ÜBERSCHÜSSE DER ERFAHRUNG
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRÜNDET VON H.L. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRMHERRSCHAFT D...
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ÜBERSCHÜSSE DER ERFAHRUNG
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRÜNDET VON H.L. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRMHERRSCHAFT DER HUSSERL-ARCHIVE
186 STEFANO MICALI
ÜBERSCHÜSSE DER ERFAHRUNG
Grenzdimensionen des Ich nach Husserl
Redaktionskomitee: Direktor: U. Melle (Husserl-Archief, Leuven) Mitglieder: R. Bernet (Husserl-Archief, Leuven) R. Breeur (Husserl-Archief, Leuven) S. IJsseling (Husserl-Archief, Leuven) H. Leonardy (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve) D. Lories (CEP/ISP/Collége Désiré Mercier, Louvain-la-Neuve) J. Taminiaux, (Centre d’études phénoménologiques, Louvain-la-Neuve) R.Visker (Catholic University Leuven, Leuven) Wissenschaftlicher Beirat: R. Bernasconi (Memphis State University), D. Carr (Emory University, Atlanta), E.S. Casey (State University of New York at Stony Brook), R. Cobb-Stevens (Boston College), J.F. Courtine (Archives-Husserl, Paris), F. Dastur (Université de Paris XX), K. Düsing (Husserl-Archiv, Köln), J. Hart (Indiana University, Bloomington), K. Held (Bergische Universität Wuppertal), K.E. Kaehler (HusserlArchiv, Köln), D. Lohmar (Husserl-Archiv, Köln), W.R. McKenna (Miami University, Oxford, USA), J.N. Mohanty (Temple University, Philadelphia), E.W. Orth (Universität Trier), C. Sini (Universit`a degli Studi di Milano), R. Sokolowski (Catholic University of America, Washington D.C.), B. Waldenfels (Ruhr-Universität, Bochum)
STEFANO MICALI
ÜBERSCHÜSSE DER ERFAHRUNG Grenzdimensionen des Ich nach Husserl
Library of Congress Control Number: 2008923853
ISBN 978-1-4020-8388-4 (HB) ISBN 978-1-4020-8389-1 (e-book)
Published by Springer, P.O. Box 17, 3300 AA Dordrecht, The Netherlands. www.springer.com
Printed on acid-free paper
Lektorat: Rainer Zolk, Heidelberg
All Rights Reserved © 2008 Springer Science+Business Media B.V. No part of this work may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise, without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use by the purchaser of the work.
Marco Maria Olivetti in memoriam
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort IX Einleitung 1 I. Der Ich-Begriff in der Husserl’schen Phänomenologie 9 1. Einführung in den Problembereich 9 2. Das Ich als sich in den vergegenwärtigenden Akten herausstellende Identität 12 3. Das Ich als Ausstrahlungszentrum und als Quellpunkt der Aufmerksamkeit 24 4. Die Leiblichkeit des vergegenwärtigten Subjekts und die Auflösung der Zweideutigkeit des Ich-Begriffs 28 II. Umwandlung des Ich-Begriffs im Licht der passiven Synthesis 41 1. Spannung und Wechselbezug zwischen statischer und genetischer Phänomenologie 41 2. Der Ausweis des Ich in voller Konkretion durch die genetische Betrachtungsweise 53 3. Immanenz, passive Synthesis und die eigentümliche Diachronie der Affektion 62 III. Das Ich als absolutes Urfaktum 79 1. Die Mehrdeutigkeit der Faktizität 79 2. Die Urfaktizität des Ich und eine neue Metaphysik 90 IV. Das Verhältnis des Ich zum Anderen 101 1. Die Husserl’sche Intersubjektivitätstheorie 102 1.1. Primordiale Reduktion und die Beschreibung der verschiedenen Stufen der Weltkonstitution 102 1.2. Die Zweideutigkeit des Solipsismus 112
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inhaltsverzeichnis
1.3. Das Ich und nicht die Intersubjektivität als letzter Geltungsboden 115 1.4. Die Asymmetrie zwischen der Sphäre des Eigenen und des Fremden im Licht der Apodiktizitätsproblematik 121 1.5. Die letzte Reduktion auf das Ur-Ich 124 2. Der Bruch mit der Zirkularität der Immanenz und die Diachronie des Anderen. Eine Auseinandersetzung mit Lévinas und Derrida 129 2.1. Lévinas’ Kritik an Husserl: Der Bruch mit der Immanenz und die Vorgängigkeit des Anderen 129 2.2. Das Problem der Symmetrie im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen. Die Kritik von Derrida an Lévinas in „Gewalt und Metaphysik“ 143 V. Phänomenologie der Zeit 151 1. Die Husserl’sche Zeitanalyse in den Vorlesungen aus dem Jahr 1905 151 1.1. Das Schema „Auffassung–Auffassungsinhalt“ und seine Aporien 154 1.2. Die mehrdeutige Bestimmung des absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseins 160 1.3. Der Eintritt des Neuen und die retentionale Differenz: Das problematische Verhältnis zwischen Urimpression und Retention 169 2. Der Überschuss der Zeit bei Husserl 184 2.1. Die neue Bestimmung des letzten zeitkonstituierenden Bewusstseinsflusses in den Bernauer Manuskripten 189 2.2. Die Konfiguration des Zeitbewusstseins in den C-Manuskripten 201 2.3. Vielfalt und Verschiebung der Zeit bei Husserl 218 VI. Schlusswort 231 Literaturverzeichnis 235 1. Husserls Schriften 235 2. Weitere Literatur 238 Index 243
VORWORT
