Klaus Sollert
Auf der Spur der Leichenräuber Version: v1.0 Geisterschatten. Ja, genauso hatte sein Großvater die Nebel...
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Klaus Sollert
Auf der Spur der Leichenräuber Version: v1.0 Geisterschatten. Ja, genauso hatte sein Großvater die Nebelschwaden genannt, die London im Herbst heimsuchten. Der alte Herr hatte für viele Dinge seine ganz eigene Bezeichnung gehabt. Es war seine Art gewesen, sich von der Masse abzuheben. Tom Stark lächelte, als er an seinen Opa dachte. Er hatte ihn voller Inbrunst geliebt. Wahrscheinlich war jeder Enkel von seinem Groß vater begeistert, weil man gegen ihn nicht aufbegehrte so wie gegen den eigenen Vater. Kurz wünschte sich der Reporter, dass der alte Mann noch am Leben wäre. Leider war das ein unerfüllbarer Wunschtraum. Stuart Stark war vor fünf Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Toms Blick folgte noch immer den Nebelschlieren, die vom Fluss her auf ihn zuwallten. Einige von ihnen umschlangen schon seine Beine. Sie wirkten wie gierige Tentakeln eines verborgenen Mons trums, das auf Beute aus war. Ein absurder Gedanke, aber an
diesem einsamen Ort schien alles möglich zu sein … Der Journalist zog die Schultern hoch. Das nasskalte Wetter behag te ihm nicht. Schon gar nicht bei Einbruch der Dämmerung, so wie jetzt. Zudem hatte man ihn ausgerechnet zu den Docks zitiert. Eine Gegend, die er schon als kleiner Junge nicht gemocht hatte. Sie verströmte eine eisige Kälte, die ihn frösteln ließ. Sein augenblicklicher Standort war an Trostlosigkeit kaum zu überbieten. Auch an den Hafenanlagen waren die schweren Zeiten nicht spurlos vorübergegangen. Besonders hier nicht. Die Dunkel heit und der Nebel verbargen zum Glück das Meiste. Aber Stark konnte immer noch genug Dinge ausmachen. Hässliche Dinge, wie vor allem einige verrostete Containerkräne, die wie erstarrte Riesen am Ufer standen. Sie wurden nicht mehr genutzt. Genauso wie die Menschen, die früher hier ihren Lebensunterhalt verdient hatten. Es war eine trostlose Gegend. Nutzlos und verbraucht. Tot … Das letzte Wort hallte in Stark wieder. Es machte die ganze Szene rie noch unheimlicher. Direkt bedrohlich. Mach dich nicht selbst verrückt!, fuhr er sich in Gedanken an. Das bleierne Gefühl der Furcht blieb dennoch. Es war mehr als ge fährlich, die Docks bei Nacht aufzusuchen. Zu viel lichtscheues Gesindel trieb sich hier herum. Der Abschaum der Gesellschaft, der nichts mehr zu verlieren hatte. Tom Stark hatte noch vor kurzem eine Reportage über die gefähr lichsten Orte der Millionenstadt verfasst. Die Docks hatten dabei einen Spitzenplatz eingenommen. Menschenschmuggel, Dro gentransfers, Waffendeals und tausend andere Verbrechen waren hier an der Tagesordnung. Besonders nachts. Und nun tat er genau das, wovor er all seine Leser gewarnt hatte.
Er wagte sich mitten in der Nacht in die Docks. Er forderte sein Glück heraus. Im Grunde konnte er es selbst nicht begreifen. Aber er hatte keine andere Wahl. Sein unbekannter Informant hatte auf diesen ominösen Treffpunkt bestanden. So und nicht anders sah es nun einmal aus. Für eine gute Story war Stark allerdings bereit, jedes Risiko einzugehen. Er hatte schließlich einen Ruf zu verlieren. Stark, die Ratte, dieser Ehrentitel sollte auch weiterhin Bestand haben. Dabei hatte er nichts Rattenhaftes an sich. Mit seiner bulligen Gestalt und dem groben Gesicht ähnelte er vielmehr dem Schau spieler Walter Matthau in seinen besten Tagen. Und dazu passte auch seine rauhe, brummige Stimme, die wie ein Nebelhorn klang. Kollegen hatten ihm den Spitznamen verpasst, weil er sich wie eine Ratte in eine Story verbiss. Er war bekannt dafür, niemals auf zugeben, bis er zum Kern einer Geschichte vorgedrungen war. Das war sein Markenzeichen, dem er sich verpflichtet fühlte. Er war ein Maulwurf, der alles herausbekam, was seine Leser in teressierte. Unzählige Titelseiten der Sun oder des Daily Mirror zeugten davon. Und bisher hatte es noch niemand mit ihm auf nehmen können. Die Kehrseite der Medaille waren solch nächtliche Treffen. Aber vor den Erfolg hatten die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt. Das Leben war nun mal kein Zuckerschlecken. Entnervt warf Stark einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Leuchtziffern glühten vor seinem Gesicht auf. 23 Uhr 10. Wo blieb der Mistkerl? Es waren schon zehn Minuten über dem verabredeten Zeitpunkt. Eine verflucht lange Zeitspanne, wenn man wartete. Besonders in einer solchen Umgebung. Der Journalist beschloss, noch fünf Minuten dranzuhängen. Da nach würde er sich auf den Heimweg machen. Zu Fuß, wie er insge
heim befürchtete. Jedenfalls bis zur nächsten Underground-Station. Rotherhite war das. Ein langer Fußmarsch, wenn man stets damit rechnen musste, Opfer eines Raubüberfalls zu werden. Verdammt! Er hätte nicht auf die Bedingungen des Unbekannten eingehen sollen. Zumindest einen anderen Treffpunkt hätte er wählen sollen. Aber die Story war zu verlockend gewesen. Ein echter Knüller! Im Augenblick half ihm das aber auch nicht weiter. Es war idio tisch gewesen, ein Taxi zu den Docks zu nehmen. Aber der In formant hatte darauf bestanden. Wahrscheinlich waren seine Informationen brandgefährlich, sodass er kein Risiko eingehen wollte. Stark vermutete dies jeden falls. Und sein Gespür hatte ihn bisher nie getrogen. Hinzu kam, dass die Story einen makaberen Touch aufwies. Vielleicht sogar mehr als das. Satanische Sekten und okkulte Ge heimbünde waren wieder in, und dazu passten die unheimlichen Meldungen, die London seit Monaten erschütterten. Leichen verschwanden und tauchten nie wieder auf. Aus Kran kenhäusern, Leichenhallen, Friedhofskapellen, Kirchen und selbst aus frisch angelegten Gräbern. Und niemand war imstande, das Rät sel dieser Diebstähle aufzuklären. Selbst Scotland Yard war bisher erfolglos gewesen. Es gab keine verwertbaren Spuren oder Hinweise, denen man folgen konnte. Die Täter tauchten einfach auf, stahlen den Leichnam, und verschwanden wieder, ohne ertappt zu werden. Es war beängstigend. Unbegreiflich. Und die Story des Jahr hunderts – selbst für einen etablierten Mann wie Tom Stark. Beherzt machte er sich auf, das Rätsel zu lösen. Und er bekam die Trumpfkarte, die den anderen versagt blieb: einen Insider, der ihm alles erzählen wollte.
Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen. Tom hatte all seine Kon takte aktivieren müssen, um auf eine viel versprechende Spur zu stoßen. Dann hatte ihn der Mann angerufen und um ein Treffen ge beten, um seine Geschichte loszuwerden. Der Fremde hatte Tom nicht mal seinen Namen nennen wollen. Aber er hatte ihm die Story seines Lebens angeboten. Das hatte gereicht, um alle Vorsicht fahren zu lassen. Tom Stark hatte Blut geleckt. Er wollte die Story. Er wollte sie um jeden Preis. Die Story konnte ihn endgültig zur Legende machen. Alles war möglich. Wirklich alles. Erneut warf der Reporter einen Blick auf seine Uhr. Die Zeit war beinahe abgelaufen. Von dem Informanten fehlte weiterhin jede Spur. Hatte man ihn reingelegt? Tom Stark glaubte nicht daran. Der Anrufer hatte so überzeugend geklungen. Er wusste etwas, davon war der Journalist felsenfest überzeugt. Schweigend verharrte er auf seinem Platz und ließ auch noch den Rest der Zeitspanne verstreichen. Schließlich straffte er sich und blickte sich ein letztes Mal um – anscheinend hatte man ihn doch verladen. »Dann nicht!«, zischte der Reporter wütend und enttäuscht und setzte sich in Bewegung. Der Nebel war noch dichter geworden. Stark hatte das Gefühl, in eine zähe graue Masse hineinzulaufen. Automatisch ging er ein wenig langsamer. Seine Augen blickten starr nach vorne. Er wollte kein Hindernis übersehen. Das Letzte, was er brauchen konnte, war ein gebro chenes Bein oder ein gebrochener Arm. Dann sah er die beiden glühenden Augen. Abrupt blieb der Journalist stehen, während sich seine Eingeweide schmerzhaft zu sammenzogen. Er erstarrte regelrecht.
Schnell jagten die Augen auf ihn zu. Unaufhaltsam und gierig. Es sah erschreckend aus. Dann vernahm Stark das grollernde Brummen eines Motors, und seine Angst verflog wie Staubkörner im Wind. Ein Wagen fuhr auf ihn zu. Und natürlich hatte der Fahrer die Scheinwerfer eingeschaltet. Kein Grund zur Besorgnis. Sekundenbruchteile später schälte sich das Fahrzeug aus dem Nebel hervor. Es war ein dunkler Wagen, das sah Stark sofort. Mehr konnte er allerdings nicht erkennen. Da hatte ihn der Wagen erreicht und schoss dicht an seiner rechten Seite vorbei. Sofort danach stoppte der Fahrer. Blutrot glühten die Rücklichter auf. Der Nebel verstärkte diesen Effekt noch. Die Schlieren schienen in Flammen zu stehen. Dumpf schlug Starks Herz in der Brust. Der unbekannte Fahrer hätte ihn beinahe überfahren. Viel hatte nicht gefehlt. War das sein Informant? Der Reporter vermutete es. Wer sonst würde sich um diese Zeit in dieser Gegend herumtreiben? Zaghaft setzte sich Stark in Bewegung. Das plötzliche Auftauchen des Wagens machte ihm noch immer zu schaffen. Er war schon lange nicht mehr der junge Spund, der alles ganz locker und easy sah. Die Zeit war auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Schritt für Schritt ging Tom Stark auf das Fahrzeug zu. Mittlerwei le konnte er es deutlicher erkennen. Die kantigen Formen des Wagens kamen ihm irgendwie vertraut vor. Endlich erkannte er, um was für ein Fahrzeug es sich handelte. Der Schock traf ihn vollkom men unvorbereitet. Vor ihm stand ein Leichenwagen! Der Reporter schluckte. Damit hatte er nicht gerechnet. Sein In formant schien makabere Scherze zu lieben. Unzählige Gedanken schossen durch Starks Kopf. Sie wirbelten
umher wie Blätter im Herbstwind. Einen konkreten Sinn ergaben sie nicht. Was sollte er jetzt tun? Abwarten? Fliehen? Stark wusste es nicht. Er wusste gar nichts mehr.
* Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Fast lautlos rollte der schwere Wagen zurück und hielt direkt neben dem verdutzten Journalisten. Surrend fuhr die Seitenscheibe auf der Fahrerseite nach unten. Das leise Geräusch klang widerlich. Sofort darauf tauchte eine Hand auf, die den Reporter zu sich her anwinkte. Sie steckte in einem hellbraunen Lederhandschuh. Un willkürlich folgte Stark der Aufforderung. Neugierig und zugleich ängstlich beugte er sich vor, um einen Blick ins Innere des Fahrzeugs werfen zu können. Besonders der Fahrer interessierte ihn. Einen Informant in einem Leichenwagen traf man nicht alle Tage. Viel konnte Tom Stark nicht erkennen. Nur die Silhouette eines stämmigen Mannes, der lässig hinter dem Lenkrad saß. Mehr nicht. »Steigen Sie ein!« Die Stimme des Fahrers klang wie brüchiges Glas. Er würgte die Worte förmlich hervor. Es waren schreckliche Laute. Kurz spielte Stark mit dem Gedanken, einfach davonzulaufen, doch dann siegte seine Neugier. Er war Journalist. Alles andere war zweitrangig. Ruckartig setzte er sich in Bewegung. Er hatte das Gefühl, auf Stelzen zu gehen. Seine Beine schienen kaum noch ihm zu gehören. Mit klopfendem Herzen umrundete er die Motorhaube des
Wagens und zog die Beifahrertür auf. Schmatzend schwang sie nach außen. Stark verzog unwillkürlich das Gesicht. Alles in ihm wehrte sich dagegen, in den Wagen zu steigen. Doch letztendlich siegte der Verstand. Emotionale Entscheidungen waren noch nie sein Fall ge wesen. Tief sog er ein letztes Mal die frische Nachtluft in seine Lungen, dann enterte er den Leichenwagen und schlug die Tür hinter sich zu. Dumpf rastete sie ein. Es klang irgendwie endgültig. Nun gab es kein Zurück mehr … Für einige Sekunden verharrte Tom Stark auf seinem Platz und starrte nach vorne. Er hatte noch nie in einem Leichenwagen gesessen – und er wollte es auch nie wieder tun, wenn er ehrlich war. Im Inneren verströmte das Fahrzeug eine noch abstoßendere Aura als von Außen. Alles wirkte dunkel und bedrohlich. Jedenfalls kam es dem Reporter so vor. »Schnallen Sie sich an!«, vernahm er die Stimme des Fahrers. Die Worte wirkten grotesk. Aber das traf auf die ganze Situation zu. Tom Stark hatte mittlerweile das Gefühl, einen Albtraum zu erleben, der außer Kontrolle geraten war. »Okay«, gab er gepresst von sich und befolgte die Anweisung sei nes unbekannten Begleiters. Im gleichen Moment setzte sich der Wagen in Bewegung. Stark hatte zwar damit gerechnet, dennoch flammte kurz Panik in ihm auf. Niemand wusste, wo er steckte, sodass er auch keine Hilfe erwarten konnte, sollte dies notwendig sein. Er war auf sich alleine gestellt. Schnell gewann sein Verstand die Kontrolle zurück. Warum sollte ihm Gefahr drohen? Der Informant wollte genauso etwas von ihm, wie er etwas von dem Informanten wollte.
