Anatomie
Haut, nackte Haut. Hungrig glitten seine Finger darüber hinweg. Die Haut war erregend kühl. Was für eine schö...
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Anatomie
Haut, nackte Haut. Hungrig glitten seine Finger darüber hinweg. Die Haut war erregend kühl. Was für eine schöne Frau! Der junge Mann schaute hinunter auf seine Hände. Er hatte feingliedrige Finger; die Nägel waren kurz geschnitten, die Fingerkuppen sanft gerundet. Keine Deformationen, keine Verletzungen. Er achtete immer sehr auf seine Hände, er liebte seine Finger. Kein Schmutz unter den Nägeln, nicht wie bei den anderen. Es gab Menschen, wenn er denen auf die Finger schaute, da wurde ihm übel. Er mußte an den letzten Körper denken, der so vor ihm gelegen hatte wie die junge Frau jetzt. Widerlich war der gewesen, besonders die Hände, die Finger: gerillte Nägel, lang und ungepflegt, und einige sogar eingerissen und abgebrochen. Er achtete auf seine Hände. Sie waren sein Werkzeug. Erfreut strich er nun mit den Fingerkuppen der linken Hand über die Haut der Frau, die nackte Haut der nackten Frau. Sie lag einfach so da. Sie lag vor ihm, und er genoß das prickelnde Kribbeln. Diese Vorfreude. Es war lange her, daß er eine Frau gehabt hatte. Die Haut einer Frau gestreichelt hatte. Viel zu lange her. Seine Finger glitten über ihre Wangen, über die geschlossenen Augenlider. Sie zuckte nicht einmal. Er fuhr über ihre Schläfen, schob eine dunkle Haarsträhne hinter ihr rechtes Ohr. Dann glitten seine Finger weiter herunter, seitlich am Kinn entlang, den Hals hinab. Für einen wunderbaren, köstlichen Moment verharrte er am Schlüsselbein. Seine Finger ruhten in der kühlen Mulde ihrer Schulter. Sie war so fein gebaut. Er hätte ihre ganze Schulter mit einer Hand umfassen können ... Er könnte ihre Schulter umfassen und den Oberarmknochen mit einem einzigen Ruck aus der Gelenkpfanne reißen. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als ihm bewusst wurde, daß er die vollkommene Macht über diese Frau hatte. Und sie konnte nichts dagegen tun. Ein Schauder überkam ihn, sein Atem ging schneller, seine Hand nahm ihre Reise wieder auf; tiefer, tiefer. Er bekam Gänsehaut Auch seine rechte Hand wollte nun auf Wanderschaft gehen; ruhig, fast ehrfürchtig, glitt sie über den Körper der Frau, ohne ihn dabei aber zu berühren, unschlüssig, welche Stelle die richtige sein könnte ... Schließlich sanken die rechte Hand knapp oberhalb der Schambehaarung nieder, zwischen Scham und Bauchnabel. Er schaute hinunter auf ihren Bauch. Ein süßer Bauchnabel, so wohlgeformt. Klein und niedlich. Kein Schmutz, kein Dreck, keine Fusseln. Sie war rein, makellos rein. Es war eine Schande, daß nach ihm niemals mehr jemand diesen Bauchnabel dieser schönen Frau sehen würde. Der kleine Bauchnabel, diese längst vergessene Brücke in den Mutterleib. Hier hatte ihr Leben begonnen, und nun ...
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Anatomie
Wieder diese Gänsehaut. Seine linke Hand glitt nun ebenfalls hinab, seitlich am Busen vorbei, er spürte gerade eben noch die Ausläufer ihrer Rundungen. Was für ein schöner Leib! Langsam beschrieben seine Finger einen Halbkreis um die Brust herum, wanderten zärtlich zum Sternum, dem Brustbein. Obwohl es unnötig war, berührte er nach kurzem Zögern doch ihre Brust, ihre Brustwarze, diese hellbraune Knospe, die nie mehr erblühen würde. Tiefer wanderten seine Finger, tiefer hinab. Sie glitten ganz leicht dahin, er berührte die Haut kaum. Er hätte die Augen schließen können, dann wäre er geflogen. Dahingeflogen über ihre milchweiße Haut. In rasender Geschwindigkeit, wie ein Kampfflieger über winterweiße Felder. Er glaubte, die feinen hellen Härchen auf ihrer Haut spüren zu können. Sie war so rein, so sauber. Ihre Haut war glatt und ohne Makel. Die kleinen, feinen Härchen schienen ihn zu kitzeln. Seine Hände trafen sich nicht. Kurz bevor die linke den Bauchnabel erreichte, nahm er die rechte von ihrem Unter-bauch und griff nach dem Skalpell, warf einen kurzen, prüfenden Blick auf das Gerät. Er hielt es schräg und betrachtete die metallene Klinge, die im grellen Neonlicht blitzte. Ja, es war neu, es war scharf. Dieses medizinische Gerät durchtrennte die Hautschichten mühelos und mit geringstem Druck. Er widerstand der Versuchung, die Schärfe des Skalpells mit einem Daumendruck zu prüfen, so wie man es mit einem Taschenmesser machte. So dumm waren nur Leute, die das hier zum ersten Mal machten; so ein Skalpell war scharf, und er würde sich einen tiefen Schnitt zufügen, der wie verrückt blutete. Er schaute die blitzende Klinge an und lächelte. Dann hob er die Hand mit dem Skalpell. Er hielt die Klinge quer und strich damit über die Haut der jungen Frau. Er bildete sich ein, das leise Schaben, das leise Kratzen zu hören, mit dem das Metall über die Hautschuppen glitt. Die Klinge quer, die scharfe Rundung des Skalpells wie ein mörderischer Halbmond eiskalt auf weißer Haut. Er zog das Werkzeug über ihren Bauch, strich damit unter ihren Brüsten entlang. Die bisher stummen Zuschauer dieses Schauspiels wurden langsam unruhig. Fang endlich an, schienen ihre ausdruckslosen Gesichter zu rufen. Er deutete einen Schnitt quer über den Torso der nackten Frau an. Beginnend am linken Brustansatz, über das Brustbein, unter der rechten Brust hindurch. Er folgte der faszinierenden Kurve des Busens. Sie hatte schöne Brüste, nicht zu groß, aber auch nicht zu klein. Er mochte Frauen. Er schaute sie gerne an. Er faßte sie gerne an. Und er hatte lange keine Frau mehr gehabt, deshalb war seine Vorfreude um so größer. Frauen waren viel spannender als Männer. Schönere Formen, einfach mehr fürs Auge. Er wußte bereits, was er tun würde. Er hatte es auswendig gelernt. Er wußte alles ganz genau. Aber es war etwas ganz anderes, wenn der sehnsüchtig erwartete Augenblick endlich kam. Wenn es endlich soweit war. Selig schloß er für einen winzig kurzen Moment die Augen. Er sog die Luft ein. Sie war kalt und roch nach Chlor. Metallisch. Er stellte sich vor, daß ein Skalpell so röche.
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Dabei roch ein Skalpell überhaupt nicht. Ein Skalpell hatte keinerlei Eigenschaften. Es war nichts ohne ihn. Bloß ein Stück Metall. Es erwachte erst in der Hand eines Fachmannes zum Leben.
Man konnte Menschen aufschneiden und aus ihnen herausoperieren, was sie bedrohte. Aber das wollte er jetzt nicht tun. Mit Hilfe eines Skalpells konnte man Leben retten. Auch das würde er nicht tun. Diesmal nicht. Vielleicht später einmal. Er öffnete die Augen, es war gleißend hell. Die Neonröhren taten ihren Dienst. Haut, nackte Haut, grellweiß beleuchtet. Er strich der Frau ein letztes Mal mit dem Skalpell über die Wange, fuhr die energischen Linien ihres Kinns nach, den Hals. Dann wieder über die Brust, direkt über die Brust diesmal, für einen kurzen Augenblick verdeckte die silberscharfe Klinge die Brustwarze. Er hob wieder die linke Hand. Tastete vorsichtig zwischen den Brüsten nach dem Sternum, dem Knochen. Dort wo der Knochen endete, setzte er jetzt das Skalpell an. Er atmete noch einmal tief durch. Ein letztes Mal flutete eine Gänsehaut über seinen ganzen Körper, selbst die Haut auf seinem Kopf prickelte, auf seinem Handrücken und an der Rückseite seiner Unterschenkel schien es erregt zu kribbeln. Endlich war es soweit. Er hatte sich so danach gesehnt.
1
Er setzte das Skalpell an und erhöhte den Druck, die gleißende Klinge schnitt mühelos durch die Epidermis, durchtrennte die oberste Hautschicht. Ruhig und ohne zu zittern führte er die Klinge mit gleichmäßigem Druck weiter in Richtung Bauchnabel, in Richtung Schamhaar. Ob ich einmal quer durch den Bauchnabel schneiden soll? Das war bestimmt sehr interessant. Aber diesmal lieber nicht. Solche experimentellen Scherze waren hier nicht gern gesehen. Die anderen sahen neugierig zu. Der junge Mann schaute gerade fasziniert auf seine
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eigenen Hände, der Schnitt war noch keine zehn Zentimeterlang, da zuckte er erschrocken zusammen. Er hatte einen Fehler gemacht! Die Klinge glitt seitlich ab und schrammte gegen den untersten Rippenbogen. »Kaminski! Handschuhe!« Die Stimme des Professors zerriß die Stille des Anatomiesaals. »Die Dame ist ein Lehrmittel und keine Kommilitonin! « Kaminski atmete tief durch, dann zog er das Skalpell heraus, legte es auf den festen Bauch der schönen Frauenleiche, lächelte den Professor entschuldigend an und griff nach seinen Handschuhen. Natürlich, natürlich! Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen? Paula atmete einmal tief ein, dann packte sie den Penis entschlossen mit der linken Hand. Sie setzte ihr chromblitzendes Skalpell in die kleine Kuhle oberhalb des männlichen Geschlechtsteils und schnitt es dann kreisförmig - mitsamt Hoden - zwischen den Beinen der Leiche heraus, fast so, als würde sie den grünen Strunk einer Tomate entfernen. Sie war ziemlich sicher, daß dem Kommilitonen, der vom Nebentisch zu ihr herüberstarrte, ziemlich schlecht werden würde. Paula legte das Skalpell beiseite und hob den Penis breit grinsend auf Augenhöhe. Er hing vorne über ihre Fingerspitzen schlaff herunter. Die beiden Hoden ruhten fest und schwer auf ihrem Handteller. Hinter ihr hörte sie Professor Huber, der gerade Kaminski zurechtwies; hatte der etwa schon wieder ohne Handschuhe ...? Paula schüttelte ungläubig den Kopf. So dämlich konnte sich wirklich nur einer anstellen ... »Wenn ich Ihnen einmal junges Fleisch besorge!« Professor Hubers tiefe Stimme dröhnte durch den ganzen Anatomiesaal. Durch die großen Panoramafenster flutete helles Frühlingslicht herein. Trotzdem brannten natürlich die Neonleuchten an der Decke. »Morgen«, drohte Huber schelmisch, »gibt's wieder Wasserleichen!« Die Studenten lachten. Einer rief Kaminski zu: »Alter Grabscher! Versuch's doch mal mit lebenden Frauen, die sind steif genug!« Die anderen lachten. Auch der Professor konnte sich ein breites Lächeln nicht verkneifen. Ja, er konnte sich noch sehr gut an seine eigene Studentenzeit erinnern; ein bißchen Spaß konnte nicht schaden. Gerade in der Anatomie. Leichen zerschneiden, das war für die jungen Leute nicht gerade angenehm. Warum also nicht ein wenig lachen, um das Elend und Unglück zu vergessen, das die Leichen auf die Seziertische befördert hatte? Krebs, Selbstmorde, Autounfälle, Wasserleichen, Raubüberfälle, Herzinfarkte ... Wenn man darüber nachdachte, lief es einem kalt über den Rücken. Immer noch, nach all den Jahren. Aber sie mußten lernen, damit umzugehen. Also verdrängte Huber, wie schon so oft zuvor, den unangenehmen Gedanken und lachte jovial mit. Daß die Studentinnen auch ihn als »Grabscher« bezeichneten, auf diese Idee wäre er gar nicht gekommen. Denn immerhin - da konnte er diesem jungen Kaminski nur zustimmen - waren die weiblichen Formen ja doch ganz wunderbar! Paula hielt immer noch den abgeschnittenen Penis in der Hand und betrachtete ihn aufmerksam. Ein amüsiertes Lächeln stahl sich auf ihre Lippen - das sind aber auch wirklich komische Dinger! Sie bewegte die Hand ein
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wenig hin und her. Die Eichel schwankte von rechts nach links. Es sah ein wenig aus, als ob der tote Schwanz den Kopf schüttelte. Die Hoden waren riesige Augen, der Penis samt Vorhaut ein überdimensionierter Nasenzipfel. »Herr Professor?« Professor Huber ließ den armen Kaminski stehen, der sich mit hochrotem Kopf seine Gummihandschuhe überstreifte, und kam zu Paula herüber. »Herr Professor, wir haben hier eine Anomalie im Lendenbereich!« Sie grinste frech. Die Kommilitonen an ihrem Seziertisch fingen an zu kichern. Nur ein junges Mädchen hielt sich die Hand vor den Mund und wandte sich ab. Sie war ganz weiß geworden. Innerlich zuckte Paula ungerührt mit den Achseln. Mensch, Lisa, schalt sie die andere Studentin in Gedanken, wer jetzt schon schlappmacht, wird nie ein guter Arzt. Paula reckte ihre Hand mit dem blutigen Penis in die Luft. Dort wo sie ihn abgeschnitten hatte, hingen Adern und Gefäßreste heraus; das Gewebe war zu weich, um in Form zu bleiben. Der Professor dröhnte: »Eine Anomalie?« Scherzhaft tadelnd schüttelte er den Kopf. »Ein Penis ist doch keine Anomalie! Das ist bei Männern anders als bei Frauen, Kollegin!« Paula fing an zu lachen, und das glibberige Leichenteil rutschte ihr von der Hand und fiel direkt in die bereits geöffnete Bauchhöhle der Leiche. Die Studenten um sie herum fingen laut an zu lachen – mit einer Ausnahme: Lisa hatte nun endgültig genug. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stürmte in Richtung Ausgang. Die anderen schauten ihr zum Teil verdutzt hinterher, doch die meisten hatten so etwas schon lange kommen sehen. Wenn man in der Medizin weiterkommen wollte, mußte man seine eigenen Gefühle einfach ausblenden können. Auch der Professor verdrehte amüsiert die Augen und wandte sich ab. Derartige Späße waren hier an der Tagesordnung und würden dem Lernziel sicherlich eher förderlich sein. Zugegeben, auf einen »normalen« Menschen hätte die Situation wahrscheinlich eher abstoßend gewirkt. Aber sie waren keine normalen Mensch. Sie waren Mediziner. Oder würden es zumindest eines Tages werden. Paula wühlte mittlerweile ungerührt mit ihren behandschuhten Fingern zwischen den Darmwindungen nach dem Geschlechtsteil und murmelte ärgerlich: »Die sind aber auch zu glitschig, die Dinger.« Die anderen lachten lauter. Paula fand ihren eigenen Scherz inzwischen nicht mehr ganz so lustig. Sie entfernte den Penis aus der Bauchhöhle und klatschte ihn etwas achtlos wieder zwischen die Beine der Leiche. Das Lachen verebbte, und die Studenten wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Der Professor sah sich nach Lisa um. Ah, da war sie ja - schwer atmend und kalkweiß stand sie neben der Ausgangstür. Immerhin, dachte Huber, hat sie den Saal dann doch nicht verlassen. Trotzdem, aus dem Mädchen würde niemals eine gute Ärztin werden. Zu schade, denn ihre theoretischen Kenntnisse waren hervorragend. Schade, sehr schade ... Andererseits, und der Professor vergewisserte sich mit einem weiteren Blick, daß file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (5 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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er sich nicht vertan hatte, sieht sie wirklich nett aus in diesem etwas zu engen Sezierkittel ... Er lächelte. Da würde sich doch sicher etwas machen lassen. Im Zweifel ließ sich eigentlich immer etwas machen. »Frau Habenstadt«, rief er Lisa gutmütig zu, »gehen Sie am besten für einen Moment an die frische Luft. Und kommen Sie später zu mir in die Sprechstunde. Wir sollten uns mal in Ruhe über Ihre Motivation unterhalten. « Lisa lächelte den Professor dankbar an und verschwand dann. Na dann, bis später, meine Liebe! Huber schaute sich zufrieden um. Es war der letzte Kurs vor den Semesterferien, und die Studenten waren gut gelaunt und unaufmerksam. Aber das gehörte eben alles dazu. Paula schaute sich vorsichtig um, und als gerade niemand hinsah, packte sie den abgeschnittenen Penis mit fester Hand, hob ihn zwischen den Beinen der Leiche heraus und ließ ihn mitsamt den beiden daran hängenden Hoden unauffällig zu den übrigen Geweberesten in den Eimer unter dem Seziertisch fallen. Besser auf die Wunde starren, als diesen Schwanz dauernd hin und her schieben zu müssen wie ein überzähliges Puzzleteil. Heute waren schließlich Innereien dran - Magen, Darm, Milz, Galle und die übrigen Verdauungsorgane. Sexualkunde kam später. Und außerdem waren diese Dinger sowieso immer nur im Weg.
2
Paulas Magen krampfte sich zusammen. Aufgeregt stand sie vor der Tür von Professor Huber. Sprechstunde, es war gerammelt voll. Warten, warten. Sie wartete jetzt schon seit über zehn Minuten. Nervös drehte sie einen kleinen Kreis, blieb dann wieder neben der Tür stehen und horchte. Wann waren die denn endlich fertig? Was hatten die da drin denn noch zu besprechen? Jedenfalls war sie die nächste! Sobald die Tür aufging und der Student herauskam, der vor ihr hineingegangen war. Himmel, was machte der denn bloß so lange da drin? Paula hatte noch nie zu den Geduldigsten gehört. Sie konnte sich noch gut erinnern, wie ihr Vater ihr abends im Bett ein Märchen vorlesen wollte und sie, gerade fünf Jahre alt, ihm das Buch aus der Hand genommen und ihm vorgelesen hatte! Immer darauf warten, daß sich jemand bequemte, ihr ein Märchen vorzulesen - nein, das war schon damals nicht ihr Ding. Allerdings war sie kein Wunderkind gewesen; das Lesen hatte ihr Großvater Paula beigebracht. Wissen ist Macht. Das war sein Leitspruch gewesen. Also hatte Paula auf seinem Schoß gesessen und gelernt. Klar, ihr Opa liebte sie auch so. Aber damals, gerade mal fünf Jahre alt, war Paula bewußt geworden, daß er sie nicht nur lieben sollte. Er sollte sie ernst nehmen. Er sollte sie respektieren. Er sollte stolz auf sie sein. Und, verdammt noch mal, das konnte er auch! Wenn nur endlich diese verdammte Tür aufgehen und der file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (6 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Professor ihr bestätigen würde, daß es auch wirklich Grund zum Stolzsein gab! Paulas Blick schweifte über die zahllosen Zettel am Schwarzen Brett. WG gesucht. Mitfahrgelegenheit, Ausflüge, Flohmärkte, Zimmer zu vermieten ... Die Zettel waren alle schon zerfleddert und vergilbt, an kaum einem hingen mehr irgendwelche Telefonnummern zum Abreißen - das Semester ging zu Ende, die Zettel waren noch aus den ersten Wochen. Kümmerte sich eigentlich nie jemand darum? Wurden die Angebote und Gesuche einfach in den Semesterferien vom Hausmeister ungerührt abgerissen und in den Müllsack gestopft? Und im nächsten Semester ging alles wieder von vorne los? Paula kratzte sich am Kopf. Dann schob sie ihre Haare hinter die Ohren. Zupfte ihre grau gemusterte Bluse zurecht. Trat von einem Fuß auf den anderen, ungeduldig, nervös, aufgeregt. Dabei war es ja gar nicht die Frage, ob sie bestanden hatte. Das war klar! Daran hatte sie nie gezweifelt. Na ja, nie wirklich gezweifelt. Nicht so richtig. Eigentlich ging es nur um eins: Wie gut war sie, wie gut? Gehörte sie zu den Besten? Sie mußte einfach zu den Besten gehören! Endlich ging die Tür auf, und ein Kommilitone kam heraus. Paula hatte das Gefühl, ihn schon irgendwo und irgendwann einmal gesehen zu haben. Das passierte ihr dauernd - in der Mensa, in der Fußgängerzone, wo auch immer, plötzlich sprachen sie vermeintlich wildfremde Leute an und stellten sich als Kommilitonen vor. Zugegeben, so groß war die Uni nicht, aber Paula achtete nicht besonders auf die anderen Studenten. Wieso auch? Ihr Vorbild war ihr Großvater, und der war auch nie einer wie die anderen gewesen, sondern von Anfang an ein primus inter pares - Erster unter Gleichen! Andere sahen das allerdings etwas anders. Eine schusselige Professorin, hatte Paulas Mutter sie einmal genannt, und das noch vor dem Staatsexamen! Ihr Großvater war ausgerastet, als er das gehört hatte. Paula muß sich nicht jedes langweilige Gesicht merken, hatte er gewütet. Es reicht vollkommen, wenn sie sich die merkt, die besser sind als sie. Und das auch nur so lange, bis sie die überholt hat. Na ja, so schlimm nun auch wieder nicht. Paula hatte schließlich Freunde hier, Ines, Steffi und die eine, die immer mit beim Essen war, wie hieß die noch mal... Ärgerlich schüttelte Paula kurz den Kopf. Der Typ da interessierte sie nun wirklich überhaupt nicht, ganz egal wer er war, wie er hieß, was auch immer. Der sollte jetzt nur endlich verschwinden! Wie in Zeitlupe entfernte sich der Student von der Tür. Einen Moment mußte sie nun noch warten, sonst dachte der Professor vielleicht, sie würde auf glühenden Kohlen sitzen. Ich und nervös? Kann ja nur eine Verwechslung sein! Paula sah den Studenten mit gesenktem Haupt davonschleichen. Tja, es konnten nicht alle so gut sein wie sie ... Vorsicht, Henning, Hochmut kommt vor dem ... Ach, so ein Unsinn. Wie kam sie jetzt eigentlich auf so was? Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig - und los! file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (7 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Paula preßte ihre Bücher an sich und betrat das Professorenzimmer. Professor Huber saß an seinem übervollen Schreibtisch und kaute eilig vor sich hin. Ein paar Krümel fielen auf die Tischplatte, als er mit vollem Mund murmelte: »Ah ja, ah ja.« Dann würgte er den Rest seines Brotes herunter. Paula sah sich um. Was für ein Durcheinander! Wie sollte man denn hier arbeiten? Wissenschaftlich arbeiten? Auf dem Schreibtisch allein lagen zahllose Bücher, viele davon aufgeschlagen, dazu Unterlagen, präparierte Leichenteile und Brotreste - nicht nur von heute. Also, sie könnte so nicht arbeiten. Ihr Großvater hatte ihr beigebracht, daß nur ein aufgeräumtes Umfeld dem Geist die Möglichkeit bot, sich frei zu entfalten, und selbst ihr Vater, der sich sonst so bemühte, alles anders zu machen als ihr Großvater, hielt sich in seiner kleinen Praxis und seinem noch kleineren Arbeitszimmer an diesen eisernen Grundsatz. Die Vorhänge waren halb zugezogen, das warme Sommerlicht war ausgesperrt. An den Wänden wucherten Regale hoch; die Bretter bogen sich schon unter Büchern, Papierstapeln und weiteren präparierten Körperteilen und Innereien. Der Professor schob sein leeres Butterbrotpapier achtlos beiseite, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und griff nach einer Urkunde. Paula zog sich der Magen zusammen: Der macht da jetzt bestimmt Fettflecke drauf, Scheiße, das kann ich dann ja keinem zeigen! »Paula Henning«, las der Professor stolz vor und erhob sich dabei. Er kam um den Schreibtisch herum auf Paula zu, die erwartungsvoll lauschte. »783 Punkte, Robert- Koch-Wettbewerb '99«, las er weiter. »Das zweitbeste Ergebnis bundesweit. Gratuliere!« Dann schaute er auf. Paula hatte das Gefühl, als würde ihr Herz stehen bleiben. Der Professor lächelte. Er meinte es ernst! Das zweitbeste Ergebnis, bundesweit! Nun fing auch Paula an zu lächeln. Also mußte sie sich nur noch einen einzigen Namen merken! Nur ein Student war besser als sie. Der Professor nahm die Urkunde in die linke Hand, dann legte er sie zurück auf seinen Schreibtisch. Er griff nach Paulas Hand, schüttelte sie, strahlte. »Gratuliere!« wiederholte er und ließ seine linke Hand wie zufällig auf ihrem Oberarm landen. Das genoß er sichtlich. »Echt?« Paula ignorierte Hubers Hand an ihrem Oberarm und starrte den Professor an. »Das heißt, ich bin für Heidelberg zugelassen?« Bestätigend nickte der Professor und tätschelte Paulas Arm. »Wenn Sie den Sommer lieber mit Leichen verbringen als mit jungen Männern«, lächelte er anzüglich und trat noch einen kleinen Schritt näher an Paula heran. Noch immer hielt er ihre Hand in seiner. Dann setzte er ganz ernst hinzu: »Aber nein - der Anatomiekurs bei Grombek ist der beste! Ein Härtetest. Ganz ...«, er schaute Paula tief in die Augen, ».. .intensiv!« Sie konnte seinen Käseatem riechen. Der Professor ließ ihre Hand los und packte nun auch ihren rechten Oberarm. »Ganz konzentriert!« schwärmte er weiter von dem legendären Heidelberger Anatomiekurs, für den Paula sich qualifiziert hatte. Dabei glitt seine Hand auf Paulas Schulter, und
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diesmal bemühte er sich nicht wirklich darum, es unauffällig zu tun. »Ich wäre sonst nach Italien in Urlaub«, gab Paula zu und schielte auf die Professorenhand. »Aber das ist natürlich ...!« Was sollte das denn jetzt? Was machst du alter Sack da mit deiner Hand? Paula wußte nicht, was sie sagen oder wie sie reagieren sollte. Sie hatte die Zulassung nach Heidelberg! Heidelberg'. Was war da schon die Grapscherei eines alten Profs? Unglücklicherweise schien der Professor Paulas stille Duldung als Zustimmung zu interpretieren und packte fester zu. »So eine Chance!« dröhnte er. »Bei Ihrer Begabung!« Paula kam sich vor wie in einem schleimigen Schraubstock. Heidelberg hin oder her, das ging nun wirklich einen Schritt zu weit. »Italien«, sagte sie daher mit spitzem Unterton und schaute auf die Hände des Professors, »ist eh nicht so toll. Da wird man dauernd angemacht.« Sie hob den Blick und schaute dem Professor herausfordernd in die Augen. »Und begrapscht.« Zonk! Das hatte gesessen! Der Professor ließ sie augenblicklich los und trat einen Schritt zurück, als wäre ihm gerade erst bewußt geworden, was er da eigentlich tat. Er lächelte peinlich berührt und nickte dann. »Genau«, sagte er und nickte noch einmal. »Genau.« Hastig nahm er die Urkunde wieder vom Schreibtisch und hielt sie Paula hin. »Noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch. Und, äh ... vergessen Sie uns nicht, da in Heidelberg.« »Keine Sorge, Herr Professor, nächstes Semester sehen wir uns wieder. Ich habe ein ziemlich gutes Gedächtnis ...« Mit diesen vielsagenden Worten steckte Paula die Urkunde sorgfältig in ihre Mappe mit den Studienunterlagen, verabschiedete sich freundlich und verließ das Zimmer des gierigen Professors. In der Tür drehte sie sich noch einmal halb um und sagte: »Also, vielen Dank noch mal!« Der Professor war bereits wieder hinter seinen Schreibtisch zurückgekehrt und nickte. Jetzt sieh sich einer diesen alten Bock an, grinste Paula in sich hinein, ist nicht zum Zug gekommen und weiß jetzt nicht, was er machen soll. Dann wandte sie sich endgültig zum Gehen ... ... und prallte überraschend mit einer anderen Studentin zusammen. Die trug - obwohl das zur Sprechzeit weder nötig noch sinnvoll war - einen weißen Arbeitskittel, der ihr auch noch ein wenig zu eng war. Den obersten Knopf hatte sie offengelassen. Sie hatte gleißend blondes Haar und einen kirschroten Mund. Paula zuckte zurück und murmelte: »'tschuldigung.« Die Kommilitonin nickte nur lächelnd, zupfte ihren Kittel noch ein letztes Mal zurecht und verschwand dann im Arbeitszimmer des Professors. Paula schaute ihr mit offenem Mund nach, bis die Tür zugefallen war. »Da wird sich aber wer freuen«, murmelte sie sarkastisch und schüttelte den Kopf. Manche scheinen es ja wirklich nötig zu haben! Na ja, ihr Problem sollte das nicht sein. Paula schüttelte sich einmal. Brrr, furchtbar, der alte Bock hat sein nächstes Opfer gefunden! Na ja, deren Namen mußte sie sich bestimmt nicht merken. Aber bevor sie noch länger Gedanken darüber nachdenken konnte, stürmten auch schon Iris und Steffi auf sie zu, die im Flur gewartet hatten: »Und? Wie ist es gelaufen?« Auf file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (9 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Paulas Gesicht breitete sich ein fettes Grinsen aus, und sie verkündete stolz: »Hei-del-berg!« Quietschend und juchzend fielen die beiden Freundinnen ihr um den Hals, dann faßten die drei sich an den Händen und hopsten einmal fröhlich im Kreis. Zweitbestes Testergebnis bundesweit, das war Schon was. Und Heidelberg! Der Hammer! Sie konnte gar nicht erwarten, es ihrem Großvater zu erzählen.
3
»Heidelberg?« Dr. Henning zog skeptisch die Augenbrauen in die Höhe. Paula hätte schreien können. Das darf doch echt nicht wahr sein! Warum war sie nicht erst zu ihrem Großvater gefahren? Daß ihr Vater mal wieder nichts, aber auch wirklich gar nichts begreifen würde, war doch so was von klar gewesen! Paula war gleich nach der Uni nach Hause gefahren und stand nun im einzigen Behandlungsraum der kleinen Praxis. Es war ein reines Familienunternehmen – ihr Vater praktizierte, ihre Mutter saß am Empfang und sprang als Krankenschwester ein, wenn Not am Mann war, und wenn Paula Zeit und Lust hatte, half sie auch mal aus. Nur hatte sie in letzter Zeit wenig Zeit, und mit der Lust war es schon lange vorbei. Dr. Henning verarztete gerade ein Mädchen mit zersto-chenen Armen und zotteligen Haaren. Sie war nicht zum ersten Mal da, selbst Paula kannte sie schon. Nelly war Junkie, und um den Stoff zu bezahlen, ging sie anschaffen. Ihr Freund, der ebenso abgerissen aussah wie sie - und auch genauso übel roch -, pennte den ganzen Tag auf alten Matratzen in einem Abbruchhaus und erwachte erst abends zum Leben, wenn die Kneipen aufmachten. Nur wenn Nelly zum Arzt mußte, raffte er sich früher auf. Dann markierte er den Kavalier und kam mit. Wahrscheinlich will er sichergehen, daß sie bald wieder einsatzbereit ist, dachte Paula und vergaß darüber fast den Zorn auf ihren Vater. Sie schaute sich im Behandlungszimmer um. Kiefernholzregale von Ikea, die so out waren, daß nicht mal mehr das schwedische Möbelhaus sie im Programm hatte - nur hier standen sie noch. Vor dem Fenster ein klimperndes Windspiel, das die Patienten beruhigen sollte (und sie langsam, aber sicher in den Wahnsinn
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trieb). Auf dem Schreibtisch stand eine Duftlampe, die ihr Vater allerdings nur in den Wintermonaten anzündete, und an der Wand hing die Anti-Atom-Sonnenblume aus den Siebzigern. Allerdings ein nagelneuer Druck, den Dr. Henning erst vor zwei Jahren von seinem Bruder zum Fünfzigsten bekommen hatte. Paula seufzte. Kein Wunder, daß ihr Vater sie nie verstand - sie verstand ihn ja auch nicht. Fürsorglich beugte sich Dr. Henning über seine Patientin. »Die roten Punkte hier, das sind nur Filzläuse. Mußt dir keine Sorgen machen, Nelly.« Nelly starrte mit leeren Blick geradeaus und kratzte sich zwischen den Beinen. »Paps, das ist die Chance meines Lebens!« erklärte Paula. Doch ihr Vater hörte überhaupt nicht zu. Na, dann eben nicht. Seufzend griff Paula in das Arzneimittelschränkchen und holte eine Dose mit Pulver heraus, die sie Nelly in die Hand drückte. »Da«, erklärte sie der Patientin, »dreimal täglich feste drauf! Dann sind die Dinger bald tot. Aber laß bis dahin niemanden an dich ran.« Nelly schaute sie ausdruckslos an. Am liebsten hätte Paula sie geschüttelt. Aber da das wahrscheinlich sowieso nichts gebracht hätte, beugte sich Paula vor und sagte so leise, daß ihr Vater es nicht mitbekommen würde: »Okay, besserer Vorschlag: Laß niemanden an dich ran, an dem dir was liegt. Merkst ja, wie unangenehm die kleinen Biester sein können.« Harte Zeiten, harte Maßnahmen, und da Nelly nun nickte, konnte Paula davon ausgehen, daß sie wenigstens etwas verstanden hatte. Okay, das wäre geklärt. Nun wieder zum wirklichen Problem. Paula wandte sich ihrem Vater zu, der bereits an seinen Schreibtisch zurückgekehrt war, um das Krankenblatt auszufüllen. »Du könntest dich echt ausnahmsweise mal mit mir freuen!« Hallo, Erde an Papa! Und tatsächlich schien ihr Vater mitbekommen zu haben, daß sie langsam sauer wurde - denn nun war er plötzlich beleidigt! »Ich hatte gedacht, du hilfst mir in der Praxis« sagte er vorwurfsvoll. »War ja mal so besprochen.« Er schaute auf und wies Nellys Freund, der an der Eingangstür zum Behandlungsraum lehnte, an: »Und mit Anschaffen ist zwei Wochen Pause!« »Wat? Ey, Doc, ey, ich brauch das Geld!« beschwerte der sich sofort. Auf dir krabbeln die Viecher ja auch nicht rum, du Arsch! Paula mußte tief durchatmen und ganz fest die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht loszuschreien. Vielleicht sollte Nelly ihm doch Filzläuse anhängen, und wenn es einen Gott gab, würden sie mutieren und kurzen Prozeß mit dieser menschlichen Laus machen. Aber egal, es gab jetzt Wichtigeres. »Das ist dieser Forschungslehrgang bei Grombek, von dem ich dir erzählt habe.« Keine Reaktion von ihrem Vater. Genausogut konnte sie mit einer Wand reden! Oder aber mit dem Traumpaar hinter ihr. »Versicherungskarte?« fragte sie, rechnete aber natürlich nicht im Ernst damit, daß einer der beiden eine Krankenversicherungskarte hätte. Der Form halber klopfte sich Nellys Freund auf die Taschen seiner kaputten Jeans und murmelte: »Hatte ich doch neulich noch ... muß einer gestohlen haben ...« Paula hörte gar nicht zu. Solche Patienten hatte ihr Vater öfter. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (11 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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»Wenn man das schafft«, erklärte sie statt dessen, »kann man danach bei jedem Forschungsinstitut ...« »... und in jeder schicken Privatklinik unterkommen«, unterbrach Dr. Henning seine Tochter bitter. »Privatklinik und Geld und Ruhm. Der Sinn und Zweck allen menschlichen Leides.« 0 Gott! Paula verdrehte die Augen. »Jetzt geht das wieder los! Nur weil ich eine optimale Ausbildung ...« In diesem Augenblick flog die Tür zum Behandlungszimmer auf, und die dicke Frau Freisinger platzte herein. Sie trug knallenge Leggins, ein kunterbuntes T-Shirt und einen fliederfarbenen Strohhut. Sie zerrte zwei Kinder an einer Hand hinter sich her und trug ein Baby auf dem anderen Arm. »Herr Doktor!« plapperte sie sofort los, »Herr Doktor, schaun S' da, der Kevin! So an Husten! I hob schon Eana Frau g'sagt...« Dr. Henning hob beschwichtigend die Hände, um die Patientin zu beruhigen. Paulas Mutter, die am Empfang gesessen hatte, als Frau Freisinger einfach arrogant vorbeigewalzt war, versuchte bereits, die Patientin wieder hinauszubefördern: »Frau Freisinger! Ich habe gesagt: draußen warten! Raus aus dem Behandlungszimmer! « Nelly hatte das Durcheinander genützt und sich halb umgedreht. Sie saß immer noch auf der Patientenliege, streckte aber nun den dürren Arm in Richtung des Arzneimittelschränkchens aus. Paula sah das und brüllte wütend: »Nelly! Nimm sofort die Finger da weg!« Nelly schreckte zurück. Frau Freisinger, Dr. Henning, Frau Henning und Nellys Junkie-Freund schauten alle zu Paula hinüber, und die konnte nun nicht mehr an sich halten und schrie ihren Vater an: »Ja! Ich will Karriere machen, auch wenn du das scheiße findest! Ich will ganz sicher nicht so enden, in so einer ...« Hilflos hob Paula die Arme und beschrieb einen Kreis, der die Praxis, das Leben ihres Vaters und den ganzen Rest, der ihr spontan nicht einfiel, mit einschloß. Alle erstarrten. Selbst Nelly und ihr Freund hatten kapiert, daß hier irgend etwas Unangenehmes abging. »Ja?« fragte Dr. Henning seine Tochter mit eisiger Stimme. »Sprich ruhig weiter!« Paula schwieg. Sie preßte die Lippen fest aufeinander und sagte kein Wort mehr. Wozu auch? Es war ja schon alles gesagt. Nellys Junkie-Freund nutzte die Gelegenheit und fragte den offenbar gerade emotional verwundbaren Arzt leise: »Sag mal, ey, Doc, hastu 'n Fuffi? Bis Montag? Voll ehrlich!« Aber Dr. Henning schüttelte nur nachdenklich den Kopf. Ob er abwehren wollte, was Paula ihm vorgeworfen hatte, oder ob er bloß keinen Fünfziger zur Hand hatte, blieb unklar. Paulas Mutter hatte die Hände erschrocken vor den Mund geschlagen, und selbst Frau Freisinger war zur Abwechslung mal still. Paula zerrte ihren Arztkittel von den Schultern, warf ihn in die Ecke des Behandlungszimmers und stürmte zur Tür hinaus. Im Gehen blaffte sie die dicke Freisinger noch an: »Und hier drin hat's Filzläuse!« Dann war sie verschwunden. Paulas Mutter sah erst ihrer Tochter nach, dann stemmte sie die Hände in die Hüften und drehte sich zu ihrem Mann um. »Und?« fragte sie vorwurfsvoll. Dr. Henning sah sie lange an. »Sie hat den Platz in diesem Anatomieseminar«, sagte er dann tonlos, und als seine Frau nicht sofort zu verstehen schien, was das bedeutete, fügte er hinzu: »In Heidelberg.« Seine Frau verstand sofort. Wortlos scheuchte sie Nelly und ihren Freund aus dem Behandlungszimmer und zog Frau
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Freisinger hinter sich her, die ihren Hausarzt nur erstaunt ansah. Was war denn bloß so schlimm an Heidelberg? Ihre Tante wohnte da, hin und wieder fuhr sie die mit Kevin besuchen, und das war doch eigentlich immer ganz nett... Na, versteht einer die Studierten! Dr. Henning vergrub das Gesicht in beiden Händen. »Paula«, murmelte er, »Paula.« Warum konnte sie ihn nicht einfach verstehen? Und warum konnte er ihr nicht die Wahrheit sagen? Heidelberg! Sie durfte das alles nie erfahren. Er hatte die Pflicht, sie davor zu schützen.
4
Wütend zerrte Paula am Schloß ihres Fahrrades. So ein verdammter Idiot! Und fetzt auch noch so was! Schließlich bekam sie das dumme Ding auf, schlang es um die Sattelrohrstütze, packte den Lenker und sprang auf den Sattel. Sie trat in die Pedale und ließ die spießige, kleinbürgerliche Enge der Arztpraxis ihres Vaters hinter sich. Nur weg! Zornig und erleichtert gleichermaßen sog sie die frische Luft ein und trat immer schneller. Warum konnte er sich nicht einfach für sie freuen? Warum machte er sich überhaupt keine Mühe, sie auch nur einmal zu verstehen? Warum, warum, warum ... Die Straßen waren leer. Paula brauchte keine zehn Minuten, um die Privatklinik zu erreichen, in der ihr Großvater lag. Eilig bog sie von der Straße auf den Parkplatz ein und wäre fast mit einem Mercedes zusammengestoßen, der das Gelände gerade verlassen wollte. Paula wich aus und kurvte um die silberne S-Klasse herum. Als sie schon zwanzig Meter weiter war, hupte der greise Fahrer ihr noch zornig hinterher. Paula drehte sich nicht einmal um. Jetzt mal Ruhe da hinten, is' ja nichts passiert. Der Parkplatz stand voll mit fetten Benzen und anderen Nobelkarossen. Paula dachte bei sich: Siehst du, Papa, es zahlt sich eben doch aus, es im Leben zu etwas zu bringen. So wie ihr Großvater, der hier betreut wurde. Seine Gesundheit konnte ihm niemand wiedergeben, aber zumindest hatte er es gut und bekam jeden Wunsch erfüllt! Im Eingangsbereich kaufte Paula einen kleinen Blumenstrauß für die Stationsschwestern, die sich so gut um ihren Opa kümmerten. Auch das war ein deutlicher Unterschied zu den staatlich geführten Kliniken: Dort gab es zwar meist auch einen Blumenhöker, der überteuerte Nelken in Plastikfolie feilbot, aber an den Sträußen hier war nur das Preisschild häßlich, und man wurde nicht gleich wieder krank, wenn man sie auf den Nachttisch gestellt bekam. Die Blumenverkäuferin brauchte ewig, bis sie das Wechselgeld beisammen hatte. Paula hüpfte nervös und voller Vorfreude von einem Fuß auf den anderen - Nee, Henning, den Preis für Geduld bekommst du file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (13 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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in diesem Leben auch nicht mehr! -, bedankte sich und eilte weiter. Sie wollte ihrem Großvater endlich die gute Nachricht überbringen! Wenigstens er würde sich freuen, da war sie sicher. Wenigstens einer in der Familie, der sie verstand! Im Flur traf sie zwei Ärzte, mit denen sie schon öfter zu tun gehabt hatte, und nickte ihnen grüßend zu. Dann fuhr sie mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Von hier, aus den Fenstern der Intensivstation, hatte man einen überraschend schönen Blick auf die grünen Hügel der Umgebung. Paula ging zum Schwesternzimmer und überreichte der diensthabenden Schwester die Blumen. »Da. Ich denke, das haben Sie sich verdient im Kampf mit dem alten Löwen!« Schwester Anne bedankte sich im Namen des ganzen Teams. »Ach, er ist ein Schatz«, lachte sie und wickelte die Blumen aus dem Papier. »Sie kennen ihn ja.« Dann drehte sich die Schwester demonstrativ um und begann, nach einer Vase zu suchen. Sie wusste schließlich genau, was Paula wirklich wollte, und da sie es ihr nicht offiziell erlauben konnte, mußte sie eben so ein Auge zudrücken. Wie der Großvater, so die Enkelin, dachte Anne. Ein tolles Gespann, die beiden. Kaum hatte sich die Schwester umgedreht, begann Paula auch schon in einem Stapel mit Krankenblättern und Fieberkurven zu blättern. Wo ... ah, hier! Die Unterlagen ihres Großvaters. Hastig überflog sie die Aufzeichnungen, aber dann kehrte die Schwester schon lächelnd zurück, stellte die Vase mit dem kleinen Strauß auf den Tisch und griff wie nebenbei nach dem Stapel, den Paula gerade am Wickel hatte, als wollte sie damit arbeiten. Keine der beiden Frauen sagte etwas, dazu hatten sie dieses Spiel schon zu oft gespielt. Paula wollte immer ganz genau wissen, was mit ihrem Großvater war, wie er behandelt wurde, welche Medikamente er in welchen Dosen bekam. Und weil alle hier in der Privatklinik ihren Großvater kannten und respektierten, wurde das auch geduldet - bis zu einem gewissen Punkt. Aber letztlich waren es eben doch die Ärzte, und nicht die Angehörigen, die hier die Entscheidungen trafen. Paula lächelte die Schwester zum Abschied noch einmal an und ging dann den breiten Krankenhausgang herunter zum Zimmer ihres Großvaters. Als geschätzter Privatpatient hatte er natürlich ein besonders großes Einzelzimmer mit einem besonders schönen Blick. Aber lieber wäre er gesund gewesen. Oder endlich tot. Auf Paulas Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, als sie das Zimmer ihres Großvaters betrat, und der alte Herr lachte sie so fröhlich an, daß man für einen kurzen Moment fast die vielen Schläuche vergaß, die aus seinem Körper ragten und ihn mit allerhand lebensverlängernden Maschinen verbanden. »Hi, Großvater!« sagte Paula und gab ihrem Opa einen Begrüßungskuß. »Also, hör zu, deine Leberwerte sind auf 1200 gestiegen, Blut 120 zu 80, Herz 70 Prozent. Und daß ich vorgestern mitbekommen habe, daß sie den Seitenausgang doch nicht rückoperieren wollen, hatte ich dir schon gesagt, oder?« Der 5Ojährige Dr. Ewald Henning hob ergeben eine Hand und verdrehte die Augen. »... und mit dem Morphium wollen sie rauf auf 5 Milliliter, müssen aber noch den Schützenberger fragen«, fuhr Paula fort. Dann runzelte sie besorgt die Stirn und schaute ihren Großvater fragend an. »Hast du solche Schmerzen?« Henning grunzte und winkte verächtlich ab. Dabei wackelten die ganzen Schläuche, und die grüne Kurve auf einem der kleinen Monitore hinter seinem Bett zuckte himmelwärts. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (14 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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»Ach, Mäuslein«, raspelte er mit tiefer Stimme, »ich bin ja schon seit Weihnachten tot!« Paula öffnete den Mund, um ihrem Großvater zu widersprechen, aber der hob nur eine Hand, um sie zu stoppen. »Die wollen mich doch nur mit den Maschinen foltern, die ich noch selbst angeschafft habe. Das ist die Rache des Schicksals.« Er hustete einmal und legte sein altes Gesicht in strenge Falten. Los, Mädchen, sag es mir! Seine Augen brannten intensiv. »Testergebnis Robert Koch?« fragte er dann gierig. Was hielt Paula sich an solch einem Tag mit seiner Krankengeschichte auf? »Über 700«, sagte Paula und konnte das stolze Strahlen nicht zurückhalten, so bescheiden sie auch auftreten wollte. »Zweitbeste Arbeit bundesweit.« »Sehr gut!« Ihr Großvater war mehr als zufrieden. Sie ist wirklich meine wahre Erbin! »Und?« Er sah Paula erwartungsvoll an, obwohl er schon wußte, was nun kommen würde. »Heidelberg?« »Na ja«, druckste Paula, »ich will dich auf keinen Fall allein lassen ...« Aber sie wußten beide, wie der Satz zu Ende ging. Wohin sie wollte, wohin sie mußte. »Ha!« rief Ewald Henning empört. »Ich brauche doch kein Klageweib!« Wieder legte sich sein kauziges Gesicht in zahllose Falten, als er Paula näher zu sich heranwinkte und mit rauher Stimme klarstellte: »Mich würde nichts glücklicher machen, als zu sehen, daß meine Paula Mediziner wird. Nicht so ein Pflasterkleber und Krankenscheinausfüller.« So wie mein Sohn, dein Vater, schwang unausgesprochen mit seinen Worten mit. Nach einer kurzen, betrübten Pause fuhr er fort: »Mediziner! Meine Nachfolgerin!« Gerührt streckte er die Hand aus und zog Paulas Gesicht an sich heran. »Du bist doch mein ganzer Stolz, Mäuslein!« sagte er und küßte sie auf die Stirn. Paula standen Tränen in den Augen, so selig war sie. Natürlich hatte sie gewußt, wie ihr Großvater reagieren würde. Daß er sie lieber in Grombeks Anatomiesaal in Heidelberg sah als an seinem Krankenbett. Trotzdem rührte es sie. Und sie würde ihn vermissen! Großvater und Enkelin sahen sich einen langen Moment fest in die Augen, ein Spiel, das sie schon gespielt hatten, als Paula noch ein kleines Mädchen gewesen war. Wenn dich jemand ansieht, wende niemals die Augen ab, hatte er ihr damals immer gesagt. Schau immer nach vorne. Zeig immer, wie stolz du bist. Zeig allen, wie stark du bist. Vieler Worte bedurfte es da nicht mehr. Ihr Großvater wußte, daß sie am nächsten Tag bereits auf dem Weg nach Heidelberg sein würde und vorher noch viel zu erledigen hatte. Paula drückte ihn noch einmal ganz fest, dann löste sie sich aus seiner Umarmung und stand auf. »Ach, und wenn du rausgehst«, bat ihr Großvater Paula beiläufig, »kannst du dann bitte den Stecker rausziehen?« Er hob die Hand und deutete über seine Schulter auf die zahllosen Maschinen, mit denen er verbunden war. Paula blieb stehen und schaute ihren Opa streng an. »Mensch! Großvater!« wies sie ihn zurecht. Dr. Ewald Henning grinste und begann dann zu lachen. Paula stimmte ein, winkte zum Abschied und ging. Das Lachen ihres Großvaters hallte ihr durch den Krankenhausflur hinterher. Nach einer Weile kippte es um und verwandelte sich in ein röchelndes Husten. Eine fachlich weniger kompetente Enkelin wäre sicher umgekehrt und zurückgeeilt, um zu helfen. Aber Paula kannte sich aus und wußte, daß ihr Großvater Atemschwierigkeiten hatte. Und Hustenanfälle. Daß
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man dagegen nichts machen konnte. Und vor allem: daß sie vorbeigingen. Deshalb hörte sie gar nicht wirklich das Husten, sondern das Lachen, das immer noch darin steckte. Zufrieden stieg sie in den Fahrstuhl. Wenigstens er hatte sich mit ihr gefreut, wenigstens er. Nun konnte sie beruhigt nach Heidelberg fahren.