Die vorliegende Studie wurde im Dezember 2005 von der Philosophischen Fakultät der Universität Wuppertal als Dissertation angenommen. An erster Stelle möchte ich Prof. Dr. Held für die Betreuung und Förderung danken, die er mir bei der Ausarbeitung der Dissertation zukommen ließ. Dankbar bin ich auch Prof. Dr. László Tengelyi, der in zahlreichen Gesprächen durch seine kritischen Bemerkungen und Fragen zum Gelingen der Arbeit (insbesondere der Kapitel II und V) beigetragen hat. Ebenfalls möchte ich Prof. Dr. Bernhard Waldenfels für seine Unterstützung und zahlreiche fruchtbare Anregungen danken. Herrn Prof. Melle, dem Direktor des Husserl-Archivs in Leuven, danke ich für die freundliche Erlaubnis, aus unveröffentlichen Manuskripten Husserls zitieren zu dürfen und ebenso für die Aufnahme der vorliegenden Schrift in dieser Reihe. Die Arbeit ist an drei verschiedenen Orten entstanden: Wuppertal, Paris, Leuven. An allen Orten habe ich wichtige Gespräche geführt, die ihre Spuren in der Arbeit hinterlassen haben. Aus diesem Grund möchte ich mich bei Prof. Dr. Rudolf Bernet, Prof. Dr. Marc Richir, Prof. Dr. Edward Casey, Prof. Dr. Dieter Lohmar und Prof. Dr. Jocelyn Benoist bedanken. Darüber hinaus danke ich der Stiftung Cusanuswerk, die die Arbeit durch ein Promotionsstipendium gefördert hat. Ein herzlicher Dank geht an diejenigen, die mir bei den Korrekturen geholfen haben: Chiara Derenbach, Kerstin Walser, Malte Steinmetz, Daniela Koweindl, Inga Römer und Anna Ruppert. Schließlich geht mein größter Dank an meine Frau, die mir immer zur Seite gestanden hat. Amsterdam, im Dezember 2007 Stefano Micali
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EINLEITUNG
Die Phänomenologie zielt darauf ab, den Eigentümlichkeiten unterschiedlicher Erscheinungsweisen des Erscheinenden gerecht zu werden. Die phänomenologische Analyse bedeutet somit die Rückkehr zu den Sachen selbst in einer radikalen Weise. Husserl geht so weit zu behaupten, dass selbst Gott die Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes nur durch Abschattungen haben kann. Es handelt sich hier nicht darum, die „unendlichen“ Vermögen Gottes eingrenzen zu wollen, sondern den strengen Sinn der Wahrnehmung zu bestimmen. Falls Gott in ein und demselben Augenblick Zugang zu allen Seiten eines „Objektes“ hat, findet bei ihm ein Akt statt, der sich keineswegs mit der Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes identifizieren lässt. Die Rückkehr zu den Sachen selbst ermöglicht die Entdeckung von bisher unbekannten Sinndimensionen. Die heterogenen Sinne der Erfahrung müssen so beschrieben werden, wie sie erscheinen, und zwar, wie sie uns zu- und einfallen. Man kann die unterschiedlichen Phänomene nicht in einen vorgezeichneten Horizont einbringen, der durch die Herrschaft bestimmter Kategorien wie Form/Materie, Innen/Außen oder auch Noesis/Noema, Anspruch/Antwort usw. charakterisiert ist, sofern diese Kategorien eine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Keine radikale Erfahrung darf auf eine schon gestiftete Ordnung zurückgeführt, sondern muss in ihrer einzigartigen Erscheinungsweise ausgewiesen werden, in der sie sich zeigt. Jedes Phänomen fordert demnach seine eigene Sprache. Die phänomenologische Analyse beschränkt sich nicht darauf, die Eigentümlichkeit der unterschiedlichen Erscheinungsweisen auszuweisen, sondern ist darauf ausgerichtet, die Grenzen der Phänomenalität aufzuzeigen. Merleau-Ponty hat diese Zielrichtung der Phänomenologie zutreffend formuliert: „Die letzte Aufgabe der Phänomenologie als Philosophie des Bewusstseins besteht darin, ihren Bezug zur Nicht-Phänomenologie zu verstehen. Was in uns der
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Phänomenologie widersteht — das natürliche Sein, jenes ,barbarische’ Prinzip, von dem Schelling sprach — kann nicht außerhalb der Phänomenologie bleiben und muss in ihr selbst seinen Platz finden. Der Philosoph trägt seinen Schatten mit sich, der mehr bedeutet als bloß die faktische Abwesenheit künftigen Lichts.“ (Merleau-Ponty, 1960, 225, dt. 264)
Die Spannung zwischen der phänomenalen Sphäre und dem, was sich prinzipiell der Phänomenalität entzieht, charakterisiert im Wesentlichen die zeitgenössische hermeneutisch-phänomenologisch orientierte Philosophie: Etwas zeigt sich im Erscheinen, das über das Erscheinen hinausgeht. Die paradoxe Aufgabe der Phänomenologie besteht darin, die ursprüngliche Erfahrung zum Ausdruck zu bringen und gleichzeitig zu versuchen, dieser Erfahrung in ihrem unaufhebbaren Überschuss gegenüber jeder Art von direkter Anschauung und Ausdrucksform gerecht zu werden. Der „Begriff“ von Spur sowie die Epiphanie des Antlitzes bei Lévinas, die „différance“ bei Derrida, die Unterscheidung zwischen Sinnstiftung und Sinnbildung bei Richir, die Denkfigur der Urdiastase bei Waldenfels sind in erster Linie als Versuche anzusehen, die Grenzen zwischen dem Erscheinenden und dem, was sich im Erscheinen prinzipiell nicht zur Gegebenheit bringen lässt, neu zu denken. In der vorliegenden Arbeit sollen Momente der Husserl’schen Phänomenologie hervorgehoben werden, in denen sie mit ihren eigenen Grenzen ringt. Jene Momente, die bisher oft nicht hinreichend berücksichtigt worden sind, können m. E. einen wichtigen Beitrag zum Ausweis radikaler Phänomene leisten, die sich prinzipiell dem Ich entziehen. In der Phänomenologie Husserls findet sich eine versteckte, aber doch ständig spürbare Spannung zwischen den programmatischen Richtlinien seiner Philosophie und seiner paradigmatischen Treue zu den Sachen selbst, die die Analyse der regionalen Phänomene leitet. Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt, wenn die letzte Dimension der Konstitution untersucht wird. Nach Husserl muss die Phänomenologie sich ausschließlich an dem orientieren, was sich in seiner eigenen Evidenz zeigt. In seiner Selbstdarstellung für das Philosophen-Lexikon aus dem Jahr 1937 betrachtet Husserl den ersten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie als „die eigentliche Grundschrift der konstitutiven Phänomenologie“. In dieser Schrift kommt die neue Wissenschaft
