifaj vergoß Tränen, denn seine Vorstellung von der Sünde nahm in seiner Tochter konkrete Gestalt an, in Anka Kocifaj, von der man sich schon damals erzählte, sie sei trotz ihrer Jugend bereits eine Dirne. Anka hatte die Aufgabe, während der Monologe ihres Vaters bescheiden abseits zu stehen und ihre Arme mit schmerzvoller Gebärde zum Himmel emporzustrecken, was ihr stets hervorragend gelang. 242
Ludva Kocifaj saß nach den Solo-Auftritten seines Vaters, tief in Gedanken versunken, im Hintergrund der Bühne und bildete zugleich auch eine Art malerischer Staffage. Er pflegte ein schönes feuerrotes oder orangefarbenes Gewand zu tragen, denn der Schneider Kocifaj legte Wert auf erstklassige Kostüme. Auch auf der Bühne wollte er sich als geschickter Schneidermeister ausweisen. Ludva hatte wahrhaftig so manchen guten Grund, während der Monologe seines Vaters, in Nachdenken versunken, dazusitzen. Von dem Augenblick an, als er erfahren hatte, daß mein Vater noch schnell, bevor er zur Wehrmacht eingerückt war, den Joža Chryzcke aus Třinec als Torwart eingekauft hatte, war der junge Kocifaj ganz kleinmütig geworden. »Wie einen räudigen Hund haben sie mich fortgejagt«, hatte dann Ludva jedem, der es hören wollte, erzählt, »diese Schufte, als es um den Aufstieg ging, war ich ihnen gut genug, aber jetzt, da man den Rahm abschöpft, haben sie diesen Playboy aus Třinec ins Tor gestellt.« Der Ausschuß hatte Ludva das Angebot gemacht, er könnte sich durch das Kalken der Linien auf dem Platz, die Reparatur der Fußballschuhe und durch die Übernahme verschiedener anderer Arbeiten etwas hinzuverdienen, worüber aber Kocifaj fuchsteufelswild geworden war und geantwortet hatte, er, der populäre Torwart, wolle keinen Stiefelputzer abgeben; er besorgte sich ein Dreirad, das ihm eine Reklamefirma zur Verfügung stellte, und klebte vormittags Plakate, während er nachmittags Gelegenheitsfahrer machte und den verschiedenen Wirtshäusern Eis lieferte. 243
An dem treulosen F. C. Schlesisch Ostrau rächte er sich wenigstens dadurch, daß er die Plakate, die die Ligaspiele ankündigten, verkehrt klebte oder sie mit eigenhändig geschriebenen Kommentaren zur Mannschaftsaufstellung versah, in denen er vor allem Joža Chryzcke, den neuen Torwart aus Třinec, schmähte, diesen großen Playboy, den er an seiner empfindlichsten Stelle traf. »Der Chryzcke ist ein Wasserpolacke!« pflegte Ludva auf die Plakate zu schreiben. Später erlaubte er sich sogar noch viel mehr. In großer Schrift verkündete er auf den Plakaten, mit welcher Ehefrau namhafter Funktionäre des F. C. Schlesisch Ostrau der Playboy Chryzcke wieder einmal geschlafen hatte. Das kam bis vors Gericht, wo Ludva Kocifaj wegen Ehrenbeleidigung eine Woche Gefängnis absaß. Ludva Kocifaj nahm seine Strafe mit dem Ausdruck eines Märtyrers an; sein Vater, der Regisseur, hatte ihn schon so gut gedrillt, daß es Ludva vor Gericht gelang, Gestik, Gesichtsausdruck und Rede vollständig zu beherrschen, er verließ den Saal des Bezirksgerichtes mit dem Gefühl eines Kämpfers und Märtyrers für eine gerechte Sache – nämlich für die der Sittenreinheit der Torhüter des hiesigen F. C. Aus dem Gefängnis kehrte Ludva Kocifaj als leidenschaftlicher Anhänger der Sekte des Heiligen Kreuzes zurück. Das Plakatkleben hatte er sattbekommen und widmete sich nur noch dem Eisausfahren. Mehr und mehr verfiel er seiner Schauspielerleidenschaft, er begann die Stücke seines Vaters zu studieren und brachte dann 244
am Sonntag auf der Bühne, deren Rückwand unser Kaninchenstall bildete, sein Talent zur Entfaltung. Wahrscheinlich spielte Ludva am besten, wenn er vom Fußballplatz her das Publikumsgebrüll vernahm. Dann brachte er es auch fertig, sogar richtig zu heulen, die Tränen rollten ihm übers Gesicht, so daß das Stück an Niveau gewann und der Schneider Řehoř Kocifaj in seinem Monolog von den Kindern sprechen konnte, die in den Fußstapfen ihrer Väter vorwärtsschritten, wobei sein liebevoller Blick auf dem verheulten Ludva Kocifaj ruhte, dem ehemaligen Torwart des F. C. Schlesisch Ostrau. Das Leben des Schneiders Řehoř Kocifaj war ganz auf den Kampf gegen die Verderbnis von Seele und Leib ausgerichtet. Den Kampf gegen die Verderbnis des Körpers führte der Schneider Kocifaj unmittelbar in seinem eigenen leiblichen Innern. Schon von Jugend an litt er an Tuberkulose, und die Ärzte hatten ihm eine wahrscheinliche Lebensdauer von höchstens dreißig Jahren vorhergesagt. »Dank dem Umstand, daß ich stets für das Heil meiner Seele Sorge trug«, pflegte der ältere Kocifaj zu verkünden, »habe ich auch die Unvollkommenheit meines Leibes überwunden!« Nicht weniger erbittert war das Ringen des Schneiders um das Gedeihen der dreißig Mitglieder zählenden Sekte des Heiligen Kreuzes, deren Gründer und Oberhaupt er war. Das Programm der Sekte war konfus, und ich habe den Eindruck, daß sich nicht einmal Herr Kocifaj darin 245
besonders gut zurechtfand, ja, daß er es vielmehr je nach Wetterlage änderte. Das Wetter spielte nämlich bei der Entfaltung der Sekte des Heiligen Kreuzes eine große Rolle. Die sonntäglichen Theatervorstellungen waren eigentlich so etwas wie eine Messe. Wenn es regnete oder man im Winter nicht im Hof draußen spielen konnte, zog sich Herr Řehoř Kocifaj mit seiner kleinen Schar in den Keller zurück, wo aber für Theateraufführungen nicht genügend Platz war, so daß er sich nur auf seine Monologe beschränken mußte, genötigt war zu improvisieren, wodurch wieder seine Soloszenen erheblich litten, weil er dann Ludva und Anka nicht zur Seite hatte. Ich will nicht behaupten, Herrn Kocifajs Monologe hätten bei schlechtem Wetter etwas von ihrer emotionalen Wirkung eingebüßt, aber ohne es selbst zu merken, unterliefen dem Schneider Verstöße gegen seine eigenen Dogmen. Die Ursache hierfür lag ganz einfach in folgendem Umstand: Wenn draußen gespielt wurde, konnte der Schneider damit rechnen, daß Ankas und Ludvas Dialoge einen bestimmten Zeitabschnitt ausfüllten, im Keller aber mußte er das ganze Programm allein bestreiten. Und zwei Stunden lang zu reden, war eben doch ein bißchen viel. Und so kam es vor, daß der Schneider etwa an einem Sonntag gerade das anfocht, was er selbst noch eine Woche zuvor gepredigt hatte, und sich in wirre mystische Betrachtungen verlor; wenn er dann merkte, daß 246
die Frauen unruhig zu werden begannen und die Sache schlimm aussah, versuchte er, durch unverhüllten Opportunismus zu retten, was noch zu retten war. Heute aber habe ich den Eindruck, der Schneider Kocifaj hatte sich selbst mit so vielen Grundsätzen umstellt, daß er schließlich weder ein noch aus wußte und sich dann dem Prediger der Opportunismus noch als einziger Ausweg anbot, der ihm aus der Patsche helfen konnte. Ein weiterer Fehler des Schneiders war, daß ihn die gleiche Vorstellung beherrschte, von der auch alle anderen dynamischen Seelenretter mehr oder weniger besessen sind: Er glaubte, er als einziger besitze die Wahrheit und alle anderen seien ausgemachte Scharlatane, Lügner und Betrüger. Der Schneider Kocifaj vertraute allzusehr seiner inneren Stimme, die ihn, wie er sagte, noch nie im Stich gelassen und die ihm immer die allein richtigen Erleuchtungen eingegeben habe. Nur schlimm, daß der Schneider allzuviele derartige Eingebungen hatte und diese einander nur zu oft widersprachen, und das war um so mehr der Fall, je mehr Řehoř Kocifaj zu Improvisationen Zuflucht nehmen mußte. Und dann gelangte der Schneider bei seinen Keller-Improvisationen schließlich an einen Punkt, an dem ihm klar wurde, daß er längst entgleist war, daß er bereits gegen seine eigenen Grundsätze predigte. Weil er aber auf seine Grundsätze und seine Irrtümer nur allzu eingebildet war, konnte er auch nicht zugeben, daß er sich irre und entzog sich dieser vertrackten Situation auf eine heute übrigens bereits allgemein übliche und 247
offenbar auch in Zukunft erfolgversprechende Weise: Er erhob seine Irrtümer und Irrlehren zu mystischen Dogmen, über die man nicht diskutieren dürfe, an die man aber glauben müsse. Und so geschah es, daß der Witterungswechsel die Sekte des Heiligen Kreuzes in ideologische Verwirrungen stürzte. Praktisch sah das so aus: Am Samstag probte zum Beispiel Kocifaj mit Sohn und Tochter das Stück für den Sonntag, der Schneider legte sich in groben Umrissen seinen Monolog zurecht, dann aber begann es am Sonntagvormittag zu regnen, die Sekte mußte am Nachmittag in den Keller übersiedeln, und die ganze Konzeption der sonntäglichen Nachmittagsvorstellung wurde dadurch total über den Haufen geworfen. Kocifaj konnte sich nur noch auf seine Improvisationskünste verlassen. Solange er von der Verderbnis der Welt, des Leibes und dem allgemeinen Sittenverfall in herrlichen Bildern redete, bewegte er sich noch auf festem Boden. Aber er spürte sehr genau, er durfte seine mit diesen deprimierenden Bildern des Verderbens bedrückten Gläubigen nicht so ohne weiteres weggehen lassen, darum ließ er zum Schluß noch ein wenig Optimismus in seine Rede einfließen, doch da konnte er in der Regel seine Phantasie schon nicht mehr zügeln und verlor den Überblick darüber, was sich noch versprechen ließ oder was er vor kurzem versprochen hatte. Und so geschah es dann, daß Řehoř Kocifaj an manchem Sonntag, wenn es gerade regnete, sich selbst als Erlöser ausgab, wenngleich die Wieder248
kunft des Erlösers zur Erde nach den Dogmen der Sekte des Heiligen Kreuzes erst irgendwann im Jahre 953 zu erwarten war. Im Überschwang seines Glaubenseifers und bar jeder Selbstkontrolle leugnete Herr Kocifaj die Existenz Gott Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Das Interessante an dieser Ketzerei ist die Tatsache, daß die Weiblein aus der Siedlung eigentlich nicht so richtig erfaßten, was der Schneider gesagt hatte, sondern – mitgerissen von ihrer eigenen Ekstase, in die sie der Schneider geschickt hineinmanövriert hatte –, bereit waren, jede Irrlehre zu glauben, was für mich wieder die Bestätigung meiner Erfahrung ist, daß blinder Glaube nicht allein ein vortrefflicher Nährboden für die stille Betriebsamkeit von Frömmlern ist, sondern zugleich auch wie ein aus dem Innern hervorbrechender Strom unsere eigenen häretischen Neigungen an die Oberfläche spült. Die Frauen aus der Siedlung waren von Řehoř Kocifajs Reden zumeist schon so verwirrt, daß sie, wenn er ausgerufen hätte »Gepriesen sei Satanas!« mit ihm mitgeschrien hätten. An den Sonntagnachmittagen, an denen es regnete, oder an solchen im Winter hörten wir die Fistelstimme des Schneiders und das Kreischen der Weiber im Keller bis zu uns herauf. Ich wunderte mich nicht darüber, daß der Schneider von dieser Stimmung mitgerissen wurde, offenbar schien ihm, die Kellerwände rückten auseinander und die ganze Welt liege ihm zu Füßen. In Rage gekommen, begann der Schneider unzu249
sammenhängende Sätze hervorzustoßen wie etwa, alle Menschen seien gleich, er ließ sich über den Mammon aus, diese unersättliche Hydra, über die Vampire, die unser Blut aussaugten und aus unseren Schwielen Gold für die Herstellung des Goldenen Kalbs herauszögen, das sie dann anbeten. Es kam Řehoř Kocifaj gar nicht zum Bewußtsein, daß er mit solchen Details der Terminologie kommunistischer Agitatoren verdächtig nahekam; dem Prediger schien es, als öffne sich sein Herz und er schreie alles, was sich im Laufe der Zeit in ihm angehäuft hatte, aus sich heraus. Die Frauen aus der Siedlung verstanden ihn sofort. Řehoř Kocifaj redete mit einem Male die gleiche Sprache wie ihre aufgebrachten Männer daheim. Der Schneider hatte von den Frauen Besitz ergriffen. Vor Aufregung begannen sie auf den ungehobelten Sitzbrettern hin- und herzurutschen und starrten mit geweiteten Augen und halboffenem Mund ihren Propheten an, der in der Endphase seines Monologs bereit war, ihnen alles nur Denkbare zu versprechen: die Barmherzigkeit Gottes und die proletarische Revolution, die Vergebung der Sünden und den Galgen für die ausbeuterischen Blutsauger. Damit endete Řehoř Kocifaj in der Regel. Bei den Predigten seines Vaters im Keller war Ludva Kocifaj aus dem Spiel ausgeschaltet, er saß still im Hintergrund und hatte genügend Zeit, gut hinzuhören, wie sich das Spiel auf dem Fußballplatz draußen entwickelte, von dem die Geräusche und das Publikumsgeschrei bis hierher in den Keller drangen. Schon an den einzel250
nen Ausrufen, den Stoßseufzern und an dem Lärm der Zuschauer draußen erkannte Ludva, was sich im Moment auf dem Platz ereignete. Der ehemalige Torwart des F. C. Schlesisch Ostrau sog jedes kleinste vom Platz zu ihm hereindringende Geräusch in sich, aber wenn er auch in der Lage war, sich aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen im Tor des hiesigen F. C. genau vorzustellen, wie sich die Situation auf dem Platz draußen entwickelte, schien es Ludva dennoch, als durchdringe ihn ein eisiger Zugwind, der die sich in seiner Phantasie ausbreitenden Bilder auslöschte. Und manchmal war es Ludva zumute, als mischten sich mehrere Ströme in ihm, der eine kalt, der andere wie glühendflüssiges Eisen, er spürte, wie alles in ihm kochte, mit wütender Kraft überlief, wie sich die Dämpfe niederschlugen und seine Haut spannten. Ludva fürchtete, vor Qual zu zerspringen, zu explodieren und sich in Stücke auflösen zu müssen. Ihm schien, als spannten sich Tausende winziger Sprungfedern in seinem Innern, als sei er sprungbereit, um von dieser Kraft durch die Kellerdecke direkt auf den Platz hinausgeschleudert zu werden. Wahrscheinlich spürte er schon, wie ihn die Kraft hinaufzog und wurde sich darüber klar, daß er, wenn er sich ihr widersetzte und sitzenbliebe, wirklich vor lauter Gram zerspringen würde. Im gleichen Augenblick, da Řehoř Kocifaj mit seiner Predigt zu Ende war, erhob sich Ludva und rief mit mächtiger Stimme: »Schaut her, des Teufels Rachen öffnet sich!« Wobei Ludva mit ausgestrecktem Arm in Richtung zum Platz des F. C. Schlesisch Ostrau wies und sich die 251
Frauen aus der Siedlung denken mochten, Ludva zeige eigentlich auf die Schenke »Zur Eiche« hin. Dann begann Ludva sich über die Wollust der Leiber zu ereifern, die dem Jesulein auch nicht das kleinste Plätzchen in ihrem Innern gönnten, er spann seine Gedanken weiter und kam auf die Unmoral und die ehebrecherischen Beziehungen des jetzigen Torwarts des F. C. Schlesisch Ostrau, Joža Chryzcke, zu sprechen, dieses Playboys aus Třinec. Doch Ludvas Stegreifeinlage fehlte es an echtem Saft. Wirklich große Momente hatte er nur, wenn im Hof draußen vor unserem Kaninchenstall gespielt wurde und Ludva zufällig in dem Augenblick zu Wort kam, da auf dem Platz nebenan das Gebrüll losbrach. Dann mißachtete er die dramaturgischen Intentionen seines Vaters, warf sie über den Haufen, begann sein Thema auf vollen Touren auszuspielen und dann etwa seiner Schwester Anka Kocifaj eine Liebeserklärung zu machen, wobei er zu heulen anfing. Ich habe das erlebt, als Anka einmal die Maria Magdalena und Ludva den Christus spielte. Die Szene, in der Christus Maria Magdalena in Gnaden annimmt, hatte Ludva im wahrsten Sinn des Wortes heruntergehudelt. Aber dann, als das Gebrüll auf dem Fußballplatz losbrach, spitzte Ludva die Ohren, Tränen traten plötzlich in seine Augen – und sein großer Auftritt war gekommen. Ludva Kocifajs Verwandlung in einen mitreißenden Schauspieler kündigte sich vor allem in seiner Stimme 252
an. Wenn es ihn überkam, senkte er seine Stimme, tat auf einmal, was ihm gerade beliebte, und wenn er dann zu seiner Schwester Anka Kocifaj sagte: »Ich liebe dich, Maria Magdalena, ich liebe dich mit all deinen Sünden«, hörte sich seine Stimme wie das Zerreißen von kostbarer Seide an; die Frauen aus der Siedlung begannen zu schluchzen und sich zu schneuzen. »Ich bin deiner Gnade und Liebe nicht würdig, o Herr«, gab Anka zur Antwort … Aber wie dieses Mädchen das zu sagen verstand! Ich fühlte geradezu, wie diese Worte Anka, bevor sie sie noch aus sich hervorgehaucht hatte, einem scharfen Pfeil gleich durch die Seele schossen, ja bei ein wenig Phantasie konnte man den Eindruck haben, das Fallbeil einer unsichtbaren Guillotine sause vom Himmel auf sie herab, spalte die Schneidertochter in zwei Hälften und lege ihr Herz bloß. Es war gar nicht festzustellen, ob Anka überhaupt die Lippen bewegte, uns allen im Hof schien es, als strömten diese Worte wie durch ein Wunder aus ihr hervor. Auch vergaßen wir alle vollständig, daß man sich von Anka erzählte, sie sei eine Dirne. Mit einem Male war sie zu einer Heiligen geworden. Mir war vollkommen unbegreiflich, wie diese große Veränderung des Mädchens zu erklären war. Vor der Vorstellung war Anka bloß ein langbeiniges Mädchen aus unserer Straße, mit verwundert dreinblickenden Augen gewesen, aber sowie sie vor die Sackleinwand getreten war, mit der ihr Vater unseren Kaninchenstall verdeckt hatte, war sogleich aus ihr ein anderes Geschöpf geworden. 253
An einem Sonntag im Herbst des Jahres 940, als nebenan auf dem Platz die erste Halbzeit des Liga-Treffens zwischen dem F. C. Schlesisch Ostrau und dem S. K. Olmütz begann, betrat Herr Richard Ryšánek, jetzt Rick Ricky, Profi-Europameister im Halbschwergewicht der Boxer-Arena hinter dem Theater, unseren Hof. Man war in der Mitte der Vorstellung angelangt, und Anka Kocifaj flüsterte gerade ihre Bitte um Vergebung der Sünden, als jetzt ihr Blick auf Herrn Ryšánek fiel, der einen eleganten Flauschmantel trug und fast noch ein größerer Frauenheld war als Joža Chryzcke, der Torwart des F. C. Schlesisch Ostrau. Anka Kocifaj begann zu stottern, fing sich aber wieder und fuhr dann bereits normal in ihrer Rede fort; sie verlor jedoch sichtlich das Interesse am Spiel, ich bemerkte genau, wie ihre Augen immer wieder zu Herrn Ryšánek hinblickten. Frau Preis mußte instinktiv gespürt haben, daß Herr Ryšánek den Hof betreten und sich zu uns gesellt hatte. Sie erbleichte unter ihrem bräunlichen Teint, beugte sich ein wenig vor, als erwarte sie, daß sich schon im nächsten Augenblick die Last von Herrn Ryšáneks muskulösem Arm auf ihre Schulter legen würde. Herr Ryšánek trat leise an Frau Preis heran und legte ihr tatsächlich seine Pranke auf die Schulter, doch Frau Preis ertrug diese Last, sie war darauf vorbereitet. Sie blickte sich gar nicht nach Herrn Ryšánek um, sondern starrte nur zu Anka Kocifaj hin, die jetzt zu ihrem großen Auftritt kam: Sie streckte die Hände ihrem Bruder, also dem Christus entgegen; der Christus begann zu weinen, 254
die Tränen rollten ihm übers Gesicht, denn nach dem frostigen Zuschauergemurmel vom Fußballplatz her zu urteilen, hatten die Einheimischen ein Tor verpaßt bekommen. In der Überzeugung, daß ihnen beiden das Spiel ungewöhnlich gut gelang, fügte Anka dem Text noch ein paar Sätze hinzu, um nochmals ihre Arme ausstrecken zu können. Sie glich einem Engel, der nur emporzuf liegen brauchte. Ich weiß, es hätte damals genügt, daß Anka ihre Hände nur ein wenig hin- und herbewegte, und schon wäre ein wirkliches Wunder geschehen: Anka wäre emporgeschwebt und in ihrem rosafarbenen Gewand direkt über den Fußballplatz hinweg weiter über die ganze Stadt dahingesegelt. So intensiv wünschte ich mir, Anka möge ihre Hände bewegen, daß ich glaubte, so etwas wie ein Vibrieren ihrer Fingerspitzen zu bemerken, aber dann erstarb alles in ihnen. Wahrscheinlich war das in jenem Augenblick geschehen, als Ankas Blick dem des Herrn Ryšánek begegnet war, ihr begann die Stimme zu versagen, ihre Arme sanken herab. Ankas Gesicht war wie mit Blut übergossen, schwerfällig ließ sie sich auf ihr Klappstühlchen fallen, verbarg ihren Kopf in den Händen und weinte. Aber jetzt echt. Herr Ryšánek begann Frau Preisens Schulter zu pressen. Diese krümmte ihren Rücken noch mehr und sagte leise zu ihm: 255
»Sie sind also zurückgekehrt?« »Ja, ich bin zurückgekommen«, erwiderte Herr Ryšánek und sah zu der weinenden Anka Kocifaj hin. Anka mußte gespürt haben, daß Herr Ryšánek sie anblickte, sie hob ihr Gesicht auf – und lächelte. »Ich bin zurückgekehrt«, flüsterte Herr Ryšánek, »ja, ich bin zurückgekehrt …«
16 Der Schneider Řehoř Kocifaj befaßte sich in seinen Prediger-Auftritten ziemlich häufig mit dem Problem menschlicher Schuld, wobei er aber die Schuldfrage nicht konkret, sondern nur in abstrakten Erörterungen behandelte. Bei der Erwägung der Schuldfrage ging Herr Kocifaj sehr behutsam vor. Mit Recht setzte er bei der kleinen Schar seiner Gläubigen voraus, daß diese zwar bereit waren, jede Verheißung des himmlischen oder des proletarischen Paradieses wie einen Köder zu schlucken, aber es mit Mißfallen aufnehmen würden, wenn er sich entschlösse, die Sünden der Frauen aus der Siedlung konkret beim Namen zu nennen. Daher entschied sich Herr Kocifaj für einen bestimmten Kompromiß, das heißt, er sprach stets nur von ein paar belanglosen Verfehlungen, die Frauen aus der Siedlung mochten glauben, der Schneider halte ihnen ein komplettes Register der von ihnen begangenen Sünden unter die Nase und die Sünden, die er nicht erwähnte, seien eigentlich keine Verfehlungen. 257
Der Prediger hatte sich genau überlegt, daß er von der Schuld nur in vagen Bildern sprechen durfte, damit alle Anwesenden zwar das erregende Gefühl auskosten konnten, von ihnen sei die Rede, aber zugleich auch aus den Worten des Predigers herausspürten, daß er durch geschickte Wortwahl die rauhe Wirklichkeit ihrer Verfehlungen auf ein Niveau hob, wo ihr Kontrast zum Guten und folglich auch ihre Strafwürdigkeit nicht mit so schmerzlicher Deutlichkeit hervortrat. Und gerade die Milderung der schmerzlichen Kontraste ließ sich Řehoř Kocifaj sehr angelegen sein; das gelang ihm natürlich nur, wenn er sich in acht nahm und sich nicht auf die unsichere, schiefe Ebene seiner Improvisationen begab, von der er dann immer unweigerlich hinweggeschleudert wurde: sei es in die Hölle, sei es in den Himmel – ja sogar kopfüber mitten hinein in die kommunistische Terminologie. Besonders interessant wurde es bei Herrn Kocifajs Predigten, wenn er das Thema Schuld verließ und sich mit der Problematik des Gerichts und der Strafe befaßte. Jeder durchschnittliche Prediger hat stets einen ziemlich festgelegten Bilder-Katalog von Strafen zur Hand, die unweigerlich jeden treffen, der seinem Prediger nicht blind vertraut. In dieser Hinsicht wich Herr Kocifaj nicht von der Norm ab. Er unterschied sich nur dadurch von ihr, indem er seine Schilderungen von Gericht und Strafe poetisch ausschmückte, so daß auch der größte Halunke bei Kocifajs Schilderungen der ihm bevorstehenden Qualen auf seine Rechnung kam. 258
Sehr richtig behauptete Herr Kocifaj, es liege weder in der Kraft des Menschen noch in der Gottes, die Verfehlungen der Erdenkinder gerecht zu beurteilen und zu bestrafen, denn das Böse sei der Hand Gottes entglitten und habe seine eigene Sphäre geschaffen, die jetzt der Herrgott mit großer Mühe abdichten und mit Zäunen von guten Werken und Wundern umgeben müsse, damit sich das Böse nicht wie eine todbringende Woge über sie hinweg auf die ganze Erde herabwälze. »Wir Menschen müssen dem Herrgott bei dieser Errichtung von Dämmen gegen das Böse behilflich sein«, erklärte Herr Kocifaj. »Es geht um nichts anderes als darum, daß jeder von uns zu der Überzeugung gelangt, selbst ein Teilstück eines solchen Dammes zu sein, es kommt nicht auf die Mittel an, mit denen wir das Böse bekämpfen, endgültig entscheidend ist erst das Resultat unseres frommen Bemühens. Wenn es sich dann zeigt«, sagte Herr Kocifaj mit erhobener Stimme, »daß wir uns geirrt haben, stehen wir in Demut vor unserem Herrgott da, und bestimmt wird auch uns Seine Barmherzigkeit und Vergebung zuteil werden.« Dann erging sich Herr Kocifaj in Reden darüber, daß wir uns alle vor Leuten gut in acht nehmen müßten, die an alles und jedes ihren eigenen Maßstab anlegten, oder aber, falls sie einen solchen nicht besäßen, sich sofort einen besorgten, aber stets einen Maßstab, der der momentanen Zweckdienlichkeit entsprechend maß: jeden gerecht, doch am gerechtesten jene, die sein Maß bestimmt hatten. Aus Herrn Kocifajs Worten, wie ich sie mir heute in 259
Erinnerung zurückrufe, höre ich einen gewissen tadelnden Unterton heraus, ja sogar eine Art Drohung, in der Herr Kocifaj seinen Gläubigen gegenüber ganz deutlich durchblicken ließ, sie müßten sich keinerlei Sorgen über den Maßstab machen, mit dem ihre Sünden gemessen werden sollten, er, Kocifaj, würde sich selbst schon einen für sie passenden Maßstab zurechtlegen. Sobald ich an die Wertmaßstäbe denke, mit denen wir ständig von irgend jemandem gemessen, unsere Maße, die Bereiche unseres Denkens und Handelns überprüft werden, reizt es mich zum Lachen. Wie oft schon hat man mich gemessen, geprüft, kontrolliert, bewertet, umgewertet, abgeschätzt, untersucht, gründlich ausgeforscht und weiß Gott noch was, doch nie konnte man sich über meine Meßwerte einig werden. Jedesmal stimmte irgend etwas nicht. Auch wenn man stets einen sehr sinnreich ausgeklügelten Maßstab zur Hand hatte. Daher ist es durchaus begreiflich, daß sich auch Herr Kocifaj in seine Wertmaßstäbe verstrickte, seine Predigt hörte auf, interessant zu sein, er verfiel in Banalitäten und erging sich in Reden über die fleckenlosen Charakterschilde, die wir zwischen uns und der Gemeinheit der Welt aufrichten müßten, wobei er hinzuzufügen vergaß, ob denn ein reiner Schild so unbedingt vonnöten sei, ich glaube, daß auch ein befleckter Schild genauso guten Schutz böte. Selbst wenn ich heute über Herrn Kocifajs Schutzschilde despektierlich denke, so muß ich dennoch zugeben, daß an dieser Vorstellung irgend etwas ist. Ich zum Beispiel habe überhaupt keinen Schutzschild. 260
Ich habe es versäumt, mich mit einem solchen zu versorgen, ich habe also nichts, hinter dem ich mich verbergen könnte. Schon oft habe ich festgestellt, daß ich schutzlos, allein im freien Raum dastehe, daß die anderen um mich herum bereits längst dabei sind, sich zu Gruppen zu formieren, der eine gehört hierher, der andere dorthin, aber jeder von ihnen hat sich seine Gemeinschaft, seine Religion, seine Partei, seinen Gott oder was auch immer gesucht, das ihm wenigstens die Illusion eines Schutzes gewähren kann. Doch ich bin selbstverständlich allein. Aber nur scheinbar. Um mich herum ist ständig die ganze Mannschaft des F. C. Schlesisch Ostrau versammelt, wie sie in ihrer Aufstellung am ersten Sonntag im September 928 gegen den S. C. Mährisch Ostrau angetreten war, an dem Tag, an dem ich zur Welt kam. In meiner Gesellschaft befinden sich mein Vater, meine Mutter, die Großmutter Zabalski, alle, denen ich begegnet bin, sind ständig um mich herum. Und auch mein Mond ist bei mir. Sobald sein Licht herabzuleuchten beginnt, gehe ich zur Kai-Regulierungsmauer der stinkenden Ostravice, lege mich dort hin und schaue auf die Mauer des neuen Rathauses hinauf, auf die Kratzer, Schrammen, Löcher – und lese in ihnen. Oder aber ich drehe mich um und blicke zu der Stelle hin, wo sich einmal der Platz des F. C. Schlesisch Ostrau befunden hatte, unser Haus, meines Vaters Backstube und sein Laden – und schon bin ich wieder inmitten der Meinen. Die dicke Frau kommt durch den Fluß zu mir gewatet. 261
Sie legt sich an meine Seite, wärmt mich mit ihren rötlichen Schenkeln, bläst mir mit ihrem Atem den Gestank der Stadt ins Gesicht, und Träume umfangen mich.