In seinem Zimmer begann Dr. Ewald Henning wieder ruhiger zu atmen. »Paula«, flüsterte er, »meine Paula in Heidelberg!« Ein triumphierendes Lächeln lag auf seinen Lippen.
5
»Jetzt nimm doch wenigstens das Blaue mit!« drängte Paulas Mutter, als sie am Abend die Koffer packten. »Vielleicht geht ihr ja mal aus oder so.« Hoffnungsvoll hielt sie ihrer einzigen Tochter das blaue Kleid hin. Das stand ihr so gut. Und Paula war ein so ernstes Kind. Immer nur studieren, das war doch nichts. Aber Paula wollte davon nichts hören. »Mama! Ich fahre zum Arbeiten nach Heidelberg«, wehrte sie ab und schob das blaue Kleid beiseite, um einen Stapel T-Shirts in den Koffer legen zu können. Seufzend ließ Paulas Mutter sich auf das Bett ihrer Tochter sinken. Sie faltete das blaue Kleid in der Mitte und legte es auf ihren Schoß. Eigentlich hätte sie es sich schon vorher denken können. Paula war so vollkommen anders als sie in ihrem Alter; sicher, sie hatte damals ebenfalls studiert, und die schlechteste Studentin war sie auch nicht gewesen, aber trotzdem war sie gerne tanzen gegangen, besonders natürlich mit Paulas Vater. Und sie hatte sich dafür immer gerne schön angezogen. Aber jedem, der sich in Paulas Zimmer umsah, wurde schnell klar, daß sie mit so etwas nicht viel im Sinn hatte. Dort, wo ihre Mutter den Starschnitt von Elvis Presley an die Wand geklebt hatte, hing bei Paula ein anatomisches Poster, auf dem ein Bodybuilder ohne Haut zu sehen war; auf dem Regal standen kleine medizinische Modelle und sogar einige Präparate in Formaldehyd. Gut, da waren auch noch die Rosentapete und der fröhlich gemusterte Vorhang, aber die hatte Paula ja auch nicht selbst ausgesucht. Immerhin hatte sie sich damals durchsetzen können; vielleicht sollte sie heute auch etwas hartnäckiger sein? »Nur weil du ein Kleid mitnimmst, heißt das doch noch lange nicht ...« Ungerührt fiel Paula ihr ins Wort: »Also, ich lass mich sicher nicht schwängern und versau mir dadurch die Karriere.« Sie legte zwei Hosen in den Koffer, dann sah sie auf. Erst jetzt schien sie zu begreifen, was sie da gesagt hatte. Sie erstarrte. »Danke«, sagte ihre Mutter eisig. »Sehr charmant.« Paula stand auf und ging zu ihrer Mutter hinüber. Sie setzte sich neben sie aufs Bett und legte den Arm um ihre Schultern. »Ach, Mami, das war doch nicht so gemeint, du weißt schon.« Ja, dachte Paulas Mutter, ich weiß schon. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (16 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Ihre Tochter, das war schon seit langer Zeit klar, hatte überhaupt kein Verständnis dafür, daß ihre Mutter damals das Studium abgebrochen hatte, weil sie schwanger geworden war. Einmal hatte sie ihr im Streit sogar an den Kopf geworden, daß sie, Paula, nie so enden wollte. Das ist alles die Schuld von diesem furchtbaren alten Mann, schoß es Paulas Mutter durch den Kopf. Wenn Paula doch nur ... Nein, sie hatte versprochen, sich daraus herauszuhalten. Schnell wechselte sie das Thema. »Hast du dich bei Papa entschuldigt?« »Ich bemühe mich ja echt!« verteidigte sich Paula. »Aber immer diese Tour, daß alle, die Erfolg haben, Verbrecher sind, nur weil er ...« Ihre Mutter hob mahnend den Zeigefinger, und Paula verstummte. Sie hatten dieses Gespräch schon zu oft geführt. Hatten sich zu oft gestritten. Noch einmal mehr mußte nicht sein. Paula seufzte - und ging zum Gegenangriff über. »Übrigens: Auch wenn er seinen Vater nicht leiden kann - Papa könnte Großvater wenigstens mal besuchen gehen.« Und um ihrer Forderung noch etwas mehr Nachdruck zu verleihen, setzte sie noch hinzu: »Dem geht's echt nicht so gut.« Nachdenklich nickte Paulas Mutter. Aber auch da würde sie nicht viel ausrichten können. »Ja, ich weiß«, murmelte sie und sah ihre Tochter hilfesuchend an. Ich werde ganz schön einsam hier ohne dich sein, wollte sie sagen. Dein Vater vergräbt sich immer mehr in seiner Praxis, dein Großvater ist ein verbitterter alter Mann, der mir immer noch die Schuld daran gibt, daß sein Sohn nie in seine Fußstapfen getreten ist, und nun gehst du auch noch weg und läßt mich allein. Natürlich schob sie diese Gedanken schnell wieder beiseite, aber Paula, die ihre Mutter gut kannte, wußte auch so, was in ihr vorging. Ohne große Worte zog sie ihre Mutter in ihre Arme und drückte sie fest an sich. Ich weiß ja, Mama, dachte sie. Aber bleiben kann ich einfach nicht. Heidelberg! Das ist alles, was ich mir immer gewünscht habe! Schließlich machte sich Paulas Mutter los, sah ihre Tochter ernst an und fragte besorgt: »Schreibst du mir auch mal?« Paula nickte und sagte voll inbrünstiger Vorfreude: »Das wird so geil, so geil, so geil!« Sie freute sich wirklich sehr auf die Reise nach Heidelberg. Es würde harte Arbeit werden, natürlich, von Semesterferien keine Spur. Aber es war wirklich eine einmalige Chance. So etwas würde sie nie wieder erleben!
6
Die Musik klang wie im Kaufhaus, oder im Fahrstuhl. Gefälliges Gedudel. So etwas würde er sich nie freiwillig anhören. Er versuchte, die Augen zu öffnen. Aber die Lider klebten zusammen. Er fühlte sich schwer, so schwer. Und doch schien er zu schweben.
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Er war ein wenig benommen. Wo war er? Wieso lief diese Musik? Wieso bekam er die Augen nicht auf? Was um Gottes willen hatte er gestern Abend getrunken, und vor allem: wieviel? Teufel. Er mußte die Augen aufbekommen. Es war bestimmt schon heller Tag. Mit dem Saufen aufhören, nahm er sich vor. Nahm er sich ganz fest vor. Nie wieder Alkohol. Seine Zunge lag wie ein pelziger, fauliger Klumpen in seinem Mund. Sie füllte seine Mundhöhle fast vollständig aus. Als hätte jemand ihm eine tote Maus in den Mund gesteckt, von der nur noch das Schwänzchen zwischen seinen Lippen hervorschaute. Uh, wie eklig. Was für ein abscheulicher Gedanke. Wieder versuchte er, die Augen zu öffnen. Er wuchtete seine tonnenschweren Lider einen Millimeter auseinander, kniff die Augen aber sofort wieder zu. Es war so hell dort draußen! Wieso war es so hell? Als ob ihm jemand mit einer Taschenlampe direkt ins Gesicht leuchtete. Wahnsinn! Was war das nur wieder für ein beschissener Traum? Hatte er etwa gestern schlechtes Kraut geraucht? Verdammter Mist! Er wollte seine Arme recken und strecken, seine Beine anziehen, wollte sich dehnen und biegen wie ein verschlafenes Kätzchen. Aber er konnte sich nicht bewegen. Er war wie gelähmt. Konnte sich nicht rühren. Und diese Musik! Die Musik machte ihn wahnsinnig! Dieses belanglose, sinnlose Gedudel. Schrecklich! Er mußte die Musik ausschalten. Er mußte die Augen aufmachen und sich auf die Seite drehen und den Arm ausstrecken und die STOP-Taste drücken und die gottverfluchte Musik ausschalten, er mußte ... Er machte die Augen auf. Es war hell, gleißend hell. Er schaute in eine dreistrahlige Lampe, wie beim Zahnarzt. Er runzelte die Stirn. Wo war er? Wie war er hierhergekommen? Was ... Ein Kopf schob sich zwischen ihn und die Operations-
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lampe. Er konnte nicht erkennen, ob das ein Mann oder eine Frau war. Das Wesen trug einen Mundschutz, eine Operationskappe und etwas, was ihn an eine TechnoBrille erinnerte. Ein Glas war durch eine kreisrunde Lupe ersetzt worden, wie die eines Uhrmachers. An den Seiten der Brille leuchteten zwei kleine Punktstrahler. Was war das nur für ein beschissener Traum? Unheimliehe Begegnung der dritten Art, oder was? Und warum fühlte sich das alles hier eigentlich nicht wie ein Traum an? Plötzlich spürte er, wie die Lider seines linken Auges auseinandergezogen wurden. Das seltsame Wesen beugte sich vor und starrte ihm mit seinem unheimlichen Lupenauge direkt bis ins Gehirn, oder zumindest kam es ihm so vor. »Wo... wo...?« murmelte er mit fetter, haariger Zunge. Er war kaum zu verstehen.»Testat erwacht«, bemerkte das Wesen tonlos und nahm die Hand wieder weg. Seine Lider zogen sich zusammen. Sie wollten sich wieder schließen. Wollten den unheimlichen Anblick auslöschen. Wollten diesen beängstigenden Traum beenden. Er wollte sich in den Arm kneifen, mit einem üblen Kater aufwachen und grimmig über sein durchgedrehtes Unterbewußtsein lachen. Aber er hatte so ein komisches Gefühl. Als würde er aus diesem Traum nie mehr erwachen ... »Anästhesieren?« fragte jetzt ein zweites Wesen im Schutzanzug, dessen Kopf neben dem des ersten auftauchte. Was zum Teufel war hier los? »Bißchen Kreislauf ist ganz gut«, murmelte das erste Wesen. »Zwei Milligramm Promidal intravenös!« Die beiden Köpfe verschwanden aus seinem Blickfeld. Das Licht der dreistrahligen Operationsleuchte knallte ihm wieder voll ins Gesicht. Erschöpft schloß er die Augen. »W-wo ... b-bin ich ...?« fragte er mühsam. »Ich file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (19 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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dachte ... Was m-machen ... S-sie ...?« Aber niemand hörte auf ihn. Die Musik dudelte immer weiter. Jetzt waren auch andere Geräusche zu hören. Klickendes und klapperndes Metall, ein leises Zischen. Angestrengt öffnete er wieder seine Augen. Er starrte in das helle Licht. Mühsam drehte er den Kopf zur Seite. Warum nur konnte er den Rest seines Körpers nicht bewegen, seine Arme, seine Beine? Oder kam ihm das nur so vor? Und wo war er hier eigentlich? Die beiden Menschen in den Schutzanzügen waren nicht zu sehen, sie standen gerade zu seinen Füßen. Was taten sie dort? Wer waren diese Leute? Hatte er einen Unfall gehabt? Lag er im Operationssaal? Ja, das mußte es sein! Bestimmt war er betrunken vor ein Auto gelaufen, er war angefahren worden, schwere innere Verletzungen, und nun retteten sie ihm das Leben! Aber wieso war er dann aufgewacht? Wieso war er bei Bewußtsein? Und warum verspürte er keinen Schmerz? Er schaute sich um. Es konnte tatsächlich ein Operationssaal sein. Die Leuchte über ihm. An den Wänden mattgestrahlte Metallschränke, Chrom oder Stahl. Auf den Tischen Glasschälchen. Er schien sich auf einer Liege zu befinden, die etwa einen Meter über den Boden aufragte. Neben ihm stand ein metallener Rollwagen. Darauf lagen einige medizinische Instrumente. Klammern, Tupfer, rasiermesserscharfe Skalpelle. Dahinter ein Metalltablett, auf dem ... Nein. NEIN! Eine Welle der Übelkeit rollte über ihn hinweg. Was war das denn? Auf dem Tablett lagen irgendwelche glibberigen Innereien. Ein ganzer Haufen davon. Als würde gleich eine hungrige Wolfsmeute hereinstürzen und ein reichhaltiges Abendmahl fordern. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (20 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Und woher zum Teufel kam dieses Zeug? Das verschiedenfarbige Fleisch, die gewellten Darmwände und dieser ... dieser Geruch? Ihm war schlecht, am liebsten hätte er sich übergeben, aber er hatte seinen Körper nicht unter Kontrolle. Sein Blick zuckte unruhig. Wo war er hier? Was geschah mit ihm? Er hob mühsam den Kopf und schaute an sich herunter. Er wollte wissen, wo die beiden Wesen hin waren. Wo er sich befand. Er schien tatsächlich auf irgend etwas zu liegen. Das eine Wesen stand zu seinen Füßen und zog eine Spritze auf. Das andere Wesen streckte gerade eine Hand in Richtung seines Bauches aus ... Sein Bauch! Er riß entsetzt die Augen auf. Sein Bauch war verschwunden. Wo sich seine Bauchdecke befunden hatte, klaffte ein riesiges, tiefes Loch. Darin steckte ein chromblitzendes Operationsbesteck, und Chromklammern hielten die Überreste seiner Haut weiträumig zurück. Eines der beiden bekittelten Wesen fragte leise das andere: »Hast du dir schon die Liste angesehen? Was Interessantes dabei?« Das andere Wesen sagte: »Mmh ... vielleicht der Typ aus Berlin. Ah ja! Und: Henning!« »Henning?« fragte das erste Wesen. »Echt? Wie: >Henning« »Genau«, bestätigte das andere Wesen. »Paula oder Petra. Exzellente Noten, 'ne Frau. War mal was Neues. Die könnte man mal kon-tak-tieren ...« Die beiden Wesen kicherten leise. Das war doch Wahnsinn! Was waren das für welche? Redeten über irgendwelche Frauen und schnitten ihm die Innereien raus! Sein Blick irrte erst zu dem Fleischhaufen auf dem Beistelltisch, dann zu dem Wesen am Fußende des Operationstisches. Wegen des Mundschutzes und der Lupenbrille war von dem Gesicht nichts zu sehen, aber er hatte den Eindruck, als ob das Wesen hämisch grinste. Verzweifelt schloß er die Augen, riß sie aber sogleich wieder auf. Panik befiel ihn. Er versuchte, sich zu bewegen, aber es gelang ihm nicht. Erneut hob er seinen Kopf. Er drehte ihn ein wenig nach links, er hielt Ausschau nach Hilfe. Irgendwer mußte ihm doch helfen können! Wie war er bloß hierhergeraten? Was war denn nur mit
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seinem Kopf los? Sein Blick huschte noch einmal zu seinem aufgeschnittenen Bauch hinunter und zuckte dann nach links. Sein linker Arm lag festgeschnallt in einer Schiene. Er kniff die Augen zusammen, um trotz des gleißend hellen Strahlers etwas erkennen zu können. Sein Arm war festgeschnallt in der Schiene. Seine Hand war frei. Die Finger waren leicht gespreizt. Die untere Hälfte der Finger war unversehrt. Ab dem mittleren Fingerglied fehlte die Haut, nur die Fingernägel und Fingerspitzen waren noch zu sehen. Dazwischen nur Knochen, Sehnen, Adern. Kein Blut. Es war bizarr, entsetzlich ... und es war ... wunderschön. Aber nein, das konnte nicht seine Hand sein, seine Hand, das konnte nicht...
Das Wesen mit Mundschutz, Haube und Lupenbrille trug einen OP-Kittel und hielt ein Skalpell in der Hand. Es beugte sich über die Hand und löste mit Hilfe des Skalpells ganz vorsichtig einen Streifen Haut. Es tat gar nicht weh. Das konnte nicht seine Hand sein. Aber wessen ...? Er versuchte, seine Finger zu bewegen. Es ging nicht. Seine Finger waren taub. Seine Finger waren steif. Diese Musik machte ihn wahnsinnig. Er wollte seine Finger bewegen. Da! Der Zeigefinger der aufgeschnitteten, zum medizinischen Schauobjekt verstümmelten Hand zuckte. Er zuckte nur einmal, ganz leicht, aber in diesem Augenblick wußte er: Das ist kein Traum. Das ist Wahnsinn, das ist Wirklichkeit. Sie haben mir den Bauch aufgeschnitten und mir bei lebendigem Leibe die Innereien rausoperiert, und sie sezieren gerade meine Hand. Warum? Er schloß die Augen und versank in tiefer Schwärze. Sein Kopf sackte zurück. Er wollte weg, er wollte sich wehren, schreien, irgend etwas, und dann merkte er langsam, wie sein Geist immer schwerer wurde, schwerer, nur noch Zeitlupe, Zeit-lupe, Zeitlu ... Zei... Z ... Die beiden Wesen operierten weiter. Die Musik dudelte fröhlich und belanglos vor sich hin.
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Anatomie
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Als sie vierzehn Jahre alt gewesen war, hatte Klaus Berger aus der Oberstufe ihr im Vorbeigehen ein Kompliment gemacht. So ein richtiges. Und alle ihre Freundinnen hatten es gehört. Damals hatte Paula das Gefühl gehabt, ein Schmetterling würde in ihrem Bauch mit den Flügeln schlagen. Genau dieses Gefühl hatte sie wieder - nur war kein Klaus Berger in der Nähe. Und es war nicht ein Schmetterling - es waren Tausende! Paula war mehr als aufgeregt, als der Zug endlich losruckte. Sie! Fuhr! Nach! Heidelberg! Sie fuhr wirklich nach Heidelberg, sie hatte es geschafft! Zweitbestes Ergebnis bundesweit. Ja! Sie wollte sich ja nicht unbedingt etwas darauf einbilden, aber ... na ja, stolz war sie schon. Stolz? Euphorisch! Begeistert! Jenseits von Gut und Böse! Und das zu Recht. Blöd nur, daß es so voll war im Zug. Die Semesterferien hatten gerade begonnen, und alle schienen irgendwohin zu fahren. Paula hatte keinen unbesetzten Sitzplatz mehr gefunden, und über eine Platzreservierung hatte sie gestern in der ganzen Aufregung natürlich nicht nachgedacht. Nur bei ein paar grölenden Bundeswehrsoldaten wäre noch was frei gewesen, und das mußte ja nun auch nicht sein. Da stand sie lieber im Gang, mit ihrer Tasche zwischen den Beinen. Die Tasche war ja sowieso nicht allzu groß, weil Paula nur das Nötigste mitgenommen hatte. Plötzlich schob sich eine junge Frau dicht neben sie. »Hey! Kennen wir uns nicht aus München?« Paula schrak auf. Sie hatte durch das vor ihr liegende Abteil zum Fenster hinausgeschaut und vor sich hin geträumt. Jetzt zuckte ihr Kopf herum. Ja, sie hatte diese Frau schon mal irgendwo gesehen - aber wo? Die Frau trug eine etwas zu knappe, etwas zu weit aufgeknöpfte Bluse, eine etwas zu enge Jeans, etwas zu hochhackige Schuhe und in jeder Hand eine Reisetasche. Etwas zu viel Gepäck für Paulas Geschmack. Frau »Etwas zu viel« ließ sich von Paulas eher unfreundlichem Gesicht aber nicht abschrecken und lächelte sie weiter mit kirschrotem Mund an. Plötzlich fiel bei Paula der Groschen. »Warst du nicht auch bei Professor Huber?« Die junge Frau lachte. »Der Anatom mit den sechs Händen, ja, genau.« Sie nickte und stellte ihre Reisetaschen mitten im Gang ab. »Genau«, bestätigte Paula und nickte nun eifrig, »ich find das so unangenehm, daß ...« Die vollbusige Blondine fiel grinsend ein: »Ach, ich lass ihn immer ein bißchen. Dafür muß man dann file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (23 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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nicht in seine zweitklassigen Vorlesungen gehen. Direkt auf die Brust oder was greifen traut er sich ja nicht.« Sie guckte herausfordernd. Paula kam sich ganz schön spießig vor. Die Mitstudentin fragte: »Und, fährst du auch nach Heidelberg?« »Ja, wieso ... auch?« entgegnete Paula fassungslos. Moment mal - diese Tussi? Das durfte doch wohl nicht ... »Du etwa auch?« Sie schaute ihr Gegenüber fassungslos an. Die entgegnete kirschlächelnd: »Ja, klar. Sollen wir gemeinsam ein Zimmer nehmen? Ich bin übrigens Gretchen.« Sie zwinkerte Paula verschwörerisch zu. »Vielleicht gibt's da ja ein paar nette Jungs? Obwohl, Medizinstudenten ...« Gretchen zog zweifelnd die Mundwinkel herunter. »Ach, wer weiß!« Sie zupfte ihre Bluse zurecht und zwinkerte Paula neckisch zu. Die hatte überhaupt keine Lust, weiter mit diesem Gretchen zu reden, war aber zu höflich, das offen zu sagen. Im stillen dachte sie mit einem Blick auf Gretchens offensichtliche Vorzüge: Na, das fängt ja gut an. Für Paula war der Fall klar - Oberweite statt wissenschaftlicher Qualifikation. Den Namen »Gretchen« konnte sie gleich wieder vergessen. So was konnte es wirklich nur an ihrer Uni geben, daß sich irgendeine dumme Nuß begrapschen ließ und dann die Zulassung für das Seminar bekam, für das sie selbst so lange gearbeitet hatte. Männer! Ein Alptraum. Seufzend wandte Paula sich ab und schaute wieder zum Fenster hinaus. Vielleicht würde dieses Gretchen ja abhauen, wenn Paula ihr zeigte, daß sie kein Interesse an ihr hatte. Die war bestimmt auf Abenteuer und Action aus, und dafür war Paula ganz bestimmt die Falsche. Der Zug verlangsamte etwas und nahm eine scharfe Kurve. Paula wurde gegen das kühle Glas an ihrem Rücken gedrückt. Gretchen ließ sich wie zufällig gegen einen jungen Wehrpflichtigen sinken, der hinter ihr stand. Als die Kurve vorbei war, löste sie sich langsam wieder aus dessen starken Armen, schaute ihm tief in die Augen und hauchte grinsend: »Entschuldigung.« Der junge Mann strahlte wie ein Honigkuchenpferd, Der freut sich jetzt bestimmt schon auf die nächste Kurve - Paula verdrehte die Augen, dann schaute sie wieder stur geradeaus. Gretchen fing an, mit dem Soldaten zu plaudern, und kicherte leise. »Ein Arzt!« Der Ruf kam vom Ende des Ganges. »Ist hier ein Arzt?« file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (24 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Er klang sehr besorgt. Paula sprintete sofort los, ohne auch nur einen Gedanken an ihre Reisetasche zu verschwenden. Weiter hinten im Gang standen mehrere Passagiere dicht beieinander. Paula drängte sich durch und keuchte: »Lassen Sie mich mal durch. Ich studiere Medizin!« Widerwillig machten die Schaulustigen Platz. Einer murmelte: »Ist grade umgefallen, sicher wegen der Hitze oder so ...« Er deutete auf einen Jungen, der zusammengekrümmt am Boden lag. Paula ging sofort neben ihm auf die Knie. Der Junge zitterte leicht, wie bei einem epileptischen Anfall. Er war kalkweiß, und sein Gesicht war schweißbedeckt. Paula zog sein Lid nach oben, konnte aber nur das Weiße im Auge sehen. Er zitterte noch einmal und lag dann ganz still. »Scheiße!« quetschte Paula zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie tastete nach seinem Puls, erst am Handgelenk, dann an der Halsschlagader. Nichts? Nichts! Der Junge war höchstens ein paar Jahre jünger als sie, wenn überhaupt. Er hatte einen Ring in der Augenbraue und trug hochgegelte Haare mit blonden Strähnen. Er sah schlank und trainiert aus und nicht so, als würde er wegen dem bißchen Sommerhitze einfach umfallen. Paula drehte den jungen Mann hektisch auf den Rücken. Sie beugte sich vor, hielt ihm die Nase zu und begann mit der Mund-zu-Mund-Beatmung. Die anderen Passagiere beugten sich vor und schauten neugierig zu. Auch Gretchen war inzwischen dazugekommen und stand direkt hinter Paula. »Treten Sie zurück«, hörte Paula sie mit erstaunlich fester Stimme sagen. »Machen Sie Platz.« Ganz doof war sie also wenigstens nicht. Paula löste ihre Lippen von denen des jungen Mannes und setzte professionell zur Herzmassage an. Beide Hände knapp unterhalb des Herzens, am unteren Ende des Rippenbogens. »Eins, zwei, drei, vier!« zählte sie bei jedem Stoß mit.
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Dann wieder vier Atemstöße Sauerstoff. Und wieder, mit aller Kraft, Herzmassage. »Eins, zwei, drei, vier!« Paula war verzweifelt. Der würde ihr doch hier jetzt nicht unter den Händen wegsterben, oder? Scheiße, Scheiße, schimpfte sie innerlich. Gretchen sagte irgend etwas zu ihr, es klang sogar halbwegs medizinisch, aber Paula achtete nicht auf sie. Wieder Mund-zuMund. Plötzlich begann der junge Mann zu husten. Paula zuckte zurück. Der Mann hustete ein paarmal, dann saugte er gierig Sauerstoff ein und schlug die Augen auf. Paula schaute sich um. Die Schaulustigen bildeten trotz Gretchens energischen Bemühungen einen engen Kreis um sie. Wütend blaffte Paula: »Macht sofort ein Abteil frei! Und Wasser, er braucht Wasser!« Die Umstehenden zuckten zurück. Ein Mann streckte seinen Kopf in das nächste Abteil und bat die Passagiere, es wegen eines medizinischen Notfalls freizumachen. Gretchen ging Wasser holen. Zehn Minuten später lag der junge Mann auf zwei ausgezogenen Sitzen in dem leeren Abteil. An der Scheibe drückten sich zwei Kinder die Nase platt. Die Erwachsenen waren etwas dezenter und hielten einen halben Meter Abstand. Der junge Mann hieß David und war immer noch ganz blaß. Aber er war noch am Leben. »Ich bin echt fertig!« murmelte Gretchen. »Da weiß man doch echt mal wieder, warum man den ganzen Scheiß studiert!« Als ob du irgend etwas Hilfreiches getan hättest, dachte Paula empört. Eindringlich sagte sie: »David, das war keine Ohnmacht! Du hast einen Herzstillstand gehabt, du mußt...« Aber David winkte ab und leierte sarkastisch los: »Heysenbergsche Krankheit, fortgeschrittener cardialer Tumor, Befall der äußeren Herzkranzgefäße. Außer dass ich hin und wieder tot umkippe, keine Beschwerden.« Er schaute Paula an. Paula schaute entgeistert zurück. Die Haare, der Augenbrauenring, das graue Kapuzenshirt: Der Typ könnte zwei Semester unter ihr sein. Höchstens. Der war auf keinen Fall älter als sie. Und doch war er dem Tod so nahe! Grinsend fragte David: »Wollt ihr meine Leiche? Ist 'n erstklassiges Anschauungsobjekt!«
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Paula warf Gretchen einen bestürzten Blick zu. Sie nahm Davids Hand und setzte gerade an, ihm etwas Tröstliches zu sagen, da platzte Gretchen kichernd heraus: »Wir müßten davor aber unbedingt noch alle lebenden Funktionen ausprobieren!« Sie beugte sich vor und ließ ihren Blick vielsagend über Davids Körper streichen. Der wurde rot, schaute Gretchen ins großzügige Dekollete - und wurde noch röter. Paula schnaufte genervt, aber Gretchen legte schon nach; »Also, ich liebe Anatomie ja wirklich - aber mal im Ernst, nackte Männer sind einfach interessanter, wenn sie noch leben!« Sie kicherte. David auch. Paula schaute entnervt zur Decke. Und bis Heidelberg war es noch weit! Obwohl Gretchen und David sich in der folgenden Stunde die meiste Zeit schlüpfrige Andeutungen um die Ohren warfen, die Paula immer ernsthafter an ihrem Professor zweifeln ließ, erfuhr sie immerhin, daß David auch dorthin unterwegs war. »Ach, der 435. Spezialist oder Wunderheiler«, tat er extra cool, obwohl es doch um sein Leben ging. »Ich treffe mich heute abend in irgendeiner Kneipe mit dem zur Besprechung. Aber die geilen sich eh alle nur an der seltenen Krankheit auf. Helfen kann sowieso keiner mehr.« Paula konterte: »Sag das nicht! Die moderne Medizin kann heutzutage ...« Aber David schüttelte nur traurig den Kopf. Obwohl: Wenn er nicht an medizinische Wunder glaubte, wieso fuhr er dann nach Heidelberg? Zufrieden lehnte Paula sich zurück. David hatte die Hoffnung ganz sicher noch nicht aufgegeben. Seinen Zynismus brauchte er nur als Schutz, falls es wieder nichts brachte. Klare Sache. Endlich fuhr der Zug in den Heidelberger Hauptbahnhof ein. Paula mußte gegen ihren Willen grinsen, als sie sah, wie David sich überschlug, um nicht nur seine eigene Reisetasche, sondern vor allen Dingen auch Gretchens Gepäck aus dem Zug zu tragen. Gretchen zwinkerte ihr zu, und Paula mußte lachen. Auf dem Bahnsteig drückte Gretchen David einen Zettel in die Hand: »Schau, hier«, erklärte sie mit Schlafzimmerblick, »meine Handynummer. Wir praktizieren in Kneipen, Discos, Kinos. Also, wenn du Bedarf hast...« David grinste breit. Dann verabschiedete er sich mit einem festen Händedruck von Paula. Er schaute ihr ganz ernst in die Augen und sagte: »Ja, also: Vielen Dank noch mal!« Genauso ernst antwortete Paula: »Klar. Mach's gut.« Aber dann drängelte sich Gretchen schon wieder dazwi-
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schen und gab David zwei fette Küsse auf die Wangen. Er grinste verlegen, ließ Paulas Hand los und ging davon. Erst im Bus zum Universitätsgelände murmelte Gretchen nachdenklich: »Puh! Das arme Schwein! Hab gar nicht gewußt, daß man das schon so jung haben kann!« Paula sah Gretchen von der Seite an. Na ja, die Hellste ist die vielleicht nicht, dachte sie, aber irgendwie scheint sie dann ja doch ein Herz aus Gold zu haben. Die konnte halt auch nicht aus ihrer Haut und mußte einfach jeden Typen angraben. Wie krank das auch war. Oder wie krank der Typ auch war ... Na ja, egal. Vielleicht konnte sie sich mit dem blonden Busenwunder ja doch noch anfreunden. Wenigstens für die paar Wochen hier in Heidelberg. Vielleicht hatte ihre Mutter ja auch recht, und ein wenig Ablenkung konnte ihr nicht schaden? 8
Gretchen setzte ihre beiden Reisetaschen vorsichtig auf dem Boden ab. Paula stieg hinter ihr als letzte aus dem Bus und wurde grob beiseite gestoßen - der Bus fuhr gleich zurück zum Bahnhof, und eine brodelnde Masse feriengeiler Studenten wollte an Bord. Die beiden Münchnerinnen schauten sich um. Sie standen vor dem Haupteingang der Heidelberger Universität, und wie das eben immer so war, wenn man vor einem Universitätsgebäude stand: Man wußte nicht so recht, wohin. Niemand half einem, niemand kümmerte sich um einen, und die Gebäude waren riesig und unübersichtlich. Schließlich war es Gretchen, die den kleinen Wegweiser entdeckte: Studentenwohnheim. Ein Pfeil deutete nach links. Zögernd nahmen die beiden ihre Taschen wieder auf und gingen in die angegebene Richtung. Das Studentenwohnheim war ein riesiger, düsterer Klotz. Paula und Gretchen gingen durch ein großes Tor hinein in eine dunkle Halle. Ganz weit hinten stand ein Tisch, hinter dem drei Studenten saßen. Auf dem Tisch ein kleines weißes Schildchen. Gretchen und Paula gingen auf den Tisch zu und und lasen: Forschungslehrgang Anatomie/Pathologie Prof. Grombek. Na also: Hier waren sie richtig. Paula betrachtete die drei vom Empfangskomitee: ein schmächtiger, pickeliger Streber; eine perfekt geschminkte, bestimmt total zickige höhere Tochter, die ihre schmalen Lippen fest aufeinanderkniff; ein sportlicher Sunnyboy, der Paula irgendwie an einen TV-Moderator erinnerte, aber an welchen? Na, egal. Namen waren halt nicht ihre Stärke. Sie stellten ihre Reisetaschen vor dem Tisch ab. »Hallo, Paula Henning ist mein Name.« Der gutaussehende Student grinste sie an und begann, ihren Namen in einer Liste zu suchen. Gretchen gab derweil dem pickligen file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (28 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Streber ihre Papiere, strahlte ihm ein »Und ich bin das Gretchen« entgegen, guckte dabei aber die ganze Zeit den gutaussehenden Studi an, dem Paula ihre Unterlagen hingestreckt hatte. »Aber in der Liste hast du mich wahrscheinlich unter Margarete Möllmann.« Sie kicherte. »Aber nenn mich bloß nicht so. Gretchen. Das bin ich.« Paula hätte am liebsten geschrieen. Gretchen, dachte sie, das paßt nun wirklich. Hilfesuchend warf sie einen Blick auf die Studentin, die zwischen den beiden Typen saß - vielleicht fand sie in der ja eine Gleichgesinnte? Die Zicke saß aber nur mit ausdruckslosem Gesicht da und feilte angeödet ihre Nägel. Das konnte ja was werden. Der Gutaussehende schaute auf und lächelte erst Paula und dann Gretchen an. »Ihr seid beide aus München?« stellte er fest. »Ich lege euch zusammen auf ein Apartment, okay?« Gretchen strahlte. »Klasse!« Paula lächelte ein bisschen gequält. So weit ging die Sympathie dann ja doch noch nicht, aber sie hätte es unhöflich gefunden, das zu sagen, also hielt sie den Mund. War ja auch nur für ein paar Wochen. Der Student schrieb ihre Namen in den Belegungsplan, ließ den dann auf den Tisch fallen, angelte sich einen Schlüssel von einem großen Bund, überprüfte noch einmal die Zimmernummer und stand auf. »Ich zeig' euch mal eure Bleibe«, sagte er und marschierte los. Gretchen und Paula packten ihre Taschen und liefen hinter ihm her. Gretchen belegte ihren Führer natürlich sofort mit Beschlag. Immerhin, stellte Paula zufrieden fest, ließ der sie ihre beiden Taschen selber schleppen. Gretchen schien das allerdings nicht sonderlich zu stören. Sie ließ den Studenten einen Schritt vorgehen, nickte mit dem Kopf in Richtung seines Pos und grinste Paula vielsagend an. Die verdrehte nur die Augen, riskierte dann aber doch einen Blick und mußte grinsen - man konnte von Gretchen denken, was man wollte, aber einen guten Geschmack schien sie zu haben. Sie gingen eine große Treppe hinauf und dann einen langen Gang entlang. Der Student erklärte ihnen die Hausordnung: »Kein Alkohol, keine Haustiere. Herrenbesuche erlaubt, müßt ihr euch aber selbst organisieren.« Er grinste. Gretchen kicherte. Paula preßte die Lippen aufeinander. Herr im Himmel! »Ich heiß übrigens Phil«, verkündete ihr Studentenheimführer und warf Gretchen einen herausfordernden Blick
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zu. »Immer phil geil!« Gretchen lachte wieder. Paula verdrehte die Augen. Wo war sie hier nur gelandet? Das war doch nun wirklich Fünftkläßlerniveau. Hoffentlich mußte sie sich nicht mit diesem Schwachkopf eine Leiche teilen; wenn der seine Witze riß, während der Prof irgendwas erklärte, würde ihr mit Sicherheit das Skalpell ausrutschen. Solche Typen hatten sie schon in München mehr als genug. Gretchen lachte immer lauter und stieß Phil kumpelhaft gegen die Schulter. »Ein Wortspiel!« juchzte sie. »O Mann!« Phil strahlte. Paula beschloß, kein weiteres Stoßgebet zum Himmel zu schicken. Menschen wie Phil und Gretchen bewiesen nämlich vor allen Dingen eins - daß es keinen Gott gab. Die Apartments im Studentenwohnheim waren absolut öde und ungemütlich: Wohnzimmer mit kleinem Fernseher und Kochnische, alles in PVC-Laminat. Zwei Türen führten zu den kleinen Schlafzimmern der Bewohnerinnen. Darin standen jeweils ein Bett, ein Stuhl, ein Nachttisch, ein schmaler Schrank, eine Kommode. Und damit waren die Zimmer auch schon übervoll. Seelenlos war gar kein Ausdruck für diese Art zu wohnen, aber es war natürlich viel billiger als eine Wohnung oder auch nur ein privates Zimmer, und man war direkt auf dem Campusgelände. Das war ein unschätzbarer Vorteil. Gretchen schaute sich leidend um. »Wie soll man denn in dieser Atmosphäre Freude empfinden?« »Ich weiß ja nicht, was du vorhast, aber ich bin zum Arbeiten hier.« Paula war die Einrichtung des Apartments relativ egal. Gedankenverloren vor sich hin summend hängte sie ihre paar Klamotten in den Schrank und holte dann als letztes eine Schuhschachtel aus ihrer Reisetasche. Sie stellte sie aufs Bett und nahm den Deckel ab. In der Schachtel lagen die Bilder, die sie immer und überall mit hinnahm: Ein Foto von ihren Eltern. Ein Kinderbild von sich selbst, wie sie an der Hand ihres Großvaters spazieren ging. Er trug auf dem Foto noch seine Dekanstracht und sah sehr würdevoll aus. Ein Gruppenfoto von Paula und ein paar Freunden in Rot-Kreuz-Tracht aus dem Jugendlager. Dazu kamen ein kleiner, abgewetzter Teddybär und eine Schießbuden-Rose. Die hatte ihr Bernd geschossen, ihr erster Freund. Er hatte extra dreimal geschossen, weil sie sich die Rose so sehr gewünscht hatte. Erst beim dritten Mal hatte er die Blume erwischt und ihr mit stolzem Strahlen überreicht. Das war schon verdammt lange her, sie waren beide noch zur Schule gegangen. Natürlich würde Paula heute niemals auf die Idee kommen, einen Jungen darum zu bitten, ihr eine Rose zu schießen. Hochgradig peinlich, das. Aber es war eine schöne Erinnerung. Zärtlich strich Paula über die Rose, kraulte lächelnd dem Teddy den bereits kahlgeliebten Bauch und file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (30 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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fühlte sich plötzlich fast wie zu Hause. Trotzdem legte sie die Rose und den Teddy in ihre Nachttischschublade – das brauchte nun wirklich nicht jeder zu sehen. Dann stellte sie die drei gerahmten Bilder auf ihren Nachttisch, setzte den Deckel wieder auf den Schuhkarton und ließ ihn zusammen mit der Reisetasche im Schrank verschwinden. »Richtig gemütlich hier«, bemerkte sie ironisch. Dann drehte sie sich um, weil sie sich einmal die kleine Wohnküche ansehen wollte. Gerade als sie ihr Zimmer verließ, klopfte es an der Apartmenttür. Ohne auf eine Antwort zu warten, riß der pickelige Streber von vorhin die Tür auf, steckte seine häßliche Rübe herein und rief atemlos: »Alle Neuankömmlinge zur Vorbesprechung in die Anatomie im Neuen Trakt, und zwar sofort!« Sprach's und war schon wieder verschwunden. Gretchen lachte schon wieder. »Wow, also, wenn die das hier alle immer so eilig haben ...« Sie warf Paula einen süffisanten Blick zu. Die hatte nun aber eindeutig genug Gretchen für einen Tag gehabt. »Gretchen - nicht reden. Gehen!« Und schon war sie aus der Tür. Gretchen sah ihr einen Moment lang verdutzt nach, dann grinste sie breit und folgte ihr. Na warte, dachte sie, du wirst dich noch wundern ...
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Paula und Gretchen schauten sich suchend auf dem Campus um. Neuer Trakt. Vorbesprechung im Neuen Trakt ... Schön und gut, aber wo war der Neue Trakt? Konnten die hier nicht wenigstens mal Wegweiser aufstellen, so wie in der Innenstadt? Kleine Lagepläne mit einem fetten roten Sie sind ^er-Punkt? Eine etwas rundliche Gestalt in einem formlosen Walla-walla-Gewand kam ihnen entgegen, offenbar auch eine Studentin. Sie trug ein Clipboard bei sich und schaute genauso verloren drein, wie Paula sich fühlte. Walla-walla hatte ihre lockigen Haare zu einem losen Pferdeschwanz zusammengefaßt, und wenn sie sich drei Tage nicht wusch, hätte sie mühelos als eine der älteren Schwestern dieser singenden Großfamilie durchgehen können, wie hießen die noch? Na ja, war ja auch egal. »Hi, ich bin Gabi«, stellte sich die Wallawalla-Frau vor.
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»Geht ihr auch zu dieser Vorbesprechung?« Gretchen strahlte sie an. »Ja, genau. Ich bin Gretchen, und das da ist Paula. Hast du eine Ahnung, wo wir hinmüssen?« Gabi hielt ihr Clipboard hoch. »Ich hab hier einen Lageplan, aber ich komme damit nicht klar.« Paula schaute auf den Plan, sah sich dann um und zeigte auf ein großes, düsteres Gebäude, das von außen ganz mit Metallplatten verkleidet zu sein schien: »Das muß es sein.« So schwer war das nun nicht gewesen – langsam fragte sie sich, ob sie die einzige Teilnehmerin des Seminars war, die aufgrund ihrer Leistung hier war. Die drei Studentinnen gingen auf den Neubau zu. Je näher sie kamen, desto bedrohlicher wirkte das Haus. »Mein Gott«, staunte Gretchen, »wer baute so etwas nur?« Paula drückte die schwere Eingangstür auf. Drinnen war es still. Kein Laut. Sie schaute sich um, schaute die anderen beiden an, zuckte mit den Achseln. An der Wand hing eine Übersicht. Na endlich! Die Anatomie befand sich im rechten Flügel des Gebäudes. »Ich denke, wir müssen hier lang.« Die beiden anderen folgten ihr kommentarlos. Gemeinsam durchquerten sie das riesige, seelenlose Foyer und folgten einem langen, breiten Gang bis zu einer Doppeltür aus Milchglas, über der in großen Buchstaben ANATOMIE stand. Na also, dachte Paula zufrieden. Dann sah sie sich nach einer Türklinke um. Fehlanzeige. Dafür entdeckte sie neben der Tür einen Druckschalter. Paula drückte darauf, und die Türen glitten hydraulisch-lautlos zur Seite. »Wow«, sagte Gabi, »High-Tech!« Die drei jungen Frauen traten ein. Der Anatomiesaal war riesig, mit Sicherheit der größte, den Paula je gesehen hatte. Es war ein hoher, geradezu futuristisch anmutender Raum. Das ist keine normale Anatomie, schoß es Paula durch den Kopf, das ist eine Kathedrale. Der Saal war eindeutig das Herzstück des Gebäudes. Nein, berichtigte Paula sich, es ist das Herz. Das Herz der gesamten Fakultät! Die drei schwiegen ehrfürchtig. Die Einrichtung war absolut symmetrisch. In der Mitte des Raumes befanden sich fünf gewaltige Seziertische. Auf jedem einzelnen lag ein Leichnam, der mit einer halbtransparenten Plastikfolie bedeckt war. Es war kühl. Paula fröstelte und zog ihre Strickjacke ein wenig enger um sich. An der Decke zog sich ein ausgeklügeltes System von Neonröhren entlang, mit dem man den Raum sicherlich taghell ausleuchten konnte. Im Augenblick aber brannten nur zwei Röhren, und es war recht düster, denn die Anatomie war ein fensterloser Saal; nur durch die Schiebetür zum Flur sickerte ein wenig Licht milchig in den Raum hinein. Neben den Neonröhren hingen Monitore und spezielle Spiegel an Kabeln und Drähten herunter. Nahezu lautlos schlössen sich die Türen hinter den Studentinnen. Ein leises, irgendwie saugendes Geräusch, das an die Schließgeräusche von Flugzeugtüren
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erinnerte. Die drei schauten sich neugierig und ein wenig unsicher weiter um. An den Wänden des Saales hingen Schränke aus Glas und Metall, in denen chromblitzende Geräte lagen. Daneben Lichtkästen, an denen Röntgenbilder befestigt waren. Darunter jede Menge Maschinen sowie Wasch- und Wasseranlagen. Die beherrschenden Farben des Raumes waren ein düsteres, metallisches Schwarz und das kalte Grau der zahllosen Nirosta-Paneele und -Elemente. »Wow!« flüsterte Paula schließlich. Sie wagte kaum, ihre Stimme zu heben. »Das sieht ja spacig aus!« Sie waren ganz allein in dem riesigen Anatomiesaal. Drei junge Frauen ganz allein mit fünf Kühlhausleichen. Gretchen flüsterte: »Vielleicht sind wir zu früh?« Sie standen unschlüssig da und scharrten mit den Füßen. Sahen sich um. Schauten einander an. Paula warf einen schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. Schließlich sagte Gretchen, um das Schweigen zu brechen: »Wir sind übrigens aus München.« Sie schaute Gabi fragend an. Die entgegnete: »Uni Tübingen.« Auch Gabi schien froh zu sein, endlich wieder eine menschliche Stimme zu hören. Es kam ihnen allen so vor, als befänden sie sich außerhalb von Zeit und Raum. »Tübingen?« grinste Gretchen. »Ich hatte mal 'nen echt süßen Freund, der ...« Im gleichen Augenblick mischte sich Paula genervt ein: »Wir sind zwar beide aus München, gehören aber eigentlich nicht zusammen.« Gretchen guckte verletzt, Paula starrte zurück. Das hatte jetzt einfach mal gesagt werden müssen. Hinter ihnen raschelte es. Gabi riß die Augen auf und schlug die Hand vor den Mund. Sie kicherte verunsichert. »Sag mal, spinn ich, oder ... ?« murmelte sie. Paula und Gretchen folgten Gabis Blick, sahen aber nichts weiter als eine weitere zugedeckte Leiche. Die konnte wohl kaum geraschelt haben. Oder? Es war kalt und still in der Anatomie. Wie sich das gehörte. Leichen liegen schließlich still. Da raschelte es wieder. Paula zuckte herum. Gabi deutete auf den rechten Seziertisch. »Das hat so ausgesehen, als ob ... also, wie eine Bewegung, oder so.« Sie fing an, zu kichern. Aber es klang nicht so, als fände
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sie das lustig. Paula sagte kühl: »Das kann ja wohl kaum sein.« Aber auch sie schaute jetzt wieder gespannt in Richtung der rechten Leiche. Gretchen lachte jetzt mit Gabi zusammen. Dann hörten sie plötzlich wie auf einen geheimen Befehl hin auf zu lachen. Stille. Gabi fragte: »Und wie hieß dein Freund?« Gretchen schaute sie erstaunt an. Hinter den dreien raschelte es erneut. »Der aus Tübingen?« Gabi nickte. Die Deckenlampen fingen an zu flackern. Gabi bekam Angst und flüsterte: »Aber jetzt... ich mein ...« Nervös zupfte sie an den Fransen ihres wallenden Kleides herum. Dann fiel das Licht schlagartig ganz aus. Die drei Studentinnen standen für den Bruchteil einer Sekunde in der Dunkelheit, aber bevor ihre Augen sich daran gewohnt hatten, ging das Licht wieder an. Die Neonröhren flackerten böse. »Das gibt's doch nicht«, murmelte Paula ärgerlich vor sich hin. »Das kann doch ...?« »Lustig!« Gretchen lachte laut - ein bißchen zu laut, wie Paula fand - und rief: »Lustig, lustig, lustig!« Mit energischen, großen Schritten ging sie hinüber zu der rechten Leiche und zupfte sie am großen Zeh, der unter der Plastikplane hervorragte. »Drei doofe Tussis zu Tode erschreckt!« höhnte sie. »Was ist das? Ein Heidelberger Begrüßungsritual?« Schwungvoll riß sie die Plane hoch; sie erwartete, einen verschmitzten Studenten darunter zu finden, der sich einen Spaß hatte machen wollen. Paula und Gabi waren neben sie getreten. Die Plane segelte zu Boden. Das ist unmöglich! Gabi kreischte und hielt sich beide Hände vor den Mund. Gretchen trat erschrocken einen Schritt zurück. Selbst Paula fuhr zusammen - damit hatte auch sie jetzt nicht mehr gerechnet. Statt eines blöden, feixenden Studenten ... ... lag dort eine nackte Leiche. Eine Leiche ohne Kopf. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (34 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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Entsetzt starrten die drei Studentinnen den vermeintlichen Studenten an. Der war nun definitiv tot. Oder? Gabi stotterte: »Ich ... ich geh dann vielleicht mal.« Langsam und vorsichtig tippelte sie rückwärts in Richtung der hydraulischen Schiebetür. Als sie die Tür erreicht hatte, drückte sie auf den Schalter daneben, aber im selben Augenblick fiel schon wieder der Strom aus. Der Anatomiesaal lag im Dunkel, die Tür blieb einen Spaltbreit offenstehen. Gabi bekam es nun mit der Angst zu tun. Sie begann zu weinen und zerrte mit beiden Händen verzweifelt an der Glastür. Auch Gretchen schaute sich sicherheitshalber schon mal nach anderen Fluchtwegen um - rechts und links führten je eine graue Metalltür aus dem Anatomiesaal heraus. Wahrscheinlich lagen dahinter zwar nur die Kühlräume, in denen weitere Leichen aufbewahrt wurden. Aber das war vermutlich allemal besser als hier bei diesem kopflosen Zappelphilipp zu bleiben. Paula versuchte die Nerven zu behalten. Alles klar, Henning, wir sind hier nicht bei Akte X! Sie starrte gebannt auf die Leiche und murmelte leise vor sich hin. »Schwachsinn, Schwachsinn. Was es nicht geben kann, gibt es auch nicht.« Was hatte ihr Großvater ihr immer wieder eingetrichtert? Es gab immer eine logische Erklärung! Man mußte nur einen kühlen Kopf bewahren und den Sachen auf den Grund gehen. Na super, Opa, dachte Paula, von lebenden Leichen hast du mir aber nichts erzählt. Wieder zuckte die Leiche. Diesmal war es ganz deutlich zu sehen. Ein Ruck durchfuhr Arme und Beine, und der blasse Oberkörper fuhr sogar abrupt einige Zentimeter in die Höhe. Gretchen und Gabi gaben jeden Versuch auf, mutig zu wirken, und stießen jeweils einen schrillen Schrei aus. Paula aber hatte sich wieder im Griff. Es. Gibt. Immer. Eine. Logische. Erklärung. Paula atmete tief durch und trat an den Seziertisch heran. Mit geübtem Griff tastete sie den Leichnam ab.