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„zu einer systematisch begründeten Auslegung ihres eigentümlichen Sinnes und ihrer Funktion als erster Philosophie, als ,Grundwissenschaft der Philosophie’ überhaupt.“ (Hua XXVII, 251) Hier handelt es sich darum, den eigentümlichen Sinn der phänomenologischen Methode aufzuzeigen: Die phänomenologische Methode besteht in der Einheit der transzendentalen und der eidetischen Reduktion.1 Die Phänomenologie muss das in Frage stellen, was als „beständige Selbstverständlichkeit“, als „beständig unausgesprochene Voraussetzung“ jeder wissenschaftlichen Untersuchung gilt: die Existenz der Welt (Hua XXVII, 169). Die Aufhebung der Weltexistenz führt zu einer radikalen Änderung, und zwar zu der Ermöglichung der phänomenologischen Einstellung: „Diese Änderung beruht in der unverbrüchlich festzuhaltenden ,Einklammerung’ der Weltexistenz [ ]. Was nach dieser Einklammerung verbleibt, ist das reine Bewusstsein mit seinem Weltmeinen. [ ] Welt wird zum ,Weltphänomen’. Phänomen einzig im Sinne der bewusstseinsmäßigen Vermeintheit ist das universale Thema der ,Phänomenologie’, welche die Wissenschaft ist von dem reinen oder transzendentalen Bewusstsein nach seinen erlebnismäßigen und vermeinten Beständen [ ]“ (Hua XXVII, 251)
Neben der phänomenologischen Reduktion ist die Wesensforschung „die Grundform aller transzendentalen Methoden“: Ein individueller Gegenstand „ist nicht bloß ein individueller, ein Dies da!, ein einmaliger [ ]: So hat z. B. jeder Ton an und für sich ein Wesen und zu oberst das allgemeine Wesen Ton überhaupt oder vielmehr Akustisches überhaupt.“ (Hua III, 12 f.) Durch die Wesenserschauung, die Anschauung im prägnanten Sinn ist, versetzt man die faktische individuelle Wahrnehmung in das Reich des „Als-ob“, in eine reine Möglichkeit der Wahrnehmung, um einen allgemeinen Typus „Wahrnehmung“ zu gewinnen (Hua I, 104). In den Variationen der Phantasie zeigt sich etwas Identisches, Invariantes, das als Wesen der 1
„Der 2. Abschnitt [der Ideen] gilt der methodischen Sicherung der transzendentalphänomenologischen Erkenntnis überhaupt, er [Husserl selbst] entfaltet die volle Systematik der phänomenologischen Methode als die Einheit der transzendentalen und eidetischen Reduktion, eben als der apriorischen Wesenserkenntnis der nach der Einklammerung der Weltexistenz verbleibenden absoluten Subjektivität.“ (Hua XXVII, 252).
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Wahrnehmung anzusehen ist (Erfahrung und Urteil, §§ 86–91): Durch die Wesensschau wird ersichtlich, was „zu einer Wahrnehmung als solcher gehört, gewissermaßen zum ewig gleichen Sinn von möglicher Wahrnehmung überhaupt.“ (Hua V, 40) Gleichzeitig muss beachtet werden, dass alle apriorischen Notwendigkeiten auf das Apriori cogito-cogitatum verweisen: „Das spezifisch Phänomenologische besteht in der Wesenserwägung, [ ] welche also alles, was eidetische Betrachtung ergibt, in Beziehung setzt zum eidetischen Wesen des Bewusstseins, in dem sich — wie ich mich auszudrücken pflege — alles Sein ,konstituiert’.“ (Hua V, 133)
Die Phänomenologie behandelt in erster Linie die konstitutiven Probleme aus einer statischen Betrachtungsweise. Das erste Feld der Phänomenologie ist die Korrelationsforschung, welche die hochkomplexen Verhältnisse zwischen Noesis und Noema untersucht (Hua XXVII, 177). Transzendentale Epoché, eidetische Reduktion und die Korrelationsforschung sind die fundamentalen methodischen Einsichten Husserl’scher Phänomenologie, durch die die Selbstgegebenheit der Phänomene hervortritt. Es gilt jedoch hervorzuheben, dass die Husserl’sche Analyse in mannigfaltigen Bereichen auf Phänomene stößt, die prinzipiell nicht zur Selbstgegebenheit kommen. Diese Phänomene sind paradoxerweise nur in ihrer eigentümlichen Unzugänglichkeit zugänglich (Hua I, 35; XV, 609).2 Diese Grenzphänomene, die in ihrer einzigartigen Erscheinungsweise zu beschreiben sind, werden das Hauptthema meiner Arbeit sein. Als Leitfaden meiner Untersuchung dient der Ich-Begriff bei Husserl, der im Zusammenhang mit der letzten Dimension der Konstitution hinsichtlich unterschiedlicher Phänomenfelder (Passivität, Faktizität, Intersubjektivität, Zeitlichkeit) analysiert wird.
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Es ist bekannt, dass Husserl den Ausdruck „Zugänglichkeit des Unzugänglichen“ hinsichtlich der Fremdheit verwendet hat, aber dieser Ausdruck ist m. E. geeignet, die Eigenart vielfältiger Erfahrungen zu charakterisieren, die über die Intersubjektivitätsproblematik hinausgehen.