17 Gegen den Mechanismus, der mich in Geschehnisse und Situationen hineinzieht, bin ich völlig machtlos. Er ist vergleichbar den Förderbändern in den Zechen; sobald man sich auf sie setzt, transportieren sie einen durch die Dunkelheit; nur schwer kann man sich dabei orientieren, wohin es geht. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sich mein Vater überhaupt dessen bewußt war, daß auch er von einem solchen Mechanismus fortgerissen wurde. Ständig bemühte er sich, in diesem Labyrinth der Förderbänder auf das umzusteigen, was ihm richtig zu sein schien. Ich bin mir auch darüber im unklaren, aufgrund welcher Anzeichen sich der Vater jeweils entschied, in eine andere Fahrtrichtung umsteigen zu müssen. Offenbar verließ er sich dabei auf seinen Instinkt, der ihn aber in der Regel im Stich ließ. Auch Herr Richard Ryšánek, der sich seit Anfang des Jahres 94 immer noch Rick Ricky nannte und als Europa-Meister im Halbschwergewicht im Ring stand, war wohl nicht viel besser daran. In den Geschehnissen, 263
die gerade um diese Zeit ihren Anfang nahmen und deren Ende damals niemand voraussehen konnte, spielten auch Herr Dr. Henryk Staniolowský, Vorsitzender des F. C. Schlesisch Ostrau, und David Wiesenthal, ehemaliger Läufer des genannten F. C. vormaliger Inhaber der Branntweinschenke »Zur Eiche«, eine gewisse Rolle. Als offizieller Eigentümer dieser Schenke war seit dem Jahre 940 Herr Dr. Staniolowský eingetragen, David versah aber immer noch seinen Dienst im Lokal. Im Mittelpunkt dieser ganzen Geschichte stand eigentlich die Mannschaftsaufstellung zum ersten Treffen in der Frühjahrs-Liga-Runde, doch die Ereignisse wurden durch ein dramatisches Vorspiel eingeleitet, das Herrn Richard Ryšánek zugrunde richtete und seiner Karriere als Europa-Meister im Profi-Boxen ein Ende bereitete. Als die Boxsport-Arena hinter dem Theater in Mährisch Ostrau am ersten Märzsonntag wieder ihre Tore öffnete, lud der Besitzer dieses Sportzeltes das Publikum zu einem Herausforderungs-Boxkampf mit Rick Ricky ein. »Wer den Europa-Meister besiegt«, verkündete Herr Arnošt Kremla, der Veranstalter dieser Arena-Vorstellungen, »dem werden nach Beendigung des Wettkampfes tausend Kronen bar auf die Hand ausgezahlt.« Unter den Zuschauern in der Arena befanden sich auch einige deutsche Soldaten in ihren blauen Uniformen; Adalbert Kudlatschek und ich saßen dicht neben ihnen und bekamen so mit, wie die Soldaten einen ziemlich hageren Burschen aus ihrer Mitte aufzustacheln begannen, er solle sich doch zum Kampf melden. Dieser schmächtige Soldat schien keine rechte Lust dazu zu verspüren, 264
aber als ihn seine Kameraden in den blauen Uniformen immerzu hänselten, er habe sicherlich Angst, schwang er sich doch in den Ring zwischen die Seile. Herr Rick Ricky, alias Richard Ryšánek, schien schwer beleidigt, als er diesen schmächtigen Gegner in der blauen Uniform erblickte. »Also tausend Kronen, falls ich siege?« fragte der Soldat Herrn Kremla auf deutsch. »Selbstverständlich, Sie bekommen tausend Kronen bar auf die Hand!« Der Soldat entledigte sich seiner Uniformbluse – und dem Publikum in der Arena, das zuvor noch gejohlt hatte, blieb der Atem weg. Aus Herrn Rick Rickys Gesicht war mit einem Male der gereizte Ausdruck verschwunden. Dieser schmächtige junge Mann in der Uniform eines Kanoniers der Flak entpuppte sich als drahtiger Bursche; schon als er die Boxhandschuhe überstreifte, merkte Herr Ryšánek bereits, daß sein Gegner das nicht zum ersten Mal tat. Und dann ging der Tanz los. Rick Ricky, das heißt Herr Ryšánek, wurde windelweich gedroschen. Er taumelte durch den Ring, ging zu Boden, doch irgendeine geheimnisvolle Kraft stellte ihn immer wieder auf die Beine. Die erste Runde stand Herr Rick Ricky gerade noch durch. Als er gleich zu Beginn der zweiten Runde zu Boden ging, bat er den als Kampfrichter fungierenden Herrn Arnošt Kremla, nur um Himmels willen diesen Gegner zu disqualifizieren und sich irgendeinen Vorwand hierzu einfallen zu lassen, er, Ryšánek, würde diese tausend 265
Kronen aus der eigenen Tasche bezahlen, denn jetzt ginge es um seinen Ruf und damit auch um den guten Namen dieser Arena … Doch der Besitzer der Arena und zugleich Schiedsrichter, Herr Kremla, hatte bereits eine andere Entscheidung getroffen. »Du Flasche«, flüsterte er Rick Ricky zu, »steh auf, ich bezahle dich doch nicht dafür, daß du im Ring hier auf der faulen Haut herumliegst!« Kaum hatte sich Herr Ryšánek wieder aufgerichtet, kassierte er von seinem Gegner eine Gerade ans Kinn, und schon klammerte er sich an Herrn Kremlas Hals. »Herr Chef«, flüsterte er mit seinen aufgeschwollenen, zerschlagenen Lippen, »dieser Hundling wird mich noch umbringen!« »In Ordnung, Ryšánek«, flüsterte Herr Kremla zurück, »geht in Ordnung, ich werde dir schon zeigen, mich in einer Tour zu erpressen, ich werde es dir zeigen und jetzt los, weiterboxen!« Kurz darauf ging Herr Ryšánek endgültig zu Boden. Herr Kremla begann ihn langsam auszuzählen, wirklich ganz langsam, so daß die Zuschauer aufgeregt schrien, das sei kein fairer Sport mehr. Für Herrn Ryšánek schien die Welt unterzugehen. In seinem Kopf spürte er ein Ächzen und Knirschen wie von einer Kreissäge, die einen Astknoten durchschneidet, über sich erblickte er wie durch einen Nebel Herrn Arnošt Kremlas verschwommenes Gesicht; Herr Kremla zählte ganz langsam und zwischendurch flüsterte er Ryšánek zu, aber so, daß es niemand hören konnte, dieses Fiasko 266
habe er sich selbst zuzuschreiben, er sei ein Nimmersatt, der nicht genug kriegen könne. Wir beide, Vojta und ich, standen bereits dicht bei den Seilen und konnten alles mit anhören. »Ich habe dir mehr als genug nachgesehen, Ryšánek«, sagte Herr Kremla, während er den am Boden Liegenden auszählte, »weißt du, wer das ist, der dich da zusammenschlägt? Dieser schmächtige Soldat ist der Olympiasieger im Mittelgewicht aus Berlin, ich habe ihn durch Zufall hier entdeckt … den Tausender wirst du ihm schön aus deiner Tasche zahlen … sechs … von mir bekommt er noch drei Tausender, verstanden, ich lasse mich nicht mehr länger von dir erpressen … sieben … steh auf, stell dich auf die Beine, du Hundling, er wird dich noch ein bißchen durchwalken … acht … wenn du jetzt bei neun nicht aufstehst, Ryšánek, dann mache ich kurzen Prozeß mit dir … neun …« »Ich geb auf, Herr Kremla«, flüsterte Ryšánek, »ich geb es auf …« Aber von neuem stellte ihn irgendeine Kraft wieder auf die Beine, er schwankte ein wenig, doch da schrie auch schon Herr Kremla: »Los, mach weiter!« Der schmächtige Soldat verfuhr jetzt mit Herrn Ryšánek einigermaßen glimpflich. Eigentlich deutete er seine Schläge nur an, aber das Publikum brüllte vor Begeisterung, so daß auch der Soldat mitgerissen wurde und Herrn Ryšánek in der Hälfte der Runde den Gnadenstoß versetzte. Rick Ricky seufzte nur auf, warf die Arme auseinander und fiel zu Boden. Der Soldat trat zu Herrn Ryšánek, klopfte ihm auf die 267
Schulter und sagte zu ihm: »Nichts für ungut, Kamerad! …« Herr Ryšánek lag danach zwei Stunden lang in der Garderobe in tiefem Schlaf. Kaum war er aufgewacht, trat der Arenabesitzer, Herr Arnošt Kremla, zu ihm, hielt ihm ein Papier vor die Nase und sagte: »Unterschreiben Sie das hier, Ryšánek, und wir sind quitt.« Herr Ryšánek drehte sich auf die andere Seite. »Also du willst das nicht unterschreiben«, sagte Herr Kremla lachend, »auch gut. Dann werde ich morgen diesen Soldaten von neuem gegen dich antreten lassen, und der wird dir innerhalb von drei Tagen die Seele aus dem Leib dreschen …« Herr Ryšánek drehte sich jetzt Herrn Kremla zu, ergriff mit zitternder Hand die Feder und unterschrieb das Papier. Eine Stunde später wankte er aus der Arena heraus. Wir beide, Vojta und ich, mußten ihn stützen. Drei Tage lang war dann Frau Preis damit beschäftigt, ihn auszukurieren. Am vierten Tag schickte Herr Ryšánek Frau Preis mit einer Botschaft zu Herrn Dr. Staniolowský, dem Vorsitzenden des F. C. Schlesisch Ostrau. Frau Preis richtete aus, Herr Ryšánek befinde sich in ausnehmend guter Kondition und sei bereit, schon beim ersten Treffen in der Frühjahrsrunde für die Farben des F. C. anzutreten. Herr Ryšánek, so sagte Frau Preis weiter, stelle keinerlei finanzielle Ansprüche, er wolle nur aus reiner Freude am Sport mitspielen. Die Ausschußmitglieder waren gerade dabei, die Mannschaft für das Treffen am kommenden Sonntag 268
zusammenzustellen, bei dem der F. C. Schlesisch Ostrau zwei Punkte gewinnen mußte, um sich wenigstens die Hoffnung zu erkämpfen, seinen Platz in der Liga zu retten. Die beiden Ausgaben des ›České Slovo‹ waren voll von pessimistischen Erwägungen über die Aussichten des F. C. Schlesisch Ostrau in der kommenden Saison. Mein Vater verfolgte natürlich die Zeitungsnachrichten sehr genau, er kaufte sich das ›České Slovo‹ immer auf dem Prerauer Bahnhof, wo er das Blatt auch sofort las, denn tschechische Zeitungen konnte er ja nicht in die Kaserne mitnehmen. Ich kann mir gut vorstellen, wie sehr die pessimistischen Überlegungen im ›České Slovo‹ meinen Vater beunruhigten. Daher ist es nicht verwunderlich, daß mein Vater am Samstag vor dem Treffen in seiner Wehrmachtsuniform in der Schenke »Zur Eiche« aufkreuzte und mitten in die Beratungen des dort tagenden Ausschusses hineinplatzte. »Schenk mir ein kleines Bier ein«, sagte der Vater zu David. David stellte das volle Glas vor den Vater hin, neigte sich zu ihm vor und fragte ihn flüsternd, warum er denn hierher gekommen sei; und dazu noch in Uniform. »Ich mußte«, antwortete mein Vater, »ich muß ganz einfach wissen, was hier vor dem Sonntag ausgekocht wird …« Sicherlich spürte der Vater, wie ihm das grobe Uniformtuch in den Hals schnitt. 269
Der Teufel hat mich hierher geführt, mochte er sich denken, und der Teufel soll mich holen, wenn ich denen dort nicht sagte, was ich von der Mannschaftsaufstellung für das Match am Sonntag halte. Die Ausschußmitglieder des F. C. Schlesisch Ostrau saßen wie festgenagelt auf ihren Stühlen da, waren nicht zum Sprechen aufgelegt und blickten stumm in ihre Gläser. Sie warteten darauf, daß einer von ihnen aufstehen und sagen würde: »Also Lapáček, geh schön wieder heim, du gehörst nicht mehr zu uns, trink dein Bier aus und verschwinde!« Mein Vater dagegen erwartete offenbar, daß irgendwer aufstehen und zu ihm sagen würde: »Lapáček, Uniform her, Uniform hin, wenn es um die Zukunft des Klubs geht, dann muß alles beiseite stehen, Mensch, setz dich zu uns und hilf uns mit deinem Rat, wie wir uns morgen zwei Punkte holen können!« Doch die Ausschußmitglieder schwiegen und schlürften ihr Bier. Auch der Vater sog an seinem Glas. Sobald er es ausgetrunken hatte, sagte er laut: »David, schenk es mir nochmal voll!« »Herr Lapáček«, sagte jetzt David mit erhobener Stimme, »gehen Sie doch, ich werde Ihnen noch eins einschenken, aber dann gehen Sie schon heim. Ich habe hier eigentlich auch nichts mehr zu suchen … Sie komplizieren hier nur die ganze Situation, Sie gehören nicht mehr zu uns …« »Also wohin gehöre ich denn eigentlich?« erwiderte mein Vater und hob kampflustig seinen Kopf. 270
»Das weiß ich nicht«, gab David zur Antwort, »das weiß ich wirklich nicht, und es interessiert mich auch nicht.« Mein Vater kehrte sich vom Tisch ab, an dem der Ausschuß saß. Er mußte sich umdrehen, denn von neuem schnitt ihn der Uniformkragen in den Hals; mit nervösen Handbewegungen knöpfte er den Kragen auf. Da hörte er vom Tisch her hinter sich die Stimme eines der Ausschußmitglieder sagen: »… und den Motl stellen wir morgen in die Läuferreihe, dort wird er schon das Seine leisten, Plevka soll sich hinter Křižkovský zurückziehen und ihm die Bälle zuspielen …« »Um Gottes willen«, stieß mein Vater am Tresen hervor, »was die hier wieder auskochen, den Motl wollen sie zu den Läufern stecken, den Motl zu den Läufern, das hat die Welt nicht gesehen! Das wäre doch der reinste Selbstmord!« Mein Vater konnte sich jetzt nicht mehr zurückhalten und kehrte sich mit dem Gesicht dem Ausschuß zu. »Und wer, meine Herren«, sagte er und bemühte sich, seine bebende Stimme zu beherrschen, was ihm aber nicht recht gelang, »wer wird dann den Vycpalkovský aus Kladno im Auge behalten, wenn der Motl nicht in der Verteidigung bleibt? Und den Plevka nach vorn zu schieben, hinter den Křižkovský, das wäre, meine Herren, das Ende! Das endgültige Ende!« Jetzt hätte man erwarten können, Herr Dr. Staniolowský würde dem Vater den Mund verbieten und ihn scharf zurechtweisen, in die Klubangelegenheiten habe er nichts mehr dreinzureden, er solle sich lieber um seine 271
soldatischen Obliegenheiten kümmern, doch der Herr Doktor schwieg und war total niedergeschmettert. Er wußte nämlich, genauso wie es auch alle anderen Ausschußmitglieder wußten, daß mein Vater recht hatte. Damit ihm aber sein Schweigen nicht als vollständige Resignation ausgelegt würde, ermannte sich Herr Dr. Staniolowský einigermaßen und sagte mit müder Stimme zu meinem Vater, schon als Geschäftsführer des Vereins habe der Vater nicht das geringste von Taktik verstanden, jetzt sei die Zeit für große strategische Schlachten, auf dem Fußballplatz sei ein Hurra-Stil nicht mehr angebracht, sondern nur wohldurchdachte Finten und Schachzüge. »Lapáček«, meinte schließlich Dr. Staniolowský, »Sie waren immer schon der Verfechter eines sehr primitiven Fußballstils.« »So, ich habe also nichts von Taktik verstanden«, schrie mein Vater, seine Stimme überschlug sich nicht, aber der Uniformkragen beengte ihn immer noch, obwohl er seine Bluse am Hals bereits aufgeknöpft hatte. »Ich verstehe also nichts von Taktik«, wiederholte er, »wenn ich Ihnen aber sage, daß der Motl nur in der Verteidigung Hervorragendes leistet, dann können Sie mir das glauben. Wenn Sie den Motl in der Läuferreihe aufstellen, wird er total versagen, nach vorn geschoben, wird er in seinem Spiel ganz aus dem Konzept kommen, ich warne Sie!« »Sie haben hier nichts mehr mitzureden«, sagte Herr Dr. Staniolowský in unsicherem Ton, »der Motl kommt in die Läuferreihe, das ist bereits entschieden.« Und Herr Dr. Staniolowský fügte noch leise hinzu: »Eine andere Lösung gibt es nicht, Lapáček.« 272
»Mein Gott«, seufzte jetzt irgendeiner der Ausschußleute, »der Lapáček hat doch recht, Herr Vorsitzender …!« »So, ich habe also bei der Mannschaftsaufstellung nichts mehr mitzureden«, schrie mein Vater; aber da war er auch schon beim Vorstandstisch und stützte seine Hände darauf. Jemand schob ihm einen Stuhl hin. Der Vater knöpfte jetzt seine Uniformbluse ganz auf. »Damit wir uns nur darüber im klaren sind, Herr Doktor«, sagte er und setzte sich an den Tisch, »als der F. C. noch ganz unten war, da habt ihr, auf dem anderen Ufer der Ostravice, in Mährisch Ostrau, über uns die Nase gerümpft, aber sowie unser Aufstieg in die erste B-Klasse so gut wie sicher war, da haben sich nur allzuviele von euch aus Mährisch Ostrau in unseren Ausschuß hineingedrängt!« »Haben Sie gehört, meine Herren«, schrie Herr Dr. Staniolowský, »dieser Kerl da will mich beleidigen!« Die Herren hatten es nur zu gut gehört, aber sie schwiegen. Im stillen priesen sie meinen Vater, daß er endlich das ausgesprochen hatte, was auch sie am liebsten aus sich herausgeschrien hätten, es aber aus Angst vor Dr. Staniolowský nicht wagten. »Sie sind ein Renegat«, brüllte Herr Dr. Staniolowský, brach aber plötzlich ab. Dr. Staniolowský, der erfahrene Diskussionsredner, Vereinsmeier und Funktionär, erkannte, daß er in diesem Augenblick den Boden unter den Füßen verlor. Daher war er eigentlich froh, als der Vater jetzt in ruhigem Ton erwiderte: »Hier geht es nicht darum, ob Renegat oder nicht, Herr Doktor, sondern allein um das morgige Spiel und um die Zukunft des ganzen Klubs! Wenn 273
Sie den Motl in die Läuferreihe stellen und den Plevka nach vorn schieben, wird keiner von beiden zum Schuß kommen! Und wer wird dann, so frage ich, den Vycpalkovský aus Kladno bremsen? Ja, wenn Sie unseren David Wiesenthal aufstellen würden, das wäre etwas ganz anderes. Aber um einen Juden in die Mannschaft hineinzunehmen, dazu, Herr Vorsitzender, sind Sie wohl doch zu feige!« Herr Dr. Staniolowský wurde puterrot im Gesicht. Diesen Angriff hatte er nicht erwartet. »Ich würde sagen«, fuhr mein Vater fort, »na schön, schickt meinetwegen den Motl in die Läuferreihe, von mir aus kann auch der Plevka nach vorn gehen und den Křižkovský mit Bällen versorgen, aber dann müssen Sie, meine Herren, den Wiesenthal aufstellen, er ist der Motor, der alles in Schwung bringt!« »Um Christi willen«, stöhnte Herr Dr. Staniolowský und fuhr in vorwurfsvollem Ton fort, mein Vater habe wohl nicht die geringste Spur von Gewissen, daß er sich so auf den armen Wiesenthal versteife. Wenn der F. C. ihn morgen aufstelle und so die Aufmerksamkeit auf ihn lenke, würde man den David direkt in den Rachen der Deutschen hineintreiben. Mein Vater trank sein Bier aus, stellte das Glas auf den Tisch und sagte in feierlichem Ton: »Stellt den David auf, auf meine Verantwortung!« Bei diesen Worten meines Vaters mochten wohl recht angenehme Bilder in den Köpfen der Ausschußmitglieder auftauchen: Sie sahen schon, wie David den Vycpalkovský der Kladnoer Gegner bremste, alle hohen Bälle mit dem Kopf herunterholte, zuspielte, schoß … 274
Irgend jemand flüsterte: »Vielleicht könnte David auf einen fremden Ausweis spielen … oder aber doch auf seinen eigenen, darauf ist doch nicht vermerkt, daß er Jude ist.« »Jaroslav«, sagte Herr Dr. Staniolowský in feierlichem Ton zu meinem Vater, »alles, was zwischen uns liegt, wollen wir beiseite lassen, jetzt geht es wirklich nur um die Zukunft unseres geliebten F.C …«, und dem Herrn Doktor versagte die Stimme, bei den letzten Worten hatte er bereits Tränen in den Augen: »Du willst die Verantwortung für David auf dich nehmen, das würdest du wirklich für uns tun?« Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie der Vater mit bewegter Stimme erwiderte: »Für den Klub, Herr Vorsitzender, alles!« Vom Schankpult her meldete sich David Wiesenthal. »Meine Herren«, flüsterte er, »nehmen Sie doch Vernunft an, ich habe allerdings mit der Reservemannschaft trainiert, habe täglich meinen Lauf absolviert, aber zu einem Liga-Wettkampf antreten … in der heutigen Zeit …« Herr Dr. Staniolowský hatte bereits seine ganze Fassung wiedergewonnen, seine Stimme nahm jetzt einen pathetischen Klang an. »David«, sagte er, »das kannst du uns doch nicht antun. Wir rechnen mit dir, das ist diesmal der Kampf deines Lebens.« »David«, mischte sich jetzt mein Vater ein, »ich sag dir nur das eine: Wenn du willst, kannst du morgen antreten, ich nehme alles auf meine Kappe …« 275
David lächelte, stützte sich auf das verzinkte Schankpult und streifte mit der linken Hand das Wasser weg. »Herr Lapáček«, flüsterte er dann, »ich werde also morgen antreten …« In diesem Augenblick betrat Herr Richard Ryšánek die Schenke »Zur Eiche«. Er sah schon wieder ganz manierlich aus, die verschwollenen Lippen hatten sich zurückgebildet, nur die blutunterlaufene Stelle unter dem linken Auge war etwas eingepudert. »Verehrter Ausschuß«, sagte Herr Ryšánek, »ich habe dem Herrn Vorsitzenden durch Frau Preis eine Nachricht überbringen lassen, und so bin ich hergekommen, um nachzufragen … um zu bitten, daß meine Angelegenheit zur Sprache kommt …« »Deine Angelegenheit, Ryšánek«, sagte mein Vater, »ist bereits erledigt!« »Aber, aber, Herr Lapáček«, verwunderte sich Herr Ryšánek, »seit wann hat der Ausschuß des F. C. Schlesisch Ostrau einen Wehrmachtsgefreiten zum Geschäftsführer?« »Das ist ganz und gar unangebracht«, verwies Herr Dr. Staniolowský Herrn Ryšánek scharf. »Gut, gut«, erwiderte Herr Ryšánek lächelnd, »ich wollte nur wissen, ob ich nicht schon morgen antreten könnte. Aus den Zeitungen weiß ich, daß Sie gewisse Schwierigkeiten mit der Mannschaftsaufstellung haben, und so möchte ich gerne aushelfen … vielleicht gegen einen kleinen Vorschuß, ich bin momentan ein bißchen …« »Mit dir rechnen wir nicht mehr«, sagte mein Vater, 276
»wir werden den Motl in die Läuferreihe stellen, und David Wiesenthal wird zwischen der Verteidigung und den Läufern hin- und herpendeln …« »So, der David, hm, der David«, erwiderte Herr Ryšánek lächelnd, »also Sie stellen den David auf, das ist ja wirklich höchst interessant, Herr Lapáček …« Am Sonntag erschien der Vater auf dem Fußballplatz in Zivil. Sich in Uniform zu produzieren, hatte er keine große Lust, er war nämlich zu dem Match ohne Urlaubsschein aufgekreuzt. Der Beginn des Spiels war für den F. C. Schlesisch Ostrau katastrophal. Motl drängte sich zu sehr nach vorn, Wiesenthal war es anzusehen, daß seine Füße vor Angst gebremst waren, Vycpalkovský aus Kladno hatte plötzlich freies Feld vor sich, und gleich in der fünften Minute schoß er ein Tor. David Wiesenthal stand wie angewurzelt in der Mitte des Spielfeldes. Gegen Ende der ersten Halbzeit schoß Vycpalkovský das zweite Tor. David Wiesenthal war den Tränen nahe. In der Pause heulte David bereits. »Herr Lapáček«, jammerte er, »ich kann nichts dafür, ich kann nichts dafür, ich ziehe den Dreß aus, jemand anders soll statt meiner weiterspielen. Ich bin ganz außer Form …« In der Garderobentür stand Herr Ryšánek. »David«, sagte er und lächelte, »du kannst wirklich nichts dafür, du spielst gut, aber du hast Pech …, ich 277
möchte es in der zweiten Halbzeit versuchen, Herr Lapáček.« »Nein«, erwiderte der Vater, »nein und abermals nein, jetzt kommen deine fünfundvierzig Minuten, David, nimm dich zusammen!« Herr Ryšánek zog meinen Vater beiseite und sagte zu ihm: »Hören Sie doch auf mit diesem Juden, Herr Lapáček, geben Sie doch Ruhe. Stellen Sie mich auf, wenn Sie mir einen Tausender versprechen, dann sollen Sie sehen, wie ich den Vycpalkovský fix und fertig mache.« »Nein«, erwiderte mein Vater, doch in seinem Innern begannen ihn bereits Zweifel zu plagen. »Daß Sie es nur nicht bereuen, Herr Lapáček«, sagte Herr Ryšánek, »mein letztes Angebot: Für fünf Hunderter erledige ich den Vycpalkovský innerhalb der ersten fünf Spielminuten … übrigens wie kommt es, daß Sie in Zivil hier sind?« »Verschwinde«, sagte mein Vater zu ihm. Herr Ryšánek zog ab. Bevor sich die Mannschaft auf den Platz hinausbegab, rief sie mein Vater zusammen und sagte folgendes zu ihr: »Burschen, es sieht schlimm aus. Wir müssen aber dieses Spiel unbedingt gewinnen. Von diesem Augenblick an gilt die Devise: Alles auf den Wiesenthal abstellen. Der David hat für die nächsten fünfundvierzig Minuten das ganze Spielfeld für sich.« Und die zweite Halbzeit begann. Augenzeugen behaupten, daß man das, was David in der ersten Hälfte der zweiten Halbzeit bot, nicht so bald 278
wieder auf einem Fußballplatz zu sehen bekommen würde. Diese dreißig Minuten in der Begegnung mit Kladno gehören heute bereits der Fußballlegende an. Davids Spiel zu beschreiben, ist unmöglich. Er war überall, erreichte jeden Ball, in der Verteidigung, oder durch das Mittelfeld oder an einem der beiden Flügel kam er an jeden Ball, und dreimal fand er im gegnerischen Strafraum eine Lücke, Ergebnis: drei Tore. Nach einer halben Stunde war David jedoch mit seinen Kräften am Ende. Der F. C. Schlesisch Ostrau führte drei zu zwei. Und so endete auch das Spiel. Mein Vater begab sich lieber durch die Hintertür nach Hause. Den David hoben die Fußballfans auf ihre Schultern und trugen ihn in die Garderobe. Bis nach Hause aber gelangte mein Vater nicht mehr, und auch David Wiesenthal hatte keine Zeit mehr, sich umzuziehen. Vor unserem Haus wartete bereits ein deutsches Militärauto. Zwei Männer packten meinen Vater, setzten ihn in den Wagen und fuhren mit ihm weg. Ein weiteres Auto stand an der Ecke bei der Spielergarderobe. Gleich im Gang vor der Dusche nahmen drei Herren David in ihre Mitte und führten ihn schnurstracks zu dem wartenden Auto. David Wiesenthal ist nie wieder auf den Fußballplatz zurückgekehrt. Die Abendausgabe des ›České Slovo‹ schrieb von dem ruhmreichen Comeback des David Visental. In Frau Preisens Wohnung oben bezahlte Herr Ryšánek 279
seine Schulden in Höhe von dreitausend Kronen, packte seine Sachen zusammen und sagte, er habe es hier satt, sowohl im Haus als auch auf dem Platz habe er nichts als Undank geerntet, er werde fortgehen und nie wieder hierher zurückkehren. Doch er kehrte zurück. Wäre Herr Richard Ryšánek nicht an jenem Märzsonntag des Jahres 94 von dem Olympia-Sieger knockout geschlagen worden, wären die Geschehnisse anläßlich dieses wichtigen Spiels zwischen dem F. C. Schlesisch Ostrau und dem S. K. Kladno ganz gewiß anders verlaufen. Bestimmt hätten meine Mutter und ich nicht zum Kommandanten meines Vaters nach Prerau fahren müssen, um bei ihm um Gnade für den Vater zu bitten. Der kam bei diesem ganzen Fiasko noch einigermaßen glimpflich davon. Sie degradierten ihn zu einem einfachen Soldaten; damit war das erledigt. ›Ja‹, flüstert Herr Ryšánek, wenn er jetzt vor meinem Bett steht und sich mit nervösen Handbewegungen das Halstuch zurechtrückt, um die Strangulierungsspur an seinem Hals zu verdecken, ›ich habe den Wiesenthal und deinen Vater angezeigt. Aus Wut habe ich das getan … dein Vater wollte mich nicht aufstellen … und ich war damals ganz unten durch, abgebrannt, ohne eine einzige Krone in der Tasche. Die ganze Stadt lachte über mich, die Leute schrien hinter mir her, wann ich mich wohl wieder von einem Rekruten zusammenschlagen lassen würde … das konnte ich nicht mehr ertragen‹. 280
Herr Ryšánek beginnt dann davon zu erzählen, wie er es bis zum Galgen brachte. Er spricht von diesen Wechselfällen seines Lebens, als schildere er Geschehnisse, auf die er nur einen flüchtigen Blick werfe und die ihn eigentlich überhaupt nichts angingen, auch bringt er Personen, Ort und Zeit oft durcheinander, so daß seine Schilderung jedesmal einen anderen Beigeschmack und eine andere Atmosphäre bekommt. Ab und zu verliert Herr Ryšánek seine Selbstkontrolle, so daß er dann von sich selbst mit einem gewissen elegischen Unterton spricht. Aber stets spüre ich aus seinen Erzählungen die Bemühung heraus, sich zu rechtfertigen und den schlechten Eindruck, den er hinterlassen hat, wieder wettzumachen. ›Ich hatte Pech‹, sagte Herr Ryšánek, ›darum hat es mit mir ein so böses Ende genommen. Hätte ich nur ein bißchen Glück gehabt, wäre alles ganz anders ausgefallen. Hätte ich wenigstens nur eine einzige solide Chance bekommen, bekäme ich sie jetzt, dann wüßte ich sie zu nutzen …‹ Aus Herrn Ryšánek dringt ein demütiges Gewinsel hervor, er macht ein wehmütiges Gesicht, die Strangulierungsspur beunruhigt ihn. Seine Sentimentalität ist mir lästig. Überdies liebt es Herr Ryšánek, sich in Situationen zu präsentieren, in denen er gern sein zerrüttetes Inneres zur Schau stellen möchte, aber darauf falle ich nicht herein. Ich bin froh darüber, daß er niemals mehr eine Chance bekommen kann. ›Es ist gut, daß die Bolschewiken Sie gehängt haben‹, sage ich zu ihm. 281
›Wenn ich jetzt auf dich losgehen könnte‹, erwidert Herr Ryšánek, ›würde ich dir das Maul zerschlagen.‹ ›Seien Sie froh, daß ich Sie manchmal herbeirufe, Herr Ryšánek!‹ ›Einmal aber werde ich mich nicht mehr zeigen, du wirst schon sehen, ich komme nicht mehr‹, sagt Herr Ryšánek böse. Ich weiß, daß er kommen wird und wie gern.
18 In der letzten Periode seines Wirkens als Prediger begann sich Herr Kocifaj auf die Schilderung der Laster zu verlegen, wobei er sich einer besonders bilderreichen Sprache bediente. »Wir ersticken an unseren Lastern«, verkündete der Schneider. »Wir spüren sie wie Felsblöcke in uns. Das Laster hat sich rings um uns angesiedelt, es berührt und beschmutzt uns. Die Laster sind das Werk des Antichrists. Setzt euren Fuß niemals dorthin, wo der Antichrist seine Zeichen aushängt. Verneigt euch weder vor dem Bild des Gekreuzigten, noch vor dem Teufelszeichen von Sichel und Hammer, beides ist vom Blute rot. Unser Herr ist nicht am Kreuz gestorben, das war nur ein der Verdammnis anheimgegebener Engel, den Gott dem Tod überliefert hat! Huldigt nicht der mit dem Hammer gekreuzten Sichel, denn auch das ist ein Teufelszeichen. Unser Kreuz ist nackt und bloß«, erklärte Herr Kocifaj, »wir müssen es alleine tragen und unsere eigenen Sünden daran heften!« 283
Bei diesen Worten legte Herr Kocifaj die Hand auf sein massives Kreuz, das er sich selbst aus den ausrangierten Tor-Pfosten des F. C. Schlesisch Ostrau zurechtgezimmert hatte. An dem Holz konnte ich noch die Ballspuren erkennen, die wie ein Muster aussahen. »Sie versündigen sich«, sagte meine Mutter leise, »Sie versündigen sich sehr, Herr Kocifaj!« »Jawohl«, erwiderte Herr Kocifaj, seine Stimme dämpfend, »ich versündige mich am Laster der Verblendung, ich versündige mich an allem, was mir verbietet, den Herrgott in mir selbst zu suchen!« In diesem Augenblick ließ Herr Kocifaj seinen Kopf zurücksinken, er schien umzukippen, nach hinten zu fallen und auf die Wand unseres Kaninchenstalls aufzuprallen, aber irgendeine gewaltige Macht fing ihn auf und stützte ihn; zugleich aber kam mir vor, als versinke Herr Kocifaj, er war bereits bis zu den Knien in den abgetretenen Boden unseres Hofes eingebrochen, aber vielleicht irrte ich mich auch. Offenbar war Herr Kocifaj nur in die Knie gesunken, war kleiner geworden, das orangefarbene Gewand, das lose von seinen Schultern herabwallte, kam mit dem Saum auf die Erde und bildete auf dem Boden rings um den Schneider einen gefältelten Kreis. Herrn Kocifajs Stimme begann sich zu verändern. Seine Rede floß ihm wie von selbst über die Lippen. Ich merkte sehr genau, daß er nicht in der Lage war, seine Worte zurückzuhalten, wahrscheinlich kam ihm gar nicht zum Bewußtsein, was er da alles sagte, möglicherweise vernahm er gerade seine innere Stimme, doch schienen die Sätze offenbar einen bitteren Beigeschmack 284
für den Schneider zu haben, denn ein Zug der Verachtung spielte um seinen Mund, wobei es ungewiß war, wen er denn so sehr verachtete. Ich nehme an, Herr Kocifaj mußte wohl in seinem Innern eine Glut spüren, in der er sich selbst zu einem festen Eckstein seines Glaubens umschmolz, doch ist mir bis heute nicht klar, welchen Glaubens eigentlich. »Schwester«, sagte Herr Kocifaj zu meiner Mutter, »treten Sie mit Ihren Sünden in unsere Mitte, bereiten Sie Ihre Seele zur Reinigung vor!« »Hier gibt es nichts zu reinigen«, schrie die Großmutter aus dem Fenster ihrer Kammer, »meine Tochter muß sich von nichts reinwaschen, verstanden, Kocifaj!« »Alle sind wir Sünder, Schwester«, fuhr Herr Kocifaj fort, »auch Sie haben gesündigt, treten auch Sie in unsere Mitte und bereiten Sie sich in Demut auf die Reinigung Ihrer Seele vor.« Die Großmutter schlug das Fenster zu und ging zur öffentlichen Sicherheitswache, wo sie bei Herrn Hebrle, dem vormaligen Polizeiinspektor und jetzigen Oberwachtmeister des Korps der Nationalen Sicherheit, Anzeige erstattete, Herr Řehoř Kocifaj habe in unserem Hof nicht nur ihre Tochter öffentlich beleidigt, sondern halte dort außerdem noch Hetzreden. Vormals Herr, jetzt Genosse Oberwachtmeister Hebrle versuchte, meine Großmutter zu beschwichtigen, sie hörte ihn aber gar nicht an und erklärte, falls Herr Hebrle in dieser Angelegenheit nichts unternähme, dann wisse sie schon, an welche Stelle sie sich zu wenden habe, damit dem Kocifaj diese Reden endlich verboten würden. 285
Der Genosse Hebrle schnallte also seinen Riemen um und begab sich zu uns in den Hof. Kaum war er zwischen dem Kaninchenstall und unserem Haus aufgetaucht, als ihn auch schon Herr Kocifaj erblickte und ausrief: »Seht, der Satan naht, hütet euch vor dem Satan!« Die Frauen aus der Siedlung begannen sich unauffällig wegzustehlen. Der Genosse Hebrle wollte offensichtlich alles friedlich beilegen, denn er war niemals ein Freund von Tumulten in seinem Rayon gewesen, und so herrschte er Kocifaj in amtlichem Baßton an, er möge doch schon endlich einmal Ruhe geben, er könnte auch schon mehr Verstand haben, er, Hebrle, habe eine Anzeige vorliegen, daß Kocifaj mit seinen Predigten die Leute auf hetze, und so müsse er die ganze Angelegenheit untersuchen, anders ginge das nicht. »Außerdem, Herr Kocifaj«, fuhr der Genosse Hebrle fort, »haben Sie keine amtliche Genehmigung für Ihre Predigertätigkeit, Sie dürfen auch keine religiösen Versammlungen abhalten, denn Ihre Sekte ist im Rahmen der Nationalen Front nicht registriert. Aber ich kann Ihnen den Rat geben, Kocifaj, wenn Sie wirklich in der Öffentlichkeit auftreten wollen, dann schließen Sie sich doch der kulturellen Tätigkeit des hiesigen Bildungskreises für Volksaufklärung an, wo Sie sogar Theater spielen können, oder, wozu ich Ihnen dringendst raten würde, halten Sie doch Ihre Vorträge über den schädlichen Einfluß der katholischen Kirche, das ist doch Ihr Spezialgebiet, nicht wahr? in der ›Roten Ecke‹ des 286
Agitationszentrums. Also geht jetzt schon heim«, sagte Herr Hebrle zu ein paar Frauen, die noch gaffend im Hof herumstanden. Mit Absicht zog er seine Rede in die Länge, damit die Weiblein aus der Siedlung Zeit fanden, sich zu verdrücken. Es war deutlich zu sehen, daß der Genosse Hebrle die ganze Angelegenheit auf friedliche Weise erledigen wollte. Doch der Schneider war nicht zu bremsen. Noch immer quasselte er etwas vom Satan und den Zeichen des Antichrists, so daß schließlich dem Genossen Hebrle nichts anderes übrigblieb, als Herrn Kocifaj aufzufordern, ihn, ohne Widerstand zu leisten, zur öffentlichen Sicherheitswache zu begleiten, wo alles endgültig geklärt und bereinigt werden müsse. »Also gut, ich gehe mit«, schrie Herr Kocifaj pathetisch, »ich gehe mit Ihnen, um die Wahrheit des Herrn zu verteidigen!« Auf der öffentlichen Sicherheitswache kam es zu einem Spektakel, denn Herr Kocifaj lehnte es ab, vor den Bildern des Präsidenten Klement Gottwald und des Generalissimus Stalin den Hut abzunehmen und machte anstößige Bemerkungen. Genosse Hebrle wollte das Ganze durch eine Geldbuße aus der Welt schaffen, und so brummte er Herrn Kocifaj eine Geldstrafe von zweihundert Kronen auf, wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung, aber Herr Kocifaj erklärte, er bezahle nichts, er wolle diese zwei Hunderter lieber sofort absitzen. So war also nichts zu machen. Der Genosse Hebrle hatte nicht das geringste Interesse, 287
die ganze Angelegenheit zu einer politischen Provokation aufzubauschen, was nämlich damals, im Jahre 95, für Herrn Kocifaj ziemlich schlimm ausgegangen wäre. Der Genosse Hebrle wollte nur eines, Ruhe und Ordnung in seinem Dienstbezirk haben, dem Oberwachtmeister hätte es so nicht in den Kram gepaßt, plötzlich eine politische Angelegenheit untersuchen zu müssen, was eventuell auch ihn selbst in so manche Gefahr hätte stürzen können. Mit größter Wahrscheinlichkeit hätte man irgendwelche Zusammenhänge aufspüren wollen und Recherchen eingeleitet, ob Kocifaj nicht womöglich mit der ausländischen Agentur einer staatsfeindlichen Religionsgemeinschaft in Verbindung stand – und bestimmt hätte man dann, das wußte der Genosse Hebrle bereits aus eigener Erfahrung, etwas Derartiges herausgefunden; denn zu jener Zeit war man immer darauf aus, das herauszufinden, was man herausfinden wollte. Ganz gewiß hätten ihn die anderen Genossen gefragt, wie es denn möglich sei, daß der Genosse Hebrle so lange schon konterrevolutionäre Umtriebe in seinem Bezirk geduldet habe. Wie ich schon erwähnte, Herr Hebrle, nunmehr Genosse Oberwachtmeister Hebrle, wollte also seine Ruhe haben. Er wußte über so manches Bescheid, wie er auch, je nach den Umständen, von so manchem nichts zu wissen vorgab; aber Frieden in seinem Bezirk zu haben, galt für ihn als oberster Grundsatz, um so mehr, als er den ihm derzeit anvertrauten Stadtteil bereits in der Ersten Republik wie auch dann nach 938, zur Zeit der deutschen Okkupation, verwaltet hatte. 288
Von der gerechten Überzeugung erfüllt, es sei die vornehmliche Aufgabe eines Polizisten, ohne große Krawalle und Malheure für Ordnung zu sorgen, verwaltete er auch jetzt, in einer Zeit feindlicher Bedrohung der sozialistischen Errungenschaften der Arbeiterklasse, seinen Rayon. Bestimmt erinnerte er sich seiner Schulung, bei der man ihn belehrt hatte, außergewöhnliche Wachsamkeit und Hellhörigkeit sei für einen Polizisten unbedingte Notwendigkeit, so daß ihm mit aller Deutlichkeit vor Augen stand, was für eine Gefahr ihm durch diesen verrückten Schneider drohte. Aber noch immer bemühte er sich, beide Augen zuzudrücken und die ganze Angelegenheit in den Machtbereich seiner Amtsgewalt zu überführen. Doch Herr Kocifaj schien nichts begreifen zu wollen, er schrie nur herum, er werde die zwei Hunderter nicht bezahlen, er wolle die Strafe für die Wahrheit Gottes gern im Gefängnis absitzen. Da war also nichts zu machen. Herr Hebrle, jetzt Genosse Oberwachtmeister, spannte einen Bogen Papier in die Schreibmaschine und begann ein Protokoll aufzunehmen. Aber er hatte noch nicht einmal den Namen des Festgenommenen geschrieben, als er den Papierbogen wieder aus der Maschine herausnahm. »Jesus Maria, Kocifaj, nehmen Sie doch Vernunft an, um Himmels willen, nehmen Sie Vernunft an! Wenn ich Sie nicht kennen würde, so würde ich jetzt ein Protokoll aufnehmen, es an den Staatlichen Sicherheitsdienst weiterleiten und mich dann nicht mehr um Sie kümmern!« 289
Dem Genossen Hebrle waren selbstverständlich Herrn Kocifajs verworrene Angelegenheiten wohlbekannt. Als mein Vater im Januar 950 starb, hatte sich Herr Kocifaj berufen gefühlt, meiner Mutter geistlichen Trost zuzusprechen, wobei dem Schneider das Malheur passiert war, sich in sie zu verlieben. Kocifaj wollte es sich selbstverständlich nicht eingestehen, daß er meine Mutter hoffnungslos liebte, und so verdoppelte er wenigstens in den Predigten seine Anstrengungen, ihre Seele zu retten, so daß bald die ganze Siedlung und auch die weitere Umgebung des F. C. Schlesisch Ostrau über seine Gefühle für meine Mutter Bescheid wußte. Der Schneider schilderte die bei meiner Mutter vermuteten, jedoch gänzlich unkonkreten Laster so überzeugend, daß sie selbst schon zu glauben begann, sie sei eine unverbesserliche Sünderin und es daher an der Zeit wäre, in sich zu gehen und dem Schneider auch in anderen, von den Problemen geistlichen Zuspruchs weitab liegenden Dingen Gehör zu schenken. Kocifaj hatte selbstverständlich einkalkuliert, daß das größte Hindernis auf dem Weg zu meiner Mutter die Großmutter Zabalski sein würde, und weil er seine Möglichkeiten und Kräfte total überschätzt hatte, begann er gegen die Sünden der Großmutter zu Felde zu ziehen, von denen er, im Unterschied zu den Sünden der Mutter, allerlei Konkretes wußte, was er begreiflicherweise ausnützte. Der Herr Schneidermeister begann sich des langen 290
und breiten über die Sünde der Großmutter mit Karl Hyneš auszulassen, dem ehemaligen Fußballer des F. C. Schlesisch Ostrau, späteren Langstreckenläufer, Geldfälscher und jetzigen Funktionär des Städtischen Nationalausschusses. Und das brach Herrn Kocifaj, wie man bildlich so schön sagt, den Hals.