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Anatomie
Die Haut fühlte sich kalt an, wie Wachs. Tot ist er, soviel ist schon mal sicher. »Es ist ein menschlicher Leichnam und keine Puppe«, sagte sie mit fester Stimme, als würde sie einen Autopsiebericht diktieren. Dann überlegte sie: »Wie bewegt sich ein Körper? Muskelkontraktionen ausgelöst durch Nerven. Wie funktionieren Nerven? Elektrische Impulse. Impulse sind machbar.« Wie zur Antwort zuckte die Leiche noch einmal sehr heftig. Paula ließ sie erschrocken los und zog ihre Hände zurück. Der Torso schlug dumpf auf dem Nirostatisch auf. »Es gibt für alles eine wissenschaftliche Erklärung!« Zornig packte Paula die Schultern der Leiche und wuchtete sie auf die Seite. Und dort entdeckte sie ... ... zwei Kabel, die mit Heftpflastern am Rücken befestigt waren! Zwischen den Schulterblättern befanden sich kleine Schnitte, durch die die Kabel in den Körper führten. Bingo! »Man leitet elektrische Impulse zum Zentralnervensystem und erzeugt dadurch Muskelkontraktion, also Bewegung«, sagte Paula. Langsam begann sie zu verstehen, was hier gespielt wurde. Sie ließ die Leiche wieder auf den Seziertisch plumpsen und folgte den beiden Kabelsträngen, die unauffällig an der Wand entlang verlegt waren. »Das ist logisch, das ist Neurologie.« Ihre Stimme klang jetzt wieder fester, sie war der Lösung des Rätsels auf der Spur. »Das ist Medizin.« Mit der zuckenden Leiche hatte es nichts Unheimliches auf sich - im Gegenteil! »Man braucht einen Trafo, um die Stärke der Impulse zu steuern.« Mittlerweile hatte sie den Anatomiesaal durchquert. Gretchen war ihr mit einigem Abstand gefolgt. Gabi stand immer noch zitternd an der Ausgangstür. Die Kabel verschwanden unter einer Tür. Paula atmete tief durch, dann packte sie die Klinke und riß entschlossen die Tür auf. Dahinter befand sich eine kleine Kammer, in der sich die Steuerungen für alle technischen Systeme des Anatomiesaales befanden. Auf dem Boden saßen Phil, der pickelige Strebertyp und ein indischer Student, dem Paula zwar noch nicht begegnet war, den sie aber sofort auf ihre schnell wachsende Liste der dämlichsten Teilnehmer an diesem Seminar setzte. Die drei Jungs grinsten so doof, wie nur Jungs es können. Hinter ihnen war eines der Wandpaneele herausgehebelt; mit einem Modellbahntrafo hatten die Spaßvögel die fette Hauptleitung angezapft. Das darf doch nicht... Wo bin ich denn hier? Paula kochte vor Wut. Entgeistert brüllte sie die drei an:
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»Und wenn man doof ist wie eine Sau, legt man mit so 'ner Scheiße auch noch das ganze Netz lahm! Was ist denn das hier? Mit 'nem Toten Eisenbahn spielen?« Sie deutete mit dem Finger anklagend hinter sich auf die kopflose Leiche. »Schon mal was von Ethik gehört, ihr dummen Arschlöcher?« Die drei so Titulierten schauten einander an. Aber sonderlich zerknirscht schienen sie nicht zu sein, im Gegenteil sie grinsten immer noch. Paula war sprachlos vor Wut. Phil stemmte sich hoch und sagte lässig: »Okay, wir zahlen die erste Runde.« Dann schaute er Paula tief in die Augen und murmelte leise: »Aber dich krieg ich auch noch dran ...!« Nein, Opa, du hattest unrecht. Für manche Dinge gibt es einfach keine logische Erklärung! Wortlos drehte Paula sich um und rauschte davon.
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Ich bin Caspar, ich bin Caspar, ich bin Caspar. Der junge Mann versuchte sich zu konzentrieren. Das hier war verdammt wichtig. Er wußte, was er wollte. Aber er wußte noch nicht, wie er es kriegen konnte. Nur soviel war klar: Niemand durfte erfahren, wer er wirklich war. Oder besser: Was er wirklich war. Schon gar nicht der harmlose Spinner, mit dem er sich das Apartment teilte. Der dachte sicher, in Heidelberg könnte man gut Medizin studieren. Der würde sich noch wundern ... Ich bin Caspar. Ich bin Caspar. Ich bin Caspar.
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Zuerst war für Paula alles klar gewesen: Keine zehn Pferde bekommen mich heute abend in diese Kneipe! Erstens hatte sie eigentlich sowieso keine Zeit für solchen Quatsch (nicht, daß sie schon etwas anderes vorgehabt hätte, aber, na ja, trotzdem!), und zweitens hatte sie nach dem geschmacklosen Scherz im Anatomiesaal erst recht keine Lust mehr, etwas mit diesen Blödmännern zu tun zu haben. Wenn die hier alle so sind, na dann: Gute Nacht! »Ach, komm doch mit«, hatte Gretchen aber gesagt und einen Schmollmund aufgesetzt. »Sonst lernst du nie jemanden kennen.« Augenaufschlag, Wimpernflattern. Dann hatte sie gegrinst und Paula kumpelhaft auf die Schulter geschlagen: »Ganz platonisch, meine ich natürlich.« Seufzend hatte sich Paula geschlagen gegeben und war mitgekommen. Gretchen hatte ja recht: der ganze Kurs traf sich am ersten Abend in einer Kneipe, und es wäre einfach dumm, da zu fehlen. Die Stimme ihrer Mutter klang ihr in den Ohren: Grenz dich nicht sofort wieder aus. Versuch auch mal, ein bißchen Spaß zu haben. Und tatsächlich, irgendwie war es gar nicht so übel. Phil war sogar aufgesprungen, als Gretchen und sie gekommen waren, und hatte ihnen Platz am Tisch gemacht. »Darf ich jetzt die erste Runde zahlen?« hatte er gefragt und, auf Paulas mürrisches Nicken hin, noch nachgelegt: »Hey, okay, war nicht die Brülleraktion. Geb ich ja zu. Waffenstillstand? Ich schenk dir auch die erste interessante Anomalie, über die ich in der nächsten Woche stolpere.« Er grinste schelmisch. Das war ein Friedensangebot, dem Paula nur schlecht widerstehen konnte. Also grinste sie ebenfalls, wenn auch noch etwas bemüht, nickte Phil zu und setzte sich. Sie bestellte eine Apfelschorle und sah sich um. In dieser Gaststätte hatten sich bestimmt schon Generationen von Studenten getroffen. An den dunkel vertäfelten Wänden hingen Kommersschleifen und -kappen, alte Stiche, Urkunden und Pokale. Vielleicht, dachte Paula, hat sogar Opa mal genau hier gesessen und ein Bier mit seinen freunden getrunken? Der Gedanke besserte ihre Laune noch ein bißchen mehr. Als die Kellnerin ihr wenig später ein Glas vor die Nase stellte, nickte sie Phil sogar zu. »Danke.« An dem großen Tisch saßen alle 24 Studenten, die an Grombeks Anatomiekurs teilnahmen. Die besten ihres Jahrganges, sonst wären sie gar nicht zugelassen worden (auch wenn Paula in dieser Hinsicht inzwischen durchaus andere Theorien hatte). Einige von ihnen – der schmucke Phil, der Inder Singh und der Streber Franz zum Beispiel - studierten auch sonst in Heidelberg; file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (38 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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sie wußten natürlich, wie der Hase lief, und hatten besonders gute Chancen, in den Semesterferienkurs aufgenommen zu werden. Nur vier Frauen fanden sich am Tisch: Gretchen, Gabi, die zickige Stella vom Empfangskomitee im Wohnheim und Paula selbst. Das war ja wieder mal typisch. Männerklüngel! Also ob Kerle automatisch die besseren Anatome wurden ... Da war ja sogar ihr Großvater toleranter als die Durchschnittsprofessoren an deutschen Universitäten. Eine füllige Kellnerin in einem engen Trachtenkleid kam mit einem halben Dutzend Bierkrügen, die sie einfach so auf den Tisch stellte. Wer bereits ausgetrunken hatte, griff zu. Die leeren Bierkrüge räumte die Kellnerin bei der Gelegenheit gleich mit ab. Paula nippte noch einmal an ihrer Apfelschorle und schaute sich weiter um. Also, die meisten Jungs hier sahen schon ganz nett aus: brav, sauber, gutbürgerlich. Viele mit Brille, Medizinstudenten eben. Schön langweilig. Aber sie war ja auch zum Lernen hier. Gretchen hingegen schien schon fündig geworden zu sein. Sie rutschte immer dichter an ihren linken Nachbarn heran und zwinkerte Paula verschwörerisch zu. Paula ertappte sich dabei, wie sie zurückzwinkerte – und sogar anerkennend nickte. Gretchens neues Opfer sah wirklich ziemlich gut aus, und als er nun aufstand, um zur Toilette zu gehen, bemerkte Paula seinen athletischen Gang. »Wir Heidelberger«, tönte Phil gerade, rückte seine schwarze Designerbrille zurecht und nahm einen Schluck Bier, »wir Heidelberger haben Grombek ja das ganze Jahr über: Hart, aber ungerecht, sag ich nur, der volle Sadist. Aber fachlich natürlich brillant.« Mit stolzgeschwellter Brust stellte er seinen Bierkrug wieder ab und fragte den Typen neben ihm: »Und bei wem studiert ihr?« »Ich mach schon Turnus in Berlin«, sagte Alexander, der direkt neben Phil saß. »Vorher war ich bei Ponelli in Bologna.« Die anderen nickten ehrfürchtig. Diese Namen hatten einen guten Klang. Paula war als nächste dran und sagte kühl: »Huber in München.« Das war's. Okay, ihr war auch klar, daß sie bis jetzt noch nicht mit schillernden Professorennamen oder gewaltiger Erfahrung angeben konnte - aber wie gut sie war, würden die anderen ja bald selbst sehen. Hoffentlich ... Paula und die anderen Anwesenden schauten nun erwartungsvoll Paulas Sitznachbarn an, einen großgewachsenen jungen Mann, der von Kopf bis Fuß Schwarz trug: schwarze Haare, schwarzer Rolli, schwarze Hose. Garantiert hatte er auch schwarze Schuhe an. Und wahrscheinlich sogar noch schwarze Unterhosen. Paula erschrak - hatte Gretchen schon so sehr auf sie abgefärbt? Sie räusperte sich und konzentrierte sich wieder auf ihren Nachbarn, der bislang noch nichts gesagt, sondern bloß arrogant geguckt hatte. Mit ernsthaftem Gesichtsausdruck behauptete er nun: »Kledermann in Emden.« Spontan runzelte Paula die Stirn und hakte nach: »Emden? Ist da 'ne Uni?« file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (39 von 171) [29.12.2000 14:24:35]
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»'ne Metzgerei«, verkündete der Typ. »Mein Onkel. Ist Metzger.« Er sagte das völlig ungerührt. Alle starrten ihn einen Moment fassungslos an, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus. Kühl fuhr der Mann in Schwarz fort: »Nein, ganz im Ernst, da lernt man Kutteln von Hüftsteak trennen, da liegen über 30 Mark dazwischen. « Erneutes Gelächter. Die pummelige Gabi mischte sich von der anderen Seite des Tisches aus ein. Sie wirkte ganz aufgeregt und tastete immer wieder über ihre Locken. »Aber ein Arzt ... ich meine ...« Sie guckte empört, aber auch etwas verunsichert. Der Mann in Schwarz blieb ganz cool. Ohne jede Spur von Ironie sagte er: »Ach, Fleisch ist Fleisch. Herz ist teurer als Leber, Fettabsaugen billiger als Brustvergrößerung. Medizin ist Dienstleistung, und wir wollen ja alle mal dick abcashen, oder?« Es wurde still am Tisch. Die Studenten schwiegen peinlich berührt. Auch wenn das so war - selbst wenn das so wäre! -, würde es natürlich niemand laut sagen. Und außerdem gab es ja noch so etwas wie Ethik! Oder? Der junge Mann in Schwarz lächelte jedenfalls von all diesen Gedanken unberührt freundlich und völlig unverbindlich in die Runde. Schade eigentlich, dachte Paula. Eigentlich sieht der ja nun mal wirklich ganz nett aus. Inzwischen war Gretchens wohlproportioniertes Opfer zurückgekehrt und hatte sich wieder zwischen ihr und dem Schwarzträger niedergelassen. Er räusperte sich nun in die peinliche Stille hinein und sagte: »Ähem ... ich bin Hein. Auch hier aus Heidelberg.« »Echt?« fragte Gretchen, die ihm schon wieder fast auf dem Schoß saß, und kniff ihm in den muskulösen Oberarm. »Leistungskurs Anabolika?« Die übrigen Anwesenden lachten erleichtert. Gretchen fuhr fort: »Ach nein, eigentlich interessieren mich bei Männern ja nur die inneren Werte. Aber sag mir trotzdem Bescheid, wenn du in nächster Zeit mal nackt irgendwo zu sehen bist!« Sie drückte sich an Hein, der dadurch einen Paradeeinblick in ihr tiefes Dekollete hatte. Phil und ein paar der anderen Studenten schauten neidisch, und Hein strahlte stolz über das ganze Gesicht. Gretchen lachte derweil laut über ihren eigenen Witz, und wieder stimmten die anderen ein. Der Mißklang, den der Mann in Schwarz verbreitet hatte, war schon fast wieder vergessen: Vielleicht hatte er es ja auch gar nicht so gemeint, sondern wollte bloß witzig sein? Gab ja solche Leute. Nur Paula schaute ihren Nachbarn noch immer ganz ungläubig an. Der junge Mann hielt ihrem Blick stand. Schließlich sagte er kühl: »Privat bin ich ein reizender Mensch. Ich liebe den Gesang der Vögel und kann viele Blumen beim Namen nennen. Aber ich bin eben Mediziner.« Er packte Paulas Hand und schüttelte sie für einen kurzen Augenblick. »Caspar.« Dann ließ er sie wieder los und sagte: »Dein Großvater war Dekan hier, richtig? Er hat auch dieses Buch file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (40 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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geschrieben, Grundlagen der neurologischen Anatomie, Heidelberg '57?« Und dann fügte er ohne Pause hinzu: »Du hast ein hübsches Grübchen da.« Er nickte in Richtung ihres Kinns. Paula wurde feuerrot. Woher wußte der, wer sie war? Wer ihr Großvater war? Und was sollte das mit dem Grübchen? Was ...? Was bildet der sich eigentlich ein? Caspar zog anerkennend eine Augenbraue hoch und nahm dann einen Schluck Bier. Paula starrte ihn immer noch völlig fassungslos an, aber das schien ihn nicht weiter aus der Ruhe zu bringen. Was für ein arrogantes Arschloch, dachte sie. A/so wirklich! 12
Der junge Mann, der sich Caspar nannte, nickte Paula freundlich zu. Das ist sie also, die junge Henning, dachte er. War ja nicht schwer, sie zu finden. Anhand der Fotos, die er von ihrem Großvater gesehen hatte, war er auf einen ziemlichen Drachen vorbereitet gewesen. Wahrscheinlich hatte sie Glück und ihr Vater eine hübsche Frau ... Der war auch Arzt, richtig. Allerdings gab es kaum Informationen über ihn. Kein Hinweis darauf, daß er auch in Heidelberg aktiv gewesen war. Wenn das mal nicht ein Glücksfall ist, grinste der Mann, der sich Caspar nannte, in sich hinein. Wer hätte gedacht, daß die Tochter vom alten Henning so niedlich ist? Es würde ihm eine Freude sein, sie im Auge zu behalten ...
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Auch David saß an diesem Abend in der Kneipe, allerdings nicht wie die Studenten in einem separaten Raum, sondern vorne neben der Theke. Hier - in der bodenständigen Stammkneipe der Mediziner in der Universitätsstadt Heidelberg - war er mit seinem möglichen Helfer und Lebensretter verabredet. Das fand David zwar ungewöhnlich; wieso sollte ein Mediziner, der ihm helfen könnte, ihn nicht in seine Praxis bitten? Aber andererseits hatte die herkömmliche Schulmedizin ihn ohnehin schon abgeschrieben. Er mußte also
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nach Strohhalmen greifen, und ungewöhnliche Mittel erforderten ungewöhnliche Maßnahmen. Also saß er in der Kneipe, lauschte dem Gelächter und Gejohle der zahllosen Studenten, die auf den Beginn ihrer Semesterferien anstießen, und trank langsam eine Cola nach der anderen. Er trug immer noch dieselben Sachen, die er im Zug angehabt hatte: Jeans, Turnschuhe, graues Kapuzensweatshirt. Der Ring in seiner Augenbraue blinkte manchmal, wenn er sich ein wenig vorbeugte oder zurücklehnte. Seine blondgesträhnten Haare standen nicht mehr so energisch zu Berge wie noch am Vormittag. Aber er war schließlich nicht als Model hier, sondern um sein Leben zu retten. Genervt schaute David auf die Uhr. Es war jetzt schon 40 Minuten über die Zeit. Er würde noch eine halbe Stunde warten, nahm er sich vor - vielleicht hatte er sich ja in der Stunde getäuscht und sein Gesprächspartner tauchte gleich auf -, dann würde er gehen. Er hatte leider auch nicht daran gedacht, sich etwas zu lesen mitzubringen, weil er natürlich nicht erwartet hatte, so lange herumzusitzen. Er winkte der Kellnerin und bestellte noch eine Cola. Bei dieser Gelegenheit fragte er: »Und wo finde ich die Toilette?« Die Kellnerin sagte freundlich: »Kommen Sie mit« und ging voraus. Kurz vor dem Eingang zur Küche deutete sie auf einen düsteren Gang, von dem drei Türen abgingen. »Dort entlang«, sagte sie. David drückte die Tür mit dem H auf und trat an das erste Pinkelbecken. Hinter ihm klappte die Tür noch einmal, aber er drehte sich nicht um. Eine Hand tippte ihm auf die Schulter. David runzelte die Stirn. Was sollte das denn jetzt geben? Er wollte gerade seine Hose wieder zumachen, da flüsterte eine Stimme fragend: »David Roloff?« »Ja?« sagte David erleichtert und wollte sich umdrehen. Gut, daß er seine Verabredung nicht verpaßt hatte, nur weil er mal mußte. Vor Davids Gesicht tauchte ein kleines Sprühfläschchen auf, es zischte, und dann verschwand alles im Nebel. David drehte sich noch halb um, kippte dann an die Wand und glitt zwischen Pinkelbecken und Wand zu Boden. Seine Augen drehten sich nach oben, so daß zwischen den Lidern nur noch das Weiße hervorblitzte. Seine Zunge hing ihm ein wenig aus dem Mund, genauso wie sein Schwanz noch aus dem Hosenschlitz hervorlugte. Wie durch einen Nebel erkannte er eine Gestalt, Hände in Gummihandschuhen griffen nach ihm, schoben seinen Sweatshirtärmel hoch und drückten eine automatische Spritze in Davids Ellenbogenbeuge. Mit einem leisen Klicken bekam er eine Injektion. David versuchte verzweifelt, die
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Benommenheit abzuschütteln, die der Sprühnebel bei ihm ausgelöst hatte, doch je mehr er zappelte, um so schwerer wurden seine Arme, seine Beine, alles wurde schwer, so schwer ... Er sah, wie seine Füße gepackt und hochgehoben wurden, und er spürte den Luftzug auf seinem Gesicht, aber der Boden unter ihm schien ihm watteweich und gar nicht richtig dazusein. Der Angreifer zerrte David vom Schankraum und der Küche weg, zwischen Getränkekisten hindurch zur Hintertür hinaus. Als die dralle Kellnerin mit einem neuen Schwung frischgezapfter Biere wieder aus der Küche kam, sah sie gerade noch Davids bunten Haarschopf durch die Hintertür verschwinden und die Tür zufallen. »Studentenpack, besoffenes«, fluchte sie. »Wahrscheinlich wieder alles vollgekotzt.« Sie erlebte so etwas ja nicht zum ersten Mal. Und wer mußte es dann wieder wegputzen? Verärgert marschierte sie in die Wirtsstube, um die Biere zu servieren. Dann nahm sie auch noch einige neue Bestellungen auf, scherzte freundlich mit ein paar Stammgästen und hatte die ganze Angelegenheit schon wieder völlig vergessen, als sie fünf Minuten später in die Küche zurückkehrte.
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Na komm, Henning, nun mal ehrlich - so schlimm war es gar nicht, dachte Paula. Immerhin kannte sie nun alle Kursteilnehmer, und das war natürlich schon ein bißchen netter, als erst beim Sezieren über eine aufgeschnittene Leiche hinweg Kontakt aufzunehmen: Hallo, ich bin Paula, und das da ist aber eine wirklich interessante Leberanomalie ... Nein, das kam nicht gut. Paula atmete tief durch und genoß die kühle, reine Nachtluft. Sie schaute sich um. Ihr Großvater hatte recht gehabt: Heidelberg war wirklich malerisch. Das Wirtshaus lag in der Altstadt, und die war echt sehenswert. Gretchen stand neben Paula und winkte dem knackigen Hein zum Abschied fröhlich zu. »Ciao, bello!« rief sie und schickte ihm noch eine Kußhand. Zu Paula sagte sie dann: »Hein heißt er, und ich sag dir, wo man hingreift, feste Muskeln. Ha!« Sie grinste zufrieden und machte damit deutlich, daß sie schon die ausschlaggebenden Stellen abgetastet hatte. »Und er nimmt sich selbst so ernst. Süß!« Dann fragte sie Paula: »Und, bist du mit deinem Sweetheart auch schon ... ?« Paula schaute Gretchen entgeistert an. Sie waren bereits in Richtung Wohnheim losgegangen, während die anderen noch vor der Kneipe rumstanden und quatschten. Aber es war spät geworden, und morgen früh begann der Kurs. »Mein ... Mein was?« »Na, der große Dunkle?« erklärte Gretchen unschuldig. »Caspar! Das war doch ganz offensichtlich, daß du ...« Das darf doch nicht wahr sein! Paula blieb stehen. »Was?« blaffte sie. »Du bist echt fixiert!« Sie wurde wirklich wütend. Dieses blonde Dummchen ging ihr langsam richtig auf die Nerven. »Hör endlich mal auf mit diesem Männergesülze! Ich will hier arbeiten und nicht rumbumsen!« rief sie empört. »Schade eigentlich!« Paula fuhr herum. Phil und ein paar andere Studenten Caspar, Franz, Singh und Alexander - waren scheinbar direkt hinter ihnen hergegangen und hatten nun Paulas Wutausbruch mitbekommen. »Wirklich schade.« Natürlich Phil - klar, von wem sollte so ein Kommentar auch sonst kommen? Er lächelte süffisant. Die anderen lachten laut und gingen weiter. Paula wollte vor Scham und Zorn am liebsten im Boden versinken. Gretchen schaute sie mitfühlend an. »Okay«, sagte sie, »sorry, ich wollte dich nicht nerven. Sah nur wirklich so
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aus ...« Und dann setzte sie versöhnlich hinzu: »Nun komm mal wieder runter, und keine Sorge, die Aktion jetzt gerade war nicht halb so peinlich, wie du jetzt vielleicht denkst...« Trotzig wandte Paula sich ab, rammte ihre Hände in die Hosentaschen und ließ Gretchen stehen. Die zuckte nur mit den Achseln und folgte ihr dann.
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David versuchte mühsam, die Augen zu öffnen, aber es gelang ihm nicht. Er konnte nichts sehen, aber er konnte hören. Er hörte Musik. Verwaschenes, unwichtiges Easy-Listening-Gedudel. So richtige Fahrstuhlmusik, Dann aber schaffte er es doch noch, die Lider auseinanderzustemmen. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Nein, nicht die Sonne. Eine Lampe. Eine dreistrahlige Lampe. Er lag auf dem Rücken, und diese Lampe blendete ihn. Wieso? David schaute sich vorsichtig um. Er entdeckte einen Mann in einem Arztkittel. Er trug eine Schutzbrille mit kleinen Punktstrahlern an den Seiten und einen Mundschutz. Das eine Glas der Brille stand merkwürdig vor. Der Arzt werkelte an irgend etwas herum, was David jedoch nicht sehen konnte. Plötzlich ein Geräusch. Eine Tür? Ja, eine Tür, die sich öffnete und dann wohl von selbst wieder schloß. »Endlich!« stöhnte der eine Arzt mit verzerrter Stimme. »Weißt du, wie spät es ist?« Der Neuankömmling ging gar nicht auf den Vorwurf ein, sondern fragte bloß eilig: »Ist er noch betäubt?« David kniff schnell die Augen zu. Zuvor hatte er gerade noch gesehen, wie Gummihandschuhe über Hände gestreift wurden, Finger verschluckten. Was ging hier ab? Er hatte Angst. »Sieh mal, hier«, sagte die erste Stimme, die etwas tiefer klang als die zweite. » Wir legen Herz und Tumor in dem file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (45 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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Bereich dort frei...« »Lunge nehmen wir ganz weg?« fragte die andere Stimme. David riskierte es, ein Auge einen Spaltbreit zu öffnen. Er konnte erahnen, daß die beiden Arzte mit dem Rücken zu ihm vor einer Leuchttafel standen und eine Röntgenaufnahme betrachteten. Aber von wem? Und warum? Und von was für einem Tumor redeten die da? David war kalt. Und er hatte das Gefühl, als könnte er sich gar nicht richtig bewegen. Er sah sich vorsichtig um. Auf einem Metalltischchen stand eine kleine Sprühflasche. Sprühflasche? Sprühflasche! Warte mal, da war doch ... Jetzt erinnerte er sich dunkel. Da war irgendwas gewesen ...er hatte in dieser Kneipe gesessen, und dann ... »Ich würde überhaupt nur den Torso machen. War doch schön«, sagte jetzt wieder die erste Stimme. David bekam Angst. Neben der Sprühflasche lag ein Satz matt schimmernder Seziermesser. Mit schier übermenschlicher Anstrengung streckte David den Arm aus. Er zitterte. Er konnte sich kaum rühren, aber er hatte Angst, und das Adrenalin, das jetzt durch seine Adern pumpte, machte ihn von Sekunde zu Sekunde wacher. Er wußte nicht, wo er war, er wußte nicht, wer diese Typen waren, aber er wußte, daß er sich wehren mußte. Er brauchte eines dieser Messer! Also mühte er sich weiter. Streckte seinen Arm aus, streckte ihn aus. Witternde, tastende Fingerspitzen erreichten die Kante des Metalltischchens. Jetzt nur keinen Laut! Ganz vorsichtig ließ er seine Finger über die kühle, glatte Oberfläche krabbeln. Er warf noch einen schnellen Blick zu den beiden Ärzten hinüber - sie wandten ihm immer noch die Rücken zu. Schnell jetzt! David packte ein Seziermesser und zog die Hand zurück. Er verdeckte das Messer mit Hand und Unterarm und schloß wieder die Augen. Stellte sich schlafend. Bewußtlos. Gerade rechtzeitig. Es raschelte, die Arzte kamen näher zu ihm. Das waren keine Arzte! Oder? Auf jeden Fall wollten sie ihm nichts Gutes, da war David sicher. Er wartete, bis die Geräusche ganz nah waren. Plötzlich ein eisiges Gefühl an seinem Hals. David riß erschrocken die Augen auf. An seinem Hals eine automatische Spritze. Es klickte und piekte, ihm wurde irgend etwas injiziert. Im gleichen Augenblick schoß er hoch, hackte mit seiner Waffe nach dem Arzt. »Scheiße!« rief der erschrocken und ließ die Spritze los.
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Aus einem Schlitz im Arztkittel quoll Blut; David hatte seinem Peiniger einen langen Schnitt quer über Oberarm und Schulter beigefügt. Durch die Bewegung rutschte David jedoch von dem Tisch, auf dem er gelegen hatte. Unter ihm eine glitschige Folie. Was hatten diese Irren vor? Was wollten die von ihm? David schaute an sich herunter. Er war nackt. Panisch strauchelnd kam er auf die Beine, da, die Tür, schnell! Er versuchte zur Tür zu laufen. Er mußte fliehen! Die Tür war dort, er konnte sie sehen. Eine große Doppeltür aus halbtransparentem Glas. Ein Schritt, noch einer, ja, fast - doch plötzlich sprang ihm der zweite Arzt in den Weg. Er trug einen weißen Kittel, weiße Turnschuhe, einen Mundschutz, eine weiße Haube und auch so eine komische Brille. Jetzt konnte David das Ding genauer erkennen, ein Brillenglas war durch eine runde, etwas vorstehende Eupe ersetzt worden. Die beiden kleinen Strahler irritierten ihn, lenkten ihn ab. Der Gegner hielt bloß eine Instrumententasse in der Hand, reckte sie dem nackten, geschwächten David aber herausfordernd entgegen. Die beiden umkreisten einander in Kampfhaltung. David stach mit seinem Messer nach dem Feind. Der wich einen Schritt zurück, dann noch einen. »Was wollen Sie ...?« schrie David panisch. Der Arzt hob seine Instrumententasse wie einen Schild. David griff erneut an, verfehlte ihn aber wieder. Er fühlte sich noch immer schwach. Wie gelähmt. Als müßte er unter Wasser kämpfen, als wäre er in Watte gepackt. Nein, bitte, nicht schon wieder ... Aber es war ein anderes Gefühl - vorher war er ganz schwer geworden, müde fast, und nun hatte er das Gefühl, als habe er beim Zahnarzt eine Spritze bekommen, sein Körper schien anzuschwellen und taub zu werden ... Er tat einen weiteren Schritt auf den Weißkittel zu. Der wich einen weiteren Schritt zurück und stieß nun mit der Hüfte an einen Unterschrank in der Saalecke. David hob sein Skalpell, um sich entschlossen auf ihn zu stürzen. Er schrie: »Was jetzt, du ...« - und brach dann ab. Feuer fuhr von seinem Rücken aus durch den ganzen Körper, sprengte selbst die Taubheit für eine Sekunde fort; ein fragender Ausdruck trat in seine Augen, ein kleines blutiges Rinnsal floß über seine Zunge und tropfte aus seinem Mund, aber er spürte es kaum noch. David drehte sich um. In seinem Rücken steckte bis zum Schaft ein blutiges Skalpell. Er schaute seinen Mörder an. Er versuchte, ihm in die Augen zu sehen, aber die medizinische Schutzbrille verhinderte das. Von Davids Lippen tropfte Blut. Der Arzt mit der Schnittwunde am Arm tat einen schnellen Schritt auf ihn zu. Es schien, als wollte er David umarmen. Dann ein kurzer Ruck, und Davids Augen wurden glasig. Der Arzt löste sich wieder von ihm und trat zurück. Langsam, ganz langsam sank David zu Boden. Er kippte vornüber, auf die Knie, auf die Ellenbogen, das Skalpell fiel ihm mit einem leisen Klappern aus der Hand, dann streckte er sich auf dem Boden aus, seine file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (47 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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nackte Haut quietschte leise auf dem Laminat. Es tat nicht mehr weh, nein, er war nur müde, so müde. Davids Mörder betastete vorsichtig seine blutende Schulter. »Verdammt!« sagte er ärgerlich. Der andere Arzt stellte die Instrumententasse ab, kam aus seiner Ecke heraus und kniete sich neben David. Er tastete ihn ab. »Scheiße. Tot«, murmelte er unzufrieden. »Können wir nicht mehr verwenden.« Dann schaute er zu seinem Kumpan auf. »Verletzt?« »Kratzer«, winkte der andere ab. Dann deutete er auf die Leiche. » Was machen wir damit?« »Anatomiekurs«, entschied der. »Merkt sicher keiner was.« Er richtete sich wieder auf und schaute auf David herunter. Im Rücken hatte der nackte Tote nur eine Stichwunde. Unter ihm jedoch breitete sich schnell eine immer größer werdende Blutlache aus. Verdammte Schweinerei. Und außerdem war es schade um ihn, gerade wegen der seltenen Krankheit. Sehr schade.
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Normalerweise hätte ein Mann in seiner Situation zufrieden gelächelt, doch Grombek zählte sich in diesem Fall nicht zu den normalen Leuten. Ein Lächeln deutete zu schnell Sympathie an, und das konnte als Schwäche ausgelegt werden. Trotzdem mußte er sich eingestehen, daß das Publikum nach seinem Geschmack war: Im Anatomiesaal hatten sich 24 hochtalentierte Studenten eingefunden, die ihm ebenso gebannt lauschten wie der Präparator und seine beiden Assistenten; die fünf Leichen, die auf den Obduktionstischen auf die Studenten warteten, zählte Professor Grombeck nicht zum eigentlichen Auditorium. Grombek war ein massiger Mann von Mitte Sechzig. Er trug einen Anzug, hatte eine dunkle Hornbrille auf und keine nennenswerten Haare mehr auf dem Kopf. Er sieht aus, wie Leute seines Alters eben aussehen, dachte Paula. Aber wenn er den Mund aufmacht - der Mann ist der Hammer. »Unsere ach so moderne Gesellschaft«, dozierte er mit ironischem Unterton, »möchte alles auf seelische Probleme zurückführen. Der Arzt, der das Kranke herausschneidet, gilt da nichts mehr. Die Leute wollen - wie ich gerne scherze - lieber ganzheitlich krepieren als schulmedizinisch geheilt werden!« Die Studenten lachten höflich. Grombek schaute sich um. Irgendwelche miesepetrigen Homöopathie-Anhänger im Raum? Nein, sie schienen alle seiner Meinung zu sein. Zufrieden fuhr er fort: »Hier im Neuen Trakt des Institutsgebäudes steht Ihnen der modernste Anatomiesaal zur Verfügung. In diesem Raum wurde noch kein Schmerz gelindert, kein Patient geheilt.« Man konnte deutlich den Stolz file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (48 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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in seiner Stimme hören. »Dafür werden hier die Grundlagen geschaffen. Hier werden Erkenntnisse erarbeitet, die den Menschen dort draußen das Leben retten oder doch zumindest erträglicher machen können - das ist die Basis der Medizin.« Begeistert klopften die Kursteilnehmer auf ihre Schreibunterlagen. Sie waren schließlich nicht hergekommen, um zu gutmütigen Birkenstock-Ärzten zu werden. Sie wollten forschen, wissenschaftlich arbeiten. »Meine Damen und Herren«, fuhr der Dozent jovial fort. »Wir halten Sie für die Besten. Sie sind die Elite, Sie sind die Zukunft unseres Standes.« Er schaute die Studenten herausfordernd an und schloß dann: »Ein Drittel oder gar die Hälfte von Ihnen wird bei der Zeugnisvergabe nicht mehr unter uns sein. Seien Sie dankbar für diese scheinbare Härte: Die strenge Auslese garantiert das hohe Niveau und das Renommee dieser Veranstaltung.« Verstohlen schauten die Studenten einander an. Wer von ihnen es wohl schaffen würde? Paula betrachtete aus dem Augenwinkel Gretchen, die neben ihr stand. Ihr war es ja immer noch ein Rätsel, wie dieses blonde Dummchen es in Grombeks Seminar geschafft hatte - aber dieses Problem würde sich ja spätestens mit der Zwischenprüfung erledigen. Grombek war schließlich aus anderem Holz geschnitzt als Huber in München. Dort bekam man vielleicht Scheine für ein bisschen Grapschen - aber für Grombek zählte nur das Fachwissen, nur die Wissenschaft, davon war Paula überzeugt! Als habe er ihre Gedanken erraten, nickte Grombek zufrieden und sagte dann: »Ich darf Sie nun mit den Gegebenheiten des Instituts bekannt machen.« Damit bahnte er sich einen Weg zwischen den Studenten hindurch, die ihm respektvoll Platz machten. Durch lange Korridore ging der gesamte Kurs in die weltberühmte Präparatenkammer der Heidelberger Anatomie. Die Ausstellung war einzigartig, denn es war nicht nur die umfassendste Sammlung ihrer Art - nein, es gab viele der Präparate überhaupt nur hier und nirgendwo anders. Natürlich fanden sich auch in Heidelberg regalweise Querschnittsscheiben und kleine Körperteile oder Organe in luftdicht versiegelten Gläsern voller Formaldehyd. Paula ließ im Vorbeigehen ihren Blick über eine ganze Reihe Lebern und Nieren schweifen, alle sorgfältig präpariert und beschriftet - fast wie die Marmeladengläser im Keller ihrer Oma, als die noch am Leben gewesen war. Doch den Mittelpunkt der Ausstellung bildeten etliche spektakuläre Ganzkörperpräparate: Muskelmänner wie auf dem Poster in Paulas Zimmer daheim, nur standen sie hier in voller Lebensgröße. Man hatte den Körpern sorgfältig die Haut abgezogen und sie in klassischen Statuen- und Heldenposen plastiniert; auf diese Art unsterblich geworden, reckten sie sich stolz in Richtung der Kuppeldecke, Vor und hinter ihnen schwebten scheinbar schwerelos mehrere menschliche Präparate frei im Raum, die horizontal oder vertikal zergliedert und dann an nahezu unsichtbaren Fäden aufgehängt worden waren: Körper zum Hineinschauen von allen Seiten. Es gab bizarre Konstellationen, bei denen einzelne Haut- oder Muskelschichten fehlten oder aufklappbar an kleinen Scharnieren befestigt waren, wie die Türen eines Badezimmerschränkchens. Paula schaute sich staunend um. Sie hatte schon viel von dieser legendären Sammlung gehört, sie hatte sogar Fotos daraus gesehen, als sie einmal für kurze Zeit der Öffentlichkeit file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (49 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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zugänglich gemacht worden war und die Zeitungen mit wohligem Schauer darüber berichteten. Aber all das wirklich und wahrhaftig selbst zu erleben war doch etwas ganz Eigenes. Es war ein schier umwerfender, unvergleichlicher Eindruck. Für einen kurzen Moment stahl sich ein Gedanke in ihr Bewußtsein: Wer sind... nein, wer waren diese Leute? Was waren das für Menschen, die zustimmten, daß man nach ihrem Tod sowas mit ihnen macht? »Ist das nicht wunderbar?« »Ja!« Paula lächelte Hein an, der neben ihr aufgetaucht war. »Sag mal, du studierst doch hier. Woher ... also wer ... Ich meine, wie kommt ihr hier an solche Wahnsinnspräparate?« Hein zog eine Augenbraue hoch. »Wie meinst du das?« »Na, also ...« Paula schluckte. Was sollte denn das jetzt? Sie wollte ja schließlich nichts Intimes von ihm wissen! »Also, ich frage mich nur, wer seinen Körper freiwillig für so etwas zur Verfügung stellt.« »Wieso? Möchtest du lieber als Wurmfutter enden oder in Flammen aufgehen?« Hein sah Paula erstaunt an. »Das hier, das ist...«, er schien nach den richtigen Worten zu suchen, »das hier ist Unsterblichkeit.« »Das sind ja fast alles nur Männer!« quietschte Gretchen plötzlich hinter den beiden. »Sag mal, Hein – ihr interessiert euch hier aber schon für Frauen, oder?« Die beiden lachten und schlenderten zusammen weiter. »Ist ja irgendwie eine ziemliche Horror-Show, das alles hier!« lachte Gretchen. Paula war zu fasziniert von den Exponaten, als sich über Gretchens Auftauchen zu ärgern. Sie fand die Sammlung überhaupt nicht gruselig, im Gegenteil: Sie war begeistert und fasziniert. In ihr erwachte ein Verlangen danach, die präparierten Körper zu berühren, mit den Fingern über das filigrane Gewebe zu fahren, Venen zu streicheln, die normalerweise so nachgiebig und glitschig waren und hier so edel aussahen wie von einem Designer entworfen. Selbst für den nichtmedizinischen Betrachter wäre die Heidelberger Präparatenkammer eine atemberaubende Mischung aus Kunstsammlung, edlem Horrorkabinett und technischwissenschaftlicher Sensation gewesen; für die Mediziner entfiel natürlich der Schrecken sezierter, zersägter Körper, denn mit denen hatten sie beinahe täglich zu tun. Fasziniert wanderte Paula von einem Höhepunkt zum nächsten. Einmal tauchte Caspar neben ihr auf und bestaunte mit ihr zusammen den Querschnitt eines Mannes: Etwa alle zehn Zentimeter hatte man eine rund fünf Millimeter dünne Scheibe aus dem Körper entnommen und diese Scheiben im Originalabstand voneinander wieder aufgehängt. Paula war zunächst vollkommen von diesem Anblick gefangen - doch dann merkte sie, wie Caspar neben ihr stand. Sehr nah bei ihr stand. Sie versuchte, sich weiter auf das Präparat zu konzentrieren, schaffte es aber nicht. Okay, file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (50 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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geben wir ihm noch eine Chance — doch als sich Paula zu ihm umdrehen wollte, war Caspar schon weitergegangen. Während die Studenten sich neugierig umsahen, dozierte Grombek von der Mitte des Saales aus: »Sie sehen: Heidelberg hat traditionell die bestausgestattete Präparatensammlung. Diese Einrichtung steht exklusiv unseren Wissenschaftlern und Studenten zur Verfügung - unschätzbar für Forschung und Lehre.« Paula und Gretchen trafen einander vor einem halbhohen Regal, in dem kleine Föten und Embryonen in gelblichen Lösungen schwammen. Dazwischen ein kleiner Embryo ohne Glas, der einfach so auf einem Podest steckte. »Mein Gott! Phantastisch!« flüsterte Paula beeindruckt. »Sind das Modelle?« erkundigte Gretchen sich überwältigt. Von links mischte sich ein weiterer Kursteilnehmer ein, Ludwig: »Nein, nein, das sind echte Leichen, plastiniert«, erklärte er und deutete auf die doch etwas gespenstischen Ganzkörperpräparate in der Raummitte. »Die auch. Dem Gewebe wird alles Wasser und Fett entzogen. Das stoppt den Verwesungsprozeß.« Paula betrachtete die Muskelmänner. Wenn es nicht so faszinierend gewesen wäre, hätte sie grinsen müssen: Das waren lauter junge Männer in Heldenposen; es sah aus wie eine Versammlung der Hitlerjugend ohne Haut und Hakenkreuzbinden. Neben den Männern, die ihre Arme gen Himmel reckten und die Köpfe noch im Tod stolz erhoben hatten, fanden sich auch andere Ausstellungstücke - eine werdende Mutter, vom Tod überrascht, deren Bauch zur Seite geklappt werden konnte, um das Kind in ihr preiszugeben; ein kleiner Junge, der auf den ersten Blick friedlich zu spielen schien, wenn man nicht beim zweiten Blick bemerken würde, daß er auf dem Rücken keine Haut mehr hatte, um das Spiel der Muskeln zu zeigen. Paula wanderte weiter. In einer staubigen Vitrine am Rande des Saales entdeckte sie ein in Formaldehyd eingelegtes Gehirn. Auf dem kleinen Schildchen davor war der Präparator angegeben: Prof. Dr. E. Henning. Paula freute sich und quietschte: »Ewald Henning? Das ist ja von meinem Opa!« Dummerweise ging Professor Gromek gerade in ihrer Nähe vorbei und bemerkte streng: »Kollegin, es freut uns, daß Ihr Großvater so berühmt ist. Die Leistung hier werden Sie dennoch selbst erbringen müssen.« Paula wurde rot. Sie machte den Mund auf, um zu erklären, wie sie es eigentlich gemeint hatte, aber die anderen kicherten nur leise und schauten sich dann weiter um; Paula wünschte sich wieder einmal, auf der Stelle im Erdboden versinken zu können. Da das nicht klappte, beendete sie statt dessen wortlos ihren Erkundungsrundgang durch den Saal. Sie sah Hein, der hinter einem männlichen Präparat stand und
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dessen Haltung annahm, und Gretchen, die fasziniert in das Innere eines freigelegten Gesichtes starrte. Vor der letzten Vitrine blieb Paula noch einmal stehen: Darin befand sich eine Hand, bei der die Haut zwischen dem mittleren Fingerglied und den Fingerkuppen abgetragen worden waren. Nur Sehnen und Muskeln waren noch zu sehen. Ein faszinierendes Präparat. Paula hob ihre eigene Hand und betrachtete sie. Der Körper war schon ein wahres Wunder. Wie lange diese Hand hier wohl schon ruhte? Ein Blick auf das kleine Schild - oh, noch gar nicht lange. Die stammt ja noch aus diesem Jahr, staunte Paula. Grombek versammelte derweil die begeisterten Kursteilnehmer wieder um sich und verkündete: »Gleich anschließend werden Ihnen Ihre jeweiligen Forschungsthemen zugeteilt, über die Sie am Ende des Kurses eine Arbeit abzugeben haben. Zusätzlich gibt es Zwischenprüfungen, die erste in drei Wochen. Gemäß eines alten Brauches werden danach die sechs schwächsten Kollegen die Heimreise antreten. Dito nach der zweiten Zwischenprüfung. Vorlesungen werden gehalten täglich von sieben Uhr dreißig bis zwölf Uhr mittag. Anatomie und Bibliothek stehen Ihnen von 6 bis 22 Uhr zur Verfügung. Die Abende sind dem Selbststudium vorbehalten.« Und in das erwartungsvolle Schweigen nach dieser Ansprache hinein sagte er stolz: »Heidelberg bietet Ihnen eine große Chance. Machen Sie das Beste daraus.« Paula nickte. Was auch immer Grombek und die anderen von ihr denken und halten mochten, genau das hatte sie vor. Sie würde das Beste daraus machen. Sie würde forschen, sie würde Karriere machen. Ihr Großvater würde stolz auf sie sein können. Entschlossen straffte Paula die Schultern und ging auf den Ausgang zu. Die Blicke, die ihr folgten, spürte sie nicht. Die junge Henning. Sie weiß, daß ihr Großvater hier war. Aber was weiß sie'noch?
17
Nicht einmal Paula selbst verstand ihr Forschungsthema auf Anhieb. Irgend etwas mit »Leukämie«, es war unwahrscheinlich kompliziert, und Grombek hatte ihr noch jede Menge Zusatzaufgaben gestellt. Es war, als ob er es der Enkelin seines Vorgängers Ewald Henning extra schwer machen wollte. Na ja, dachte Paula zähneknirschend, dann kann mir jedenfalls hinterher niemand vorwerfen, ich hätte etwas geschenkt bekommen. Mit den Unterlagen zu ihrem Forschungsthema in der Hand und der nagelneuen ID-Karte um den Hals ging sie zuallererst mal in die Bibliothek, um herauszufinden, was genau da vor ihr lag. Nachdem sie sich ein paar Stunden in das Thema eingelesen hatte, klappte sie das Buch zu, streckte sich und starrte einen Moment lang ins Leere. Es war zu schaffen, das mußte sie Grombek lassen, aber es würde nicht einfach werden. Na gut, Herr Professor. Sie denken sicher, Sie seien hart, aber warten Sie file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (52 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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mal ab, wie hart ich sein kann!