In gemäßigtem Tempo fuhren sie weiter. Die Docks blieben hinter ihnen zurück. Stark war das mehr als recht. Alles war besser als diese trostlose Gegend. Aus den Augenwinkeln warf der Reporter seinem Chauffeur einen Seitenblick zu. Doch selbst jetzt konnte er nicht viel erkennen. Die giftgrüne Tachobeleuchtung verzerrte alles nur und ließ den Fremden wie ein Monster erscheinen. Stark bemerkte lediglich, dass der Mann eine Art Chauffeurs mütze trug, die sein Gesicht zur Hälfte verbarg. Nur die untere Re gion konnte er klar erkennen. Sie wirkte irgendwie teigig und ab stoßend. »Zufrieden?«, fragte ihn der Fahrer mit einem ironischen Un terton. Stark zuckte wie ein ertappter Sünder zusammen. Der Mann hatte seinen Blick bemerkt, obwohl er starr nach vorn geschaut hatte. An scheinend hatte der Fremde einen sechsten Sinn, was solche Dinge betraf. In der gleichen Sekunde schalt sich der Journalist selbst einen Nar ren. Es war sein gutes Recht, sich den Informanten genau anzuse hen. Der Mann wollte schließlich etwas von ihm. »Nein!«, entgegnete er trotzig. Ein heiseres Lachen war die Antwort. Der Mann schien mit ihm zu spielen. Es war eine Vorstellung, die Tom Stark überhaupt nicht ge fiel. »Worüber lachen Sie?«, fragte er. »Über Ihre Ungeduld.« Mit der Antwort konnte der Reporter wenig anfangen. Natürlich war er ungeduldig. Er wollte endlich erfahren, was mit den verschwundenen Leichen geschehen war. Nur darum hatte er diese Strapazen auf sich genommen. »Dann stillen Sie doch meine Neugierde!«, forderte Stark.
»Wollen Sie das wirklich?«, erwiderte der Fremde orakelhaft und wandte dem Journalisten sein Gesicht zu. Für einen winzigen Moment erhaschte Stark einen Blick auf zwei bedrohlich wirkende Augen, die ihn abschätzend musterten. Dann war der Augenblick vorbei. Stark hatte er dennoch voll und ganz ge reicht. Es waren unheimliche Augen gewesen. Kalt wie gläserne Murmeln, in denen kein Funken Leben steckte. Augen ohne Seele. »Natürlich!«, erwiderte Stark dennoch unbeirrt. Der Informant sollte mit seiner Story herausrücken. Alles andere war unbedeutend. Selbst diese seltsamen Augen. »Wissen Sie, was das für ein Fahrzeug ist?« Die Frage überraschte den Reporter. Der Fremde sprach in Rätseln. Natürlich wusste er, mit was für einem Wagen sie unter wegs waren. »Ein Leichenwa …« Stark sprach das Wort nicht zu Ende. Alles ergab urplötzlich einen Sinn. Manchmal sah man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Wie von selbst wanderte sein Blick zum Heck des Wagens. Er konnte jedoch nichts erkennen. Eine dunkel getönte Trennscheibe verwehrte ihm die Sicht auf die Ladung des Fahrzeugs. Der Fahrer schien seine geheimsten Wünsche zu kennen, denn die Trennscheibe glitt langsam nach unten, noch bevor der Journalist et was sagen konnte. Gleichzeitig flammte im Heck des Wagens eine Leuchte auf. Ihr matter Schein reichte aus, um alles klar und deut lich erkennen zu können. Der Reporter starrte auf einen pechschwarzen Sarg! Tom Starks Blicke glitten über die Totenkiste. Er hatte zwar mit diesem Anblick gerechnet, aber die brutale Wahrheit schockte ihn doch. So abgebrüht konnte kein Mensch sein, dass ihn dieser An blick vollkommen kalt ließ.
»Liegt jemand darin?«, fragte Stark mit einer Stimme, die er selbst nicht erkannte. »Eine junge Frau, die erst vor zwei Tagen gestorben ist.« Die Kaltschnäuzigkeit des anderen ließ Stark frösteln. Der Mann schien vor nichts Ehrfurcht zu haben. Vor gar nichts. Die Trennscheibe glitt wieder nach oben. Dem Journalisten machte das nichts aus. Er hatte mehr als genug gesehen. »Sie stehlen also die Leichen«, stellte er nüchtern fest und musterte den Fahrer abschätzend. »Unter anderem. Allerdings bin ich nicht der einzige Sammler, der unterwegs ist. Der Nachschub nimmt von Tag zu Tag größere Formen an, sodass einer alleine dies gar nicht bewältigen kann.« Leichensammler? Zu welchem Zweck? Und warum ausgerechnet in London? Die Fragen drehten sich nur so in Tom Starks Kopf. Der Journalist in ihm war endgültig erwacht. Er wollte nur noch das Geheimnis lüften, dass diesen seltsamen Fremden umgab. Allerdings traute er sich nicht, die entscheidenden Fragen auch zu stellen. Sein Gegenüber hatte bisher nur ausweichend geantwortet. Wahrscheinlich wollte er nicht sofort mit der ganzen Wahrheit her ausrücken. Zudem machte der Reporter sich einige Gedanken um seine Si cherheit. Bisher war die Fahrt zwar friedlich verlaufen, aber das musste nicht unbedingt so bleiben. Jemand, der Leichen stahl, war zu allem fähig. »Keine weiteren Fragen mehr?«, unterbrach der Fremde seine Ge danken. »Im Moment nicht«, entgegnete Stark hastig. »Ich muss ein wenig nachdenken.« Der Fahrer grunzte nur zustimmend. Ihm war anscheinend alles recht. Er hatte schließlich auch nichts zu verlieren.