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Im Hinblick auf das Ich ist es erforderlich, auf seine mannigfaltigen Dimensionen einzugehen, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Ein sachgerechtes Verständnis des Ich kann nur unter der Voraussetzung zustande kommen, dass die Horizonte analysiert werden, in denen es sich bewegt. Jeder Versuch, das Ich unabhängig von seinen cogitationes und von den jeweiligen Sinnhorizonten zu analysieren, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Ich kann nicht für sich genommen werden: „Von seiner ,Beziehungsweise’ oder ,Verhaltungsweise’ abgesehen, ist es völlig leer an Wesenskomponenten, es hat gar keinen explikabeln Inhalt, es ist an und für sich unbeschreiblich [ ].“ (Hua, III/1, 195) 2. Die oben genannten Phänomene (Zeitlichkeit, Passivität, Intersubjektivität, Faktizität) sind eng miteinander verbunden: Es ist z. B. nicht möglich, die Faktizitätsproblematik sachgerecht zu begreifen, ohne die intersubjektiven, zeitlichen und passiven Aspekte in Betracht zu ziehen. Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Abgesehen vom ersten Kapitel, das eine einführende Funktion erfüllt, hat jedes Kapitel eine ähnliche Struktur: Die textnahe Analyse des Husserl’schen Denkens kulminiert im Ausweis eines eigentümlichen Überschusses, der über jede Form von Anschauung und Sinn hinausgeht. Wenn von „Über-schuss“ die Rede ist, so verwendet man relationale Termini, für die es erforderlich ist, Folgendes näher zu bestimmen: Was schießt hinaus und worüber schießt oder geht es hinaus? Dementsprechend wird in jedem Kapitel versucht, die vielfältigen Aspekte der unterschiedlichen Erfahrungsfelder (Zeit, Faktizität, Intersubjektivität, Passivität) aufzuzeigen und abschließend hervorzuheben, was genau die Grenzen der jeweils bestehenden Ordnung sprengt. Da die Grenzen der Phänomenologie besonders in der Zeitanalyse deutlich werden, wird diese Dimension ausführlicher erforscht. Es ist zu betonen, dass die Untersuchung keineswegs den programmatischen Richtlinien Husserl’scher Phänomenologie folgt, sondern seiner konkreten Analyse. In Kapitel I lege ich eine erste Einführung in den Ich-Begriff vor — ein Begriff, der durch eine wesentliche Mehrdeutigkeit gekennzeichnet ist. In diesem Kontext wird insbesondere das komplexe Verhältnis zwischen dem Ich als Ausstrahlungszentrum und dem Ich als sich in
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den vergegenwärtigenden Akten zeigender Identität untersucht. Bei der Beschreibung des vergegenwärtigenden Subjektes wird die Leiblichkeit des phantasierten Ich-Korrelats hervorgehoben — eine Leiblichkeit, die im engen Zusammenhang mit dem Verfahren der doppelten Reduktion steht. Im Zentrum von Kapitel II steht die Umwandlung des Ich-Begriffes durch die genetische Phänomenologie, welche die Geschichte der unterschiedlichen Apperzeptionsformen thematisiert, in denen sich die jeweiligen Gegenstände konstituieren (Hua XI, 345). Zunächst werde ich auf die problematische Beziehung zwischen statischer und genetischer Phänomenologie eingehen und dann die Grundformen der aktiven und passiven Synthesis untersuchen. Durch eine Analyse von passiven — sowohl formalen als auch inhaltlichen — Synthesen lässt sich eine anonyme Sphäre des Lebens aufspüren, in der sich der Sinn aus sich selbst herausbildet. Im Hinblick auf die passive Synthesis werde ich außerdem zeigen, dass auf einer elementaren Ebene der Konstitution die zeitverschobene Affektion, die sich dem an der Synchronie orientierten Paradigma der Intentionalität entzieht, eine herausragende Rolle spielt: Durch die Affektion kommt eine besondere Art von Fremdheit zur Sprache, die den für die Husserl’sche Phänomenologie charakteristischen Immanentisierungsprozess in Frage stellt. Es ist wichtig herauszustreichen, dass sich diese Fremdheit der Affektion keineswegs auf den Anderen in einem intersubjektiven Sinne bezieht. In Kapitel III versuche ich, die verschiedenen Bedeutungen des Faktums auseinanderzuhalten und die Eigentümlichkeit der Urfaktizität des Ich näher zu bestimmen, die sich konsequent schon in den zwanziger Jahren abzeichnet. Im Hinblick auf das urfaktische Ich zeigt sich nicht nur eine radikale Umwandlung der Beziehung zwischen Faktum und Eidos, sondern auch eine grundlose Dimension des Ich (Hua XV, 386), die über die metaphysischen Begriffspaare Existenz/Wesen, Wirklichkeit/Möglichkeit hinausgeht. Kapitel IV gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil wird die Husserl’sche Intersubjektivitätstheorie untersucht, die durch eine wesentliche Spannung charakterisiert ist. Einerseits wird die neuartige Transzendenz des Anderen als solche anerkannt: Der Andere ist durch eine unaufhebbare Unzugänglichkeit gekennzeichnet. Andererseits besteht eine asymmetrische Beziehung zwischen der eigenen und
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der fremden Sphäre: Das Ich dient nicht nur als unumgänglicher Eingangspunkt der Beziehung zum Anderen, sondern auch als Fundament, als Original und als letzter Geltungsboden der Fremdwahrnehmung. In diesem Zusammenhang zeichnet sich eine besondere Art der Zirkularität ab, die im Hinblick auf unterschiedliche Phänomenbereiche (wie z. B. die Apodiktizität oder das Ur-Ich) deutlich hervortritt. — Im zweiten Teil habe ich mich mit der Intersubjektivitätstheorie Lévinas’ und Derridas auseinandergesetzt, um eine Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Ich und dem Anderen zu gewinnen, die mit der Immanenz endgültig bricht und dadurch der radikalen Fremdheit des Anderen in seiner diachronischen Vorgängigkeit gerecht wird. Die Zeit, die als die tiefste Dimension des Ich gilt, macht das Thema von Kapitels V aus. Die Zeitproblematik wird hier sowohl von einem chronologischen als auch von einem systematischen Gesichtspunkt ausgehend erforscht. Zu Beginn werden mit Verweis auf den Husserliana-Band X drei unterschiedliche Ebenen der Zeit differenziert: Zeitobjekt, Zeitwahrnehmung und das zeitkonstituierende Bewusstsein. Angesichts des Begriffs des zeitkonstituierenden Bewusstseins wird hierbei vor allem die komplexe Beziehung zwischen der Urimpression und dem retentionalen Fluss untersucht. Danach werde ich nicht nur die Umwandlungen des zeitkonstituierenden Bewusstseins in den Bernauer Manuskripten aus den Jahren 1917/18 und in den C-Manuskripten aus den dreißiger Jahren betrachten, sondern auch die grundwesentlich unterschiedlichen Formen von Zeitigungen analysieren (wie z. B. die Zeitlichkeit der Gegenwartserinnerung, die der unklaren Phantasie oder die Zeitigung der Grenzphänomene des Todes und des Schlafes). Sowohl bei der Beschreibung des zeitkonstituierenden Bewusstseins als auch bei der Analyse der unterschiedlichen Erfahrungen innewohnenden Zeitigungen wird die Spannung zwischen Synchronie und Diachronie ins Zentrum der Untersuchung rücken.