Sekunden, Minuten, Stunden: Die Zeit schien wie im Flug zu vergehen. Gerade noch hatte Paula in der Bibliothek gesessen, nun hörte sie aufmerksam dem altgedienten Anatomen in der ersten Vorlesung am nächsten Morgen zu. Daß Caspar sich wie zufällig neben sie setzte und sie dann und wann nachdenklich von der Seite anschaute, bekam sie nicht einmal mit. Grombek ist klasse- soviel stand für Paula fest. Er verlangte einiges, aber er bot auch viel. Er dozierte mit Elan, Begeisterung und einem Fachwissen, das seinesgleichen suchte. Das war etwas ganz anders als dieses lahme Gefasel in München, bei dem immer noch auf den letzten Dussel ganz hinten Rücksicht genommen wurde, der sechs Monate durch Indien getrampt war und dabei so viel versäumt hatte, daß er nun leider nicht mehr mitkam. Hier wehte ein ganz anderer Wind! Auch im Anatomiesaal war Grombek ein Phänomen. Er hatte stets alle Studenten im Auge und ging pausenlos von Leiche zu Leiche. Er kannte keine Lieblinge, bei denen er sich besonders lange aufhielt, um größtmöglichen Körperkontakt zu erreichen. Nein, Grombek lehrte! Er forderte. Und alle waren bereit, ihm zu gehorchen. Schon am Morgen des zweiten Seminartages hatte Paula ihre anfängliche Skepsis vergessen und dafür das Gefühl, sie sei gestorben und im Himmel wieder aufgewacht. Im Mediziner-Himmel wohlgemerkt: In der Mensa, im Labor, in der Bibliothek, überall traf Paula interessierte und interessante Kommilitonen, mit denen sie sich besprechen und austauschen konnte. Es war großartig! Sie war in ihrem Element. Allerdings: Wo Licht war, konnte der Schatten nicht weit sein, und auch wenn Paula sich inzwischen ein wenig an Gretchen gewöhnt hatte, konnte sie immer noch nicht so ganz begreifen, wie die es ins Seminar geschafft hatte. Sie war so ... so anders! Einmal saß Paula in der Bibliothek über ein besonders kompliziertes medizinisches Fachbuch gebeugt, als Gretchen mit Hein vorbeistolzierte: Beide waren äußerst knapp gekleidet, so als wollten sie zum Baden gehen, und Gretchens Hand steckte hinten in Heins Hose. Nicht in der Hosentasche, nein - in Heins Hose. Paula schüttelte verständnislos den Kopf. Wie sollte das gutgehen? Gretchen hatte bei der Zwischenprüfung eh keine Chance, aber Hein? Aber das war ja nicht ihr Problem. Grombek würde das bestimmt nicht gutheißen. Der verlangte hundertprozentigen Einsatz, das stand fest. Warum fahren solche Leute nicht einfach gleich in die Ferien und machen die Seminarplätze frei für wirklich interessierte und engagierte Studenten, fragte Paula sich.
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Paula hatte bereits am ersten Arbeitstag einige Gewebeproben in medizinischen Glasschälchen mit Flüssigkeiten angesetzt. Sie hegte und pflegte sie und notierte eifrig alle Veränderungen. Sie fand heraus, daß das Thema, das Grombek ihr zugeteilt hatte, zwar verdammt schwierig, aber auch äußerst interessant war. Ein Bereich, in dem erst wenige Wissenschaftler vor ihr gearbeitet haben. Es ging um eine revolutionäre Theorie, die auf der Vermehrung (und das Stoppen der Vermehrung) von Leukämiezellen im Körper basierte. Paula hatte die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen bereits gesichtet und überflogen. Sie hatte nicht nur die Chance, Grombek zu beweisen, wie gut sie war, sondern konnte – mit etwas Glück – auch noch sensationelle Ergebnisse vorweisen, die vielleicht sogar neue Heilmethoden ermöglichten! Wenn ihr das gelang, hatte sie ihre Position in einem der großen Pharmakonzerne so gut wie sicher. Grombek erkundigte sich jeden Tag interessiert, was sie tat und wie die Experimente voranschritten. Er hörte aufmerksam zu und nickte zufrieden. Paula war offensichtlich auf dem richtigen Weg. Darauf war sie ausgesprochen stolz. Sie vergrub sich vollkommen in ihre Studien. Noch am späten Abend saß sie im Anatomiesaal und arbeitete an ihren Glasschälchen, während die Reinemachfrauen bereits anfingen, den Boden zu wischen und die Präparatoren nebenan krachend eine Leiche zersägten. Und auch danach noch, wenn die anderen ausgingen und sich amüsierten, lag Paula in ihrem Zimmer auf dem Bett und quälte sich mit müdem Blick durch medizinische Fachliteratur.
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Wenn sie sich umdrehte, war er da. Wenn sie nach einem Buch in der Bibliothek suchte, stand er plötzlich vor ihr. Trotzdem glaubte Paula immer noch nicht, daß der junge Mann, der sich Caspar nannte, es tatsächlich auf sie abgesehen haben könnte. Aber wenn er dann unerwartet neben ihr auftauchte, redete sie jetzt wenigstens mit ihm. Warum auch nicht? Er war, ganz im Gegensatz zu seinem ersten Auftritt, wirklich nett und sogar irgendwie zurückhaltend, und manchmal fand sie seinen coolen Zynismus, der immer wieder durchblitzte, ausgesprochen amüsant.
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Woher hätte sie auch wissen sollen, was er wirklich vorhatte?
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Es war der dritte Tag des Forschungslehrganges. Die Studenten kamen in den Anatomiesaal, schlüpften in ihre Kittel und traten an ihre nun schon angestammten Tische. Paula plauderte mit Caspar, als der Präparator, ein stets schlechtgelaunter Mann mit einem zotteligen Vollbart, das Tuch von der Leiche vor ihnen wegriß. Was... Paula zuckte zusammen und hob instinktiv die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien. Es brannte sauer in ihrer Kehle. Nein! Vor ihr ... Vor ihr auf dem Seziertisch lag ... ... lag David! David mit seinem Augenbrauenring und seinen gelbgesträhnten Haaren, dem sie im Zug das Leben gerettet hatte! Jetzt war er tot, man hatte seinen Augenbrauenring entfernt, und seine Haut war eiskalt und kalkweiß. Paula dachte nicht nach. Die Hand vor ihrem Mund nutzte nichts. Paula schrie. Gretchen begriff sofort. Sie packte Paula bei der Hand und lief mit ihr aus dem Anatomiesaal, hastete den Flur entlang, und dann verkrochen die beiden sich in der nächstgelegenen Toilette. Die beiden so ungleichen Frauen ließen sich einfach nebeneinander auf den Kachelboden des Waschraums fallen, lehnten sich rücklings an die Mauer und schwiegen. Wortlos kramte Gretchen Zigaretten aus ihrer Jeanstasche und hielt sie Paula hin. Die zog eine aus dem Päckchen, Gretchen gab ihr Feuer, nahm sich selbst auch eine und zündete die ebenfalls an. Paula inhalierte tief, um den bitteren Gallengeschmack aus ihrem Hals zu verdrängen. »Bäh!« sagte sie danach inbrünstig. »Ich hab seit zehn Jahren keine mehr geraucht. Im Ferienlager damals.
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Heimlich unter der Decke.« Gretchen schaute nachdenklich zur Decke und blies den Rauch aus. »Im Ferienlager ... Willst du wissen, was ich im Ferienlager heimlich gemacht hab?« fragte sie Paula. Die schaute zu Gretchen hinüber. »Unter der Decke?« hakte sie nach. Darüber mußten sie nun beide grinsen. Gretchen sagte: »Hat mir aber damals auch nicht geschmeckt. « Sie kicherten leise. Dann wurde Paula wieder ernst. »Scheiße«, sagte sie. »Ich hab noch die Blutergüsse von meiner Herzmassage auf Davids Brust gesehen.« Verzweifelt vergrub sie ihren Kopf in den Händen. Schweigend rauchten sie zu Ende, dann standen sie auf und kehrten in den Anatomiesaal zurück. Es half ja nichts. Grombek hatte derweil den Leichnam geöffnet und arbeitete behende darin. Er war begeistert: »Wunderschön, der Tumor. Bilderbuch«, verkündete er gerade, als die beiden Frauen zurückkehrten. Franz, einer der Kursteilnehmer, fragte: »Könnten wir das Herz und den Tumor nicht plastinieren und als Präparat erhalten?« Aber Grombek runzelte zweifelnd die Stirn. »Jetzt noch ...? Die Struktur ist kaum mehr schön rekonstruierbar. Sobald die Verwesung einsetzt ...« Die übrigen Studenten machten Paula und Gretchen Platz. Paula trat neben den Professor und schaute auf Davids Leichnam herab. Grombek sagte beinahe fröhlich: »Einen sehr interessanten Bekannten haben Sie da. Sehen Sie«, er deutete auf das bereits freigelegte Herz und den schon deutlich sichtbaren Tumor direkt daneben, »ein Wunder, daß er damit überhaupt noch leben konnte. Zu nah am Herzen. Inoperabel.« Dann erst schaute er auf und sah Paula direkt in die Augen. »Wollen Sie den Tumor freilegen, Kollegin?« Er hielt Paula sein Seziermesser hin. Paula schluckte. 0 Gott, jetzt bloß nicht umfallen. Oder wieder rauslaufen. Oder auf die Leiche kotzen. 0 Gott. Als Paula nicht sofort Zugriff, stichelte Grombek: »Wenn es Sie als Frau allerdings emotional überfordert ...« file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (56 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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Das reichte. Paula nahm Grombek mit festem Griff das Messer aus der Hand. Sah ihm geradewegs in die Augen. Jahrelanges Training mit ihrem Großvater - wenn du mich kleinkriegen willst, Professor, mußt du früher aufstehen. Grombek nickte zufrieden. »Wir retten ein Menschenleben, und kurz daraufgeht es dennoch verloren«, befand er nachdenklich. »Wir sind Ärzte.« Paula betrachtete den Leichnam nun genauer. Davids Gesicht konnte sie Gott sei Dank nicht sehen; sein Kopf war durch die Schulterstütze zurückgekippt. »Was sind denn das für Schnitte hier in der Brust?« fragte sie nun und deutete auf David. Grombek beugte sich vor, besah sich die Wunde. »So scharf sind nur medizinische Instrumente«, stellte er fest. »Ich nehme an, hier war ein wenig geschickter Präparator am Werk.« Er drehte sich halb um und warf über seine massige Schulter hinweg dem finster dreinschauenden Präparator einen bösen Blick zu. Der guckte ungerührt zurück. Stirnrunzelnd wandte Grombek seine Aufmerksamkeit wieder Paula zu. »Frau Kollegin, Sie sollten sich von so ein paar Schnitten nicht ablenken lassen. Ich will keine Fragen von Ihnen - ich will Ergebnisse!« Mit diesen Worten ging er auf die Leiche am Nachbartisch zu. »So ein Arschloch!« flüsterte Gretchen empört. »Ich glaub auch nicht, daß David so schnell an dem Tumor gestorben ist«, sagte Paula trotzig. »Sieh mal, hier am Hals, an der Cava superior. Das Blut ist wie Gummi!« »Und was soll das mit dem Tumor zu tun haben?« fragte Gretchen verblüfft. »Eben!« triumphierte Paula. »Nichts!« Gretchen seufzte. »David war todkrank. Paula, du hättest ihn nicht retten können«, sagte sie mitfühlend. »Du siehst Gespenster, weil du ein absurdes Schuldgefühl...« Aber Paula unterbrach sie scharf: »Dazu sind wir ja hier, um Tote zu untersuchen. Oder etwa nicht?« fragte sie herausfordernd. Doch noch bevor sie mit der Untersuchung beginnen konnte, ließ der Präparator hinter ihr überraschend seine Handkreissäge aufjaulen. Gretchen und Paula fuhren zusammen. Paula wirbelte herum. Der Präparator fragte mit ausdruckslosem Gesicht und brummiger Stimme: »Schädel öffnen?« »Nein, danke, später«, wies Paula ihn brüsk ab. Der Mann schaltete mißmutig seine Säge wieder aus. Paula wandte sich wieder der Leiche zu und sagte, halb zu sich selbst, halb zu Gretchen: »Wenn ich's jetzt nicht schaffe, David ganz normal zu untersuchen, kann ich's mit der Medizin auch gleich bleibenlassen. Ich mache jetzt mal einen Befund.«
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Mit dem Sezierspachtel hob sie eine Probe des geleeartig erstarrten Blutes in eine bereitstehende Glasdose. Dieses Rätsel würde sie schon noch klären. Dazu war die Wissenschaft schließlich da: Um scheinbar rätselhafte Phänomene rational faßbar zu machen.
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Verdammter Mist! Niemand hatte damit rechnen können, daß diese Paula den Typen gekannt hatte! Scheinbar waren sich die beiden im Zug auf dem Weg nach Heidelberg über den Weg gelaufen. Sie hätten der Leiche eben doch den Kopf abnehmen sollen. Ein idiotischer Fehler, wirklich. Ohne Kopf hätte Paula ihn nie erkannt und nicht geschrien. Blöde Kuh, hatte die noch nie einen Toten gesehen, den sie kannte? Und wieso lud Grombek die Ziege jetzt zu sich nach Hause ein? »Frau Kollegin, ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich einmal privat aufsuchen würden«, hatte er gesagt, und daß er ein Freund von Paulas Großvater sei. Was führte der Alte im Schilde? Und was wusste diese Henning wirklich?
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Paula fuhr mit dem Rad zu Professor Grombek. Heidelberg war keine große Stadt, die Entfernungen waren überschaubar. Grombek wohnte in einem vornehmen Villenviertel. Paula schaute sich um. Schön war es hier. Erstaunlich, was man sich von einem Professorengehalt leisten konnte. Obwohl ... da kamen bestimmt noch Vortragshonorare und Veröffentlichungstantiemen dazu. Und Heidelberg war eben doch auch bei weitem nicht so teuer wie München. Sie stellte sich vor, daß ihr Großvater hier früher auch so gewohnt hatte. Nobel. Angemessen. Ganz anders als ihr Vater, der es zwar zu einem kleinen Häuschen in Münchner Randlage gebracht hatte. Bauherrenmodell mit der Praxis im Haus, dem aber Stil und Status nichts zu bedeuten schienen. Das Haus sah immer noch aus wie eine riesige Studentenbude. Verächtlich dachte Paula: Papa könnte genausogut in der Sahelzone praktizieren. Sie hatte durchaus Respekt vor Ärzten, die Entbehrungen auf sich nahmen, um den Ärmsten der Armen zu helfen, aber letztlich hatte ihr Großvater natürlich recht, wenn er sagte: »Mäuschen, von denen werden jeden Tag Tausende geboren, und sie sterben wie die Fliegen, ob wir ihnen nun Penizillin geben oder nicht. Also warum solltest du dein unbestreitbares Talent für einen sogenannten »guten Zweck< wegwerfen?« Und dann hatte er noch herausfordernd hinzugesetzt: »Außerdem, wo wären denn all diese Buschdoktoren und Pillendreher ohne uns Forscher? Wir erschaffen und erhalten die Basis, auf der alle Ärzte praktizieren. Nichts ist wichtiger als die Forschung! « Und wer herausragend forschte, fand Paula, hatte auch ein Anrecht auf einen entsprechenden Lebensstil. Ihrem Vater mangelte es bloß an Ehrgeiz, das war alles. Dachte sie. Jedenfalls hatte Professor Grombek ein schönes, großes, gelb gestrichenes Haus, stellte sie fest. Bereits vom Treppenabsatz vor der Haustür aus hatte man einen berauschenden Blick den Hang hinunter bis zum Neckar. Und hinten heraus gab es bestimmt Panoramafenster und eine großzügige Terrasse. Paula stellte ihr Fahrrad ab und klingelte an der Tür. Eine gesetzte Haushälterin im schwarzweißen Kostüm öffnete ihr. Sie lächelte freundlich, aber vollkommen unpersönlich. Ein dienstbarer Geist, der mühelos mit dem Hintergrund verschmolz. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (59 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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Die Haushälterin führte Paula durch die Diele zu einem Glashaus. Sie durchschritten eine doppelte Glasschleuse und befanden sich zu Paulas Überraschung plötzlich im Inneren eines riesigen Wintergartens. In der Abendsonne flatterten zahllose Schmetterlinge umher, nippten an prachtvollen Orchideen und flirrten neugierig um Paula herum. Professor Grombek zupfte gerade vorsichtig an einer Pflanze. Von irgendwoher perlte leise Barockmusik durch den kleinen Dschungel. »Herr Professor«, kündigte die Haushälterin an, »das Fräulein Henning.« Grombek drehte sich zu ihnen um. Er lächelte entspannt und freundlich. »Frau Kollegin!« begrüßte er Paula herzlich. »Kommen Sie herein! Schön, daß Sie meine Einladung annehmen konnten.« »Ich möchte mich noch einmal für die Einladung bedanken, Herr Professor. Und ... also wirklich!« Paula schaute sich staunend um. »Das ist ja phantastisch hier!« sagte sie dann ehrfürchtig. Ein auffällig exotischer Falter flatterte heran und setzte sich ganz in ihrer Nähe auf eine Blüte. Grombek erläuterte: »Ein afrikanischer Papillus Frugatus. Wunderbar. So leicht, so lebendig. Wissen Sie«, wechselte er dann abrupt das Thema, »im Keller des Instituts gibt es einen Raum, in dem Leichen gewaschen, rasiert und zerlegt werden. Ein bestialischer Gestank von Verwesung und Formalin. Unangenehm ...« Nachdenklich rümpfte er die Nase. Dann fuhr er fort: »Wir Ärzte bekommen immer nur diesen begrenzten, ich möchte fast sagen: >sauberen< Ausschnitt des Sterbens zu sehen. Jeder Medizinstudent sollte einmal in die Leichenwäsche geführt werden.« Grombek löste seinen Blick von dem bunten Schmetterling und schaute Paula an. »Am Ende«, verkündete er, »am Ende steht immer der Tod.« Der Falter schwirrte wieder davon. Grombek schaute ihm gedankenverloren nach. Was soll das? dachte Paula. Er hat mich doch nicht zu sich bestellt, um mir seine Schmetterlinge zu zeigen oder über die fragwürdigen Vorzüge der Leichenwäsche zu plaudern. Und nach Großvater hat er sich auch noch nicht erkundigt. Nein, es mußte etwas anderes sein! Wann hatte er sie gebeten, ihn zu besuchen? In der Anatomie ... Ja, genau, er hat mich zu sich gebeten, nachdem er spitzbekommen hat, daß ich David nicht einfach so aufgeben kann! »Es ist wegen David, oder?« fragte Paula frei heraus. Grombek schaute immer noch einem seiner flatternden Spielzeuge hinterher. Was ist das hier, >Das Schweigen der Lämmer< für Fortgeschrittene, oder was?
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»Ich wollte einfach nur wissen, daß ich nichts mehr hätte tun können.« Grombek nickte nachdenklich. Schließlich sagte er: »Ihre Reaktion war klar, korrekt, wissenschaftlich. >Haltung< hat man das zu meiner Zeit genannt. Beeindruckend. « Er nickte wieder. »Mir kommt es irgendwie seltsam vor, daß ...« setzte Paula an. Aber Grombek unterbrach sie. Abwinkend meinte er: »Wir beide wissen, Sie haben persönliche Motive, Emotionen, weibliche Intuition.« Er sagte das, als wäre es eine unheilbare Krankheit. »Aber ein weiteres Engament in dieser Sache wäre ...« Er suchte nach dem passenden Wort; ablehnend mußte es sein, aber nicht unhöflich. Schließlich fand er es: »... albern«, schloß er zufrieden. »Aber ...« setzte Paula an. Verdammter Mist, warum habe ich ihm nur vorhin erzählt, daß ich Davids Blut untersuchen will? fragte sie sich wütend. Die Erklärung war so einfach, wie sie peinlich war, und Paula wußte es: Sie hatte vor Grombek mit ihrem Interesse und ihrem Durchhaltevermögen angeben wollen, aber er schien das zu mißbilligen. Zumindest in diesem speziellen Fall. Nun wollte Paula ihm widersprechen, wollte versuchen, ihn auf ihre Seite zu ziehen und ihm die Notwendigkeit verdeutlichen, ihre Untersuchung zu Ende zu führen, aber Grombek war bereits zu einem kleinen Tischchen gegangen, auf dem Tee und Gebäck standen. »Wollen Sie Tee?« fragte er freundlich. »Sonst macht Ihnen unsere Frau Erhard auch gerne eine Tasse Kaffee.« Er ließ seinen Blick zufrieden über das gedeckte Tischlein wandern. »Bisquit hätten wir, oder Streusel.« Dann setzte er mit einem kurzen, scharfen Blick in Paulas Richtung hinzu: »Wir schließen den Fall ab.« Paula nickte. Aber innerlich war sie mehr denn je davon überzeugt, daß hier etwas faul war. Warum sonst sollte Grombek sie nicht vor allen Studenten zurechtweisen, sondern bat sie zu sich, nur um ihr dann bei Tee und Streuselkuchen zu untersagen, eine wissenschaftliche Untersuchung vorzunehmen? Schlimmstenfalls würde sie dabei doch herausfinden, daß sie sich geirrt hatte. Daß alles mit rechten Dingen zugegangen war. Daß sie nichts mehr für David hätte tun können. Paula entschied sich - aus reiner Höflichkeit - für Streusel. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (61 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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Wenn es nichts zu verbergen gibt, wieso versucht Grombek dann, etwas zu verbergen?
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Bernie, Bernie, wo habe ich deine Hummer ... Paula blätterte durch ihr Notizbuch, und schließlich fand sie, was sie suchte. Nur ihr Freund Bernie konnte ihr jetzt weiterhelfen, soviel stand fest. Entschlossen griff Paula nach dem Telefon, das neben ihrem Mikroskop auf dem Labortisch stand. Die beiden kannten sich noch aus alten Schulzeiten und waren immer in Kontakt geblieben; Paula, die sich mit Feuereifer auf ihr Medizinstudium gestürzt hatte, liebte es, mit dem angehenden Biolaboranten zu diskutieren. Bernie war ein riesiger Science-fiction-Freak, und weil er es wahrscheinlich nie ganz aufgeben würde, nach außerirdischen DNAs oder ähnlichem zu suchen, hatte er sich ein enormes Fachwissen angeeignet, das weit über die Inhalte seiner Lehrbücher hinausging. Wenn sich jemand mit solchen Sachen auskannte, dann er. Nachdem sie es mehrfach bei ihm zu Hause versucht hatte, rief Paula in Bernies Labor an - Volltreffer. Natürlich war er da, hockte wahrscheinlich über irgendeiner obskuren Probe und mampfte dabei - wie immer - Pizza. »Paula, meine Schöne, hast du Sehnsucht nach mir?« Sie lachte - mit der gleichen Hartnäckigkeit, mit der Bernie sie seit Jahren mehr spielerisch als ernsthaft anflirtete, wies sie ihn ebenso freundlich wie ausdauernd zurück. »Bernie, solange es noch Leichen auf diesem Planeten gibt, die auseinandergeschnitten werden können, habe ich leider keine Zeit für dich.« Sie lachten beide. Das gehörte zu ihrem Spiel. Dann wurde Paula ernst. »Ich habe ein Problem mit einem Toten.Irgend etwas stimmt hier nicht.« Und als Bernie nicht sofort reagierte, sprach sie die magischen Worte: »Bernie, ich brauche deine Hilfe.« »Dann muß es wohl wirklich etwas Besonderes sein. Schieß los, Paula!« Schnell schilderte Paula ihm das Untersuchungsergebnis von Davids Blut. Bernie hörte erst ruhig zu, fragte dann ein paar Zusatzinformationen ab und kam schließlich zu einem Ergebnis: »Das gibt's eigentlich nicht.« »Deswegen ruf ich dich ja an, Bernie«, sagte Paula leicht file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (62 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
Anatomie
genervt. »Ich habe auch noch nie so ein Blut gesehen. Und die Mutation muß vor dem Tod bewirkt worden sein!« Sie war sich ihrer Sache inzwischen ganz sicher. Irgend etwas war faul an diesem Todesfall! Paula preßte ein Auge an das Okular ihres Mikroskops und überprüfte ihren Befund. Der Telefonhörer klemmte zwischen Schulter und Ohr. Bernie fragte: »Und du sagst, es sind keine Kristalle?« Paula löste ihr Auge von dem Mikroskop und tippte mit einem Spatel auf die kleine Blutprobe, die auf dem Tisch in einem Glasschälchen lag. »Nein, es ist eher irgendwie gummiartig oder so.« Bernie dachte nach. Sein Blick wanderte durch sein Zimmer: die Posterspeisekarte vom Pizzaservice, nur für Stammkunden; Pamela Anderson; Gilian Anderson. Die großen Themen seines Lebens: Essen, Brüste, fehlte nur noch eins: Aliens. Grinsend hakte Bernie nach: »War dein Freund vielleicht grünlich? Eher klein und mit einer Antenne auf dem Kopf?« »Grün? Wieso?« fragte Paula. Dann fiel bei ihr der Groschen. »Nein, jetzt mal im Ernst«, forderte sie grinsend. »Ich schick dir eine Probe, und du checkst das bei euch in der Chemie.« »Gewebeprobe?« fragte Bernie. »Nein, müßte ich noch besorgen.« Bernie grinste. Er hechelte ins Telefon: »Bernie brauchen frisches Fleisch! Leber wenn möglich!« Dann wurde er wieder ernst. »Was kriege ich dafür?« »Küßchen«, schlug Paula vor. »Zungenkuß!« forderte Bernie. »Und einmal grapschen. « Paula grinste. »Küßchen«, wiederholte sie. »Auf die Stirn. Und sicher nicht grapschen.« Sie war so tief in ihre Gespräch versunken, daß sie gar nicht bemerkte, wie hinter ihr ein Schatten in das menschenleere Labor huschte. »Tschüs, Kleine«, verabschiedete Bernie sich zufrieden. »Und paß auf dich auf.« »Tschüs, mein Alter«, erwiderte Paula und legte auf. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (63 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
Anatomie
Der Schatten setzte sich neben Paula auf einen Stuhl und fragte mit leiser Stimme: »Dein Vater?« Paula schrak zusammen. Caspar! Wo kam der denn her? »Äh, ja, ich ...« murmelte Paula. »Ihr müßt eine echt gute Beziehung haben«, vermutete Caspar. Verdammt, wieviel hatte er mitbekommen? Hatte er etwa gelauscht? Paula stammelte: »Nein, also, das war ein Freund, also nicht mein Freund, sondern nur ... ach, Scheiße.« Entnervt gab sie auf. »Rein ... wissenschaftlich?« schlug Caspar mit feinem Hohn in der Stimme vor. »Ich bin immer ... ich meine ...« begann Paula. Dann unterbrach sie sich und fragte zornig: »Du hältst dich wohl für irre toll, was?« »Ich halte dich auch für irre toll«, entgegnete Caspar lächelnd. Paula schaute ihn entgeistert an. Was...? Dann begann sie jedoch ein wenig zu lächeln. Das sollte ja wohl so eine Art Kompliment sein. Sie rutschte zur Seite und deutete auf das Mikroskop. »Schau her: Das ist das Blut von dem toten Jungen. Und? Ich habe so was auch noch nie gesehen! Und mit dem Tumor kann's nichts zu tun haben.« Caspar schaute durch das Okular. Paula fuhr fort: »Ich muß noch mal in die Anatomie.« Sie packte eilig ihre Sachen zusammen. »Jetzt?« fragte Caspar und sah auf. »Ich brauche eine Gewebeprobe. Nach dem Wochenende ist er zu stark verwest.« Sie stand auf und wollte gehen. Dann drehte sie sich aber doch noch einmal um und fragte: »Was wolltest du eigentlich?« »Och«, sagte Caspar mit Unschuldsmiene und zuckte die Achseln. »Kino, Eisdiele, Darmtrakt sezieren ... irgendwas Romantisches.« Darüber mußte selbst Paula lachen. Sie schaute auf ihre Uhr und schlug vor: »In 'ner Stunde, unten im Studentenheim.« Caspar nickte. Paula lief los Richtung Anatomie. Sie gab es nicht einmal vor sich selbst so richtig zu, aber sie freute sich auf ihre file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (64 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
Anatomie
Verabredung mit Caspar.
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Der junge Mann, der sich Caspar nannte, war sehr zufrieden mit sich. Er war einen großen Schritt weitergekommen. Er wußte jetzt schon wieder etwas mehr über Paula. Mit wem sie da wohl so lange telefoniert hatte? Mußte er sich jetzt Sorgen machen? Aber er schüttelte nur innerlich den Kopf. Nein, das war weder eine Verschwörung noch Liebesgeturtel gewesen. Er fing schon an, Gespenster zu sehen. Sie hatte einfach bloß mit einem guten Freund telefoniert. Genau, wie sie es gesagt hatte. Er mußte ihr nicht mißtrauen. Sie schien von nichts zu wissen. Obwohl ihn das schon wunderte. Aber in einer Stunde war es soweit. Sie trafen sich im Studentenwohnheim. Und dann ...Er war sehr zufrieden mit sich. Voller Vorfreude brach er zu dem Treffen auf.
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Eilig lief Paula durch die dunklen und verlassenen Gänge im Neuen Trakt. Das war zwar schon irgendwie unheimlich, aber immer noch besser, als allein über den zu dieser Stunde unbeleuchteten Campus gehen zu müssen. Nachher mit Caspar, das war etwas anderes. Darauf freute sie sich sogar ein wenig, obwohl sie gar nicht genau wußte, warum. Schließlich war sie zum Arbeiten nach Heidelberg gekommen, und nicht zum ... Und was hatte der eigentlich um diese Zeit noch im Labor zu suchen? Hat er nach mir Ausschau gehalten, oder schnüffelt er mir nach? In den Fluren brannte nur noch die Notbeleuchtung, die Türen und Ecken lagen bereits im dunklen Schatten. »Schwachsinn!« murmelte Paula vor sich hin, als sie das Gefühl bekam, gleich hinter der nächsten Ecke könnte sich etwas - oder könnte sich jemand - verbergen. Aber hatte sich da nicht doch etwas bewegt? Und hatte es dort nicht gerade geraschelt? »Was soll schon dabei sein, durch ein Leichenhaus quatsch, ein Universitätsgebäude! - zu gehen?« fragte sie sich selbst leise. »Irgend so ein blöder Historiker macht sich ja auch nicht gleich ins Hemd, wenn er mal alleine was nachschlagen muß!« Trotzdem war es ihr unheimlich, so allein durch die verlassenen Gänge zu schleichen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich hinter der nächsten Ecke jemand auflauerte. Und sie wußte ja auch, daß sie etwas Verbotenes tat. Nicht richtig verboten zwar, aber Grombek hatte doch ganz eindeutig entschieden: Wir schließen den Fall ab! Und daran hatte Paula sich als brave Studentin eigentlich zu halten. Tat sie aber nicht. Jetzt stell dich nicht so an, Henning! Paula war wegen ihrer Ängstlichkeit selbst ziemlich genervt. Mein Gott, was ist bloß los mit dir? Paula war sich der Stille um sie herum schmerzlich bewußt. Sie vernahm jedes Rascheln ihrer Kleidung, das leise Schlürfen ihrer Schuhe auf dem Linoleumboden. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (66 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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Sie hatte das Gefühl, als müßte sie auf dem gesamten Campus zu hören sein. Sie warf einen schnellen Blick über ihre Schulter. War da etwa jemand? Sie konnte nichts erkennen. Schwarze Schatten wucherten aus den Türrahmen über den gewachsten Boden. Nichts regte sich. Endlich hatte sie die Tür des Anatomiesaales erreicht. Sie drückte auf den Türöffner, und die Schiebetür glitt auf. Paula trat in den großen Saal und schaute sich vorsichtig um. Auch hier brannte nur die Notbeleuchtung: Vier schwache Neonröhren, in jedem Raumviertel eine. Die Ränder des Saales versanken im Dunkel. Hinter Paula schloß sich fast lautlos die Schiebetür. Paula drehte sich um und drückte auf einen Lichtschalter neben der Tür. Das Hauptlicht flammte auf, flackernd erwachten die Neonröhren zum Leben. Eine, über dem Tisch ganz links, ging immer wieder aus. Dann blitzte sie zwei-, dreimal auf, ging wieder an, surrte leise, ging wieder aus. Paula schaute sich um. Was für ein riesiger Saal. An den Wänden die Nirostaschränke, Paneele, Waschbecken. Sie trat auf »ihren« Seziertisch zu und sagte lauter als nötig, um sich Mut zu machen: »Ja, und? Leichen! Hallo, Leichen! Die tun ja nichts. Ich hab keine Angst. Natürlich nicht. David ... David ... wo ist ... ?« Sie hob vorsichtig das Leichentuch von ihrem Tisch, auf dem vorhin noch David gelegen hatte. Dort aber lag jetzt ein alter Mann. Er hatte die Augen geschlossen und schien friedlich zu schlafen. Seine kalte Haut leuchtete wächsern im eisigen Schein der Neonröhren. Paula ließ die Plastikfolie sinken. Dann trat sie an den Nebentisch und schaute dort unter das Tuch. Kein David. Sie untersuchte alle fünf Leichen auf allen fünf Tischen. An die übrigen vier konnte sie sich nicht mehr erinnern, aber alle waren unversehrt, also waren es wohl neue Leichen.
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Normalerweise wurden die sezierten Leichen zwar nachts rausgeschafft, die neuen aber erst am Morgen herausgeholt. Irgend etwas war hier anders als sonst! Und David war verschwunden. Wohin nur? Suchend schaute Paula sich um. Sie pfiff dabei leise vor sich hin. Nein, sie hatte keine Angst, wovor auch? Alles war wissenschaftlich zu erklären. Das hatte schon ihr Großvater immer gesagt. Am Rande des Anatomiesaales stand eine fahrbare AluLeichenbahre. Daneben führte eine Tür in den Kühlboxraum. Sie war bloß angelehnt, wie Paula an einem schmalen Lichtspalt erkannte. Noch einmal schaute Paula sich um, obwohl natürlich immer noch niemand zu sehen war - woher hätte auch jemand kommen sollen, ohne daß sie es bemerkte? Es war totenstill. Sie summte leise und ging auf Zehenspitzen in Richtung der Kühlraumtür. Vielleicht war ja dahinter jemand? Lauerte ihr auf? Wartete auf sie? Oder ging einfach nur seiner Arbeit nach? Bilder von sabbernden Zombies zuckten durch ihren unruhigen Geist. Paula riß sich zusammen. Blödsinn. Sie drückte die Edelstahltür auf und sah sich in dem kleinen, schmucklosen Raum um. Auf der einen Seite eine beherrschende Wand mit Leichenkühlboxen: acht übereinander, drei nebeneinander. Gegenüber ein riesiges Waschbecken. An der Wand, auf die Paula schaute, standen weitere Leichenbahren, auf denen die Toten in den Anatomiesaal gefahren werden konnten. Daneben entdeckte Paula einige leere Särge. »David?« flüsterte Paula, als könnte sie ihren toten Freund damit aus seinem Versteck locken. Als würde er gleich laut lachend aus dem Schatten springen, und alles
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wäre wieder gut. Ihr Unterbewußtsein schien immer noch zu hoffen, daß alles nur ein dummer Streich war, wie der von Phil und Co. am ersten Tag. »David, wo bist du ...?« Sie schlich hinüber zu der leise surrenden Kühlbox. Paula bekam eine Gänsehaut. In der linken Hand hielt sie bereits Glasdose und Skalpell, die sie aus dem Labor mitgenommen hatte. »Scheiße«, murmelte sie im Angesicht der mächtigen Fächer aus mattschimmerndem Stahl. Sie holte tief Luft, packte den Handgriff der ersten Kühlbox und zog sie heraus. Nackte Beine ragten ihr entgegen, am großen Zeh hing ein weißes Schild mit einer Codenummer. Wie ein Kofferanhänger mit der Heimatadresse. Es waren eindeutig die Beine eines alten Mannes. Paula schob die Box wieder zu und zog die nächste heraus. Krampfartig aufgedunsene Frauenbeine. Am großen Zeh hing wiederum ein Schild. Paula schob auch diese Box zu. Langsam bekam sie eine Gänsehaut. Sie summte weiter leise vor sich hin, strich ihre dunklen Haare energisch hinter die Ohren und zog die dritte Schublade heraus. Leer. Schublade zu. Paula atmete tief durch und öffnete die vierte Kühlbox. Vor ihrer Nase ragten die nackten Beine eines jungen Mannes heraus. An seinem Zeh hing kein Schild. Aber knapp oberhalb des Knöchels entdeckte Paula ein Brandzeichen: AAA. Paula schaute die drei Buchstaben erstaunt an. Komisch, dachte sie. Klar, sie hatte von diesen Leuten gehört, sich sich freiwillig brandmarkten. Branding hieß das, oderScaring oder so, der Körperschmuck für Leute, denen ein Piercing oder ein Tattoo nicht reichten. Aber David schien ihr nicht der Typ für diese Art der freiwilligen Selbstverstümmlung gewesen zu sein ... Sie zog die Kühlbox ganz heraus und warf einen schnellen Blick auf die Leiche. Es war tatsächlich David. Paula griff eilig nach dem Seziermesser und der Glasdose und begann konzentriert zu arbeiten. Leise summte sie dabei vor sich hin: »Do you believe in life after love ...« Sie brauchte nur eine kleine Probe für Bernie. Sie schnitt etwas Gewebe heraus und hob es mit dem Seziermesser file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (69 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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vorsichtig in die geöffnete Glasdose. Sie achtete darauf, die Probe auf keinen Fall zu berühren, um sie nicht zu verunreinigen und das Untersuchungsergebnis zu verfälschen. Das war nicht einfach, denn David lag in einer der oberen Boxen, und sie mußte auf Zehenspitzen arbeiten und ganz schön balancieren. Schließlich legte sie das Skalpell wieder auf den kleinen Waschtisch hinter sich, stellte die Glasdose daneben und setzte den Deckel wieder darauf. Sie wandte sich ein letztes Mal zu David um, weil sie die Box wieder schließen wollte - und fuhr zusammen! Wie aus dem Nichts war der stämmige, vollbärtige Präparator hinter der Kühlbox aufgetaucht. Er starrte sie grimmig an. Seine Augen funkelten wild. Der sah nicht so aus, als würde er viel Spaß verstehen. Paula machte unsicher einen Schritt rückwärts. »Was machen Sie da?« fragte der Präparator mit Grabesstimme. Ärgerlich rammte er die Kühlbox wieder in den Schrank hinein. Nun stand er direkt vor Paula und starrte sie herausfordernd an. »Ich habe nur ...« begann Paula. »Studentin?« fuhr der Präparator dazwischen. Paula nickte. »Name?« fragte er drohend. »Henning. Paula Henning. Ich wollte ...« Aber der Präparator hatte bereits einen Block aus der Brusttasche seines dunkelblauen Kittels gezogen und notierte ihren Namen. »Weiß der Professor davon?« fragte er finster. »Äh ... ja ... ja!« stammelte Paula verunsichert. Sie hatte nie gelernt, zu lügen. Ihr Großvater hatte sie stets gelehrt, wissenschaftlich zu denken. Der nachweisbaren Wahrheit verpflichtet. »Er hat gesagt, ich soll ... Also, ich hab Sie nicht gefunden, und da ...« Ihr Blick irrte ratlos umher. Der Präparator starrte sie ungerührt an. Er glaubte ihr nicht. »David ... äh, hier, Nummer 9«, sagte Paula nun schon mit festerer Stimme. »Ich muß wissen, von wem er überstellt worden ist.« Jetzt stellte sie die Fragen, und dieses Gefühl half ihr, zu ihrem normalen Selbstbewusstsein zurückzufinden. Mit leichter Arroganz im Blick sah sie ihr Gegenüber an. »Ich muß den behandelnden Arzt befragen. « Der Präparator blätterte wortlos in seinem schmuddeligen Notizheft. Nach einiger Zeit schaute er wieder
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auf, fixierte Paula und sagte: »Männlich, 22 Jahre, Heysenbergsche Krankheit?« »Ja!« bestätigte Paula. »Und von wo ...?« Der Präparator schaute wieder in sein kleines Heft, dann klappte er es zu. »Datenschutz«, sagte er herausfordernd. Dann deutete er in Richtung Tür. Paula versuchte es noch einmal »Aber ich muß ...« »Arbeitszeit für Studenten ist von 6 bis 22 Uhr«, stellte der Präparator ungerührt fest. Es war bereits nach zehn. Paula holte wütend Luft, um etwas zu entgegnen. Dann aber überlegte sie es sich anders, wandte sich brüsk ab und stapfte durch die offenstehende Tür hinaus in den Anatomiesaal. Ein Druck auf den Türöffner, die. Milchglasscheiben glitten zur Seite, und sie befand sich wieder auf dem nur schwach erhellten Flur. Trotzig umklammerte sie die Glasdose, die sie im Gehen schnell und heimlich in ihre Tasche hatte gleiten lassen. Denen werde ich es schon zeigen, dachte sie. Ich werde mich nicht ins Bockshorn jagen lassen, ich nicht. Das wäre ja noch schöner. Sie würde die Wahrheit herausfinden. Ihr Großvater würde stolz auf sie sein. Irgend etwas stank hier zum Himmel. Und es war keine Leiche, soviel stand fest!
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Der Präparator schaute Paula wütend hinterher. Als sich die hydraulischen Türen hinter ihr geschlossen hatten und auch die Tür zur Kühlkammer wieder zugefallen war, trat er an das Wandtelefon, tippte auswendig eine Nummer ein und sagte leise mit tiefer, unzufriedener Stimme: »Hallo? Ich bin's. War eben wer da.« Er hörte einen Moment zu. Dann nickte er, stieß ein mißmutiges »Mh-hmm« aus und legte auf. Der Präperator trat an Davids Box - die Nummer 9 - und klebte einen Magnetaufkleber daran. Ein großes weißes Schild, das in schwarzen Buchstaben kurz und bündig befahl: »Krematorium«. Zufrieden file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (71 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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grinsend wandte er sich dann wieder seinen anderen Aufgaben zu. Sollte die Kleine doch ruhig weiter versuchen, hier herumzuschnüffeln - alle Spuren würden bis dahin vernichtet sein.
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Paula stürmte zum Studentenwohnheim zurück. Erst als sie die Tür zur Eingangshalle aufgestoßen hatte, fühlte sie sich wieder ein bißchen in Sicherheit. Beruhig dich, Henning, befahl sie sich selbst, der Typ hat niemals Verdacht geschöpft. Aber was sollte das überhaupt heißen, »Verdacht geschöpft« - Henning, komm zu dir! Da mag etwas mit dem Tod von David nicht stimmen, aber du steckst trotzdem nicht plötzlich mitten in einem beschissenen Krimi! Plötzlich entdeckte Paula Caspar, der in der Halle hockte und schlief - Mensch, den habe ich vollkommen vergessen! Sah aber ganz süß aus, wie er da auf sie wartete und schlief ... Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloß. Caspar schreckte hoch, rieb sich verschlafen die Augen. »Hey, was ...« Paula setzte sich neben ihn und plapperte sofort los: »Hör zu, da ist was faul, ich spür das! Ich muß unbedingt den Arzt rausfinden, der David überstellt hat. Der Präparator hat 'ne Liste, auf der steht, von wo die Leichen kommen. Wenn ich die ...« Caspar kniff die Augen zusammen. Er öffnete sie wieder und schaute Paula an. Dann streckte er ohne ein weiteres Wort den Arm aus, faßte Paula am Nacken und zog sie zu sich heran - und küßte sie. Er küßte sie auf den Mund, erst zärtlich, dann fester. Was ... hey, Moment mal! Einen Moment lang war Paula nur verblüfft, aber dann wollte sie sich wehren immerhin war sie hier einer seltsamen Sache auf der Spur, und sie wollte ihm das jetzt erzählen, und er, er küßte sie einfach, und ... file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (72 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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... und Paulas Entrüstung schmolz wie Eis in der Sonne. Caspar küßte überraschend gut. Paula hatte es sich vielleicht nicht bewußt vorgestellt, von ihm geküßt zu werden - aber ihrem Unterbewußtsein kam die Situation nicht gänzlich unbekannt oder unangenehm vor. Im Gegenteil. Er küßte und küßte sie, und seine Hand in ihrem Nacken verursachte ein angenehmes Kribbeln. Und sie küßte ihn zurück, wenn auch noch ein bißchen zurückhaltend, weil, hey, was soll das eigentlich, ich ... ... Henning, du blöde Kuh, nun mach dich locker! Der Typ ist super, er küßt super, und du bist superblöd, wenn du jetzt nicht einfach mal die Klappe hältst! Doch gerade als Paula endlich anfing, den Kuß zu genießen, ließ Caspar sie los und stand auf. Er reckte und streckte sich. Noch immer schlaftrunken murmelte er: »Du kannst echt gut küssen, aber dein Pulli stinkt nach Formalin. Gehst du morgen mit zum Teich?« Er wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern entfernte sich schon. Dann drehte er sich aber noch einmal kurz zu ihr um, sah sie fragend an, aber Paula war viel zu entgeistert, um ihm zu antworten. Daher zuckte er leicht mit den Achseln und murmelte im Weitergehen, mehr für sich: »Scheiß Leichen. Ich bin todmüde.« Paula schaute ihm mit offenem Mund hinterher. Was war das denn gewesen? Aber küssen, das mußte sie sich widerwillig eingestehen, küssen kann dieser Caspar wirklich richtig gut!
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Er hatte gerade aus dem Haus gehen wollen, als der Präparator angerufen hatte. Diese Paula - sie steckte ihre Nase da in Sachen, die sie wirklich nichts angingen. Ab ins Krematorium mit ihm, hatte er den Präparator angewiesen, und wimmel die Kleine ab. Wir können uns jetzt keinen Fehler leisten. Dein Fehler, Paula, daß du dich da einmischen willst, dachte er. Aber es gab für jedes Problem eine Lösung. Für jedes.
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Am nächsten Tag fuhren die Anatomiekursteilnehmer zum Picknicken an den Teich. Es war Sonntag, der einzige vorlesungsfreie Tag. Sie nahmen ihre Bücher mit, aber außer Paula hatte natürlich niemand vor, wirklich hineinzuschauen. Es war idyllisch schön an dem kleinen Teich. Die Blumen blühten, die Bäume grünten, die Vögel sangen. Ein Sommertag wie aus einem Kinderbilderbuch. Gabi lag am Ufer und las einen Schnulzenroman. Stella lackierte ihre Nägel. Die Jungs spielten Fußball. Paula und Gretchen gingen schwimmen. Gretchen trug einen superknappen Bikini, den ihre üppigen Formen nahezu sprengten. Noch Fragen, Henning? fragte Paula sich in Gedanken. Als ob nicht schon vorher klar gewesen wäre, wie Gretchen an den Platz im Seminar gekommen war. Nicht, daß sich Paula nicht inzwischen an ihre lebenslustige Kommilitonin gewöhnt hätte, im Gegenteil: Gestern abend waren sie sich noch über den Weg gelaufen, als Paula in ihr Apartment zurückgekommen war; Gretchen war gerade auf dem Weg zu Hein gewesen, der ihr vorgeschlagen hatte, die Nacht bei ihm zu verbringen. Gretchen war sofort aufgefallen, daß Paula immer noch einen ziemlich roten Kopf hatte, und als sie süffisant nachgefragt hatte, ob sich da jemand schlecht benommen hätte, mußte Paula ihr einfach alles erzählen. Gretchen hatte spontan beschlossen, Hein erst einmal Hein sein zu lassen, und die beiden Studentinnen hatten sich auf ein Glas Wein zusammengesetzt, über das Leben und die Liebe und die zu Männern wie Hein (»Knackig bis zum Umfallen, aber der Hellste ist er nicht wirklich!«) und Caspar (»Der ist aber nun wirklich cool und auch so ein bißchen geheimnisvoll!«) im besonderen unterhalten. Irgendwann war Gretchen dann doch zu Hein gefahren und Paula müde ins Bett gegangen. Nein, sie hatte nicht von Caspar geträumt; obwohl, wenn sie es sich hätte aussuchen können ... Während die beiden ein bißchen im See herumplanschten, begann Paula doch der Gedanke an Gretchens Qualifikationen zu quälen. Ich kann die nicht mögen, wenn sie sich ihre Teilnahme hier nur erschwindelt hat. Aber einfach fragen konnte sie ja wohl auch nicht, oder? Irgendwann konnte Paula einfach nicht mehr anders - sie mußte es nun einfach wissen. »Weißt du«,
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begann sie ganz beiläufig, »ich habe ja bei diesem Wettbewerb teilgenommen und die ... Also ... Na, ich habe die zweitbeste Arbeit geschrieben. Bundesweit.« Paula merkte, dass Gretchen sie aufmerksam ansah. Nun mal los, Henning, jetzt kannst du eh nicht mehr zurück! »Und wie hast du eigentlich deine Zulassung für Heidelberg bekommen?« »Ich habe die beste Arbeit geschrieben«, entgegnete Gretchen lässig. Paula verschluckte sich am Seewasser. Sie hustete und prustete und strampelte verzweifelt mit Armen und Beinen. Gretchen sah aus wie immer. Dann hatten sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Paula richtete sich auf. Gretchen neben ihr zupfte ihre Brüste in Position, die in allen Richtungen aus ihrem superknappen Bikini zu quellen schienen. Paula nestelte nervös an ihrem sportlichen Einteiler herum. Dann starrte sie sie wieder fassungslos an, schluckte und fragte vorsichtig: »Bei dem Robert-Koch-Wettbewerb für Höhersemestrige? Und ... ich meine ...?« Ihr blieb der Mund offen stehen. Gretchen zuckte beiläufig mit den Achseln, stieg aus dem Wasser und ging lässig zu ihren Badelaken. »Ich hab dieses Jahr das dritte Mal gewonnen«, entgegnete Gretchen locker, als sich Paula schließlich neben sie gesetzt hatte. Dann deutete sie hinüber zu ihren Kommilitonen, die sich gerade hitzig darüber stritten, ob der Torwart den Abstoß mit der Hand hatte machen dürfen. »Glaubst du, irgendein Mann kriegt noch einen hoch, wenn er weiß, daß mein IQ mehr als 50 Punkte über seinem liegt?« 0 Gott, dachte Paula entsetzt, die ist intelligenter als ich! Das tat weh. »Aber«, stammelte sie, »aber wenn ... das heißt... aber wie kannst du dann mit so 'nem Simpel wie Hein ... ?« Paula war ganz durcheinander. Nicht nur, daß Gretchen besser war als sie, nein, sie war auch noch so anders! »Irgendeinen Ausgleich braucht der Mensch«, grinste Gretchen. »Und Hein ist super!« Sie rief zu den Fußballern rüber: »Hein! Heini! Komm mal!« Gehorsam kam Heim angetrabt. Lächelnd schaute er auf Gretchen hinunter. Schon der Wahnsinn, musste Paula zugeben, der sieht wirklich nur sie. Wahrscheinlich könnte ich mich mit Benzin übergießen und anzünden, der würde davon nichts mitbekommen. Apropos mitbekommen - wo war eigentlich Caspar? Unauffällig schaute Paula sich um.