19 In der Affäre zwischen meiner Großmutter Zabalski und Herrn Karel Hyneš habe ich eine mehr als schändliche Rolle gespielt. Herrn Karel Hyneš hatte mein Vater irgendwo in Brünn eingekauft; weil seine Kondition für die dortige Divisionsmannschaft nicht mehr ausreichte, kam er zu uns, um seine Fußballerkarriere auf dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau fortzuführen. Zu Beginn der Saison 935 war es dann bereits klar, daß es mit Hyneš als Fußballer aus war. Der Ausschuß entschloß sich deshalb, Karel Hyneš aus der Mannschaft zu nehmen. Mein Vater wurde damit beauftragt, dem Hyneš diese Nachricht zu überbringen. »Das habe ich erwartet«, erwiderte Hyneš, als ihn mein Vater informierte, der Klub werde ihn nicht mehr aufstellen; als Abschiedsgeschenk bekam Hyneš zwei Hunderter, und der Vater legte noch einen Hunderter aus der eigenen Tasche dazu. Am darauffolgenden Sonntag wurde auf dem Platz 292
des F. C. Schlesisch Ostrau der große Geländelauf um die Meisterschaft des Schlesischen Athleten-Gaues ausgetragen; an der Startlinie erschien auch Herr Karel Hyneš, um sich selbst und den anderen Sportlern zu beweisen, daß er noch nicht zum alten Eisen gehöre. Herr Hyneš lief um seine Existenz, denn nach seiner Herausnahme aus der Mannschaft befand er sich völlig auf dem trocknen. Dieser Wettkampf war für das weitere Schicksal des ehemaligen Fußballers entscheidend. Herr Hyneš hatte sich entschlossen, seinen künftigen Sportruhm auf der Karriere eines Langstreckenläufers aufzubauen. Aber auch hier blieb ihm der Erfolg versagt, und so versuchte er es dann mit Geldfälschen, gründete später die Gesellschaft »Obroda« (»Regeneration«) und brachte es schließlich nach dem Jahre 945 bis zum Funktionär. Zu der Zeit, als die Wettkämpfe um die Meisterschaft des Schlesischen Gaues stattfanden, schleifte mich die Großmutter zu Frau Hermína Nosálová, der Spiritistin und Kartenlegerin, nach Radvanice; denn sie wollte sich in zwei Fragen Klarheit verschaffen: ob der Großvater, Rittmeister von Zabalski, noch am Leben sei und ob sie selbst noch ein Lebensglück zu erwarten habe. Da sich der Großvater nicht meldete, konzentrierte sich die Wahrsagerin vor allem auf die Erhellung der zweiten Frage. Ich war von diesen Séancen bei Frau Nosálová schon total fertig, kam immer nur schwer in Trance, und um endlich meine Ruhe zu haben, erzählte ich der Großmutter einmal, daß sie noch ein Glück zu erwarten habe, ich sähe einen stattlichen Mann zu ihren Füßen knien, 293
einen Sporttyp, einen Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Ich weiß nicht, was mir da eingefallen war, aber weil ich nicht richtig in Trance kommen konnte, erfand ich diese Beschreibung des erwarteten Gentleman, die mit dem Bild des Herrn Karel Hyneš übereinstimmte. Als daher Karel Hyneš im Frühjahr 935 an der Startlinie zum Meisterschaftslauf des Schlesischen AthletenGaues antrat, stach er der Großmutter sofort in die Augen. »Das ist er«, stieß sie hervor, »das ist er ganz bestimmt!« Herr Hyneš kam selbstverständlich weit hinten im Feld der Geschlagenen ans Ziel, er war ziemlich erschöpft und vermochte sich kaum noch die Treppe zur Wohnung von Frau Preis hinaufzuschleppen, bei der er logierte und sich verköstigte. Die Großmutter Zabalski paßte ab, bis Herr Hyneš an unserer Tür vorübergehen würde, zog ihn dann zu sich in die Kammer, wo sie ihn mit Tee und Sherry labte. »Gnädige Frau«, sagte Herr Hyneš, »dieser Wettkampf war nur die Vorbereitung auf den Lauf, der mich berühmt machen wird …« »Mein Mann«, erwiderte die Großmutter, »der Rittmeister von Zabalski, bestimmt kennen Sie den Namen dieses berühmten Sportlers, hat sich auch immer sehr sorgfältig auf seine Wettläufe vorbereitet. Nach einer großen Anstrengung hat er sich stets einen Kognak genehmigt …« »Gewiß, Madame«, sagte Herr Hyneš, »auch ich möchte mir gern einen kleinen Kognak genehmigen …« 294
»Die bedrängten Verhältnisse, in denen ich lebe«, erwiderte die Großmutter, »erlauben es mir nicht, mir einen guten Kognak zu gönnen, wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Ihnen einen Sherry einschenken, der enthält viel Zucker und wird Ihnen guttun …« Herr Hyneš blieb dann noch bei meiner Großmutter in der Kammer sitzen, wahrscheinlich hatte ihn der Sherry schon ein wenig in Hitze gebracht und vermutlich machte die Großmutter als Frau noch einen halbwegs guten Eindruck auf ihn – sie dürfte damals noch gut ausgesehen haben, wenngleich sie schon auf die Fünfzig zuging. Ich lauschte an der Tür und hörte, wie Herr Hyneš der Großmutter anvertraute, er bereite sich eigentlich auf seinen Langstreckenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour vor, im Augenblick aber sei er vollkommen mittellos, denn er wolle nicht mehr von einem so rohen Sport, wie es der Fußballsport zweifellos sei, leben, sondern sich einer anderen Sportart widmen, die sich schon bei den alten Griechen großer Beliebtheit erfreut hatte. »In diesem männlichen Ringen«, sagte Herr Hyneš, »werden meine Qualitäten erst so richtig ans Licht treten, Madame.« Die Großmutter erbot sich sofort, Herrn Hyneš eine Sporthose aus Cloth zu schneidern, genau von der Art, wie sie sie auch ihrem Rittmeister Zabalski vor seinen berühmten Langstreckenläufen in Krakau genäht hatte. Herr Hyneš sträubte sich eine Weile, ließ sich aber dann überzeugen. Die Großmutter nahm ihm sofort Maß und sagte, sie wolle lieber gleich den ganzen Kampfdreß nähen, in dem werde er laufen, daß es eine Freude sein werde. 295
Kaum hatte sich Herr Hyneš empfohlen, schleifte mich die Großmutter wieder zur Frau Nosálová nach Radvanice. Ich markierte nur den Trancezustand und sagte der Großmutter, Hyneš sei der richtige für sie. Und so hatte ich meine Ruhe. »Wie glücklich ich doch bin«, sagte die Großmutter zu Frau Nosálová ganz aufgelöst, »ich nähe ihm bereits den Dreß für den Langstreckenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour.« Frau Nosálová machte ein erschrockenes Gesicht, aber sie erschrak eigentlich dauernd, so daß die Großmutter keinen Unterschied herausfand. Aber ich wußte, daß mit Frau Nosálová irgend etwas los war, sie sah mich ununterbrochen prüfend an und fragte mich in einer Tour, ob ich mich wohl fühle. Ich gab nur eine undeutliche Antwort und widmete mich lieber der Beobachtung, wie die Spiritistin immerzu erschrak. Heute kann ich mir ihr Erschrecken gut erklären. Wahrscheinlich war Frau Nosálová ganz überrascht darüber gewesen, daß unsere Prophezeiungen so bald und so genau in Erfüllung gegangen waren. Ich glaube, sie war deshalb ganz irritiert und daher nicht sicher gewesen, ob die Geräusche in ihrer Wohnung, in der es von verschiedenem Ungeziefer und Ratten wimmelte, nicht doch womöglich von überirdischen Wesen herrührten. Frau Nosálová begann sich plötzlich mit weinerlicher Stimme zu beklagen, was für ein Kreuz sie doch habe, sie könne doch nichts dafür, sie experimentiere doch bloß ein wenig mit einem Medium, könne aber keine Verantwortung übernehmen, auf keinen Fall, ihre Expe296
rimente könnten einmal mißlingen, diesbezüglich hätte sie mit der Polizei schon Scherereien gehabt, sie würde sich ohnedies einmal unter die Straßenbahn stürzen oder noch besser unter einen Zug, das sei sicherer. »Bringen Sie mir diesen Bub nicht mehr her«, greinte Frau Nosálová, »ich kann keine Verantwortung übernehmen, er ist noch sehr jung, mein Gott, acht Jahre alt und schon so empfindsam …« »Nur noch einmal, Frau Nosálová«, bat die Großmutter, »nur noch einmal werde ich ihn herbringen, um zu erfahren, wie das mit dem Hyneš weitergehen wird …« »Nein, nein«, erwiderte Frau Nosálová und machte mit ihrer fleischigen Hand eine Abwehrbewegung, »auf keinen Fall, manche Geheimnisse dürfen wir gar nicht erfahren, Madame von Zabalski, es ist nicht ratsam, einen Blick hinter den Vorhang des Schicksals zu tun … seien Sie demütig und warten Sie ab, bis sich Ihnen der Herr Sportler erklären wird. Wenn er ein Gentleman ist, wird er das bestimmt tun. Ich hatte schon Scherereien mit den Gesetzesparagraphen, Sie können sich nicht vorstellen, wie der Herr Richter Wurzel – Sie wissen doch, die Juden glauben ja an nichts – mich ausgelacht hat, er hat mir eine Geldstrafe aufgebrummt und mir gedroht, falls ich wegen einer solchen Scharlatanerie nochmals vor Gericht käme, dann müßte ich dafür sitzen. Und auch das Steueramt verfolgt mich, ich nehme angeblich für Experimente Geld und zahle keine Steuern, aber was kann ich, arme Witwe, denn mit zwanzig Kronen für eine Sitzung viel anfangen, das ist doch auch für Sie, Madame von Zabalski, nicht gar so viel?« 297
»Ich werde Ihnen fünfzig geben, Frau NosáloVá«, flüsterte die Großmutter, »aber versuchen Sie es mit dem Lojzek nochmals, nur noch ein einziges Mal, damit ich weiß, woran ich bin …« »Nein, nein«, wehrte Frau Nosálová erneut mit der Hand ab, »das kann ich nicht auf meine Verantwortung nehmen, auf keinen Fall …« »Also auf meine Verantwortung«, sagte die Großmutter. »Ja, das ist etwas anderes, Madame von Zabalski«, erwiderte Frau Nosálová, ihre Stimme dämpfend, »das ist wirklich etwas anderes, wenn Sie selbst … der Bub ist halt noch klein, aber wenn Sie einverstanden sind, dann auf Ihre Verantwortung noch ein Experiment … Sie haben doch fünfzig Kronen gesagt, nicht wahr? Also versuchen wir es noch einmal.« Mir wurde angst und bange. Frau Nosálová beugte sich über mich, ich spürte ganz deutlich ihren Knoblauchgeruch. Sie berührte mich mit ihren weichen, rundlichen Fingern, ihre ganze Schwere legte sich auf mich. Jetzt konnte ich mich nicht mehr dagegen wehren, die Kräfte verließen mich, plötzlich wurde alles um mich herum leicht, die Wände traten auseinander und schwebten frei unter der Zimmerdecke, die Gegenstände rückten von mir weg, aber ganz leise, ich spürte den Knoblauchgeruch, spürte eine klebrige, warme Last auf mir. Frau Nosálovás Stimme machte mich widerstandslos: »Schau mir schön in die Augen … sooo … schau mir in die Augen … in die Augen schauen … wir werden schlafen … schlafen, 298
wir sind schläfrig … wir wollen schlafen, wollen wirklich fest schlafen … schlafen, schlafen, schlafen …« Die Knoblauchausdünstung nahm mir den Atem, ich glaubte ersticken zu müssen, damals wußte ich noch nicht, daß es nur genügte, mich in die Lippe zu beißen, bis es schmerzte, sehr schmerzte, bis Blut hervorquoll. So aber nahm ich nur voller Angst wahr, wie die Gegenstände von mir wegrückten und sich in einem Kreis um mich postierten. Aus der Ferne vernahm ich eine Stimme. Ich gewahrte noch Frau Hermina Nosálovás Auge, hatte aber das Gefühl, als befände ich mich mitten drin in diesem Auge, gerade an jenem Punkt, an dem der Sehnerv die Impulse von Dunkel, Licht, Farben und Schatten aufnimmt und weiterleitet. Dann sauste das Messer einer Guillotine auf mich herab, trennte mich von allem, doch spürte ich keinen Schmerz. Dann kehrte langsam mein Bewußtsein zurück. Die Gegenstände begannen sich mir zu nähern, die Wände, das Mobiliar, ich bekam Angst, sie könnten mich zermalmen. Ich hörte die Wände atmen, den Tisch, der Schrank blies sich auf, spannte seinen Brustkorb und schien zu bersten, das Zimmer dehnte sich zur Form einer Halbkugel, ich atmete den Knoblauchgeruch ein, in den sich der Duft des französischen Parfüms mengte, das die Mutter im Kleiderschrank daheim aufbewahrte. So als wäre ein Vorhang vor meinen Augen zerrissen, sah ich jetzt dicht vor mir Frau Nosálovás Lippen. Heute würde ich sagen, ihre Lippen hatten wie eine 299
Mondlandschaft ausgesehen: lauter Risse und Sprünge, ein eigenartiger Glanz und nirgendwo Wärme. »Alles wird gleich wieder in Ordnung sein«, flüsterte Frau Nosálová, »das Jüngelchen kommt schon wieder zu sich, mein Gott, dieses Jüngelchen ist ja so empfindsam und müde … ja, diesmal ist es uns mißglückt, aber vielleicht gelingt es uns das nächste Mal, das nächste Mal ganz bestimmt.« Darauf ging die Großmutter mit mir wieder heim. Ich weiß nicht mehr, was ich ihr bei der nächsten Séance geoffenbart hatte, Tatsache aber ist, daß sie Herrn Hyneš eine Sporthose und ein Trikot schneiderte. Noch heute sagt die Großmutter von Karel Hyneš, er sei nach Georg von Zabalski ihre größte Liebe gewesen. Haargenau schildert sie mir, wie Hyneš täglich an unseren Fenstern vorbeilief, wie gut er in dieser Hose aus Cloth und in dem Baumwolltrikot aussah, wenn er zum Fluß hinunter und dann am Wasser entlang weitertrabte bis nach Hruschau und retour. Die Großmutter steckte dem Hyneš so manche Krone zu. Hyneš hatte es verstanden, der Großmutter ganze fünfhundert Kronen herauszulocken; als mein Vater davon erfuhr, fing er zu lamentieren an, was denn der Großmutter eingefallen sei, noch Geld in einen Kerl zu investieren, der als Sportler erledigt ist. »Mutter«, begann mein Vater auf die Großmutter Zabalski einzureden, »nehmen Sie doch Vernunft an, Sie werden sich noch ganz zugrunde richten, ja, wenn 300
Sie sich mit dem Kocifaj zusammentäten, das wäre etwas anderes, der ist zwar auch ein ganz schöner Maulheld, aber er hat doch wenigstens ein Gewerbe …« »Das fehlte mir noch gerade«, entgegnete die Großmutter scharf, »mir einen Schwindsüchtigen auf den Hals zu laden!« Der Vater resignierte und überließ die beiden, die Großmutter Zabalski und den sich auf seinen Langstreckenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour vorbereitenden Herrn Karel Hyneš ihrem Schicksal. Bis zum heutigen Tage kann die Großmutter den Hyneš nicht vergessen; zuweilen bringt sie die Zeiten um ganze Jahrzehnte durcheinander, sie bildet sich dann ein, Hyneš sei eigentlich gegen den Rittmeister Zabalski angetreten und der Wettkampf habe mit einem Unentschieden geendet, doch das macht der Großmutter nichts aus. Im Laufe der Jahre ist Karel Hyneš in ihrer Vorstellung zu einem Mann von heldenhafter Größe emporgewachsen. Wenn sie von ihm zu erzählen beginnt, heitert sich ihr Gesicht sogleich ein wenig auf, ich habe den Eindruck, als erwache ihr verhutzelter, kleiner Körper zu neuem Leben; sie schläft dann friedlich ein und spricht noch im Schlaf von Herrn Hyneš, wie er sich auf seinen Langstreckenlauf vorbereitete, oder fängt wieder von dem Rittmeister Georg von Zabalski an, wie er in seiner Paradeuniform in tadelloser Haltung auf seinem Groschengaul, den er später im Kartenspiel durchgebracht hatte, dahergeritten kommt. »Bravo Hyneš, bravo Zabalski!« ruft die Großmutter im Schlaf.
20 In seiner Verblendung hatte Kocifaj nicht gemerkt, daß ihm der Genosse Oberwachtmeister Hebrle aus der Patsche helfen wollte, und ebensowenig begriff das mein Vater am Abend des 4. März 939, als er zu Herrn Hebrle, damals noch Inspektor Hebrle, geeilt war und die Bestrafung des Áda Lakubec forderte. Der Herr Inspektor wollte auch diese Angelegenheit friedlich beilegen, doch der Vater lehnte das ab und wandte sich mit seiner Beschwerde an die höhere Instanz, die Polizeidirektion, wo er aber schon den Gestapo-Männern in die Arme lief, die das Gebäude bereits besetzt hatten und ihre Ohren spitzten, als mein Vater den Namen des bekannten kommunistischen Agitators, Áda Lakubec, nur allzulaut im Munde führte. Und auch im Jahre 950 hatte der Genosse Hebrle kein Interesse an einer radikalen Lösung des Falles Kocifaj, als jedoch der Prediger auf der Revierstube der öffentlichen Sicherheitswache Spektakel machte, die Repräsentanten des Staates und eines verbündeten Landes beleidigte, gab es für Herrn Hebrle keinen anderen Ausweg mehr, als 302
einen Bogen Papier in die Schreibmaschine einzuspannen. Doch zum Schreiben konnte er sich nicht entschließen, immer noch gab er Kocifaj die Möglichkeit, zur Vernunft zu kommen. »Bezahlen Sie die Geldbuße«, riet ihm Herr Hebrle, »und damit wird die ganze Sache wieder in bester Ordnung sein.« Kocifaj schrie abermals, er werde nichts bezahlen, lieber lasse er sich einsperren, denn für seinen Glauben zu leiden, das habe er schon gelernt. Da war tatsächlich nichts mehr zu machen. Genosse Hebrle nahm ein Protokoll auf, das er aber sehr geschickt abfaßte, so daß darin weder von Verhetzung noch vom Antichrist die Rede war, noch davon, daß Herr Kocifaj in einem Amtsraum die Staatsoberhäupter beleidigt hatte. Alles lief auf eine einfache Gesetzesübertretung hinaus, auf Störung friedlichen Zusammenlebens. Als Genosse Hebrle das Dokument ausgefertigt hatte, unterschrieb es Herr Kocifaj mit gewichtiger Geste. »Und damit, Kocifaj«, sagte der Genosse Hebrle, »habe ich Sie vom Hals. Soll sich jetzt die Rechtskommission des Nationalausschusses mit Ihnen herumärgern, ich will nichts mehr damit zu tun haben … aber seien Sie froh, daß diese Angelegenheit nicht vor die Staatsanwaltschaft kommt, die würde mit Ihnen kurzen Prozeß machen. Und jetzt können Sie heimgehen, Kocifaj, und wenn Sie von der Rechtskommission vorgeladen werden, dann wiederholen Sie gefälligst, was wir hier gemeinsam festgelegt haben, werden Sie sich das auch merken?« Herr Kocifaj stand schon in der Tür, wahrscheinlich 303
hatte er gar nicht erfaßt, was ihm der Genosse da gesagt hatte, denn offenbar konzentrierte er seine Aufmerksamkeit auf seinen letzten Auftritt. Er hob seinen rechten Arm und rief mit mächtiger Stimme aus: »Niemand von euch kann mich mit Gewalt dahin bringen, daß ich aufhöre, den Herrgott in mir selbst zu suchen. Ich trage mein Kreuz mit Stolz!« schrie er noch zum Schluß und schlug die Tür hinter sich zu. Den Genossen Oberwachtmeister Hebrle mochte in diesem Augenblick das Gefühl überkommen, jedermann habe sein Kreuz auf irgendeine Weise zu tragen. Ich weiß nicht, wieweit ich mit dieser Behauptung die Wahrheit verfehlte, daß Genosse Hebrle genau daran dachte. Was die Sünden der Menschen betraf, so zeigte sich Herr Řehoř Kocifaj unbarmherzig. Er vergab weder sich selbst noch irgend jemandem anderen etwas. Er fühlte sich nicht berufen, als Vermittler zwischen seiner Schar und dem Herrgott aufzutreten, als Vermittler, der nicht zu umgehen war, falls einer der Gläubigen das Bedürfnis verspürt hätte, Vergebung der Sünden erlangen zu wollen. Im Laufe der Zeit hatte er sich so sehr an seinen ethischen Radikalismus gewöhnt, ja sich so in ihn hineingesteigert, daß er es nicht spürte, wie fest ihn dieser in seinen Fängen hielt. Aber vielleicht mochten ihm doch bisweilen die eng gesteckten Grenzen seiner Moralvorstellungen zum Bewußtsein kommen, er war aber nicht in der Lage, sie auszuweiten, im Gegenteil: Sooft dem Schneider schien, daß er an sich selbst zu zweifeln beginne, 304
ging er dazu über, unter dem Banner seines Glaubens kopflose Ausfälle zu unternehmen. Und weil der Umkreis, in dem er lebte und predigte, auf unser Haus und zwei nahe gelegene Bergarbeiter-Siedlungen beschränkt war, suchte er sich seine Angriffsziele nur hier aus. Eines dieser Hauptangriffsziele des Herrn Řehoř Kocifaj war Herr Karel Hyneš. Er stellte für Kocifaj die Verkörperung des Antichrists dar. Herr Kocifaj bedurfte dringend eines Antichrists. Jeder versierte Prediger sucht sich schon immer seinen Antichrist, aber die ganz besonders routinierten Prediger wählen sich ihren Antichrist mit großem Bedacht aus, denn eine so unpopuläre Gestalt konkret in eine reale Person wie zum Beispiel in Karel Hyneš zu verlegen, birgt immer ein sehr gefährliches Risiko in sich. Die Hauptgefahr, die Herrn Kocifaj drohte, bestand in der Tatsache, daß der Prediger die neue politische Situation, die nach dem Jahre 948 im Lande entstanden war, gänzlich ignorierte. Auch in dieser neuen Situation fuhr Herr Kocifaj fort, Herrn Karel Hyneš in seinen Predigten als Antichrist zu apostrophieren. Hätte Herr Kocifaj, wie das jeder routinierte Prediger tut, den Antichrist außerhalb der realen Welt lokalisiert oder wenigstens dem Satan unter Zuhilfenahme der Phantasie eine ganz neue Identität verliehen, die keine Ähnlichkeit mit einem konkreten Menschen aufwies, dann hätte er bestimmt nicht so viel Unheil für sich heraufbeschworen, das von dem Tag an, an dem er das Protokoll auf der Revierstube der öffentlichen Sicherheits305
wache unterschrieben hatte, auf den armen Schneider hereinzubrechen begann. Eine weitere Gefahr, die Herr Kocifaj überhaupt nicht wahrnahm und die seine Grundkonzeption vom Antichrist-Karel Hyneš bedrohte, ergab sich ferner aus der Tatsache, daß des Predigers Interpretation vom Antichrist mit der realen gesellschaftlichen Funktion, die Karel Hyneš nunmehr ausübte, so gut wie überhaupt nicht übereinstimmte. Genosse Karel Hyneš begann mit dem Tage, da er in den Nationalausschuß gewählt worden war, auf die öffentliche Meinung in den Siedlungen Na Kamenci und Jaklovec Einf luß zu nehmen, und man kann nicht behaupten, er hätte keine Freunde und Gönner gewonnen. Kraft seines neuen Amtes verhalf er einigen Bergarbeiter-Witwen zu einer höheren Rente und vertrieb so manche reiche Bourgeoisie aus ihren prunkvollen Villen, in denen er kinderreiche Arbeiterfamilien und Kinderhorte unterbrachte. Der Genosse Karel Hyneš war von seinem Größenwahnsinn bereits geheilt, er verstand es, seine Macht bescheiden und still zu genießen und bemühte sich überhaupt, von seiner gesellschaftlichen Position auch andere profitieren zu lassen – wie zum Beispiel auch den F. C. Schlesisch Ostrau, dem er von den zuständigen Ministerien eine ansehnliche Subvention zur Erneuerung des Platzrasens und zur Fertigstellung der Eisenbeton-Tribüne verschaffte – und das alles zu äußerst wohlfeilen Bedingungen: Der Klubausschuß mußte nur auf einer feierlichen Versammlung den Beschluß fassen, der F. C. werde von der Frühjahrssaison 306
949 an unter dem neuen Namen ›Roter Stern Schlesisch Ostrau‹ antreten. Durch diese Umbenennung kam es jedoch im Klub zu keinerlei Veränderungen. Der Dreß blieb weiter kanariengelb, der Hauswirt nähte nur auf die Trikots noch einen fünfzackigen roten Stern mit Hammer und Sichel im Goldton. Genosse Karel Hyneš gewann langsam aber sicher festen Boden unter den Füßen. Der von Herrn Kocifaj konstruierte Antichrist Karel Hyneš hatte sich unter seinen Händen unversehens verwandelt, aber Herr Kocifaj war nicht fähig, Veränderungen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und sie womöglich zu nutzen. Und so wurde der Schneider allmählich in die Isolation, später sogar in direkte Auseinandersetzungen mit den Anhängern seiner Sekte des Heiligen Kreuzes gedrängt, die zwar immer noch jeden Sonntag unseren Hof beziehungsweise den Keller bevölkerten, aber das eigentlich mehr aus Gewohnheit taten, denn in ihrem praktischen Leben spürten sie bereits eine Wendung zum Besseren, die sie zu Recht mit der neuen und einflußreichen gesellschaftlichen Stellung des Genossen Karel Hyneš in Zusammenhang brachten. Den einzigen Trumpf, den Kocifaj noch gegen Hyneš ausspielen konnte, waren jene dreitausend Kronen, die Hyneš meiner Großmutter Zabalski noch aus der Zeit schuldete, als er sich auf seinen Langstreckenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour vorbereitet hatte. Die Großmutter hatte danach überall in der Gegend herumposaunt, das habe sie um Herrn Hyneš nicht 307
verdient, und Herr Kocifaj vergaß nicht, diese für die Frauen aus der Siedlung höchst interessante Geschichte in seinen Predigten entsprechend zu kommentieren. Weil Herr Kocifaj damals gerade dabei war, seine Konstruktion vom Antichrist auszuarbeiten, benutzte er Karel Hyneš dazu, dessen Identität er so zurechtbog, daß sie mit dem Bild eines Sendboten des Satans übereinstimmte. Zu jener Zeit, als meine Großmutter Zabalski diesen drei Tausendern nachweinte, hielt es Herr Řehoř Kocifaj für seine Pflicht, ihr im Unglück zur Seite zu stehen, und so warf er sich an einem Samstag im Herbst des Jahres 936 in Schale und machte meiner Großmutter in unserer Küche einen Heiratsantrag. »Unsere Seelen«, sagte Herr Kocifaj, »sind durch das Leid, das sie erdulden mußten, einander verwandt, sie sind von so mancher Enttäuschung gezeichnet … wir wollen uns, Frau Zabalski, zusammentun, und das wird zu unserem Besten sein …« Meine Großmutter faßte diesen Antrag als Beleidigung auf, wenigstens glaubte sie, ihn als Beleidigung empfinden zu müssen, und erwiderte in gemessenem Ton, sie habe Charakter und sei überzeugt, Herr Karel Hyneš werde zurückkehren und ihr als ein ehrlicher Mann das Geld rückerstatten. »Und dann, Herr Kocifaj«, sagte die Großmutter, »bedenken Sie doch den Standesunterschied zwischen uns beiden, vergessen Sie nicht, daß ich eine Frau von Zabalski bin …« Meine Großmutter konnte natürlich vor Kocifaj nicht zugeben, daß Hyneš ein Lump und Betrüger war; sie 308
war gezwungen, ihm eine Komödie vorzuspielen, um sich ihn vom Leib zu halten. Später jedoch glaubte meine Großmutter bereits selbst restlos an diese Komödie; Hyneš war für sie das erste Mannsbild von Charakter in ihrem Leben, und dem mußte sie die Treue halten … Kaum hatte Herr Kocifaj die dünkelhaften Worte der Großmutter vernommen, so kam ihm wohl der Gedanke, sich gerade jetzt zur Demut zwingen zu müssen. Doch schon bald zeigte es sich, wie zerbrechlich die Schale seiner Demut war. Er vermochte nicht, in ihr zu verharren, und schrie: »Diese Worte werden Ihnen noch leid tun!« Er schlug die Tür hinter sich zu, und fort war er. Daheim ließ sich der Schneider wahrscheinlich alles noch einmal durch den Kopf gehen und kam nach langen Spekulationen offenbar auf den Gedanken, meine Großmutter sei eigentlich die Gefangene des Satans Karel Hyneš, und diesem allein sei sein persönlicher Mißerfolg bei der Zabalski zuzuschreiben. So reifte im Schneider der Entschluß, die Geliebte den Klauen des Antichrists zu entreißen und sie auf den rechten Weg zurückzuführen, was konkret bedeutete, meine Großmutter aus unserer kleinen Kammer in seine Wohnung umzuquartieren. Aber dem Schneider gelang es nicht, meine Großmutter aus den Klauen des Teufels zu befreien. Sein letzter verzweifelter Versuch, den Antichrist in die Knie zu zwingen, war des Predigers berühmter Weg, den er im Jahre 953, am Todestag des Josef Wissarionowitsch Stalin bei der Friedlander Brücke antrat. 309
Damals warf sich der Schneider in sein prächtigstes Purpurgewand, legte auf der Brücke das aus den ausrangierten Fußballtor-Pfosten des F. C. Schlesisch Ostrau selbstgefertigte Kreuz auf seine Schultern und zog in dieser Aufmachung durch die Stadt zu den Hügeln Bazaly hinauf, wo er auf einem Seifenkistchen, das er zuvor mit rotem Tuch bezogen hatte, seine Himmelfahrt anzutreten gedachte, um auf diese Weise seinen endgültigen und definitiven Sieg über den Antichrist zu dokumentieren.
21 Die Auffassung des Inspektors, später des Oberwachtmeisters Hebrle, die Gesetze zu den verschiedenen Zeiten verschieden auszulegen, trug stets zur Milderung seiner persönlichen Eingriffe in die Gesetzesmaschinerie bei, die ja Herr Hebrle selber mehr als dreißig Jahre hindurch im näheren Umkreis des Platzes des F. C. Schlesisch Ostrau, in der Siedlung Na Kamenci und in Jaklovec repräsentierte. Und das waren zumeist ziemlich bewegte Zeiten gewesen, über die der Berufspolizist Hebrle sich selbst und die bekanntlich halbblinde Gerechtigkeit hinüberretten mußte, ohne über die tückischen Hindernisse zu stolpern, die sich manchmal seiner bescheidenen Karriere entgegenstellten. Wie zum Beispiel damals in den späten Nachmittagsstunden des 4. März 939, als vor dem Eingang des Platzes des F. C. Schlesisch Ostrau das erste deutsche Militärauto hielt, Herr Řehoř Kocifaj aus seiner Wohnung herausgelaufen kam, sich mitten auf die Straße hinstellte und laut herumschrie, die Boten des Antichrists 311
seien soeben angekommen, die Leute sollten alle auf die Knie fallen und beten, denn jetzt sei das Ende der Welt angebrochen. Herr Kocifaj randalierte noch zwanzig Minuten lang auf der Straße, und Herr Hebrle, damals noch Inspektor, hatte alle Mühe, den Schneider heimzujagen. Herr Hebrle tat sein Bestes, damit es bei der Besetzung seines Dienstbezirkes durch die deutsche Wehrmacht zu keinerlei Zwischenfällen kam, denn nichts war dem Polizisten Hebrle mehr zuwider als ein Tumult in den Straßen, in denen er seinen Dienst versah. Kaum war es Herrn Hebrle gelungen, Herrn Kocifaj von der Straße abzudrängen, da ging schon wieder ein Spektakel beim Haupteingang des F. C. los, wo mir Áda Lakubec die Ohrfeige verabreichte. Zwei Soldaten waren Áda nachgeeilt, um ihn zu stellen, aber wie hätten die es im Laufen mit dem schnellsten Außenstürmer, den der F. C. Schlesisch Ostrau je besessen hatte, aufnehmen können? Damit war jedoch dieser Zwischenfall noch nicht beendet, denn in dem entstandenen Durcheinander kam es rings um den Haupteingang des F. C. zu einer Menschenansammlung. Wie ein Lauffeuer hatte es sich verbreitet, daß es beim Fußballstadion schon losging. In diese allgemeine Verwirrung platzten jetzt noch die Gefolgsleute Hubert Mušials hinein, des ehemaligen Stürmers des F. C. Schlesisch Ostrau, der sich nach seiner Herausnahme aus der Mannschaft auf den Spiritismus und seine technischen Erfindungen geworfen und die Gruppe der »Jünger« von Radvanice um sich 312
geschart hatte; im Grunde waren sie aber nichts anderes als eine Auslese der Ostrauer Taschendiebe, die in der neuerrichteten »Heimstätte der Geister« in Radvanice eine Art legaler Basis gefunden hatten. Hubert Mušial merkte in seiner Naivität überhaupt nicht, daß sich das Korps seiner Jünger auf bedenkliche Weise um Mitglieder vermehrt hatte, die eigentlich nicht fähig waren, die spiritistischen Grundgeheimnisse zu erfassen; Mušial ließ jedoch ihren guten Willen und Fleiß gelten, mit dem sie in den Nachtstunden den Ortsteil Samota aufsuchten. Am Morgen kehrten sie dann in die Heimstätte der Geister nach Radvanice zurück, wo ihnen die vermögende Spiritistische Gesellschaft bescheidene Unterkunft und Verpflegung gewährte. So kam alles erst in dem Moment in Gang, als Hubert Mušial mit seiner Gruppe vor dem Eingang des F. C. auftauchte. Die Jünger machten sich sogleich an die Arbeit, aber irgendeiner von ihnen hatte wohl die Wachsamkeit und Hellhörigkeit seines Opfers unterschätzt, er verließ sich auf die bewegte und aufgeregte Atmosphäre dieses Abends und zog dem Wenzel Deutscher, dem ehemaligen Stürmer des S. C. Mährisch Ostrau, der sich aber bereits auf die Politik geworfen hatte, die Brieftasche heraus. Herr Wenzel Deutscher, der sich einst Václav nannte, hatte sich zur Begrüßung der deutschen Wehrmacht gerade hier vor dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau eingefunden, um an eben dieser Stelle, wo er gedemütigt worden war, seinen großen Triumph auszukosten. An dem Abend jenes 4. März begrüßte Herr Wenzel 313
Deutscher gerade vor dem Eingang des F. C. Schlesisch Ostrau seine deutschen Volksgenossen. Doch sehr bald stellte er fest, daß ihm jemand die Brieftasche geklaut hatte. In diesem Augenblick vergaß Herr Deutscher, noch weitere Begrüßungsparolen zu brüllen und seine Rechte emporzustrecken, er erbleichte und begann zu schreien: »Polizei, Polizei!« Herr Hebrle befand sich in der Nähe, und als er erfuhr, was geschehen war, ging er direkt auf Hubert Mušial zu und sagte zu ihm: »Hubert, du warst doch immer schon vernünftig, also wenn diese Brieftasche nicht innerhalb von fünf Minuten wieder auftaucht, dann werde ich dich und deine ganze Bande festnehmen!« »Was erlauben Sie sich«, stotterte Mušial, »was erlauben Sie sich, wir sind keine Diebesbande, wir sind doch die Jünger …« »Jünger hin, Jünger her«, sagte Herr Hebrle mit gedämpfter Stimme, »aber die Brieftasche muß her, und wenn ihr die Geister zu Hilfe rufen müßtet!« »Ich habe nichts gestohlen, Herr Inspektor«, erwiderte der bleich gewordene Mušial. »Ich weiß, du hast nichts gestohlen, aber die Brieftasche muß her, verstanden, Mušial, sonst mache ich dir einen Tanz, wie du ihn noch nicht erlebt hast. Das darfst du mir nicht antun, Mušial, gerade heute dem Deutscher die Brieftasche zu stehlen, ausgerechnet dem Deutscher, und noch dazu heute!« Kaum hatte Mušial den Namen Deutscher vernommen, gab er sich einen Ruck. 314
»Herr Inspektor«, sagte er, »wenn jemand heute den Deutscher bestohlen hat, dann geht das in Ordnung. Hätte ich gewußt, daß der Deutscher Kies bei sich hat, dann hätte ich zu einem meiner Jünger gesagt: ›Mein Sohn, geh hin und staub den Deutscher ab‹ … nicht einmal einen Elfmeter war er in der Lage zu schießen, diese Flasche, und jetzt kann er nicht genug herumbrüllen …« Herr Wenzel Deutscher stand in gereizter Stimmung abseits, aber als er hörte, wie schonungslos Hubert Mušial seine Fußballerlehre antastete, kam er sogleich in Harnisch und begann zu brüllen, wer sei da für so einen Mušial eine Flasche, er, Deutscher, habe auf dem Fußballplatz noch immer das Seine geleistet, zweimal sei er Schützenkönig der Stadt gewesen, und so ein Mušial, der sich durch sein unversenkbares Tauchboot und seinen Spiritismus ein für allemal lächerlich gemacht habe, könne ihn, Deutscher, na, ihr wißt schon, was. »Haha«, lachte Mušial laut, aber es war ihm anzusehen, daß Deutscher ins Schwarze getroffen hatte: Mušials Flußboot, seine größte Erfindung und Hoffnung, lag schon seit über einem halben Jahr auf dem Grund des Hruschauer Teiches. »Haha«, lachte Mušial, »unter den Blinden in eurem beschissenen S. C. Mährisch Ostrau wäre sogar ein halbblindes Weibsbild Schützenkönig geworden! In unserem F. C. hättest du, Deutscher, jeden Ball verfehlt!« Jetzt hatte wiederum Herr Deutscher einen Tiefschlag bekommen. Er sprang Herrn Hubert Mušial an die Gurgel und hätte ihn wahrscheinlich erwürgt, hätte ihn nicht jetzt Herr Inspektor Hebrle angedonnert: »Halt, hier wird 315
nicht gerauft! Los mit euch aufs Revier, dort wird alles geklärt werden!« »Diese Lumpen und Diebe«, schrie Herr Deutscher, »diese Bolschewiken, erst bestehlen sie mich, und dann beleidigen sie mich noch!« »Und was befand sich in Ihrer Brieftasche?« fragte Herr Hebrle. Die Leute begannen sich bereits heranzudrängen, die hinten Stehenden konnten aber nichts sehen, hörten nur das Geschrei, so daß irgendeine Frau, als Herr Hebrle Herrn Mušial und Herrn Deutscher zum Revier abführte, zu kreischen begann, »sie fangen schon damit an, unsere Leute einzusperren«, der Herr Magister Votoček beugte sich aus seinem Fenster und rief: »Pfui! Schande! Sie fangen aber wirklich bald damit an, Herr Inspektor!« Ich kann mir vorstellen, daß dem Herrn Polizeiinspektor Hebrle von all dem der Kopf schwirrte, er vernahm das Lärmen und spürte, wie sich ihm das Geschrei der Leute auf den Nacken legte; zum ersten Mal in seinem Leben glaubte der erfahrene Polizist, sich auf der Stelle vor den Leuten für seine Tat rechtfertigen zu müssen. Und so machte er unter Herrn Votočeks Fenster halt und schrie ihm zu, er habe doch beide festgenommen, um den Diebstahl gründlich untersuchen zu können, also nicht nur Herrn Mušial allein. »Auch Herrn Deutscher habe ich festgenommen«, schrie der Herr Inspektor, »er ist auf Herrn Mušial losgegangen, es muß alles gerecht untersucht werden! Die Gerechtigkeit wird immer von Leidenschaften und Gefühlen unbeeinflußt bleiben, Herr Magister!« 316
»Einen Dreck«, schrie der Herr Magister aus dem Fenster, »von nun an, Herr Inspektor, wird bei Ihnen alles ganz schön durcheinanderkommen! Jetzt ist es Ihre Pflicht, einen Dieb laufen zu lassen, weil er ein Tscheche ist!« »Dieb ist Dieb, Herr Magister!« »Ein tschechischer Dieb ist nützlicher als ein deutscher, Herr Inspektor«, brüllte Herr Votoček, »denn ein tschechischer Dieb bestiehlt einen Deutschen!« Der Herr Inspektor spürte offenbar, daß er ins Hintertreffen geriet. »Los, gehen wir«, sagte er schroff. »Jesus Maria«, stieß Herr Deutscher hervor, »Jesus Maria«, wiederholte er leise, »Herr Inspektor … ich habe mein Portefeuille wieder in der Tasche … da ist es …« Herr Deutscher zog das Portefeuille aus seiner hinteren Hosentasche heraus. »Mensch, zeigen Sie her«, sagte der Herr Inspektor, öffnete die Brieftasche und wühlte darin herum. »Ist das wirklich die Ihre? Und was befindet sich alles darin?« fragte er in einem Ton, in dem alle Polizisten auf der ganzen Welt ihren Verdacht zum Ausdruck bringen. »Der Personalausweis, die Mitgliedskarte der Sudetendeutschen Partei, einhundertzwanzig Kronen, sechzig Heller und fünfzehn Mark«, erwiderte Herr Deutscher. »Und weiter?« »Bitte, Herr Inspektor«, sagte Herr Deutscher mit gedämpfter Stimme, »außerdem befinden sich noch fünf Präservative darin …« 317
»Hm, das dürfte stimmen«, meinte der Herr Inspektor und fuhr dann im Amtston fort, er müsse Herrn Deutscher trotzdem aufs Revier bringen, denn er habe einen Unschuldigen des Diebstahls verdächtigt und außerdem einen Auflauf verursacht. »Und wie können Sie mir erklären«, fragte der Herr Inspektor, »daß Sie Ihre Brieftasche plötzlich wiedergefunden haben? … Herr Deutscher, ich kann nicht dulden, daß Sie heute in meinem Dienstbezirk Provokationen inszenieren, verstanden! Wie können Sie mir aber dieses Wunder erklären?« Herr Deutscher war außerstande, etwas zu erklären, er errötete und schwieg. Herr Inspektor Hebrle bemerkte zwar, daß sich so ein hageres Bürschchen an Herrn Mušial herandrängte, konnte aber nicht hören, wie der magere Jünger aus Herrn Hubert Mušials Gruppe seinem Chef ins Ohr flüsterte: »In Ordnung, Chef, es ist alles schon wieder in Ordnung!« »Karl«, flüsterte Herr Mušial zurück, »du hast ihn bestohlen …?« »Es ist doch alles schon wieder in Ordnung, Chef, Sie sind aus der Patsche heraus, wenn ich gewußt hätte, wie sich die Sache verhält …« »Hau ab«, flüsterte Herr Mušial. Der junge Mann verdrückte sich. »Herr Mušial«, sagte der Polizist in nachdrücklichem Kommißton und begann daher auch Hubert mit Sie anzureden, »es ist ein Irrtum passiert, entschuldigen Sie. 318