Stumm blickte Stark durch die Windschutzscheibe. Sie fuhren in westlicher Richtung, so viel konnte er erkennen. Mehr aber auch nicht. Sein Chauffeur benutzte einen regelrechten Schleichpfad durch die City. Nur wenige Fahrzeuge kamen ihnen entgegen. Sie tauchten wie Ungeheuer aus den Nebelschwaden auf und verschwanden wieder. Selbst die Gebäude am Straßenrand waren nur schemenhaft auszumachen, so als wären sie nicht wirklich. Tom Stark hatte das Gefühl, mit dem Fremden ganz allein auf dieser Welt zu sein. Es war ein erschreckender Gedanke. Schweigend verlief die Fahrt weiter. Irgendwie wagte der Journalist nicht mehr, seinen beruflichen Instinkten freien Lauf zu lassen. Er hatte direkt Angst davor, die Ursache der Leichendieb stähle zu erfahren. Es war absurd. Vollkommen verrückt. Und es war die Wahrheit … Um sich abzulenken, konzentrierte sich Stark auf andere Dinge. Es ging nicht anders, sonst würde er noch durchdrehen. Die ganze Si tuation gefiel ihm mit jeder Sekunde weniger. Da bemerkte er den Geruch. Bisher war er ihm völlig entgangen, doch nun drängte er sich dem Reporter förmlich auf, nahm ihn gefangen, zog ihn in seinen Bann. Es war ein ekelhafter Gestank, dessen Intensität verstörend war. Ein Gemisch aus Moder, Fäulnis und Erde, in dem kein Hauch von Leben mehr steckte. Einfach widerlich. Rochen alle Leichenwagen so? Stark wusste es nicht. Mit solchen Fragen hatte er sich nie beschäf tigt. Der simple Tod war kein Thema für die Titelseite. »Ist was?«, fragte ihn der Fremde. »Nein,« log Stark. Der Fahrer erwiderte nichts. Stark fühlte jedoch instinktiv, dass er
genau wusste, was ihn störte. Sein seltsamer Fahrer musste den Gestank schließlich auch wahrnehmen. »Sie müssen nicht mehr lange warten, und all ihre Fragen werden beantwortet«, versprach der Fremde. Die Worte des Fahrers drangen wie Speerspitzen zu Stark vor. Sie hatten einen drohenden Unterton. Einen Klang, der ihm überhaupt nicht gefiel. »Wo fahren wir eigentlich hin?«, verlangte der Journalist zu wissen. »Lassen Sie sich überraschen.« Die Antwort passte zu dem Unbekannten. Sie war höflich, aber be deutungslos. Ohne Substanz. Plötzlich tauchte die Brücke aus dem Nebel auf. Es war die West minster Bridge. Stark erkannte sie sofort, denn er konnte Big Ben ausmachen, wenn auch nur schemenhaft. Selbst hier herrschte nur wenig Verkehr, sodass sie die Brücke schon nach kurzer Zeit überquert hatten. Von der Themse hatte der Journalist nichts sehen können. Der Nebel war zu dicht. Geschickt bugsierte der Fahrer den Wagen in die Victoria Street und beschleunigte. Er schien mit den Sichtverhältnissen keine Pro bleme zu haben. Jedenfalls hatte Stark diesen Eindruck. Als rechts vor ihnen ein wuchtiges Gebäude auftauchte, ging ein unmerkliches Zittern durch Starks Körper. Es war New Scotland Yard. Wahrscheinlich der sicherste Ort in ganz London. Kurz spielte der Journalist mit dem Gedanken, einfach aus dem Wagen zu springen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Etwas, das er nicht näher definieren konnte. Im nächsten Augenblick wischte auch dieses Gebäude an ihnen vorbei, und Stark ergab sich seinem Schicksal. Er würde die Fahrt bis zum bitteren Ende mitmachen müssen. Es führte kein Weg daran vorbei.
»Entspannen Sie sich und genießen Sie die Fahrt«, sagte der Fremde lakonisch und warf seinem Fahrgast einen Seitenblick zu. »In Ordnung«, gab Stark seinen inneren Widerstand auf. Die Würfel waren gefallen. Er musste eben das Beste daraus ma chen. Und vielleicht war die ganze Sache doch relativ harmlos, auch wenn er nicht daran glauben mochte. Nur kurze Zeit später lag das Zentrum der Stadt hinter ihnen. Da für tauchten sie in die verschlafene Welt der Vororte ein. Eine Welt, um die Tom Stark immer einen großen Bogen gemacht hatte. Er liebte die City. Nur dort hatte er das Gefühl, wirklich zu leben. Der Rest war für Leute, die keinen Sinn für die pulsierende Energie einer Stadt hatten. Doch auch die Vororte blieben hinter ihnen zurück. Schließlich bog sein Chauffeur ohne Vorwarnung in eine schmale Seitenstraße ein, die von Bäumen gesäumt war. Ihre nackten Äste schabten über das nackte Blech des Wagens. Stark bekam eine Gänsehaut. Den Weg schienen nicht viele Fahrzeuge zu benutzen. Ansonsten hätte man die Bäume schon längst beschnitten. Ob das allerdings ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, konnte der Journalist nicht sagen. Abrupt stoppte der Fahrer vor einem eisernen Tor. Es wurde von zwei mannshohen Mauern flankiert, die man aus Felssteinen errich tet hatte. Monumente für die Ewigkeit. Obwohl Stark in der Dunkelheit nicht viel ausmachen konnte, kam ihm die ganze Szenerie bekannt vor. Er wusste nur nicht, woher. Seine Gedanken liefen immer wieder ins Leere. Dumpf ertönte die Hupe des Leichenwagens. Der Laut zerriss die Stille der Nacht. Keine drei Sekunden später tauchte eine Gestalt auf. Dann wurde auch schon das Tor aufgezogen, und der Weg war frei. Sofort setzte sich der Wagen wieder in Bewegung.
Im Seitenspiegel konnte Stark gerade noch erkennen, dass das Tor wieder geschlossen wurde. Auch dieser Fluchtweg war damit abge schnitten. Nun tauchten er und sein unheimlicher Begleiter in eine andere Welt ein.