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»Dreh dich mal um.« Paula sah Gretchen erstaunt an, aber die meinte nicht sie, sondern ihren Freund. Hein gehorchte. »Schau mal, hier«, erklärte Gretchen mit Kennerblick und zeigte auf Heins Muskeln, »Latissimus dorsi - superschön strukturiert. Oder hier ...« Sie zog Heins Badehose herunter, so daß seine nackten Pobacken zum Vorschein kamen; sehr schöne Pobacken, wie Paula neidlos feststellte. Hein schaute über die Schulter und sagte verlegen: »Och, Gretchen, laß mal.« Aber so richtig unangenehm schien es ihm auch wieder nicht zu sein. Gretchen ließ sich ohnehin nicht beirren. »Spann mal!« forderte sie. Hein spannte seinen Hintern an. Die einzelnen Muskelstränge wurden deutlich sichtbar. Selbst Gabi schaute jetzt von ihrer Schmonzette auf. Paula errötete leicht, hatte es aber unhöflich gefunden, wegzusehen. Gretchen dozierte: »Glutaeus Maximus! Und wie hier die Fascia lata rüberkommt! Geil, was?« Verächtlich fügte sie hinzu: »In der Pathologie sind doch immer nur diese alten schlabberigen Typen.« Dann küßte sie Hein auf die nackte Pobacke, sagte: »Danke, Sweetie!«, ließ seine Badehose wieder hochschnappen und gab ihm einen fröhlichen kleinen Klaps. Hein grinste entschuldigend zu Paula hinunter und trabte dann wieder zurück zu den übrigen Jungs. Gretchen sagte grinsend: »Wenn einer zu intelligent ist, verliebt man sich womöglich!« Sie verzog angewidert das Gesicht. Das hatte sie nun wirklich nicht vor. Liebe machte immer alles so kompliziert. Dann setzte sie noch hinzu: »Aber dein Casperle ist ja auch gut gewachsen. Hat er ordentlich was in der Hose?« Sie feixte. Gabi vergrub ihr Gesicht wieder im Buch, hörte aber fasziniert zu. Paula erstarrte. »Was ...? Ich ... das ist nicht mein ...« Gretchen fragte mit Blick auf die Jungs amüsiert: »Glaubst du, die reden über was anderes als die Größe unserer Busen? Ich finde das immer lustig, wenn man öffentlich über Schwänze diskutiert!« Paula starrte ihre Mitbewohnerin entgeistert an. Hinter ihr tauchte plötzlich Caspar auf und legte seine Hand zärtlich auf ihre Schulter. Paula schaute auf. Hoffentlich wechselte Gretchen jetzt mal das Thema! Aber Gretchen verkündete fröhlich: »Caspar! Wir sprachen gerade von dir und deinem Freund.« Paula entfernte Caspars Hand derweil freundlich, aber file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (76 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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bestimmt, von ihrer Schulter. Caspar schaute Gretchen erstaunt an. »Freund? Was für ein Freund?« Gretchen griff in den Picknickkorb und fragte zweideutig: »Möhrchen? Oder Banane?« Sie hielt dem verwirrten Caspar eine kleine Mohre und eine dicke Banane hin. Dann fing sie laut an zu lachen. Gabi schlug sich ihr Buch vors Gesicht, doch auch das unterband ihr lautstarkes Kichern nur unzureichend. Paula fragte sich wieder einmal, warum sich nicht einfach der Erdboden unter ihr auftun könnte. Sie fand die Aktion eigentlich eher peinlich als lustig, mußte dann aber trotzdem kichern, zumal Caspar sie ausgesprochen verwirrt ansah. »Ja, also, ich habe jetzt irgendwie nichts zu essen mitgebracht, aber ich könnte Hein fragen, ich glaube, der hat noch eine Gurke und ein paar Radieschen dabei.« Das war zuviel. Paula, Gretchen und Gabi wälzten sich lachend auf dem Boden.
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Am Abend war es endlich soweit. Caspar saß neben Paula auf der Decke, die anderen waren weit weg. Das war Caspars große Chance! Sie hatten sich auf den kleinen Bootssteg verzogen, wo sie ihre Ruhe hatten. Die Grillen zirpten, die Vögel zwitscherten, die Silhouette des romantischen Städtchens Heidelberg war im Hintergrund zu ahnen. Die Sonne ging langsam unter und tauchte die Welt in warmes, orangefarbenes Abendlicht. Ganz schön kitschig. Aber wer würde in so einer Situation schon kritisch sein? Caspar küßte Paula zärtlich. Sie lagen still nebeneinander und genossen die abendliche Ruhe. Er hauchte einen Kuß auf ihre Lippen, fuhr ihr mit den Fingern durch das Haar, schaute ihr verliebt in die Augen. Dann beugte er sich ein wenig vor und küßte Paulas nackte Schulter. Paula fragte nachdenklich: »Sag mal... weißt du, ob's in Heidelberg ein Krankenhaus gibt mit der Abkürzung AAA.i?« Caspar hielt inne. Seine Augen blitzten für einen kurzen Augenblick, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.
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»Mit Ausrufezeichen?« fragte er und tat halbwegs desinteressiert. »Ja!« bestätigte Paula aufgeregt. »Woher weißt du das?« »Es gab da mal so 'nen Ärztebund«, erklärte Caspar. »Die Antihippokraten. Wo hast 'n das gesehen?« »Auf 'ner Leiche«, verriet Paula. »Und es sah aus wie ein Brandzeichen.« »Hm. Muß was anderes sein«, befand Caspar. Außerdem wollte er jetzt weder über Leichen noch über Brandzeichen oder Bruderschaften reden. Ihm stand der Sinn nach ganz anderen Dingen! Sanft schob er Paulas Haar beiseite und küßte ihren Nacken. »Antihippokraten sind nämlich verboten worden«, murmelte er beim Küssen beiläufig. »Die gibt's nicht mehr!« flüsterte er ihr suggestiv ins Ohr. Damit sollte das Thema ja wohl erledigt sein. Dann endlich wanderten seine Lippen über ihre Wange zu ihrem Mund. Seine Zunge teilte ihre Lippen, sein Atem ging schwerer, als er begann, sie unendlich langsam und lustvoll zu küssen. Er hob eine Hand und ließ die Finger von der Schulter über das Schulterblatt in die Richtung von Paulas Brüsten gleiten. Aber Paula riß die Augen auf und löste sich ruckartig von Caspar. »Das ist mir zu kitschig!« beschwerte sie sich. Sie setzte sich auf. »Häh?« fragte Caspar entgeistert. Was war denn jetzt wieder dazwischengekommen? Paula sprang auf und eilte zu ihrem Fahrrad, das an einen nahen Baum gelehnt stand. Caspar schaute ihr vollkommen entgeistert nach. »Ich kann das echt nicht, bei Sonnenuntergang am Teich rumschmusen, und die Grillen zirpen«, rief Paula. »In Heidelberg!« Caspar runzelte die Stirn und fragte: »Wenn man sich küßt, ist das kitschig?« Da kam er nun wirklich nicht mehr mit. »Komm, du weißt doch, was ich meine«, sagte Paula abwehrend. »Kann es sein«, fragte Caspar beleidigt, »daß es dir leichter fällt, mit toten Männern rumzumachen als mit lebenden?« Er schaute Paula herausfordernd an. Paula war bereits auf ihr Rad gestiegen. Sie setzte zu einer zornigen Antwort an, klappte dann aber den Mund doch einfach wieder zu. Sie radelte los und murmelte: »Idiot. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (78 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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So ein Idiot.« Dann drehte sie sich doch noch um und rief in Caspars Richtung laut über die Schulter: »Arschloch!« Wütend trat sie in die Pedale. Caspar grölte ihr trotzig hinterher: »Stimmt's, oder hab ich recht?« Aber Paula kümmerte sich gar nicht mehr um ihn. Was für ein Blödmann. Also wirklich. Und mit so einem hatte sie den halben Tag verschwendet, statt zu lernen!
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Gretchen betrachtete lächelnd den nackten Mann in dem Anatomieatlas, der vor ihr auf dem Tisch in der Unibibliothek lag. Sie lächelte dabei zufrieden vor sich hin. Muskulöse nackte Männer gefielen ihr einfach immer. Paula saß auf dem Arbeitsplatz neben ihr und versuchte angestrengt, sich zu konzentrieren, denn im Gegensatz zu Gretchen blätterte sie nicht nur zum Vergnügen in Medizinbüchern, sondern forschte wirklich ernsthaft. Vor ihr lagen ein halbes Dutzend alte Schwarten, alle aufgeschlagen. Hat die mich jetzt eigentlich angelogen mit ihrem Testergebnis, dachte sie genervt, oder lernt die heimlich? Gretchen schien sich - wenn sie überhaupt mal in der Bibliothek auftauchte - immer bloß die Bilder anzuschauen. Wie die es geschafft hatte, die bundesweite beste Arbeit beim Robert-Koch-Wettbewerb zu schreiben, war Paula immer noch unklar. Hochmut kommt vor dem fall, hatte ihr Vater immer gewarnt, wenn Paula mit lauter hochfliegenden Ideen von ihrem Großvater zurückkehrte. Für diesen Satz hatte sie ihn gehaßt! Nicht nur für diesen ... aber für diesen ganz besonders. Das ist kein Hochmut, sondern Selbstvertrauen, hatte ihr Großvater gekontert, wenn sie ihm davon berichtete, und Selbstvertrauen ist das Wertvollste, was ich dir mit auf deinen Weg geben kann! Wie recht er hatte! Aber vielleicht hatte ihr Vater ja ausnahmsweise einmal auch recht, dachte Paula. Sie schien Gretchen unterschätzt zu haben. Bloß weil sie blond war und nicht so hart arbeiten mußte wie Paula, war sie eben doch weder doof noch unfähig - im Gegenteil! Paula war sogar ein bißchen neidisch auf Gretchens Begabung. Ihre Mitbewohnerin konnte einfach beides: file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (79 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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Ärztin werden und Spaß haben! Paula dachte daran, wie sehr ihre Mutter sich freuen würde, wenn sie diese Fähigkeit auch hätte ... Von draußen schien helles Sonnenlicht durch die großen Fenster herein. Das Campusgelände war ruhig und nahezu menschenleer. Paula hatte Gretchen gerade von ihrem Zusammenstoß mit Caspar erzählt - und von diesem rätselhaften Geheimbundzeichen, das sie an Davids Knöchel entdeckt hatte: AAA! »Ja, und?« fragte Gretchen nun neugierig und schaute auf. »Stimmt's?« »Wie? Was?« fragte Paula verständnislos. Dann fiel der Groschen. Gretchen meinte Caspars Spruch, daß sie besser mit toten Männern könnte als mit lebendigen. »Eine Frechheit ist das«, beschwerte sie sich. »Dieser Idiot. Der kann mich echt...« Paula war richtig sauer. Aber sie hatte eigentlich sowieso gar keine Lust mehr, über diesen peinlichen und unangenehmen Vorfall zu sprechen. »Auf jeden Fall«, wechselte sie daher das Thema, »ist AAA! die Abkürzung für Age Actabile, Antihippocrate! Sie deutete auf die entsprechende Stelle in ihrem Buch und schaute herausfordernd zu Gretchen hinüber. >»Mach das Machbare« fragte Gretchen nach. Was sollte das jetzt heißen? Paula nickte. »Richtig«, bestätigte sie. »Also, es steht jetzt nirgends was Genaues, ist ja schließlich auch ein Geheimbund.« Sie schaute wieder in das Buch, dann erklärte sie: »Aber das Ganze ist so wie eine Mischung aus Freimaurern und Studentenverbindung, mit ollen Ritualen und Logen und so Kram.« Sie zeigte auf eine Zeichnung in ihrem Buch. Gretchen beugte sich zu ihr herüber. Auf dem alten Stich saßen einige Studenten in altmodischem Aufzug auf Bänken in einem düsteren Zimmer und lauschten aufmerksam einem alten Mann, der von einem Pult aus eine Rede hielt. An den Wänden brannten Kandelaber, und in Regalen an den Wänden standen Bücher und Präparate. Sah nicht gerade gemütlich aus. Paula fuhr fort: »Der Punkt ist, im Gegensatz zu Ärzten, die sich den hippokratischen Idealen verpflichten - also
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Eid des Hippokrates, helfen, heilen, blablabia -, sind die Antihippokraten voll auf Forschung.« Paula blätterte um und deutete auf eine Textpassage oben auf der nächsten Seite. »Da«, las sie vor: »Experimentelle Tötung einzelner zur Lebenserhaltung vieler. Hart, was?« Sie schaute wieder Gretchen an. Gretchen nickte erstaunt. Was es alles gab. Paula las weiter: »Gegründet im 16. Jahrhundert, letzte Blütezeit im Dritten Reich, heutzutage vereinzelt bekanntgewordene Fälle antihippokratischer Aktivitäten in den Bereichen Genforschung, künstliche Fortpflanzung, Pharmakologie und so weiter. Ein Zentrum der Antihippokraten zu Beginn des Jahrhunderts und in der Nazizeit war ...« Paula hielt erstaunt inne. Das war doch nicht zu fassen! Sollte an der ganzen Sache etwa doch etwas dran sein? Gretchen schaute sie erwartungsvoll an. »Ja?« Paula flüsterte geschockt: »... Heidelberg!« »Und David ...?« fragte Gretchen gespannt. »Was hatte der damit zu tun?« »Na, David war doch ein ideales Opfer für verbotene Experimente«, erklärte Paula nun triumphierend. »Junger Patient, seltene Krankheit, fortgeschrittenes Stadium, musterhafter Verlauf.« »Sch-sch!« machte Gabi, die eine Reihe hinter Gretchen und Paula saß. Paula schaute sich um. Neben Gabi saß Singh, der indische Austauschstudent, der ihnen am ersten Tag den blöden Streich in der Anatomie gespielt hatte. Auch er guckte streng zu ihnen herüber. Sie waren schließlich in der Bibliothek, quatschen konnten sie doch wohl auch im Studentencafe. Die beiden haben es gerade nötig, dachte Paula genervt. Ist doch sowieso vergebene Liebesmüh, ob die nun hier rumsitzen oder ein Sack Reis fällt um. Vertrauen in die
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Fähigkeiten anderer zählte nicht zu ihren herausragenden Eigenschaften. Auch in dieser Hinsicht ähnelte sie ihrem Großvater. Gretchen flüsterte ungerührt: »Und du glaubst also, daß Heidelberger Ärzte verbotene Experimente ...« Sie riß theatralisch die Augen auf, als wäre ihr gerade ein gleißendhelles Licht aufgegangen. »Natürlich!« flüsterte sie dann ehrfürchtig. Paula beugte sich gespannt zu Gretchen hinüber. Gretchen verkündete mit einem breiten Grinsen: »Mein Durchfall! Ein derartiger Dünnschiß muß einfach antihippokratisch sein!« Jetzt fing Gretchen an zu kichern. Paula runzelte die Stirn. Gabi und Singh schauten genervt zu ihnen herüber. Gretchen klappte den Anatomieatlas zu und sagte entschieden: »Nein, Paula. Ehrlich. Es juckt mich auch so, ich glaub, ich hab schon ein Brandzeichen am Arsch!« Gretchen begann jetzt über ihren eigenen Witz richtig laut zu gackern. Paula kniff säuerlich die Lippen zusammen und sagte gar nichts mehr. Gretchen stand auf, packte ihr Buch und brachte es kichernd zurück. Paula schaute ihr hinterher. Wir werden ja sehen, dachte sie. Wir werden ja sehen, wer recht hat! Irgend etwas ist hier faul, da war sie ganz sicher. Ob Gretchen ihr nun glaubte oder nicht.
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Paula rief Bernie von dem Kartentelefon im Gang des Studentenwohnheims aus an. Da hatte sie file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (82 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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wenigstens ihre Ruhe. Dachte sie. Sie hatte den Hörer zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt und machte sich auf dem Block neben dem Telefon Notizen. Der Stift zu dem Block hing an einem Band, damit ihn keiner mitnahm. »Wie schreibt man das?« fragte Paula gerade. »Pro-midal?« »Genau«, bestätigte Bernie und schluckte den letzten Bissen seiner Pizza runter. Paula hatte ihn beim Essen erwischt, aber es war auch nicht ganz einfach, Bernie nicht beim Pizzaessen zu erwischen; glücklicherweise waren seine beiden anderen Hobbies, Brüste und Aliens, nicht so einfach und billig ins Haus zu bestellen ... »Promidal«, wiederholte er nun. »Wie man's spricht. Wurde von Tierpräparatoren verwendet«, erklärte er dann. »Ammoniakbasis, läßt das Blut plastinieren, indem es ihm alles Salz entzieht. Du spritzt es dem noch lebenden Tier, damit es der Blutkreislauf auch noch bis in die letzte Zelle transportiert - abtrocknen lassen, und fertig ist das Präparat. Vereinfacht gesagt.« »liiiii!« machte Paula angeekelt und rümpfte sie Nase. Das war nun wirklich abartig! Und sowas hatte man mit David ... Nein, sie wollte lieber nicht einmal daran denken! In diesem Augenblick kam von allen Studenten in dem ganzen verdammten Wohnheim ausgerechnet Caspar um die Ecke. Er hielt seine Telefonkarte in der Hand, blieb aber abrupt stehen, als er Paula entdeckte. Einen Augenblick sah es so aus, als wollte er sich umdrehen und wieder gehen, aber dann überlegte er es sich anders. Mit provozierendem Gesichtsausdruck lehnte er sich mit verschränkten Armen an die Wand und starrte Paula an, der sein Auftauchen ganz offensichtlich unangenehm war. Bernie, der vom Duell der Blicke natürlich nichts ahnen konnte, erklärte derweil weiter: »Promidal ist verboten worden, Tierschutz und so. Je mehr sich das Zeug im Körper des Viehs durchsetzt, um so dicker wird das Blut, um so schwerer werden die Bewegungen, und irgendwann ... Bingo!« Moment mal, hatte er gerade wirklich
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einen ganzen Satz ohne Unterbrechung aussprechen dürfen? Und das bei Paula Henning? Irritiert fragte Bernie: »Paula? Bist du noch dran?« Paula war gerade ausreichend damit beschäftigt, Caspars Gestarre standzuhalten. »Ja, ja«, murmelte sie geistesabwesend in den Hörer. Grund genug für Bernie, weiter zu erklären: »Chemisch genial einfach strukturiert - du kannst es im Prinzip mit einfacher Salzlösung neutralisieren.« Dann machte er eine Pause und stellte schließlich die alles entscheidende Frage: »Bloß ... wie kommt es in das Blut von deinem Freund.« »Mmh-mmh«, entgegnete Paula unerwartet. Noch ein letzter Blick auf den störrischen Caspar, dann war ihr klar, was sie tun mußte. Na warte, Bürschchen! »Und ich mich auf deinen knackigen Hintern!« Caspar schaute überrascht. Genau das hatte Paula erreichen wollen. Bernie - am anderen Ende der Telefonleitung – war ebenfalls verblüfft. Knackiger wie bitte? Er sah sich verlegen um und strich sich über die ungewaschenen und etwas zu langen Haare. Dann fegte er ein paar Pizzakrümel von seinem Bauch und fragte verwirrt: »Paula? Paula, bist du noch dran?« Sie redete sonst nie so mit ihm! Paula kümmerte sich jedoch nicht weiter um den armen Bernie. Sie zog ihre Show für Caspar ab. Sie gurrte und schnurrte, kicherte und flüsterte ins Telefon. Bernie wurde schamrot und sagte gar nichts mehr. Aber es gefiel ihm, was Paula da so für Geräusche von sich gab. Irgend etwas stimmte da zwar nicht. Entweder war Paula von Außerirdischen besessen, oder ... oder ... jedenfalls meinte sie ganz bestimmt nicht ihn! Er hatte schließlich gar keinen knackigen Hintern. Aber trotzdem: Warum für eine 190er-Nummer bezahlen, wenn er jetzt nur zuzuhören brauchte? Zufrieden lehnte Bernie sich zurück, schloß die Augen und genoß. Caspar schaute demonstrativ gelangweilt weg. Was ging ihn schließlich das telefonische Gebalze dieser zickigen Schnepfe an? Aber trotzdem wurmte es ihn, das mußte er zugeben. Paula murmelte schließlich noch: »... ja, ich dich auch«, schmatzte zwei Abschiedsküßchen in den Hörer und legte endlich auf. Caspar hatte sich wieder beruhigt und schaute sie mit seinem normalen, etwas herablassenden Blick an. Paula file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (84 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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lächelte unverbindlich zurück, riß das Blatt mit ihren Notizen vom Block, faltete es, steckte es in die hintere Hosentasche und ging ganz locker an Caspar vorbei. »War mein ... Vater.« Caspar starrte sie vollkommen perplex an und sagte kein Wort.
Paula verschwand um die nächste Korridorecke und grinste breit. Zufrieden boxte sie sich mit der rechten Hand in die linke und stellte fest: »Ha! Ihm ist keine blöde Bemerkung eingefallen! Ich glaub's nicht! Einmal kein arrogantes Grinsen!« Äußerst zufrieden ging sie weiter in Richtung ihres kleinen Apartments, das sie mit Gretchen teilte. Dort hopste ihre Mitbewohnerin fröhlich in Unterwäsche herum. Das Radio war an, Gretchen hörte die aktuellen Charts. Paula drückte die Tür auf und wollte Gretchen gleich von ihren neuesten Informationen erzählen: »Gretchen, weißt du was ...?« setzte sie an. Dann aber erhaschte sie durch die halboffene Tür zu Gretchens Schlafzimmer einen Blick auf einen nackten, knackigen Po. »Hallo, Hein!« rief Paula freundlich. Gretchen schaute Paula vorwurfsvoll an und schüttelte hektisch den Kopf. Der nackte Mann, der auf dem Bauch auf Gretchens Bett lag, sah auf. Paula erkannte den Studenten, der ihnen das Zimmer zugeteilt hatte. Oops ... »Oh!« korrigierte sie sich fröhlich. »Hallo, Phil!« Was ging es schließlich sie an? Gretchen erklärte schelmisch: »Wir haben ein bißchen Anatomie gemacht.« Phil stand auf, schlang sich ein Handtuch um die Hüften und kam aus Gretchens Zimmer in die Küche. Er sah tatsächlich nicht schlecht aus. Über Gretchens Moral und Interessen konnte man denken, wie man wollte, aber sie bewies Geschmack. Paula ging durch die zweite Tür in ihr kleines Reich und packte ihre Arbeitsunterlagen zusammen. Währenddessen erklärte sie Gretchen: »Wegen David, ich hab jetzt den histologischen Befund. Promidal heißt das Zeug, und ...« Gretchen hörte gar nicht recht zu. Im Vorbeigehen erklärte sie bloß Phil, der verständnislos guckte: file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (85 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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»Paula ist nämlich einer Verschwörung auf der Spur. Ärzte, die ihren Patienten Notizen auf den Arsch tätowieren.« Phil schaute interessiert zu Paula ins Zimmer. Tätowierungen fand er immer gut, und noch dazu auf dem Arsch? »Also, wenn du mal auf meinem nachsehen möchtest...« Paula ließ sich von Gretchens Zweifeln nicht anstecken, ignorierte Phils übliche Peinlichkeiten und erläuterte ungerührt: »Antihippokraten. Ich frag mich nur, was die an David ausprobieren wollten.« Mittlerweile hatte sie ihre Sachen fertiggepackt und verkündete Gretchen und Phil: »Also dann, ich muß noch mal in die Anatomie. Entschuldigung für die Störung.« Gretchen winkte ab: »Keine Ursache, Phil hat eh keinen hochbekommen.« Phil verdrehte peinlich berührt die Augen, stöhnte und wankte wieder zurück auf Gretchens Bett. Gretchen rief ihm eilig nach: »Phil! Hormone! Blutdruck! Schwellkörper! Wir sind doch alle Mediziner! Mein Gott!« Daß Männer aber auch immer so performanceabhängig waren! Sie schüttelte verständnislos den Kopf und schaute Paula an. »Wir wollen essen gehen und es dann noch mal probieren. Hast du Lust? Also, auf essen gehen, meine ich?« »Nein, aber trotzdem danke«, lehnte Paula ab. »Viel Glück«, wünschte sie dann, »und ... äh ... viel Spaß.« Gretchen grinste. Sie würde das Problem schon in den Griff bekommen. Daran zweifelte sie nicht im geringsten.
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Der junge Mann, der sich Caspar nannte, plauderte ganz natürlich und ungezwungen mit seinen Kommilitonen Franz, Singh, Ludwig und Stella. Niemand bemerkte etwas. Sie alle glaubten, er gehörte zu ihnen. Das mußte auch so sein, denn sonst war sein Plan zum Scheitern verurteilt. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (86 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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Als Paula vorbeikam, schaute Caspar kurz hoch, sagte aber kein Wort. Sie durfte ihm auf gar keinen Fall auf die Schliche kommen. Und dabei war sie schon verdammt nah dran. Näher als die anderen. Nur: Wieviel wußte sie schon? Was verheimlichte sie ihm? Mußte er Professor Dr. Ewald Hennings Nichte zum Schweigen bringen?
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Die Anatomiestunde war bereits zu Ende, die Helfer räumten schon die Leichen weg. Professor Grombek besprach sich am Rande des Saales mit dem vollbärtigen Präparator. Sie standen außer Hörweite, niemand konnte verstehen, was sie miteinander abmachten. Paula steuerte geradewegs auf den Professor zu. Jetzt oder nie! »Herr Professor«, wandte sie sich aufgekratzt an Grombek, als dieser aufschaute. »Gut, daß ich Sie noch sprechen kann. Können Sie sich vorstellen, warum einem Herzpatienten Promidal injiziert wird?« Grombeks Blick flackerte einen Augenblick eigenartig, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. Paula hatte seine kurze Unsicherheit aber sehr wohl bemerkt. Grombek gab sich unwirsch: »Promidal?« wiederholte er zweifelnd. »Ganz unwahrscheinlich. Ich bin ja kein Herzspezialist, aber ...« Der Präparator war einen Schritt zurückgetreten und starrte Paula mürrisch an. Paula erklärte: »Der Junge mit dem Tumor, ich habe sein Blut analysiert, und ...« Grombek unterbrach seine Studentin; »Hatten wir den Fall nicht abgeschlossen?« fragte er drohend. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (87 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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»Wollen Sie mir etwa verbieten, etwas zu lernen?« konterte Paula und schaute Grombek herausfordernd an. Ungehalten schnappte der Professor; »Sind Sie mit Ihrem Forschungsprojekt nicht ausgelastet? Haben Sie überhaupt schon alle histologischen Befunde?« Paula kam sich vor wie in der fünften Klasse. Kleinlaut gab sie zu: »Ich wollte mich morgen früh vor Vorlesungsbeginn darum kümmern.« Professor Grombek hatte derweil schon sein Notizbuch und einen Stift herausgezogen. Er hatte sich wieder gefangen und fest im Griff. Was immer diese neugierige Studentin da herausgefunden haben mochte, mußte unter den Teppich gekehrt werden. »Apropos«, fragte er, um sie abzulenken und sich etwas Zeit zu verschaffen, »können Sie mir mal schnell aufzählen, welche Formen der Leukämie ...« Da wurde Grombek von einem zornigen, kurzen Aufschrei unterbrochen. Paula und er sahen sich um. Caspar stand an einem der Seziertische und schaute auf seine blutende Hand herunter. Väterlich herablassend dröhnte Grombek: »Sie haben sich versehentlich selbst geschnitten?« Caspar hielt dem Blick des Professors stand. »Die Messer sind scharf«, erklärte er bloß und guckte arrogant. »Komm, laß mich das mal machen.« Paula lächelte nervös; besser diesem Idioten die Hand verbinden als eine spontane mündliche Prüfung bei Grombek absolvieren. Sie führte Caspar zu einem der kleinen Erste-Hilfe-Kästchen an der Seitenwand des Saales. Auf dem weißen Kasten prangte ein rotes Kreuz, die Dinger paßten optisch überhaupt nicht in den großen Edelstahlsaal. Grombek hatte sein Gespräch mit dem Präparator wiederaufgenommen und redete eindringlich auf den Mann mit dem Vollbart ein. Caspar nickte grinsend in Grombeks Richtung und sagte selbstironisch: »Ich glaub, er mag mich.« Paula hatte steriles Material aufgelegt und wickelte gerade etwas Gaze um Caspars Handteller. Sie bemerkte kühl: »Ich bin jetzt draufgekommen. Du bist so überheblich, nicht weil du so gut bist, sondern weil du so doof bist.« »Psst!« machte Caspar und lächelte. Dann schaute er sich um, ob wohl jemand die schreckliche Wahrheit mitbekommen hatte. Aber es schien sich niemand für sie zu interessieren.
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Caspar schaute Paula einen Augenblick dabei zu, wie sie seine Hand verband, dann sagte er freundlich: »Du machst das gut.« Paula guckte verständnislos hoch. »Das hier«, erklärte Caspar und nickte in Richtung seiner Hand. »Ja, ja«, bestätigte Paula ironisch, »Pflasterkleben, das können wir Frauen halt.« Aber Caspar widersprach: »Nein, ich meine nur, du faßt einen gut an. So mit den Händen ... und so ...« Zum zweiten Mal, seit Paula ihn kannte, schienen ihm die Worte zu fehlen. Das wurde ja fast schon zur Gewohnheit ... Paula lächelte. Caspar fragte verschmitzt: »Sag mal, so ganz allgemein: Findest du's hier eigentlich kitschig?« Er schaute sich um in dem stahlglänzenden Anatomiesaal. Paula grinste. Sie verstand sofort, worauf er hinauswollte. Und sie war nicht ernsthaft abgeneigt. Trotz aller Arroganz begann sie Caspar zu mögen. Caspar beugte sich gerade ein wenig vor, als Grombek streng von der anderen Saalseite forderte: »Frau Henning?« Caspar und Paula zuckten auseinander. Leise und schnell fragte Caspar: »Interessiert dich das mit den Antihippokraten immer noch? Ich komme dann heute abend auf 'nen Sprung vorbei ... halb elf, elf.« Paula nickte nur eilig, dann lief sie zurück zu Professor Grombek. Ihre Gedanken schienen sich selbst überholen zu wollen. Caspar glaubt mir. Er glaubt mir! Aber was weiß er? Und warum weiß er überhaupt irgend etwas...
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Phil und Gretchen amüsierten sich köstlich beim Essen. Genaugenommen hieß das: Gretchen amüsierte sich köstlich, und Phil hoffte, daß alles gutging. Aber verdammt cool war ihre Idee schon! Sie saßen in einem der edelsten Schuppen der Heidelberger Altstadt. Phil trug Jeans, Turnschuhe und ein graues Sweatshirt. Gretchen hatte eine weit offenstehende Bluse, einen zu kurzen Rock und hochhackige Schuhe gewählt. Laut schlürfte Gretchen eine der Austern von dem großen Teller, den sie bestellt hatte, und erzählte Phil: »Und ich sage noch, schneid nicht in das Auge! Das Lid war schon ganz schwarz, weil die Leiche länger rumgelegen hatte ...« Sie ließ die Austernschale klappernd auf den Teller fallen und griff sich eine neue Auster, schlürfte genießerisch und krähte dann lauthals: »Und er: >Nein, nein, ich kann das!< Aber dann ist ihm noch das file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (89 von 171) [29.12.2000 14:24:36]
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halbe Gehirn an den Mantel gespritzt, weil, das war ihm runtergefallen!« Gretchen legte den Kopf in den Nacken und lachte. Die Gäste an den Nachbartischen guckten ebenso unglücklich wie die Kellner. Phil konnte sie gut verstehen – selbst er als angehender Mediziner fand Gretchens Stories ekelhaft. Aber genau das sollten sie ja auch sein. Gretchen fuhr ungerührt fort: »Aber wie auch immer, er schneidet also in das schwarze Lid hinein, und ...« Eine Stunde später verließen Phil und Gretchen laut lachend das Lokal. Einer der Kellner schimpfte noch böse hinter ihnen her. Hand in Hand liefen sie um die nächste Straßenecke. Phil fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte schon befürchtet, die würden die Polizei rufen. Gretchen erzählte kichernd: »Im >Vier Jahreszeiten< haben sie mir sogar mal Geld dafür gegeben, daß ich das Lokal sofort verlasse.« »Aber umsonst essen war doch auch okay?« »Und das Dessert?« forderte Gretchen ihn doppeldeutig heraus. Sie blieb stehen und musterte Phil fragend. Der packte seine Begleiterin plötzlich an den Schultern, zog sie dicht an sich heran und küßte sie leidenschaftlich. Der Kuß war okay, aber Gretchen wollte mehr. Als Phil einmal nach Luft schnappen mußte, befand sie: »Wow, Sweetie! Du bist ja ein ganz Wilder. Aber das Gretchen läßt nur wirklich harte Hänseis rein.« Sie zwinkerte neckisch. Phil schaute sie verdutzt an. »Wie meinst du das denn jetzt?« vergewisserte er sich. Gretchen zuckte mit den Achseln und ließ eine Hand zwischen seine Beine gleiten. »Anatomietest«, verkündete sie mit scheinheiligem Bedauern in der Stimme. Aber das war endlich mal ein Test, vor dem Phil keine Angst hatte. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, diesmal ausgezeichnet vorbereitet zu sein - trotz seines peinlichen und völlig unerklärlichen Blackouts am Nachmittag. Gretchen fand, was sie suchte, griff prüfend zu und grinste breit. »Hallo, Seemann!« Mehr Ansporn brauchte Phil nicht mehr; er packte Gretchen an der Hand und lief mit ihr fröhlich in Richtung Uni. Das Gelände war nicht weit. Sie kicherten beide wie zwei Kinder, die sich gerade die dicksten Kirschen aus Nachbars Garten geklaut hatten. Und dabei ging es hier ganz sicher nicht um Obst.
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Und in einen Garten wollten sie auch nicht, sondern in den Anatomiesaal ... zum Anatomietest!
SKALPELL [lateinisch]: das, ein chirurgisches Messer mit feststehender, zweckmäßig gebogener Klinge (ein- oder beidseitig schneidend, gebogen, spitz oder geköpft, lanzett- oder sichelförmig
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Paula war genervt. Was hatte es nur mit den Antihippokraten auf sich? Was war mit David passiert? Und warum wollte Grombek ihr unbedingt verbieten, der Sache weiter nachzugehen? Was hatte der berühmte Professor Grombek zu verbergen? Allein und erschöpft trottete Paula durch die einsamen Gänge des Neuen Trakts, über das nachtdunkle Unigelände und schließlich durch die nur schwach beleuchteten Flure im Wohnheim. Auf dem ganzen Weg begegnete sie keinem einzigen Menschen. Es war, als ob sie ganz allein auf der Welt wäre. Alle anderen waren tot. Oder wichen ihr aus. Mieden sie wie die Pest. Schließlich erreichte Paula ihr Apartment und schloß die Tür auf. Das Licht war aus, Gretchen und Phil waren offenbar noch unterwegs. Den dunklen Schatten, der im letzten Augenblick – als ihr Schlüssel schon im Schloß klickte - in Gretchens Zimmer geschlüpft war, bemerkte sie nicht. Ebensowenig wie die dunklen Augen, die durch einen schmalen Türspalt jede ihrer Bewegungen genau beobachteten. Paula schaltete das Licht ein. In ihr Gesicht hatten sich tiefe Falten gegraben, sie sah müde und abgespannt aus. Sie zog ihre Jacke aus und warf sie achtlos über die Lehne eines der beiden Küchenstühle. Dann öffnete sie den Kühlschrank, griff sich eine Flasche Milch und nahm einen tiefen Schluck. Das tat gut! Sie stellte die Milch zurück, klappte den Kühlschrank
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zu, nahm eine Schachtel Cracker vom Küchentisch und schlurfte damit in ihr Zimmer. Sie schob sich einen Cracker in den Mund, streifte im Gehen die Schuhe ab und schubste sie beiseite. Dann knipste sie noch das Licht in der Gemeinschaftsküche aus, schaltete das in ihrem Zimmer ein und ließ sich müde auf ihr Bett sacken. Paula griff nach einem Arbeitsheft, das auf dem Nachttisch lag: Ihre Aufgabe für den Semesterferienkurs. Grombeks Leukämie-Aufgabe. Anspruchsvoll und herausfordernd, aber im Augenblick beschäftigten sie ganz andere Dinge. David. Caspar. Lustlos blätterte Paula in ihren Aufzeichnungen herum. Dann legte sie das Heft wieder weg. Sie drückte auf die Alarmtaste ihres Radioweckers, um die Weckzeit zu überprüfen. Schließlich nahm sie einen weiteren Cracker aus der Packung und schob ihn sich in den Mund. Komisch ... Paula runzelte die Stirn. Irgend etwas stimmte nicht. Aber was? Irritiert sah sie sich um. Sie bemerkte nicht die dunkle Gestalt, die aus Gretchens Zimmer zurück in die Küche geschlichen war und sie durch den Türspalt weiterhin genau beobachtete. Aber sie bemerkte die kühle Feuchtigkeit an ihrem Po. Paula rutschte ein wenig hin und her. Es war irgendwie ... anders ... Beunruhigt verlagerte sie ihr Gewicht auf die linke Seite und tastete mit der rechten Hand das Bettlaken ab. Mit der linken schob sie sich noch einen weiteren Cracker in den Mund. Sie biß ab, dann merkte sie, daß ihre Hand auf etwas Feuchtes gestoßen war. Was... Paula zog ihre Hand wieder zwischen Decke und Laken hervor, betrachtete sie argwöhnisch - und sprang schreiend auf: Ihre Finger waren voll Blut! Panisch wirbelte Paula herum und betrachtete geschockt ihr Bett: Dort, wo sie gessen hatte, war das Bett voller Blut! Es schien durch die Bettdecke hervorzuquellen, als läge darunter statt einer Matratze eine Leiche. Paula riß die Decke beiseite. Das ganze Laken war rot, auf dem Bett stand eine halbversickerte Lache leuchtend rotes Blut. An den Rändern begann es bereits zu gerinnen und zu verkrusten. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (92 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Entsetzt knöpfte Paula ihre Jeans auf und zerrte sie herunter, sie drehte die Hose um, dann schaute sie über ihre Schulter auf ihren Po - erleichtert stellte sie fest, daß der Blutfleck nur äußerlich war. Paula atmete schwer und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Zuerst wusch sie sich angeekelt die Hände. Was ist das für Blut? Wo kommt es her? Wie kam es in mein Bett? Was sollte das alles? Hatte sie sich jetzt mit irgendeiner Krankheit infiziert? Wieso ...? Zahllose Gedanken rasten ihr durch das Hirn. Paula nahm sich zusammen, konzentrierte sich, atmete tief durch. Dann trat sie wieder an ihr Bett heran und untersuchte es genauer. Trotz des Blutes konnte sie drei lange, scharfe Schnitte in ihrem Bettuch ausmachen. Sehr merkwürdig. Die waren da ganz gewiß nicht zufällig hineingeraten. Hatte irgendwer ihr einen dummen Streich gespielt? Steckte etwa wieder Phil dahinter? Hatte er sich vielleicht nur an Gretchen herangemacht, um unbemerkt in Paulas Zimmer zu gelangen? Was hatte er noch am ersten Tag gesagt? Dich krieg ich auch noch dran, oder so. Paula ließ sich auf Hände und Knie herab und schaute unter das Bett. Das Blut sickerte bereits durch die Matratze und tropfte auf den Linoleumboden. Dort breitete sich langsam eine weitere Blutlache aus, die im Halbdunkel tiefschwarz aussah. Wie ein finsterer See, in dem alles versank. Aus dem es keine Rettung und kein Entkommen mehr gab. Hinter dem Blutsee standen drei merkwürdige Gegenstände nebeneinander; eine hölzerne Sanduhr, eine kleine alte Waage, wie man sie von Justitia-Darstellungen kennt, und eine Kerze, die mit einem bunten Wachsrelief verziert war. Alle drei Gegenstände hatten bereits etliche Blutspritzer abbekommen. Paula griff unter das Bett, packte die Kerze und zog sie hervor. Sie wischte das Blut ab und murmelte: »Ich hab das doch schon irgendwo mal gesehen.« Plötzlich fiel bei ihr der Groschen. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (93 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Paula sprang auf, stellte die Kerze ab und durchsuchte hektisch die Unterlagen auf ihrem Nachttisch. Schließlich fand sie, was sie suchte: einen abgegriffenen Band über die Symbolwelt der Antihippokraten, den sie aus der Bibliothek entliehen hatte. Eilig blätterte sie in dem Büchlein, das Rascheln der Seiten war das einzige Geräusch in dem totenstillen Zimmer. Schnell fand Paula, was sie suchte: einen alten Kupferstich, der Sanduhr, Waage und Kerze zeigte. Darunter stand Trinitas Unionis. »Trinitas Unionis ist die oberste Dreiheit«, las Paula laut, »die Sanduhr symbolisiert die Macht des Arztes, souverän über Leben und Tod zu entscheiden, die Waage die Aufgabe, den Wert des Lebens abzuwägen, ob erhalten, beenden oder anderweitig zu benutzen, und das Licht der Erkenntnis den Triumph der Wissenschaft über die Magie. Trinitas Unionis wird nur bei kardinalen Riten verwendet, Initiation, Exauguration und – in der Anfangszeit des Geheimbundes - den poenae sanguinis.« Paula kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Strafen des Blutes?« murmelte sie. »Was soll das denn heißen?« Aber sie war ganz offensichtlich auf der richtigen Spur. Aufgeregt blätterte Paula weiter. Sie entdeckte das Bild eines jungen Mannes, der ängstlich vor einem Bett stand, dessen Leintuch - wie ihres - dreimal längs geschlitzt war. Das Bett triefte bereits vor Blut, und vier verhüllte Männer gössen aus einer Kanne weiteres hinein. Der junge Mann hatte die Hände erschrocken vor den Mund geschlagen. Unter dem Stich stand: Abb. 27: Das nächste Blut soll dein eigenes sein! Paula überflog den Text zu dem Bild: »Bis ins frühe 18. Jahrhundert als Warnung an Verräter ... Schweigen oder Tod ... Ankündigung von Strafen ...« Ihr Blick wanderte auf die gegenüberliegende Seite. Dort war in der oberen Hälfte das Gesicht eines Mannes zu sehen, dessen Wange dreimal quer aufgeschlitzt wurde. Darunter stand: Abb. 28: Mit deinem eigenen Blut sollst du bezahlen! Und darunter fand Paula ein weiteres Bild, das ihr die Gepflogenheiten der Antihippokraten nahebrachte: Ein Mann wurde mit drei parallelen Schnitten durch Kehle, Brust und Bauch getötet - Abb. 29: Tod dem Feind des Bundes. Entgeistert starrte Paula in das
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Buch. Die waren ja nicht ganz dicht! Dann quietschte hinter ihr plötzlich laut ein Türscharnier, und sie fuhr zusammen. Ihr Herz schlug wie verrückt, und ihre Hände zitterten. Das Geräusch war zäh und unheimlich laut gewesen, wie in einem Gruselfilm. Paula hielt die Luft an, klappte leise das Buch zu und floh an die Wand neben ihrer Zimmertür. Sie lauschte. Nichts. Nichts. Doch, da! Schritte. Leise Schritte. Da schlich sich jemand an. Irgendwer war in der Gemeinschaftsküche. Aber er machte kein Licht an. Das war merkwürdig - Phil und Gretchen waren bestimmt nicht so leise. Paula sah sich panisch um. Was sollte sie jetzt tun? Sie entdeckte ihre blutbefleckte Bettdecke, die auf dem Boden lag, streckte ein Bein aus und zog sie mit den Zehen langsam und vorsichtig zu sich heran. Jetzt bloß keinen Laut! Ein dunkles Wesen drückte die Tür zu Paulas Zimmer ein wenig auf und steckte den Kopf herein. »Hallo?« sagte das Wesen. Paula sprang auf und warf dem Eindringling die blutige Decke über den Kopf. »Du Dreckschwein!« schrie sie panisch. »Da! Du Sau! Ich mach dich fertig! Ich hab ein Messer! Paß bloß auf, ich hab ein Messer!« Paula stellte der Gestalt ein Bein, warf sich auf sie und stürzte mitsamt ihrem Gegner krachend zu Boden. Wütend trat und schlug sie zu. Eine Stimme rief gedämpft unter der Decke hervor: »Hilfe! Paula! Spinnst du?« Die Stimme kam Paula bekannt vor. Sie hielt inne und riß die Bettdecke beiseite. Sicherheitshalber drückte sie dem Eindringling aber sofort wieder ihre Daumen gegen den Kehlkopf. »Was ... ?« röchelte Hein. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (95 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Hein? Aber Paula zitterte immer noch vor Wut und Angst. Sie schrie: »Was machst du in meinem Zimmer, du Drecksau?« Hein quetschte mühsam hervor: »Ist Gretchen da? Ich wollte nur mal mit ihr reden, weil ...« Paula dachte einen Augenblick nach. Dann beschloß sie, Hein zu glauben, ließ ihn los und stieg von ihm herunter. Was will der Idiot denn auch hier? Zornig deutete sie auf ihr Bett. »Hast du die Scheiße da gesehen?« fragte sie anklagend. »Da will mich irgendein Arschloch fertigmachen.« Aber Hein hörte ihr gar nicht zu. Er hatte sein von der Decke blutverschmiertes Gesicht mit den Händen bedeckt und schien zu schluchzen. Besorgt fragte Paula: »Was ist denn, Hein? Hab ich dich verletzt?« Hein schaute auf. In seinen Augen standen Tränen. »Es ist nur ... Gretchen ... ich glaube, sie liebt mich nicht mehr.« Paula wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Diese Kindereien - sie geht mit mir, sie geht nicht mehr mit mir, das war nicht ihre Welt. Trotzdem tätschelte sie Hein beruhigend die Schulter. »Ach, Hein, jetzt komm mal«, sagte sie mütterlich. Sie konnte ihm ja schlecht verraten, wer vorhin erst an Heins Stelle in Gretchens Bett gelegen hatte. Aber Hein war nicht so schnell zu beruhigen. Er lehnte sich an Paula und versuchte, sein Schluchzen zu verbergen, was ihm jedoch nicht gelang. Paula verdrehte die Augen. Sie hatte weiß Gott wichtigere Probleme als dieses kindische Liebesleid. Aber was sollte sie machen? »Ihr habt halt irgendwie Schwierigkeiten in eurer Beziehung«, behauptete sie. »Gretchen geht's, glaub ich, auch dreckig.« Hein schniefte.
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Und Paula ahnte ja gar nicht, wie unrecht sie hatte ...
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Gretchen kniete breitbeinig auf dem Seziertisch und ließ ihr Becken lasziv im Takt der Musik kreisen. Phil studierte in Heidelberg und kannte sich aus mit den Finessen des Anatomiesaales - er wußte, wo der kleine Ghettoblaster stand, wie man ihn anschloß, in welchem Schrank die Kassetten auf ihren Einsatz warteten. Jetzt kam er wieder aus dem kleinen Kämmerchen heraus, in dem er sich mit Franz und Singh bei dem Begrüßungsstreich für die drei Frauen im Kurs versteckt hatte. Bewundernd schaute er zu Gretchen herüber. Sie richtete sich ein wenig auf, nahm einen Schluck aus der inzwischen halbleeren Sektflasche, die sie auf dem Weg zur Uni noch kichernd an einer Tankstelle erstanden hatten und deren Korken Phil meisterhaft in den Heidelberger Himmel gejagt hatte. Sie schaute ihn vielsagend an. Phil kam zu ihr an den mittleren Tisch im Anatomiesaal. Die Musik hallte laut durch den großen Raum. Gretchen packte Phil am Kragen, zog ihn zu sich heran und küsste ihn mit aller Kraft. Auch er bewegte sich mittlerweile im Takt der Musik. Der Beat war treibend. Ihm war heiß. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (97 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Ein leichter Schweißfilm stand auf seiner Haut. Genüßlich begann Gretchen, sein Hemd aufzuknöpfen. Aber noch zog sie es ihm nicht aus. Mit einer Handbewegung forderte sie ihn auf, zu ihr auf den Tisch zu steigen. Sie packte ihn am Hemdkragen und zog ihn zu sich hoch. Phil gehorchte. Dann drückte Gretchen gegen seinen Oberkörper, so daß er nach hinten sackte. Er lag jetzt auf dem Rücken und schaute gierig zu ihr auf. Gretchen kniete über ihm. Jetzt knöpfte auch sie ihre Bluse auf. Zog sie aus. Darunter trug sie einen Spitzen-BH, der mehr offenbarte, als er verbarg. Gretchen beugte sich vor und küßte Phil auf die Brust. Sie küßte sein Brustbein herunter, seinen Bauch, sank tiefer. Phil legte den Kopf in den Nacken und schloß genießerisch die Augen. Gretchens Kopf glitt noch ein wenig tiefer zwischen seine Beine. Er zuckte plötzlich zusammen, ein Ruck ging durch seinen ganzen Körper. Phil schaute auf. Gretchen grinste ihm entgegen. Sie öffnete den Mund und streckte ihm die Zunge heraus: darauflag Phils Hosenknopf. Er hatte die Hose zwar ganz neu, aber was machte das schon in so einem geilen Augenblick? Sie schloß den Mund und spuckte den Knopf dann im hohen Bogen weg. Er klapperte auf den Boden und rollte in irgendeine Ecke. Gretchen grinste Phil provozierend an. Er packte sie gierig an den Schultern und zog sie zu sich herunter. Phil war jetzt wirklich - wie er es bereits am ersten Tag scherzhaft versprochen hatte - »phil«. Phil geil. Gretchen küßte ihn und sagte mit rauchiger Schlafzimmerstimme: »Auf dem Tisch habe ich heute eine aufgeplatzte Prostata gehabt...« Phil erstarrte, dann ließ er sich zurücksinken und stöhnte leise. Fuck! Er legte eine Hand auf seine Stirn und seine Augen, als bekäme er Kopfschmerzen. Gretchen schaute ihn erstaunt an. Dann fragte sie besorgt: »Habe ich was Falsches gesagt? Oh, das tut mir aber leid. Vorbei?« Zwischen ihren Beinen hindurch langte sie zwischen Phils Beine, um den Stand der Dinge zu überprüfen. Das Ergebnis war betrüblich. »Ach, Scheiße«, maulte Gretchen. »Daß die Dinger aber auch immer so sensibel sind. Aufgeschnitten sehen sie so unkompliziert aus!« »Gretchen ...!« stöhnte Phil anklagend. Diese Frau file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (98 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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kannte aber auch kein Erbarmen!