Und Sie, Herr Deutscher«, wandte er sich dann an den ehemaligen Fußballer des S. C. Mährisch Ostrau, »Sie gehen mit!« »Bravo!« schrie Herr Votoček aus dem Fenster. Die Leute um den Inspektor herum begannen Beifall zu klatschen. Herr Deutscher duckte sich und ging ergeben mit Inspektor Hebrle mit. Das Durcheinander war jedoch noch nicht zu Ende, denn Herr Karel Pastrňák, ehemaliger Spieler des F. C. Schlesisch Ostrau, verkrachter Limonaden-Erzeuger und jetziger Spediteur, griff in die Geschehnisse ein. In einer Anwandlung patriotischen Hochgefühls hatte Herr Pastrňák an diesem Abend sein Luftgewehr, mit dem er immer Ratten in unserem Hof schoß, aus dem Schrank hervorgeholt, hatte es mit Salz geladen, das Fenster einen Spalt weit geöffnet und vor Angst zitternd, mit seiner Flinte auf die deutschen Militärfahrzeuge gezielt. Schon wollte Herr Pastrňák einen Schuß abfeuern, aber da war gerade der Tumult beim Fußballplatz losgegangen, und die Leute verstellten dem Spediteur die Aussicht. Später hatte sich die Gruppe zwar weiterbewegt, war aber jetzt wieder direkt unter Herrn Votočeks Fenster, in fünf Schritt Entfernung von dem des Herrn Pastrňák stehen geblieben, und dieser, neugierig geworden, was da eigentlich vor sich ging, beugte sich aus dem Fenster und vergaß ganz, daß er das mit Salz geladene Luftgewehr in der Hand hielt. In dem Augenblick, als sich Herr Deutscher und der ihn begleitende Herr Inspektor Hebrle wieder in Bewe319
gung setzten, war Herrn Pastrňáks Luftgewehr genau auf die Brust des ehemaligen Fußballstürmers und derzeitigen politisch aktiven Lehrers gerichtet. Herr Deutscher erblickte das Gewehr, konnte aber natürlich in der Dämmerung nicht genau erkennen, um was für eine Waffe es sich da eigentlich handelte. »Hilfe!« schrie er. »Man will mich abknallen!« Herr Inspektor Hebrle waltete seines Amtes und forderte Herrn Pastrňák auf, die Waffe wegzulegen. »Kommen Sie auf die Straße heraus«, sagte Herr Inspektor Hebrle zu ihm. Herr Karel Pastrňák sah, daß es kein Ausweichen gab, und so stieg er durchs Fenster auf die Straße hinaus, wo ihn der Herr Inspektor Hebrle sofort wegen unerlaubten Besitzes einer Schußwaffe und wegen Bedrohung an Leib und Leben verhaftete. »Liefern Sie die Waffe ab«, befahl der Herr Inspektor. Als er aber feststellte, daß es sich nur um ein Luftgewehr handelte, fiel von Herrn Inspektor Hebrle die ganze Sicherheit seiner Amtsgewalt ab. »Mensch«, stotterte er, »Mensch … das ist doch nur ein Luftgewehr … was für Unfug machen Sie mir da, Pastrňák?« »Ich wollte Ratten schießen«, erwiderte Herr Pastrňák. Der Inspektor war total verwirrt. »Er hat direkt auf mich gezielt«, kreischte Herr Deutscher, »er kann doch niemandem weismachen, daß er Ratten schießen wollte, er hat auf mich gezielt, alle haben es gesehen und werden es mir bezeugen, daß er mich umlegen wollte!« 320
Der Inspektor aber hatte sich bald wieder gefaßt, und nunmehr bereits Herr der Lage, schlug er erneut seinen Amtston an und sagte zu den Umstehenden mit lauter Stimme: »Wer von Ihnen hat gesehen, wie Herr Pastrňák mit der Waffe in der Hand auf Herrn Deutscher gezielt hat? Ich brauche Zeugen, wer meldet sich?« Irgendwer aus dem Menschenhäuflein ringsum sagte, er habe nichts gesehen, eigentlich habe niemand etwas bemerkt, sie könnten also nichts bezeugen. »Ich werde für Sie schon noch einen Paragraphen finden, Pastrňák«, sagte jetzt der Herr Inspektor, aber aus seiner Stimme hatte sich bereits der Amtston verflüchtigt. »Und jetzt vorwärts, folgen Sie mir aufs Revier!« Auf der Polizeiwachstube nahm der Herr Inspektor mit Herrn Deutscher ein Protokoll auf und erklärte, jetzt würden sich dieses Falles wahrscheinlich schon die deutschen Sicherheitsorgane annehmen, dann schrieb er noch ein zweites, Herrn Pastrňák betreffendes Protokoll und verdonnerte den Spediteur zu einer Geldstrafe von fünfzig Kronen wegen unvorsichtigen Herummanipulierens mit einem Luftgewehr. Als der Herr Inspektor mit der Untersuchung und Protokollierung dieser Vorfälle fertig war, entließ er die beiden und glaubte offenbar, sich nunmehr endlich einen Kaffee aufbrühen zu können, doch dazu kam er nicht. Denn in diesem Augenblick stürmte mein Vater herein und erstattete Anzeige gegen Herrn Áda Lakubec. Der Vater spielte die Sache mit Lakubec auf vollen Touren aus, er war einfach nicht zu bremsen, und weil 321
der Herr Inspektor schon müde war, ließ er meinem Vater freie Hand. ›Wahrscheinlich wird sich ohnedies alles ändern‹, mochte sich der Herr Inspektor sagen, ›ich bin all dem nicht mehr gewachsen … Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, mehr kann man von mir nicht verlangen.‹ Sollte sich der Herr Inspektor eben das gesagt haben, dann muß ich ihm zugestehen, daß er zu derartigen Schlußfolgerungen durchaus berechtigt war. Ich muß anerkennen, daß Herr Inspektor Hebrle, jetzt Oberwachtmeister und Genosse, stets mit Takt vorgegangen ist. Sooft er in eine verworrene und heikle Angelegenheit eingreifen mußte, verstand er es immer, eine Lösung zu finden, die alle Beteiligten zufriedenstellte: die Betroffenen, ihn selbst und auch die Gesetze. Besonders aber zeichnete sich Herr Inspektor Hebrle in der Behandlung der Affäre zwischen meiner Großmutter und dem Langstreckenläufer Karel Hyneš aus. Es fing alles damit an, daß meine Großmutter für den Hyneš einen Kampfdreß schneiderte, den er am Tage seines Starts zum Langstreckenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour tragen sollte. Herr Hyneš begann gewissenhaft zu trainieren, und nach jedem Training besuchte er die Großmutter Zabalski in ihrem Kämmerchen, um ihr von den Kümmernissen seines Lebens zu erzählen, in dem er so mancher Verständnislosigkeit begegnet war und so manchen Schlag hatte hinnehmen müssen. »Aber schließlich und endlich, gnädige Frau«, sagte Herr Hyneš, »habe ich doch den rechten Weg zu einem harten 322
Sporttraining gefunden und auch zur Disziplinierung meiner leiblichen Begierden, denen ich zu Zeiten meines Fußballruhms verfallen war.« Gefühlsselig und beredt schwatzte er dann davon, wie sich alles sofort ändern würde, sobald er nur diesen so bedeutenden Wettlauf auf der Strecke Schlesisch Ostrau–Wien und retour gewonnen haben würde. »Ich werde Sie aus diesen armseligen Verhältnissen herausholen, Madame von Zabalski«, sagte Herr Hyneš, »Sie dürfen nicht denken, daß ich nur so in den Wind rede. Für diesen Wettkampf bin ich gut gerüstet. Ich brauche jetzt nur noch ein paar lumpige Hunderter, um die Erzeugung des Lutyner Mineralwassers in vollem Umfang aufnehmen zu können, das ich allerorts, wo ich bei meinem Langstreckenlauf durchkommen werde, propagieren und verkaufen will. Ich benötige bloß ein bescheidenes Kapital, um das alles in Gang zu bringen, jetzt geht es um alles, ich muß nur die ersten tausend Flaschen dieses Lutyner Wunderwassers abfüllen, und dann haben wir unser Glück gemacht. Wenn Sie, Frau von Zabalski, doch auch Herrn Lapáček davon überzeugen könnten, damit er in dieses Geschäft miteinsteigt …« »Wieviel brauchen Sie denn?« fragte die Großmutter. »Bloß drei Tausender, eine Bagatelle …« Selbstverständlich wollte mein Vater von dem Geschäft mit dem Wunder-Heilwasser aus Lutyně nichts wissen, aber als die Großmutter mit ihren Szenen und Lamentationen anfing, sie wolle ihr Glück nicht länger mit Füßen treten, und auch Andeutungen machte, es biete sich ihr jetzt eine Gelegenheit zur Wiederverheiratung, gab der 323
Vater nach. Drei Tausender schienen ihm ein nicht zu hoher Preis dafür zu sein, die Großmutter Zabalski ein für allemal loszuwerden. »Das ist ein Geschäft von zu großem Format für mich«, sagte mein Vater zu Herrn Hyneš, »ich bin doch nur ein kleiner Gewerbetreibender …« »Es bietet sich Ihnen da eine Chance, eine einmalige Chance«, versuchte Herr Hyneš meinen Vater zu beschwatzen, »wenn ich das Ganze erst einmal richtig in Schwung gebracht habe, dann machen wir fifty fifty … und es ist ja auch kein Geheimnis, daß ich und Frau von Zabalski hier …« Also gab der Vater nach. Nach einer Woche stellte jedoch Herr Hyneš fest, daß er noch weitere zwei Tausender benötigen würde. Aber da blieb mein Vater schon unzugänglich. Nun spielte die Großmutter ihren letzten Trumpf aus. »Ich werde meine Goldbrosche, die mir der Rittmeister von Zabalski am Verlobungstag geschenkt hat, verkaufen und Sie werden Ihre zwei Tausender bekommen, Herr Hyneš!« Meine Mutter richtete sich von ihrem Waschtrog auf und wollte schon etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Auch der Vater schwieg. ›Der Teufel soll die Brosche holen‹, mochte er sich denken, ›der Teufel soll sie holen, Hauptsache ist, ich werde die Zabalski los …‹ Am nächsten Tag brachten also Herr Hyneš und die Großmutter Zabalski die Brosche zu Herrn Friedrich 324
Tietze, dem Juwelier auf dem Stadtplatz in Mährisch Ostrau. Im Geschäft legte die Großmutter die Brosche auf den Ladentisch und fragte: »Herr Tietze, wieviel würden Sie mir für dieses wunderschöne Schmuckstück bieten?« Herr Tietze wog die Brosche in seiner Hand – er besaß feingliedrige, zierliche Hände –, klemmte die Lupe ins Auge und sagte dann: »Eine schöne Arbeit, Madame von Zabalski, wirklich eine schöne Arbeit, stark vergoldet …« »Was heißt vergoldet?« stieß die Großmutter hervor und schluckte. »Eine schöne Arbeit«, wiederholte Herr Tietze, während er die Brosche untersuchte, »handwerklich wirklich sehr gut, die Vergoldung ist etwas unansehnlich geworden … hier ist sie schon sogar ein wenig abgewetzt, aber wenn man die Brosche aufpoliert …« Jetzt trat Herr Hyneš zum Ladentisch. »Herr Tietze«, sagte er, »das ist der Familienschmuck des Rittmeisters von Zabalski, wenn ich bitten darf, äußern Sie sich über diesen Schmuck mit etwas mehr Respekt!« »Wie ich bereits sagte«, erwiderte Herr Tietze lächelnd und legte die Brosche auf den Ladentisch zurück, »eine schöne Arbeit, der Herr Rittmeister hat Geschmack gehabt, wenn man die Vergoldung etwas aufpolierte …« »Das ist echt Gold«, sagte die Großmutter und hob kampflustig den Kopf. »Madame«, erwiderte der Juwelier und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, »die Brosche ist stark vergoldet, 325
aber an manchen Stellen ist die Vergoldung schon abgewetzt, sonst aber ist das wirklich eine sehr schöne Arbeit … Herr Josef«, rief Herr Tietze in die Werkstätte hinein, aus der Josef Burian, der bucklige Gehilfe des Juweliers, auftauchte. »Herr Josef, schauen Sie sich mal diese Brosche an!« Herr Burian nahm die Brosche unter die Lupe, untersuchte den Schmuck und murmelte vor sich hin: »Nun ja, eine gute Arbeit, das ist so der Stil des alten Roseweil in Krakau … aber, aber, da ist die Vergoldung schon ein wenig abgegangen … wenn man jedoch das Ganze aufpoliert …« »Wie würden Sie die Brosche reinigen, Herr Burian?« fragte Herr Tietze. »Mit Kreide, ich würde sie mit Kreide überstreichen und mit einem Flanelltuch nachpolieren …« »Und chemisch, Herr Burian?« fragte Herr Tietze weiter. »Das wohl nicht, Herr Chef, die Vergoldung ist schon an einigen Stellen ab, ich weiß nicht, was passieren würde, vielleicht könnte die Säure die untere Metallschicht angreifen …« »Aber das ist doch Gold«, sagte die Großmutter mit zusammengepreßten Lippen. »Ich behaupte ja auch nicht, daß es Talmiware ist«, erwiderte Herr Tietze lächelnd, »der Herr Rittmeister hat ganz bestimmt Geschmack bewiesen, wenn er bei Roseweil eingekauft hat, aber Gold, Madame von Zabalski, ist das keinesfalls … das können Sie mir glauben …« »Bringen Sie doch die Säure her«, sagte jetzt Herr Hyneš, »wir wollen das sofort ausprobieren!« 326
»Ich sage Ihnen, das ist kein Gold«, erwiderte Herr Tietze lächelnd, »aber wenn Sie darauf bestehen, bitte sehr, auf Ihre Verantwortung, ich übernehme keine Garantie! Herr Burian«, wandte er sich an seinen Gehilfen, »bringen Sie ein Schälchen mit Säure …« Herr Burian kehrte sogleich zurück und stellte die Schale mit der Säure auf den Ladentisch. »Ich mache aber die Herrschaften darauf aufmerksam«, sagte Herr Burian, »daß das kein reines Gold ist …« »Tauchen Sie die Brosche ein«, forderte ihn Herr Hyneš auf und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Kaum hatte Herr Burian die Brosche in die Schale gelegt, begann die Flüssigkeit sofort zu schäumen. »Rasch, heraus damit«, rief Herr Tietze. Doch Herr Burians Hand begann zu zittern, in seiner Aufregung vermochte er die Brosche nicht sogleich mit der Pinzette zu fassen, und als ihm das endlich gelungen war, kam vor dem Angesicht aller Anwesenden eine stark beschädigte Brosche zum Vorschein. An einigen Stellen war sie von der Säure angegriffen. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß das kein reines Gold ist«, sagte Herr Tietze und schluckte. »Um Himmels willen«, hauchte die Großmutter und hielt sich am Ladentisch fest. Am raschesten hatte sich Herr Hyneš wieder gefaßt. »Ich gebe zu«, sagte er schroff, »daß das kein Gold ist, aber durch Ihren unsachgemäßen Eingriff, Herr Tietze, haben Sie diesen kostbaren Familienschmuck, dessen künstlerischen Wert ich auf zweitausend Kronen schätze, 327
ruiniert. Wollen Sie sich mit uns auf der Stelle in Güte einigen oder wollen wir den Ersatz des entstandenen Schadens, wozu wir uns nur ungern entschließen würden, auf gerichtlichem Wege einfordern?« Herr Tietze blickte hilflos um sich, Herr Burian schaute zu Boden. »Wollen Sie sofort bezahlen?« fragte Herr Hyneš. Ich kann mir vorstellen, daß Herr Tietze jetzt am liebsten zu beten begonnen hätte. ›O weh, o weh‹, mochte er lamentieren, ›mein Ruf ist vernichtet. Durch ein Gerichtsverfahren wäre ich als Juwelier erledigt … und mein Ruf als Organisator des kulturellen Lebens der Stadt, man wird von mir sagen, ich sei so etwas wie ein Betrüger, was soll ich denn jetzt machen, was soll ich nur tun, mein Gott, was soll ich tun?‹ Herr Tietze blickte ratlos um sich und war ganz verwirrt. Der Gehilfe Josef Burian richtete sich auf, das heißt, er streckte sein Bäuchlein heraus und neigte sich nach rückwärts, so daß es schien, sein Höcker würde ihn nach hinten umkippen lassen. »Verklagen Sie mich«, sagte er, »mich müssen Sie verklagen, ich habe die Brosche in die Säure gelegt, der Herr Chef war dagegen, verklagen Sie mich ruhig, und vor Gericht wird man dann schon sehen …« Nach einer knappen Stunde saß die Großmutter gemeinsam mit Herrn Hyneš auf der Wachstube bei Herrn Inspektor Hebrle, der mußte ein Protokoll aufnehmen, in dem meine Großmutter die Juwelierfirma Tietze in Mährisch Ostrau beschuldigte, durch unsach328
gemäße Behandlung ihren Familienschmuck im Werte von zweitausend tschechoslowakischen Kronen ruiniert zu haben. Herr Inspektor Hebrle erbat sich den Schmuck, legte ihn dem Protokoll bei, und nachdem sich die Großmutter und Herr Hyneš entfernt hatten, begab er sich sogleich zu Herrn Tietze. Dort nahm er ein weiteres Protokoll auf. Am nächsten Tag lud Herr Inspektor Hebrle die Großmutter vor, die sich aber zu ihrer Assistenz Herrn Hyneš mitgenommen hatte. »Hier habe ich also Ihr Protokoll«, begann der Herr Inspektor, »die Nachforschungen haben aber ergeben, daß Sie in dem amtlichen Protokoll nicht die volle Wahrheit angeführt haben. Herr Tietze hat Sie doch wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß der Schmuck nicht reines Gold ist, und auch die Probe wurde auf ausdrücklichen Wunsch und Verantwortung des Kunden durchgeführt. Diese Tatsache hat auch der Gehilfe der Firma Tietze, Herr Josef Burian, beschworen, es handelt sich also um keine fahrlässige Beschädigung des Schmucks; die Juwelierfirma ist jedoch bereit, Ihnen den Schmuck zu reparieren, sind Sie damit einverstanden?« »Nein«, erwiderten die Großmutter und Herr Hyneš wie aus einem Mund. »Also gut«, fuhr der Herr Inspektor fort und spannte einen Bogen Papier in die Schreibmaschine, »dann müssen wir ein weiteres Protokoll ausfertigen, in dem wir die Motive Ihrer gestrigen falschen Aussage darlegen werden. Ich muß Sie gleichzeitig auf die Tatsache hinweisen, daß 329
Herrn Tietzes Rechtsanwalt wahrscheinlich gegen Sie eine Klage wegen falscher Zeugenaussage und wegen Verleumdung einbringen wird … es ist vorauszusehen, daß sich das Gerichtsverfahren auf etwa drei Verhandlungen erstrecken wird, denn Herr Dr. Wurzel wird die ganze Angelegenheit bis ins letzte Detail klären wollen … also bitte, Madame von Zabalski, wann sind Sie geboren? …« Herr Hyneš hatte mit einem Male wieder einen kühlen Kopf, ihm war zumute, als hätte sich ein Stück Eis auf seinen Nacken gelegt. »Herr Inspektor«, sagte er in versöhnlichem Ton, »vielleicht würden wir uns … wir würden uns also mit der Reparatur der Brosche zufriedengeben, nicht wahr? …« »In Ordnung«, erwiderte der Herr Inspektor, zog den Bogen aus der Schreibmaschine, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb. Dann kramte er aus seinen Akten das ursprüngliche Protokoll hervor und blickte forschend von der Großmutter zu Hyneš. »Und was soll damit geschehen, Madame von Zabalski?« fragte er. »Das können Sie zerreißen«, flüsterte die Großmutter. Der Herr Inspektor atmete erleichtert auf. Nach diesem Fiasko aber hatte sich in Herrn Karel Hyneš starrsinnigem Kopf eine etwas wunderliche Vorstellung festgesetzt, die zu ihrem Heranreifen volle neun Jahre benötigte, genauer gesagt: Sie reifte bis Ende April 945 heran. Damals, kurz bevor die Rote Armee ihren Einzug 330
in die Stadt hielt, stellte Herr Karel Hyneš mit letzter Endgültigkeit fest, daß ihn der deutsche Juwelier Friedrich Tietze eigentlich betrogen hatte. Im Frühjahr 945 kam Herr Karel Hyneš zu der weiteren Überzeugung: Jede Unrechtstat mit Ausnahme von solchen, die in entfesselter Leidenschaft bei der Liquidierung der Bourgeoisie und der faschistischen deutschen Feinde begangen würden, müsse hart bestraft werden. Zum Zwecke der Bestrafung stellte Herr Karel Hyneš, ehemaliger Fußballer des F. C. Schlesisch Ostrau, Langstreckenläufer, Geldfälscher und Gründer der Gesellschaft »Obroda«, von der noch die Rede sein wird, seine private Revolutionsgarde auf, die aus drei Männern bestand, die mit Armbinden versehen und mit Gewehren eines veralteten Typs ausgerüstet waren. An der Spitze dieser Gruppe stürmte Herr Karel Hyneš Ende April 945 in die Betriebsräume der Juwelierfirma Tietze in Mährisch Ostrau; Herr Friedrich Tietze war nicht anwesend, denn er lag schon seit Tagesanbruch, in der Uniform eines deutschen Wehrmachtssoldaten, tot beim Zaun des Platzes des F. C. Schlesisch Ostrau; in der Haut unter seinem Nabel befanden sich sechs dort eingenähte wunderschöne Brillanten, von denen der eine rosafarben war. Herr Josef Burian, der bucklige Gehilfe, der während der Abwesenheit seines Chefs das Geschäft und die Werkstätte führte, stellte sich Herrn Karel Hyneš’ Revolutionsgarde entgegen, leistete allerdings keinen physischen Widerstand, sondern schrie nur herum, er dulde nicht, daß hier geplündert werde, das feindliche Eigentum, das 331
Eigentum der Deutschen und der Verräter, gehöre jetzt dem Volke, und er verlange, daß alles, was sich in der Werkstätte und im Laden befinde, ordnungsgemäß protokollarisch aufgenommen werde, er selbst habe darüber gewacht, daß nichts verlorenginge, und falls Herr Hyneš sich unterstehe, das Geschäft auszurauben, würde er sich bei den Ämtern darüber beschweren. Herr Karel Hyneš beschuldigte Herrn Burian auf der Stelle der Zusammenarbeit mit den Faschisten und den Deutschen, womit er Herrn Tietze meinte, und verurteilte den buckligen Gehilfen der Juwelierfirma zum Tod durch Erschießen. Noch als die Männer der Revolutionsgarde Herrn Burian über die Treppe in den Hof hinunterschleiften, wo die Exekution durchgeführt werden sollte, zeterte der bucklige Gehilfe, das sei Dieberei, alles gehöre jetzt einzig und allein dem Volke. Dann hörte man einen Schuß fallen, und Stille trat ein. Weil Herr Karel Hyneš mit dem Ergebnis seiner Revolutionstätigkeit im Laden und in der Werkstätte der Firma äußerst zufrieden war, ließ er Herrn Inspektor Hebrle ungeschoren. Auf den armen Polizisten sollte die Faust der Klassengerechtigkeit erst viel später herabsausen. Im Jahre 968 reifte in Herrn Karel Hyneš von neuem der Entschluß, es sei geboten, harte Bestrafungen vorzunehmen, und da konnte Herr Hebrle, jetzt Genosse Oberwachtmeister, dem Hyneš nicht mehr entrinnen.
22 »Die Kunst, Jaroslav«, flüsterte Herr Friedrich Tietze meinem Vater zu, als beide auf ihren Feldbetten beim Ausbildungsbataillon der Deutschen Wehrmacht in Prerau nebeneinander lagen, »die Kunst kennt keinen Unterschied von Rasse, Religion und Politik. Merk dir das, Jaroslav!« Dieser von Herrn Tietze in Prerau geäußerte Satz enthielt eigentlich seine ganze Lebensphilosophie. Ich weiß nicht genau, ob mein Vater diese Worte des Juweliers im Gedächtnis behielt, aber selbst wenn dem so gewesen wäre, ist es fraglich, ob er mit dieser Belehrung etwas anzufangen gewußt hätte. Herr Tietze war ein grundehrlicher Mann; bevor er zur Wehrmacht eingerückt war, hatte sich sein ganzes Leben in dem Juwelierladen und in der Werkstätte der von seinem Vater geerbten Firma abgespielt. Herr Tietze beschäftigte nur einen einzigen Gehilfen, den buckligen Herrn Josef Burian, machte sich nichts aus dem sogenannten Erfolg und gab sich damit zufrieden, der beste Goldschmied und Juwelier am Platze zu sein, der 333
den erlesensten, aber zugleich auch teuersten Schmuck anfertigte. Seine Freizeit verbrachte er im Mitgliederkreis des Gesangvereins »Slavík«, dessen Inspirator und Dirigent er war. Herr Tietze litt unter dem Krieg. Seine Qualen als Soldat lassen sich nur mit denen vergleichen, die er durchmachen mußte, als der Herr Lehrer Josef Tenkler, ein großer tschechischer Patriot, der für beide Ausgaben des ›České Slovo‹ schrieb, den Sängerchor »Slavík«, in dem die Baritone und Bässe mit Bürgern deutscher Nationalität besetzt waren, im Jahre 935 in einem umfangreichen Artikel attackierte, weil angeblich bei den tschechischen Beerdigungen, bei denen der Chor mitwirkte, die tschechischen Lieder mit verballhornter Aussprache gesungen würden, was der Herr Lehrer Tenkler als Beleidigung empfand. Alles, was nicht lupenrein tschechisch war, haßte der Herr Lehrer Josef Tenkler aus tiefster Seele. Daher versteht es sich von selbst, daß diese Stadt, in der es von Nationalitäten aus ganz Mitteleuropa nur so wimmelte, einen vortrefflichen Nährboden für das Wachstum seiner Haßgefühle abgab. Herr Josef Tenkler, der mich lesen und schreiben gelehrt hatte, nahm für sich das Recht in Anspruch, darüber zu entscheiden, was makellos tschechisch war und was nicht. Das war in dem verworrenen Nationalitätengemisch von Schlesisch und Mährisch Ostrau, wo sich niemand für eine untadelige Volks- und Rassenzugehörigkeit seiner Großmütter und Großväter voll verbürgen konnte, eine verdammt schwierige und undankbare Arbeit. 334
Besonders peinliche Schwierigkeiten verursachte Herrn Josef Tenkler sein eigener Familienname. Er konnte es sich nicht eingestehen, daß sich seinem Stammbaum ein unerwünschter deutscher Großvater beigesellt hatte, und das war auch der Grund, warum er den Großteil seiner Freizeit neben der künstlerischen Leitung einer Schrammelkapelle sprachwissenschaftlichen Studien widmete. Leider gelang es ihm nicht, den tschechischen Wortstamm des Familiennamens Tenkler aufzuspüren, hingegen stellte er ein dickes Wörterbuch der örtlichen Familiennamen zusammen, das er jedoch nicht zu veröffentlichen gedachte, weil er außerstande war nachzuweisen, was er gern nachgewiesen hätte: den makellos tschechischen Ursprung seines eigenen Familienamens. In dem erwähnten Artikel, in dem er die sprachlichen Mängel des Chors »Slavík« kritisierte, befaßte sich Herr Josef Tenkler vor allem mit der phonetischen Analyse des Gesangs und versuchte nachzuweisen, daß der Chor unter der Leitung des deutschen Juweliers Tietze einen Schandfleck auf dem Kultur-Horizont der Stadt darstelle. Der Vollständigkeit halber muß ich noch hinzufügen, daß der Chor »Slavík« bei deutschen Beerdigungen und vor einem deutschen Publikum unter dem Namen »Nachtigall« auftrat, vor polnischen oder jüdischen Zuhörern jedoch seine tschechische Bezeichnung beibehielt. Bei jüdischen Beerdigungen pflegte der Chor »Slavík« wunderschöne Lieder in hebräischer Sprache zu singen, was ihm reiche Geldspenden von den vermögenden 335
jüdischen Familien eintrug, denen es überhaupt nichts ausmachte, daß der Chor die hebräischen Lieder nicht mit der richtigen Aussprache vortrug, denn die meisten Israeliten beherrschten diese Sprache so gut wie nicht. Dank den Spenden der jüdischen Gemeinde konnte der Chor seine künstlerischen Ambitionen frei und unabhängig entfalten, ohne sich um die versteckten oder offenen Angriffe kümmern zu müssen, die von allen Seiten, mit Ausnahme von Seiten der Juden, gegen ihn gerichtet wurden. Seine Hauptfeinde besaß das Sänger-Ensemble auf dem »preußischen« Ufer der Oder, wo es nur unter seinem tschechischen Namen auftrat, was man dort als Provokation auffaßte, denn Mitte der dreißiger Jahre waren die »Preußischen« wieder nationalbewußt geworden; diesmal hatten sie sich gerade darauf besonnen, daß sie eigentlich niemals irgendwoanders hingehört hatten als in die große Familie der germanischen Volksstämme. Die »Preußischen« verlangten also mit Nachdruck, daß der Chor »Slavík« in ihren Gemeinden unter dem Namen »Nachtigall« auftrete und alle tschechischen, polnischen und jüdischen Lieder von seinem Programm absetze. Diese Forderung der »Preußischen« wurde damals vom deutschen Bürgertum Schlesisch und Mährisch Ostraus noch nicht unterstützt, denn die »Preußischen« galten ihm als eine Art völkischen Abfallmaterials, das die Reinheit der Rasse verderbe. Dadurch fühlten sich die »Preußischen« in die Isolation gedrängt und bemühten sich nur um so heftiger um die Gleichstellung mit der vermögenden deutschen Minderheit in Ostrau. 336
So wurde der Chor »Slavík« zur vornehmlichen Zielscheibe ihrer Angriffe, denn eine unmittelbare Attacke auf die mächtige Gruppe der Deutschen in beiden Teilen Ostraus konnten die »Preußischen« nicht wagen. Ich muß noch erwähnen, der Chor »Slavík« verfügte über ein Repertoire in vier Sprachen, und so ist es nicht verwunderlich, wenn die Artikulation tatsächlich ein wenig zu wünschen übrigließ. Damit möchte ich zum Ausdruck bringen, daß es bei diesem Chor auch hinsichtlich der deutschen Aussprache etwas haperte, denn in den Tenören waren wiederum die Tschechen in der Überzahl. Herr David Wiesenthal, der Läufer des F. C. Schlesisch Ostrau und Besitzer der Schenke »Zur Eiche«, sang die Tenor-Soli. Daher ist es begreiflich, wenn jeder, der sprachwissenschaftlich auch nur einigermaßen versiert war, dem Chor »Slavík«-»Nachtigall« am Zeug flicken konnte. Der erste Anstoß zu leidenschaftlichen Polemiken gegen diesen Chor ging also von dem aus der Feder des Herrn Lehrers Tenkler stammenden Artikel aus. In dem Augenblick, in dem die Lawine der Polemiken, Diskussionen und Beschimpfungen in Bewegung geriet, war sie nicht mehr aufzuhalten, denn niemand hatte eigentlich ein Interesse daran, das Ganze auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen. Die Juden waren so klug, sich aus der Sache herauszuhalten. Vielleicht sollte ich jenen Abschnitt von Herrn Lehrer Josef Tenklers Artikel zitieren, in dem er sich mit der phonetischen Analyse des in tschechischer Sprache gesungenen Psalmliedes befaßte: »Jen Bože k Tobě bliž, 337
můj hlas pak uslyšiš.« (»Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme.«) Der Herr Lehrer Tenkler schrieb, er sei vor Schande fast in den Erdboden versunken, als er diesen Text vom Chor »Slavík« am Grabe eines tschechischen Patrioten folgendermaßen habe singen hören: »Jéén Bóše g tob je blieš, muj hlaz pak uslyšieš …« Zwei Tage darauf, nachdem Herrn Tenklers Artikel im ›České Slovo‹ erschienen war, reagierte Herr Wenzel Deutscher, ehemaliger Spieler des S. C. Mährisch Ostrau, in der ›Deutschen Landeszeitung‹. In sprachgewandtem Stil ließ Herr Deutscher durchblicken, der Herr Lehrer Josef Tenkler sei eigentlich ein Ignorant, denn er habe nicht begriffen, daß das Tschechische eine primitive Sprache sei: sowohl lexikalisch, was man durch die Unzahl ohne jede Intuition aus anderen Sprachen übernommenen Wörter nachweisen könne, als auch grammatikalisch, denn das Tschechische weise solche Widersinnigkeiten auf wie etwa die Aktionsart des Zeitwortes, Unklarheiten in der Deklination oder die völlig unlogischen Unregelmäßigkeiten bei der Schreibung des weichen i und des harten y. Eine Sprache, so schrieb Herr Deutscher, mit der man heute noch einen Satz bilden könne wie: »Strč prst skrz krk« (siehe Seite 22), also Wörter ohne einen einzigen Vokal, dokumentiere nur das Ende ihrer Möglichkeiten. Sie bekenne sich damit zur absoluten Unfähigkeit ihrer Weiterentwicklung und müsse dadurch selbstverständlich absinken. Es ist eine Schande, fuhr Herr Deutscher fort, daß ein Gesangverein, der eigentlich den Geist deutscher 338
Kultur auch hier in dem größten Krisenherd Mitteleuropas verbreiten soll, die kostbaren deutschen Werke musikalischen und dichterischen Vermächtnisses dadurch verunstalte, daß er sie mit voller Absicht in einem ganz primitiven slawischen Akzent darbiete. Was könne man auch schon von einem Verein erwarten, so beendete Herr Deutscher seinen Artikel in der ›Landeszeitung‹, der die geheiligten Ziele einer Nation einfach ignoriere und es zulasse, daß die klassischen Werke deutscher Musik von einem Juden gesungen würden! Jeder, der damals Herrn Deutschers Artikel las, verstand sofort, daß dieser Angriff auf David Wiesenthal gemünzt war, der Herrn Deutscher auf dem Fußballplatz stets lächerlich gemacht hatte. Bei dem Pokaltreffen, zu dem der F. C. Schlesisch Ostrau gegen den S. C. Mährisch Ostrau im Jahre 935 angetreten war, hatte Wiesenthal Herrn Deutscher nicht zum Schuß kommen lassen, beim Kopfball hatte David den Deutscher um eine ganze Klasse überragt, und so wollte sich Wenzel mit diesem Artikel in der ›Landeszeitung‹ an David auf sehr unfaire Weise rächen. Dennoch wäre die Diskussion um den Chor »Slavík« vielleicht wieder abgeflaut, hätte in sie nicht Herr Dr. Henryk Staniolowský eingegriffen, der Vorsitzende des F. C. Schlesisch Ostrau und Spitzenfunktionär der polnischen Freiheitsbewegung gegen die brutale Hegemonie der Tschechen. In dem polnischen Provinzblatt ›Sprawiedliwost‹* ver-
* ›Gerechtigkeit‹ (Anm. d. Ü.)
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öffentlichte Herr Dr. Staniolowský einen Artikel mit der Überschrift: »Ostrawica granica!«* In diesem Artikel befaßte sich Herr Dr. Staniolowský mit der historischen Entwicklung der Landschaft am rechten Arm des Flusses Ostravice und wies auf die ganz augenfälligen gemeinsamen Spracheigentümlichkeiten des Schlesisch Ostrauer, Karwiner, Orlauer, Teschener, Muglinover und Peterswalder Dialektes mit dem mächtigen, großartig verzweigten polnischen Sprachstamm hin. Des weiteren bemühte sich Herr Dr. Staniolowský, den Beweis für die ungeheure Vitalität polnischer Wortkunst der hiesigen Bevölkerung zu erbringen, die ungeachtet der brutalen Unterdrückung durch die tschechische Minderheit ihre Sprache treu bewahre. Deren wunderbare Früchte fänden ihren Niederschlag in Liedern, die aus dem Bewußtsein unzerstörbaren großpolnischen Fühlens der Bewohner am rechten Arm der Ostravice hervorgingen, der ja schon immer dort hingehört hatte, wo sich diese aufrechten Menschen mit ihrem Herzen zugehörig fühlten: zu Polen. Als Beweis dafür veröffentlichte Herr Dr. Staniolowský den Text des Liedes: »In Polnisch Ostrau auf der Brücke hat der Jud ein Schwein geschlachtet.« Seinen Artikel beendete Herr Dr. Staniolowský mit einem heftigen Angriff gegen den Gesangsverein »Slavík«. Es sei eine Schande, schrieb Herr Dr. Staniolowský, daß der Chor »Slavík« zum Werkzeug grausamster nationaler
* »Die Ostravice – ein Grenzfluß!« (Anm. d. Ü.)
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Unterdrückung geworden sei, zu dem sich die tschechische Minderheit hergebe, die die slawischen Interessen dadurch verrate, daß sie sich in Gemeinschaft mit den Deutschen im Gesang betätige und dazu noch unter dem Taktstock des heuchlerischen Juweliers Friedrich Tietze. Gegen die von Herrn Dr. Staniolowský vertretenen Auffassungen opponierte Herr Tietze in der Juninummer der ›Sprawiedliwost‹ mit einer etwas zaghaften Stellungnahme, in der er versuchte, die integrierenden Ziele des Gesangvereins »Slavik« darzulegen, der vor allem zur kulturellen Annäherung sowohl der Bewohner der Stadt als auch der Umgebung beitragen wolle. Herrn Tietzes Beitrag veröffentlichte die ›Sprawiedliwost‹ in ihrer Juninummer 935 mit der Überschrift: ›Neuerliche Provokation der Deutschen! Drohende Eliminierung des polnischen Elements!‹ In der Sonntagsnummer der Abendausgabe des ›České Slovo‹ unternahm der Herr Lehrer Tenkler einen Zweifrontenangriff: gegen die ›Landeszeitung‹ und gegen die ›Sprawiedliwost‹. Dem Herrn Wenzel Deutscher warf Herr Tenkler ungenügende Vertrautheit in Fragen der tschechischen Sprachproblematik vor, wie auch das Fehlen jeder Grundorientierung im Bereiche der tschechischen Kultur. »Wenn Herr Deutscher meine Sprachstudien kennen würde«, schrieb Herr Tenkler, »könnte er nicht in der Öffentlichkeit Anschauungen vertreten, die eigentlich nur seine persönliche Ignoranz dokumentieren. Allerdings hat Herr Deutscher meine Werke auch gar nicht lesen können, da er der tschechischen Sprache nicht mächtig ist. 341
Ich erlaube mir also, den geschätzten Kollegen Deutscher auf einige Tatsachen hinzuweisen, die er wahrscheinlich mit voller Absicht in Betracht zu ziehen unterlassen hat. Die Sprache dient dem Sprechenden zur Bezeichnung außersprachlicher Realität und kennzeichnet darüber hinaus sowohl den Sprecher selbst wie auch seine sich qualitätsmäßig unterscheidende Existenz. Ich persönlich sehe als Triebkraft der Entwicklung der menschlichen Sprache den Gegensatz zwischen ihrem analytischen und synthetischen Typus an. Das Tschechische stellt den Höhepunkt dieser typologischen Auseinandersetzung dar, und zwar sowohl nach außen wie nach innen. Dieser Konflikt – darauf erlaube ich mir, besonders hinzuweisen – begann bereits vor elfhundert Jahren voll in Funktion zu treten, als nämlich die mährischen bäuerlichen Dorfgemeinschaften – dazumal unter der Führung der bedeutendsten Denker Europas – ihre eigene Sprache zu entwickeln begannen, und zwar im Gegensatz zu dem bei den als Staat konstituierten vornehmen Raubgesellen in Gebrauch stehenden, auf analytischer Basis beruhenden Sprachtypus. Wenngleich die slawischen Großherren die mährischen Bauern verrieten, so reifte dennoch der Typus einer synthetisch strukturierten Sprache dann später in dem günstigen Klima des Altkirchenslawischen zu seiner höchsten strukturellen Gestalt heran – zum Alttschechischen. Sprachinhaltlich realisierte sich das Alttschechische in der von zeitgenössischen Reformatoren angeführten revolutionären Bauernerhebung gegen das unersättliche Papsttum und dessen Allianz mit dem aggressiven, expan342
siven Deutschtum. In gleicher Weise realisiert sich auch heute die moderne tschechische Sprache.« »Herrn Deutschers Argument«, schrieb Herr Tenkler weiter, »mit dem er versucht, die Phonetik des Tschechischen lächerlich zu machen, ist ziemlich primitiv und unwissenschaftlich, wenn man bedenkt, daß sich der Autor solcher Verleumdungen als seriöser Sprachwissenschaftler aufspielen möchte, wozu er übrigens keinerlei Qualifikation besitzt. Wenn ich aber in Betracht ziehe, daß Herr Wenzel Deutscher von Beruf aus mehr als Fußballer denn als Philologe anzusprechen ist, dann kann ich allerdings dem Sportler auch einige Ungenauigkeiten und Unklarheiten nachsehen, die ich bei einem Wissenschaftler unbarmherzig tadeln müßte. Im Interesse eines wissenschaftlichen Meinungsaustausches will ich hier nicht auf so manche kehlige Nebengeräusche bei der Aussprache deutscher Wörter hinweisen, sondern führe als Beweis unendlich vieler Möglichkeiten einer Weiterentwicklung des Tschechischen nur einige Anfangsverse von Máchas ›Mai‹ an, die ich in eine der Entwicklungsvarianten einer allslawischen Sprache übertragen habe. Der empfängliche Leser wird sicher erkennen, wie sich nunmehr Máchas Verse zu ungewöhnlicher Schönheit und Erhabenheit entfalten.« Herr Tenkler publizierte dann noch weitere fünfzig Verse aus Máchas ›Mai‹, die, soviel mir bekannt ist, die tschechischen Philologen noch heute in Schrecken versetzen und ich sie hier darum nicht anführen möchte. Das obige Beispiel mag genügen. Den Abschluß dieses Artikels bildete Herrn Tenklers 343
Auseinandersetzung mit Herrn Dr. Staniolowskýs Anschauungen, in der er unwiderlegbar nachwies, daß das von Herrn Dr. Staniolowský angeführte Liedchen neuerer Herkunft, das dieser als Originalschöpfung literarischer Volkskunst der polnischen Minderheit bezeichnet hatte, eine ganz gewöhnliche Fälschung sei. Das Lied: »In Polnisch Ostrau auf der Brücke hat der Jud ein Schwein geschlachtet« und solche ähnlicher Machart wie zum Beispiel: »Verlorene Müh’, Herr, behalten Sie die Hose an, ich bin nicht zu haben, ich kenne Sie nicht«, schrieb Herr Tenkler, zeugten weniger von der künstlerischen Schöpferkraft der polnischen Minderheit als vielmehr von deren völligen Demoralisierung. Am Dienstag meldete sich Herr Wenzel Deutscher in der ›Landeszeitung‹ zu Wort. Er identifizierte sich mit der Behauptung des Herrn »Studienrates« Tenkler, diese polnischen Lieder seien Falsifikate und Zeugnisse einer Demoralisierung der polnischen Volksgruppe, doch gedenke er keineswegs von seiner Ansicht abzurücken, daß das Tschechische als Sprache degeneriert und zum Untergang verurteilt sei. Am Donnerstag gab Herr Josef Tenkler im ›České Karel Hynek Mácha: Mai.
Karel Hynek Mácha: Máj *
Uhodný d klubie byl večerný perveho maia pozdno čas. Zval na lubu herlicy hlas, kde vidniel sa kmen sosny černý. Vlubeny d šeptal tichy mech, sa lhavo slubil strom bielostny, piel slavoi roze piev lubostny, mu nesla roze duvny vzdech.