KAPITEL I
DER ICH-BEGRIFF IN DER HUSSERL’SCHEN PHÄNOMENOLOGIE
1. Einführung in den Problembereich In der Husserl’schen Phänomenologie ist der Ich-Begriff durch eine wesentliche Mehrdeutigkeit gekennzeichnet, die deutlich hervortritt, wenn man die komplexe Entwicklung verfolgt, die von der Einführung des reinen Ich in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie (1910/11) über die Konfiguration des transzendentalen Ich als Ausstrahlungszentrum in den Ideen I (1913) bis zur Problematik der Monade und der des Ur-Ich führt. Die Schwierigkeit des Anliegens, die unterschiedlichen Konfigurationen des Ich genau zu bestimmen, kann mit Verweis auf Dan Zahavis Interpretation ersichtlich werden. In der für die Husserl’sche Problematik des Ich wichtigen Schrift Husserl und die transzendentale Intersubjektivität werden von Zahavi vier fundamentale Bedeutungen des Ich unterschieden: „1. Ich als Einheit im Strom, d. h. Ich als Affektions- und Aktionspol. 2. Ich als Objekt der Reflexion. 3. Ich als Gegenüberstehendes eines Du. 4. Ich als Person.“ (Zahavi, 1994, 67) Diese Untergliederung ist insofern diskussionswürdig, da sie einerseits zwei Begriffe des Ich als identisch behandelt, die in der Husserl-Forschung zumeist streng getrennt werden („das Ich als Einheit im Strom“ und „das Ich als Affektionsund Aktionspol“), andererseits setzt Zahavi einen Unterschied zwischen dem Ich als Person und dem Ich als Gegenüberstehendem eines Du an, obwohl in vielerlei Hinsicht von demselben Sachverhalt die Rede ist. Husserl behauptet mehrfach ausdrücklich, dass das Ich als Person immer die Kommunikation mit dem Anderen, mit einem Du impliziert.3 3
„Mein als Ich, als Person Sein ist nicht nur Sein aus meinem primordialen Werden, sondern aus der kommunikativen Verflechtung mit dem Werden des Anderen. Was ich jetzt bin,
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kapitel i
In dem vorliegenden Kapitel, in dem ich eine erste Einführung in die Ich-Problematik vorlege, konzentriere ich mich auf die oben erwähnte Differenzierung zwischen einer Ich-Auffassung als Ausstrahlungszentrum — oder mit der Terminologie nach den Ideen I (1913) Affektionsund Aktionspol — und einer Ich-Auffassung als Einheit des Bewusstseinsflusses. Dieser Unterschied wird zum ersten Mal von Iso Kern in der Arbeit Idee und Methode der Philosophie hervorgehoben und dann von Eduard Marbach in der Schrift Das Problem des Ich weiterentwickelt. Nach Kerns Ansatz ist der Ich-Begriff bei Husserl durch eine Zweideutigkeit charakterisiert: Das Ich kann einerseits „sogar schlechterdings den fungierenden Leib bezeichnen“, und andererseits wird das Ich „unter der Abstraktion vom Leib“ untersucht (Kern, 1975, 154). Im letzteren Sinne bestimmt Husserl das Ich als „unzeitliche, überzeitliche aber auf die immanente Zeitlichkeit bezogene ideale Einheit“ (Kern, 1975, ebd.). Marbach erhebt diese Zweideutigkeit des Ich-Begriffs zur Grundthese der Schrift Das Problem des Ich. Husserl hat das reine Ich in Zusammenhang mit der Eingrenzung eines abgeschlossenen, einheitlichen Bewusstseinsflusses eingeführt. Die Eingrenzung einer abgeschlossenen Bewusstseinssphäre hängt eng mit Husserls Auseinandersetzung mit der Intersubjektivitätsproblematik zusammen. In diesem Kontext zeigt sich das Ich als Identität zwischen dem fungierend vergegenwärtigenden und dem vergegenwärtigten Ich. Das reine Ich als Deckungseinheit zwischen dem vergegenwärtigenden und vergegenwärtigten Bewusstsein ist nach Marbach keineswegs identisch mit dem leiblichen Subjekt: Das Ich ist hier „als Bezeichnung des Prinzips der Einheit des Bewusstseins die reine subjektive Einheit der aktuellen und vergegenwärtigten Akte, die nicht durch den Leib erfüllbar ist.“ (Marbach, 1974, 299) Dieser Konfiguration des Ich tritt diejenige entgegen, die in Ideen I einen klaren Vorrang hat. In diesem systematischen Werk des Jahres 1913 wird das Ich ausgehend von der Aufmerksamkeit und in Analogisierung mit dem Leib interpretiert. erwächst nicht aus meiner Vergangenheit und meiner darin jeweiligen Gerichtetheit auf künftiges Werden, sondern in meiner jeweiligen Gegenwart nehme ich das Sein des Anderen hinsichtlich gewisser seiner in ihm erwachsenen Geltungen mit auf, die nun als die mir zugeeigneten in mir fortwirken — dann hineinwirken in die Anderen, und so beständig.“ (Hua XV, 603, m. H.) Bezüglich des Begriffes der Person vgl. Kapitel II.2.