* Sie befanden sich auf einen Friedhof. Trotz der schlechten Sichtver hältnisse konnte der Reporter dies klar und deutlich erkennen. Die Scheinwerfer des Leichenwagen waren stark genug, um Grabsteine und andere Monumente des Todes aus der Dunkelheit zu reißen. Tom Stark wusste nun auch, warum ihm die Umgebung so be kannt vorgekommen war. Alle Friedhöfe ähnelten sich im Grunde. Sie redeten in der Sprache der Toten, die stets den gleichen Klang hatte. Die unheimliche Atmosphäre des Totenackers nahm Stark gefangen. Im Prinzip hätte er mit einem solchen Ziel rechnen müssen. Der Leichenwagen deutete schließlich in die gleiche Rich tung. Zwischen Theorie und Praxis klafft jedoch immer eine Lücke. Der Journalist spürte dies im Moment am eigenen Leibe. Die reale Welt schien ihm mehr und mehr zu entgleiten, und zurück blieb nur das Chaos, das mit den Schrecken der Hölle gefüllt wurde. Stark musste trocken schlucken. Er spürte dabei ein brennendes Ziehen im Hals. Fast begrüßte er den leichten Schmerz, der ihn mit der Wirklichkeit verband. »Wir sind da!«, informierte ihn der Fahrer mit seiner grässlichen Stimme. Tatsächlich tauchte ein Gebäude vor ihnen auf. Es war eine Ka pelle, die wahrscheinlich auch als Leichenhalle diente. Früher waren solche Bauten weit verbreitet gewesen. Demnach musste der
Gottesacker älter sein. Dichte Nebelschwaden umflorten das Gebäude, verdeckten es wie ein undurchlässiger Schleier. Darum konnte Stark die Kapelle nur schemenhaft ausmachen, obwohl sie direkt darauf zufuhren. Dicht vor dem Bauwerk kam der Wagen zum Stehen. Dann erstarb auch schon der Motor. Sofort kehrte eine bedrückende Stille ein. »Kommen Sie!«, forderte ihn sein Chauffeur auf, während er die Fahrertür aufstieß. Der Reporter folgte dem Beispiel. Eine andere Wahl hatte er nicht. Er würde den Weg bis zum Ende beschreiten müssen, ob er nun wollte oder nicht. Mühsam wuchtete sich Stark aus dem Fahrzeug. Seine Muskeln schienen ihm den Dienst zu versagen. Die Fahrt hatte ihn doch mehr mitgenommen, als er vermutet hätte. Schwindel erfasste den Journalisten, als er endlich auf den eigenen Füßen stand. Alles drehte sich um ihn. Gierig sog er die frische Nachtluft ein, um wieder klar zu werden. Er hatte sich wohl auf den Docks etwas eingefangen. Kein Wunder – bei dem nasskalten Wetter. Und auch die anstrengende Tour in dem Leichenwagen war nicht gerade behaglich gewesen. »Fehlt Ihnen etwas?« Die Stimme des Fahrers riss Stark wieder ins Hier und Jetzt. Der Unbekannte hatte sich ihm lautlos genähert. Jedenfalls hatte Stark nichts bemerkt, obwohl der Fremde direkt neben ihm stand. »Es geht schon wieder!«, wehrte Stark heftig ab, um seine innere Anspannung zu kaschieren. Sein Begleiter quittierte die barsche Antwort erneut mit einem wissenden Lachen. Ohne sich weiter um ihn zu kümmern, drehte sich der Mann um, schritt zum Heck den Wagens und zog die Heckklappe in die Höhe. Stark ahnte, was das bedeutete. Sein Begleiter wollte an die Leiche
heran. Neugierde erfasste den Reporter. Bisher tappte er noch ziemlich im Dunkeln, was die verschwundenen Toten anging. Er hatte nur einige Bruchstücke, die sich noch zu keinem fertigen Bild zu sammentragen ließen. Seine alten Instinkte erwachten. Gleichzeitig pulsierten frische Kräfte durch seinen Körper. Er hatte seinen Job nicht vergessen, auch wenn ihm dieser nächtliche Wahnsinn noch immer nicht gefiel. Entschlossen setzte sich Stark in Bewegung und ging auf seinen Begleiter zu. Als er ihn erreichte, konnte er die beiden Gestalten aus machen, die aus der Kapelle auf den Wagen zuschritten. Zielstrebig visierten sie das Heck des Fahrzeugs an. Die ganze Sache wurde mit jeder Minute ominöser. Nun waren es schon vier Personen, die in diese bizarre Geschichte verwickelt waren. Stark hatte nicht den Mann vergessen, der ihnen das Tor ge öffnet hatte. Was ging hier nur vor? Was? Stark konnte es nicht sagen. Er konnte nur abwarten und sich den Dingen stellen, die noch auf ihn warteten. Alles andere lag nicht mehr in seiner Macht. Ohne den Reporter eines Blickes zu würdigen, zogen die beiden Männer den Sarg ins Freie und trugen ihn in Richtung Kapelle. Sein Begleiter setzte sich ebenfalls in Bewegung. Automatisch folgte Stark den Männern. Schweigend schritt die kleine Prozession auf das Gebäude zu. Es war ein schauriges Bild. Besonders für Toni Stark, der mehr und mehr das Gefühl hatte, dem Wahnsinn zu verfallen. Es war Irrsinn, was hier geschah. Nackter Irrsinn. Und doch war es real. Wie seelenlose Roboter betraten die beiden Sargträger mit ihrer unheimlichen Last die Kapelle. Ihre Schritte erzeugten dabei knir
schende Laute, die bis zu dem Journalisten vordrangen. Erst jetzt erkannte Stark den flackernden Schein unzähliger Kerzen, die das kleine Gotteshaus erhellten. Und er sah noch mehr. Die Kapelle war nur noch eine Ruine, die ihre besten Tage seit einer Ewigkeit hinter sich hatte. Faustgroße Löcher zierten die Wände des Gebäudes. Hinzu kamen eingeschlagene Fensterscheiben, zerstörte Ornamente und ein ein gefallenes Dach. Es sah erschreckend aus. Starks Blick fuhr über die abstoßende Fassade des Gebäudes, wäh rend er den anderen weiterhin folgte. Der Friedhof wurde schon seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt. Der ideale Ort für Leute, die etwas zu verbergen hatten. Auch sein Informant verschwand in der Kapelle, dann folgte Stark selbst. Knirschend zerbrachen Gesteinsreste und Glassplitter unter seinen Schritten. Sie bedeckten den ganzen Boden des Gotteshauses. Neugierig blickte sich Stark um. Der Schein der Kerzen reichte vollkommen aus, um das Ausmaß der Zerstörung zu erkennen. Fast schien es so, als hätte jemand eine Bombe im Inneren der Kapelle ge zündet. Der Reporter sah nur einen kreisrunden Raum, dessen Boden mit Dreck und Müll übersät war. Es war beileibe kein heiliger Ort mehr, den er betreten hatte. Der gute Geist, der hier einmal geherrscht hatte, war schon lange verschwunden. Dafür spürte Stark eine andere Aura: eine negative Schwingung, die ihn frösteln ließ. Noch immer hatte keiner der Männer einen Laut von sich gegeben. Stark fühlte dennoch, dass er bald am Ende seiner nächtlichen Reise angelangt war. Die Entscheidung stand dicht bevor. In diesem Moment hielten die Fremden inne. Derjenige, der ihn im Leichenwagen abgeholt hatte, drehte sich zu ihm herum. Der Reporter blieb ebenfalls stehen und blickte den Mann neugierig an. Er wollte endlich wissen, woran er war.