Byl pozdní večer – první máj – večerní máj – byl lásky čas. Hrdliččin zval ku lásce hlas, kde borový zaváněl háj. O lásce šeptal tichý mech, kvčtoucí strom lhal lásky žel, svou lásku slavík růži pěl, růžinu jevil vonný vzdech.
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Slovo‹ bekannt, er werde gegen Herrn Wenzel Deutscher eine Ehrenbeleidigungsklage einreichen. »Herr Wenzel Deutscher möge zur Kenntnis nehmen«, schrieb Herr Tenkler, »daß ich kein deutscher ›Studienrat‹, sondern ein ganz gewöhnlicher, rechtschaffener tschechischer Volksschullehrer bin.« In der Sonntagsausgabe der polnischen ›Sprawiedliwost‹ enthüllte Herr Dr. Staniolowsky der Öffentlichkeit die Existenz einer weitverzweigten Verschwörung der Tschechen mit den Deutschen gegen die polnische Mehrheit. Abschließend gab Herr Dr. Staniolowský in seinem Artikel bekannt, er bringe gegen Herrn Lehrer Josef Tenkler und Herrn Lehrer Wenzel Deutscher eine Klage wegen Verleumdung, Ehrenbeleidigung und Verächtlichmachung der polnischen Nation ein. Am darauffolgenden Montag brachte dann die ›Deutsche Landeszeitung‹ ein Feuilleton von Herrn Wenzel Deutscher mit dem Titel: ›Ein rätselhafter tschechischer Familienname mit auffallend deutschem Beiklang.‹ In diesem Feuilleton wies Herr Deutscher auf die Existenz des germanischen Volksstammes der Tenkterer hin, der ehemals das rechte Rheinufer bevölkert hatte * Deutsche Übersetzung von Josef Mühlberger: »Es war später Abend – der erste Mai – Maienabend – der Liebe Zeit. Die Stimme der Turteltaube lud zur Liebe ein, wo der Duft des Kiefernwaldes wehte. Von Liebe flüsterte das verschwiegene Moos, der blühende Baum tauschte Liebesleid vor, der Rose sang ihre Liebe die Nachtigall, die Rose antwortete mit ihrem Duft.«
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und durch seine kriegerischen Reiterscharen berühmt war. »Ob wohl Herr Lehrer Tenkler«, so schrieb Herr Deutscher, »nach den Tenkterern nicht nur seinen Namen, sondern auch die Kühnheit zu kämpferischen Streifzügen geerbt habe? Auf welche Weise mag der Name Tenkter wohl bis zu uns gelangt sein?« habe sich Herr Deutscher gefragt und war zu folgendem Resultat gekommen: »Nach der Niederlage der Tenkterer im Jahre 55 vor unserer Zeitrechnung, als diese tapferen germanischen Krieger in der Schlacht gegen die Legionen des Julius Cäsar unterlagen, waren einige Sippen nach Osten zurückgewichen, worauf das häufige Vorkommen des Namens Tenkter, Tenkler, Tengler im Raum des linken und rechten Oderufers hinweise. Herr Lehrer Tenkler möge doch seine Vorfahren unter diesen germanischen Volksgruppen suchen und sich auf diese Weise endgültig Aufklärung darüber verschaffen, wohin er gehöre – und woher er stamme.« Mit diesem Feuilleton hatte Herr Deutscher mit voller Absicht den tschechisch-nationalbewußten Herrn Lehrer Josef Tenkler an seiner schmerzhaftesten Stelle getroffen – und so war an einen Vergleich vor der zu erwartenden Gerichtsverhandlung nicht zu denken. Der Herr Gerichtsrat Arnošt Wurzel, ein angesehenes Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde, der die gegenseitigen Klagen zur Bearbeitung und Entscheidung zugewiesen bekam, soll sich, wie erzählt wird, vor der Verhandlung darüber beklagt haben, er wisse nicht, was er Schlimmes verbrochen habe, wenn er jetzt so gestraft werde. 346
Bei der ersten Verhandlung, als alle drei beleidigten Kläger vor ihm standen, habe er angeblich mit einem tiefen Seufzer zu ihnen gesagt: »Also meine Herren, ich habe die Akten sorgfältig studiert, habe mich bemüht, zum Kern dieser verwickelten Streitsache vorzudringen und bin schließlich zu der Ansicht gekommen, daß einzig und allein ein Vergleich …« »Niemals«, schrie Herr Josef Tenkler und war stolz darauf, sich als erster geäußert zu haben. »Niemals«, schrie auch Herr Wenzel Deutscher und schlug mit der Faust auf den Tisch, verärgert darüber, daß Tenkler ihm zuvorgekommen war. »Nie und nimmer«, überschrie Herr Dr. Staniolowský seine beiden Prozeßgegner und schämte sich, sich als letzter geäußert und die Interessen des großen polnischen Volkes so schwach verteidigt zu haben. Das Gerichtsverfahren kam auch nach der dritten Verhandlung zu keinem Abschluß, denn jetzt mischten sich auch die Zeitungen ein. Das ›Ceské Slovo‹, die ›Landeszeitung‹ und auch die ›Sprawiedliwost‹ veröffentlichten grundsätzliche Erklärungen, in denen sie in fast übereinstimmenden Ausdrücken die Unfähigkeit der Justiz anprangerten, die von einem korrupten, kosmopolitischen Judentum dirigiert werde.
23 Es geschahen noch Wunder. Anka Kocifaj verfügte über zweierlei Gaben, zumindest schien mir damals, daß das, was sie auf der Bühne ihres Vaters vorführte, perfekte Wunder seien. Anka hatte damals und besitzt auch noch heute wunderschöne Hände und Arme. Im Jahre 944, als sie achtzehn Jahre alt war, ahnte sie wohl bereits, welche Kostbarkeit sie in ihren Armen besaß. Es genügte schon, daß sie bei der Aufführung der Dramen ihres Vaters nur die Handflächen oder die Arme bewegte, und gleich wußte jeder, was sie damit zum Ausdruck bringen wollte. Damals glaubte ich, genau zu verstehen, was Anka mit ihren Armen sagen wollte; mir schien, als wären keine Knochen in ihnen, ja ich verglich sie mit Flügeln. Sobald Anka ihre Arme hob, hatte ich den Eindruck, sie müsse sich im nächsten Augenblick von der Erde loslösen und frei über den Kaninchenstall emporschweben, an dessen Wand der Schneider seine Szenen aufgebaut hatte. Anka verstand auch zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen; bis heute bin ich nicht dahintergekommen, wie 348
sie es machte. Jetzt kann Anka noch so manches andere. Wenn sie auf der Bühne steht, kommt es mir vor, als legten sich um sie unsichtbare Kreise. Zwischen mir und Anka Kocifaj befindet sich stets ein Wall von Ringen, in die Anka hineingebannt ist, ich kann nicht zu ihr vordringen, um vielleicht auch nur mit meinen Fingerspitzen ihre Arme berühren zu können. Nie, wirklich niemals konnte ich mich des Gefühls erwehren, Anka sei in ihren Ringen fest eingeschlossen und so geschützt, daß ich nie über diese hinweg zu ihr hingelangen konnte und wohl auch nie mehr hingelangen würde. Damals im Sommer 944 konnte ich es kaum erwarten, bis die Sirenen mit ihrem Geheul wieder Fliegeralarm geben würden. Ich stieg hinauf in den Verschlag über unserem Kaninchenstall, wo wir das Heu vom Rasen des F. C. Schlesisch Ostrau untergebracht hatten. Kaum waren die Sirenen verstummt, kletterte auch Anka über die kleine Leiter zu mir herauf. Sie legte sich neben mich und sagte zu mir: »Weißt du, daß ich mein Herz auf der rechten Seite habe …« Weil ich nicht ganz sicher war, wo sich das Herz normalerweise befinden sollte, so sagte ich, ich wisse nicht, auf welcher Seite ich das meine hätte. »Auf der linken Seite, natürlich«, flüsterte Anka, »auf der linken, du Dummrian.« »Wirklich?« »Tatsache, ich habe das Herz auf der rechten Seite«, flüsterte Anka, »aber es ist noch nicht lange her, da hatte ich es auf der linken. Mein Herz wandert hin und her«, 349
sagte Anka mit gedämpfter Stimme, »die eine Woche befindet es sich auf der linken, die nächste wieder auf der rechten Seite. Das macht mir Angst.« »Und kannst du denn da überhaupt atmen?« fragte ich. »Ja, natürlich«, erwiderte Anka, »aber begreif doch, mein Herz wandert hin und her … das macht mir wirklich große Angst.« »Warum gehst du dann nicht zum Arzt?« »Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, flüsterte Anka. »Wenn mein Herz so stark schlägt und hin und her wandert, bekomme ich Angst und bin darüber schrecklich unglücklich.« Dann nahm Anka meine rechte Hand in die ihre, schob sie unter ihre Bluse und legte sie auf ihre linke Brust. »Spürst du es?« fragte sie. »Nein«, erwiderte ich, »ich spüre nichts.« »Siehst du? Und jetzt versuch es rechts …« »Jetzt spüre ich es, aber nur ganz schwach«, flüsterte ich. Anka knöpfte ihre Bluse auf und forderte mich auf, es richtig zu versuchen. »Du mußt die Hand tüchtig anpressen«, flüsterte sie. Auf ihrer linken Seite spürte ich tatsächlich nichts, keine Bewegung, nur Ankas Wärme durchströmte meine Hand. »Du zitterst ja«, flüsterte ich. Aber alles um uns herum erbebte, doch ich hörte nicht die Bombenexplosion, sondern spürte nur das Beben 350
von Ankas linker Brust und die Herzschläge auf ihrer rechten Seite. »Du zitterst ja auch«, sagte Anka, bewegte aber nicht die Lippen. »Nein«, erwiderte ich, »das bildest du dir nur ein.« Aber ich mußte die Augen schließen, und kaum hatte ich das getan, sah ich sogleich unseren Fluß vor mir und die Frau mit dem aufgeschürzten Rock, die zu uns herüberwatete. Vorsichtig stapfte sie über die glitschigen Steine, ich spürte aus ihrem Atem den Gestank von Zechen und Kokereien. Aber auch die Frau inmitten des Flusses wurde von einem Beben geschüttelt, alles rings um uns erzitterte. Ich preßte meine Hand gegen Ankas rechte Brust und spürte ihr Herz. Es schlug regelmäßig, meine Hand zitterte nicht mehr, ich hatte das Gefühl, als sei ihre Haut entblößt und auch Anka habe keine Haut mehr; ihre Brust war feucht und wärmer als ihr Hals, dessen Schlagader ich mit der Zunge abtastete. »Ich bin wahrscheinlich kein normales Mädchen«, flüsterte Anka, »auch mein Vater sagt das und alle anderen … aber aus mir wird noch einmal eine große Schauspielerin werden, ich werde die Julia spielen, immer und immer nur die Julia, die engelreine Julia … spürst du mein Herz?« »Nein, ich spüre nichts«, log ich. »Dann drück die Hand fester, preß sie noch mehr an.« Ich glaubte, ihren Herzmuskel ertastet zu haben, spürte ihr Blut, wie es durch die Halsschlagader hinaufstieg. 351
Ich stellte mir vor, daß Licht in Ankas Haar war, ihr wunderschönes kastanienbraunes Haar nahm den Farbton an, der über dem Fluß hing; ich scheute mich, die Augen zu öffnen, ich sagte mir, wenn ich sie jetzt öffnete, würde ich in Ankas Haar nicht mehr das Licht sehen können. »Preß mich fester«, flüsterte Anka. Das Beben hörte auf. ›Ich versinke‹, sagte ich zu mir, ›jetzt versinke ich ganz, ich bin das Ufer, gegen das die Wellen anprallen, sie werden es aushöhlen und verschlingen.‹ Es herrschte Stille. Anka war plötzlich zum Felsen geworden, zu einem warmen, von der Augustsonne durchwärmten Felsen. »Das genügt«, sagte Anka, »das genügt wirklich.« Dann lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand, ich rede mir jetzt ein, daß sie damals überhaupt nicht zu atmen schien. Aber eine Veränderung war mit ihr vor sich gegangen, das weiß ich ganz sicher. Nie, weder damals noch heute habe ich herauszufinden vermocht, worauf ihre Verwandlungen beruhten, wo ihr Anfang und wo ihr Ende war. Jetzt kann ich mir denken, daß sich Anka in den Augenblicken ihrer Verwandlung gleichsam in sich selbst zurückzieht, auf den ersten Blick sieht das so aus, als ginge ein Wogen durch Anka, gewissermaßen das Zusammenspiel perfekter Bewegungen, deren Ergebnis eine scheinbar wellenförmige Bewegung ist, mehr ist nicht festzustellen. Erwähnenswert wäre vielleicht noch ihr Mund, er ist halbgeöffnet 352
und flüstert etwas, doch niemals habe ich den Wunsch, verstehen zu wollen, was er sagt. Ich habe Anka nie verstanden, sie entwischte mir damals und entzieht sich mir auch heute. Sooft ich mir aber Ankas Bild vergegenwärtige, sehe ich sie vor mir, wie sie an der Wand unseres Kaninchenstalls lehnt, starker Heuduft hüllt uns ein, durch die Dachritzen dringen die Gerüche vom Fluß zu uns herein, in Ankas kastanienbraunem Haar erstrahlt ein Licht. Ich möchte Anka jetzt gern noch einmal berühren, aber nun fallen wieder diese Ringe zwischen uns. Mir ist, als wäre Anka Kocifaj ständig bei mir. Aber wahrscheinlich lüge ich mir das nur vor. Anka war niemals wirklich bei mir, sie näherte sich mir nur und entschwand mir wieder sofort. Damals im August 944 bangte ich vor dem Augenblick, da die Entwarnung durch die Sirenen einsetzen würde. ›Der Krieg und die Luftangriffe sollten ewig dauern‹, sagte ich zu mir. Ich fürchtete, Anka würde mich beim Entwarnungssignal der Sirenen wieder verlassen. »Bleib bei mir«, sagte ich zu ihr. »Nein«, flüsterte Anka. »Ich gebe dir fünf Hunderter«, sagte ich vollkommen hilflos. »Du hast sie doch nicht«, erwiderte Anka lachend, »aber wenn du sie haben wirst, dann sag es mir …« Die Sirenen kündigten das Ende des Fliegeralarms an. Herr Joža Chryzcke, der polnische Tscheche oder tsche353
chische Pole, wer soll sich darin auskennen, den mein Vater, noch bevor er zum Militär einrückte, als Spieler eingekauft hatte, war unser Margarine-Abnehmer, die wir drei, Vojta Kudlatschek, Heinz Hupka mit dem lahmen Fuß und ich aus dem Depot des Hotel Palace stahlen. Vojta war aber im Jahre 944 schon so in die Breite gegangen, daß er sich nicht mehr durch das Gitter des Magazinfensters hindurchzwängen konnte, Heinz Hupka hatte in diesem Jahr besonders arge Beschwerden mit seinem eiternden Fuß, und so wurde nichts aus unseren Margarine-Expeditionen. Der Stutzer Jožax Chryzcke, Torwart des F. C. Schlesisch Ostrau, begann um diese Zeit Schuhe mit kantigen Kappen zu tragen, stand ganze Tage lang an der Ecke des Buffets »Tempo« herum, lächelte allen Frauen zu und wartete auf Gelegenheiten, seine Schwarzhandelsgeschäfte ausweiten zu können. Von dem Augenblick an, als es vorbei war mit unseren Expeditionen in das Depot des Hotel Palace, wichen wir drei dem Jožax aus. Aber einmal fielen wir dem Stutzer Chryzcke dennoch in die Hände, er zog mich zu sich heran und sagte zu mir, wenn wir glaubten, die Margarine jetzt anderswo an den Mann bringen zu können, dann würde er uns schon noch die Grundsätze eines ehrlichen Geschäftsgebarens beibringen. »Ihr verdammten Lausejungen«, sagte Joža Chryzcke lächelnd, »wahrscheinlich bietet euch irgend jemand mehr. Bildet euch aber ja nicht ein, ihr könntet mich im Stich lassen, gerade jetzt, wo mein Geschäft mit Margarine in Schwung gekommen ist. Es würde genügen, daß ich den 354
Polizisten einen Tip von dem Depot im Hotel Paláce gebe … Also überlegt euch das gut!« »Ich kann dort nicht mehr durchkriechen«, stotterte Vojta, »ich bin irgendwie zu dick geworden.« »Und ich habe einen wunden Fuß«, sagte Heinz mit schuldbewußtem Lächeln, »dieses Jahr eitert er besonders stark …« Ich schwieg, denn ich wußte, wir waren in der Falle. »Also Jungens«, sagte der Stutzer Joža lächelnd, »nächste Woche will ich drei Kartons haben, verstanden, binnen einer Woche müssen drei Kartons Margarine her, sonst …« »Sie bekommen fünf Kartons«, sagte ich, »Sie können sich auf uns verlassen.« »Geht in Ordnung, Lojzek«, erwiderte Chryzcke, »ich wußte doch, daß wir handelseinig werden.« »Aber zwei Hunderter mehr für jeden Karton«, erwiderte ich. »Sapperlot«, lachte Joža, »ihr wißt also bereits, daß die Preise wieder gestiegen sind, gut, zwei Hunderter mehr für jeden Karton.« Nachdem wir um die nächste Häuserecke gebogen waren, fiel Adalbert sogleich über Heinz her, das hätten wir nun von seinem guten Rat, wegen der beschissenen Margarine befänden wir uns jetzt in einer ganz schönen Patsche, aus der wir wohl nicht mehr herauskommen könnten. »Ich habe das gleich geahnt, als du dich zwischen uns gedrängt hast, Heinz, daß das ein böses Ende nehmen 355
wird … ich und Lojzek hätten damals Erich allein verprügeln sollen …« Heinz humpelte neben uns her, ich sah, wie ihm der Schweiß unter der Nase ausbrach und merkte, daß er Adalbert am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre, sich aber dessen bewußt war, daß er mit seinem wehen Fuß den kürzeren gezogen hätte. »Solange das mit der Margarine geklappt hat«, schimpfte Heinz aufgeregt, »hast du das Maul gehalten, hast den Kies kassiert, und alles war in Ordnung, aber jetzt, bei der ersten Schwierigkeit, geht es dir plötzlich gegen den Strich!« »Ich will nichts mehr damit zu tun haben«, sagte Vojta, »ich pfeif auf die Margarine und auch auf den Chryzcke, lieber lasse ich mir von meinem Vater wieder den Hintern verbleuen!« »Heinz und ich, wir beide können allein nichts ausrichten …« »Du willst also, Lojzek … du willst diese Margarine holen?« stotterte Vojta. »Ich brauche fünf Hunderter«, erwiderte ich, »fünf Hunderter für Anka Kocifaj, ich werde diese Margarine organisieren und meinen Spaß mit Anka haben!« »Für fünf Hunderter?« fragte Vojta und schluckte. »Für fünf Hunderter«, erwiderte ich. »Und wäre sie auch für uns zu haben … ich glaube, wenn sie von uns fünf Hunderter bekäme«, sagte Heinz, blieb stehen und zuckte mit dem wehen Fuß. Auf seiner Oberlippe stand der Schweiß in großen Perlen und Heinz leckte ihn mit der Zunge ab. 356
»Warum sollte sie für euch nicht zu haben sein«, erwiderte ich, »wenn jeder von uns fünf Hunderter vorzeigen kann …« »Also wann steigen wir ein, um diese verdammte Margarine zu holen«, sagte Vojta, »ich werde es noch einmal durch das Gitter versuchen!« Nachdem ich alles mit Anka für einen Sonntag im September 944 abgesprochen hatte, dachte ich bei mir: ›Du wirst ganz schön ins Beben kommen, Anka, du wirst mir unter den Händen beben, und keine Sirenen werden uns mit ihrem Fliegeralarm stören, du wirst Licht im Haar haben, und ich werde es auslöschen.‹ An jenem Sonntag verkrochen wir uns also alle drei im Heu über unserem Kaninchenstall. Zuerst losten wir die Reihenfolge aus, als erster sollte Heinz Hupka drankommen, dann Adalbert, zum Schluß ich. ›Das ist fein‹, sagte ich zu mir, ›ich werde Anka das Licht im Haar auslöschen, ich werde es ersticken.‹ Es kam jedoch nicht dazu, ich habe Ankas Licht nicht ausgelöscht. Nie mehr habe ich ihr Licht ausgelöscht. Ankas Wärme bleibt immer bei mir. Ich fühlte sie auch in jener Aprilnacht des Jahres 945, als man an uns, dreißig siebzehnjährige Jungen aus der deutschen Oberschule, Gewehre und gef lickte Soldatenmäntel ausgab, und wir nach Absingen des Deutschlandliedes den Oderfluß überquerten, um auf 357
der anderen Seite die russischen Panzer aufzuhalten. In die Scheune, in der wir auf der nackten Erde schliefen, brachte man uns gegen Morgen Tee mit Rum. Der Militärkoch scheute sich, uns in die Augen zu schauen. »Das ist doch nicht die Möglichkeit«, flüsterte er, »das kann doch nicht wahr sein …« Ich spürte den heißen Tee durch das Blech der Eßschale hindurch. Die Erinnerung an Anka stieg in mir auf; ich erblickte sie über dem nächtlichen von Lichtschein erhellten Horizont. An die Wand gelehnt, stand sie da, Licht im Haar, ihre Arme glichen Engelsflügeln. Ich nippte an meinem heißen Tee; Kurt Wagner saß beim Scheunentor, und als es am Horizont aufleuchtete, konnte ich einen Augenblick lang sein Gesicht sehen: Angst vor Kurt überkam mich. Heinz Hupka mit dem wehen Fuß neben mir schlürfte seinen Tee und heulte. Die Wunde näßte, aber da war nichts zu machen gewesen, er hatte Gewehr und Mantel erhalten und hatte mit uns mitziehen müssen. Vojta, vielmehr Adalbert Kudlatschek, hockte zu meiner Rechten, wies den Tee zurück und starrte ins Dunkel vor sich hin. Ich sagte zu Kudlatschek: »Heinz ist total fertig, er hat eine Scheißangst.« Genugtuung erfüllte mich, wenigstens das noch sagen zu können. Adalbert spuckte aus und erwiderte, Heinz sei schon von jeher ein Angsthase gewesen, er habe immer schlapp gemacht, genauso wie damals … »Nein«, sagte ich, »damals war das etwas ganz anderes.« 358
»Einen Dreck«, erwiderte Adalbert, »er hat schlapp gemacht und damit basta.« Ankas Schenkel hatten damals weiß geschimmert, ich grübelte nach, womit ich sie wohl vergleichen könnte. ›Schenkel aus Marmor‹, sagte ich zu mir, ›aus carrarischem Marmor, oder aus erstklassigem Wachs, aus Alabaster, Schenkel aus Vaters Brotteig, Schenkel wie …‹ »Der Heinz ist mir schnurzegal«, flüsterte Kudlatschek, »jetzt denke ich nur an mich selbst und an das einzige Weibsbild, das ich ganz nackt gesehen habe … ich hatte damals großes Pech, Lojzek, warum nur habe nicht ich die Nummer eins gezogen, sondern ausgerechnet Heinz, dieser Blödian, ich bin doch schon siebzehn und noch immer habe ich kein Weibsbild gehabt, verdammtnochmal, ist das ein Pech! Und was schert mich denn der Heinz, er hat. damals schlapp gemacht und heute ebenfalls …« »Wir kommen schon noch an die Reihe«, sagte ich zu ihm, »hab keine Angst, wir werden es noch genießen …« »Ich beneide den Heinz«, ereiferte sich Adalbert, »ich beneide dieses hinkende Miststück …« »Er ist doch mit seinem wehen Fuß ein Krüppel«, erwiderte ich, »bei dem gibt es nichts zu beneiden.« »Auch darum beneide ich ihn«, sagte Adalbert und war nicht zu bremsen, »er braucht nur seinen schwärenden Fuß vorzuzeigen, und schon fallen alle vor ihm auf den Arsch. ›Du armer Junges sagen sie, ›du Armer …‹ Anka hat damals auch zu ihm gesagt: ›Du mein armes Herzchen‹… und Heinz hat die Nummer eins gezogen, das ist doch ungerecht!« 359
»Mach die Augen zu, Vojta«, sagte ich zu ihm, »schlaf jetzt ein bißchen. Wir werden dann wieder einen klaren Kopf bekommen. Laß dir einen Tee mit Rum geben, der hilft dir bestimmt.« Wir lehnten unsere Rücken gegeneinander, um uns zu wärmen. Sowie ich Adalberts Wärme spürte, fühlte ich Angst in mir aufsteigen. Eine klebrige Angst setzte sich in meinem Haar fest, und als ich mit meinen Fingern hineinfuhr, waren sie ganz feucht. »Hast du Angst?« fragte mich Adalbert. »Ja, ich schwitze vor Angst«, erwiderte ich. »Ich habe auch Angst«, ließ sich Heinzens Stimme aus dem Dunkel vernehmen. »Du halt dein Maul«, fuhr ihn Kudlatschek an, »heul soviel du willst, aber halt gefälligst dein Maul!« Nach einer Weile schüttelte mich jemand an der Schulter. Der Morgen begann bereits zu dämmern. »Es ist saukalt hier«, sagte ich. Kurt Wagner stand vor mir. »Steh auf«, befahl er mir, »wir wollen zusammen das Terrain auskundschaften. Mir kommt das irgendwie verdächtig vor. Die Feldküche ist in der Nacht abgedampft, die haben sich verdrückt, die Verbindungspatrouille ist nicht erschienen, das gefällt mir nicht …« »Aber warum gerade ich?« fragte ich Kurt leise. »Du willst wohl ebenfalls verduften?« sagte Kurt. »Ich sehe es dir an den Augen an, du willst abhauen.« ›Und was ich dir erst an den Augen ansehe‹, dachte ich bei mir, ›wenn ich dir das so sagen könnte, du würdest 360
dich wundern, Kurt. Noch sage ich es dir nicht, weil ich immer noch Angst vor dir habe.‹ Ich erhob mich und sagte: »Los, gehen wir!« Draußen tagte es bereits. Vom Fluß herüber, den Erdboden entlang, drang Kälte zu uns, aber der Himmel war blau, nur im Osten zerriß das Blau und nahm einen weißen Schimmer an. Alle Geräusche pflanzten sich am Erdboden fort, stießen gegen meine Stirn, und dort erst vernahm ich sie. Aus der Ferne, zu unserer Linken, hörten wir das Geräusch von Panzern. »Komm, gehen wir«, sagte Kurt. Ich blieb stehen und erwiderte: »Kurt, laß uns jetzt nicht Soldaten spielen, du kannst mir ruhig wie damals auf dem Hühnerring das Maul einschlagen, aber ich sag dir: laß uns nicht Soldaten spielen!« Der Panzerlärm von links kam näher. »Vielleicht sind das die Unsern?« sagte ich. »Wer sind für dich eigentlich die Unsern?« fragte Kurt und hob sein Gewehr. Ich mußte lachen. ›Eine gute Frage‹, dachte ich, ›eine ausgezeichnete Frage, Kurt. Vielleicht möchtest du gerne von mir hören, daß die Russen für mich die Unsern sind, aber das werde ich dir nicht sagen, obwohl ich gerade jetzt die größte Lust dazu hätte, dir ins Gesicht zu schreien: Jawohl, Kurt, die Russen sind für mich die Unsern. Doch dann würdest du mich erschießen, Kurt. Ich weiß, ich falle dir auf die Nerven, und das schon von dem Augenblick an, als ich das Malheur mit meiner Hose auf dem Appellplatz 361
hatte … aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob du mich jetzt erschießen würdest, du hast zwar wieder harte Augen, doch ich weiß nicht, ob nicht doch schon ein Fünkchen Angst in ihnen sitzt. Ich werde warten, bis es heller geworden ist. Fortwährend drängt mich etwas, dir, Kurt, zu sagen: Ja, die Bolschewiken sind für mich die Unsern. Aber ich sage es nicht. Denn wenn ich es sagte, dann käme dir das nur gelegen. Du könntest dich dann darauf berufen, du hättest schon immer mit deiner Behauptung recht gehabt, ich sei so ein halber Bolschewik. Sicherlich würdest du mich erschießen und könntest dir dein ganzes Leben lang – vorausgesetzt, daß du das hier überlebst – einreden, du hättest nur deine Pflicht getan. Niemand würde dich dann noch überzeugen können, daß du dich selbst belogen hast. Ich könnte dir auch sagen, die Deutschen seien für mich die Unsern. Aber in diesem Augenblick würdest du die Ohren spitzen und zu dir sagen: Ich muß auf diesen Bastard achtgeben, der verstellt sich nur. Und darum will ich lieber schweigen, Kurt. Ich lasse dich darüber im unklaren. Wenn du mich abknallst, wirst du dein weiteres Leben lang – wenn du wirklich davonkommen solltest – ständig an mich denken müssen und wirst dir nie sicher sein, ob du mich zu Recht abgeknallt hast.‹ Doch dann ließ es mir keine Ruhe, und ich sagte zu ihm: »Ich habe nirgends die Meinen, ich gehöre nirgends hin, es ist mir völlig egal, was für Panzer vorbeikommen, ich werde auf sie schießen, wem immer sie auch gehören.« Kurt und ich standen uns gegenüber, der Lärm der 362
Motoren und das Geräusch der Panzerketten kam immer näher. Kurt Wagner blickte um sich. »Kurt«, flüsterte ich, »wir sind in der Falle, wir sind beide in einer verdammten Falle, wenn du nur einen Funken Verstand hättest …« »Verkriech dich«, sagte Kurt. Wir versteckten uns beide in einem Hohlweg. Wir befanden uns im Schatten, aber über uns oberhalb des Nebels schien bereits die Sonne. Dann erblickten wir die Panzer. Sie schwankten an uns vorüber übers Feld in Richtung Norden. »Die Russen«, sagte Kurt. »Komm, wir wollen herauskriechen, Kurt, kriechen wir heraus!« Zwar verspürte ich keine große Lust, den Hohlweg zu verlassen, ich hatte Angst, aber stärker noch als meine Angst war meine Hoffnung, im vollen Tageslicht endlich in Kurts Augen noch etwas mehr zu erblicken; mir kam vor, daß in ihnen tatsächlich eine Veränderung vor sich ging, Angst schien in ihnen aufzutauchen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an Kurts Augen. Ich kroch aus dem Hohlweg heraus und schoß auf die Panzer. Und ich freute mich darüber, daß Kurt jetzt total fertig war. Ich vernahm nicht die Detonationen in meinem Rükken, ich schoß, und die Sonne schien mir ins Gesicht, die Nebel lichteten sich. Und der Boden unter meinen Füßen erzitterte, und 363
mit einem Male breitete sich jetzt überall das Licht aus, das Ackerfeld nahm die Farbe von Ankas Haar an. Ich schoß ins Licht, wollte den Glanz über dem Ackerfeld auslöschen, jeden einzelnen schimmernden Tautropfen treffen. Ich war froh darüber, daß Heinz Hupka damals bei Anka die Nummer eins gezogen hatte. Zufrieden mit mir selbst, hatte ich noch Ankas Stimme im Ohr, die gesagt hatte: ›Ich weiß nicht, Jungens, ob ihr euch das nicht überlegen solltet, ich weiß nicht, ich weiß nicht …‹ Adalbert hatte erwidert, was abgemacht sei, das gelte, und Hupka mit dem wehen Fuß gehe als erster. »Wenn mir aber der Fuß doch so weh tut«, hatte Heinz eingewendet, »vielleicht könnte ein anderer von uns …« »Gib doch Ruhe mit deinem Fuß«, hatte ich ihm erwidert, »du redest dich ständig auf deinen Fuß heraus, den wirst du doch dazu nicht brauchen.« »Das ist also der erste?« hatte Anka gefragt und Heinz angesehen. »Ich … ich möchte eigentlich nicht der erste sein«, hatte Heinz gestottert, »mir tut der Fuß weh …« Aber Anka hatte sich plötzlich aufgerichtet, ich glaube, sie war bisher gebückt und ganz verlegen dagestanden. »Also komm, mein Herzchen mit dem wehen Fuß«, hatte Anka zu Heinz gesagt und ihn umarmt. Dann hatte ich ihre weißen Schenkel erblickt, Schenkel aus Marmor, aus Alabaster, Schenkel aus Teig, aus dem der Vater das Brot knetete. »Vojta«, hatte ich zu ihm gesagt, als wir beide abseits, 364
mit dem Gesicht zur Wand, dastanden, »Vojta, das ist aber ungerecht, das konnte das Los doch unmöglich entscheiden … da doch Heinz wirklich einen wehen Fuß hat …« Vojta hatte geschwiegen und verbissen zur Wand geblickt. Und nun hatte auch ich geschwiegen. Wir hatten gar nicht bemerkt, daß Heinz zu uns zurückgekommen war. »Jungens«, hatte er leise gesagt, »ich … ich …« Unter seiner Nase war ihm der Schweiß ausgebrochen und war in großen Tropfen auf seine Lippe herabgeronnen. Heinz hatte seine Oberlippe abgeleckt, sein Kinn hatte gezittert. Im Hintergrund des Schuppens hatte sich Anka bereits angezogen. »Das war also das erste und letzte Mal«, hatte sie gesagt, dem Weinen nahe, »das letzte Mal. Hier habt ihr euer Geld zurück, ich will es nicht haben …« »Behalt die Moneten«, hatte ich erwidert. Adalbert hatte geschwiegen. Dann war Anka weggegangen. Stumm waren wir im Heu dagesessen, nur Heinz hatte gesagt, der Fuß schmerze ihn. »Er blutet, ich bin vollkommen hin«, hatte er gesagt. »Jetzt kann er dir schon direkt beim Hintern abfaulen«, hatte Kudlatschek wütend darauf erwidert. »Jetzt kann dir bereits alles egal sein, du hast es hinter dir …« »Ich möchte mir jetzt am liebsten den Fuß abnehmen lassen, wirklich, ich möchte mich von ihm befreien, meine Herrschaften, hat vielleicht einer von euch eine Zigarette für mich?« 365
Ich reichte Heinz eine Zora. »Kannst du mir Feuer geben?« hatte er gefragt. »Verdammt«, brauste ich auf, »was willst du denn noch, zum Teufel, was wirst du noch alles haben wollen?« »Nichts mehr, jetzt bin ich zufrieden«, hatte Heinz erwidert. »Mir ist schon alles egal, und wißt ihr, Leute, was sie zu mir gesagt hat? Ich sei ihr erster unberührter Junge gewesen. Der erste und letzte, mit euch will sie nichts mehr zu tun haben, selbst wenn ihr ihr einen Tausender dafür bietet …« »In Ordnung, Heinz«, hatte ich ihm darauf gesagt, »reden wir nicht mehr davon.« Ich war ganz betreten gewesen, hatte genau die Bewegung gesehen, mit der Anka unsere fünfzehnhundert Kronen gepackt hatte, mit der Bewegung eines Raubtieres, in der dennoch eine gewisse ungeduldige Unsicherheit zum Ausdruck gekommen war (ach, wie gut kannte ich doch Ankas Bewegungen!). Anka war sich nie ganz sicher, ob sie das, was sie in Händen hielt, nicht schon im nächsten Moment wieder verlieren würde. Damals hatte ich mir eingeredet, sie hätte dieses Geld, wenn ich und nicht Kudlatschek es ihr übergeben hätte, ganz anders in Empfang genommen. Bestimmt hätte sie die Banknoten eine Weile frei auf ihrer Handfläche liegen lassen, hätte erst dann die Hand langsam geschlossen und sie die ganze Zeit über, während sie sich mit Heinz liebte, geschlossen gehalten, um die Hand erst wieder daheim langsam zu öffnen; die Banknoten wären dann bereits von ihrem Schweiß ganz durchtränkt gewesen. 366
Ich hätte daran nicht denken dürfen, denn ich bekam eine Wut auf Heinz. Am liebsten hätte ich ihm damals einen Tritt in seinen wunden, eiternden Fuß versetzt. »Die Auslosung war ungerecht«, hatte ich gesagt, aber keiner der beiden hatte mir noch zugehört. Heinz war rauchend dagelegen und hatte gesagt: »Ich habe es schon hinter mir, und ihr beide könnt mir den Buckel herunterrutschen.« Ich hatte mich über Heinz gebeugt, mir war gar nicht in den Sinn gekommen, ihn zu schlagen, aber als ich sah, wie Hupka vor mir erschrak, den Kopf nicht abzuwenden vermochte, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen, hatte ich zu ihm gesagt: »Du verfaulst, Heinz, du verfaulst von unten her …« »Laß mich in Ruhe«, hatte Heinz erwidert, »laß mich in Ruhe«, aber es war ihm anzusehen gewesen, wie er sich gegen seine Angst wehrte. Heinz fürchtete sich vor mir, gleich von dem Augenblick an, als er erfuhr, daß ich ein erstklassiges Medium sei, hatte er mir Fähigkeiten zugeschrieben, die ich wahrscheinlich gar nicht besaß. »Du bist irgendwie blaß«, sagte ich damals zu ihm, »du schwitzt mehr als sonst, Tatsache, du schwitzt ganz schön, und dein Fuß fault, blutet und fault …« »Laß mich in Ruhe«, hatte Heinz matt erwidert, aber schon hatte ich bemerkt, wie seine Abwehrkräfte nachließen und ihm die Augen langsam zufielen. »Dein Fuß fault, Heinz«, hatte ich wiederholt, »du bist irgendwie geschwächt, Heinz …« »Nein«, versuchte Heinz damals aufzuschreien, doch die 367
Luft blieb ihm weg, seine Augen füllten sich mit Tränen, die ihm unter den geschlossenen Lidern hervorquollen. »Dein Fuß blutet, wir werden dir das Fußerl direkt vom Popo an abschneiden«, flüsterte ich, »wir werden es abschneiden, bevor es ausblutet …« Heinz lag schweratmend da, auf sein Gesicht traten rote Flecken, seine Oberlippe war feucht von Schweiß, er öffnete ein wenig den Mund und versuchte, den Schweiß abzulecken, aber dazu war er nicht mehr in der Lage. »Mach die Augen zu, Heinzi«, sagte ich zu ihm. Gehorsam schloß Heinz die Augen. »Beiß dich in die Oberlippe«, flüsterte ich. »Ich will nicht … ich will nicht!« »Ich sage dir, beiß dich in die Oberlippe!« Ich sah, wie Heinz seine Oberlippe zwischen die Zähne schob. »Fest darauf beißen, Heinzi«, flüsterte ich, »richtig darauf beißen … jetzt nähert sich uns eine Frau, sie watet mit aufgeschürztem Rock durch den Fluß zu uns herüber, sie hat dicke, rötliche Schenkel, Brüste wie Felsblöcke, sie schwitzt und ihr fettiges Gesicht glänzt … siehst du sie, Heinzi?« »Nein, ich sehe sie nicht«, flüsterte Heinz, »nichts sehe ich …«, sagte Heinz, löste aber nicht seine Lippe von den Zähnen. »Aber du riechst den Fluß, die Dünste aus dem Fluß, den Gestank aus den Kokereien, du hörst Herrn Tenkler, er spielt im Gartenrestaurant Tschaikowskis Klavier-Konzert in b-Moll …« »Ja, ich rieche die Dünste aus den Kokereien, ich höre 368
Herrn Tenkler … alles rieche ich, alles höre ich … laß mich, bitte, in Ruhe, laß mich in Ruhe …« »Und jetzt siehst du Erich, bestimmt mußt du ihn sehen, wie er geduckt beim Geländer steht, als wir ihn verprügelten … du bist ein Schwein, Heinzi, ein ganz gemeines Schwein …« »Du hast ihn ja auch verprügelt«, flüsterte Heinz und befreite seine Lippe, »und Adalbert hat ihm auch ganz schön zugesetzt.« »Heinzi«, sagte ich zu ihm, »das kann ich dir nicht verzeihen, das auf keinen Fall!« »Zum Teufel«, flüsterte Vojta, »hör auf damit, Lojzek, laß das sein!« »Diese Frau kommt zu uns, Heinzi«, fuhr ich fort, »sie kommt zu uns, legt sich vor dir auf den Rücken, spreizt die Schenkel, aber du wirst nicht können, Heinzi, denn dein Fuß fault, du verblutest …« »Nein«, schrie Heinz auf und öffnete die Augen, er sah um sich und leckte sich endlich mit der Zunge die Oberlippe ab. Dann stieß er mich heftig beiseite und lief ins Freie davon. »Zum Teufel«, flüsterte Vojta, »wir wollen lieber verschwinden, das hat doch keinen Wert.« Heinz lehnte im Hof draußen an einer Wand. Er heulte, und es war ihm wahrscheinlich übel. Ich schoß in den Brennpunkt der Lichtstrahlen, sie stiegen am Horizont empor und trafen mich direkt an der Wunde unter meinem Hals. Als mir der Schmerz unerträglich schien, kehrte ich 369
in den Hohlweg zurück. Kurt Wagner lag noch da und fragte mich, ob ich nun von diesem Krieg genug hätte. »Nein«, erwiderte ich. »Noch habe ich nicht genug. Jetzt beginnt erst alles.« Kurt und ich krochen auf allen vieren ein Stück zurück. Dort, wo noch in der Nacht die Scheune gestanden hatte, war nur verkohltes Gebälk übriggeblieben. Und so begaben wir uns beide zum Fluß. Es mochte ungefähr Mittag gewesen sein, als ich zu Kurt sagte: »Jetzt muß ich gehen.« »Geh nur«, erwiderte Kurt, »aber wohin willst du gehen?« »Heim«, sagte ich, »ich werde die Flinte wegwerfen und die Oder durchwaten.« Kurt Wagner senkte den Kopf. »Mensch, nimm mich mit«, bat er, »nimm mich mit …« »Nein Kurt«, erwiderte ich, »das mußt du allein ausfressen.« Ich drehte ihm den Rücken und verließ ihn, oberhalb der Brücke befand sich eine Furt. Kurt Wagner folgte mir auf fünfzig Schritt Entfernung. Sobald ich stehenblieb, hielt auch er inne. Zwischen uns lag ein feiner Frühlingsnebel. Wir blickten einander an. Die Sonne stand direkt über Kurts Kopf. Irgendwer hinter mir schrie mich an: »Hände hoch!« Prima, sagte ich mir, das ist ein gutes Ende. Ich warf mein Gewehr ins Wasser und hob meine Hände. Dann drehte ich mich langsam um und erblickte etwa zwanzig Schritte vor mir den Herrn Magister Votoček 370
aus unserem Haus, der seine Maschinenpistole auf mich gerichtet hielt. »Um Himmels willen, Lojzek«, sagte er, »was machst du denn hier?« »Jetzt schon nichts mehr«, erwiderte ich, »ich bin auf dem Heimweg.« Ich fragte mich, ob Herr Votoček wohl auch Kurt gesehen hatte, aber wahrscheinlich nicht, denn der Herr Magister hielt die Waffe gesenkt. Ich drehte mich ein wenig zur Seite und erblickte Kurt im Schatten eines Weidengebüsches, das Gewehr auf Herrn Votoček gerichtet. »Kurt«, rief ich ihm zu, »laß das sein! Laß das, und komm zu uns her!« Kurt senkte sein Gewehr und trat aus dem Versteck heraus. »Der hier gehört zu dir?« fragte Herr Votoček. »Nein«, erwiderte ich, »ich gehe heim, und der marschiert nur hinter mir her.« Ich hätte auch sagen können, Kurt gehöre nicht zu mir, aber ich wollte nicht lügen, damals hatte ich überhaupt keine Lust zu lügen, noch des langen und breiten zu erklären, wer zu wem gehörte und warum. Kurt Wagner kam bis zu uns heran und legte sein Gewehr auf den Erdboden. »Lassen Sie mich jetzt gehen, Herr Votoček«, sagte ich zu ihm, »ich will heim.« »Geh nur«, erwiderte der Herr Magister. »Und was geschieht mit dem da?« fragte ich und deutete mit einer Kopfbewegung auf Kurt. 371
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte Herr Votoček. »Lassen Sie ihn laufen«, sagte ich. Kun Wagner senkte den Kopf. ›Auch darauf habe ich gewartet‹, dachte ich, ›Kurt hat den Kopf gesenkt, er ist mit seiner Schnauze unten durch.‹ »Meinetwegen kann er gehen«, sagte Herr Votoček, »ich lasse ihn laufen.« »Kurt, du darfst gehen«, wandte ich mich an ihn, »aber folg mir nicht mehr, hier trennen sich unsere Wege. Leben Sie wohl, Herr Votoček«, sagte ich und stieg in den eisigen Fluß. Sein Wasser reichte mir bis zu den Knien, es war trüb. Die Ölflecken an seiner Oberfläche bildeten seltsame Formen, ich glaubte, es sei von Blut gerötet, doch das war nicht der Fall, nur die untergehende Sonne spiegelte sich in dem trüben Wasser. Erst jetzt merkte ich, daß der Abend zu dämmern begann. Das jenseitige Ufer des Flusses lag verlassen da, ins Weidengebüsch hatte sich bereits die Dunkelheit eingenistet. Den Lärm vom anderen Ufer vernahm ich nicht mehr. Sobald ich die Straßen unserer Stadt betreten hatte, umgab mich die Stille der Geborgenheit. Ich stellte mir vor, die Stadt schließe mich in ihre Arme, biete mir durch ihren Rücken sicheren Schutz, jede Straße geleite mich sicher heim. Ich streifte meinen Soldatenmantel ab und breitete ihn über einen Gully. Ich war zufrieden, unter meinen Füßen das Pflaster der Stadt zu spüren, wieder die Dünste von den Kohlenhalden, aus den Zechen und Kokereien zu atmen. 372
Ich dachte an Kurt. Er war auf dem anderen Ufer der Oder zurückgeblieben. Und ich dachte auch an Herrn Votoček. Nachdem ich die Oder überquert hatte, war ich noch ein Stückchen am Fluß entlang weitergegangen. Auf dem anderen Ufer waren Herr Votoček und Kurt marschiert, Kurt drei Schritte voran, Herr Votoček hinter ihm drein. Dann waren sie beim ersten Bauerngehöft in Ludvíkovice angelangt. Dort war Kurt stehengeblieben, Herr Votoček ebenfalls. Kurz darauf hatte der Herr Magister die Waffe fallen lassen und die Hände gehoben. Aus dem Schatten waren deutsche Soldaten aufgetaucht, ich sah noch den silbernen Halbmond der Feldpolizei auf ihrer Brust aufblitzen. Ich konnte nichts hören, sah nur, wie Kurt den Arm hob und auf den Herrn Magister wies. Dann zeichnete sich an der weißen Wand des Bauerngehöftes auf dem gegenüberliegenden Ufer Herrn Votočeks Gestalt ab. Der Herr Magister schrie etwas und weinte. Einer der Soldaten streckte den Herrn Magister mit einem Kopfschuß nieder. Dann herrschte Stille. ›Wo wohl Kurt geblieben war?‹ dachte ich, ›ob er es geschafft hat, ans andere Ufer zu gelangen?‹ Dann versuchte ich, mir darüber klarzuwerden, was ich alles auf dem linken Ufer der Oder zurückgelassen, was ich mit mir herübergebracht hatte und was noch hinter mir hergewatet kommen mochte. Alles in mir klang in feinen Vibrationen nach: die 373
Musik vom Fußballplatz, die Lichter über der Tribüne des F. C. Schlesisch Ostrau, ich spürte den Rhythmus von Ankas Wärmewellen. Geduldig wartete ich, bis die Sonne an diesem letzten Aprilmorgen des Jahres 945 aufgehen würde. Ich wußte, der hereinbrechende Tag würde durch das schmerzende Loch unter meinem Hals in mich eintreten und wünschte mir sehnlichst, die Morgendämmerung und der Sonnenaufgang mögen sich mir mit den grazilen Bewegungen einer Ballettänzerin nahen, und wünschte mir auch, daß sie es verstünde, ihre Arme in gleicher Weise auszubreiten, wie das nur Anka Kocifaj konnte. Ich wünschte mir, die Morgendämmerung möge ihre Schleier über mich werfen, durch die ich, in sicherer Geborgenheit, nur von ferne, Stimmen vernehmen und in Nebel getauchte Bilder erblicken würde, von denen ich, je nach Wunsch, irgendwelche auswählen oder sie auch vergessen könnte.