der ich-begriff in der husserl’schen phänomenologie
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Nach Marbach belastet deshalb diese Zweideutigkeit hinsichtlich des Ich-Begriffes das Husserl’sche Denken, weil einerseits derselbe Terminus für zwei unterschiedliche Sachverhalte verwendet wird, die nicht vereinbar sind (einmal ist das Ich als Deckungseinheit der vergegenwärtigenden Akte unabhängig vom Leib, ein anderes Mal definiert es sich ausgehend vom Leib). Andererseits verdient der Ich-Begriff in Analogisierung mit dem Leib keineswegs den Titel des reinen Ich: „Reines Ich ist nur als Subjekt eines Bewusstseinslebens, das ,das Vermögen der Wiederholung’ hat, welches Husserl schließlich als Voraussetzung dafür in Erwägung zieht, dass der Mensch als personales Wesen in einem gegenüber allen untereinander verwandten tierischen ,Ichbesonderungen’ einzigartigen Sinn sich auszeichnet.“4 (Marbach, 1974, 338) Wenn das leibliche Subjekt als reines Ich angesehen wird, kommt eine ungerechtfertigte Übertragung zustande: „Die Rede vom reinen Ich als Ausstrahlungszentrum der intentionalen Erlebnisse erweist sich also in der Tat als Übertragung der eigentlich dem leiblich bestimmten Subjekt zugehörigen Funktion der Zentrierung im Hier und Jetzt [ ].“ (Marbach, 1974, 175) Im Abschnitt 3 des vorliegenden Kapitels werde ich mich mit diesem Ansatz auseinandersetzen, wonach der Titel des reinen Ich ausschließlich dem Subjekt zukommt, welches das Vermögen der Wiederholung hat. In diesem Zusammenhang wird sich vor allem im Licht einer eingehenden Analyse der das vergegenwärtigte Subjekt charakterisierenden Leiblichkeit deutlich herausstellen, dass eine solche Gegenüberstellung der zwei Bestimmungen des Ich (als Leib und als Deckungseinheit der vergegenwärtigenden Akte) illegitim ist und dass sich, im Gegensatz dazu, ein viel komplexeres Verhältnis zwischen den zwei Ich-Begriffen abzeichnet, das als Ineinander zu betrachten ist. Bevor ich auf diese These eingehe, ist es notwendig, die zwei oben erwähnten Bestimmungen des Ich näher zu betrachten. 4
Die letztere Behauptung verweist auf einen Text Husserls aus dem Jahr 1934: „Tiere, animalische Wesen, sind wie wir Subjekte eines Bewusstseinslebens, in dem ihnen in gewisser Weise auch ,Umwelt’ als die ihre in Seinsgewissheit gegeben ist. [ ] Auch das Tier hat so etwas wie eine Ichstruktur. Der Mensch aber hat sie in einem einzigartigen Sinn gegenüber allen untereinander verwandten tierischen Ichbesonderungen; sein Ich — das Ich im gewöhnlichen Sinne — ist personales Ich, und mit Beziehung darauf ist der Mensch für sich und alle Mitmenschen Person.“ (Hua XV, 177).
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kapitel i
2. Das Ich als sich in den vergegenwärtigenden Akten herausstellende Identität Es ist deshalb angebracht, mit der Beschreibung des Ich als sich in den Vergegenwärtigungen zeigender Identität zu beginnen, weil ausgehend von dieser Konfiguration des transzendentalen Subjekts die Thematik des reinen Ich zum ersten Mal konsequent in den Vorlesungen Grundprobleme der Phänomenologie (1910/11) eingeführt wird. Um sich der Tragweite der Setzung eines reinen Ich bewusst zu werden, muss man auf Husserls Ansichten in Bezug auf diesen Problembereich in seinem früheren Werk aufmerksam machen. Es sei hier erinnert, dass Husserl in den Logischen Untersuchungen die These eines reinen Ich ausdrücklich ablehnt. Das Ich wird nur als empirisch angesehen (Hua XIX, 331). In Texten aus den Jahren 1907 bis 1909 beschränkt sich Husserl noch auf die phänomenologische Analyse der absoluten Gegebenheit der cogitationes und lässt damit das heikle Problem des Ich dahingestellt.5 Hierbei werden die cogitationes derart dargestellt, als ob sie niemandes cogitationes seien. In diesem Sinne wird in den Vorlesungen Ding und Raum (1907) festgestellt: „Die Welt wird gleichsam getragen vom Bewusstsein, aber das Bewusstsein selbst braucht keinen Träger.“ (Hua XVI, 40) Husserl fügt dann hinzu: „Das Denken ist, von dem sie [die phänomenologische Analyse] spricht, niemandes Denken. Wir abstrahieren nicht bloß vom Ich, als ob das Ich doch darin stehe und nur nicht darauf hingewiesen würde, sondern wir schalten die transzendente Setzung des Ich aus und halten uns an das Absolute, an das Bewusstsein im reinen Sinn.“ (Hua XVI, 41)
Es ist jedoch nicht zu verschweigen, dass in einigen Texten aus dieser Zeit ein gewisses Unbehagen hinsichtlich der empirischen Auslegung des Ich bemerkbar wird: Der Ich-Begriff setzt Husserl in Verlegenheit.6 5
„Und nun das Problem. Sage ich ,ich’, so setzte ich damit etwas, was keine cogitatio ist. Aber ich schreibe mir als ,meine’ diese und jene cogitationes zu, darunter diejenigen, in der ich die Setzung: ,ich’ vollziehe. Damit habe ich ein einheitliches Bewusstsein absolut gegeben. [Und das sei nur der Weg, den ich vom empirischen Denken aus dazu leiten will. Denn] Das Ich lasse ich jetzt dahingestellt. Dies da, diese cogitationes sind, und sie bestimmen eine Bewusstseinseinheit.“ (MS. B II 1, 37a) 6 „Ich sehe, ich meine Nichtgegebenes, und das Meinen ist zweifellos, das Sehen, die Erscheinung. Der Zweifel etc. ist, aber immer sage ich Ich, mein Sehen, mein Zweifeln
der ich-begriff in der husserl’schen phänomenologie
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Die Forderung, das Ich als Einheit des Bewusstseins zu bestimmen, wird besonders dringend, wenn Husserl sich mit der Einfühlungsproblematik beschäftigt. Dadurch rückt allerdings nicht nur das Problem der Einheit des Bewusstseins in den Vordergrund, sondern auch das der Abgeschlossenheit meiner Bewusstseinseinheit gegenüber anderen Bewusstseinseinheiten. Sobald das Problem der Einfühlung in Betracht gezogen wird, ist es unausweichlich, sich mit der Frage „wessen cogitatio, wessen reines Bewusstsein“ das phänomenologisch reduzierte Bewusstsein sei (Hua XIII, 155), auseinanderzusetzen, weil die Einfühlungen nicht zum Bereich der eigenen, sondern der fremden Erlebnisse gehören. In einem Manuskript aus dem Jahr 1907 wird bereits ansatzweise der in den Logischen Untersuchungen vertretene Ich-Begriff als sich in der inneren Wahrnehmung findende Einheit der Erlebnisse in Frage gestellt: „Allerdings, das ist eine große Frage, der ich zu sehr ausgewichen bin, die Evidenz des Ich als eines Identischen, das also doch nicht in dem Bündel bestehen kann. Müssen wir nicht anerkennen, dass ich ,mich’ als absolut Gewisses vorfinde als die Akte habend, sich in den mannigfaltigen Akten auslebend, aber als ein und dasselbe? [ ] Bin ich nicht Wahrnehmbares? Und handelt es sich da nicht doch um eine Apperzeption alles innerlich Wahrnehmbaren, und zwar [um] eine solche, die dasselbe als phänomenologischevident mitaufnimmt, aber eine Apperzeption, die eben kontrastiert gegen Eingefühltes, gegen andere Ich.“ (MS. B II 1, 22b–23a, m. H.)