Der Fremde trug noch immer seine Mütze, sodass Stark nur die untere Hälfte den Gesichts klar erkennen konnte. Vor allem den grausamen Mund, der einen gierigen Zug aufwies. Er wirkte da durch direkt widerlich. »Nun sollen Sie alles erfahren, Mr. Stark!«, verkündete er. Bevor der Reporter etwas erwidern konnte, stampfte der Fremde zweimal heftig mit dem Fuß auf. Es hätte lächerlich wirken können, aber das tat es nicht. Im nächsten Moment setzte auch schon die Wirkung ein. Direkt vor den beiden Sargträgern brach der Boden auseinander. Stark erschien es jedenfalls so. Instinktiv ging er einige Schritte zu rück. Die drei anderen Männer verharrten einfach auf ihren Plätzen. Nichts konnte sie wirklich erschüttern. Rasch vergrößerte sich der Spalt, der sich vor den Männern auf tat. Immer weiter und weiter drängte der Boden auseinander. Dabei gab er Laute von sich, die wie die Schreie eines Gepeinigten klangen. Mein Gott!, durchfuhr es Tom Stark, während er den Blick nicht abwenden konnte. Zuerst war der Spalt nur fingerbreit, dann tat sich ein Loch von der Größe einer Melone auf, und zum Schluss besaß es den Umfang einer wuchtigen Tür. Schließlich stoppte der Vorgang. Der Weg in die Unterwelt war nun frei. Sofort setzten sich die beiden Männer mit dem Sarg in Bewegung und verschwanden in die Tiefe. Kurz darauf schritt auch der Fahrer des Leichenwagens auf den Geheimgang zu. Doch bevor er darin verschwand, wandte er sich noch ein letztes Mal an den Reporter. »Es steht Ihnen frei, uns zu folgen. Aber Ihrem Schicksal werden Sie so oder so nicht entkommen.« Dann drehte er sich einfach um und folgte den beiden Sargträgern. Verstört blieb Tom Stark stehen. Diese ganze Sache nahm immer monströsere Formen an. Und was hatte sein Informant mit diesem ominösen Hinweis gemeint?
Der Reporter wusste es nicht. Die Geschichte lief mehr und mehr aus dem Ruder, und er konnte nichts dagegen tun. Er war nur ein Spielball von Kräften, die er nicht einmal ansatzweise verstand. Dann ging ein Ruck durch seine Gestalt, und er setzte sich in Be wegung. Der Fremde hatte Recht. Es gab kein Zurück mehr. Weder für ihn, noch für die anderen.
* Tom Stark schritt auf das Loch zu und blickte in die Tiefe. Viel konnte er nicht erkennen. Nur eine steinerne Treppe und ein rötli ches Licht, das tief unten glühte. Und er sah die drei Männer, die in die Tiefe schritten. Tu es!, befahl er sich selbst in Gedanken, und tatsächlich machte er sich entschlossen auf den Weg. Die Unterwelt wartete auf ihn … Stufe um Stufe ging es hinab. Zuerst hatte Stark sie noch gezählt, doch irgendwann ließ er es bleiben. Ein Teil von ihm wollte gar nicht wissen, wie viele Stufen er hinter sich ließ. Seine drei Begleiter waren ihm ein gutes Stück voraus. Sie vergrö ßerten den Abstand sogar, wie der Reporter mit einem unguten Ge fühl feststellte. Er konnte jedoch nichts dagegen unternehmen. Das seltsame Schwindelgefühl hatte ihn wieder erfasst. Zudem kämpfte sein Körper gegen irgendetwas an. Er fühlte dies instinktiv. Er hatte sich tatsächlich etwas eingefangen. Etwas, das er nicht ge nau definieren konnte. Die ersten Symptome machten ihm jedoch enorm zu schaffen. Stark eilte dennoch weiter. Er wollte auf keinen Fall den Anschluss verlieren. Der Gang in die Tiefe war auch so schon schlimm genug. Der Journalist hatte mittlerweile das Gefühl, direkt in die Hölle zu schreiten. Dazu passte auch das geheimnisvolle, rötliche Leuchten, das wie ein schlagendes Herz pulsierte. Ein makaberer Vergleich,
aber zutreffend. Stark war dennoch dankbar für das Licht. Es war hell genug, um die Stufen klar und deutlich ausmachen zu können. Ein Umstand, der ihn ein wenig beruhigte. Weiter und weiter ging es hinab. Starks Angst wurde dabei immer mehr in den Hintergrund gedrängt. Die Monotonie betäubte förm lich seine Sinne. Endlich hatte er es geschafft. Aufatmend brachte der Reporter die letzte Stufe hinter sich. Er konnte es selbst kaum fassen. »Willkommen im Vorhof der Hölle!« Gespenstisch hallten die Worte von den Wänden wieder. Jedes einzelne Wort wirkte wie ein Hammerschlag, brutal und unnachgiebig. Ruckartig fuhr Starks Blick in die Höhe. Direkt vor ihm stand sein Informant. Durch das blutrote Licht wirkte der Mann noch unheim licher. Von den beiden Männern mit dem Sarg entdeckte Stark keine Spur mehr. Sie waren verschwunden. Vielleicht waren sie sogar zur Hölle gefahren. Der Journalist schloss in dieser Hinsicht nichts mehr aus. »Gratuliere, Mr. Stark! Sie haben es so gut wie geschafft!« »Zum Teufel mit Ihnen!«, fauchte der Reporter sein Gegenüber an. »Ich will nun endlich wissen, was Sie mit den Leichen anstellen.« »Der Teufel hat mich schon. Aber nur noch ein wenig Geduld und Ihre Neugier wird gestillt.« Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Mann um und ging los. Widerwillig folgte Stark ihm. Er hatte von diesen Spielchen endgül tig die Nase voll. Außerdem fühlte er sich mit jeder Sekunde elender. Was für einen Virus er sich auch eingefangen haben moch te, er machte ihn fertig. Laugte ihn aus und raubte ihm jegliche Kraft. Mühsam schleppte sich Stark voran. Er folgte dem Fremden, der ihn durch den schmalen Gang geleitete, der sie aufgenommen hatte.