24 Gelegenheit macht Diebe, sagt man. Und wer macht die Gelegenheiten? Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern auch Heilige, Geschäftsleute, Fußballer, Prediger, Bäcker und alles andere. Ich glaube auch, bei diesem ganzen verdammten Schwindel mit den Gelegenheiten kommt es darauf an, in welcher Reihenfolge jeder von uns an diese Gelegenheiten, die doch allerlei aus uns machen können, herankommt. Eine Gelegenheit stelle ich mir wie einen riesigen Pfannkuchen vor, den der himmlische Kuchenbäcker auf einem Brett auf die Erde herabgeschoben hat, und es dann nur noch darum geht, möglichst nahe an das Kuchenbrett heranzukommen. Die letzten in der Reihe können sich in der Regel nur noch den Mund abwischen. Gelegenheit macht tatsächlich vor allem Diebe aus uns. Schon dadurch, daß wir die Gelegenheit beim Schopf packen und versuchen, aus dem Kuchen ein möglichst 375
großes Stück für uns herauszuschneiden, stehlen wir dieses den anderen. Das ist eine Tatsache, und daher ist es sinnlos, moralisierende Anmerkungen darüber zu machen. Ich kann auch keinen Rat geben, wie man das besser einrichten könnte, damit wirklich alle von dem fetten Pfannkuchen etwas abbekämen. Das soll aber nicht meine Sorge sein. Auch stelle ich nur fest: Man hat mich bis an das äußerste Ende der Reihe abgedrängt, so werde ich niemals mehr an eine richtige Gelegenheit herankommen. Nie hatte ich die Möglichkeit, mich so richtig in eine Gelegenheit zu verbeißen, und so verlor ich im Laufe der Jahre die Lust, mich näher an das Brett heranzudrängen. Ich lebe also ohne jede Möglichkeit, an Gelegenheiten heranzukommen, von denen ich nichts anderes weiß als nur das, was mir andere darüber gesagt haben: Eine günstige Gelegenheit sei angeblich die Voraussetzung von allem, man müsse sich nur an sie herandrängen, sich in sie verbeißen und nicht lockerlassen, selbst wenn man blutiggeschlagen würde. Anders wäre das nicht zu machen. Doch es geht auch anders. Ich kann zwar nicht genau sagen, wie das zu bewerkstelligen sei, aber ich habe herausgefunden, für mich besteht die einzige Möglichkeit darin, auf alle Gelegenheiten zu pfeifen. Wie viele Gelegenheiten hatten sich Herrn Hyneš geboten! Er hatte sie alle ergriffen, sozusagen mit den Zähnen festgehalten, eigentlich aber von keiner etwas profitiert. Erst die letzte dieser Gelegenheiten bot Herrn 376
Hyneš etwas Positives, doch das war wirklich nur ein Zufall, das Zusammentreffen von besonderen Umständen, die nach dem Jahre 945 eintraten. Im Jahre 936, drei Monate vor dem berühmten Langstreckenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour, hatte Herr Hyneš nur beschränkte Möglichkeiten: Er trat dem tschechoslowakischen Turnverein »Sokol« bei, steigerte die Intensität seines Trainings und widmete dann seine freien Abende der Abfassung von Zeitungsartikeln über die Bedeutung des bevorstehenden Wettkampfes. Herr Hyneš überschwemmte im wahrsten Sinne des Wortes die Redaktionen aller tschechischen, polnischen und deutschen Zeitungen der Stadt mit seinen Beiträgen. Überdies knüpfte er Verbindungen mit mehreren Firmen an, denen er versprach, nach seinem siegreichen Wettkampf, nach dem die Popularität seiner Person gestiegen sein würde, ihre Waren zum Kommissionsverkauf zu übernehmen. Anfang August war also für Hyneš der große Tag gekommen. Vor dem Start am Sonntag zum Langstrekkenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour brachte die Abendausgabe des ›České Slovo‹ eine umfangreiche Ankündigung, dieser Start zum größten LangstreckenWettkampf der modernen Sportgeschichte werde in der Pause nach der ersten Halbzeit der Fußballmeisterschaftsbegegnung auf dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau stattfinden. Die Strecke führe von Schlesisch Ostrau aus über die Brücke nach Mährisch Ostrau, von hier dann weiter in Richtung Freistadt unter dem Radhošt nach Zlín, wo die Bataˇ für die Erfrischung und Unterbringung der Wettkämpfer sorgen werde. Am nächsten Tag, so 377
schrieb das Abendblatt des ›České Slovo‹, würden die Wettläufer durch Boskowitz kommen, wo die Ortsgemeinde der Faschistischen Partei den tapferen Läufern einen festlichen Empfang bereiten werde. Dann würden die Wettkämpfer ihren Lauf über Brünn nehmen und gegen Abend Nikolsburg erreichen, wo sich Herr Kovatschek um die Sportler kümmern werde. Der Start nach Wien sei für den frühen Morgen angesetzt, auf dem Opernring würden die Wettkämpfer wenden, und die Wiener Sokolgemeinde werde für ihren würdigen Empfang Sorge tragen. Entlang derselben Strecke sollten dann die Läufer nach Schlesisch Ostrau zurückkehren, wo sie am Samstagnachmittag auf dem Platz des F. C. eine festliche Begrüßungsfeier erwarte. Die Meldeliste zum Start sei noch nicht abgeschlossen, schrieb die Abendausgabe des ›České Slovo‹, doch könne man schon heute vor allem Herrn Karel Hyneš, den ehemaligen Spieler des F. C. Schlesisch Ostrau, als Favoriten nennen, über dessen sportliche Qualitäten auch in Fachkreisen keinerlei Zweifel bestünden. Für Herrn Hyneš zeuge überdies auch Herr Freddy Bogner, Inhaber des Warenhauses in Mährisch Ostrau, der auf seinen Sieg setze und der diesem wackeren Sportler in Aussicht gestellt habe, er könne im Falle seines Siegs im ParadeSchaufenster der Firma verschiedene Garnituren von Herren-Unterwäsche und Sportkleidung vorführen. Soweit das ›České Slovo‹. Einen Tag vor dem Wettkampf forderte die ›Deutsche Landeszeitung‹ ihre Volksgenossen auf, sich am Wettkampf zu beteiligen. Der Autor des Artikels, Herr Wenzel 378
Deutscher, verurteilte, unter ausdrücklicher Nennung des Namens Bogner, den Schacher der jüdischen Geschäftemacher, die auch am Sport verdienen wollten und ihn für ihren unlauteren Wettbewerb mißbrauchten. Die ›Deutsche Landeszeitung‹ teilte gleichzeitig mit, daß der Verband der deutschen Beamten der Witkowitzer Eisenwerke bereit sei, sich finanziell zu engagieren und jeden deutschen Volksgenossen zu unterstützen, der entschlossen sei, für den Vorrang der germanischen Rasse auch im sportlichen Wettstreit zu kämpfen. Die polnische ›Sprawiedliwost‹ kommentierte den Wettkampf in einer grundsätzlichen Erklärung, kein Sportler polnischer Nationalität werde an einem Wettkampf teilnehmen, dessen Ziel Wien sei. Für die gemeinsame Konspiration der tschechischen und deutschen Minderheit, so schrieb die ›Sprawiedliwost‹, zeuge nichts deutlicher als die Tatsache, daß als Ziel des Langstreckenlaufes Wien gewählt wurde, eine Stadt, deren Name schon Jahrhunderte hindurch ein Symbol für die grausamste nationale Unterdrückung gewesen sei. Wir wären jedoch bereit gewesen, schrieb Herr Dr. Staniolowský in der ›Sprawiedliwost‹ weiter, uns an einem Langstreckenlauf mit dem Ziel Warschau zu beteiligen, der also ausschließlich durch slawisches Gebiet geführt hätte. Die Tschechen hatten die slawischen Interessen verraten, so beendete Herr Dr. Staniolowský seinen Artikel, der Endzweck des Wettkampfes liege klar auf der Hand: die Isolierung des polnischen Volkselements. Auch mein Vater traf seine Vorbereitungen für diesen 379
Wettkampf. Er buk einen Zentner Linzer Gebäck, das er mit Rosinen verzierte. In dem von ihm verfaßten und dem ›České Slovo‹ eingesandten Artikel verkündete er, diese Art von Gebäck sei von höchstem Nährwert, und er würde jedem zum Start antretenden Sportler ein Kilogramm seiner Kekse für den Weg spenden. Diese ganze Aktion mit dem Linzer Gebäck und dem Zeitungsartikel hatte mein Vater gemeinsam mit Herrn Karel Pastrňák ausgeknobelt, der damals schon bankrott war, sich dennoch in der Sodawasser-Branche durchzusetzen versuchte. Zwecks Erfrischung der Wettkämpfer stellte Herr Karel Pastrňák einen Hektoliter Zitronenlimonade unter Vitaminzusatz her und teilte dem ›České Slovo‹ mit, er wolle sein neues Erzeugnis ebenfalls den Sportlern spenden und den Rest noch vor dem Start an das Publikum gratis verteilen. Das ›České Slovo‹ veröffentlichte über die Vorbereitungen des Bäckermeisters Jaroslav Lapáček und des Limonaden-Erzeugers Karel Pastrňák nicht eine einzige Zeile. Dagegen brachte es in seiner Freitags-Ausgabe vor dem Wettkampf ein ausführliches Interview mit Herrn Jakob Hiršl, dem Inhaber einer Lebensmittel-Erzeugung und -Versandfirma in Mährisch Ostrau, das unter dem Titel erschien: »Ein Fachmann rät den Sportlern.« In diesem Interview führte Herr Jakob Hiršl aus, er spende jedem Wettkämpfer fünf Kilogramm seines Traubenzuckers, der bekanntlich bei großen sportlichen Anstrengungen die beste und ausgiebigste Ernährung 380
darstelle. Auf die Frage des Reporters, was denn die Langstreckenläufer auf ihrer anstrengenden Tour trinken sollten, befürwortete Herr Jakob Hiršl als Getränk einen Fruchtsaft, den er selbst schon Jahre hindurch unter der Marke »Naturkraft« an viele Lebensmittelgeschäfte vertreibe. Zweihundert Flaschen davon, sagte Herr Hiršl, wolle er ebenfalls als kostenlose Spende den Sportlern zur Verfügung stellen. Das gleiche Interview veröffentlichten auch die ›Deutsche Landeszeitung‹ und die polnische ›Sprawiedliwost‹. In der Sonntag-Morgenausgabe des ›České Slovo‹ teilte die tschechoslowakische Sokolgemeinde, die diese bedeutende Sportveranstaltung organisiert hatte, mit, daß sich zu dem Langstreckenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour drei Teilnehmer angemeldet hätten: Herr Karel Hyneš, der berühmte ehemalige Spieler des F. C. Schlesisch Ostrau, und ferner zwei weitere Inaktive des F. C. Schlesisch Ostrau, Herr Herbert Gozco und Herr Jan Krajiczek. Kurz vor dem Start meldete sich direkt auf dem Platz noch Herr Karel Motl, der einarmige Verteidiger des F. C. Schlesisch Ostrau. So waren ihrer also im ganzen vier. Der Start zum Langstreckenlauf sollte in der Halbzeit des Vormittagstreffens zwischen dem F. C. Schlesisch Ostrau und dem S. C. Makkabi Mährisch Ostrau stattfinden. Gleich am frühen Morgen begann Herr Karel Hyneš im Kabinett der Großmutter seine Wadenmuskulatur zu massieren, in der Backstube unten war mein Vater damit beschäftigt, Päckchen mit seinen nahrhaften Keksen aus381
zuwiegen, und Herr Karel Pastrňak füllte die letzten Flaschen seiner Speziallimonade mit Vitaminzusatz. Eine Stunde vor dem Start erfuhr Herr Karel Hyneš, daß sich noch Herr Karel Motl zum Wettkampf angemeldet hatte. »Das ist doch eine Verhöhnung des Sports«, entrüstete sich Herr Hyneš, »wie kann ich denn gegen einen Krüppel antreten!« Ich glaube jedoch, Herr Hyneš fürchtete den Karel Motl als Gegner, er kannte ihn ja vom Fußballplatz und wußte, daß er ein zäher Bursche und derzeit in hervorragender Kondition war. Was aber Herrn Hyneš den Rest gab, war die Nachricht, die er eine halbe Stunde vor dem Start erfuhr, daß Herr Karel Motl bereits einen Vertrag mit dem Geschäftshaus I. Nesselroth, Seidenfirma in Mährisch Ostrau, in der Tasche hatte. Ein Sonderflugzeug hatte nämlich Flugblätter über der Stadt abgeworfen, in denen die Firma Nesselroth bekanntgab, Herr Karel Motl werde zum Langstreckenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour in einem Seidendreß antreten, den genannte Firma eigens zu diesem Zweck aus einem Spezialmaterial in Paris habe anfertigen lassen, und soeben sei eine Sendung Lyoner Seide von Ia Qualität eingetroffen, mit deren Verkauf die Firma Nesselroth – natürlich zu einem lächerlich niedrigen Preis – heute vor dem Start dieses bedeutenden Wettkampfes direkt auf dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau beginnen werde. Der Restverkauf finde dann am Montag statt. Als ich Herrn Hyneš das Flugblatt brachte, verfärbte sich sein Gesicht ganz grün. 382
»Um Himmels willen, auf wen der alte Nesselroth einmal setzt, der gewinnt auch bestimmt!« Vor dem Eingang zum Fußballplatz hatte die Firma Nesselroth bereits ihren Verkaufsstand aufgestellt. Die Frauen drängten sich um den Verkaufstisch, denn Herr Nesselroth bot den Meter Seide aus diesem festlichen Anlaß für nur zwei Kronen fünfzig an. Herr Jakob Hiršl, Erzeugung und Versand von Lebensmitteln, errichtete seine Verkaufsbude unmittelbar neben der Firma Nesselroth und schenkte seine Limonade »Naturkraft« gratis aus. Zusätzlich erhielt jeder noch ein kleines Päckchen Traubenzucker. Mein Vater bemühte sich um den Verkauf seiner Nährkekse im Zuschauerraum, aber in dieser drückenden Tageshitze ging das Geschäft nur sehr schlecht. Pastrňáks Limonade mit Vitaminzusatz fand reißenden Absatz, doch waren seine Vorräte bald erschöpft, so daß Herr Hiršl mit seiner »Naturkraft« den gesamten Markt des Fußballplatzes beherrschte. In der Halbzeit begann also der Start. Als erster erschien Herr Karel Hyneš an der Startlinie, von schwachem Applaus begrüßt. Als Herr Jan Krajiczek antrat, setzte das polnische Publikum mit einem Pfeifkonzert ein, da die Polen seinen Start zum Wettkampf auf der Strecke Schlesisch Ostrau–Wien und retour als schwärzesten Verrat an ihren nationalen Interessen ansahen. Außerdem brachte die Zuschauer polnischer Nationalität auch die Aufschrift auf Herrn Krajiczeks Wettkampf-Trikot in Harnisch: ASO-Waren helfen sparen! 383
Damit war es also offenkundig geworden, daß Herr Krajiczek bei diesem nun anhebenden Wettkampf die Farben des tschechischen Kaufhausses ASO verteidigen würde, wodurch er wieder Verrat an seiner nationalen Herkunft mütterlicherseits beging, denn seine Mutter war eine Deutsche. Das deutsche Publikum schloß sich daher dem Protest der Polen an. Herr Karel Motl, der Verteidiger des F. C. Schlesisch Ostrau, kreuzte in einem prächtigen Seidendreß auf, sein kanariengelbes Trikot trug die Aufschrift: Seidenhaus Nesselroth. Herr Motl erregte keinerlei Unwillen bei den Zuschauern, von ihm war bekannt, daß er sich auf dem Fußballplatz vor Spieleifer zerfranste und daß er das, worin er sich einmal verbissen hatte, nicht mehr so leicht aus den Zähnen ließ. Zum Skandal kam es, als an der Startlinie Herr Herbert Gozco, ehemaliger Läufer des F. C. Schlesisch Ostrau, erschien, derzeit arbeitsloser Hauer, den man nirgends einstellen wollte, weil er allerorts ganz offen kommunistische Propaganda betrieb. Herr Herbert Gozco kam auf den Platz in roten Shorts und weißem Trikothemd anmarschiert, auf dessen Brustseite die gekreuzten Hammer und Sichel eingestickt waren. Von den Tribünen hinter dem Osttor, wo sich die billigsten Stehplätze befanden, erscholl frenetischer Beifall. Auf den anderen Tribünen brüllten die Deutschen, Polen und Tschechen gemeinsam: »Pfui, Schande, weg 384
mit dem Bolschewiken!« Die Juden schwiegen in weiser Zurückhaltung. Das Publikum der Osttribüne erhob die Faust zum Gruß, die Internationale ertönte. Herr Herbert Gozco stand bereits an der Startlinie, auch er grüßte zaghaft mit erhobener Faust und bemühte sich, ein selbstbewußtes Lächeln aufzusetzen. Schon kletterten mehrere Zuschauer von den teureren Plätzen über die Barrieren aufs Spielfeld. Herr Dr. Staniolowský verlor jedoch nicht den Kopf, auf ein Zeichen von ihm marschierte jetzt die Blaskapelle der tschechoslowakischen Sokolgemeinde auf dem Fußballplatz auf, hinter ihr her Herr Jakob Hiršl, Lebensmittel-Erzeugung und -Versand, Herr Freddy Bogner, Inhaber eines Warenhauses in Mährisch Ostrau, Herr Isaak Nesselroth, Seidenfirma am gleichen Ort, sowie einer der Aktionäre des Kaufhauses ASO, der zugleich mit dem festlichen Start auch seine große Reklame-Kampagne unter dem Slogan: »ASO-Waren helfen sparen!« eröffnete. Nachdem die Musik den Sokolmarsch »Vorwärts unter dem Sokolbanner« zu Ende gespielt hatte, ergriff Herr Jakob Hiršl, Versand von Lebensmitteln und Erzeugung von Erfrischungsgetränken, als erster das Wort. Er unterstrich die große Bedeutung dieser Wettkampfveranstaltung für die ganze Stadt, begrüßte die zahlreich erschienenen Gäste und wünschte den Wettkämpfern guten Erfolg. Dann überreichte er jedem Sportler ein Fünfkilogramm-Paket Traubenzucker und ein Kistchen mit seinem Erfrischungsgetränk »Naturkraft«. 385
Auf einer der Tribünen wurde in deutscher und tschechischer Sprache der Ruf laut: »Juden raus!« Herr Freddy Bogner umriß mit knappen Sätzen die Bedeutung des sportlichen und kulturellen Wetteiferns für ein besseres Einanderkennenlernen und für die gegenseitige Annäherung, wobei er erwähnte, Herr Karel Hyneš, der Initiator dieses Wettkampfes, verdiene allgemeine Anerkennung, denn der Langstreckenlauf Schlesisch Ostrau–Wien und retour werde ganz Europa beweisen, daß das Ostrauer Industrie- und Wirtschaftsgebiet nicht nur von peripherer Bedeutung sei. »Den erhabenen Idealen eines ehrlichen Wettstreites«, so beendete Herr Bogner seine Rede, »werde auch ich mit Hingabe dienen!« Eine kleine Gruppe von Angehörigen der jüdischen Prominenz auf den besten Sitzplätzen entschloß sich zu einem matten Applaus, hörte aber damit bald wieder auf, als es sich zeigte, daß die übrigen Zuschauer in eisigem Schweigen verharrten. Herr Isaak Nesselroth war ein schlechter Redner. Er brachte kein Wort heraus, obwohl er angeblich seine Ansprache vorher einstudiert hatte. Mit hochrotem Kopf überreichte er Herrn Karel Motl zwei Ballen Seidenstoffe, einen von kanariengelber, den anderen von orangeroter Farbe. Der Aktionär des Kauf hauses ASO, Herr Josef Humpálek, der sich für diesen festlichen Anlaß in seine Sokol-Uniform geworfen hatte, klopfte Herrn Karel Motl jovial auf die Schulter, war aber taktvoll genug, dies nicht auf der linken zu tun, an der Herrn Motl der Arm fehlte. 386
»Im sportlichen Wettstreit«, sagte Herr Humpálek, »erblicke ich den Sinn höheren Menschentums.« Über dieses Thema verbreitete er sich dann in einer weitläufigen Ansprache, in die er geschickt einige WerbeSlogans seiner Firma einfließen ließ. Aber auch Herr Humpálek erntete keinen Beifall. Damit war das offizielle Programm beendet, und dann hob auch schon Herr Dr. Staniolowský, der Vorsitzende des F. C. Schlesisch Ostrau, die geliehene Pistole, die ihm Herr Inspektor Hebrle für diesen Zweck mit Platzpatronen geladen hatte. Herr Dr. Staniolowský hatte sich lange dagegen gewehrt, die Funktion des Starters zu übernehmen, da er aber ungeachtet seiner polnisch-nationalen Einstellung einer der Hauptaktionäre des Warenhauses ASO war, fühlte er die Verpflichtung, zum guten Gelingen des Starts dieser Reklame-Kampagne beizutragen, deren Hauptslogan »ASO-Waren helfen sparen« er höchstpersönlich erfunden hatte. Niemand hatte mehr damit gerechnet, daß irgendwo im Hintergrund mein Vater mit seinen Päckchen Nährkekse bereitstand; und neben ihm Herr Karel Pastrňak mit einigen Flaschen Zitronenlimonade. Sie sahen jetzt ihre letzte Gelegenheit, an dieser großangelegten ReklameKampagne als Schmarotzer zu partizipieren. »Los«, sagte Herr Pastrňak und stupste meinen Vater gerade in dem Augenblick, als Herr Dr. Staniolowský schon die Pistole hob. Beide marschierten stramm zur Startlinie hin, mein Vater mit seinen Päckchen Kekse, Herr Pastrňak mit 387
einigen großen Flaschen seiner mit Vitaminen angereicherten Limonade. Die Zuschauer hinterm Tor auf der Ostseite hatten selbstverständlich bemerkt, daß jeder der Wettkämpfer, bis auf Herbert Gozco in seinem mit Hammer und Sichel geschmückten Trikot, beschenkt worden war. Niemand ahnte damals, was sich daraus noch entwickeln würde. Mein Vater drängte jedem Wettkämpfer sein Päckchen Nährkekse auf – und beschenkte selbstverständlich auch Herbert Gozco. Herr Karel Pastrňak tat es ebenso. Die Zuschauer auf der Ostseite, die von der Sokolkapelle und den Reden der einflußreichen und vermögenden Herren etwas eingeschüchtert waren, sahen jetzt plötzlich einen Grund zu Ovationen; mein Vater und Pastrňak an der Startlinie bedankten sich mit einer unbeholfenen Verbeugung für den Beifall des proletarischen Publikumsteils. Die Herren Bogner, Nesselroth und Humpálek begannen nervös zu werden. Sie hatten diesen Humbug gemeinsam organisiert; denn nach den schweren Zeiten der Wirtschaftskrise, die jetzt langsam abzuklingen begann, hofften sie, möglichst viele Kunden gerade aus der Käuferschicht zu gewinnen, deren Repräsentanten sich jetzt auf den billigsten Plätzen hinter dem Tor auf der Ostseite drängten. Herr Jakob Hiršl machte jedoch ein unbeteiligtes Gesicht. Er gab seinem Angestellten einen Wink – und beschenkte dann auch Herbert Gozco mit einem FünfKilogramm-Paket Traubenzucker und einem Kistchen seiner Limonade »Naturkraft«. 388
Das Gebrüll hinter dem Osttor steigerte sich. Erneut stimmte dort irgend jemand die Internationale an. Auf einen Wink von Herrn Dr. Staniolowský drängten die Ordner meinen Vater und Herrn Pastrňák zur Seite. Dann gab Herr Dr. Staniolowský den Startschuß, und die Läufer machten sich auf den Weg. Die Zuschauer auf der Ostseite des Platzes sangen die Internationale zu Ende und ließen sich auch nicht durch die Sokolkapelle stören, die mit schneidigen Märschen einsetzte, bis sie im Haupteingang verschwand. Gleich hinter Mährisch Ostrau brach über Herrn Krajiczek eine schwere Krise herein. Er hatte schon auf dem Startpatz vom Wettkampf zurücktreten wollen, es aus Scham aber unterlassen. Als er jedoch jetzt so über die Ebene in Richtung Friedek dahintrabte, kam es ihm wahrscheinlich zum Bewußtsein, daß er Verrat beging. Doch wußte er nicht, an wem, ob an den Polen oder an den Deutschen. Herr Krajiczek war mit seinem Problem, das er unablässig mit sich herumtrug, so beschäftigt, daß er seinen Lauf merklich verlangsamte. Nachdem ihm die anderen drei Läufer aus dem Blickfeld entschwunden waren, sagte er mit einer resignierenden Handbewegung zu sich: »Psa krev«, verflucht noch mal, für wen soll ich mich hier eigentlich abhetzen! Er setzte sich in einen Straßengraben und überlegte lange, kam aber nicht mit sich ins reine. In die Stadt zurück nahm ihn ein Lastauto mit. Zlín erreichten nur noch drei Läufer, Herr Karel Hyneš 389
als erster, hinter ihm der einarmige Motl und als letzter Herbert Gozco. Am nächsten Tag, zwanzig Kilometer hinter Zlín, wurde Herr Motl von einer Ohnmacht befallen. Er wollte weiterlaufen, war jedoch dazu nicht mehr in der Lage. Er verfluchte sein Schicksal, aber am meisten meinen Vater, den Bäcker Jaroslav Lapáček, der ihm angedeutet hatte, er, Motl, sei nicht mehr der, der er gewesen war, und der F. C. sollte sich für die nächste Saison nach einem neuen Verteidiger umsehen. Durch diesen Langstreckenlauf wollte Herr Motl den Ausschuß überzeugen, daß er noch nicht zum alten Eisen gehörte, aber hinter Zlín hatte er schlappgemacht. Sein wunderschöner Seidendreß, den die Firma Nesselroth für ihn in Paris hatte anfertigen lassen, glänzte in der Augustsonne. Aber auch Herrn Hyneš verließen langsam die Kräfte. Ich kann mir jetzt denken, daß ihn nur noch das beunruhigende Bewußtsein vorantrieb, in Ostrau viertausend Kronen Schulden hinterlassen zu haben. Drei Tausender für sein zweifelhaftes Geschäft mit dem Wunder-Heilwasser aus Lutyně hatte er eben doch noch aus meinem Vater herausgepreßt, und einen Tausender schuldete er Herrn Bogner, Warenhausinhaber in Mährisch Ostrau, der wiederum nicht ein so spendabler Mäzen war, tausend Kronen so für nichts und wieder nichts aus dem Fenster zu werfen. Herr Hyneš hatte sich Herrn Bogner gegenüber durch seine Unterschrift verpflichtet müssen, falls er den Wett390
kampf aufgebe, diese tausend Kronen sofort zurückzuzahlen oder sie aber als Aushilfskraft zum Stundenlohn von zwei Kronen fünfzig im Lagerraum der Firma Bogner abzuarbeiten. Herrn Hyneš’ Gefühle waren also keineswegs angenehm. Zwei Schritte hinter sich hörte er Herbert Gozco. ›Wenn dieses Miststück wenigstens aufgeben würde‹, dachte Herr Hyneš. Aber sooft er sich umblickte, sah er das schmerzvoll verzerrte Gesicht des früheren Spielerkollegen vom F. C. Schlesisch Ostrau. Gegen Mittag war Herr Hyneš mit seinen Kräften bereits am Ende. »Herbert«, keuchte Herr Hyneš, »Herbert, wir beide könnten uns doch einigen … Gib auf, und drei Hunderter sind dir gewiß, das ist doch kein Spaß mehr …« »Ich weiß, Karel«, erwiderte Herr Gozco mit verkrusteten Lippen, »das ist wirklich keine Gaudi, aber ich muß diesen Wettlauf gewinnen, ich muß …« »Einigen wir uns wenigstens auf ein Unentschieden«, keuchte Herr Hyneš, »Jesus Maria, mach mich nicht kaputt, Kamerad!« Auf dem Gipfel einer Steigung in den Wäldern des Berglandes Chřiby blieben beide stehen. Sie lehnten sich an einen Baum und rangen nach Atem. Sie schwitzten nicht mehr, sie waren vollkommen ausgedörrt. »Karel«, flüsterte Herr Gozco, »ich muß diesen Wettlauf gewinnen, mir ist zumute, als liefe ich um mein Leben …« »Du bist ein ausgemachter Außenseiter, Herbert«, 391
flüsterte Herr Hyneš, »das hier wird dich fertigmachen, hier ist die Grenze eines Gentleman-Kampfes, es geht um Biegen und Brechen, Herbert, dazu fehlt dir die Kondition, Junge! Du machst dich kaputt!« »Vielleicht will ich mich kaputtmachen«, flüsterte Herbert. »Vergiß die Helga«, keuchte Herr Hyneš, »du wirst dich wohler fühlen, eine Erleichterung verspüren …« »Das kann ich nicht, Karel, es geht nicht, ich würde Helga und mich selbst verraten.« »Die Helga ist nicht mehr am Leben, gib es auf, und drei Hunderter sind dir gewiß … oder aber wir einigen uns auf einen unentschiedenen Ausgang.« »Vielleicht will ich mich kaputtmachen«, wiederholte Herbert Gozco und bemühte sich um ein Lächeln, »vielleicht will ich zusammenbrechen …« Herbert Gozco dachte in diesem Augenblick an Helga Kowalewská, an das Bild, wie eine Flasche Lysol zwischen ihnen beiden lag, als sie am Wehr in Vratimov darangingen, ihr ungeborenes Kind, das nicht zur Welt kommen sollte, zu töten. Helga hatte das Lysol getrunken und Herbert nicht den Mut aufgebracht, ihr die Flasche aus der Hand zu schlagen. Dann hatte Helga drei Schritte zum Wehr hin getan – und war dann bereits ganz allein gewesen. Wahrscheinlich hatte sie gewußt, der Schmerz in ihr würde sie von Herbert trennen, hatte aber vor Angst, die sie hinterrücks überfiel und sie mit aller Kraft in den Unterleib hieb, nicht aufschreien können. 392
Ich kann mir vorstellen, wie Tränen in Helgas Augen getreten waren, wie banal und sentimental das alles gewesen war, aber der arbeitslose Herbert Gozco, der damals aus der Mannschaft des F. C. Schlesisch Ostrau genommen worden war, hatte die ganze Qual dieser Szene nicht begriffen; wahrscheinlich hatte er nur gespürt, wie ihn etwas an den Erdboden festwurzelte und er sich nicht bewegen konnte. Vielleicht mochte er sich auch denken, unfair zu Boden gestoßen worden zu sein, einen Tritt bekommen zu haben, gefoult worden zu sein, und nirgends war ein Schiedsrichter gewesen, der ein Foul für Herbert Gozco und Helga Kowalewská gepfiffen hätte. Herbert hatte sich nur zu einem Schrei durchgerungen. Helga war in diesem Augenblick zur Erde gesunken, sie war wahrscheinlich nicht einmal umgefallen, sondern nur ins feuchte Gras geglitten. Als sich Herbert dann über sie beugte, hatte sie den Kopf abgewendet; sie hatte noch geatmet. »Hilfe«, hatte Herbert Gozco geschrien, »Hilfe!« Aber es war bereits zu spät gewesen. »Los, wir wollen weiterlaufen«, sagte Herbert Gozco, »ich will es hinter mir haben.« Dann senkte er seinen Kopf, er berührte mit dem Kinn fast das rote Emblem von Hammer und Sichel auf seinem Trikot. Ich könnte mir hinzudenken, daß Herbert Gozco sich schämte, noch am Leben zu sein. Der Langstreckenlauf nahm in Boskowitz wegen einer 393
politischen Provokation ein jähes Ende. Die Zeitungen brachten über diese Ereignisse in Boskowitz ausführliche Berichte. Den Ablauf dieser Geschehnisse möchte ich wie folgt rekonstruieren: Kurz vor Boskowitz verließen Herrn Hyneš die letzten Kräfte, Herr Herbert Gozco in seinem mit Hammer und Sichel geschmückten Trikot gewann einen Vorsprung und lief in Boskowitz, wo die Ortsgemeinde der Faschisten für die Begrüßung der Läufer Vorsorge getroffen hatte, mit einem großen Vorsprung vor Herrn Hyneš ein, der aus dem letzten Loch pfiff und den wohl nur noch die Angst vor seinen Schulden auf den Beinen hielt. Die örtlichen Schwarzhemden hatten wahrscheinlich gar keine Ahnung, daß das der erste Langstreckenläufer war, der da mit Hammer und Sichel auf dem Trikot aufkreuzte, und so kam es bei Herrn Gozcos Erscheinen auf dem Stadtplatz sofort zu Ausschreitungen. Herr Gozco wurde beschimpft und tätlich angegriffen. Gleich darauf brach zwischen den Angehörigen der Faschisten-Gemeinde und den anderen Bürgern, die eine reguläre Fortführung des Wettkampfes verlangten, eine Prügelei aus. Der Kommandant der örtlichen Gendarmeriestation gab Anweisung zum Einschreiten und verbot ganz einfach die Fortsetzung des Wettkampfes. Als Herr Hyneš nach einem Stündchen auf dem Boskowitzer Stadtplatz angeschwankt kam, herrschte in der Stadt bereits wieder Ruhe. Im Gasthof auf dem 394
Stadtplatz wurde Herr Gozco verarztet. Unter Gendarmerie-Assistenz traf dort auch der völlig erschöpfte Herr Karel Hyneš ein. Er gewährte dem Berichterstatter einer Brünner Zeitung sofort ein Interview; Herr Herbert Gozco war zu keinem Gespräch in der Lage, da er gerade erst aus einer Ohnmacht erwacht war, eine Folge der tätlichen Angriffe, bei denen ihm einer der Angehörigen der Faschisten-Gemeinde einen Fausthieb auf den Kopf versetzt hatte. Herr Karel Hyneš erzählte dem Zeitungsmann, einzig und allein die Provokation der Faschisten habe seinen Endsieg verhindert, gerade kurz vor Boskowitz habe er seine Krise überwunden und vor Brünn den entscheidenden Vorstoß unternehmen wollen, um sich an die Führungsspitze vorzukämpfen. Auch die Photoreporter stellten sich ein. Am nächsten Tag brachte das ›České Slovo‹ die Bilder der beiden Läufer. Herrn Gozcos Photo mußten die Redaktionsleute ein wenig retuschieren, denn in seinem Gesicht waren zahlreiche Blutergüsse zu sehen. Das ›České Slovo‹ äußerte sich nur mit Zurückhaltung über die »Boskowitzer Ereignisse, die den regulären Verlauf des Wettkampfes gestört hätten«. Die ›Deutsche Landeszeitung‹ kommentierte die Bilder mit der schroffen Bemerkung, so ginge es immer aus, wenn man die Politik in den Sport hineinziehe, aber die Empörung der rechtschaffenen Boskowitzer Bürger sei durchaus begreiflich, wenn man bedenke, daß Herr Herbert Gozco mit der Bezeichnung auf seinem Trikot 395
die heiligsten Gefühle der Angehörigen der örtlichen Faschisten-Gemeinde aufs gröblichste beleidigt habe. Die polnische ›Sprawiedliwost‹ vermerkte mit Schadenfreude, die Boskowitzer Geschehnisse beim Wettkampf Schlesisch Ostrau–Wien und retour seien zu erwarten gewesen, und zu derlei Zwischenfällen wäre es bestimmt niemals gekommen, wenn der Langstreckenlauf auf der Strecke Schlesisch Ostrau–Warschau ausgetragen worden wäre, denn die polnische Bevölkerung stünde, was den Sportgeist beträfe, auf hohem Niveau. Nach seiner Rückkehr nach Ostrau ließ sich Herr Karel Hyneš bei uns nicht mehr blicken. Er packte hastig seine Sachen zusammen und verschwand, um in der Schmiedewerkstatt seines Vaters irgendwo bei Troppau für Monate unterzutauchen, wo er sich in aller Stille der Geldfälscherei widmete, im Winter des Jahres 936 war er im wahrsten Sinne des Wortes bereits ein Meister in diesem Fach geworden. Er goß und prägte Münzen aller europäischen Staaten. Die Großmutter Zabalski war sichtlich gealtert und verbittert. Mein Vater wollte die Angelegenheit mit dem Schuldschein über dreitausend Kronen, den er sich aus Vorsicht von Herrn Karel Hyneš doch noch hatte geben lassen, vor Gericht bringen, aber meine Großmutter sagte, das ließe sie nicht zu, nur über ihre Leiche. Und so kam es zu keinem Gerichtsverfahren, wenngleich ich mir heute denke, der Vater hätte die Großmutter auf die Probe stellen sollen, ob sie es mit ihrer Drohung auch wirklich ernst gemeint hatte. Herr Herbert Gozco fand kurz darauf schließlich 396
doch wieder eine Arbeit als Hauer auf der Dreifaltigkeits-Zeche. Das Warenhaus ASO entfaltete seine Werbe-Kampagne unter dem Slogan »ASO-Waren helfen sparen!« auch in anderen Gebieten der Republik. Die Langstreckenläufer hatten zwar ihre Gelegenheit beim Schopf gepackt, sich an sie gehalten, hatten aber sehr bald erfahren müssen, und zwar oftmals mit ziemlicher Härte, daß diese Gelegenheit nicht der Rede wert gewesen war. Herr Karel Hyneš resignierte jedoch keineswegs. Kurz vor Weihnachten 936 erschien er in unserer Küche, setzte ein zerknirschtes Gesicht auf und schob der Großmutter Zabalski einen Strauß Rosen hin. Dieser Blumenstrauß mußte ein kleines Vermögen gekostet haben. Der Vater war sprachlos, meine Mutter bückte sich über ihren Waschtrog mit den verschmutzten Fußballerdresses vom Weihnachtsturnier am letzten Sonntag, das, wie das ›České Slovo‹ geschrieben hatte, auf schwerem, aufgeweichtem Terrain gespielt worden war. Bevor noch jemand aus unserer Familie den Mund auftun konnte, sprudelte Herr Karel Hyneš hervor, er habe einen Plan, die Aktiengesellschaft »Obroda« zu gründen mit dem Ziel, Grundstücke für den Bau des zukünftigen Oder-Donau-Kanals aufzukaufen. »Aus ist’s mit der Kleinkrämerei«, erklärte Herr Hyneš bei uns in der Küche, »Herr Lapáček, wir beide werden die Gesellschaft ›Obroda‹ gründen, haben Sie verstanden?« 397