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Paula saß in Slip und T-Shirt in ihrem unbequemen Studentenheimsessel, Hein hockte im Schneidersitz auf dem Boden. Er quatschte sie schon seit fast einer halben Stunde mit seinem Liebeskummer voll. Paula langweilte sich, sie war müde, und wenn überhaupt, dann wollte sie klären, wer ihr diesen doofen Streich mit dem antihippokratischen Schweinkram gespielt hatte, statt sich hier Heins Betroffenheitsgefasel anzuhören. Fehlte nur noch der Wildkirschtee. »... weil Frauen sich oft einfach nicht die Zeit nehmen, einen Mann zu verstehen.« Ein angeschossenes Reh hätte nicht trauriger gucken können. »Ich bin ja jetzt kein toller Unterhalter oder so, wenn du verstehst, was ich meine?« Er schaute Paula fragend an. Paula konnte das nur bestätigen. »Mh-mmh«, nickte sie und unterdrückte ein Gähnen. »Aber ich bin sehr sensibel«, fuhr Hein fort, »und verletztlich, obwohl ich nach außen hin stark wirke, und file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (99 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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ich empfinde unheimlich viel für Gretchen.« Jetzt gähnte Paula richtig. Es ging einfach nicht anders. Sie gähnte so laut und ausgiebig, daß selbst Hein es bemerkte. »... äh ... bist du schon ... müde?« fragte er vorsichtig. Paula nickte, obwohl es ihr ein wenig peinlich war, dass Hein es bemerkt hatte. Aber nun war es sowieso zu spät. Es war ein harter Tag gewesen, und das Blut in ihrem Bett hatte ihr den Rest gegeben. In diesem Augenblick klopfte es an ihrer Zimmertür. Sie wurde einen Spalt aufgedrückt. Hindurch schob sich eine Hand mit einer Flasche Wein. Paula schaute verdutzt. Dann fiel es ihr wieder ein, und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Caspar! Der steckte prompt seinen Kopf herein und drückte die Tür noch ein wenig weiter auf. In der anderen Hand hielt er CDs, Cracker, Chips, Würfelpoker und – quasi als Alibi - ein medizinisches Fachbuch. Als er Hein auf dem Boden und Paula in Unterwäsche entdeckte, erlosch sein Lächeln schlagartig. »Oh, pardon«, sagte er verärgert. »Äh, nein, Hein wollte sowieso gerade ...« erklärte Paula und sprang auf. Caspar wehrte ab ... »Nein, nein, ich möchte nicht stören, wenn ihr noch was zu >bereden< habt.« Paula wandte sich direkt an Hein, der etwas begriffsstutzig dasaß. »Oder, Hein? Du wolltest doch gerade ...?« Hein rührte sich nicht. »Ist ja auch nicht so wichtig«, sagte Caspar beleidigt. »Vielleicht ein anderes Mal.« Er wandte sich ab und wollte schon die Tür hinter sich zuziehen. Paula sah streng auf Hein herunter und mahnte höhnisch: »Du kannst ruhig auch noch länger bleiben, Hein!« Da endlich kapierte der am Boden Zerstörte, was Paula wollte und daß er störte. »Ach so, nein. Ich geh dann
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vielleicht mal lieber.« Paula nickte. Hein stand auf. Caspar hatte bereits die Tür erreicht, die aus der Gemeinschaftsküche in den Flur führte. »Dann mal tschüs!« rief er noch über die Schulter. Paula eilte hinter ihm her auf den Flur und rief: »Caspar, warte mal! Du wolltest mir doch noch was sagen, wegen ...« Sie hielt inne. Sie wollte jetzt auch nicht quer durch das ganze Studentenwohnheim brüllen, worum es ging. Aber Caspar marschierte einfach weiter, winkte noch einmal resigniert zum Abschied und bog um die nächste Ecke. Hinter Paula kam nun Hein aus dem Zimmer. Er räusperte sich schuldbewußt. Paula sagte streng: »Ja, Hein! Das wird schon wieder!« und boxte ihm kameradschaftlich gegen die Schulter. Hein schnitt eine Grimasse und hielt sich die Schulter. »Au, Vorsicht!« sagte er. Mit einem raschen Griff schob Paula seinen T-ShirtÄrmel zurück und sah nach, was Hein so weh tat: Eine offenbar noch recht frische Schnittwunde über Oberarm und Schulter. Fragend schaute Paula Hein an. Hein scherzte bemüht: »Da hat 'ne Leiche zurückgeschnitten. Haha.« Aber nicht einmal er konnte über diesen müden Witz richtig lachen. Paula stimmte oberflächlich ein. »Hahaha. Also, dann ...« Hein nickte Paula noch einmal zu und sagte im Gehen: »Grüß mir Gretchen. Ich will ihr ja nicht weh tun müssen.« Paula hatte kaum mehr hingehört. Sie nickte bloß abwesend. Gerade hatte sie in weiter Ferne die Tür eines anderen Studentenzimmers zufallen hören. Das musste Caspar gewesen sein. Verdammt. Sie ärgerte sich richtig. Ohne genau zu wissen, warum, hatte sie sich doch irgendwie auf das Zusammensein mit ihm gefreut. Aber dann war Hein dazwischengekommen, und der bekloppte Scherz mit dem Blut in ihrem Bett ... Ach, verdammt, dachte Paula genervt, warum ist das Leben nur manchmal so kompliziert? Sie verlor ihr
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eigentliches Ziel - als Kursbeste abzuschließen - zusehends aus den Augen. Sie schaute Hein hinterher, der mit gesenktem Kopf davontrottete, dann ging sie zurück in ihr Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Verdammter Mist, worauf soll ich eigentlich heute nacht schlafen? dachte sie.
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Phil konnte es kaum glauben. »Vier?« fragte er entgeistert. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (102 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Gretchen bestätigte: »Yes, Sweetie. Du bist der fünfte fehlgeschlagene Versuch. Dabei ist Sex am Arbeitsplatz doch die normalste Sache der Welt.« Sie kicherte fröhlich. Phil schaute ihr zu, wie sie - nur in BH und Slip – mit dem Schlauch den Boden abspritzte. Er saß demotiviert auf dem Seziertisch. Zweimal versagt an einem Abend, schlimmer konnte es ja wohl kaum kommen. Dachte er. »Du bist echt ein Alptraum für jeden echten Kerl«, maulte er brummig. Gretchen kam zu ihm herüber. Sie packte seine strubbelige Ananasfrisur, zog seinen Kopf zurück und küßte ihn leidenschaftlich. Dann schob sie ihm frech den Schlauch in die noch immer offenstehende Hose. »Ach ja?« fragte sie keck. »Hast du gewußt, daß es unter Medizinern die meisten >echten< Chauvi-Wichser gibt?« Aber bevor Phil dazu irgend etwas sagen konnte, küßte Gretchen ihn auch schon wieder. Dann behauptete sie: »Ihr seid ein ekeliger Männer verein. Und ich bin Gottes Rache, du kleiner Möchtegern!« Langsam kam auch Phil wieder in Fahrt. Er ließ Gretchens Liebkosungen jetzt nicht mehr bloß widerstandslos über sich ergehen, sondern küßte sie ebenfalls, bog sich ihr entgegen, hielt sie fest. Auch in seiner Hose regte sich schon wieder etwas. Jetzt bist du dran, meine Süße! Und diesmal würde sie ihn nicht unterkriegen, diesmal nicht. Er war vielleicht ihr fünfter Versuch, aber er würde der erste Erfolg sein! Come on, baby, light my fire! Phil zog Gretchen zu sich auf den Seziertisch. Gretchen ließ den Schlauch los, der aus Phils Hose rutschte und zu Boden glitt. Phil drückte Gretchen ein wenig zur Seite, so daß sie auf den Rücken zu liegen kam, und warf sich auf sie. Gretchen packte Phils Hose und zerrte gierig daran. Weg mit dem Ding! Ihre Hände klatschten mit einem satten Geräusch auf Phils knackigen Po. »Komm her,
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mein Kleiner!« gurrte sie, und Phil, der begeistert ihren Hals und ihre Brüste küßte, glitt mühelos zwischen ihre Beine. Die Musik, die immer noch lief, erreichte gerade einen Höhepunkt. Wie passend! Gretchen genoß den Augenblick sehr - nun schien es doch endlich soweit zu sein: Sex am Arbeitsplatz Seziertisch! Sie schloß genießerisch die Augen, zog die Knie hoch, spürte, wie er hart und stark zwischen ihre Schenkel stieß, suchte ... Phil preßte sich aufgeregt an sie, er bäumte sich ekstatisch auf - und sackte, noch bevor er in sie eingedrungen war, noch bevor er überhaupt richtig ausgezogen war, auf ihr zusammen. Sein Kopf plumpste kraftlos auf ihre Brust. Gretchen öffnete enttäuscht die Augen. »Was? War's das schon wieder?« fragte sie amüsiert. Phil rührte sich nicht. Gretchen packte seinen Haarschopf, der auf ihrem BH ruhte, und hob seinen Kopf. Phils Augen waren verdreht, die Zunge hing ihm kraftlos aus dem Mund, aus seiner Nase sickerten zwei Blutsröme. Gretchen erschrak, schrie, ließ Phils Kopf entsetzt los und versuchte, sich unter ihm hervorzuwälzen. In diesem Moment wurde eine große automatische Spritze an ihrem Hals angesetzt. Jemand drückte ab, eine Nadel zuckte in ihr Fleisch. Gretchen schrie panisch. Ihr Kopf zuckte herum: Zuerst sah sie nur die Hand, die Hand mit der Spritze, und dahinter ... Nein! »Gretchen!« sagte eine Stimme freundlich. Doch der Blick in seinen Augen war eiskalt. »Gretchen, was tust du mir an?« Gretchen verstand gar nichts mehr. Was sollte das hier, was passierte hier, was wollte ... »Hein?«
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Gretchen stemmte panisch und angeekelt Phils leblosen Körper von sich herunter. Die Leiche rutschte schließlich zur Seite und sackte auf den Boden des Anatomiesaales. Danach schaute sie Hein mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen an und rollte sich dann ebenfalls seitlich vom Tisch. Hein trat einen Schritt zur Seite. Gretchen lag jetzt genau zu seinen Füßen und sah ängstlich zu ihm auf. »So ein schöner Leib«, sagte Hein nachdenklich, »und so eine häßliche kleine Hurenseele.« Er schaute verächtlich zu dem toten Phil hinüber. Gretchen robbte mühsam aus Heins Reichweite. Dann stemmte sie sich hoch, sie hielt sich an einem Seziertisch fest und richtete sich auf. Irgend etwas stimmte hier nicht, irgend etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Hein, was machte Hein hier? Was hatte er mit Phil gemacht? Was hatte er ihr gespritzt? Warum fühlte sie sich plötzlich so komisch, was ... Sie mußte hier weg! Sie mußte ... Gretchen floh, sie rannte aus dem Saal, auf den Flur, den Gang hinunter. Hein blieb einfach stehen und schaute ihr nach. Dann setzte auch er sich in Bewegung. Langsam und gemessenen Schrittes folgte er Gretchen. Sie stolperte über ihre eigenen Beine und kippte seitlich
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gegen die Wand, krallte sich fest, richtete sich wieder auf ... Weiter, nur weiter. Weg von diesem Irren! Was war nur mit Hein los, was hatte er ihr ... ? Eine Hand zuckte hoch zu ihrem Hals, dorthin, wo er ihr die Spritze gegeben hatte, aber dort war nichts mehr zu spüren. Nicht mal eine Schwellung. Gretchen taumelte weiter. Sie merkte, daß ihr die Bewegungen schwerer fielen. Sie kam sich vor wie in einem Traum. Ein Alptraum, in dem sie versuchte, unter Wasser zu laufen. Die Strömung zog und schob sie hin und her. Sie stemmte sich kraftlos gegen den Wasserwiderstand. Hein rief zornig: »Weißt du, wie weh du mir getan hast? Ich habe dich geliebt!« Gretchen sackte vornüber gegen eine der gläsernen Flügeltüren im Gang. Sie klammerte sich an dem breiten Griff in der Mitte fest. Hein kam immer näher. Gretchen drückte ihre nackten Füße fest in den Boden und stemmte mühsam die Tür auf. Wankte hindurch. Ließ sie wieder zufallen. Hein hinter ihr zog im Gehen ganz gelassen seinen grünen Arztmantel an und sagte vorwurfsvoll: »Glaubst du, ich habe überhaupt keine Gefühle? Ich kann mit einer Hure nicht mehr ...« Er ließ den Satz unbeendet. Gretchen blieb stehen, wandte sich um und kreischte panisch. »Hein! Was hast du mir gespritzt, was?« Hein schaute sie nur ausdruckslos an und kam näher. Schritt für Schritt. Langsam und unerbittlich. Gretchen schleppte sich weiter. Als ob sie durch Watte liefe, durch Wolken, zähe Zuckerwattewolken. Es fiel ihr immer schwerer, überhaupt aufrecht zu gehen. Schlafen, sie wollte nur noch schlafen. Sich hinlegen, zu Boden sinken und die Augen schließen, wenigstens für einen kurzen Moment. Gretchen schlug sich mit den flachen Händen auf die Oberschenkel und die Oberarme. Die Blutzirkulation, sie mußte die Blutzirkulation antreiben, schnell, sie mußte weg, was war da mit ihren Armen, mit den Beinen? Dort kribbelte es so komisch, wie Ameisen unter der Haut, als wären ihre Gliedmaßen eingeschlafen. Was war nur mit ihrem Körper los? Was hatte Hein ihr da für ein Teufelszeug injiziert? Hein machte einen letzten langen Schritt und tippte Gretchen schelmisch gegen die Schulter. »Hab dich!«
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neckte er sie grinsend. Gretchen lief der Schweiß über das Gesicht. Was hatte dieser Irre vor? Wieso konnte sie sich nicht mehr bewegen? Sie nahm noch einmal all ihre Kraft zusammen, raffte sich auf, taumelte ein paar Schritte weiter ins Foyer des Neuen Traktes. Nur wenige Meter vor ihr lag die Eingangstür. Dahinter: die Freiheit! Draußen dämmerte es bereits. Gretchen wurde schwindelig, sie ging zu Boden. Verzweifelt robbte sie weiter. Sie drückte sich mit den Füßen ab, zog mit den Händen, sie hatte Todesangst. Hein trat neben sie. Er sah auf sie herunter, dann schaute er auf seine Uhr. »Ich hab dir 15 Milligramm gespritzt«, erklärte er, »das ist eigentlich ziemlich viel. Damit müsste es relativ schnell gehen. Dein Blut wird ... weißt du noch? >Wie Gummi!« Er grinste hämisch. Gretchen schleppte sich verzweifelt in Richtung Tür. Sie bewegte sich wie in Zeitlupe. Eine Hand vor die andere. Krallen, stemmen, ziehen, wieder ein paar Millimeter geschafft. Immer näher kam sie der Ausgangstür. Hein tat, als hätte er das erst jetzt bemerkt, und fragte höhnisch: »Oh, du willst raus? Schau, ich helf dir!« Er lief ein paar Schritte vor und öffnete galant die Tür. Gretchen schaute hinaus ins Freie. Ein Schwall frische, kühle Morgenluft schlug ihr ins Gesicht. »Aber ich glaube, es geht nicht mehr gut aus.« Heins Stimme troff vor falschem Mitlied. »Wir können ja wetten. Wenn du es über die Schwelle schaffst, lass ich dich frei!« Frei, Freiheit, frei ... Hoffnungsvoll krabbelte Gretchen weiter. Noch ein Stück, nur noch eins, draußen gingen dann und wann sogar schon Leute vorbei, in weiter Ferne zwar, aber wenn sie es schaffte ... wenn sie es über die Schwelle schaffte ... dann war sie frei. Dann hatte sie eine Chance! file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (107 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Hein beugte sich zu ihr herunter und feuerte sie höhnisch an: »Gret-chen! Gret-chen! Hopp! Hopp! Noch ein paar Zentimeter! Ja! Sie schafft es womöglich doch!« Gretchen hatte mittlerweile tatsächlich die Schwelle erreicht. Ihre Finger tasteten sich bereits Zentimeterweise hinaus ins Freie, jede Bewegung eine Willensanstrengung, die sie zu zerreißen schien, ihr Körper schwer, so schwer, so unendlich ... Hein ließ die Tür los, trat hinter sie, packte ihre nackten Füße, zog sie zurück in das dunkle, finstere Gebäude und johlte: »Aber da: Oooooh! Gemein!« Leise quietschend schleiften Gretchens Hände über das Linoleum. Das letzte, woran Gretchen sich erinnern konnte, war ein dunkler, kleiner, muffiger Raum, an dessen Decke in geschwungenen, altdeutschen Buchstaben AAA! stand. Hein hatte sie hier auf ein Sofa gewuchtet, das mit einer Plastikfolie geschützt war. Sie lag auf dem Rücken. Mittlerweile konnte sie sich überhaupt nicht mehr bewegen. Nur ihr Blick flitzte panisch umher.
Auf dem Tisch neben ihr lag ein eigenartiges, chromblitzendes Operationsbesteck. Hein setzte sich neben sie, strich ihr liebevoll die Haare aus der schweißnassen Stirn und bog ihre Arme und Beine zurecht. Eines der Beine war leicht angewinkelt, der zugehörige Arm zeigte nach oben, den gegenüberliegenden Arm hatte er ihr in die Hüfte gestemmt. »W-w-was ... m-machst ... d-du mit ... m-mir?« Letzte Worte, mit letzter Kraft. Ihr Körper schien aus Stein zu sein, sie spürte ihn kaum noch, nur ihr Geist war noch wach, warf sich gegen eine unsichtbare Mauer, wollte fliehen, wollte weg, wollte ... Hein schaute mitleidig auf sie herunter und erklärte: »Du schöner, schöner Leib. Fürchte dich nicht: Ich werde dich bewahren. Für immer!« Er griff nach dem Operationsbesteck. Gretchen sah, wie sich das Licht auf der Klinge eines Skalpells brach. Danach wurde es dunkel, schwarz. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (108 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Hein summte vergnügt vor sich hin. Gretchen war schön geworden, und diese Sauerei hier hatte er auch bald beseitigt. Er war zufrieden mit dem Verlauf der Nacht. Er stand im Anatomiesaal und spritzte mit dem Schlauch die letzten Reste von Phils Blut in den Abfluß. Phils Leiche lag auf dem Boden. Die mußte er gleich noch wegschaffen. Plötzlich gingen die Neonlichter im bislang nur dämmerig beleuchteten Anatomiesaal an. Draußen im Flur wurde es ebenfalls hell, und gedämpfte Stimme kamen langsam näher. Hein schrak zusammen und warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. Verdammt, zu spät! Es war kurz nach sechs Uhr morgens! Er blickte panisch umher. Noch war niemand zu sehen, aber die Stimmen der Putzkolonne waren bereits deutlich zu hören! Hein ließ den Schlauch fallen, drehte das Wasser ab, packte Phils Leiche an den Füßen und zerrte ihn durch die halb offenstehende Tür in Richtung Kühlboxenraum - zu spät! Durch die Milchglastüren konnte er die dunklen Schatten sehen, die vor dem Anatomiesaal angekommen waren!
Schnell, Hein, denk! Denk! Hein schob Phil unter den nächstbesten Seziertisch, kroch hinterher und zog die Leiche wie einen Schild vor sich. Dann streckte er noch einmal den Arm aus seinem Versteck heraus und angelte sich aus der Instrumententasse oben auf dem Tisch ein Skalpell heraus. Für den Fall, daß er sich verteidigen mußte. Seine Hand verschwand in genau dem Augenblick wieder unter dem Tisch, als die große Schiebetür zischend auffuhr. Eine der Putzfrauen fragte besorgt: »Warum kommen so früh? Müssen schlafen! Schöne junge Fräulein! Brauchen viel schlafen!« Eine andere Frauenstimme entgegnete. »Nee, nee, schon okay. Können Sie mir hier aufsperren?« Phil erkannte Paulas Stimme.
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Anatomie
Verdammt! Was macht die denn hier? War sie ihm etwa auf der Spur? Die Putzfrau öffnete Paula einen Wandschrank, dann holte sie ihr Putzgerät aus einem weiteren Wandkasten. »Schöne Fräulein!« beteuerte sie dabei fröhlich. »Müssen spazieren in frische Luft! Immer Tote, Tote! Bäh! Nächste Monat ich wieder gehen putzen in Finanzamt!« Paula holte inzwischen ein großes Tablett mit Glastassen, in denen Gewebeproben schwammen, aus dem Kühlschrank. Sie trug das Tablett quer durch den Raum, kam näher, sie kam direkt auf Hein zu, der mit Phils Leiche im Arm unter dem Tisch kauerte, sie kam näher ... ... und sah ihn ... nicht! Schweiß lief an Heins Gesicht hinunter, er atmete so lautlos wie möglich mit weitgeöffnetem Mund - und tatsächlich, Paula schien ihn nicht zu bemerken. Sie stellte ihr Tablett auf dem Seziertisch ab. Die Putzfrau schob ihren elektrischen Bodenwischer aus dem Raum. Zum Abschied sagte sie noch. »Wenn brauchen, müssen rufen!« Paula bestätigte lächelnd: »Okay, wenn ich was brauche, melde ich mich.« Aber die Putzfrau schaltete draußen bereits die Wischmaschine ein, deren Dröhnen Paulas Stimme übertönte. Hein umklammerte das Skalpell ganz fest. Er war auf keinen Fall bereit, sich entdecken zu lassen. Paula schaute auf ihre Gewebeproben herunter und murmelte fürsorglich: »Na, ihr kleinen Lauser! Wieder mal die ganze Nährlösung vollgeschimmelt? Macht nichts, Mami bringt euch neue!« Hein starrte gegen Paulas Beine. Paula wandte sich ab, um neue Nährlösung zu holen. Da entdeckte sie am Fuße des Seziertisches ein T-Shirt. Sie ging mit zwei Schritten hin und betrachtete das Fundstück. Hein duckte sich. Sie kannte dieses T-Shirt, es gehörte Gretchen. »Oh, Anatomietest«, murmelte sie amüsiert. »Armer Hund, wer auch immer ... Ach, Gretchen, Gretchen«, seufzte sie dann noch mütterlich. Gerade als sie sich bücken wollte, um es aufzuheben, öffnete sich die Doppeltür erneut.
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Professor Grombeks Stimme hallte durch den Saal: »Frau Henning? Ihr Forschungsobjekt? Bringen Sie mir die Befunde doch gleich.« Grombek trug noch seinen Mantel und seine Aktentasche. Er hatte auf dem Weg in sein Büro nur einen kurzen Blick in die Anatomie geworfen, wie jeden Morgen. Er wollte sich schon wieder abwenden, als ihm doch noch etwas einfiel. Er hielt inne und sagte nachdenklich: »Wie sagten Sie gestern? Promidal?« Paula nickte vorsichtig. Stand ihr jetzt ein weiteres Donnerwetter bevor? Aber Grombek sagte ganz gelassen. »Sehen Sie's doch mal so: Ihr Bekannter hatte eine Lebenserwartung von ... Wochen? Tagen? Eine unheilbare Krankheit, alle konventionellen Behandlungsformen sind bereits angewandt worden ... Was machen Sie da als Arzt, wenn nichts mehr geht? Sie experimentieren! Sie klammern sich an eine absurde Idee! Sie probieren etwas völlig Neues - so werden Entdeckungen gemacht, das nennt man Forschung! Das ist das Abenteuer Wissenschaft, für das ich Sie zu begeistern versuche!« Hein lauschte entsetzt. Was macht dieser alte Sack da? Wollte der jetzt etwa der doofen, braven Henning alles beichten? Die Loge dem Verderben ausliefern? Aber dann hielt Grombek abrupt inne und setzte beinahe abschätzig hinzu: »Aber wenn Ihnen das fremd ist: Warum nicht Kinderärztin? Was Praktisches? Als Frau ...?« Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ den Saal. Paula ließ ihre Gewebeproben stehen und eilte ihm nach. »Aber Herr Professor!« rief sie. »Ich ...« Den Rest verschluckten die hydraulischen Doppeltüren, die sich hinter den beiden schlössen. Hein klemmte sich das Skalpell quer in den Mund, kroch unter dem Tisch hervor, packte Phil wieder an den Füßen und zerrte ihn in die Kühlkammer. Als die Putzfrau wieder in den Anatomiesaal kam, drückte er gerade die Tür hinter sich zu. Dann schob er eilig eine Leichenbahre unter die Türklinke und verkeilte
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sie mit einigen leeren Kanistern, die nutzlos herumstanden. Hein schwitzte wie verrückt. Er schaute an sich herunter. Sein weißes T-Shirt war blutbespritzt. Kurz entschlossen zog er es aus, wischte sich damit den Schweiß ab und arbeitete mit nacktem Oberkörper weiter. Zuerst riß er eine Kühlbox nach der anderen auf, bis er eine leere fand. In der untersten Reihe waren alle voll. Nr. 17 klemmte. Hein zerrte wütend am Griff, bekam sie aber trotz aller Anstrengungen nicht auf. Die nächste, die er probierte - Nr. 18-, war leer. Hein zog die Lade ganz heraus. Dann kehrte er zu Phils Leiche zurück. So, noch schnell die Klamotten ... Aber halt: Denk nach, Hein, denk nach - jeder in diesem Seminar würde Phil sofort erkennen! Scheiße! Was ... Hilfesuchend sah sich Hein im Raum um. Denk, denk nach ... Ja! Das war die Lösung. Wenige Minuten später war das einzige Problem, mit dem sich Hein noch herumschlagen mußte, Phils restliche Bekleidung. Gretchen hatte ihm den Großteil der Arbeit abgenommen. Braves Gretchen ... nur noch Hose, Unterhose, Schuhe und Socken mußte er der Leiche ausziehen. Aber die Sachen waren klatschnaß, und auch das Skalpell half nicht viel. Hein zerrte und schlitzte wütend an Phils Sachen herum. Plötzlich schepperte der Kanisterberg, mit dem er die Tür zugekeilt hatte, weil jemand an der Klinke rüttelte. Die Tür gab nicht nach, aber Hein bekam einen mächtigen Schreck. Mit einem letzten verzweifelten Schnitt durchtrennte er den Stoff von Phils Jeans, riß sie ihm von den Beinen, griff noch ein letztes Mal zum Skalpell, packte die Leiche und wuchtete sie in Kühlfach Nr. 18. Danach schob er die Lade zu, wusch sich eilig die Hände und hechtete unter den nächstgelegenen Edeltstahltisch. Er schaute auf seine zitternden Hände und erschrak - er hatte Phils Siegelring vergessen! Von der Tür her war mittlerweile eine Männerstimme zu hören. »Die Tür da, Renata? Nee, das gibt's doch gar nicht! Laß mal sehen!« Die Putzfrau bestätigte: »Doch, ja, die Tür zum Kühlraum. Ist gesperrt, ich hab probiert.« Wieder rüttelte jemand an der Klinke. Hein krabbelte aus seinem Versteck, riß Kühlfach Nr. 18 wieder auf und versuchte verzweifelt, Phils engen Siegelring abzuziehen. Sonst würden sie ihn ja sofort erkennen - immerhin stand auf dem Ring fett PH/L! Die Kanister vor der Tür wackelten bereits bedenklich - da, endlich! Der Ring glitt vom Finger. Hein stieß die Lade mit der Schulter zu, sprang zur Seite und kroch wieder unter den Tisch. Der Kanisterberg stürzte krachend in sich zusammen, die Tür wurde auf-
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gedrückt und die Leichenbahre quietschend zur Seite geschoben. Ein Mann in blauem Arbeitskittel steckte seinen Kopf zur Tür herein und betrachtete erstaunt das Durcheinander. »Was is' das denn für ein Scheiß?« fragte er sauer. Sein Kollege trat nun neben ihn und entgegnete: »Ach, irgendso 'ne Studentenkacke. Ist gut, Renata, laß das mal bleiben hier«, wies er die Putzfrau an. Der Mann, der als erster hereingekommen war, sagte: »Gestern komm ich rein in den Saal, da liegt da 'n halber Darm unterm Tisch. Scheiße, Mann, das volle Gekröse. Scheißstudenten!« Sein Kollege kommentierte nachdenklich. »Kannste nur hoffen, daß du so einen nicht triffst, wenn du echt 'ne Operation hast.« Hein war mittlerweile hinter das Lüftungsgitter unter der Waschanlage gerobbt und schaute durch die Schlitze hinaus. Er schwitzte immer noch heftig und versuchte, ein Keuchen zu unterdrücken, um sich nicht zu verraten. Die beiden Männer in den blauben Kitteln kannte er, das waren die Helfer des Präparators. Jetzt stellte sich einer von ihnen breitbeinig vor die Wand mit den Kühlboxen und krempelte die Ärmel hoch. »Okay, ihr Süßen«, verkündete er höhnisch. »Wer will unters Messer?« »Jetzt laß doch den Scheiß, Uli!« mischte sich sein Kollege ein. Er hielt einen Zettel in der Hand. »Nr. 8, Nr. 24 und ... was heißt das hier?« Er runzelte die Stirn. Dann sagte er: »17. Glaub ich wenigstens.« Hein atmete erleichtert durch. Phil lag in Nr. 18. Aber nachdem die beiden Männer die Leichen aus den Boxen 8 und 24 geholt hatten, gelang es ihnen ebensowenig wie zuvor Hein, die Nr. 17 zu öffnen. Sie zogen und zerrten an dem Griff, aber es half nichts. »Scheiße, Mann, soll doch der bekloppte Hausmeister mal reparieren, den Scheiß hier«, befand der Mann file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (113 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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mit dem Zettel. »Jetzt nehmen wir einfach den hier!« entschied er - und griff nach Nr. 18! Die beiden Männer zogen die Lade heraus und hoben Phils Leiche herunter. Dann starrten sie beide entgeistert auf den Toten. »Was ist das denn?« flüsterte einer der Männer geschockt. »Dem ham se ja den Kopf weggeschnitten!« staunte der andere. »Ach, scheißegal, dann ist nur gut, daß er fertiggemacht wird«, sagte sein Kumpel. Hein betrachtete zufrieden die etwa melonengroße Aldi-Tüte, die zwischen seinen Füßen stand. Die Wirbelsäule war schwierig gewesen, aber der Rest hatte sich erstaunlich schnell durchschneiden lassen. Damit kann ich ins Guinness-Buch, mindestens ... Am liebsten hätte Hein laut gelacht. Statt dessen spähte er wieder lautlos zwischen den Lüftungsschlitzen hindurch. Draußen beschwerte sich der größere der beiden Männer: »Kannste mal einen Satz ohne >Scheiße< sagen? Das sind ja wohl Tote hier!« Aber der andere sagte bloß. »Ey, Scheiße, Mann!« Da konnte Hein ihm bloß rechtgeben. Und Phil wäre sicher der gleichen Meinung. Lächelnd tätschelte Hein die Plastiktüte.
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Der Präparator schaltete die Musik ein. Aus dem Tapedeck quoll unverbindliche Easy-Listening-Musik. Keiner der Studenten schaute auch nur auf, so unauffällig war die Hintergrundmusik. Paula und ihre Kommilitonen standen um die Seziertische herum und arbeiteten. Paula teilte sich ihre Leiche mit Franz, Gabi und dem stets etwas abgespaceten Ludwig. Paula hatte bereits von dem ekelhaften Streich erzählt, der ihr gespielt worden war. Jetzt überlegte sie laut: »Wenn die Antihippokraten versuchen, mich einzuschüchtern, heißt das doch wohl, daß ich auf der richtigen Spur bin?«
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Nachdenklich durchschnitt sie ein Bündel Muskelfasern und hob es beiseite. Die biedere Gabi schüttelte sich. »liiih!« schnaufte sie. »Wenn das echtes Blut war, bleiben bestimmt Flecken in der Bettwäsche.« Ludwig grinste: »Immer noch besser als Gehirnmasse! Ich hab mir mal 'nen nagelneuen Kaschmirpullover damit versaut!« Paula schaute die anderen genervt an und schüttelte verständnislos den Kopf. »Kann mal irgendeiner ernst nehmen, was ich sage? Da draußen in Heidelberg ist ein krimineller Verein am Werke!« Ludwig unterbrach sie amüsiert: »Was soll das eigentlich heißen, >das nächste Blut soll dein eigenes sein« Paula legte ihr Skalpell beiseite und erklärte: »Diese ganzen Sprüche und Symbole, das ist ein bißchen grottig, okay. Aber die Idee, unethische Forschung zu betreiben, die ist ja wohl noch nicht veraltet, oder?« Herausfordernd schaute sie in die Runde. Die anderen guckten ratlos und schnippelten weiter. »Aber Blut im Bett?« rätselte Gabi. »In 'nem Mädchenzimmer? Ich finde eher, das klingt wieder nach so 'nem Ekelscherz von Phil. Wo steckt der überhaupt?« Etwas lauter fragte sie in die Runde: »Hat irgendwer Phil gesehen?« Keiner antwortete.
Nur Hein, der mit dem Rücken zu Paula stand, schaute böse lächelnd hinab auf die kopflosse Leiche, an der er heute arbeiten mußte, und murmelte: »Teilweise ...« Grinsend ließ er ein Stückchen Gewebe in den Bestattungsmülleimer unter dem Seziertisch fallen. Nach dem Sezieren hielt Grombek noch einen kurzen medizinischen Grundlagenvortrag im Anatomiesaal. Er
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faßte die Ergebnisse des Tages zusammen - er erklärte den Studenten also, was sie selbst hatten an den Leichen herausfinden sollen. Paula schlich sich in einem unbeobachteten Augenblick ins Nebenzimmer. Der vollbärtige Präparator und seine beiden Helfer luden die ausgeweideten Leichen eine nach der anderen von den Seziertischen auf die metallenen Leichenwagen. Als gerade niemand schaute, öffnete Paula im Kühlboxenraum rasch eine Schublade, zog den kleinen Notizblock des Präparators heraus, und versteckte ihn zwischen ihren Unterlagen. Dann zwängte sie sich an einem Leichenwagen vorbei, der gerade hereingeschoben wurde, und mischte sich wieder unter die übrigen Teilnehmer des Anatomiekurses. Der Präparator schaute ihr mißmutig nach. Was führte diese aufmüpfige Studentin jetzt wieder im Schilde? Was trieb die dauernd im Kühlboxenraum? »... und damit darf ich Sie ins Wochenende entlassen«, verkündete Professor Grombek gerade, als sich Paula zu den anderen Studenten gesellte. »Auf unseren kleinen Test am Montag muß ich Sie nicht hinweisen freuen Sie sich: Die, die durchkommen, haben dann mehr Platz zum Arbeiten und kriegen mehr Leichen!« Die Studenten lachten höflich. Sie ahnten ja nicht, wie viele Tote es bis Montag auf dem Campus geben würde!
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Paula hatte sich einen ruhigen Platz in der Mensa gesucht, um die Liste der Leichen für die Anatomie zu überprüfen. In den Semesterferien war hier nicht viel los, und am späten Freitagnachmittag erst recht nicht. Sie hatte file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (116 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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also ihre Ruhe. Die Sonne verschwand bereits hinter den Bäumen, und das warme Abendlicht flutete durch die großen Panoramafenster herein. An einem Tisch am anderen Ende des Raumes saßen drei andere Studenten und tranken Cola, ansonsten war Paula allein. Sie überflog die Liste erst einmal, um sich mit der Methodik vertraut zu machen. In zahllosen handgeschriebenen Spalten standen Kennummern, Daten, Namen, behandelnde Ärzte und Krankenhäuser. »Paula!« Sie schrak zusammen. Wer ... »Hein?« Wie aus dem Nichts war er aufgetaucht und hatte sich ihr gegenüber an den Tisch gesetzt. Wie immer zeichneten sich seine durchtrainierten Muskeln unter seinem engen weißen T- Shirt ab. Paula starrte Hein mit offenen Mund an. Ihr Herz raste. Sie hatte sich total erschrocken. »Paula, ich wollte mich noch mal bedanken, wegen gestern«, begann Hein mit treudoofem Augenaufschlag, »daß du mir deine Zeit geschenkt hast. Es hat mir wirklich ... weißt du, es tut einem gut, wenn man merkt, dass jemand ehrlich Anteil nimmt.« Er schaute Paula erwartungsvoll an. Sie lächelte freundlich. Das war nett von Hein, sich jetzt noch einmal zu bedanken, nachdem er sie so gnadenlos vollgetextet hatte. Mensch, Gretchen, dem solltest du wirklich noch eine Chance geben ... Aber eigentlich hatte Paula im Augenblick andere Dinge im Kopf. Beiläufig blätterte sie in der Liste und überflog die Namensspalten. »Und das mit Gretchen hab ich jetzt auch geregelt«, sagte Hein. Hätte Paula ihm dabei ins Gesicht gesehen, das brutale Blitzen in seinen Augen wäre nicht zu übersehen gewesen. Statt dessen fragte sie nur abwesend: »Ach ja? Ich dachte, die ist übers Wochenende weg?« Da! Jetzt hatte sie den Eintrag gefunden: 098237498734 - männl., 22 J. - Heysenbergsche K. Endlich! Hein legte ein Taschentuch auf den Tisch, schob es bis in die Mitte und begann, es aufzufalten. »Schau, ich hab dir was mitgebracht«, sagte er leise. »Oh. Das war doch nicht nötig gewesen«, sagte Paula.
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Sie schaute immer noch in die Liste. Dort stand als überstellender Arzt: AAA/Hein Hagemann. Hein? Irritiert schaute Paula auf. Hein lächelte immer noch freundlich. Auf dem Taschentuch in der Mitte des Tisches lag ein sauber abgetrennter Finger. Nur ein kleiner Blutfleck war auf dem weißen Stoff zu sehen. Paula quietschte erschrocken. Hein sagte freundlich: »Von Gretchen.« Dann fügte er beinahe liebevoll besorgt hinzu; »Und, Paula, du solltest wirklich mit dem ganzen Blödsinn wegen dieses Jungen aufhören, David. Du behinderst unsere Arbeit!« Er zog ihr freundlich, aber bestimmt die Leichenliste unter den Händen weg. »Davids Körper«, erklärte Hein, »war doch nichts mehr wert. Ein Moriturus, ein Todgeweihter. Das war offensichtlich. Paula, ich mag dich wirklich, aber ...« Er beendete den Satz nicht. Statt dessen nahm er das Taschentuch mit Gretchens Finger am Ansatz hoch, winkte Paula neckisch zu, packte den Finger wieder ein, stand auf und wandte sich ab. Paula starrte ihm mit aufgerissenen Augen nach. Hein ging einfach weg. Sie faßte sich und rief: »Ist das ... ist das wieder so ein beschissener Anatomenscherz?« Und noch lauter: »Hein! Du psychopathisches Arschloch!« Hein blieb stehen und drehte sich um. Kühl und sehr bestimmt wies er Paula an: »Schrei nicht. Wir sind doch nicht allein.« Er wandte sich ab und ging. Die drei anderen Studenten schauten stirnrunzelnd zu Paula herüber. Diese halbgaren Ferienaffären waren doch einfach eine Plage, dachten sie.
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»Hallo, hier spricht Gretchen. Ich bin im Moment leider nicht zu erreichen, aber du kannst mir gerne nach dem Piep eine Nachricht hinterlassen.« Paula versuchte, Gretchen auf dem Handy zu erreichen. Sie wählte die Nummer von demselben Kartentelefon aus, an dem sie zuletzt mit Bernie telefoniert hatte. Doch egal, wie oft sie es probierte, Gretchen meldete sich nicht. Nachdem Paula innerhalb einer Stunde vier Nachrichten auf ihrer Mailbox hinterlassen hatte, gab sie schließlich auf. Gretchen, wo bist du bloß? Paula wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser. Was war das für ein Finger gewesen, den Hein ihr gezeigt hatte? Nun spinn nicht, Henning, der war nie und nimmer von Gretchen! Wie hätte Hein den denn bekommen sollen? Die Polizisten auf dem Amt in Heidelberg waren vollkommen desinteressiert. In der Kaffeemaschine schmorte noch die Brühe vom Vormittag, und selbst die traurigen Kakteen auf den Fensterbänken der Amtsstube waren staubig. Vier Beamte teilten sich ein Zimmer, die Schreibtische quollen über, die Holzstühle sahen weder bequem noch ergonomisch aus. Die Beamten waren unendlich demotiviert - und sie hatten so ihre Erfahrungen mit den Studenten. Paula saß einem altgedienten Ordnungshüter gegenüber, der nur verständnislos den Kopf schüttelte. »Es gibt also keine Leiche«, hakte der Beamte nach. »Nicht mehr!« erklärte Paula zum dritten Mal. »Aber ...« Doch der Polizist ließ sie nicht ausreden. »Und Sie wissen von diesem mysteriösen David auch weder den Nachnamen, noch wo er wohnt. Wenigstens das Bundesland?« Paula schüttelte den Kopf. »Aber wenigstens kennen wir sein Brandzeichen«, schloß der Beamte selbstzufrieden. »Von diesem Geheimbund, den ... Antihippokraten?«
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Paula guckte wütend. Sie versuchte es anders: »Und Gretchen? Also, Margarete Möllmann? Was ist mit der?« »Ach, wissen Sie, Fräulein - eine Studentin hat eine Nacht nicht in ihrem Bett geschlafen, und wir sollen gleich ermitteln?!« Ein anderer Uniformierter schaute neugierig vom Nebentisch herüber. Der Polizist nickte in Paulas Richtung und erklärte: »Medizinstudentin!« Daraufhin erinnerte sich der Kollege amüsiert: »Weißt du noch, letztes Jahr, die zwei Mädchen mit der Anzeige, daß in der Anatomie eine Leiche mit abgeschnittenem Kopf rumwackelt?« Er fing an zu kichern. Der Polizist, dem Paula ihre Sorgen geschildert hatte, stimmte ein: »Genau! Oder der Arsch mit Ohren?« Er wandte sich jetzt wieder an Paula. »Da haben sie einer Leiche die Ohren abgeschnitten und am Gesäß ... na ja ...« Er machte eine etwas undefinierbare Handbewegung, die wohl »Sie wissen schon« bedeuten sollte. Paula konnte über diese Stories gar nicht lachen. Sie stand auf und drehte sich zum Gehen um. Der Polizist rief ihr noch wohlmeinend hinterher: »Und was Ihre Freundin angeht, schauen Sie doch mal in ein paar befreundeten Betten nach!« Aber das mußte Paula nicht. Sie wußte, daß irgend etwas nicht stimmte. Das war mehr als ein doofer Scherz von gelangweilten Kommilitonen. Hier stank es zum Himmel! Gretchen war weg, Phil war weg, David war tot... war sie denn die einzige, die bemerkte, daß da etwas nicht stimmte?
Als Paula zur Uni zurückkam, traf sie gleich am Eingang Franz, der entspannt grinste und sie hänselte: »Hi, Paula! Wieder auf Verschwörerjagd?« Paula ging einfach wortlos an ihm vorbei. Innerlich aber kochte sie vor Wut. Blödmann! Dem würde sie es schon zeigen! Denen allen würde sie es schon zeigen! Sie würde file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (120 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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schon rauskriegen, was hier in Wirklichkeit gespielt wurde. So leicht lass ich mich nicht ins Bockshorn jagen. Sie würde die Sache wissenschaftlich angehen und alle Theorien abklopfen, bis sie die Lösung gefunden hatte. Ihr Großvater würde stolz auf sie sein können.
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Paula schaute sicherheitshalber in ihrem Apartment nach. Kein Gretchen. Und was hatte Caspar ihr eigentlich neulich erzählen wollen? Der wußte irgend etwas über die Antihippokraten! Paula lief gleich wieder los. Sie knallte die Tür zu ihrem Apartment zu und hastete den dämmerigen Flur entlang. Um die Ecke und weiter bis zu Caspars Bude. Paula klopfte und drückte die Tür auf. »Caspar?« Niemand antwortete. Paula ging in das Apartment. Die Tür zu einem der beiden Zimmer stand offen. Drinnen war es dunkel. Paula steckte ihren Kopf hinein. Ludwig saß vor dem Fernseher, guckte einen Zeichentrickfilm und rauchte einen Joint. »Oh, entschuldige, aber ist Caspar da?« sprach sie ihn an. »Oder hast du Gretchen gesehen?« Ludwig schaute langsam auf. Er schien sie erst jetzt zu bemerken. Wie in Trance strich er sich durch die wirren Haare und sagte langsam: »Äh ... ja ... Vielleicht sind sie ... Hallo, Paula!« Paula stöhnte. Mit diesem Kiffer war jetzt auch gar nichts anzufangen! »Ich suche Gretchen! Dringend!« wiederholte sie. Ludwig schlug vor: »Vielleicht im Institut?« Paula nickte genervt und lief wieder los. Ludwig schaute ihr nach und murmelte. »Oder ... im Kino? Vielleicht sind sie ins Kino?« Aber Paula hörte ihn schon nicht mehr. Sie hastete wieder zurück in ihr Apartment und schrieb einen Zettel: Liebes Gretchen! Suche dich dringend! Gruß/Kuß file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (121 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Paula. Den Zettel klebte sie an Gretchens Tür. Dann setzte sie sich erschöpft für einen kurzen Moment auf einen Küchenstuhl. Los, ruh dich einen Moment aus, Henning. Und denk nach! Es gibt für alles eine logische Erklärung. Man muß nur ruhig und systematisch ... Scheiße! Paula hatte nun wirklich keine Ruhe, etwas systematisch zu durchdenken! Ungeduldig sprang sie wieder auf und lief los. Paula verließ das Wohnheim und ging hinüber ins Institutsgebäude. Vielleicht war Gretchen ja wirklich dort. Oder Caspar. Oder Phil. Oder überhaupt irgend jemand! Im Foyer des Neuen Traktes traf Paula Gabi und Alexander. Hastig fragte sie: »Habt ihr Gretchen gesehen?« Aber die beiden schüttelten die Köpfe. Gabi sagte: »In der Bibliothek war sie nicht. Aber ich glaub, ich hab noch wen in der Anatomie gehört.« Paula nickte zum Dank und lief sofort weiter. Gabi und Alexander sahen ihr beunruhigt nach.