Anhand dieser Textstelle kann man die verschiedenen Motive aufspüren, die Husserl zur Einführung eines reinen Ich gebracht haben. Im Gegensatz zu den Logischen Untersuchungen wird das Ich a) als ein Identisches, das sich nicht mit einem Bündel identifizieren lässt, dargestellt; b) dieses eine und identische Ich lebt seine Akte aus; die Akte setzen auf eine gewisse Weise die Tatsache voraus, dass sie von einem Ich ausgehen. Dieser Ansatz bildet die Grundlage für die in Ideen I vorherrschende Ich-Auffassung; c) das Ich wird von den anderen Subjekten unterschieden, die durch die Vergegenwärtigung der Einfühlung erfahren werden können. etc., ich finde es, darauf hinblickend. Nun wohl, ich will von diesem ,Ich’ weiter keine Aussagen machen. Es setzt mich in Verlegenheit. Es ist mir nicht so gegeben wie die Erlebnisse, und was das Ich ist, nun ich, Edmund Husserl etc., und ist das nicht wieder ein Gemeintes und keineswegs ein so, wie es gemeint ist, Gegebenes? Und ist nicht wieder das Meinen dieses Nichtgegebenen? Nun will ich kein Erfahrungsurteil über das Ich aussprechen und über seine Erlebnisse.“ (MS. A VI 8 II, 104a, etwa 1908–09).
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Vor allem hinsichtlich der Berücksichtigung der Subjektvielfalt gewinnt der Begriff des reinen Ich seinen Sinn als bestimmter Zusammenhang des Flusses: „Und so besteht ein Recht von diesem und jedem Bewusstsein zu sprechen (jedes Bewusstsein als Zusammenhang des Flusses), das sich nicht in ein Bewusstsein einordnet, aber seine Einheit durch gesetzmäßige Zusammenhänge, die von einem in das andere hineingreifen.“ (MS. B I 4, 19a, 1908, m. H.) Im Lauf meiner Untersuchung werde ich versuchen zu zeigen, dass die oben erwähnten verschiedenen Motive, die zur Bestimmung eines reinen Ich führen, eng miteinander verflochten sind. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass in den Vorlesungen Grundprobleme der Phänomenologie zum ersten Mal der Begriff reines Ich konsequent dargestellt wird. Hier sei daran erinnert, dass Husserl in der Beilage XX der Vorlesungen Erste Philosophie (1923/24) feststellt, dass in den Vorlesungen aus dem WS 1910/11 eine Ausweitung der phänomenologischen Reduktion auf die monadische Intersubjektivität stattfindet (Hua VIII, 433). In der Husserl-Forschung ist zu Recht betont worden, dass innerhalb der transzendentalen Philosophie ein solcher wesentlicher Zusammenhang zwischen dem reinen Ich und der Intersubjektivitätsthematik ein Unikum darstellt: Wenn man von Fichtes Werk absieht, kann man ohne Zögern sagen, dass sowohl im deutschen Idealismus als auch im Neukantianismus die äußerst schwierige Beziehung zwischen den transzendentalen Subjekten keineswegs derart problematisiert wurde. Um diese entscheidende Umwandlung der Husserl’schen Phänomenologie zu verstehen, bei der das reine Ich als phänomenologische Gegebenheit eingeführt und gleichzeitig die Intersubjektivitätsproblematik innerhalb der transzendentalen Dimension untersucht wird, muss man berücksichtigen, dass sich die phänomenologische Analyse nicht mehr auf das aktuelle Bewusstsein reduziert, sondern eine Erweiterung des phänomenologisches Feldes auftritt; durch diese Erweiterung werden nicht nur die Wahrnehmung der aktuellen zweifellosen Gegebenheiten, sondern auch andere Gegebenheitsweisen anerkannt, und zwar diejenigen, die durch die vergegenwärtigenden Akte gegeben werden (Hua XIII, 159). Wenn man sich nur auf den Grenzbegriff des Jetzt konzentriert, nur auf das „dies“, bleibt eigentlich nach Husserl nichts übrig: Das aktuelle
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Jetzt wird ständig zum Vergangenen, das über die aktuelle absolute Gegebenheitsweise hinausgeht. Die Reduktion auf das reine Jetzt geht in gewisser Weise zu weit: Sie, die auf das reine Phänomen — das Gegebene — abzielt, stößt dadurch paradoxerweise lediglich auf ein Nichts: „Nun verliert aber dieses ganze Unternehmen des Ausschaltens seinen Sinn. Denn für das urteilende Erforschen ausschalten wollten wir Nichtgegebenes, um dafür ein Gegebenes in einem strengeren Sinn in die Urteilssphäre hineinzubekommen. Wir bekommen aber gar nichts hinein; die Ausschaltung ist so radikal, dass wir überhaupt nichts mehr zu urteilen finden.“7 (Hua XIII, 160)
Um dieser Aporie zu entgehen, ist die phänomenologische Untersuchung dazu genötigt, sich über die absolute Gegebenheit des aktuellen Bewusstseins hinaus sowohl in Richtung des eigenen vergangenen Bewusstseins als auch in die Richtung des Fremdbewusstseins zu erweitern: Demgemäß gehören der phänomenologischen Erfahrung nicht nur die Gegenwärtigungen, sondern auch die Vergegenwärtigungen an. In Bezug auf diese Erweiterung des phänomenologischen Feldes ergibt sich die Forderung, eine doppelte Reduktion zu vollziehen, welche sich sowohl auf das vergegenwärtigende als auch auf das vergegenwärtigte 7
Hierbei spürt man bei Husserl einen gewissen horror vacui, der in Zusammenhang mit dieser merkwürdigen Dialektik der Zeit steht: Die Reduktion auf das absolute Jetzt bedeutet Reduktion auf das Nichts; alles scheint zu verschwinden. Man spürt das Risiko, mit leeren Händen dazustehen. Wäre es nicht höchst interessant, das aus dem absoluten Jetzt entstandene, enthüllte Nichts phänomenologisch näher zu betrachten? Eine solche Vertiefung könnte das von Husserl nicht nur nicht hinreichend berücksichtigte, sondern fast systematisch verdrängte Phänomen des Verschwindens aufspüren lassen. In diesem Zusammenhang gilt es, sowohl die Doppeldeutigkeit der vergangenen Zeit bei Ricoeur — als Gewesenheit und als Nicht-Mehr (Ricoeur, 1998, 3 ff.) — als auch das Phänomen des absoluten Verschwindens in der Gestalt der „incinération“ bzw. „brûle-tout“ bei Derrida zu erwähnen. Das brûle-tout wird von Derrida in Feu la cendre beschrieben: „Jeu et pure différence, voilà le secret d’un brûle tout imperceptible, le torrent de feu qui s’embrase lui même.“ (Derrida, 1983, 47). Bisher hat man vor allem auf ein anderes Manko der Husserl’schen Phänomenologie hingewiesen, das im Zusammenhang mit dem Problembereich des Verschwindens steht, aber von diesem grundlegend zu unterscheiden ist: Das Verfügen über das Vergangene. Husserl spricht oft von einer vollkommenen Erinnerung (Hua XXXV, 135); vgl. dazu Kapitel III/1.