»Nein«, erwiderte mein Vater. »Mein Plan ist sehr einfach, Herr Lapáček«, sagte Herr Hyneš lächelnd, »die Bauern hier in der Umgebung sind verschuldet; wie Sie wissen, ist ihre wirtschaftliche Lage durch die Krise nicht gerade rosig, und wenn man ihnen heute für ihre Grundstücke bares Geld bietet, werden sie diese für einen Pappenstiel verkaufen. Wer hat denn heute schon flüssiges Geld? Und wir werden die Grundstücke für den geplanten Kanal aufkaufen! Verstanden?« »Nein«, erwiderte mein Vater, »aber wo soll denn dieser Kanal eigentlich verlaufen?« »Den Plan für die Trassenführung des Kanals machen wir schön allein nur für uns«, sagte Herr Hyneš, »haben Sie verstanden?« »Nein«, erwiderte mein Vater, »das verstehe ich nicht …« »So will ich Ihnen das also erklären, Herr Lapáček«, sagte Herr Hyneš, setzte sich an unseren Tisch und begann seinen Plan zu erläutern. Alles, was er jetzt zur Repräsentation der Gesellschaft »Obroda« nach außen hin brauche, sei nur noch ein solider Name, und wer könnte wohl für diesen Zweck einen geeigneteren Namen zur Verfügung stellen als gerade die Madame von Zabalski. »Ich werde in allen Lokalzeitungen von Oderberg bis Freistadt inserieren, Frau von Zabalski wolle Grundstücke für den zukünftigen Oder-Donau-Kanal ankaufen, und die Sache hat sich! Herr Lapáček«, drang Herr Hyneš in meinen Vater, »die Wirtschaftskrise haben wir zwar hinter uns, aber ihre Nachwirkungen dauern an, und ich sage Ihnen, es kommen jetzt sehr unsichere Zeiten, ich 398
rechne mit einem Krieg, ich bin bereit, sogar auf der Lysá Hora Grundstücke aufzukaufen, zwar werden wir uns in Schulden stürzen, Herr Lapáček, vielleicht bis über beide Ohren, aber sowie die Gefahr eines Krieges näherrückt, und das wird nicht mehr lange dauern, werden die Leute wild auf Grundstücke sein. Sie werden alles kaufen und zu Preisen, die dann wir bestimmen werden … Aber das beste Grundstück, Herr Lapáček, das werden wir schön in aller Stille auf die Namen unserer Angehörigen im Grundbuch eintragen lassen, denn Grundstücke bleiben eine ausgezeichnete Sicherung für den Fall, daß wir in Konkurs gehen müßten.« »Jesus Maria«, stieß mein Vater hervor, »das ist doch …« »Ein Geschäft, Herr Lapáček, wirklich das große Geschäft! Die Leute sind jetzt geldhungrig, aber das wird bald vorübergehen, sobald ein Krieg ausbricht, werden die Grundstücke im Preis in die Höhe gehen, ein Grundstück, Herr Lapáček, das bedeutet Sicherheit, festen Boden unter den Füßen …« »Ich habe keine Moneten, Herr Hyneš«, flüsterte mein Vater, »ich habe wirklich keine Moneten, und Sie schulden mir noch drei Tausender, und im Herbst bin ich um zweieinhalbtausend Kronen gekommen …« Der Vater hatte die Wahrheit gesagt. Bei dem letzten Meisterschaftstreffen der Herbstsaison gegen den S. K. Prerau hatte er tatsächlich zweieinhalbtausend Kronen eingebüßt, die letzten Ersparnisse. In Prerau wurde damals um den Aufstieg gekämpft. Die erste Halbzeit verlief befriedigend, aber die zweite taugte nicht viel. 399
Gleich in der achtundvierzigsten Minute stürmte Áda Lakubec am Flügel unaufhaltsam nach vorn, drang zur Mitte, wo er plötzlich freies Feld hatte – und schoß. Die Prerauer Zuschauer verstummten vor Entsetzen, die Ostrauer Fans, die in drei Omnibussen nach Prerau gekommen waren, brüllten vor Begeisterung. Der F. C. Schlesisch Ostrau führte : 0. Aber der Schiedsrichter, Herr Kremlička, pfiff ein Abseits! Herr Dr. Staniolowský, der Vorsitzende des F. C. Schlesisch Ostrau, griff sich an den Kopf und flüsterte den neben ihm sitzenden anderen Ausschußmitgliedern zu, sie hätten eben dem Schiedsrichter Kremlička mehr als nur einen Tausender anbieten müssen. »Es sieht ganz so aus, meine Herren«, jammerte Herr Dr. Staniolowský, »daß ihm die Prerauer mehr geboten haben. Ich habe ja gleich gesagt, wir müssen diesem Idioten zwei Tausender geben, aber Sie, meine Herren, waren dagegen gewesen, jetzt sehen Sie ja hier die Bescherung … Dieser Hammel wird nicht einmal ein reguläres Tor für uns pfeifen!« Mein Vater, der etwas abseits saß, jammerte allein vor sich hin, regte sich auf, beruhigte sich aber schließlich wieder und sagte sich, er selbst sei ja nur ein Gewerbetreibender, Sport müsse Sport bleiben, auch wenn das ein Tor gewesen sei, da sei nichts zu machen, der Schiedsrichter hatte nun einmal ein Abseits gepfiffen. ›Ich werde mich nicht mehr aufregen‹, sagte sich wohl der Vater, ›mich kann nichts mehr erschüttern, ich bin in der Ausschußsitzung eindeutig dafür gewesen, den 400
Schiedsrichter mit zwei Tausendern zu schmieren, aber der Ausschuß hat nein gesagt, das sei zu viel. Wenn uns jetzt die Division wegen ein paar Hundertern durch die Lappen geht, dann bin ich für gar nichts verantwortlich …‹ Fünf Minuten später drang wiederum David Wiesenthal durch die Mitte des Spielfeldes nach vorn, erneut stieß Áda Lakubec vom Flügel zu ihm, bekam von David einen herrlichen Ball zugespielt, schoß – und Tor! Die Ostrauer johlten vor Begeisterung. Und wieder pfiff der Schiedsrichter, Herr Kremlička, ein Abseits. Áda Lakubec war nahe daran, dem Schiedsrichter eine herunterzuhauen, überlegte es sich jedoch anders, er hockte sich auf den Rasen hin und heulte vor Wut. Mit den Fäusten hieb er in das Gras und brüllte irgend etwas. David Wiesenthal war erbleicht, aber allmählich traten dem Besitzer der Schenke »Zur Eiche« orangefarbene Flecken ins Gesicht, als hätte er plötzlich die Masern bekommen. Mein Vater war ganz in sich zusammengesunken, und um sich nicht aufzuregen, wiederholte er ununterbrochen vor sich hin, er sei doch eigentlich nur ein Bäcker, ihm gehe es allein um den Sport, und wenn der Schiedsrichter von den Prerauern bestochen sei, so wasche er seine Hände in Unschuld. Er hatte dem Ausschuß vorgeschlagen, dem Kremlička zweitausend Kronen bar auf die Hand zu geben, aber fast alle waren dagegen gewesen. In diesem Augenblick beugte sich Herr Dr. Staniolowský, der Vorsitzende des F. C. Schlesisch Ostrau, zu 401
meinem Vater herüber und flüsterte ihm mit merkbarem Zittern in der Stimme zu: »Herr Geschäftsführer, um Himmels willen, Jarda, unternehmen Sie etwas. Denken Sie sich etwas aus, und stecken Sie diesem Hammel zwei Tausender zu … nein, lieber gleich zweieinhalb … ich werde wegen diesem Kremlička noch einen Herzanfall bekommen, das hier ist doch unmöglich …« »Ich habe zweieinhalb Tausend bei mir«, flüsterte mein Vater zurück, »die Prerauer haben uns bereits die Fahrt und alles andere bezahlt, geben Sie mir, Herr Vorsitzender, einen Wisch, in dem Sie mir bestätigen, daß ich über dieses Geld disponieren kann!« »Mein Gott«, jammerte der Herr Vorsitzende, »Jaroušek, du vertraust mir nicht … jetzt, in diesem kritischen Augenblick, da es um das Schicksal des ganzen F. C. geht? Hier hast du mein Ehrenwort, pulver diese fünfundzwanzig Hunderter in ihn hinein … arrangier das irgendwie, denk dir etwas aus … der Klub wird es dir nie vergessen …« »Also gut, das genügt«, erwiderte mein Vater und biß sich auf die Lippen, »ich will es also versuchen …« Ich sah, wie mein Vater zur Linie ging und mit Áda Lakubec tuschelte. Drei Minuten später blieb Áda auf dem Rasen liegen, ohne gefoult worden zu sein. Er brüllte und wand sich vor Schmerzen. Zwei Männer mit der Tragbahre und ein Arzt eilten aufs Spielfeld. Der Schiedsrichter stand etwas abseits, doch niemand bemerkte in der allgemeinen Verwirrung, daß sich mein Vater an ihn herangemacht hatte. Ich konnte mir schon 402
denken, worüber die beiden miteinander flüsterten. »Herr Kremlička, so nehmen Sie doch Vernunft an«, flüsterte ihm mein Vater zu, »so geht das nicht weiter …« »Das war in beiden Fällen ein Abseits«, flüsterte Herr Kremlička zurück. »War oder war nicht«, sagte mein Vater mit beschleunigter Stimme und griff in die Tasche, wo er in einem Umschlag fünfundzwanzig Hunderter bereit hatte. »Wir anerkennen selbstverständlich Ihr Bemühen um ein reguläres Spiel«, flüsterte der Vater, »wenn Sie aber auch weiterhin dieses Match in den Grenzen normaler Spielregeln halten wollten, würde das der Ausschuß des F. C. Schlesisch Ostrau zu schätzen wissen … hier, nehmen Sie, Herr Kremlička«, sagte der Vater, während er sich dem Schiedsrichter zudrehte und ihm unauffällig den Umschlag in die Tasche schob. Die Zuschauer hatten nichts bemerkt, und ich muß sagen, mein Vater hatte das wirklich brillant gemacht. Áda Lakubec lag bereits auf der Tragbahre. »Wieviel ist denn da drin?« flüsterte Herr Kremlička. »Zweieinhalb«, erwiderte mein Vater. »In Ordnung, Herr Lapáček«, flüsterte der Herr Schiedsrichter, »Sie können sich auf mich verlassen, ich werde das Spiel in den Grenzen eines sportlichen, ehrlichen Wettkampfes halten …« Gleich darauf trabte mein Vater zur Tragbahre hin und beugte sich über Áda. In diesem Moment richtete sich Áda wieder auf und erklärte, der Schmerz in seinem Fuß habe nachgelassen, 403
wahrscheinlich sei das nur ein Krampf gewesen, er wolle versuchen, weiterzuspielen. Der Schiedsrichter gab mit seiner Trillerpfeife das Zeichen zur Fortsetzung des Spiels. Mein Vater wandte sich jetzt zu Herrn Dr. Staniolowský und flüsterte ihm zu: »Ich habe alles arrangiert, es geht in Ordnung.« Bis zum Ende der zweiten Halbzeit verpaßte der F. C. Schlesisch Ostrau dem Prerauer Gegner drei Tore, zwei davon buchstäblich aus dem Abseits. Am nächsten Tage begab sich der Vater zum Kassierer des Klubs, um mit ihm die Fahrt nach Prerau abzurechnen, legte die verbliebenen neunzig Kronen und fünfunddreißig Heller auf den Tisch und sagte, die fehlenden zweieinhalbtausend Kronen habe er über Herrn Dr. Staniolowskýs Auftrag dem Schiedsrichter als Belohnung für dessen hervorragende Leistung auf dem Spielfeld ausbezahlt. Herr Dr. Málek, Steuerbeamter und Kassierer des F. C. Schlesisch Ostrau, hob den Kopf von seinen Geschäftsakten und fragte, ob mein Vater eine Bestätigung von Herrn Dr. Staniolowský vorweisen könne und ob der Ausschuß diesen Betrag überhaupt bewilligt habe. »Nein, ich habe nichts in Händen«, erwiderte mein Vater, »aber Herr Dr. Staniolowský wird bestimmt bestätigen …« »Da werden wir gleich bei dem Herrn Doktor telefonisch nachfragen, damit die Sache in Ordnung geht«, sagte Herr Dr. Málek und hob den Hörer. Doch Herr Dr. Staniolowský konnte sich nicht mehr 404
erinnern, meinem Vater jemals einen Auftrag zur Auszahlung von zweieinhalbtausend Kronen an den Schiedsrichter gegeben zu haben. Er wisse überhaupt nichts davon, und wenn Lapáček das Geld ausbezahlt habe, dann habe er das auf eigene Verantwortung getan, und sagen wir, so fügte Herr Dr. Staniolowský hinzu, aus Liebe zu den Farben des Klubs, wofür dem Herrn Geschäftsführer Dank und Anerkennung gebühre. Mein Vater kam wie ein geprügelter Hund nach Hause, nahm sein Sparbuch, hob seine letzten Ersparnisse ab und trug das Geld Herrn Dr. Málek hin. »Richten Sie Herrn Dr. Staniolowský aus«, sagte mein Vater, »ich verzichte auf meine Geschäftsführer-Funktion, ich werde auch nicht mehr die Linien auf dem Fußballplatz kalken und meine Frau hört ab 3. Dezember dieses Jahres mit dem Waschen der Mannschaftsdresses auf. Adieu!« Diese Angelegenheit mit dem Prerauer Match hatte meinem Vater stark zugesetzt. Ich will nicht behaupten, mein Vater wäre mit Schmieren im Fußball nicht vertraut gewesen, aber dieses Mal hatte er mit Recht das Gefühl, von Herrn Dr. Staniolowský betrogen worden zu sein. Dieser Betrug traf ihn um so härter, als er schon die ganzen Jahre hindurch auf diesen glorreichen Augenblick des Aufstiegs des F. C. Schlesisch Ostrau in die Division sehnlichst gewartet hatte, und als dieser große Moment seines Lebens nun eingetreten war, mußte er ihn aus der eigenen Tasche bezahlen. Daher wundert es mich überhaupt nicht, daß mein 405
Vater Herrn Hyneš’ Reden über dessen Pläne zur Gründung der Gesellschaft »Obroda« vor Weihnachten mit großem Interesse lauschte. Er war schon auf alles vorbereitet. Aus diesem Grunde kam es zwischen meinem Vater und Herrn Hyneš rasch zu einer Einigung. Die Großmutter Zabalski wurde also, weil sie einen klangvollen Namen, wenn auch kein Vermögen besaß, der Hauptrepräsentant der Gesellschaft »Obroda«, mein Vater nahm einen Kredit in Höhe von zehntausend Kronen auf sein Geschäft auf, und Herr Karel Hyneš, der sich mit seiner Geldfälscherei bestimmt irgendein kleines Kapital erspart haben mußte, begann im Namen der Madame von Zabalski zu inserieren, sie biete gute Preise für Grundstücke, die für den zukünftigen Kanalbau benötigt würden. In den darauffolgenden Monaten erschienen in den Lokalzeitungen von Oderberg bis Freistadt unter dem Radhošt interessante Interviews mit Herrn Karel Hyneš, dem Bevollmächtigten der Frau Gräfin Emilie von Zabalski, in denen der Herr Bevollmächtigte des langen und breiten die Entwicklungsmöglichkeiten dieser ganzen Gegend erörterte, für den Fall, daß das Kanalprojekt gerade in dieser Landschaft realisiert werden würde. Herr Hyneš deutete jedoch zugleich an, daß die Gesellschaft »Obroda«, falls es ihr nicht gelingen sollte, hier Grundstücke aufzukaufen, eine andere Trassenführung des Kanals in Erwägung ziehen müßte. Vor den Augen der erstaunten Leser der Lokalzeitungen ließ Herr Hyneš verlockende Bilder von den zukünftigen Häfen FriedekMistek und Freistadt unter dem Radhošt erstehen. 406
Es ist sicherlich keine Übertreibung, wenn ich behaupte, daß mein Vater von Herrn Hyneš’ Elan mitgerissen wurde. Als er von den Zukunftsperspektiven der Gesellschaft »Obroda«, die, wie das ›České Slovo‹ schrieb, von der Gräfin Emilie von Zabalski, einer Dame aus altem polnisch-österreichischem Adel, gegründet wurde, in diesem angesehenen Blatt las, mochte er sich bestimmt einbilden, er sei jetzt endlich aus den kleinlichen Verhältnissen seiner Backstube, des Ladens und des Fußballplatzes heraus und habe endlich die einmalige Chance seines Lebens bekommen. Ohne daß mein Vater es wußte oder merkte, stieg sein Ansehen in der unmittelbaren Umgebung des Fußballplatzes. Als erster fand sich Herr David Wiesenthal bei uns in der Küche ein und erbot sich bereitwillig, sich mit zwanzigtausend Kronen an dem aussichtsreichen Unternehmen des Ankaufs von Grundstücken für das Kanalprojekt zu beteiligen. Frau Preis steuerte einen Betrag von fünftausend Kronen bei. Herr Votoček gab sechs Tausender her. Außerdem verriet Herr Wiesenthal meinem Vater, daß der Vereinsvorsitzende, Herr Dr. Staniolowský, bei der letzten Ausschußsitzung einer scharfen Kritik ausgesetzt gewesen war, die beinahe zu einem Mißtrauensvotum gegen ihn und zur Wahl eines neuen Vorsitzenden geführt hätte. Herr Dr. Staniolowský habe seine Position nur dadurch retten können, daß er versprach, Herrn Jaroslav Lapáček persönlich aufzusuchen, die Angelegenheit mit den unglückseligen fünfundzwanzig Hundertern in Ordnung zu bringen und den gewesenen Geschäftsführer 407
zu bitten, seine Funktion wieder zu übernehmen, selbstverständlich zu veränderten Bedingungen. In Zukunft, so hatte der Ausschuß beschlossen, müsse Herr Lapáček nicht mehr die Linien auf dem Fußballplatz kalken, sondern könne sich ausschließlich seinen Organisationsaufgaben widmen. Der Ausschuß ließ Herrn Dr. Staniolowský gegenüber deutlich durchblicken, daß der Herr Vorsitzende, falls es ihm nicht gelinge, die Angelegenheit mit dem Herrn Geschäftsführer beizulegen, das heißt falls dieser seine Geschäftsführer-Funktion nicht wieder übernehmen wolle, damit rechnen müsse, daß der Ausschuß bei der nächsten Sitzung über die Anträge zur Wahl eines neuen Vorsitzenden für den F. C. Schlesisch Ostrau beraten werde. Gleich am darauffolgenden Sonntag stellte sich Herr Dr. Staniolowský bei uns in der Küche ein und erklärte ohne Umschweife, diese Sache mit den fünfundzwanzig Hundertern für den Schiedsrichter Kremlička wäre nur ein Irrtum seinerseits gewesen, den er persönlich dadurch aus der Welt schaffen wolle, daß er meinem Vater hiermit dreitausendfünfhundert Kronen übergebe. »Einen Tausender mehr«, sagte Herr Dr. Staniolowský, »als kleine Entschädigung und als Ausdruck des Dankes seitens des ganzen Ausschusses. Es geht halt ohne Sie nicht, Lapáček«, fuhr Herr Dr. Staniolowský fort, »jetzt beginnt der richtige Kampf um den Aufstieg in die erste Liga, und ohne Sie wäre unsere Mannschaft nicht komplett … Wir bereiten für das Frühjahr ein großes Match gegen einen ausländischen Gegner vor, wir sind gerade dabei, eine Beleuchtung zu installieren, die Arbeit 408
wächst uns über den Kopf, und deshalb brauchen wir Sie dringend, Jaroušek … kommen Sie zu uns zurück, wir bieten Ihnen die Geschäftsführerstelle an, hier haben Sie meine Hand darauf!« Mein Vater ergriff diese Hand. Dann nahm Herr Dr. Staniolowský meinen Vater beiseite und fragte ihn umständlich über die Gesellschaft »Obroda« aus, und als er erfahren hatte, was er wissen wollte, deutete er an, er hätte im Augenblick irgendwelche Finanzreserven zur Verfügung und schon aus Kollegialität meinem Vater und Herrn Hyneš gegenüber, den er übrigens als recht hoffnungsvollen Mann schätze, würde er gern der Gesellschaft »Obroda« beitreten, selbstverständlich als stiller Teilhaber. »Und wieviel würden Sie einzahlen, Herr Doktor?« fragte ihn mein Vater ganz direkt. »Ich will Ihre Hoffnungen nicht durch übertriebene Erwartungen enttäuschen«, erwiderte Herr Dr. Staniolowský, »aber ich denke, ich könnte so hunderttausend Kronen flüssigmachen …« Meinem Vater wurden die Knie weich, aber es gelang ihm dann doch noch, Haltung zu bewahren.
allem, vom Guten wie vom Bösen immer nur kärgliche Überreste zuteil werden. Ich sehe meinen Vater vor mir, wie er in der aufgebügelten Uniform eines Wehrmachtssoldaten in Reih und Glied auf dem Platz des S. K. Prerau dasteht, auf demselben Platz, auf dem der F. C. Schlesisch Ostrau im Entscheidungsspiel um den Aufstieg in die Division gesiegt hatte, was aber dann mein Vater bezahlen mußte. Die Militärparade auf dem Platz des S. K. Prerau bildete den Abschluß der Ausbildungszeit, bei der die dritte Garnitur der wackeren Kämpfer für ein neues Europa auf einer dreißig Kilometer langen Strecke beweisen sollte, wie sich Soldaten auf einem Terrain voller Tücken zu orientieren imstande sind, als da waren: eine Flußüberquerung, Eroberung eines feindlichen Widerstandsnestes und dergleichen mehr und zum Abschluß dann direkt auf dem Platz des S. K. Prerau die Überwindung von Stacheldrahthindernissen, Handgranatenwerfen und Zielfeuern. Schließlich dann noch ein Bajonettangriff mit Kampfgeschrei. Am Vorabend dieser Parade fuhr ich gemeinsam mit meiner Mutter wieder nach Prerau, der Vater bedauerte sich schrecklich, daß er zu dieser Geländeübung antreten müsse, und auch Herr Tietze jammerte, der Juwelier aus Mährisch Ostrau und Dirigent des Gesangvereins »Slavík« oder »Nachtigall«, wie immer ihr diesen auch nennen wollt. Der Rottenführer mußte wohl ein Witzbold gewesen sein, daß er die beiden untüchtigsten Soldaten, nämlich 477
meinen Vater und den Juwelier, Herrn Tietze, in ein und dieselbe Patrouille einteilte. Dieser ganze militärische Gelände-Wettkampf wurde in Zweiergruppen durchgeführt. Ich kann mir gut ausmalen, daß niemand mit meinem Vater oder Herrn Tietze gemeinsam in einer Gruppe laufen wollte, da beide als notorische Pechvögel bekannt waren. Das letzte Malheur war den beiden durch einen tschechischen Gestapo-Spitzel zugestoßen. Mein Vater und Herr Tietze sprachen auf der Straße immer tschechisch miteinander, was bei der Prerauer Zivilbevölkerung Verwunderung erregte. Ein eifriger tschechischer Konfident zeigte die beiden bei der Gestapo als Spione an, die in Wehrmachtsuniform tschechisch miteinander redeten, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, aus der sie unter dem Vorwand, schwarzgebrannte Spirituosen kaufen zu wollen, Informationen über die wirtschaftliche und politische Situation herauslockten. Des weiteren gab der tschechische Konfident bei der Gestapo an, er sei den beiden verdächtigen Soldaten abends bis zum Haus der ortsbekannten Prostituierten Julie Půlštátová in der Vorstadt gefolgt. Einer der Spione, so meldete der Spitzel, sei draußen vor dem Haus geblieben und habe öfters geniest, während der andere sich hineinbegeben und sich eine knappe Stunde bei der Půlštátová aufgehalten hätte. Der von Niesen befallene Spion habe deutliche Anzeichen von Unruhe erkennen lassen und sei nach einer halben Stunde wieder in die Stadt zurückgegangen. Als dann der andere Spion wieder herausgekommen sei, habe er sich sehr verdächtig 478
umgeblickt und, nachdem er seinen Komplicen nicht mehr angetroffen, habe er Trunkenheit vorgetäuscht und vorübergehende Bürger in tschechischer Sprache nach dem Weg zu den Kasernen des 82. Bataillons gefragt. Die Bürger hätten dem Spion den Weg gezeigt, ja einer von ihnen, ein gewisser Kadeřábek, von Beruf Messerschmied, habe ihn bis zum Kasernentor geführt. Am nächsten Tag wurden beide, mein Vater und Herr Tietze, auf ihrem Weg ins Kino von der Prerauer Gestapo verhaftet. Doch schon eine halbe Stunde später, nachdem sich der Gestapochef mit dem Bataillonskommandanten der Achthundertzwölfer telefonisch in Verbindung gesetzt und es sich herausgestellt hatte, daß es sich hier um einen Irrtum handelte, wurden beide wieder entlassen. Ganz bestimmt wurde der Konfident von der Gestapo angewiesen, meinem Vater und Herrn Tietze aus dem Weg zu gehen, was zur Folge hatte, daß der beflissene tschechische Spitzel die beiden, wenn er ihnen gar nicht mehr ausweichen konnte, devot grüßte, in der Meinung, sie müßten wohl einer supergeheimen Elite-Truppe angehören, da ihnen nicht einmal die Gestapo etwas anhaben konnte. Selbstverständlich mußten die beiden in der Kaserne zum Rapport, doch ging alles gut aus. Dank ihrer guten Beziehungen zur Zivilbevölkerung hatten sich sowohl mein Vater als auch Herr Tietze für den Geländelauf durch die hannakische Ebene gut gerüstet. Zwar äußerte der Juwelier gewisse Bedenken darüber, daß sich mein Vater mit einer Flasche süßem Kirsch479
geist versehen hatte, doch mein Vater behauptete, süßer Schnaps sei gerade das richtige, weil der Körper bei großen sportlichen Leistungen ständig seinen Zuckervorrat ergänzen müsse, und Zucker gebe eben Kraft. »Jetzt ist die Tageswärme schon im Abnehmen«, behauptete Herr Tietze, »und die Wärmeabnahme verursacht Müdigkeit, ich nehme ein Fläschchen Sliwowitz mit, der wird uns beiden guttun.« Bei der Auslosung der Strecke hatten die beiden Pech, aber vielleicht war das gar nicht einmal richtiges Pech als eher die Absicht des Herrn Kommandanten: Mein Vater und Herr Tietze bekamen den letzten Streckenabschnitt zugeteilt. Noch bevor sie den Fluß Bečva erreicht hatten, den sie im Schutz eines Rauchvorhangs durchwaten sollten, waren beide bereits schwer angeschlagen. Beinahe hätten sie sich in dem Rauch verirrt, und als sie aus diesem Vernebelungsschleier wieder auf freies Gelände heraustraten, mußten sie feststellen, daß sie sich tatsächlich endgültig verirrt hatten. Sie waren bis auf die Haut durchnäßt und zitterten ein wenig vor Kälte. »Vom Anna-Tag an ist es am frühen Morgen immer schon ziemlich frisch«, sagte mein Vater. Herr Tietze wiederum meinte, im August pflege das Wasser der Flüsse schon kalt zu sein, und er verspüre das Bedürfnis, sich jetzt einen Schluck Sliwowitz zu genehmigen; auch mein Vater fühlte sich irgendwie schwach und tankte aus seiner Flasche mit dem Kirschgeist. Dann machten sich beide auf die Suche nach dem 480
feindlichen Widerstandsnest, einer alten Scheune, konnten sie aber in der weiten hannakischen Ebene nicht finden. Als sie nach einer Stunde dort angestolpert kamen, schrie sie der Offizier zusammen, sie seien die Schande des ganzen Bataillons, er warte hier auf sie schon eine ganze Ewigkeit, die programmäßige Eroberung müsse entfallen, sie sollten sich schön mit Volldampf weiter auf die Socken machen, sonst träfen sie bis zum Jüngsten Tag nicht am Ziel in Prerau ein. Kurz darauf begannen die Schwierigkeiten mit der Orientierung im Gelände. Herr Tietze besaß eine Landkarte mit der eingezeichneten Trasse und der Kote 06, mein Vater einen Kompaß. Entweder war die Trasse falsch eingezeichnet oder aber funktionierte der Kompaß nicht, wenigstens behauptete mein Vater, beim Durchwaten des Flusses müsse Wasser ins Instrument eingedrungen sein, Tatsache jedenfalls war, beide stellten nach einer halben Stunde übereinstimmend fest, daß sie sich in den Gefilden der Hanna-Ebene verlaufen hatten. Herr Tietze schlug vor, sich ein wenig zu verschnaufen, sich ein Weilchen hinzusetzen, einen Schluck zu sich zu nehmen und sich nochmals alles gründlich durch den Kopf gehen zu lassen. Also ließen sie sich auf einem Feldrain nieder, blickten sich nach allen Seiten um, wo denn nur diese verdammte Kote 06 sein mochte, und stärkten sich jeder aus seiner Flasche. Dann kostete Herr Tietze vom süßen Kirschwasser meines Vaters und meinte, auch das ließe sich ganz gut trinken; mein Vater nahm einen Schluck Sliwowitz von ihm und stellte fest, dieser Schnaps hebe sogleich die Stimmung. 481
Aber noch war die Flasche nicht geleert, als meinen Vater schon wieder schlechte Laune befiel. Er hatte sich gerade wieder an die Großmutter Zabalski erinnert. »Herrgott, Herr Tietze«, jammerte der Vater, »wenn ich diese Alte jetzt so in meine Fänge bekäme, der würde ich das Maul bis zum Hintern aufschlitzen, die hat mich in ein feines Schlamassel hineinmanövriert. Jetzt könnte ich schön daheim in meiner Backstube sitzen oder mir ein Fußballmatch ansehen, aber dieses Frauenzimmer hat mir das eingebrockt …« »Diese Zabalski ist ein Aas«, sagte Herr Tietze und nahm einen schmatzenden Schluck aus der Flasche, »mich wollte sie auch mit ihrer Bijouterie-Brosche hineinlegen, sie hat behauptet, der Schmuck sei echtes Gold. Ich an Ihrer Stelle, Herr Lapáček, würde dieses Weib mit Vitriol vergiften, dazu wäre ich wirklich fähig, obwohl ich ein friedliebender Mensch bin.« »Und auch diesen Václav Deutscher«, fuhr der Vater fort, »möchte ich am liebsten in der Luft zerreißen. Was hat der in mich hineingeredet, ich solle doch durch die Übertrittserklärung die Chance meines Lebens nutzen, um endlich einer Mannschaft anzugehören, die in den nächsten tausend Spielsaisons auf allen europäischen Spielplätzen siegen werde …« Herr Tietze begann jetzt unruhig zu werden, die Sonne stand schon hoch am Himmel. »Vielleicht sollten wir wieder ein Stück weitermarschieren«, meinte er. »Also los, gehen wir«, sagte mein Vater und erhob sich, war aber nicht mehr sehr standfest auf den Beinen. 482
Als sie dann gemeinsam durch die hannakische Ebene weiterzogen, geriet mein Vater allmählich in weinerliche Stimmung. »Sie werden es mir nicht glauben, Herr Tietze«, sagte er, »aber ich bin auf die Fesseln eines Weibs hereingefallen, kaum hatte ich sie berührt, da war ich auch schon verloren … und in einer Tour hieß es dann, Offizierstochter hier, Offizierstochter dort, und was ist mir die Alte auch in den Ohren gelegen, mir biete sich jetzt die Chance meines Lebens, auch die Preußischen hätten die Volksliste unterschrieben, und ich wollte mich immer noch nicht dazu bequemen. Am liebsten möchte ich jetzt, Herr Tietze, die Uniform ausziehen und heimgehen … dann könnte ich wieder einmal unseren Kanariengelben beim Match zusehen, gerade heute findet das erste Spiel der Herbstrunde statt, die Jungens sind in Prag zum Kampf gegen die Sparta angetreten, ich könnte jetzt, Herr Tietze, schön auf dem Sparta-Platz sitzen und zuschauen …« »Also trinken wir den Rest aus«, sagte Herr Tietze, »wir werden uns dann besser fühlen. Trinken wir aus und pfeifen wir auf die Welt, uns kann es nur darum gehen durchzuhalten, darüber müssen wir uns klar sein, einfach durchzuhalten.« »Vor allem aber müssen wir diese verdammte Kote finden, Herr Tietze«, sagte mein Vater, nachdem er den Rest des Kirschwassers in sich hineingeschüttet hatte. »Wir haben genügend Zeit«, erwiderte Herr Tietze, »Zeit genug, noch ist der Krieg nicht zu Ende, also was soll’s?« Die Hitze hatte sie wohl beide fertiggemacht. 483
Um die Mittagszeit torkelten die beiden Soldaten durch die von der heißen Sonntagssonne durchglühte Hanna-Ebene. Wahrscheinlich war ihnen schon alles egal, vergessen war die Kote 06, der Herr General, der zur Inspektion der militärischen Gelände-Schlußübung erschienen war, und weil den beiden elend zumute war, stimmten sie das Lied an: »Rings um Hradec in einem kleinen Gärtchen.« Die Bauern, die auf den Feldwegen vom Sonntags-Kirchgang heimkehrten, wichen den beiden Soldaten im Bogen aus. »Gesang erquickt Herz und Gemüt«, meinte Herr Tietze, »Gesang ist Dienst an der Seele!« »Wissen Sie, wo ich gedient habe«, sagte mein Vater in einer Anwandlung jugendlicher Lebhaftigkeit, »damit Sie es nur wissen, ich bin nämlich jener Zugführer, dem der berüchtigte Räuber Lecián aus dem Militärknast entkommen ist! Dafür haben sie mich dann degradiert, ich hab halt schon immer das Pech, Herr Tietze, daß ich in jeder Armee, in der ich diene, degradiert werde … weil ich mich aus Prerau entfernt habe und zu einem Fußballspiel heimgefahren bin, haben mich wiederum die Deutschen degradiert … ich glaube, man würde mich sogar bei der Heilsarmee degradieren, Herr Tietze.« »Ich dagegen«, begann Tietze zu prahlen, »habe direkt beim Generalstab gedient, als Juwelier, ich habe für gekrönte Häupter Medaillen aus echtem Gold angefertigt, das waren noch Zeiten, Herr Lapáček, ja, das waren Zeiten!« Die Parade auf dem Sportplatz ging ihrem Ende zu, alle Patrouillen hatten bereits ihr Ziel erreicht, sie krochen jetzt durch die Stacheldrahtsperren, warfen Handgrana484
ten, schossen auf Ziele und führten mit aufgepflanztem Bajonett Sturmangriffe vor. Das Bataillon war bereits vor dem Herrn General angetreten, aber von meinem Vater und Herrn Tietze fehlte jede Spur. Meine Mutter und ich begannen unruhig zu werden. Der alte Herr mit den Generalsstreifen an den Hosennähten befand sich gerade mitten in seiner feierlichen Ansprache an die Soldaten, als ich im Stadioneingang den Kopf meines Vaters erblickte, er hatte hereingeschaut und sich sofort wieder zurückgezogen. Wenig später lugte Herr Tietze herein. Aber da hatte auch schon einer der Offiziere meinen Vater und Herrn Tietze bemerkt und ließ die beiden festnehmen. Als sie den Vater und Herrn Tietze an uns vorüberführten, hörte ich, wie der Offizier ihnen zuzischte: »Ihr Lumpenkerle, dafür blüht euch der Marschbefehl an die Front!« Kaum hatte mich der Vater erblickt, als er mir zurief: »Weißt du, wie der F. C. gegen die Sparta gespielt hat?« »Wir haben 3 : 2 gewonnen«, erwiderte ich. »Dann ist ja alles in bester Ordnung«, sagte mein Vater mit zufriedenem Lächeln, als sie ihn in das Militärauto hineinschubsten. Herr Tietze stieg gehorsam in den Wagen, ja er bemühte sich sogar noch, meiner Mutter eine Verbeugung zu machen, was ihm aber nicht gelang. Bei allem Pech, das mein Vater und Herr Tietze hatten, lächelte ihnen dennoch das Glück aus einem Auge zu, und zwar in Gestalt des nicht promovierten Mediziners 485
Hans König. Dieser hatte seinen linken Arm bis zum Ellbogen hinauf irgendwo bei Narvik verloren und eines seiner Augen unter nicht ganz geklärten Umständen; man erzählte sich von einem Aufenthalt in einem Tiroler Dorf, wo Herr König seine sich im norwegischen Feldzug geholten Wunden auskuriert habe; im Dorfwirtshaus sei er in eine Schlägerei verwickelt worden und habe dabei ein Auge eingebüßt. Zwar bemühte sich Herr König anzudeuten, er habe sein Auge ebenfalls in Narvik verloren, aber das glaubte ihm niemand. Nach dem großen Malheur bei der militärischen Schlußübung hatten sich mein Vater und Herr Tietze die besondere Sympathie des Herrn Hans König, des Bataillonsarztes, erworben, der die beiden vor der Versetzung an die Front bewahrte. Bei meinem Vater stellte Herr König einen Herzfehler fest, Herr Tietze litt plötzlich an Magengeschwüren und an einem Nierenschaden, und so wurden beide zu einer Wachkompanie nach Mährisch Ostrau abkommandiert, wo sie die Eisenbahnbrücke über die Ostravice auf der Oderberger Strecke zu bewachen hatten. Durch militärische Schicksalsfügung wurde auch Herr Hans König nach Mährisch Ostrau versetzt. Unter seinem Schutz fühlten sich mein Vater und Herr Tietze vor der rachsüchtigen Militärbürokratie einigermaßen sicher, die den beiden die Verunglimpfung der Wehrmacht nicht verzeihen konnte, deren sie sich dadurch schuldig gemacht hatten, daß sie den Wettkampf der Zweiergruppen mit einer dreistündigen Verspätung und dazu noch in betrunkenem Zustand beendet hatten. 486