Im Anatomiesaal lief leise Musik. Paula steckte ihren Kopf hinein, konnte aber niemanden entdecken. Auf den Seziertischen lagen zugedeckte Leichen. Fünf insgesamt, auf jedem Tisch eine. Die Musik plätscherte unverbindlich dahin. »Gretchen ...?« flüsterte Paula fragend und schaute sich um. »Scheiße«, murmelte sie dann unzufrieden. Sie tat zwei vorsichtige Schritte auf die Seziertische zu, als plötzlich - wie aus dem Nichts - Hein zwischen den Tischen hochschoß. Er mußte sich dahinter versteckt haben. Paula schrak zusammen. Hein hielt ein Seziermesser locker in der rechten Hand. Er trug einen Ärztekittel, auf dem kleine Blutspritzer zu sehen waren. Er starrte Paula drohend an, dann bemerkte er unnatürlich freundlich: »Gretchen liegt auf dem Vierertisch. Oder auf dem Fünfer ...?« Herausfordernd schaute er Paula an. Paula bewegte sich langsam und vorsichtig rückwärts in Richtung der Ausgangstür. Der spinnt, der ist vollkommen durchgeknallt! Auf alle Fälle mußte stets mehr als eine Armlänge zwischen Hein und ihr bleiben. »Hör mit diesen blöden Witzen auf, du perverser Psycho!« blaffte sie Hein zornig an. »Wo ist file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (122 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Gretchen?« Hein lüpfte neckisch das Leichentuch von Tisch fünf. Er schaute darunter, sagte aber nichts. Dann ließ er das Tuch los, hob das von Tisch vier und schaute ebenfalls darunter. Fröhlich sagte er: »Schau doch nach. Komm schon. Du bist doch so neugierig!« Paula wurde blaß. »Bist du jetzt komplett ...« Weiter kam sie nicht, denn Hein rastete aus und brüllte aus vollem Leibe: »Schau nach, du Hure, wo deine Hurenfreundin ist!« Speichel spritzte ihm von den Lippen. Er bebte vor Zorn. Dann riß er sich wieder zusammen und lockte freundlich: »Oder hast du etwa Angst vor Leichen?« Hein ließ seinen Blick spielerisch zwischen den beiden Seziertischen hin- und herzucken. »Vier oder fünf? Vier oder fünf?« Er schaute wieder Paula an und sagte höhnisch; »Vielleicht lebt sie noch?« Ansatzlos riß er den Arm hoch und rammte der Leiche auf Tisch vier das Seziermesser durch das Abdecktuch hinweg in die Brust. Paula hielt erschrocken den Atem an. Hein trällerte: »Vielleicht lebt sie jetzt nicht mehr?« Er schien sich an seinem brutalen Spaß zu freuen. Paula starrte ihn entgeistert an, wie ein hypnotisiertes Kaninchen eine Schlange. Hein riß das Tuch von der Leiche. 0 Gott, es ist... Nein, sie kannte die Frau, die dort lag, nicht. Und es war auf keinen Fall Gretchen. Hein lachte dröhnend. Paula wurde ein wenig schwindelig. »Scherze, nichts als dumme Studentenscherze!« brüllte Hein. »Schau: Tote!« Nun rammte er der anderen Leiche auf Tisch fünf das Skalpell in die Seite. Dabei röhrte er: »Altes, totes, ekliges Fleisch! Schau her, Paula! Scherze, alles Scherze!« Immer und immer wieder stach Hein zu, stach der Leiche durch das Tuch in die Brust und den Oberkörper. Dann wirbelte er plötzlich in Paulas Richtung herum. Er grinste diabolisch. Hein stand zwar viel zu weit weg, um sie verletzen zu können, aber trotzdem packte Paula die Angst. Wütende Tränen stiegen ihr in die Augen, dieser Psycho, dieser verdammte Psycho! Sie wollte nur noch weg und lief auf die Tür zu. Hein trat zur Seite und drehte mit einem Griff in die kleine Seitenkammer die Lautstärke der Easy-Listening- Musik hoch. Der Anatomiesaal schien jetzt zu beben, der ganze Neue Trakt dröhnte vor
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überlauter Fahrstuhlmusik. Paula hastete durch den Flur. Hein schoß durch die Doppeltür des Anatomiesaales heraus und lief hinter ihr her. In der rechten Hand hielt er noch immer das inzwischen blutverschmierte Skalpell. »Pauuuulaaaa!« rief er ihr nach. »Fürchtest du dich? Ich will dich doch nur erschrecken!« Paula warf ihm über die Schulter einen kurzen, ängstlichen Blick zu. Hein funkelte sie mit teuflischen Augen an. Lauf, Henning, lauf! Sie rannte weiter, Richtung Foyer, sie wollte hinaus, wollte vor diesem Irren fliehen, aber die Tür, auf die sie traf, war verschlossen. Verzweifelt rüttelte sie daran. Durch diese Tür war sie doch eben erst gekommen, wie konnte die jetzt zu sein? Aber sie war es. Ihr war der Fluchtweg versperrt, und Hein kam immer näher. Ohne nachzudenken wandte Paula sich ab und lief weiter den endlosen Gang entlang. Nur weg! »Pauuuulaaa!« rief Hein. »Ich will doch nur mit dir plaudern. Plauuuuuudern!« Paula lief weiter, immer weiter, sie hielt Ausschau nach einem Ausweg. Da entdeckte sie am anderen Ende des Ganges eine weitere Gestalt im Gegenlicht. Ein schwarzer Umriß, der ihr tödliche Angst einjagte: Der Mann dort trug genau wie Hein einen Ärztemantel und ein Skalpell in der Hand. Und: Er kam ihr entgegen! Verzweifelt begann Paula, an jeder Tür im Flur zu rütteln. Die beiden Wahnsinnigen kamen immer näher. Gleich hatten sie sie in der Zange! Da plötzlich gab eine Tür überraschend nach. Paula riß sie auf, stürzte in ein schummeriges Treppenhaus, knallte die Tür hinter sich zu und rannte panisch die Treppe hinunter. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Ein Stockwerk tiefer stand sie unvermittelt vor zwei Türen. Auf der einen stand Heizung. Paula drückte die Klinke.
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Abgesperrt. Auf der anderen Tür stand Leichenwäsche. Diese Tür war offen. Paula schlüpfte hinein in den stinkigen Raum. Im selben Augenblick hatten ihre Verfolger die Treppenhaustür ein Stockwerk höher erreicht. Paula zog die Tür zur Leichenwäsche hinter sich zu. Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl, in Sicherheit zu sein, wollte sich nur noch hinsetzen, einen Moment ausruhen ... Und dann merkte sie erst, wo sie war. Davon hatte Grombek also gesprochen! Es stank nicht nur, es war auch schrecklich anzusehen: In zahlreichen Wannen mit der Aufschrift Formalin schwammen Leichen in gelblichen Flüssigkeiten. Auf Aluwagen, wie sie auch in der Anatomie benutzt wurden, lagen bergeweise Leichen - offene, halboffene und geschlossene. Auf einem Tisch lagen mehrere einzelne Arme und Beine. Es war feucht und düster, auf dem Boden standen Wasserlachen. Dieser Raum war Dantes Inferno in Nirosta und Neon. Paula schnappte verzweifelt nach Luft und drohte ohnmächtig zu werden. Sie hob den Arm und preßte ihren Jackenärmel vor Mund und Nase. Reiß dich zusammen! Die Schritte auf der Treppe kamen schnell näher. Paulas Blick flackerte verzweifelt hin und her. Nun hatten ihre Verfolger die Türen erreicht Aber sie versuchten es zuerst vergebens mit der Heizungstür, und die Tür zur Leichenwäsche klemmte ein wenig. Das verschaffte Paula die nötige Zeit, zu entkommen. Im letzten Augenblick gelang es ihr, wieselflink eine falsche Fährte zu legen und sich zu verstecken. Als Hein und der andere Mann endlich die Tür aufgestemmt hatten, leuchtete ihnen der kleine rote Anzeigepfeil des Lastenaufzugs entgegen. Triumphierend grunzte Hein: »Was für ein Gestank! Aber jetzt haben wir sie! Oben kann man nicht von innen öffnen!« Er machte auf dem Absatz kehrt und lief wieder die Treppe hoch. Sein Komplize folgte ihm. Sie vermuteten Paula jetzt im Leichenaufzug, der in den Kühlboxenraum im Erdgeschoß führte. Paula aber hatte die beiden reingelegt, den Aufzug nach oben geschickt und sich schnell auf einem Abluftrohr dicht unter der Decke versteckt. Leider hatte Hein noch daran gedacht, die Tür zur Leichenwäsche von außen zu verriegeln, so daß Paula file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (125 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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hier gefangen war. Und es würde sicher nicht lange dauern, bis die beiden bemerkten, daß sie an der Nase herumgeführt worden waren - und zurückkehrten, um sie zu suchen. Paula schaute sich um. Das Lüftungsrohr, auf das sie mit Hilfe eines Aluwagens geklettert war, auf dem zwei Leichen übereinandergestapelt lagen, führte quer durch den ganzen Raum und verschwand dann durch eine überbreite Wandöffnung. Vorsichtig robbte Paula auf dem Rohr entlang und quetschte sich durch den Spalt in den dunklen Nebenraum. Auf dem lackierten Rohr hatte sich ein schleimiger Belag gebildet, von dem sie mehrfach beinahe abrutschte. Nachdem sie sich bäuchlings in den Schleim hineingelegt und in den Nebenraum gerutscht war, ließ sie sich wieder auf den Boden herab. Sie sah sich um. Offenbar war sie in einer Art Maschinenraum gelandet; wie Katzenaugen glühten kleine Knöpfe und Anzeigefelder im Dunkeln. Nachdem ihre Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, entdeckte sie erleichtert eine Tür. Sie ließ sich sogar öffnen. Diese Tür führte in den Kellerflur eines offenbar leer stehenden alten Gebäudetraktes. Die Fenster waren mit Baufolie verklebt, Armaturen und Elektroinstallationen waren abgeschraubt, sogar einige Fenster und Türstöcke fehlten. Auf dem Boden lag eine dichte Staubschicht, da und dort auch Bauschutt und einige Ziegel. Die Wände waren bis auf halbe Höhe gefliest, die Fliesen allerdings vollkommen verdreckt. Etwa alle zwanzig Meter brannte eine schwache Neonlampe - immerhin funktionierte die vorgeschriebene Notbeleuchtung. Paula tastete sich vorsichtig und langsam durch den Gang. Sie bog um eine Ecke und stand vor einer weiteren Tür, die einen Spaltbreit offenstand. Durch den Spalt sickerte Lampenlicht in den Gang. Vor der Tür verrieten zahlreiche frische Fußspuren im Staub, daß dieser Raum erst vor kurzem benutzt worden war. Paula klopfte, drückte vorsichtig die Tür auf und fragte: »Hallo? Ist da wer?« Es antwortete niemand. Paula betrat einen muffigen, düsteren Raum. Er stand voll mit altdeutschem Mobiliar, an den Wänden, in Regalen und auf Tischen stand allerhand Burschenschaftskitsch. Paula entdeckte eine Bücherwand und einige Studierplätze, eine gotische Tafel mit passenden Stühlen und an den Wänden schwere, gestickte Wappen. Mit einem Blick war ihr klar, daß sie im Hauptquartier einer deutschnationalen Burschenschaft stand. War dies etwa der Sitz der geheimnisvollen Antihippokraten? Gab es sie etwa wirklich - immer noch? In einem Regal standen Gläser mit trübem Formaldehyd, in dem mißgebildete Embryonen und verwachsene Schädel schwammen. Der Raum wirkte insgesamt schmutzig und verlassen - aber da und dort gab es saubere, aufgeräumte Bereiche, als ob erst vor kurzem jemand wieder angefangen hätte, den Saal zu nutzen. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (126 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Paula wagte sich einige Schritte weit in den Raum. Sie schaute sich um – es schien wirklich niemand hierzusein. Paula ging zu einem Tisch, auf dem ein blitzendes, höchst ungewöhnliches Operationsbesteck lag. Ehrfürchtig blieb sie davor stehen und betrachtete es. Was war das? Wo war sie hier gelandet? Plötzlich hörte sie ein Geräusch! 0 Gott, sind sie das? Hatten Hein und sein Kumpan sie gefunden? Sie packte ein Skalpell, das auf dem Tisch lag, und wirbelte herum. Ihr gegenüber stand ... ... kein Geringerer als Professor Grombek, der beschwichtigend die Hände hob. »Pssst«, machte er beruhigend. »Was machen Sie denn hier?« fragte Paula verwirrt. »Keine Angst«, erklärte Grombek. »Hier sind Sie sicher. Die Loge ist tabu.« Paula runzelte die Stirn und deutete mit der freien Hand auf einen Schriftzug an der Wand, der ihr gleich beim Hereinkommen aufgefallen war. »Age Actabile - die Antihippokraten ... Sind Sie etwa auch ...?« Fragend schaute sie ihren Professor an. Strahlend verkündete Grombek: »Ach, aber natürlich! Antihippokrat sein heißt nichts anderes, als wissenschaftlich arbeiten zu wollen, meist vollkommen unspektakulär, aber ohne kleinbürgerliche Beschränkungen.« Paula starrte Grombek an. »Da draußen rennen Psychopathen mit Messern rum!« erklärte sie ihm. Das nennt er vollkommen unspektakulär? »Großmäulige Lümmel«, winkte Grombek gelassen ab, file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (127 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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»die gerne Mädchen erschrecken.« In seiner Stimme schwang so etwas wie väterliche Gutmütigkeit mit. Paula starrte ihn fassungslos an. Lümmel? Hatte er überhaupt eine Ahnung ... Doch Grombek schien ihre wachsende Wut nicht zu beachten. Statt dessen sah er sie mit festem Blick an und fragte ernst: » Glauben Sie, man kann in der Forschung noch was leisten, wenn man sich an >ethische< Grundsätze hält? Heidelberg hat einen Ruf zu verteidigen. Wissen Sie, wann wir den letzten Nobelpreis gewonnen haben? Es geht um den Führungsanspruch in der Medizin, Forschungsgelder, Aufträge aus der Pharmaindustrie; es geht um die Finanzierung der Lehre für die Elite. Ihre kleine Untersuchungsreihe – was glauben Sie wohl, woher die Gewebeproben stammen?« Grombek starrte Paula an. Paula war verblüfft. Betroffen murmelte sie: »Äh ... ich hab mich bloß gewundert, daß ...« »Fragen Sie mal irgendeine sogenannte Ethik-Kommission nach ihrer Meinung, an Leukämie-Kranken ohne deren Wissen solche Tests durchzuführen!« dröhnte Grombek. »Aber ... ich hatte keine Ahnung, woher ...« wehrte Paula ab. »Natürlich nicht!« beschwichtigte Grombek sie jovial. »Wen interessiert's auch, und ein Sterbenskranker merkt's kaum. Geheilt werden wollen alle - aber den Preis zahlen will niemand! Die Gesellschaft ist schwach, Frau Kollegin. Die moralischen Entscheidungen mögen andere sein, aber die wirklich wichtigen Entscheidungen, die müssen schon wir Ärzte treffen!« Paula starrte ihren Professor fassungslos an. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da zu hören bekam – und sie wollte es auch nicht glauben! Das widersprach allem, was sie gelernt hatte, womit sie groß geworden war, woran sie glaubte. »Aber ... all das Schreckliche ...« wandte sie ein. »Die Verbrechen der Antihippokraten ...« Grombek wischte ihre Einwände beiseite. »Ja, mein Gott! Mengele, die Entgleisungen einiger NS-Mediziner ... Ja, das ist natürlich schon abzulehnen!« Er
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schwieg einen Moment, dann setzte er hinzu: »Aber die Leistungen der damaligen Zeit verschweigt man! Gerade die Anatomie! All die Grundlagen, auf denen Sie und Ihre Kollegen heute aufbauen können, stammen aus dieser dunklen Zeit! Möchten Sie etwa darauf verzichten? Als Ihr Großvater das Promidal entwickelte ...« Nein! Paula hatte das Gefühl, als würde um sie herum die Zeit angehalten. Das. Konnte. Er. Doch. Einfach. Nicht. Gesagt. Haben. »Was?« fragte sie erschüttert. »Mein ... Großvater?« »Ja, natürlich!« bestätigte Grombek begeistert. »Der Großmeister der Loge, bis Kriegsende. Ich dachte. Sie wüßten das!« Er schaute Paula besorgt an. »Er war einer der Besten.« Paula stand da wie vom Donner gerührt. »Mein Großvater?« wiederholte sie. Sie glaubte, den Verstand zu verlieren. Grombek redete ungerührt weiter. Er versuchte, ihr das Unerklärbare zu erklären: »Die Experimente Ihres Großvaters sind heute schon legendär! Dieser Tatendrang, diese Erkenntnisse ... es waren doch nur Gefangene, Schwerkranke, lebensunwertes Gesindel ...« Nein! Paula wollte das nicht mit anhören. »Denken Sie an all die phantastischen Präparate! Sie haben sie doch gesehen ...« Lieber Gott, nein, bitte nicht, laß das nicht... »... lebend seziert, meisterlich, niemand hat jemals wieder diese Kunstfertigkeit erreicht.« Paula konnte nicht mehr zuhören. Sie konnte das alles nicht mehr ertragen. Sie warf das Skalpell auf den Tisch, wandte sich ab und rannte verzweifelt davon. Sie preschte zur Tür hinaus, in den dunklen Gang hinein. Alles - selbst Hein in die Arme zu laufen - war besser, als zu bleiben. Sie wollte lieber von der Dunkelheit verschlungen werden, lieber von Hein gefoltert werden, als der furchtbaren Wahrheit ins Auge zu sehen. Opa! Mein eigener Großvater - ein Antihippokrat. Ein Forscher ohne Moral. Ein kaltblütiger Mörder! file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (129 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Professor Grombek sah Paula schweigend und nachdenklich hinterher. »Du hättest es ihr sagen sollen, alter Freund«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Dein Sohn war immer zu schwach, aber du selbst hast immer gesagt, daß aus dem Mädchen etwas werden könnte. Und jetzt war all deine Mühe mit ihr umsonst...«
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Sie wollte weinen. Sie wollte schreien. Sie wollte um sich schlagen, treten, jemandem weh tun, sie wollte sich abreagieren, und doch wußte sie, dass nichts davon helfen würde. Paula konnte es einfach nicht fassen: Ihr Großvater wußte über alles Bescheid, war sogar Mitglied in der Loge gewesen! Ein Großmeister! Ein ... ein Mörder! Hatte er sich etwa deswegen so gefreut, daß sie für Heidelberg zugelassen wurde? Hatte er heimlich gehofft, daß sie sich der Loge ebenfalls anschloß? Wie oft hatte er sie als seine »wahre Erbin« bezeichnet - hatte er dabei auch an diese entsetzlichen Untaten gedacht? Glaubte er wirklich, daß sie so etwas machen würde? Hatte er sie all die Jahre so unterstützt, so gefördert, nur um sie dann zu einer Mörderin zu machen? Paula wurde übel. Galle biß in ihrer Speiseröhre. Immer wieder kamen ihr die Tränen. Henning, rief sie sich zur Ordnung, Henning! Das hilft dir jetzt nicht weiter. Los, denk nach. Es gibt immer eine logische ... Der Gedanke schnitt sie wie ein Messer. Das war SEIN Gedanke. SEINE Lehre. Trotzig wischte sie ihr Gesicht mit dem Handrücken trocken und zog die Nase hoch. Nein. Sie hatte lange genug auf ihn gehört. Jetzt würde er ihr zuhören müssen. Er würde nicht unge-
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schoren davonkommen! Paula kochte vor Wut. Ihr Großvater machte unethische Menschenversuche, und seine Nachfolger töteten Studenten, brandmarkten Leichen und versuchten, sie zu töten. Töten? Ja. Töten. Als Paula unbemerkt aus dem Neuen Trakt entkam und so schnell wie möglich zu ihrem Apartment lief, wurde ihr mit einem Schlag klar, was hier passierte. Wach auf, Henning. Das ist hier kein Spiel mehr. Und das ist auch kein blöder Krimi. Das hier ist alles echt. Das hier ist tödlicher Ernst! Sie packte nur die nötigsten Sachen. Der Weg zum Heidelberger Bahnhof war nicht weit. Wenig später ratterte sie im Zug durch die Nacht. Sie konnte nicht lesen, konnte nicht denken. Starrte nur zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. Düstere Gedanken schwirrten durch ihren Kopf. Was war mit Hein los? Wo steckten Phil und Gretchen? Und wer war bloß der zweite Arzt, der hinter ihr hergewesen war? Was wußte Caspar? Hatte er etwas mit den Antihippokraten zu tun? Steckte er vielleicht sogar mit Hein unter einer Decke? War er es gewesen, der ihr in dem finsteren, einsamen Gang vermummt entgegengekommen war? Und was war mit Grombek - ihrem Professor, der offenbar auch ein angesehenes Mitglied der Loge war? Und was ist ... mit mir? Hatte sie sich vielleicht sogar mitschuldig gemacht, als sie nicht hinterfragt hatte, woher ihre Leukämie-Kulturen kamen? Hätte sie aufmerksamer sein müssen? file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (131 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Hätte sie Menschenleben retten können? Und wie hatte sie ihren Großvater nur so verkennen können? Wie hatte sie sich so täuschen können? Paula hatte ihn immer, solange sie überhaupt denken konnte, für einen herzensguten Menschen gehalten. Ja, er war streng, aber vor allem auch gerecht. Im Grunde ein Bilderbuchopa, der ihr Mut machte, alles zu versuchen und hochfliegende Ziele zu verwirklichen. Sie sah seine Hand vor sich, die ihre hielt: Seine Hand, die getötet hatte! Sie erinnerte sich an den liebevollen Blick aus seinen Augen: Augen, die Morde geschehen sahen! Paula war verzweifelt. Draußen in der Dunkelheit wischten Strommasten vorbei. Dann und wann ein Auto, eine Straßenlampe. Der Zug raste durch die Nacht. Sie würde erst spätnachts in München ankommen, aber das war ihr egal. Ins Krankenhaus zu kommen dürfte kein Problem sein. Sie würde den alten Mann wach rütteln und zur Rede stellen. Er hatte sie getäuscht! Paula hatte ihren Großvater verehrt als jemanden, der Menschenleben retten wollte. Als einen engagierten Arzt und Forscher. Nicht als einen Menschenschlächter, der gnadenlos tötete, wenn es ihm in den Sinn kam, der log und betrog und ... und alles darangesetzt hatte, sie auch auf diesen Weg zu führen! In München nahm Paula sich ein Taxi. Der Weg zu der Privatklinik, in der ihr Großvater lag, dauerte knapp fünfzehn Minuten. Sie klingelte, winkte dem Nachtportier nur kurz zu, der sie erkannte und glücklicherweise ohne Rückfrage durchließ. »Paula?« Im Gang zum Zimmer ihres Großvaters traf sie überraschend ihre Eltern. Paula blieb staunend stehen. Ihre Mutter schaute sie stumm an und nahm sie dann in die Arme. »Schatz, da bist du ja schon«, murmelte sie. »Hat man dich benachrichtigt?« Paula löste sich aus der Umarmung und schaute ihre Mutter fragend an. »Wieso? Was ist passiert?« fragte sie. »Na, wegen Großvater«, erklärte ihre Mutter. »Was ist denn mit ihm?« fragte Paula erschrocken - und im selben Augenblick wußte sie es. Er war gestorben, bevor sie ihn zur Rede stellen konnte! Dieses Schwein! Paula riß sich von ihrer Mutter los und lief den Gang weiter ins Zimmer ihres Großvaters. Das Bett war leer, die Apparate abgeschaltet. Eine Schwester zog gerade die Bettwäsche ab. Die Laken raschelten
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leise. Paula blieb in der Tür stehen, schaute, wandte sich ab. In ihren Augen standen Tränen. »Aber ich wollte ...« stammelte sie fassungslos. »Ich wollte doch ...« Sie stand mit hängenden Armen kraftlos da. Ihr Vater war ihr nachgekommen und nahm sie nun in die Arme. Paula flüsterte: »Er ist mir so widerlich.« Ihr Vater verstand sofort. »Heidelberg?« Dann drückte er sie fest an sich. »Heidelberg.«
Woher ihr Vater den Kaffee hatte, wußte Paula nicht. Die letzten Minuten waren für sie wie ein Film gewesen. Sie wußte noch, daß sie mit dem Zug gekommen und mit einem Taxi ins Krankenhaus gefahren war. Daß ihr verlogener Großvater sie im Stich gelassen hatte. Dieser feige Verräter. Paula saß neben ihrem Vater auf einer Bank im Gang der Intensivstation. Sie hielt - ebenso wie ihr Vater – einen Becher mit dampfend heißem Kaffee in Händen. »Ach, Paula!« Dr. Henning klang erschöpft. »Du kannst einen Körper bis in die Moleküle zerlegen und untersuchen. Aber die Seele können wir nicht einmal in ihren Grundzügen erfassen.« »Es stimmt alles?« fragte sie mühevoll. Sie hatte ihrem Vater gerade von den entsetzlichen Entwicklungen der letzten Wochen erzählt - und von Großvaters Position in der Loge. Müde nickte Dr. Henning. Es war kaum zu sehen. Er schämte sich für seinen Vater. »Ja«, bestätigte er. Ach, Paula, ich weiß, was jetzt in dir vorgeht. »Du haßt ihn, und du liebst ihn gleichzeitig. Ich kenne das.« Er mußte schlucken. »Seit ungefähr fünfzig Jahren.« Ihr ganzes Leben lang hatte er versucht zu verhindern, daß Paula von dem schrecklichen Geheimnis der Familie erfuhr. Er hatte versucht, sie davor zu schützen - es gab noch so viele andere Berufe. Noch so viele andere Berufungen. Doch sein Vater, dem er immer wieder ins Gewissen geredet
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hatte, Paula in Ruhe zu lassen, hatte ihn immer nur ausgelacht. Sie ist stärker als du, hatte der alte Mann erst vor wenigen Wochen zu ihm gesagt, sie ist stärker und besser. Sie wird nicht heulend angelaufen kommen, wenn sie die Chance hat, wirklich etwas zu bewirken. Unauslöschbar hallten diese Gedanken immer wieder in Dr. Hennings Kopf wider. Stärker. Besser. Wenigstens eins hatte sein Vater ihm versprochen - daß er Paula selbst entscheiden lassen würde. Sie wird sehen, wozu wir fähig sind, hatte der alte Mann gesagt, und sie wird wissen, wie sie sich entscheiden muß. Dr. Henning hatte Angst gehabt, schreckliche Angst. Daß er Paula nicht für seine Art der Medizin begeistern konnte, für die menschliche Seite, hatte immer wie ein Damoklesschwert über ihm gehangen. Und daß er das eine, das letzte Argument nicht benutzen würde – sie hätte ihm ja sowieso nicht geglaubt. Aber nun war das Geheimnis gelüftet. Dr. Henning war erleichtert. Fast fünfzig Jahre Schweigen und Leiden waren zu Ende. Noch einmal legte er seinen Arm um Paula und drückte sie an sich. Paula schaute mit leerem Blick zu Boden, auf ihre Fußspitzen. Sie schämte sich für ihre Unbedarftheit, sie ärgerte sich über ihre Treuherzigkeit. Und sie trauerte, trauerte um ihren Opa, der für sie gestorben war; sie dachte dabei nicht an den Körper, der den Kampf ums Überleben aufgegeben hatte, und nicht an den Geist des skrupellosen Wissenschaftlers - nein, sie trauerte um den Großvater, den sie gekannt hatte, auch wenn er nun nur noch eine Täuschung zu sein schien. Und sie trauerte um sich, um sich und um ihren Lebenstraum, so zu werden wie ihr Großvater, den sie so lange unendlich bewundert hatte.
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Während Paula im Krankenhaus den Kopf in ihren Händen vergrub und um ihren Großvater und ihre Zukunft trauerte, fand in Heidelberg eine Versammlung der antihippokratischen Loge statt. In dem düsteren Raum hatten sich alle zwölf Logenbrüder versammelt. Die meisten von ihnen trugen die klassische Kluft, die ihre Gesichter verhüllte. Nur Hein hatte trotzig die Kapuze zurückgestreift. Er hatte in der ersten Reihe Platz genommen. Neben ihm saß nur noch ein weiteres - maskiertes - Logenmitglied. Die anderen, hinter ihnen, tuschelten entsetzt. »Zwei Studenten getötet?« file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (134 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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»Das ist ein Verbrechen!« »Unerhört!« »Wie konnte das passieren?« »Man muß die Polizei verständigen!« Hein und sein Nachbar schauten ungerührt nach vorne. Hinter einem großen Tisch saßen dort der Femerichter, ein älterer Professor in vollem Ornat, sowie Professor Grombek als sein Beisitzer.Grombek sah gequält und unglücklich aus. Der Femerichter bat um Ruhe: »Silentium! Silentium strictissime!« rief er. Das Gemurmel verstummte. Aller Blicke richteten sich gespannt nach vorne. Auf dem Tisch vor Grombek und dem Femerichter lagen ein dickes altes Buch - das Gesetzbuch der Loge -, das spezielle Operationsbesteck der Logenbrüder, ein Skalpell, eine Sanduhr, eine Kerze mit den drei A aus Wachs und eine Waage. Der Femerichter schaute Hein vorwurfsvoll an. Alle wußten, was heute hier verhandelt wurde. Hein erklärte kühl und emotionslos: »Die menschlichen Testate, die wir präpariert haben, waren alle Morituri: zwei Tumore, eine Leukämie, eine chronische Valvulitis im Endstadium. In den beiden zuvor angesprochenen Fällen bekenne ich mich des Regelverstoßes für schuldig.« Zornig fuhr der Femerichter ihn an: »Jetzt hör mit der Loge auf! Du hast Menschen ermordet, Kommilitonen sogar! Das sind Verbrechen jenseits von ...« Hein unterbrach den Älteren eiskalt: »Ich habe gegen die Regeln des Buches verstoßen« - er deutete auf den dicken Band auf dem Richtertisch - »und akzeptiere die vorgesehene Strafe.« »Junge«, wies der Femerichter ihn zornig zurecht, »die Loge dient unserer Forschung als traditionelle Form, um ...« Aber wieder unterbrach Hein: »Was? Als okkulter Schnickschnack rund um eure verbotenen Arzneimitteltests?« fragte er böse. »Bißchen abkassieren von der Pharmaindustrie? Die Loge hat sich immer im großen Stil über Gesetze und die herrschende Moral hinweggesetzt. Ihr macht mit eurer kleinkarierten Profitgier die
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Ideale kaputt!« »Was erlaubst du dir!« wehrte der Femerichter ab. »Das ist ...« Hein sprang auf, packte das Skalpell, das auf dem Tisch lag, und rief: »Ich kenne die Regeln!« Mit raschen Bewegungen fuhr er sich dreimal quer über die linke Wange. Die Schnitte begannen augenblicklich stark zu bluten. Hein trat einen Schritt auf seine Widersacher zu, sein blutiges Gesicht kam ihnen unangenehm nahe. Eisig verkündete er: »Was wir machen« - er deutete jetzt hinter sich auf seinen verhüllten Sitznachbarn -, »das ist reine Forschung, nicht eure Scheiß-Spießermedizin! Was interessieren mich denn die Wehwehchen irgendeiner Rentnerin, die zwei Jahre später sowieso abkratzt? Sehen Sie sich unsere Präparate an: Das ist Wissenschaft und Forschung für die Ewigkeit!« Hein starrte den Femerichter herausfordernd an, zitterte vor Wut. Blut lief über sein Gesicht, sammelte sich am Kinn und tropfte lautlos auf den Boden. Professor Grombek, der bislang wortlos dagesessen hatte, erhob sich. Er streifte seinen Antihippokratenumhang ab und legte ihn auf die Stuhllehne. Dann sagte er würdevoll: »Als sein Professor und Großmeister übernehme ich die Verantwortung. Ein Eifersuchtsmord ist keine interne Logenangelegenheit. Ich werde den Fall der Polizei übergeben, mit allen Konsequenzen für mich persönlich.« Es herrschte Stille ihm Saal. Grombek wartete noch einen kurzen Augenblick, dann wandte er sich ab und verließ festen Schrittes den Raum. »Tun Sie das nicht!« schrie Hein ihm nach. »Sie werden das nicht tun! Das werden Sie bereuen!« Aber Grombek blieb nicht stehen. Die anderen Logenbrüder begannen zu tuscheln. Der Femerichter saß
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macht- und wortlos da. Außer sich vor Wut starrte Hein Grombek hinterher, bis die Tür ins Schloß fiel. Nein, alter Mann, so nicht. Er war fest entschlossen, die Loge zu retten.
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Paula stand allein im Arbeitszimmer ihres Großvaters. Es war Nacht. Vor wenigen Stunden erst war er gestorben, hatte sie allein gelassen, war lieber vor den höchsten aller Richter getreten, als seiner Enkelin Rede und Antwort zu stehen. Paula sah sich um. Der Raum war gediegen eingerichtet: Mahagoni, Leder, Messing. Auf dem massiven, dunklen Schreibtisch stand immer noch eine Kristallkaraffe mit Cognac, den nun niemand mehr trinken würde. In einer imposanten Bücherwand warteten zahllose Fachbücher und medizinische Standardwerke auf wißbegierige Leser. An der .Wand hingen Auszeichnungen und Diplome, dazwischen Familien- und Erinnerungsfotos: Paulas Großvater mit Politikern, Kirchenmännern, Würdenträgern. Mit Paula an der Hand, er noch in seiner Dekanstracht dasselbe Bild, das auf ihrem Nachttisch in Heidelberg stand. Paula betrachtete all das mit rotgeweinten Augen. Sie hatte die Arme schützend vor der Brust verschränkt. Zögernd, fast ängstlich näherte sie sich der Wand mit den Urkunden. Zwischen den vielen anderen entdeckte sie eine schön gerahmte große Urkunde. Die Ernennung zum Großmeister der Antihippokratenloge Heidelberg. Paula blieb der Atem weg. Sie haßte ihren Großvater! Als kleines Mädchen hatte sie in seinem Arbeitszimmer brav gespielt. Als größeres Mädchen hatte sie die Ruhe in seiner Nähe genossen. Als junge Frau hatte sie seine Anerkennung gesucht. Und nun war alles vorbei - er
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hatte sie um ihre Kindheit betrogen, um ihre Träume. Um ihre Zukunft. Ich kann das nicht mehr sehen... ich will das nicht mehr sehen! Paula sah sich suchend um. In einem Ständer vor der Zimmertür entdeckte sie einen Golfschläger. Sie zog ihn heraus, wog ihn in der Hand. Drehte sich um, riß ihn hoch, ließ ihn in einer einzigen geschmeidigen Bewegung auf die Ehrenurkunde der Antihippokraten krachen. Sie zerschmetterte Glas und Rahmen, die Überreste regneten auf den Teppichboden. Paula keuchte. Sie hob den Golfschläger erneut und schlug weitere Erinnerungsstücke von der Wand. Stück für Stück und Schlag für Schlag löschte sie die Erinnerung an ihren Großvater und seine Untaten aus. Zuletzt hob sie noch einmal schnaufend den Schläger, zielte und ließ ihn genau gegen das Bild von sich und ihrem Großvater krachen. Hand in Hand waren sie damals gegangen. Sie hatte ihm vertraut. Nie wieder, schwor sich Paula, nie wieder! In Paulas Augen standen Tränen. Erschöpft ließ sie den Golfschläger fallen und schaute noch ein letztes Mal auf die am Boden liegende Urkunde der Antihippokraten. Sie hob eine Hand vor den Mund, um nicht laut loszuschluchzen. »Er war immer noch stolz darauf«, murmelte sie entsetzt. »Arzt sein ist immer noch der schönste Beruf.« Sagte ihr Vater ruhig, der leise im Türrahmen aufgetaucht war. »Auch in der Forschung.« Paula wandte sich zu ihm um. »Aber ich kann doch nicht mehr ...« sagte sie hilflos. Sie mußte den Satz nicht beenden. Dr. Henning schüttelte den Kopf. »Ach Paula ... Ich weiß, daß ich kein großer Mediziner bin, ich habe nicht deine Begabung. Ich habe nie beweisen können, daß es auch anders geht.« Paula begann zu weinen. Schutz suchend schlug sie die Hände vor ihr Gesicht. Ihr Vater fuhr fort: »Du bist doch stark, Paula. Du hast ein Herz. Du kannst alles anders machen.« Aber Paula war da nicht so sicher. Alles, was sie spürte, war die unendliche Verzweiflung, die ihr Herz erfüllte. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (139 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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Ihr Herz und ihr ganzes Sein. Sie hatte das Gefühl, von einer riesigen Dunkelheit umhüllt und für immer ausgelöscht zu werden. Paulas Panik nahm noch zu, als sie die Stimme von Professor Grombek auf dem Anrufbeantworter ihres Vaters hörte. »Hier Grombek, dies ist eine Nachricht für Paula Henning. Bitte rufen Sie mich dringend zurück. Heidelberg 23 17 59. Oder kommen Sie gleich morgen früh zu mir. Wir haben hier tatsächlich ein weit größeres Problem, als ich befürchtet hatte. Man muß wohl doch die Polizei einschalten.« Aufgeregt wählte Paula Grombeks Nummer. Es läutete und läutete, aber er ging nicht ran. Er konnte nicht.
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Professor Grombek lag am Boden. Er war von der Logenversammlung nach Hause zurückgekehrt und hatte noch im Mantel bei Dr. Henning in München angerufen und eine Nachricht für Paula hinterlassen. Als er aufgelegt hatte und sich umdrehte, stand ihm Hein gegenüber. Einen Moment lang starrten die beiden Männer sich an - Grombek irritiert, erschrocken, schwach, Hein dagegen kalt, überlegen, zu allem entschlossen. In seiner Hand hielt der Student ein blitzendes Skalpell. Grombek wich einen Schritt zurück und stieß gegen das kleine Tischchen, auf dem sein Telefon stand. Er wollte schreien, machte den Mund auf, Hein hob die Hand mit dem Skalpell... ... und durchtrennte mit einem einzigen schnellen Schnitt Grombeks Halsschlagader und Luftröhre. Danach zog er die Waffe quer über Grombeks Brust. Zuletzt rammte er ihm das Skalpell in den Bauch, riß die Klinge zur Seite. Der dritte lange Schnitt, der file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (140 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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dritte Schnitt der Antihippokraten. Grombek starrte ihn bloß an und sackte langsam, ohne ein 'Wort, zu Boden. Hein schaute auf den sterbenden Professor herab. Das hatte er nun davon, daß er die Loge verraten wollte. Jetzt mußte er sich nur noch um diese Paula kümmern. Das Luder war zäher, als er gedacht hatte. Aber dafür war er nicht allein. Er hatte einen Verbündeten, sie nicht. Wenn sie wüßte, wer es war ... Hein grinste. Darauf würde sie niemals kommen. Hein wandte sich ab und verließ Grombeks Villa genau so, wie er gekommen war: durch den Wintergarten mit den Orchideen und Schmetterlingen. Er hatte eines der mannshohen Fenster eingeschlagen. Er ließ die Tür zwischen Wintergarten und Haus offenstehen. Einige gelbe Falter schlüpften heraus, flatterten hinüber zu ihrem toten Besitzer und ließen sich auf ihm nieder. Es sah aus, als nippten sie an Grombeks Blut, das sich auf dem Boden immer weiter ausbreitete.
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Gleich am nächsten Morgen saß Paula schon wieder im Zug und eilte dann vom Heidelberger Bahnhof aus direkt zur Villa von Professor Grombek. Es war noch früh, die Luft war kalt, obwohl die Sonne bereits sommerlich strahlte. Ihr Vater hatte sie gebeten, den Rest der Polizei zu überlassen. »Es ist zu gefährlich, Paula«, hatte er versucht sie zurückzuhalten. Aber Paulas Entschluß hatte festgestanden. »Papa, laß mich. Ich muß das zu Ende bringen. Und die Polizei«, sie schnaubte verächtlich, »glaubt mir sowieso nicht. Mach dir keine Sorgen. Ich pass schon auf mich auf.« Sie hatten sich lange umarmt zum Abschied, viel länger als in den letzten Jahren. Paula klingelte an Grombeks Tür, aber niemand öffnete ihr. Sie hielt ihren kleinen Rucksack ungeduldig in der Hand. Sie klingelte noch einmal, länger jetzt. Aber wieder nichts. An dem Zaun, der bis zur Tür führte und den Vorgarten des Hauses abtrennte, steckte ein kleines Briefchen, auf dem Paula Henning stand. Sie zog es heraus und entfaltete ein Blatt Papier. Auf Grombeks gedrucktem Briefpapier stand: file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (141 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
Anatomie
Mußte schon weg. Kommen Sie heute abend gegen 20 Uhr in die Präparatenkammer. Weiteres dort. Grombek
Paula betrachtete den Brief stirnrunzelnd. Das war schon merkwürdig. Erst rief er sie an, dann war er nicht zu erreichen. Jetzt stand sie wie bestellt vor seiner Tür, und er war wieder nicht da. Statt dessen wollte er sich plötzlich erst am Abend mit ihr treffen. So wichtig schien es also doch wieder nicht zu sein. Aber was sollte sie tun? Sich den Kopf zu zerbrechen half auch nichts. So blieb ihr wenigstens noch Zeit, nach Gretchen und Phil zu suchen. Vielleicht hatten die beiden ja wirklich nur ein paar Tage geschwänzt, weil sie so gierig aufeinander waren ... bei Gretchen war schließlich alles möglich. Von dem Kartentelefon im Foyer des Wohnheims aus rief Paula erneut Gretchens Mobilnummer an. Immer noch die Mailbox. »Gretchen, Mensch, melde dich endlich bei mir«, sprach sie ihr aufs Band, »und egal, was passiert, du mußt dich unbedingt von Hein fernhalten. Gretchen, der ist der totale Psycho. Also, melde dich bei mir!« Dann ging Paula in das gemeinsame Apartment. Ihr Zettel hing noch immer an Gretchens Tür. Paulas Herz krampfte sich zusammen. Hier stimmte etwas nicht, das spürte sie ganz eindeutig! Weibliche Intuition, hätte Professor Grombek das genannt. Paula schmiß ihren kleinen Rucksack in die Ecke und sank verzweifelt auf ihr Bett. Wenige Sekunden später sprang sie wieder auf und schaute hinter sich. Kein Blut. Das war ja wenigstens mal eine erfreuliche Abwechslung. Paula verließ das Apartment und ging den Flur entlang. Sie klopfte bei Caspar. Der machte auf und guckte verschlafen. Paulas Anblick machte ihn wach: Sie hatte rotgeheulte Augen, ihre Nase lief, sie war bleich, und unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. »Paula! Hey, was ist denn mit dir los?« »Gretchen ist immer noch verschwunden!« sprudelte es aus Paula heraus. »Und Hein ...« Sie schaute besorgt file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (142 von 171) [29.12.2000 14:24:37]
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den Gang auf und ab. Caspar legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Komm doch erst mal rein«, sagte er. »Ist Gretchen nicht vielleicht mit Phil übers Wochenende weg?« Paula begann vor lauter Ratlosigkeit zu weinen. »Ja, kann sein«, schniefte sie. »Es ist nur ...« Caspar trat einen Schritt vor und nahm sie in die Arme. Er hielt sie ganz fest, streichelte ihren Rücken und murmelte beruhigend: »Paula ... ganz ruhig! Es wird alles wieder gut! Paula wollte nicht umarmt werden. Sie wollte etwas tun. Und sie wollte auch nicht heulen! Aber es tat so gut, zu heulen und umarmt zu werden, es tat so gut... Sie preßte sich fester an Caspar, klammerte sich verzweifelt an ihn, als würde sie ertrinken. Er streichelte ihren Rücken und sprach beruhigend auf sie ein. Langsam entspannte sie sich ein wenig. Sie folgte ihm ohne nachzudenken, als er sie in sein Zimmer führte. Dort blieben sie in der Mitte des Raumes stehen. Caspar hielt sie immer noch fest. Streichelte ihren Rücken, küßte ihre Stirn, ihre Schläfe. Plötzlich war Paula alles andere egal. Sie dachte nicht mehr - sie handelte, hob ihren Kopf, ihre Lippen fanden seine. Es war ein schöner Kuß, er schien unendlich, aber natürlich war er irgendwann vorbei. Caspar schaute sie lange an. Sie hielt seinem Blick stand. Dann sanken sie auf das Bett. Danach lag Paula noch eine Weile wach und lauschte Caspars gleichmäßigen Atemzügen. Es war sicher nicht der beste Sex ihres Lebens gewesen dafür war sie zu angespannt, zu unglücklich, zu durch-
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einander, aber ihr war klar gewesen, daß sie Sex brauchte. Daß sie die Bestätigung brauchte, daß ihr Körper noch lebte, so sie noch lebte, und daß sie etwas Reales hatte in dieser Welt, die ihr von Tag zu Tag, von Ereignis zu Ereignis fremder wurde. Caspar war echt, er war da, und er war vor allen Dingen nicht falsch. Ein Fels im Chaos, und noch dazu ein sehr sanfter und zärtlicher Fels. Wenn es so etwas überhaupt gab ... Paula lächelte, schmiegte sich noch ein wenig näher an Caspar, genoß seine Gegenwart, seine Wärme, und ließ sich dann nur zu gerne vom Schlaf überwältigen ... Paula erwachte am späten Nachmittag. Das Licht, das durch die Vorhänge schien, war bereits sanft geworden. Sie betrachte Caspar, der neben ihr schlief. Junge, hast du dich so anstrengen müssen. Lächelnd spielte sie mit seinen dünken Locken. Eigentlich war er ja doch ganz nett. Sie küßte ihn liebevoll auf die Stirn. Caspar grunzte im Schlaf und drehte sich weg. Männer! dachte Paula lächelnd. Leise stand sie auf. Sie schaute sich um, dann nahm sie Caspars Schlabberpulli und schlüpfte hinein. Sie verließ das Zimmer und ging in den Gemeinschaftsraum des Apartments. Von dort aus betrat sie das kleine Badezimmer. Auf dem Rand des Waschbeckens lagen Rasiercreme, Zahnbürsten und eine ausgedrückte Zahnpastatube. Unter dem Waschbecken ein T-Shirt von Caspar. Paula hob es hoch, roch daran und lächelte. Der Duft weckte angenehme Erinnerungen in ihr. Sie legte das T-Shirt wieder hin und öffnete neugierig den Badezimmerschrank. Sie nahm Caspars Zahnbürste heraus, drückte etwas Zahnpasta darauf und putzte sich die Zähne. Dabei sah sie sich in dem kleinen Schränkchen um. Pickelcreme, Peeling, Kondome, After-shave. Was Jungs halt so haben. Dann stutzte sie plötzlich. Ganz unten im Schrank stand ein kleines medizinisches Fläschchen. Das sah nicht nach irgendwelchen Grippetropfen aus. Mit zitternden Fingern griff Paula, die Zahnbürste noch im Mund, nach dem Fläschchen. Nahm es, drehte es so, daß sie die Aufschrift lesen konnte. Promidal.
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Paula spuckte den Schaum ins Becken, spülte sich hektisch den Mund, nahm das Fläschchen in die Hand. Es war halb voll. Panisch sah sie sich um, stellte das Promidal zurück und klappte den Schrank zu. Eine eiskalte Gänsehaut rann ihr über den Rücken. Nein. NEIN! Neinneinneinneinnein ... Sie lief aus dem Bad zurück in Caspars Zimmer, trat leise an seinen Schreibtisch, auf dem haufenweise Bücher und Kopien lagen. Über dem Schreibtisch hing ein kleines Bücherbord. Diese Bücher betrachtete Paula zuerst: Sie waren alt, und viele trugen die AAA /-Markierung. Auf dem Schreibtisch selbst lagen ebenfalls Bücher über die Antihippokraten, Fotobände mit Bildern aus der Nazizeit und vergrößerte Fotokopien der AAA/'Symbole. Paula war entsetzt. Wie hatte sie diesen Kram übersehen können? Wie hatte sie vorher so blind sein können. Caspar? Natürlich! Der zweite Mann! Der, der sie zusammen mit Hein verfolgt hatte. Der, der schon vorher mit ihr über die Antihippokraten reden wollte. Der alles über ihren Großvater gewußt hatte! Als Caspar - der lautlos aufgestanden war - hinter sie trat und ihr auf die Schulter tippte, zuckte sie zusammen und wirbelte herum. »Was ich dir noch erklären wollte ...« Weiter kam er nicht, denn Paula hatte einfach den obersten Bildband vom Schreibtisch gepackt und schlug Caspar damit schreiend gegen den Kopf. Er taumelte zurück, machte gerade den Mund auf, da schlug Paula noch ein zweites Mal zu. Diesmal traf sie mit einer Buchecke genau Caspars Schläfe. Caspar kippte vornüber. Vor seinen Augen verschwamm alles. Hilfesuchend streckte er die Arme aus, aber Paula sprang beiseite. Caspar klammerte sich verzweifelt am Schreibtisch fest. Die Welt drehte sich so verdammt schnell um ihn herum. Paula raffte mit einem Handgriff ihre Sachen zusammen und lief davon.
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Der junge Mann, der sich Caspar nannte, schaute ihr nur machtlos hinterher. Sein Mund öffnete und schloß sich, aber er brachte keinen Ton heraus. Sein Kopf schmerzte, und alles wirbelte durcheinander. Er musste erst einmal wieder zur Besinnung kommen, bevor er sich um Paula kümmern konnte.
Das darf nicht sein, das darf nicht sein! Durch Paulas Kopf schwirrten die Gedanken wie irre gewordene Glühwürmchen - jeder eine Leuchtspur, die sich im Nichts verlor. Was sollte sie jetzt tun? Wie konnte sie sich retten? Was war mit Phil und Gretchen? Wer hatte David auf dem Gewissen? Wie tief steckte Grombek in der Sache drin? War Caspar auch ein Mörder? Ihre Gedanken standen keinen Augenblick still. Besorgt hastete Paula durch den verlassenen Gang zurück in ihr Apartment. Dort schlüpfte sie schnell in ihre eigenen Sachen. Caspars Geruch klebte noch an ihrer Haut – er war ihr widerlich, aber sie hatte jetzt keine Zeit zu duschen. Zudem begann der Angstschweiß, der sich auf ihrem Körper ausbreitete, mit seinem leicht säuerlichen Aroma bereits, ihn zu überdecken. Paula steckte den Kopf zur Tür heraus und sah sich um. Keiner da. Sie schaute auf die Uhr. Zehn vor acht. Höchste Zeit, sich mit Grombek zu treffen. Lautlos schlich sie durch den Flur des Studentenwohnheims. Ein schneller Blick in Richtung von Caspars Zimmer - niemand zu sehen. Dann die Treppe hinunter, zur Tür hinaus, sie lief quer über das dämmerige Unigelände. Der Neue Trakt ragte finster und abweisend auf, die massive Glasfront schien aus lauter schwarzen Augen zu bestehen, die sie vorwurfsvoll anstarrten. Paula drückte die schwere Eingangstür auf und blieb stehen. Nur die Notbeleuchtung brannte. Es dauerte einen Augenblick, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Niemand war zu sehen, und es war totenstill. Richtig unheimlich. Leise schlich Paula weiter, am unbeleuchteten Anatomiesaal vorbei, bis zur Präparatenkammer. Sie öffnete die Tür, tastete nach dem Lichtschalter, drückte darauf. Das Deckenlicht blieb aus, es erwachten bloß einzelne Spotlights zum Leben, die einige Präparate direkt anstrahlten. Wie in einem Museum. Auch in diesem Saal war niemand zu sehen oder zu hören. Vorsichtig kam Paula herein und fragte dann unsicher: »Herr Professor?« Ihre Stimme hallte durch den Raum. Keine Antwort.