Wohin er führte, ahnte Stark nicht einmal. Weiter und weiter. Meter um Meter. Schritt um Schritt ging es voran. Ich kann nicht mehr! Der erschöpfte Schrei flammte in dem Reporter auf, füllte all sein Denken aus. Es gab nichts anderes mehr, nur noch diese erschre ckende Wahrheit. Er war am Ende. »Sie haben es geschafft, Mr. Stark!« Die Worte seines Weggefährten rissen ihn noch einmal aus seiner Lethargie. Er hatte es tatsächlich geschafft? Er war am Ziel? Mühsam hob Stark den Blick. Der Gang lag hinter ihm. Dafür befand er sich in einem riesigen Gewölbe, das von Männern und Frauen bevölkert wurde. Erstaunt riss Stark die Augen auf. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit. Nicht mit diesem Anblick. Es waren mindestens fünfzig Personen, die Stark anstarrten. Einige von ihnen kannte er sogar. Im Laufe seines Berufslebens hatte er viele Menschen getroffen und kennen gelernt. Sogar zwei be rühmte, britische Schauspielerinnen entdeckte er. Sie hier zu sehen, erschreckte ihn zutiefst. Die beiden Frauen gaben der ganzen Sache einen realen Touch, der ihm nicht gefiel. Der Wahnsinn nahm immer groteskere Formen an. Stumm blickten ihn die Anwesenden an. Ihre Blicke waren allerdings weder feindselig noch aggressiv. Die Männer und Frauen wirkten vielmehr erwartungsvoll, so als würden sie auf ein ganz be stimmtes Ereignis warten. »Was tun diese Leute hier?«, brachte Stark mühsam hervor. Selbst das Sprechen bereitete ihm mittlerweile Mühe. Die innere Erschöp fung griff immer weiter um sich. Angst verspürte Stark seltsamer weise jedoch nicht mehr. »Sie sind hier, um zu essen!«
Die Antwort verblüffte Stark. Sie war vollkommen verrückt. Total abgedreht. »Essen?«, fragte er wie ein begriffsstutziges Kind. »Was denn essen?« »Das!«, erwiderte sein Begleiter und deutete auf ein Podest, das in der Mitte des Gewölben seinen Platz hatte. Starks Blick folgte automatisch der ausgestreckten Hand seines In formanten. Er konnte nicht anders. Die Kontrolle hatten schon längst andere für ihn übernommen. Dann sah er das Essen. Er sah es in aller Deutlichkeit. Sein Verstand weigerte sich jedoch, es zu akzeptieren. Auf dem Podest lag eine nackte Frauenleiche! Der Journalist schüttelte den Kopf. Das Ganze war ein Scherz. Musste ein Scherz sein! »Nun wissen Sie, was mit den Leichen geschieht«, sagte sein In formant. »Wir essen sie, um existieren zu können.« »Nein, nein, nein!«, stammelte Stark hilflos, so als könne er da durch die schreckliche Wahrheit auslöschen. Alles in ihm sträubte sich gegen die nackten Tatsachen. Er konnte es nicht glauben. Es ging einfach nicht. »Schauen Sie mich an!«, befahl ihm der Mann. Widerwillig kam Stark der Aufforderung nach. Er wollte nicht noch mehr sehen. Aber eine unbarmherzige Macht zwang ihn dazu, den Kopf zu wenden. »Was seid Ihr?«, fragte er sein Gegenüber hilflos. »Wir sind Ghouls, Mr. Stark!«, antwortete der Mann, während er gleichzeitig seine Chauffeursmütze abnahm. »Leichenfresser!« Ich will es nicht sehen!, durchfuhr es den Reporter, doch er konnte den Blick nicht abwenden. Zum ersten Mal konnte Stark den Informanten ohne Kopfbede ckung betrachten. Der Anblick war Grauen erregend. Sogar mehr als
das. Die obere Hälfte dem Schädels bestand nur aus einer milchig weißen, wabbernden Masse, die von dicken, roten Adern durchzo gen war. Darunter glaubte Stark, eine grünliche Substanz auszuma chen, die heftig pulsierte. Der Journalist konnte alles deutlich erkennen. Jede schreckliche Einzelheit. Das Grauen in Reinkultur. Da platzte die Schädeldecke auf! Stark stieß einen Schrei aus und wich drei Schritte zurück. Es ge schah ganz impulsiv, er konnte nicht anders. Wie ein stinkender Lavastrom rann die grüne Substanz über das Gesicht den Informanten. Gleichzeitig riss seine Haut an unzähligen Stellen auf und entließ noch mehr von der unheimlichen Substanz. Und das Grauen steigerte sich noch ins Unermessliche, denn nun schien der Fremde zu zerfließen. Der Gestank verwester Leichen wehte auf Stark zu. Er musste würgen, übergeben konnte er sich je doch nicht. Stück um Stück bedeckte der zähe Schleim den Körper des Mannes. Gleichzeitig veränderte sich seine Gestalt. Er wurde zu einem Schleimberg, der keine konkreten Konturen mehr aufwies. Alles an ihm war ständig in Bewegung. Arme und Beine verschwanden in der Masse und lösten sich auf. Zurück blieb ein stinkendes Etwas, das nichts Menschliches mehr an sich hatte. Gewaltsam riss sich Stark von dem Anblick los. Wie von selbst fuhr sein Blick zu den anderen Personen. Er musste wissen, ob auch sie … Die Wahrheit traf den Reporter mit der Wucht eines heran brausenden Güterzugs! Alle Anwesenden hatten sich ebenfalls verwandelt. Keiner von war verschont worden. Das Grauen hatte endgültig die Regie über nommen.