Mit Herrn König hielt die große Welt Einzug in unsere Küche. Am Ringfinger der rechten Hand des nicht promovierten Arztes funkelte ein herrlicher Brillant, ein Geschenk von Herrn Tietze. Am meisten aber imponierte mir an Herrn König, wie er sein Monokel ins Auge klemmte. Im Augenblick des feierlichen Monokelaufsetzens, was für Herrn König eine Art Ritus bedeutete, durchliefen sein Gesicht unzählige Muskelbewegungen. Niemals zuvor noch jemals später ist mir irgend jemand begegnet, der in seinem Gesicht so viele Muskeln in Bewegung zu setzen vermochte wie er. Aber selbst wenn ich einem solchen Menschen begegnet wäre, der es hinsichtlich der Anzahl seiner Gesichtsmuskeln mit Herrn König hätte aufnehmen können, so hätte er es bestimmt nicht zuwege gebracht, sie mit der gleichen Souveränität zu beherrschen wie eben Herr König. Zuerst begann der linke große Backenmuskel zu zucken, während sich der Muskel auf der rechten Wange zur Form einer kleinen Wulst zusammenzog; dann setzten sich die Muskeln rings um das Kinn in Bewegung, die Muskulatur der linken Gesichtsseite drückte Herrn Königs Kinn nach rechts, und die Muskeln auf der rechten Seite wanderten bis zum Kieferknochen hinunter; wie das Herr König eigentlich zustande brachte, ist mir bis heute noch ein Rätsel. Aber das war noch gar nichts im Vergleich zu dem, was Herr König mit seiner Stirnmuskulatur aufführte. Quer über seiner rechten Stirnhälfte verlief eine häßliche Narbe, die sich über die Braue hinweg, die Augenhöhle zerschneidend, bis zur halben Wange hinunterzog. Herrn 487
König fehlte das rechte Auge, deshalb trug er ein Glasauge. Ich glaube, es ist keine allzugroße Übertreibung, wenn ich behaupte, daß Herr König auch auf der Stirn Muskeln besaß, was aus der Sicht der Anatomie barer Unsinn ist, aber wie hätte ich mir sonst das reichnuancierte Muskelspiel auf seiner Stirn erklären können, das in dem Augenblick einsetzte, wenn er sein Monokel ins Auge klemmte? In diesem Moment sank die Haut seiner rechten Stirnhälfte merklich herab, die Braue überdeckte die Augenhöhle samt dem Glasauge, die linke Stirnhälfte spannte sich wieder und verschob den Rand seines dunklen Haars um mindestens drei bis fünf Zentimeter zum Scheitel hinauf. Herrn Königs beide Ohren beschrieben im Augenblick des höchsten Effektes einen Kreis, das linke Ohr kreiste nach vorn, das rechte in umgekehrter Richtung. Erwähnenswert wäre noch Herrn Königs Nase. Im Anfangsstadium der Muskelaktivität wich seine Nase mit einem einzigen Ruck von ihrer ursprünglichen Lage etwas nach rechts ab; in dieser Position registrierte sie dann wie ein empfindlicher Seismograph jede Lageveränderung der einzelnen Muskeln, beruhigte und stabilisierte sich erst wieder auf ihrem Platz, wenn die Ohren ihre faszinierende Bewegung beendet hatten. Jetzt war auch der rechte Moment gekommen, da Herr König mit einer zeremoniösen Geste sein Monokel zwischen die Braue über dem linken Auge und dem Backenknochen einklemmen konnte. Der nicht promovierte Herr Doktor pflegte auch ständig 488
seinen Kopf mit einer kleinen Bewegung nach rechts zu wenden, worauf er ihn mit einem plötzlichen Ruck wieder in die ursprüngliche Lage zurückriß. Und so ging das unablässig hin und her. »Das sind die Nerven«, entschuldigte sich Herr König bei meiner Mutter, »das sind halt die Nerven.« Aber auch diese Erklärung konnte ebensowenig mich wie meine Mutter davon abhalten, der Bewegung von Herrn Königs Kopf, wenn dieser sich, wie von einem Magneten angezogen, auf die rechte Seite neigte, mit den Blicken zu folgen. Nie aber vermochte ich abzuschätzen, wann Herr König den Kopf wieder zurückreißen würde, stets überrumpelte er mich mit dieser Bewegung, ja er erschreckte mich manchmal sogar damit. Die Selbstgespräche, die Herr König bei uns in der Küche führte, begannen stets mit einem denkbar knappen Hauptsatz. So sagte Herr König zum Beispiel: »Das Universum ist eine Kugel.« Darauf verstummte er, hob den Kopf, musterte uns mit forschenden Blicken und fügte hinzu: »Die Erde ist die ganz kleine Kugel in seinem Innern.« Unter derartigen Umständen war eine Diskussion mit Herrn König schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Herr König litt es nicht, daß irgend jemand an seinen Behauptungen auch nur den geringsten Zweifel, sein Mißfallen oder auch nur Überraschung äußerte. »Wenn ich etwas ausspreche«, sagte Herr König, »was immer es auch sein mag, dann wird es in dem Augenblick, da ich es äußere, zur Realität. Um aber nicht eine 489
persönliche Verantwortung für irgendeine Gewalttat auf mich zu laden, rede ich immer nur von solchen Tatsachen, mit denen kein Mißbrauch getrieben werden kann … Ich realisiere sie nur für mich allein.« Herr Tietze war ungeduldig geworden, wagte jedoch nicht, Herrn Hans König zu unterbrechen. Als dieser dann aber schwieg, sagte Herr Tietze zu ihm: »Herr Doktor, wir haben ja schon flüchtig darüber gesprochen … ich besitze einige kostbare Brillanten, um die ich nicht gerne kommen möchte … könnten Sie mir nicht diese Steine irgendwo unter die Haut einnähen, vielleicht am Bauch? …« Herr König ließ seine Gesichtsmuskulatur spielen, setzte dann sein Monokel auf und fragte: »Wann? Und wo?« Jetzt mußte Herr Tietze mit der Sprache herausrükken, eigentlich habe er bereits alles mit Herrn Lapáček abgesprochen, die ganze Sache könnte doch wohl am besten auf dem großen Tisch in der Backstube unten durchgeführt werden. »Gut, bereiten Sie alles für morgen vor«, sagte Herr König. Am nächsten Tag wurde also Herr Tietze unterhalb des Nabels aufgeschnitten, mein Vater mußte des Juweliers Kopf festhalten; ich sah von der halbgeöffneten Tür aus, vor der ich Wache halten mußte, zu, wie Herr König mit sicherer Hand einen Einschnitt in Herrn Tietzes Haut unterhalb des Nabels machte; dann zog er die in einem Gläschen mit Alkohol liegenden Brillanten Stück für Stück mit einer Pinzette heraus und legte sie nacheinander in den Hauteinschnitt. 490
Sooft Herr König in Herrn Tietzes Bauchmuskulatur einen Brillanten einsetzte, schrie der Juwelier vor Schmerz auf. Ich zählte fünf solcher Aufschreie, aber am stärksten schrie Herr Tietze, als Herr König den letzten Brillanten mit seiner Pinzette faßte und in die Höhe hob. Die scharfen Kanten des Edelsteins sprühten in einem rosafarbenen Feuer. Herr Tietze brüllte vor Schmerzen, und mein Vater hatte alle Mühe, ihn auf dem Tisch festzuhalten. Alles hätte rascher durchgeführt werden können, doch Herr König besaß ja nur einen Arm; übrigens stellte er sich ziemlich geschickt an. Ich beobachtete sein Gesicht: Nicht ein einziger Muskel zuckte jetzt darin; als er den letzten Brillanten, gegen das Licht haltend, betrachtete, schien mir, als sagte er: »Durchhalten, Herr Tietze, Sie müssen nur durchhalten …« Als alles vorüber war, zündete sich Herr Tietze eine Zigarette an, blickte unsicher um sich und versuchte, zaghaft zu lächeln. »Drei Stiche haben genügt, nur drei Stiche und fertig war alles … Ich hoffe doch, meine Herren, Sie werden Stillschweigen darüber bewahren, ich bitte Sie, um Himmels willen, dichtzuhalten!« Am Morgen des letzten April 945, als Herr Friedrich Tietze, Juwelier aus Mährisch Ostrau und Dirigent des Gesangvereins Slavík oder Nachtigall, beim Zaun des F. C. Schlesisch Ostrau-Platzes tot dalag, hatte ich bereits die Oder überquert. 491
Alle hatte ich auf dem anderen Ufer zurückgelassen: Kurt Wagner, Herrn Votoček, Adalbert, also Vojta Kudlatschek und Heinz Hupka mit dem wunden Fuß. Kaum hatte ich die Straßen unserer Stadt betreten, mich meinem Zuhause und dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau genähert, schon umfing mich Stille; der nördliche Horizont bewegte sich in orangefarbenen Wellen. Mit einem Male kam mir der Gedanke, ich müßte eigentlich auf das linke Ufer der Oder zurückkehren, ich sei ja ein Deserteur. ›Ach was, warum soll ich dorthin zurückkehren‹, sagte ich mir dann, ›ich trage doch keinerlei Verantwortung, ich kann doch nie für etwas verantwortlich gemacht werden, wozu man mich gezwungen hat.‹ Als mich Kurt Wagner in den alten Wehrmachtsmantel einkleidete und mir ein Gewehr in die Hand drückte, mußte er doch damit rechnen, daß mir von dem Augenblick an, da ich die klebrige, widerwärtige Berührung des gewaltsamen Zwanges in seinem Endstadium spüren würde, bereits alles zu tun erlaubt war, was meine Befreiung herbeiführen konnte. Niedertracht, Arglist, Tücke und Gewalt waren zu meinen Bundesgenossen geworden, ohne daß ich mich in Zukunft eines solchen Bündnisses würde schämen müssen. Ich kehrte nicht auf das linke Ufer der Oder zurück, breitete meinen Soldatenmantel über einen Gully und begab mich den Fluß entlang heim. Unter der Eisenbahnbrücke bei Hruschau lehnte ich mich an einen Betonpfeiler. Ein leichter Sprühregen fiel herab. 492
Befreit und wohlig sog ich die Luft ein. Am nördlichen Horizont stiegen Leuchtraketen auf: grüne, orangefarbene, gelbe, blaue und weiße. Die Landschaft war ein wechselndes Spiel von Farben, nur die Schatten blieben schwarz. Auf der Brücke über mir herrschte Stille. ›Wenn die Züge wieder verkehren werden‹, fiel mir ein, ›wird der Krieg zu Ende, wird Friede sein.‹ Das Wort Friede sagte mir nichts. ›Es wird keine Fliegerangriffe mehr geben‹, dachte ich, ›und Anka Kocifaj wird sich im Heu über unserem Kaninchenstall nicht mehr an mich schmiegen.‹ Mir fiel nichts Besseres ein, ich konnte nur an Anka Kocifaj denken. ›Es war eigentlich nicht gar so schlimm‹, sagte ich mir, ›und hat auch gar nicht so lange gedauert. Der Krieg geht zu Ende, und aus mir ist immer noch kein Mann geworden.‹ Ich blickte zu den Leuchtraketen am Horizont hin. Jetzt stiegen vor allem grüne auf. ›Das ist also das Kriegsende: Lichter am Horizont, eine Landschaft in wechselndem Farbenspiel, leiser Regen und eine Eisenbahnbrücke ohne Züge.‹ Der herannahende Friede schreckte mich nur durch seine auf mich zukommenden Unsicherheiten. Ich versuchte, mir auszumalen, wie das Leben ohne Kurt Wagner, ohne Herrn Wenzel Deutscher aussehen würde, ließ es aber dann sein. Die Zukunft interessierte mich nicht. Alles sollte so bleiben, wie es jetzt ist: Leiser Regen 493
sollte herabfallen, die Lichter müßten über Hruschau stehenbleiben und die Landschaft in Farben tauchen. Wir alle sollten für hundert Jahre festgebannt auf derselben Stelle verharren. So wünschte ich mir eine Gegenwart, die für immer andauern würde. Dann stellte ich mir vor, wie sich die Menschen vielleicht schon morgen über den Frieden freuen oder Freude vortäuschen würden, ohne auch nur im geringsten daran zu denken, daß man den Krieg mit seinen deutlich und leicht erkennbaren Gefahren zur Not noch hatte durchstehen können. Damals konnte ich mir nicht vorstellen, wie wir in einem Monat leben würden, wenn dann Unsicherheiten von ganz anderer Beschaffenheit und offenbar von längerer Dauer auf uns zukommen würden. Ich bedauerte, daß ich nicht imstande gewesen war, alle Möglichkeiten zu nutzen, die mir der Krieg geboten hatte. Zum Beispiel Kurt Wagner zu erschießen. ›Ich habe meinen Augenblick vertan‹, sagte ich mir, ›die ganzen langen Jahre hatte ich mich auf diesen Moment vorbereitet. Mein Herrgott war gnädig zu mir gewesen und hatte Kurt Wagner als Opferlamm für mich bereitgehalten.‹ Ich bedauerte es, mit dem Kriegsende meine Feindschaften und Feinde einbüßen zu müssen, und hoffte, der Friede würde wiederum nicht allzu lange anhalten und der Herrgott mir auch in der Zwischenzeit noch eine Chance geben. Ich befürchtete nur, der Friede würde das Töten, von dem ich ahnte, daß es mir vergönnt sein würde, zum bloßen Mord disqualifizieren und ihm 494
den Charakter wütender und brutaler Notwendigkeit nehmen, den nur der Krieg dem Tod verleiht; von all dem würde nur eine kleine, verzweifelte persönliche Rache übrigbleiben. ›Dagegen läßt sich nichts tun‹, sagte ich mir, ›ich werde also bloß Rache nehmen.‹ Ohne mir damals im klaren darüber zu sein, mochte ich doch ahnen, daß Vergeltung jene Münze sein würde, in der ich allen jenen, die mich im Namen des Friedens – oder egal in wessen Namen – vergewaltigten, alles mit Zins und Zinseszins heimzahlen würde. ›Der Krieg geht für mich nicht zu Ende‹, sagte ich mir. Eine Leuchtrakete, ich glaube, eine blaue, erhellte den Raum unter der Brücke. ›Hier war es also gewesen‹, dachte ich lächelnd, ›hier hatte der Vater ein halbes Jahr zuvor seinen Soldatenmantel ausgebreitet. Die Mutter hatte sich darauf niedergelassen und zur Brückenkonstruktion hinaufgeschaut.‹ ›Ob sie wohl meine Schritte auf der Brücke vernommen und gehört hatte, was ich da oben zu Herrn Tietze gesagt hatte?‹ Wir hatten damals dem Vater das Essen auf die Brücke hingebracht. Als wir zum ersten Mal hinkamen, war es schon fast Abend gewesen. Der Vater hatte telefoniert, er trete um sieben Uhr abends gemeinsam mit Herrn Tietze zur Wache an, aber weil es um sieben noch hell gewesen war, hatten die Mutter und ich uns nicht auf die Brücke gewagt. Ich sah den Vater am anderen Brückenende mit dem 495
Gewehr über der Schulter auf und ab marschieren. Etwas links von ihm, beim Wächterhäuschen, stand Herr Tietze. Um halb acht war es bereits dunkel, und so betraten die Mutter und ich jetzt die Brücke. Als wir uns ungefähr in ihrer Mitte befanden, stoppte uns des Vaters Stimme mit einem: »Halt!« »Das sind doch wir«, rief ich ihm zu, »wir bringen dir die Knödel!« Wir gingen mit dem Vater zusammen ins Wächterhäuschen hinein, Herr Tietze hielt draußen Wache. »Die sind ja noch warm«, sagte der Vater voll Befriedigung, während er sich über den Topf mit den Knödeln hermachte. Als er mit dem Essen fertig war, tunkte er die Sauce mit dem Finger aus, stellte dann sein Gewehr in die Ecke und befahl mir, hierzubleiben, er wolle mit der Mutter noch einen Spaziergang unter der Brücke machen. Vor dem Wächterhäuschen erblickte ich Herrn Tietzes dunkle Silhouette. Nein, ich fürchtete mich nicht, aber ein Zittern besonderer Art befiel mich; ich entsetzte mich über ein paar Selbstverständlichkeiten: Der Vater hatte mit seiner Taschenlampe in den Topf hineingeleuchtet, die Sauce mit dem Finger ausgetunkt, geschmatzt, das Gewehr in die Ecke gestellt und mir geboten, hierzubleiben. Ich begab mich zu Herrn Tietze hinaus. Die Brücke erzitterte, als ein Zug über sie hinwegbrauste. Wahrscheinlich war das in jenem Moment gewesen, als der Vater seinen Soldatenmantel unter der Brücke 496
ausgebreitet hatte. Ich kann mir vorstellen, wie das Gesicht meiner Mutter kantig geworden war und sie bestimmt im Dunkel versucht hatte, sich zur Wehr zu setzen, doch der Vater hatte nichts von diesen Abwehrbewegungen gemerkt und selbst wenn, so hätte er nichts begriffen. Erneut hatte ein Zug die Brücke passiert. Die Mutter mochte wohl dabei das Gefühl empfunden haben, als zerreiße sie der Zug in zwei Hälften oder aber als stürzten die Stahlträger der Brücke auf sie herab, und so hatte sie sich geduckt. Der lange Zug war langsam über die Brücke gerollt. Als die Lok an mir vorüberfuhr, waren Funken unter den Rädern hervorgesprüht. »Ich habe Angst, Herr Tietze«, sagte ich zu ihm. »Fürchte dich nicht«, erwiderte Herr Tietze, »das alles mußte so kommen, wir haben es verdient, wir wollen jetzt nur noch nach der Parole leben: durchhalten …« Herr Tietze lehnte sich neben mich ans Brückengeländer. Der Zug hatte sich bereits entfernt. »Drücken Sie nicht Ihre Brillanten?« fragte ich ihn. »Jetzt nicht mehr«, erwiderte Herr Tietze, »sie sind mit mir ganz verwachsen. Wenn ich mich elend fühle, dann taste ich sie mit den Fingern ab.« »Und wie wird das alles weitergehen, Herr Tietze?« fragte ich. »Wir haben einen wunderschönen Herbst, warme Nächte, wir leben«, flüsterte Herr Tietze, »was willst du mehr? Solche Herbste wird es noch viele geben … vielleicht.« »Ich mag meinen Vater nicht, Herr Tietze«, sagte ich. 497
Der Juwelier legte mir seine Hand auf die Schulter. »Das vergeht«, erwiderte er, »in meiner Jugend habe ich lauthals verkündet, mein Vater sei nur noch ein zukünftiger verdienstvoller Leichnam … ich wollte nämlich Dirigent werden, aber mein Vater besaß einen Juwelierladen.« Von unten rief mich jetzt meine Mutter. »Gute Nacht, Herr Tietze«, sagte ich zu ihm. »Gute Nacht«, gab er zur Antwort, »und mach dir keine Sorgen, denk daran, das Schönste ist die Gegenwart, die Vergangenheit ist tot und die Zukunft bahnt sich erst an, halten wir uns also an die Gegenwart, genießen wir sie …« Ich wollte Herrn Tietze noch fragen, warum er sich aber dann für die Zukunft hatte Brillanten in die Haut unter dem Nabel einnähen lassen, doch meine Mutter rief mich erneut. In der Mitte der Brücke begegnete ich dem Vater. Er trug seinen Militärmantel überm Arm. »Hast du den Topf?« fragte er mich. Offenbar erwartete er keine Antwort, und so schwieg ich. So war das schon immer gewesen: Der Vater richtete eine Frage an mich, wartete aber keine Antwort mehr ab. Beim Brückenpfeiler unten stand meine Mutter. Sie faßte mich an der Hand, und ich fühlte, daß die ihre kalt, feucht und fest war. Noch heute bilde ich mir ein, damals im Dunkel ihr kantiges Gesicht gesehen und ihre Stimme vernommen zu haben: »Ich hätte etwas Besseres verdient, wahrhaftig etwas Besseres …« 498
Aber meine Mutter mochte auch etwas anderes gesagt haben, vielleicht hatte sie auch geweint, ich möchte mir gerne einreden, daß sie geweint hatte; ich weiß nur, sie straffte ihren Körper und ging festen Schrittes, ihre Hüfte dicht an die meine geschmiegt, neben mir her. Schade, daß ich im Dunkel ihren Mund nicht sehen konnte. Ich weiß eigentlich nicht, ob die Mutter tatsächlich gesagt hatte: Ich hätte etwas Besseres verdient, wahrhaftig etwas Besseres … Doch darauf kommt es heute nicht mehr an. Wenn ich jetzt in Trance mit meiner Mutter spreche, wiederholt sie immer nur diesen Satz. Ich habe jedoch den Eindruck, als hätte sie sich ihn erst nachträglich ausgedacht, diese Worte aufgegriffen und sich an sie festgeklammert. Aber es kommt wirklich nicht mehr darauf an, wie das damals eigentlich gewesen war. Ich verließ meinen Platz unter der Brücke und marschierte weiter, Schatten hefteten sich an meinen Rücken und zogen mich zurück. Ich wußte, ich hatte auf dem anderen Ufer des Oderflusses nichts zurückgelassen, sondern schleppte wieder alles mit mir. Mitternacht war schon vorbei, als ich auf dem Platz vor dem Rathaus anlangte. Ich wollte nicht an der Frontseite des Rathauses entlanggehen, doch die Schatten drängten mich dorthin. Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Mauer. 499
Über der Stadt stiegen jetzt Leuchtraketen auf und erhellten die Schrammen, Löcher und Abschürfungen im Verputz, die Haken und die Nägel. Und ich vernahm Stimmen. Hunderte von Gesichtern zogen an mir vorüber, aber ich konnte ihre Züge nicht unterscheiden, ich sah nur geöffnete Münder, die offenbar sangen oder etwas schrien, ich weiß es nicht, und ich erblickte Fahnen: rote, weiße, orangefarbene, grüne, der ganze Platz war voll von Gesichtern und Farben. Und dann fuhr ein Blitz herab. Zuvor jedoch erbebte die Mauer, ich mußte mich mit meinem ganzen Gewicht dagegenstemmen, damit sie nicht auf mich herabstürzte. Staub wirbelte um mich herum, legte sich auf mein Haar und meine Schultern, setzte sich an meinen Lippen fest, ein Staubnebel senkte sich zwischen mir, den Gesichtern und den bunten Fahnen auf den Stadtplatz herab, der Druck in meinem Rücken ließ nach. Über meinem Kopf, in Reichweite der Hand, war im Mauerverputz ein frisches Loch herausgeschlagen. Sein Inneres war rot, seine Ränder mit rosa Staub bedeckt. Über dem Stadtplatz stiegen wieder Leuchtraketen empor, sie waren jetzt orangefarben. Mit den Fingern zupfte ich abgebröckelte Ziegelstückchen aus meinem Haar. ›Was für eine Farbe mein Haar wohl haben mag‹, dachte ich, ›rot oder grau?‹ Der Stadtplatz war bereits leer, ich konnte nunmehr meinen Heimweg fortsetzen. 500
Ein paar Straßen vor dem Fußballplatz vernahm ich Musik, Tschaikowskis Klavier-Konzert. ›Aber das träume ich doch nur alles‹, sagte ich mir, ›auch die Musik.‹ So gegen Mitternacht habe ich immer die herrlichsten Träume, diese Musik muß der Vorbote eines schönen Traums sein: Der Herr Lehrer Tenkler wird sich im Gartenrestaurant ans Klavier setzen, aber nicht spielen, sondern nur mit der Hand den Takt angeben: ›An der schönen blauen Donau.‹ Der Herr Lehrer hält die Augen geschlossen. Hinter dem Rathausturm geht die Sonne unter, sein Schatten fällt auf den Platz des F. C. Schlesisch Ostrau und auf unser Haus, es herrscht Stille und ein warmer Vorabend. Auf dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau endet gerade ein Fußballmatch, der F. C. führt mit drei Toren, die Spieler bewegen sich wie Schatten. Der Vater verkauft alle seine Brezeln. Herr Wenzel Deutscher wird sich wieder Václav nennen und neben Áda Lakubec, dem blonden Blitz, spielen, und Herr David Wiesenthal, der Inhaber der Schenke »Zur Eiche«, wird Herrn Václav mit gutplazierten Bällen versorgen. Alles wird wieder in Ordnung sein. Über dem Platz des F. C. Schlesisch Ostrau stiegen Leuchtraketen empor. Grün, grün, rot, blau – grün, grün, rot, blau. Licht steht über dem Fußballplatz, eine Silberkugel voll Licht, sie schwankt hin und her, schon scheint sie sich über die Stadt erheben zu wollen, bleibt aber dann doch über der Tribüne in der Luft hängen. Jetzt vernahm ich einen schneidigen Marsch. Und wieder stiegen Leuchtraketen auf und schwebten 501
an ihren kleinen Fallschirmen über dem Fußballplatz. Sein Haupttor stand halboffen, auf der Tribüne saß eine deutsche Militärkapelle und spielte. Die Burschen mit dem großen Blech saßen in den Ehrenlogen, der Herr Kapellmeister stand auf Herrn Dr. Staniolowskýs Sperrsitz. Bisweilen legte einer der Musikanten sein Instrument beiseite, griff neben sich ins Dunkel, zog eine Flasche hervor und tat einen tüchtigen Zug. »Und jetzt, meine Herren«, sagte der Kapellmeister, »kommt ein Trauermarsch an die Reihe!« »Nein, keinen Trauermarsch!« schrie ein Hüne von den Helikonen herüber. »Gebt doch endlich Ruhe mit den Trauermärschen!« schrie ein Soldat, der einen glänzenden Stab mit einem wunderschönen Glöckchenspiel hielt, von dem bunte Pferdeschweife herabhingen. Über dem Fußballplatz stiegen weitere Leuchtraketen auf. »Trauermärsche spiele ich jetzt schon fünf Jahre lang«, brüllte der Soldat mit den Glöckchen, »in einem fort nur: Deutschland, Deutschland über alles, und Trauermärsche, das mag ich nicht mehr spielen.« »Schmeißen wir etwas Fröhliches!« rief ein Blondschopf mit seiner Trompete, »etwas zum Abschied vom Tausendjährigen Reich!« »Spielen wir doch einen Walzer!« schrie ein Soldat von den Trommeln herüber, trank und schlug dann mit der Hand aufs Fell. »Noch einmal: ›An der schönen blauen Donau!‹« »Dort sind bereits die Bolschewiken«, lachte ein Soldat 502
von den Pikkoloflöten herüber, »dort ist Schluß mit den Walzern, in Wien hopst man nur noch den Kosakentanz!« Der Herr Kapellmeister tat einen Zug aus seiner flachen Flasche. Er senkte den Kopf und sagte: »Meine Herren, das ist das letzte Mal, daß wir zusammen spielen … wir waren keine üble Kapelle, den ganzen Krieg hindurch sind wir miteinander herumgezogen, haben in Warschau, in Kiew und überall dort, wo man uns gebraucht hat, gespielt. Unsere Waffen waren die Musikinstrumente«, und dem Herrn Kapellmeister versagte die Stimme; dann fuhr er fort, jetzt komme eine Zeit, in der Deutschland weder Waffen noch Militärkapellen brauchen werde. »Meine Herren«, sagte er, »mit den Militärkapellen nimmt das immer seinen Anfang … also setzen wir hier einen Schlußpunkt und spielen wir noch einmal …« »›Deutschland, Deutschland über alles ‹«, rief ein Soldat von den Posaunen herüber, »aber ohne das Horst-WesselLied!« »Gut, meine Herren, das können wir alle auswendig, also bitte, Achtung!« Der Kapellmeister hob seinen Arm. Über dem Fußballplatz stiegen jetzt grüne Leuchtraketen auf. Ich stellte mir vor, daß die ganze Stadt hörte, wie die Militärkapelle, trunken von Schnaps, Trauer, Erinnerungen und weiß Gott noch, wovon, zum Abschied das Deutschlandlied spielte. Heute denke ich mir, daß damals die Musikanten die Worte der Hymne im stillen mitgesungen hatten, doch war der Sinn dieser Worte für 503
sie wohl nicht mehr der gleiche gewesen, den er noch im Jahre 939 für sie gehabt haben mochte. Sie hatten das Lied noch nicht zu Ende gespielt, als mir mein Vater seine Hand auf die Schulter legte. »Wo kommst du denn auf einmal her?« fragte er mich. In dem grünen Licht sah mein Vater nicht zum besten aus. Sein Gesicht war voller Staunen, seine Augen flakkerten im Widerschein der Leuchtraketen. »Und wo kommst du her?« fragte ich. »Ich bin abgehauen«, erwiderte der Vater, »vor einer Woche habe ich mich bei Troppau verdrückt, zusammen mit Herrn Tietze. Wir haben uns einen Unterschlupf gesucht und uns dann gestern getrennt … jeder geht auf eigene Faust heim, haben wir uns gesagt, also bin ich jetzt daheim und halte mich im Kaninchenstall versteckt … Geh nach Hause«, flüsterte mir mein Vater dann zu. Noch vor Sonnenaufgang kaufte mein Vater der Militärkapelle alle Musikinstrumente ab und bezahlte sie mit Mehl, Zucker und Zigaretten. Es war schon fast heller Tag, als ich das letzte Musikinstrument von der Tribüne wegholte: das Glöckchenspiel mit dem glänzenden Stab und den Pferdeschweifen. Beim Zaun lag der tote Herr Tietze. Als ich an Herrn Tietze vorbeiging, achtete ich darauf, daß die Glöckchen nicht anschlugen. Doch ein leichter Morgenwind erhob sich, setzte die bunten Pferdeschweife in Bewegung, und sogleich kam mir die Erinnerung an Anka Kocifajs Arme, die Glöckchen begannen zu tönen, es hörte sich an, als rieselte Silber herab. Doch es war 504
nur der Nebel. Ich weiß auch nicht, ob sich tatsächlich ein Morgenlüftchen geregt hatte, vielleicht hatten nur meine Hände gezittert. Herr Tietze lag friedlich da. Ich lehnte das Musikinstrument an den Zaun. Gerade als ich mich über Herrn Tietze beugen wollte, hörte ich Herrn Richard Ryšáneks Stimme hinter mir. »Kennst du den?« fragte mich Herr Ryšánek. »Ja, es ist Herr Tietze«, erwiderte ich. »Der Juwelier?« »Ja.« »Wahrscheinlich hat er sich bis hierher geschleppt«, sagte Herr Ryšánek, »er muß wohl in der Nacht irgendwo etwas abbekommen haben, hat sich heimgeschleppt und ist dann hier gestorben.« Ich ergriff das Glöckcheninstrument, das wieder zu tönen begann, die Pferdeschweife bewegten sich. Aber vielleicht war alles ganz anders gewesen. Es hätte auch sein können, daß der Ton der Glöckchen den Morgennebel zerriß. Herr Ryšánek fragte mich dann: »Wo ist dein Vater?« »Ich weiß nicht«, gab ich zur Antwort. »Er hält sich in eurem Kaninchenstall versteckt«, lachte Herr Ryšánek, »er hat sich aus dem Staub gemacht, hat die Wehrmacht sein lassen, zimmert sich jetzt ein Alibi für die Russen zurecht, macht Geschäfte mit der Militärkapelle und kauft ihr die Instrumente ab, er will sich absichern …« »Das ist seine Sache«, erwiderte ich. 505
»Wir werden alle in der Tinte sitzen«, fuhr Herr Ryšánek fort, »ich, du, dein Vater, ganz einfach alle …« »Der eine mehr, der andere weniger«, sagte ich. »Halťs Maul«, stieß Herr Ryšánek hervor, »wenn du jetzt von Frau Preis anfangen möchtest, dann rate ich dir: halt deine Zunge im Zaum. Und wenn du deinen Schnabel aufmachst, dann …« ›Von Frau Preis wollte ich gar nicht anfangen‹, dachte ich, ›aber da er sie erwähnt hatte …‹ »Gleich um die Ecke an der Brücke steht ein Wagen mit einer Menge deutscher Militärpolizisten«, sagte Herr Ryšánek, »vielleicht habe ich Lust, zu ihnen hinzugehen und ihnen zu erzählen, daß deine Mutter nicht nur Kaninchen in dem Verschlag hält, sondern auch zwei feine Vögel, die sich von der Front verdrückt haben … geh zu deinem Vater und sag ihm, ich werde vielleicht den Mund halten, aber das wird nicht billig sein, durchaus nicht billig. Jetzt muß ich nur noch an mich denken …« »Ich auch, Herr Ryšánek«, erwiderte ich. Man konnte bereits die beiden Fußballtore sehen, das Gras auf dem Platz sah grau aus, der Nebel lichtete sich. Jetzt war eine Detonation zu vernehmen. »Das ist die Brücke«, sagte Herr Ryšánek. ›Noch vor einer Stunde bin ich über die Brücke marschiert‹. sagte ich mir, ›hinüber zu meinem Ufer‹, vom Fußballplatz trennt mich nur der Zaun, ich kann die Fenster unseres Hauses sehen, den offenen Eingang und die beiden Heiligtümer der Torhüter des F. C. Schlesisch Ostrau. 506
›Die Resultate gehen restlos auf‹, sagte ich mir, ›ich bin mir nicht sicher, was ich alles addiert, multipliziert und dividiert habe.‹ Ich griff an meinen Hals. Meine Wunde war mit einem dünnen, empfindlichen Häutchen überzogen. ›In Ordnungs sagte ich mir, ›ich habe es überlebt, niemand mehr wird mir ungestraft ein Loch hineinschlagen. Und auch die Brücke existiert nicht mehr. Alle Brücken fliegen jetzt in die Luft. Die Brücken sind Vögel. Und ich befinde mich auf dem richtigen Ufer und am richtigen Ort – sogar zur noch rechten Zeit. Ich kann von neuem beginnen. Alle Möglichkeiten liegen vor mir, ich werde sie nutzen und alle Folgen tragen.‹ Ich wollte leben. ›Lieber Gott‹, sagte ich mir, ›noch ist nicht die Zeit gekommen, mich zu Dir zu nehmen. Gib mir Kraft, heute, in diesem Augenblick nicht zu versagen, ich will ganz einfach leben, ich möchte noch nicht zum Himmel aufwärts fahren, hab doch Erbarmen mit mir und auch mit Herrn Tietze!‹ »Das wird nicht billig sein«, flüsterte Herr Ryšánek, »durchaus nicht billig.« »Ich will nichts umsonst«, erwiderte ich, »ich werde alles gut bezahlen, Herr Ryšánek …« »Die Feldpolizei steht an der Brücke«, sagte Herr Ryšánek leise, »ich habe noch drei bis vier knappe Stunden, das genügt mir, in dieser Zeit läßt sich so mancherlei einrichten …« »Herr Tietze hat unter dem Nabel Brillanten eingenäht«, sagte ich, »ein Häuflein Brillanten, einer davon 507
ist von rosa Farbe, wirklich ein kostbarer Stein, Herr Ryšánek.« Herr Ryšánek fuhr sich mit der Hand über sein unrasiertes Kinn. »Weißt du das bestimmt?« fragte er. »Herr König hat sie ihm dort eingenäht, ich war dabei.« Herr Ryšánek zog sein Taschenmesser heraus. »Ich werde nachsehen«, sagte er und beugte sich über Herrn Tietze. Ich warf mein Glöckcheninstrument über die Schulter, die bunten Pferdeschweife setzten sich in Bewegung, alles um mich herum tönte, die Sonne durchbrach den Nebel, aber in der Luft war Rauch und der Gestank aus den Kokereien, den Zechen und den chemischen Fabriken zu spüren. »Ich danke Ihnen, Herr Tietze«, flüsterte ich vor mich hin, »vielen Dank, jetzt habe ich auch Sie schon hinter mir zurückgelassen, ich werde sie nicht um Vergebung bitten, ich habe getan, was ich tun wollte. Diese Brillanten hätte ich selbst an mich nehmen können, aber so behagt mir das besser, Herr Ryšánek gefällt mir jetzt: Er steht über Ihnen, Herr Tietze, gebückt da und sucht das Letzte, was vom Krieg übriggeblieben ist. Ja, die Resultate stimmen, aber ich bin mir immer noch nicht sicher, was ich alles addiert, multipliziert und herausdividiert habe. Jetzt werde ich nicht daran denken, erst später einmal. Ich will darauf warten, Herr Ryšánek, bis Sie sich wieder aufrichten und auf ihrer Hand sechs Brillanten leuchten werden, von denen der eine rosafarben ist.« 508
»Genügt das?« werde ich dann fragen. »In Ordnung«, werden Sie mir antworten, »das geht in Ordnung.« So ungefähr hätte es sich abspielen können. Ich begab mich heim, schüttelte meine Glöckchen, die Pferdeschweife wehten und erinnerten mich an Anka Kocifajs Arme. ›Noch einmal werde ich die Augen schließen‹, sagte ich mir, ›noch einmal werde ich mich in die Lippen beißen, aber nicht über die Stadt emporfliegen, ich bleibe mit beiden Beinen fest auf der Erde.‹ Die Glöckchen tönten für mich. Unser Fluß lag noch im Schatten, doch der Rathausturm fing schon die ersten schrägen Strahlen der Frühlingssonne auf. Mir schien, als näherten sich mir die Dünste aus den Kokereien, als wehte mich der Hauch der Zechen aus ihren Lüftungsschächten an. Das Wasser des Flusses war dunkel. Lautlos, ohne Glucksen, glitt der Reflex der aufgehenden Sonne darüber. Ich öffnete die Augen und sagte mir: ›Jetzt fange ich an zu leben.‹ Dieses Gefühl war so überwältigend, daß ich mein Glöckcheninstrument hochhob, es schüttelte, die bunten Pferdeschweife begannen zu wehen und glichen mehr als zuvor Anka Kocifajs Armen. ›Ich fange an zu leben‹, wiederholte ich, ›ich bin für den Frieden gewappnet, jetzt beginnt mein persönlicher Krieg, ich trete ins Spiel ein!‹
FISCHER TASCHENBÜCHER »Ota Filips Roman, in welchem vier Jahrzehnte mitteleuropäischer Geschichte in ihren Auswirkungen auf eine kleinere Stadt gegenwärtig werden, ist in seiner Kritik deshalb so belangvoll, weil diese nicht einseitig in eine Richtung gelenkt ist; als humoristischer Moralist setzt sich Filip in seinem blendend erzählten … Buch für Verstand und Anstand als Vorbedingungen für ein menschenwürdiges Dasein ein. Die Lustigkeit allerdings ist hintergründig, wohl auch bitter, und mitunter erstirbt dem Leser das Lächeln auf den Lippen.« NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
»Form dient hier zugleich der Verschleierung und Offenbarung demokratischer Botschaft. Die idealistische Vorstellung der Kongruenz von Form und Inhalt erfüllt sich in Filips Prosawerk auf erschütternd pragmatische Weise.« DEUTSCHE ZEITUNG
»Die liebevolle Schilderung der Kleinbürger in der Tradition etwa von Neruda oder Capek beherrscht Filip meisterhaft. Indem er sie objektiv darstellt, macht er ihr Verhalten verständlich, exemplarisch, allgemein interessant: So ist der Mensch nicht nur in Schlesisch-Ostrau.« MANNHEIMER MORGEN