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Paula sah sich um. Sie ging ein paar Schritte weiter und stand nun direkt hinter einem der präparierten Muskelmänner. Da! Was war das? Hatte sie nicht eben Schritte gehört? Paula beugte sich vor und entdeckte eine offene Tür. »Professor Grombek?« wiederholte sie fragend. Wieder keine Antwort. Die Schritte kamen näher. Paula hielt den Atem an. Durch die Tür kam Hein. Er trug den grünen Ärztemantel und hielt ein blitzendes Skalpell in der rechten Hand. Er schaute merkwürdig starr geradeaus und schien Paula noch nicht entdeckt zu haben. Mit festem, gleichmäßigem Schritt kam er in ihre Richtung. Paula versuchte, lautlos zurückzuweichen. Eine Falle! Grombek hatte sie hierhergelockt, damit Hein ... sie wagte gar nicht, daran zu denken. Leise trat sie noch ein paar Schritte zurück. Hein ging mit glasigem Blick weiter, er kam immer näher. Plötzlich stieß Paula mit dem Rücken gegen etwas. Sie verlor die Balance und mußte sich umdrehen und abstützen, um nicht zu fallen. Dabei sah sie, was ihr im Weg gestanden hatte: ein neues Präparat. Der Augenblick kam Paula vor wie eine Ewigkeit, und doch erfaßte sie alles im Bruchteil einer Sekunde. Vor ihr stand Gretchen. Sie stand in einer klassischen Statuenpose auf einem Podest, ein Bein und den gegenüberliegenden Arm leicht angewinkelt. Ihre linke Körperhälfte war vollkommen unversehrt, die rechte gehäutet bis auf Muskeln, Nerven und Blutbahnen. Paula taumelte zurück, schrie und stürzte rücklings in eine Glasvitrine links hinter sich. Gläser voller Formaldehyd stürzten zu Boden, zerbarsten krachend, und labberige Organe rutschten fahl über den glattgebohnerten Boden der Präparatenkkammer. Paula konnte ihren Blick nicht von Gretchen lösen und schrie und schrie und schrie. Gretchens Gesicht war vollständig erhalten. Paula hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, konnte aber nicht. Sie saß zwischen Scherben in einem Formaldehyd-See und versuchte, nicht die Besinnung zu verlieren. Galle brannte ihr im Rachen. Wenn sie jetzt aufgab, war sie als nächste dran! Hein trat neben sie, schaute fasziniert sein Werk an und sagte mit sanfter Stimme bewundernd: »Das ist meine schönste Arbeit, weil ich sie wirklich geliebt habe.« Er warf Paula einen kurzen Blick zu, aber sie rührte sich nicht. Dann fuhr er fort: »Ist der menschliche Körper nicht ein Wunderwerk? So schlau aufgebaut, ein file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (147 von 171) [29.12.2000 14:24:38]
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unheimlich intelligentes System, und dabei atemberaubend schön. Deswegen bin ich Mediziner geworden.« Wieder ein kurzer Blick herunter zu Paula. »Du nicht?« Hein hörte sich an wie ein Grundschullehrer, der seiner Klasse im Museum die Reize der Exponate nahe bringen wollte. Mit zwei schnellen Schritten war er bei Gretchen. Ein raffiniertes System von Scharnieren machte es möglich, Gretchens Haut- und Muskelzonen wegzuklappen und somit ihre inneren Organe und das Skelett freizulegen. Zufrieden überprüfte Hein die Funktionen und dozierte dabei: »Die Farben frisch und das Gewebe so voll: Wie wenn man einen Moment Leben festhält!« Mit leuchtenden Augen schaute er zu Paula herüber. »Promidal!« flüsterte er ehrfürchtig. Dann begann er, Gretchen zu streicheln. »Das hat nichts mehr damit zu tun, verwesendes Fleisch zu präparieren.« Dann deutete er auf Gretchens Hals und gab grinsend zu: »Da hab ich geschummelt. Die Aorta ist von wem anderen, die war bei Gretchen irgendwie seltsam verdreht. Aber schau, ihre Lunge: phantastisch!« Dann streckte Hein den linken Arm hoch, griff Gretchen ins Gesicht - und hakte es aus! Mit einem einzigen Griff stahl er ihre Identität, machte sie zu einem namenlosen Präparat. Er packte ihr Gesicht an der Nasenwurzel und zog es einfach ab. Darunter blieb bloß ein leuchtend rotes Muskelgeflecht, aus dem die Augen blicklos hervorlugten wie gläserne Kugeln. Die abgesägte Schädelplatte gab den Blick auf Gretchens Gehirn frei, mit dessen Hilfe sie den Robert-Koch-Wettbewerb dreimal als Jahrgangsbeste abgeschlossen hatte. Verliebt betrachtete Hein Gretchens Gesicht. Er hielt es vor sich und sagte. »Das Gesicht ist nur für mich. Wenn ich hier allein bin, kann ich es dranmachen und ...« Hein konnte den Satz nicht beenden, weil Paula sich plötzlich hochstemmte und wie eine Wilde auf ihn stürzte. Hysterisch schreiend schlug sie auf ihn ein. Hein fiel Gretchens Gesicht aus der Hand - aber nach einer Schrecksekunde packte er Paula mit eisernem Griff am Hals. Er drängte sie zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. Er beugte sich vor, so daß sie seinen eisigen Atem spüren konnte. Er sagte böse: »Du verstehst das nicht. Die meisten verstehen das nicht. Gretchen wird schön sein, für mich. Immer. Auch du wirst schön sein.« In panischer Angst versuchte Paula, sich zu befreien. Aber Hein war zu stark. Sie hatte keine Chance. Ruhig wie ein Roboter zog er ein kleines Fläschchen mit Betäubungsspray aus der Tasche seines Kittels. Er hob die Hand und wollte es Paula ins Gesicht spritzen, aber die wich im letzten Augenblick geschickt aus. Beinahe konnte sie sich Heins Würgegriff entwinden, aber dann ließ der die Sprühflasche fallen, hob den Arm und verpaßte Paula einen präzisen Schlag gegen die Schläfe. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (148 von 171) [29.12.2000 14:24:38]
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Das ist das Ende ... Paula wurde schwarz vor Augen.
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Der junge Mann, der sich Caspar nannte, öffnete die Augen. Alles war so unscharf. Er wälzte sich auf den Rücken. Verdammter Mist. Was war ... wieso ... Paula! Plötzlich schoß ihm die Erinnerung durch den Kopf. Paula hatte die Bücher gesehen. Seine Aufzeichnungen. Und sie war den Antihippokraten auf der Spur! Paula war zu ihm gekommen, weil Gretchen und Phil verschwunden waren. Weil sie sich Sorgen machte.Sie hatte ihm erzählt, was Grombek und ihr Großvater mit der Loge zu tun hatten - aber das hatte er sowieso schon gewußt. Sie suchte Gretchen, sie war mit Grombek verabredet. Er mußte sie aufhalten! Caspar stützte sich mühsam hoch und rieb sich die Schläfe. Er schüttelte benommen den Kopf, aber davon wurde ihm bloß wieder schwindelig. Verdammter Mist. Dabei zählte jetzt jede Minute! Er sah das Buch noch auf sich zukommen, jetzt lag der schwere Bildband neben ihm auf dem Boden. Er schaute darauf herunter. Seine Hand fuhr tastend über seine Schläfe - tatsächlich, da prangte einen fette Beule! Caspar runzelte verärgert die Stirn. Das hatte ja nun wirklich nicht sein müssen. Was für ein verdammtes Pech aber auch! Warum war Paula nur so neugierig? Ob sie überhaupt wußte, in was für eine Gefahr sie das brachte? Caspar wartete, bis der Schwindel abgeklungen war, dann stand er stöhnend auf. Er kam sich vor wie nach einer durchzechten Nacht.
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Ein Blick auf seinen Radiowecker verriet ihm, daß kaum eine Stunde vergangen war, seit Paula ihn k.o. geschlagen hatte. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht konnte er sie noch finden und sie aufhalten. Am besten für immer ... Sie hatte schließlich gar keine Ahnung, in was für einem mörderischen Wespennest sie da herumstocherte! Caspar schaute sich suchend um. Langsam und vorsichtig ging er zu seinem Kleiderschrank. Der Schwindel kehrte nicht zurück. Er hatte zwar pochende Kopfschmerzen, aber die Welt fing nicht wieder an, sich zu drehen. Das war gut. Er hatte noch eine Chance. Er mußte sie finden, bevor es zu spät war! Er klappte die Schranktür auf, zog sich schnell an, und dann machte er sich auf die Suche nach der viel zu neugierigen Paula.
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Paula öffnete stöhnend die Augen. Ihre Lider schienen unlösbar aufeinanderzukleben. Aber sie mußte einfach die Augen aufmachen. Sie wußte genau, wenn sie jetzt nicht die Augen aufbekam, war sie so gut wie tot. Durch den kleinen Spalt zwischen ihren Lidern schien gleißend helles Licht. Paula hatte das Gefühl, direkt in die Sonne zu schauen. Die Strahlen stachen bis tief in ihr Gehirn. Sie blinzelte. Es waren drei Strahler, die ihr ins Gesicht leuchteten. Paula zwang sich, die Augen weiter aufzu machen. Sie lag flach auf dem Rücken, eine Operationslampe leuchtete ihr genau ins Gesicht. Sie fühlte sich schwach, so schwach. Wie gelähmt. »Was ... was ...?« murmelte sie mit trockenem Mund, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (150 von 171) [29.12.2000 14:24:38]
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Plötzlich trat jemand neben sie. Paula zuckte zusammen. Es war Caspar! Er hielt ein Skalpell in der Hand. Paula wollte ausweichen, konnte sich aber nicht bewegen. Sie war eng mit Folie eingewickelt, derselben Folie, mit der sonst die Leichen abgedeckt wurden. »Caspar?« flüsterte Paula panisch. Caspar beugte sich über sie und hob das Skalpell. Paula schloß ergeben die Augen. Vorsichtig durchtrennte Caspar die Folie und befreite sie. Er erklärte: »Ich habe dich gesucht, weil ich erklären wollte ...« Paula öffnete die Augen wieder. Caspar schien sie ja doch nicht töten zu wollen? Er fuhr fort: »Und als ich sah, wie dieser Irre mit der Spritze ...« Er hatte sie jetzt vollständig befreit und deutete auf Hein, der mit Operationsfolie gefesselt am Boden des Kühlboxenraumes nebenan lag. Er schien bewußtlos zu sein; offenbar hatte Caspar ihn niedergeschlagen. Was will er hier? Was hat er getan? Ist er denn doch kein ... Spritze? Paula begriff sofort, was das zu bedeuten hatte. »Er hat mir eine Spritze gegeben?« fragte sie panisch. Caspar nickte und zeigte auf eine automatische Spritze und ein Promidal-Fläschchen, die auf dem Seziertisch neben Paula lagen. Paula versuchte, sich zu bewegen, konnte aber nicht. Verdammt! Das wirkte bereits! Welche Ironie des Schicksals, daß ihr ausgerechnet die größte Entwicklung ihres eigenen Großvaters zum Verhängnis werden sollte! »Scheiße!« rief sie ängstlich. »Caspar, schnell! Eine
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hypertone Salzlösung! Kannst du mir fünfprozentiges Natriumchlorid intravenös ...« Caspar unterbrach sie. Mit sanfter Stimme sagte er beinahe entschuldigend. »Ich weiß, es ist jetzt ungünstig, aber ...«, er suchte nach Worten, »... ich bin eigentlich kein Mediziner.« Paula starrte ihn entgeistert an. »Was?« Die arrogante Maske fiel von Caspar ab. Beinahe schüchtern stand er neben der zu Tode verängstigten Paula im Anatomiesaal und beichtete: »Ich studiere Geschichte. Ich schreibe eine Dissertation über die Antihippokraten. Von ihren Anfängen bis 1945.« »Verdammte Scheiße«, murmelte Paula, »ein Geisteswissenschaftler. « Daß der ihr die rettende Spritze geben konnte, war natürlich unwahrscheinlich. Aber sie musste es versuchen. Ihre Arme, die Beine, die Brust, alles begann sich schon seltsam schwer anzufühlen ... »Eine Spritze, schnell!« schrie sie Caspar an. »Dort im Kasten!« Sie nickte in Richtung der Geräteschränke. Caspar ging eilig eine Spritze holen. »Ich wollte nur an die Instituts-Bibliothek rankommen«, erklärte er dabei, »weil, die erlauben nicht, daß Außenstehende ...« Aber Paula hörte gar nicht zu. »Und jetzt, hinten«, befahl sie, »ein Fläschchen mit Natriumchlorid!« Caspar schaute sie ratlos an. Paula buchstabierte: »Großes N, kleines A, großes C, kleines L!« 0 Gott! Caspar fand endlich die Flasche. »Bei der Zwischenprüfung wäre ich natürlich aufgeflogen«, erklärte er weiter, »aber ich habe eh schon fast alles zusammen.« Ratlos betrachtete er nun die Spritze und das kleine Fläschchen Natriumchlorid. Unsicher fragte er Paula: »Bist du sicher, daß der Schwachkopf dir wirklich was Gefährliches ... ich meine ... vielleicht hat er ja nur ... ?« »Caspar!« »Oliver!« korrigierte der junge Mann, der sich Caspar
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nannte. »Oliver Kaufmann. So heiß ich. Eigentlich.« »Super«, befand Paula finster. »Und jetzt zieh die Spritze auf.« Sie schaute Caspar zu. Oliver? Scheißegal! Der machte es natürlich falsch. »Nein, halt sie verkehrt rum!« »So wie im Fernsehen?« fragte Caspar erstaunt. Paula nickte verzweifelt. Es war nur eine winzig kleine Bewegung, aber sie machte ihr bewußt, wie weit fortgeschritten die Lähmung bereits war. Caspar zog die Spritze auf. »Und das war alles gelogen, was du erzählt hast?« Caspar schüttelte den Kopf. »Nein, das mit dem Metzger hat gestimmt, der mir das Sezieren beigebracht hat.« Er zog die Nadel der Spritze aus der Gummikappe der NaCl-Flasche und fragte Paula: »Und jetzt so in die Luft spritzen?« Paula nickte mühsam. Caspar spritzte eine kleine Fontäne Richtung Decke, damit keine Luftblasen mehr in der Spritze lauerten. Das hatte er so bei emergency room gesehen und immer schon mal machen wollen. »In den Hintern?« erkundigte er sich dann bei Paula. »Nein! Intravenös! In die Vene! Wie die Junkies, im Fernsehen!« Caspar schüttelte sich. »Nee, das bring ich nicht, glaub ich.« »Caspar!« blaffte Paula ihn zornig an. »Spritz mir dieses Scheiß-Antiserum, sonst geh ich drauf, du Idiot!« Ihre Augen funkelten wild. Ihre Stimme klang irgendwie undeutlich. Caspar bekam es langsam mit der Angst zu tun. »Klopfen?« Paula nickte erschöpft. Caspar klopfte auf ihre Vene in der Armbeuge. Paula spürte es kaum, der ganze Arm war bereits wie tot. Hoffentlich schaffte ihr Blutkreislauf es, die Salzlösung schnell genug zu transportieren und das Promidal zu neutralisieren. Und hoffentlich traf dieser Vollidiot überhaupt ihre Ader und stach nicht einfach durch, so wie jede zweite Arzthelferin beim Blutabnehmen! »Und jetzt im niedrigen Winkel in die Vene!« wies sie Caspar an. Als er zögerte, schrie sie verzweifelt: »Mach schon!!« Ihr Körper wollte sich aufbäumen, aber nicht einmal das war mehr möglich. Dann endlich setzte Caspar ihr die Spritze. Erleichtert entspannte Paula file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (153 von 171) [29.12.2000 14:24:38]
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sich. Sie versuchte, ihre Faust zu ballen und den Arm zu beugen, um das Serum im Körper zu verteilen. »Für einen Historiker war das ganz okay, Oliver«, sagte sie dankbar lächelnd. Der beugte sich zu ihr herunter. »Gott sei Dank hab ich deinen Körper ja schon ein bißchen gekannt.« Erleichtert hauchte er ihr einen kleinen Kuß auf den Mund. »Man weiß wirklich nie, wozu es gut ist«, gab Paula grinsend zu. Sie spürte ein Kribbeln, das sich langsam in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Ja, los, kick den ganzen Scheiß aus meinen hellen! Sie mußte lachen: Super, jetzt spreche ich schon mit Natriumchlorid. Caspar fragte besorgt: »Sollten wir dich nicht doch vorsichtshalber ins Krankenhaus bringen?« Paula nickte. Dann griff sie noch einmal nach seinem Arm. »Hast du die ganze Zeit gewußt, was hier abging?« Caspar schaute sie ein wenig schuldbewußt an. »Nein, also, äh, eigentlich nicht... Weißt du, es gab so viele Gerüchte, und dann ...« »Und dann hast du mir nichts gesagt? Du wußtest doch, daß ich den Antihippos auf der Spur war!« Hätte Paula sich schon wieder richtig bewegen können, sie hätte ihm wahrscheinlich eine Ohrfeige verpaßt. »Ja, also«, begann Caspar, »ich dachte zuerst, na ja, daß du wohl auch - ich meine, weil du doch die Enkelin vom alten Henning bist, und auf den bin ich bei meinen Nachforschungen als erstes gestoßen ... Na ja, und als ich es dir dann sagen wollte, an dem Abend, da war plötzlich dieser Hein bei dir, und der stand ja nun mal ganz oben auf der Verdächtigenliste, und ...« Er zuckte etwas hilflos mit den Schultern. »Du mußt noch jede Menge lernen, Clark Kent!« sagte Paula, aber sie sagte es lächelnd, überglücklich, daß nun file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (154 von 171) [29.12.2000 14:24:38]
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alles vorbei war - Hein war gefesselt, die Natriumlösung hatte mittlerweile fast die ganze Taubheit aus ihrem Körper getrieben, und Caspar war kein psychopathischer Mörder, sondern ein schusseliger Reporter ... »Los, ruf den Arzt. Und dann komm und hol dir deine Belohnung ab, mein Held!« Caspar grinste sie an, wandte sich dann ab und ging zum Telefon an der Seitenwand des Anatomiesaales. »Und ruf die Polizei!« rief Paula ihm nach. »Aber eins noch, wie kommt eigentlich das Promidal in dein Badezimmer?« »Promi-was?« fragte Caspar verständnislos. »Promidal«, erklärte Paula. »Das Zeug, mit dem sie die Leute umbringen? Wie kommt das in deinen Allibert?« Caspar antwortete nicht. Paula fragte erstaunt: »Caspar?« Verdammt, sie konnte sich immer noch nicht wieder richtig bewegen. Paula reckte den Kopf, um nach ihrem Retter Ausschau zu halten - da trat plötzlich Ludwig an ihren Seziertisch, schaute auf sie herunter und sagte amüsiert: »Das ist unser Allibert. Das Deo gehört ja auch mir.« Ludwig. Caspars Mitbewohner. Immer bekifft, immer ein bisschen neben der Spur - oder auch nicht. Jetzt trug er einen grünen Arztmantel und lächelte eiskalt. Paula wandte panisch den Kopf zur Seite. Hinter Ludwig standen Hein und Caspar. Hein drückte Caspar ein Skalpell an die Kehle. Ludwig mußte sich hereingeschlichen und ihn befreit haben. Nun wandte er sich von Paula ab, trat an den benachbarten Seziertisch, griff nach der automatischen Spritze, überprüfte den Restbestand an Promidal darin, nickte zufrieden, ging hinüber zu Caspar, setzte die Spritze an dessen Hals an und drückte ab. Paula schloß verzweifelt die Augen.
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Sie hatten Caspar sternförmig auf den Seziertisch in der Mitte gefesselt. Seine Arme und Beine waren gespreizt. Er versuchte, sich zu befreien, konnte sich aber nicht ausreichend bewegen. Außerdem begann das Promidal zu wirken. Unter seinem Rücken konnte er die kühle Operationsfolie spüren. Hein stand über ihn gebeugt und nahm auf seiner nackten Haut Markierungen mit einem Stift vor. Caspar fragte zornig: »Was machst du da? He, Junge, hör auf damit! Ich bin gar kein Mediziner, mich interessiert das alles nur historisch!« Aber Hein kümmerte sich nicht um ihn. Er griff nach einer anatomischen Skizze und hielt sie Caspar hin. Der starrte auf die schematische Querschnittsdarstellung eines Paares beim Geschlechtsakt. »Der Plan ist noch von Paulas Opa - der Zeugungsakt im Querschnitt«, grinste Hein selbstzufrieden. »Ein Ständer für die Ewigkeit, Caspar! Oder besser gesagt, ein halber Ständer!« Er zog die gestreckte Hand von Caspars Hals bis hinunter zwischen die Beine, um den geplanten Längsschnitt anzudeuten. Ludwig trat derweil an den Seziertisch, auf dem Paula lag, und schrieb einige Werte in ein Protokoll. Daß Caspar die Leichenfolie, mit der sie gefesselt gewesen war, zerschnitten hatte, beunruhigte Hein und Ludwig nicht weiter - sie gingen davon aus, daß Paula vom Promidal inzwischen fast vollständig gelähmt war. Das kleine Fläschchen Natriumchlorid und die zugehörige Spritze verbarg Paula unter ihrer linken Hand. Ludwig schaute wie ein netter Arzt auf sie herunter und erklärte freundlich. »Hein hat dir nur drei Milligramm injiziert. Da bist du noch etwa neun Stunden dabei, wenn du deinen Kreislauf ruhig hältst. Das Schmerzzentrum ist aber auf jeden Fall betäubt. Ich finde, das ist für einen Medizinstudenten irgendwie ... interessant. Du kannst genau zuschauen, wie du selbst ... du weißt schon.« Er grinste. Dann hielt er ihr einen Keks hin. »Willst du auch ein Cookie? Wenn du dabei stoned bist, flasht das bestimmt total.« Paula schüttelte bloß ein wenig den Kopf. Sie gab sich alle Mühe, daß ihre Bewegungen eingeschränkt genug aussahen, damit weder Hein noch Ludwig darauf kamen, daß Caspar ihr ein Antiserum gespritzt hatte. Ludwig zuckte mit den Achseln und aß den Haschkeks selber.
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Hein fragte Caspar herausfordernd: »Und? Hast du sie auch gehabt? Die kleine Hure?« Er strich ihn in aller Seelenruhe mit Desinfektionslösung ein. »Gretchen? Was hat die denn damit zu tun?« fragte Caspar zurück. Dann setzt er hinzu: »Ey, Hein, jetzt ist gut. Fummel nicht an mir rum!« Wütend entgegnete Hein: »Wir finden deine Witze jetzt gar nicht lustig, Caspar!« Mit einer raschen Handbewegung griff er zum Skalpell, setzte es an Caspars Solarplexus an und begann, sein Haut mit sadistischer Gemächlichkeit in Richtung Leibesmitte einzuritzen. »Noch ganz flüssig, dein Blut!« bemerkte Hein freundlich interessiert. »Spinnst du?« Caspars Stimme überschlug sich. »Du impotentes Arschloch! Was soll denn das?« »Schau mal«, erklärte Hein ungerührt seinem Kumpel Ludwig, »ich komme zum Schamhaar.« Ludwig sah zu Caspar und Hein herüber. »Hein, jetzt laß mal«, schlug er beschwichtigend vor. Paula schaute ebenfalls in Richtung der beiden. Dabei entdeckte sie die automatische Promidalspritze auf dem Tisch neben sich - leider etwas außerhalb ihrer Reichweite. Hein tönte zornig: »Ich mach diesen arroganten Wichser fertig! Ich mach ihn fertig!« »Du dumme Sau!« schrie Caspar. »Mach mich sofort los! Du spinnst ja total!« Das schien auch Ludwig zu denken. »Komm, Hein, hör auf«, schlug er vor. »Jetzt streß hier nicht rum!« Aber Hein ließ sich nicht beirren. Paula hingegen nutzte das Gestreite, um aufzuspringen und nach der Promidalspritze zu greifen. Sie packte das Gerät und jagte es Ludwig von hinten in die Schulter.
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Mit einem Zischen schoß die gesamte Restmenge in Ludwigs Körper. Er schrie überrascht auf. Hein ließ sein Skalpell fallen und lief zu den beiden herüber. Paula gab Ludwig von hinten einen Stoß, so daß er Hein entgegenfiel. Die beiden gingen zu Boden. Paula rannte aus dem Anatomiesaal. Hein stemmte sich unter Ludwig heraus und lief hinter ihr her. Diese Schlampe! Er kochte vor Wut. Ludwig rappelte sich ebenfalls auf und wankte zum Arzneischränkchen. Aufgrund der hohen Dosis begann das Promidal bereits zu wirken. Die Bewegungen fielen ihm immer schwerer. Ludwig murmelte: »Die Salzlösung, wo ist die Salzlösung? Verdammt, ich brauch eine Salzlösung!« Verzweifelt schmiß er all anderen Flaschen zu Boden – keine Salzlösung. Schließlich drehte er sich um - und entdeckte die leere Flasche NaCl neben dem Seziertisch, auf dem eben noch Paula gelegen hatte. Er verstand. Er mußte seine Salzlö-sung anderswo her bekommen. Erschrocken wankte er aus dem Saal. Caspar blieb allein zurück. Aus seinem Bauch quoll zähes Blut. »N-a-C-1, du Arschloch! Großes N, kleines a!« schrie er. »Scheiße, kann mich vielleicht irgendwer wieder zunähen?« Und als niemand antwortete, grunzte er verzweifelt: »Scheiß Medizinersäcke!«
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Paula rannte um ihr Leben. Hein war hinter ihr her, Ludwig vielleicht auch - obwohl der, wenn er auch nur einigermaßen bei Verstand war, versuchen würde, sein eigenes erbärmliches Leben zu retten. Paula hatte ihm eine so hohe Dosis Promidal gespritzt, da blieb ihm keine halbe Stunde mehr. Aber Hein war auf jeden Fall hinter ihr her, das hatte sie gemerkt; kaum war sie aus dem Anatomiesaal gerast und nach links abgebogen, hatte er auch schon wutschnaubend und zornig brüllend die Verfolgung aufgenommen. Wenigstens sind die Irren jetzt weg von Caspar! Paula lief den schier endlosen Gang entlang. Die Notbeleuchtung tauchte ihre Umgebung in ein fahles, unnatürliches Licht. Paula hörte nichts außer ihrem eigenen stoßweisen Atem und dem Trampeln ihrer Füße auf dem Linoleum. Sie bog um eine Ecke und lief einen weiteren Flur entlang, den sie noch nie benutzt hatte. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wohin er führte. Aber das war ihr auch vollkommen egal. Sie wollte nur weg, so schnell wie möglich. Es ging um ihr Leben! Wenn Hein sie erwischte ... aber daran wollte sie jetzt lieber gar nicht denken. Paula nahm eine weitere Ecke und blieb stehen. Sie preßte sich an die Wand und hielt den Atem an. Sie lauschte. Nichts. Oder hatte sie da doch eben leise Schritte gehört? Lautlos tat sie zwei Schritte zurück in Richtung der Gangecke. Sie spitzte die Ohren. Aber sie hörte nichts. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (159 von 171) [29.12.2000 14:24:38]
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Hein mußte anders abgebogen sein. Oder vielleicht war er auch wieder zurück zu Caspar und Ludwig gegangen, als er Paula aus den Augen verloren hatte. Bestimmt war es so: Er war zurückgekehrt in die Anatomie, um seinem perversen Kumpel Ludwig zu helfen. Um diese Sau zu retten. Und dann würden sie gemeinsam Caspar zerstükkeln ... Aber daraus wurde nichts! Da würde Paula ihnen schon einen Strich durch die Rechnung machen! Sie mußte nur hier herauskommen und die Polizei verständigen. Leise, leise beugte sie sich noch ein Stückchen weiter vor. Sie wollte ganz vorsichtig einen Blick um die Ecke werfen, nur um sicherzugehen - aber als ihr Kopf das Wandende erreicht hatte, zuckte sie panisch zurück. Sie hatte Hein direkt in die Augen gestarrt! Ihr Peiniger hatte sich nur wenige Zentimeter von ihr entfernt ebenfalls an die Wand gepreßt und zentimeterweise vorgeschoben. Sie hatten genau im gleichen Moment um die Ecke geschaut und einander für einen mörderischen Augenblick direkt in die Augen gesehen. Paula hatte das Gefühl, als hätte Heins teuflischer Atem sie verbrannt. Hein hob den Arm und hackte wie ein Irrer mit seinem Skalpell nach Paula. Die tat einen Satz zurück, wandte sich um und rannte wieder los. Hein hatte sie mit einem Hieb am Unterarm verletzt, so daß sie jetzt stark blutete. Aber das schwächte ihren Lebenswillen keineswegs. Hein war dicht hinter ihr. Sie konnte seinen rauhen Atem hören. Plötzlich weitete sich der Gang ein wenig, und Paula entdeckte eine kleine Sitzgruppe. Im Laufen packte sie einen Stuhl an der Lehne und schleuderte ihn hinter sich quer in den Gang. Der überraschte Hein stolperte über den Stuhl und fiel krachend zu Boden. Er schrie vor Zorn, aber Paula hatte ein paar wertvolle Meter Vorsprung gutmachen können! Ludwig schwitzte vor Angst. Seine Beine versteiften sich bereits. Diese beschissene Paula hatte ihm den ganzen Rest Promidal gespritzt - das reichte, um ein Nilpferd lahmzulegen! Ludwig stakste den Gang entlang wie ein Storch durch den Salat. Er stützte sich an der Wand ab. »Ruhig, ganz ruhig«, murmelte er, »jetzt nur den Kreis-
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lauf unten halten, ganz ruhig ...!« Panisch wanderte sein Blick den Gang entlang. Der Weg war noch so weit, und jede Sekunde zählte. Aber wenn er Angst bekam und schneller ging, dann pumpte auch sein Herz schneller und verteilte das tödliche Gift mit rasender Geschwindigkeit in seinem Körper. Das musste er um jeden Preis vermeiden, bis er irgendwoher Salzlösung bekommen hatte. Er brauchte dringend Salzlösung, sonst würde er erbärmlich verrecken! Er würde bei lebendigem Leibe erstarren! Ohne nachzudenken rannte Paula gegen die Doppelschwingtür zum Labor. Wäre die Tür verschlossen gewesen, hätte sie sich wahrscheinlich etwas gebrochen, wäre abgeprallt und zu Boden gegangen, und Hein hätte sie mit einem seiner wütenden Schläge einfach abgestochen. Aber die Tür war offen, und Paula lief einfach hindurch. Hein hinter ihr bekam die zuschwingenden Türen voll ins Gesicht, da er die Arme nicht schnell genug gehoben hatte. Aber das stoppte ihn nicht. Wie ein Berserker durchbrach er krachend die Tür und platzte gleich hinter Paula in das menschenleere Labor. Die Arbeitsplätze für die Studenten befanden sich hier an zehn Meter langen, feststehenden, gefliesten Arbeitstischen, an denen mehrere Studenten nebeneinander Platz fanden. Hier hatte Paula mehr als einen einsamen Abend verbracht, und von hier aus hatte sie auch Bernie angerufen, als sie versuchte, Davids gummiartiges Blut zu analysieren. War das wirklich erst eine knappe Woche her? Fünf dieser Arbeitstische standen hintereinander; auf ihnen befanden sich Glasgefäße, Mikroskope, Flaschen und Ampullen voller Flüssigkeiten. Hinter jedem Tisch standen artig aufgereiht jeweils fünf Drehstühle. Paula hechtete über den ersten Tisch und stürzte in den Gang zwischen Tisch eins und zwei. Sie duckte sich. Glas und Apparaturen, die sie mitgerissen hatte, prasselten auf den Boden und zerbarsten krachend. Hein sprang ihr nach. Paula duckte sich und lief durch den Gang vor Hein davon. Sie blieb jedoch an einem der Arbeitsstühle hängen und ging zu Boden. Auf allen vieren krabbelte sie weiter. Hein stürzte ebenfalls, streckte aber im Fallen noch den Arm aus und stach mit dem Skalpell nach Paulas Beinen. Paula schaute sich gerade in diesem Augenblick um und sah das Skalpell wie in Zeitlupe durch die Luft sausen; sie hatte sogar das Gefühl, es zischen zu hören. Ihre Augen weiteten sich, als die scharfe Klinge in ihr Fleisch fuhr. Ein brennender Schmerz schoß durch ihren Unterschenkel. Entgeistert starrte sie auf die Schnittwunde, Blut tropfte zu Boden,
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Hein riß die rot schimmernde Klinge aus ihrem Bein und wollte gerade wieder ausholen, als er das Gleichgewicht verlor und lang hinschlug. Paula rollte sich zur Seite, kam taumelnd wieder auf die Füße und lief so schnell es nun noch ging weiter. Auch Hein stemmte sich wieder hoch und nahm schreiend wieder die Verfolgung auf. Paula packte eine Flasche mit einer grünlichen Flüssigkeit, die am Ende des zweiten Arbeitstisches stand, und warf sie mit einer geschmeidigen Bewegung hinter sich. Hein duckte sich, aber es war zu spät. Die Flasche traf ihn an der Schulter und zerbrach, die grüne Brühe spritzte ihm über die Brust und das Gesicht. Aber er ließ sich nicht aufhalten, sondern rannte einfach weiter. »Du bist tot, du Miststück!« brüllte er. Paula lief an der Schmalseite der Tische vorbei, blieb aber auf der Höhe des vierten Tisches an einer Ecke hängen und ging wieder zu Boden. Sie schrie vor Angst und drehte sich panisch auf den Rücken, um sich gegen Hein wehren zu können. Der wollte sich auf sie stürzen, aber Paula rollte zur Seite, und der Angriff ging ins Leere. Paula robbte vorwärts, dann schaute sie über ihre Schulter. Hein hob gerade das Gesicht, um sich wieder zu orientieren. Mit aller Kraft trat Paula zu. Sie hörte es deutlich knacken, als Heins Nase brach. Augenblicklich begann er zu bluten. Aber das schien ihn nur noch wütender zu machen. Er hob das Skalpell und wollte wieder nach ihr stechen, aber Paula drückte sich in den Stand hoch und lief davon. Hein kam ihr sofort nach. Vom letzten Tisch vor der Ausgangstür fegte Paula im Vorbeilaufen noch einige Gläser und Apparaturen herunter, denen Hein ausweichen mußte, aber sein Zorn war so groß, daß er sich auch davon nicht aufhalten ließ. Paula schrie vor Angst, und Hein jaulte vor Zorn, als sie im Abstand von Sekundenbruchteilen durch die Ausgangstür des Labors brachen und in die nachtdunkle Bibliothek taumelten.
Ludwig stakste allein und verängstigt in die dunkle Mensa. Der riesige Saal stand voller Stühle und Tische.
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Der Mond schien durch die Panoramafenster herein. Ludwig spürte die Wirkung des Promidals bereits sehr deutlich. Ihm blieben allerhöchstens noch wenige Minuten. Wenn er es bis dahin nicht schaffte, sich eine Salzlösung zu injizieren, war er geliefert. Ludwig taumelte zum erstbesten Tisch und hielt sich an der Kante fest. Er riß den Salzstreuer aus dem Körbchen mit Salz, Pfeffer, Zahnstochern und Maggi, hob das kleine Glasgefäß und starrte hindurch leer!
Wütend und verzweifelt ließ er den Salzstreuer fallen und schleppte sich weiter, zum nächsten Tisch. Die Angst ließ sein Herz rasen, und er hatte das Gefühl, als könnte er spüren, wie sein immer dickflüssigeres Blut das Promidal im ganzen Körper verteilte, es noch bis in die letzte Zelle transportierte. Ludwig stolperte und stieß heftig gegen den nächsten Tisch. Der Halter mit den Gewürzen fiel zu Boden. Ludwig ließ sich auf die Knie herunter und griff zitternd nach dem Salzstreuer. Er hatte Glück: Dieser war noch gut halb voll!
Die Bibliothek lag im Dunkeln, von außen kam nur ganz wenig schwaches Licht herein. Paula versteckte sich in einem Gang zwischen zwei Bücherregalen. Die Bibliothek im Neuen Trakt bestand aus nagelneuen Alu-Schieberegalen, durch die man hindurchsehen konnte, wenn nicht auf beiden Seiten Bücher eingeräumt waren. Ruhig, ruhig, hier muß er dich erst mal finden, er ist auch schon angeschlagen, ruhig! Paula keuchte und schwitzte. Aber sie versuchte, keinen Laut von sich zu geben, damit Hein sie nicht entdeckte. Sie hielt den Atem an - war da ein Geräusch, oder hörte sie nur das Rauschen des Blutes in ihren eigenen Ohren. Da! Ein unterdrücktes Keuchen. Hein kam näher. Plötzlich hörte Paula ein Klatschen - Hein hatte sich flach auf den Boden geworfen und schaute unter den Regalen hindurch. Er suchte nach ihren Füßen. »Paula ... Paula, wo bist du ...«
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Paula hatte das erwartet und sich mit gespreizten Beinen auf die untersten Regalbretter zweier Schieberegale gestellt. Sie hielt sich mit verkrampften Fingern an zwei Brettern rechts und links fest. So einfach mach ich es dir nicht, du Arsch! Plötzlich aber merkte sie, wie frisches, warmes, zähflüssiges Blut an ihrem Bein herunterlief, es sickerte aus der Stichwunde an ihrem Schenkel und lief langsam nach unten. Paula spürte, wie sich ein verräterischer Tropfen bildete. Sie hielt den Atem an und schaute zwischen ihren Beinen auf den Boden. Nein! Ein fetter Bluttropfen landete am Boden. Und noch einer ... »Ruckediguh, ruckediguh!« flüsterte Hein böse und kam näher. »Blut ist im Schuh ...!« Paula schaute sich panisch nach rechts und links um. Heins leise Schritte kamen näher, aber ihr Herz pochte so stark, daß sie sich nicht darauf konzentrieren konnte,von wo die Schritte kamen, wußte nicht, wohin sie laufen sollte ... Ein weiterer Blutstropfen zerbarst am Boden. Plötzlich und unerwartet krachte Heins Hand mit dem Skalpell knapp neben Paulas Kopf durch die Bücherwand. Er mußte auf der anderen Seite des Regals stehen und hatte auf gut Glück versucht, sie zu erwischen. Er schrie wie ein Wahnsinniger, riß seine Hand zurück, fetzte die Bücher aus dem Regal und hielt nach Paula Ausschau. Die sprang vom Regal herunter und rannte so schnell sie konnte davon. Hein verlor wertvolle Sekunden, weil er seinen Kopf durch das Regal steckte und ihr nachsah. Er stemmte sich brüllend gegen das Regal, um es umzukippen und Paula einzuklemmen. Aber sie war schneller und entkam im letzten Augenblick. Die gesamte Regalwand krachte gegen die danebenliegende, und Hunderte von Büchern prasselten zu Boden. Wütend trat Hein nach einem der Bücher. Verdammt! Dann aber stahl sich ein böses Lächeln auf seine Lippen - na also: Vor ihm auf dem Boden konnte er die Blutspur sehen, die Paula hinterließ. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen. »Paula ... Paula, gleich habe ich dich ...« Es würde weder ein schneller noch ein schöner Tod für sie werden. Vielleicht sollte er das Promidal einfach mal weglassen?
Es war Ludwig gelungen, den Salzstreuer aufzuschrauben und das Salz in ein Glas zu schütten. Er ließ den Salzstreuer fallen. Klirrend landete er im Waschbecken, vor dem Ludwig kniete. Mühsam drehte er den Warmwasserhahn auf, hielt das Glas unter den Wasserstrahl, wartete. Das Salz löste sich in dem warmen Wasser schnell auf. Ludwig stellte das Glas auf den Rand des Waschbeckens, holte die Spritze, die er im Anatomiesaal eingesteckt hatte, aus seiner Kitteltasche und zog die Salzlösung auf. Dabei zitterte er bereits so heftig, daß er das Wasserglas vom Beckenrand stieß. Es fiel zu Boden und zerbrach.
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Ludwig starrte seine Spritze an. Sie war zu zwei Dritteln mit Salzlösung gefüllt. Das würde hoffentlich reichen, das Promidal kurzzeitig zu stoppen und ihn wieder beweglich genug zu machen, noch mehr Salzlösung zuzubereiten. Er ließ sich auf seine Fersen herunter, lehnte sich mit der Schulter gegen das Waschbecken und schob mühsam seinen Ärmel hoch. Alle Bewegungen erfolgten wie in Zeitlupe. Ludwig stand der Schweiß auf der Stirn, und in seinem Gesicht zeichnete sich Todesangst ab. Schließlich versuchte er, den Arm mit der Spritze zu heben und sie in die Nähe seiner Armbeuge zu führen, aber es ging nicht mehr. Es war zu spät. Ludwig konnte sich nicht mehr rühren. Noch war er bei vollem Bewußtsein, aber bald würde sich auch das ändern. Er saß da und schaute sich um. Schaute hinunter auf seinen nackten Unteram, seine Ellenbeuge. Auf die Spritze in der anderen Hand. Er versuchte noch ein letztes Mal, den Arm zu heben und sich die Salzlösung zu injizieren, aber es ging bloß noch ein leichtes Zittern durch seinen Körper. Es war zu spät.
Panisch schlug Paula mit der flachen Hand auf den Schalter für die Schiebetür zum Anatomiesaal und schlüpfte hindurch, kaum daß der Spalt breit genug war. Hein hatte aufgeholt und kam wenige Meter hinter ihr her. Paula rannte in die Ecke des Saales, riß die Tür zu der kleinen Kammer auf, in der sich Phil und seine Kumpels für ihren blöden Streich versteckt hatten, und schlug sie hinter sich wieder zu - Hein direkt ins Gesicht. Der taumelte zurück, die Tür schlug ins Schloß, und Paula verschloß sie von innen. »Du Miststück!« Mit der flachen Hand schlug er wütend gegen die Tür, dann ließ er seine Faust durch das Milchglasfenster krachen. Scherben regneten auf Paula herunter, die schützend ihre Hände über den Kopf hob und sich in die hinterste Ecke duckte. Heins Hand langte durch das eingeschlagene Fenster herein und tastete nach dem Türgriff. Paula reckte den Arm und riß den Hauptsicherungsschalter herunter. Augenblicklich wurde es dunkel. Eine fahle Notbeleuchtung erwachte draußen im Anatomiesaal zum Leben. In
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Paulas Kabuff blieb es tiefschwarz. Das Easy-Listening-Gedudel, daß die ganze Zeit noch zu hören gewesen war, brach ab. Heins Hand hatte jetzt den Griff erreicht und drehte ihn. Der Schließknopf klickte heraus. Er zog seine Hand zurück und riß die Tür auf. Paula konnte Hein als dunkle Silhouette erahnen. Hein hingegen sah gar nichts. »Pauuulaa, wo bist du? Pauuulaaa ...« Dabei ließ er die Klinge des Skalpells mit gestrecktem Arm in großen Schwüngen vor sich her durch die Luft sausen. Er machte einen vorsichtigen Schritt hinein in die kleine Kammer. Aber was sollte die nackte, wehrlose, blutende Paula ihm schon entgegenzusetzen haben? Noch einmal zischte seine Klinge durch die Luft, als plötzlich Funken stoben. Hein schrie und stürzte zu Boden. Ein Funkenregen schien aus der Skalpellklinge zu entspringen und ging auf ihn hernieder. Seine Hand klebte förmlich am metallenen Griff des Seziermessers. Hein zuckte noch einmal, dann war er tot. Paula schaute zitternd auf ihn herunter. In ihren Händen hielt sie das Starkstromkabel, das Phil und seine Freunde damals gelockert hatten, um damit die Leiche zum Zucken zu bringen. Sie hatte es schützend vor sich hochgehalten, Hein hatte mit der Klinge des Skalpells direkt hineingehackt und sich damit selbst gerichtet. Paula umklammerte das Kabel ganz fest. Sie zitterte und starrte mit leerem Blick auf Hein herunter; Aus der Ferne vernahm sie Caspars Stimme: »Hilfe! Ist da jemand? So helft mir doch! Es eilt, Leute!« Paula mußte lächeln. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (166 von 171) [29.12.2000 14:24:38]
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Oliver, der junge Mann, der sich Caspar genannt hatte, lag im Bett des Heidelberger Krankenhauses. Paula öffnete die Tür und kam herein. Ihr Unterschenkel und ihr Unteram waren bandagiert. Sie lächelte. Oliver legte sein Buch beiseite und lächelte zurück. »Und?« fragte Paula. Oliver stöhnte theatralisch. Paula grinste und setzte sich auf seinen Bettrand. Er schob seine Bettdecke herunter und zeigte ihr den dicken weißen Pflasterstreifen, der von seinem Nabel abwärts führte und in seiner Pyjamahose verschwand. Mit dem Zeigefinger lüpfte Paula das Bündchen der Pyjamahose. »Noch alles dran«, stellte sie mit kundigem Blick ungerührt fest. »Also, Caspar! Nicht so wehleidig!« Aber Oliver jammerte: »Wer weiß, was da für bleibende Schäden ...« Paula unterbrach ihn, indem sie ihn auf den Mund küßte. »Außerdem heiß ich Oliver!« Dann riß er plötzlich überrascht die Augen auf. Das Gefühl war nicht unangenehm. Paula hatte ihre Hand in seine Hose geschoben und erklärte augenzwinkernd: »Ist eine Untersuchung. Ich lindere dein Leid. Ich bin schließlich Ärztin.« Oliver grinste. Dann schloß er die Augen und stöhnte zufrieden. »Aber ... du praktizierst hier doch gar nicht.« Paula kümmerte sich nicht um ihn. Diese Untersuchung konnte sie überall und jederzeit praktizieren. Sie küßte ihn, ohne ihre »Untersuchung« zu unterbrechen. file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (167 von 171) [29.12.2000 14:24:38]
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»Wie kitschig«, murmelte Oliver grinsend. Aber Paula bestätigte bloß: »Mmh-mmh.« Eigenartigerweise machte ihr das gar nichts aus - Hauptsache, sie konnte diesen Mann küssen, und der ganze Horror der letzten Wochen hatte endlich ein Ende! Alles Weitere würde sich dann schon finden ...
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ÄRZTEKAMMER: eine Berufs- und Standesvertretung mit der Aufgabe, die Ärzte zu gemeinsamer Arbeit zusammenzuschließen. Sie trägt Sorge für das Vorhandensein eines sittlichen und wissenschaftlich hochstehenden Ärztestandes, wacht über die Wahrung der Berufsehre und die Erfüllung der Berufspflicht, fördert die Fortbildung und schafft die hierfür erforderlichen Einrichtungen.
GEHEIMBUND: eine Vereinigung, deren Absichten und Ziele der Umwelt geheim bleiben sollen.
Franz und Gabi betraten den Anatomiesaal. Grombeks Semesterferienkurs war nach den entsetzlichen Zwischenfällen natürlich abgebrochen worden, zumal der Dozent selbst ja auch nicht mehr zur Verfügung stand; man hatte ihn gestern mit allen Ehren beerdigt. Was sich hier im Anatomiesaal zugetragen hatte, wußten inzwischen alle; wie Hein und Ludwig versuchten, Caspar und Paula zu zerstückeln, hatte sich natürlich in Windeseile herumgesprochen. »Mein Gott«, murmelte Gabi betroffen und strich sich ihre
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etwas fettigen Locken hinter die Ohren. »Wie schrecklich.« »Ludwig war ja immer ein bißchen seltsam«, erklärte Franz, »aber Kein?« Dessen übertriebenes Verhalten erstaunte ihn nun doch. »Also, Hein war eigentlich ... fachlich war er jedenfalls brillant«, meinte Gabi. »Ja, fachlich«, stimmte Franz zu. »Auf jeden Fall.« Etwas leiser fragte Gabi: »Und, hast du die Präparate noch gesehen? Also, Gretchen? Ich meine, bevor die Polizei sie abgeholt hat?« Franz nickte. »Ja. Fachlich brillant«, bestätigte er. »Privat war er durchaus auch okay«, meinte Gabi. »Also, sonst so.« Wenn er nicht gerade mit dem Skalpell hinter einem herjagte. Aber, na ja, was sollte sie sagen: Hinter ihi war er ja schließlich nie hergewesen. Franz nickte wieder. Gabi sagte nachdenklich: »Schade; das mit der Loge.« »Ich geh nach Berlin«, erklärte Franz. »An eine große Unfallklinik. Da soll es auch eine nette Loge geben.« »Die machen da diese Anästhesie-Versuche mit Patienten, oder?« erkundigte Gabi sich interessiert. »Genau«, bestätigte Franz. »Und was machst du?« »Ach«, sagte Gabi, »ich übernehm die Praxis von meinem Vater. In Privatpraxen gibt's ja viel weniger Kontrollen. Da kann man schon mal ein bißchen rumspielen ...« Sie lachte leise. Franz stimmte ein. Also war ja für beide gesorgt. »Sag mal«, fragte Gabi dann noch, »weiß man schon, wer der Nachfolger vom armen Grombek wird?« »Von Stüvers, glaub ich.« »Und, ist der auch ...?« file:///D|/Eigene Dateien/Bücher/romane/AnatomieB.htm (170 von 171) [29.12.2000 14:24:38]
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Franz lächelte beruhigend. »Na klar«, sagte er. »Ist doch Tradition.« Sie traten zur Seite, um den finsteren, bärtigen Präparator durchzulassen, der auf einer quietschenden Bahre eine Leiche hereinschob. Es war alles beim alten - in Heidelberg und anderswo.
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