Doch es kam noch schlimmer. Viel schlimmer. Wabbernd vereinigten sich die Wesen zu einer riesigen Masse ver schlungener Leiber. Stark hatte das Gefühl, auf eine undurchdringli che Wand zu starren. Eine Wand, die langsam aber unaufhaltsam auf ihn zustrebte. Der Reporter erstarrte. So etwas durfte es nicht geben. Es widersprach allem, was er bis her gekannt hatte. Jedem Glauben und jeder Wissenschaft. Der Leichengestank überdeckte mittlerweile alles. Stark konnte ihn fast greifen. Er hatte Mühe, diesen Pesthauch in seine Lungen zu pumpen. Es ist alles nur ein Albtraum!, versuchte er verzweifelt, den Verstand zu behalten. »Sie träumen nicht, Mr. Stark!«, drang die Stimme des In formanten in sein Bewusstsein und zerstörte seine letzte Rückzugs möglichkeit. Sie klang noch fürchterlicher als vorher. Blubbernde Laute beglei teten jedes Wort, so als würde der Sprecher ertrinken. Hilflos wandte sich Stark dem Wesen zu. Er hatte keine andere Wahl. Die Regeln wurden von anderen gemacht, denen er sich nicht widersetzen konnte. »Was … was habt Ihr … mit mir … vor?«, stammelte er hilflos, ob wohl er die Antwort zu kennen glaubte. Er war ein Zeuge. Jemand, der reden konnte. Man würde ihn gnadenlos aus den Weg räumen. »Werdet Ihr auch mich …« »Fressen?« Das einzelne Wort klang höhnisch, beinahe verächtlich. Stark nickte nur. Er brachte es nicht fertig, seine schlimmste Be fürchtung zu artikulieren. Nackte Todesangst hielt ihn davon ab. »Nein«, antwortete der Ghoul leichthin, so als könne er Starks Besorgnis nicht begreifen. »Wir sind keine Kannibalen.«
Im ersten Moment atmete der Journalist auf. Er würde am Leben bleiben. Er konnte es selbst kaum fassen. Dann erkannte er den Sinn der Worte. Kannibalen? Das würde ja bedeuten, dass … Heftig zuckte Stark vor der letzten Konsequenz zurück. Nein! das konnte … das durfte nicht sein! Nicht auch er! »Ich bin nicht wie Ihr!«, stieß er abwehrend aus. »Ich bin kein Lei chenfresser!« »Noch nicht!«, entgegnete das Wesen vor ihm gelassen. Starks Gedanken wirbelten durcheinander. Das allen ergab einfach keinen Sinn. Er konnte doch nicht eines von diesen obszönen Dingern sein. »So ging es mir auch, Mr. Stark, als ich noch ein ganz normaler Friedhofswärter war«, vernahm er erneut die Stimme des Ghouls. »Aber man kann es nicht aufhalten. Es ist wie eine Seuche, die einen befällt und nie wieder frei gibt.« Nein!, wollte Stark protestieren. Doch er kam nicht mehr dazu. Ohne Vorwarnung setzte das Brennen ein. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Un willkürlich stöhnte er auf. Was geschieht mit mir?, durchfuhr es Stark, obwohl er es im Grunde wusste. Er hatte sich wirklich etwas eingefangen. Etwas, das ihn verwandeln würde. Eine Art dämonische Seuche, die ihn vollstän dig auslöschen würde. Stück um Stück. Weiter und weiter. Bis zum bitteren Ende. Der Reporter taumelte zurück. Er musste hier weg. Vielleicht hatte er noch eine Chance, wenn es ihm nur gelang, diesen höllischen Ort zu verlassen. Er kam genau drei Schritte weit. Ein greller Schmerz fuhr durch seinen Körper. Gepeinigt schrie
Stark auf. Dann sackte er langsam zu Boden. Die tödliche Pest fraß sich durch seinen Körper. Er konnte es spü ren. Unerbittlich und unaufhaltsam. »Nein!«, stieß er heiser aus, doch der Hilfeschrei zerfaserte auf sei nen Lippen. »Es ist nur beim ersten Mal schlimm, Mr. Stark. Danach werden Sie einer von uns sein. Das Mitglied einer verschworenen Gemein schaft, die sich mehr und mehr ausbreiten wird.« Der Journalist nahm die Worte kaum noch wahr. Der Schmerz raubte ihm die Sinne. Nichts anderes war noch von Bedeutung. Nur der grelle, stechende Schmerz, der ihn innerlich zerriss. Dann setzte die Verwandlung ein! Stark spürte, wie etwas aus ihm herausdrängte. Fordernd. Macht voll. Der Schleim brach hervor! Aus jeder Pore quoll er nach außen, Bedeckte den Körper des Reportern wie eine zähe Schicht. Hilflos riss Stark die Arme in die Höhe, denn aufhalten konnte er das Grauen dadurch nicht. Es schritt gnadenlos voran. Geschockt bemerkte er, wie sich die Knochen in seinen Armen auf lösten. Seine Gliedmaße fielen regelrecht in sich zusammen. Der Schleim wirkte wie eine Säure. Er zersetzte alles, was an ihm menschlich war – und er ließ nichts zurück … Ich zerfließe!, durchfuhr ein letzter klarer Gedanke den Journalis ten …
* Hunger! Es war die erste Empfindung, die ihn durchdrang. Stark und
animalisch – unbeherrschbar. Kurz darauf kehrten seine anderen Sinne zurück. Er hatte es über standen. Der Mensch in ihm war endgültig verschwunden. Neugierig schaute er sich um. Sein Sehvermögen war viel besser geworden. Er konnte nun Dinge wahrnehmen, die sich einem Men schen niemals offenbarten. Entschlossen erhob er sich. Sein fließender Körper funktionierte einwandfrei. Er hatte förmlich das Gefühl zu schweben. Erleichtert blickte er die anderen an. Er war nun einer von ihnen. Sie und er bildeten eine Einheit, die niemand zerstören konnte. Komm!, lockten ihn seine Artgenossen, ohne das Wort aussprechen zu müssen. Er verstand sie auch so. Worte waren überflüssig. Er ge hörte ab jetzt einer anderen Welt an, mit neuen Regeln und neuen Bedürfnissen. Seiner Welt. Komm!, vernahm er erneut den lockenden Ruf. Wallend setzte er sich in Bewegung und tauchte ein in die Masse der anderen. Unzählige Gedanken und Empfindungen durchfuhren ihn. Bereitwillig nahm er sie auf, labte sich an ihnen. Schmatzend vereinigten sich ihre Leiber. Es gab keine Grenzen für sie. Jeder tauchte ein in den anderen. Bilder durchdrangen sein Denken. Dunkle Bilder. Es waren die Bilder ihrer Zukunft. Ihre Seuche würde sich weiter und weiter aus breiten. Der Keim war schon gelegt. Und niemand würde in der Lage sein, sie aufzuhalten. Sie würden die Welt beherrschen, und die verbliebenen Menschen würden ihre Nahrung sein – ihr Futter. Der Gedanke an die Menschen entfachte erneut seine Gier. Unbeherrscht glitt er durch die Masse der anderen. Er brauchte Nahrung. Sofort! Bereitwillig ließen ihn seine Artgenossen gewähren. Er sollte als
Erster seinen Hunger stillen dürfen. Nur er allein. Bald hatte er es geschafft. Das Podest erhob sich direkt vor ihm. Er konnte sich kaum noch beherrschen. Der Hunger riss ihn mit. Einladend lag die Leiche vor ihm. Nackt und leblos. Ein Geschenk der Hölle. Iss!, drängten ihn die anderen. Still deinen Hunger! Die Gier in ihm wurde übermächtig! Ungestüm fuhr sein Maul auf den Leichnam zu, und er gab er sich ganz dem Genuss hin. Sein neues Leben hatte begonnen. Sein vorbestimmtes Schicksal hatte sich erfüllt. Unwiderruflich und endgültig. Nun gab es keine Fragen mehr … ENDE