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Ich bezieht. Man denke z. B. an das Phänomen der Wiedererinnerung, durch die eine vergangene Erfahrung des Ich-Lebens sich gleichsam in den aktuellen cogitationes spiegelt. In diesem Fall muss man das vergegenwärtigende Ich, welches aktuell das Erlebnis der Wiedererinnerung vollzieht, von dem Ich klar unterscheiden, welches eine bestimmte vergangene Erfahrung (z. B. meinen Besuch in den Uffizien in Florenz) erlebt hat. Es ist nach Husserl möglich, eine solche Ich-Verdoppelung zwischen vergegenwärtigendem Ich und Korrelat-Ich nicht nur in den Wiedererinnerungen, sondern auch in anderen Formen der cogitationes, wie z. B. im Fall des Phantasierens oder der Einfühlung, aufzudecken. Dennoch ist es angebracht, schon jetzt darauf aufmerksam zu machen, dass die Einfühlung eigentümliche Schwierigkeiten in sich birgt, mit denen sich Husserl lebenslang auseinandergesetzt hat. Während es in allen anderen Formen der Vergegenwärtigungen möglich ist, die Ich-Verdoppelung zur Deckung eines einzigen Bewusstseinsflusses zu bringen, bekundet sich im Fall der Einfühlung ein unüberwindbarer Spalt zwischen dem vergegenwärtigenden Ich und dem Korrelat-Ich (Text Nr. 13, Hua XIII). Versuchen wir nun den komplexen Gedankengang der Vorlesungen Grundprobleme der Phänomenologie hinsichtlich der Setzung eines reinen Ich zu rekonstruieren, indem wir die Struktur des Textes in drei Schritten schematisieren: 1. Zunächst werde ich das Verfahren der doppelten Reduktion verdeutlichen. 2. Dann werde ich das reine Ich als Prinzip der Einheit des Bewusstseinsstromes behandeln. 3. Schließlich wird die Frage nach der Pluralität des Ich bzw. der Intersubjektivität vertieft. Zu 1. Die phänomenologische Analyse versucht, den Bewusstseinsstrom so zu beschreiben, wie er sich in der natürlichen Einstellung zeigt. Man darf nicht von einem reinen Schauen ausgehen, das sich auf die Wiedererinnerung überträgt, sondern während wir in der natürlichen Einstellung die cogitationes erleben, ist an ihnen und in ihnen phänomenologische Reduktion zu vollziehen. In diesem Zusammenhang wird das Verfahren der doppelten Reduktion eingeführt. Die phänomenologische Erfahrung beschränkt sich nicht auf die aktuelle Gegebenheit, welche absolut zweifellos ist, sondern schließt auch die un-
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endliche Fülle mit ein, die aus den verschiedenartigen cogitationes erwächst. Zum Beispiel ist es bei der Wiedererinnerung nicht nur möglich, eine Reflexion und Reduktion zu vollziehen, „welche die Wiedererinnerung selbst als Erlebnis zum Objekt einer absolut gebenden phänomenologischen Wahrnehmung macht, sondern noch eine zweite Reflexion und Reduktion, die sozusagen in der Wiedererinnerung verläuft und die ein wiedererinnertes Erlebnis als phänomenologische Gewesenheit zur Gegebenheit bringt, aber nicht mehr zur absoluten Gegebenheit, die jeden Zweifel ausschließt.“ (Hua XIII, 167 f.) Dadurch wird ein entscheidender Schritt gemacht: Sowohl das vergegenwärtigende als auch das vergegenwärtigte Bewusstsein werden der Epoché unterzogen. Im Fall der Vergegenwärtigungen zeigt sich, dass jede Erfahrung eine doppelte Reduktion zulässt, „einmal diejenige, die sie selbst zum reinen immanenten Schauen bringt, und das andere Mal diejenige, die an ihrem intentionalen Inhalt und Objekt geübt wird. So gibt es eine phänomenologische Reduktion, die am intentionalen Inhalt und Objekt der Wiedererinnerung geübt wird.“ (Hua XIII, 178) Die doppelte Reduktion ist deshalb von größter Bedeutung, weil sie zum einen ein urstiftendes Verfahren ist; sie eröffnet eine bisher unbekannte Dimension: eine innerhalb der transzendentalen Vergegenwärtigungen fungierende Reflexion.8 Zum anderen spielt sie eine wichtige Rolle für die ganze Architektonik der Husserl’schen Philosophie und insbesondere in Bezug auf das reine Ich. Vor allem dieser letztere Aspekt ist in der Husserl-Forschung noch nicht hinreichend berücksichtigt worden: Die doppelte Reduktion ermöglicht, alles Empirische ins Phänomenologische umzuwandeln. Jedes natürliche Ding wird als Index von Zusammenhängen der Bewusstseinsmotivationen betrachtet: „So wenden wir also alle natürliche Erfahrung in phänomenologische um [ ].“ (Hua XIII, 182, m. H.) „Hier kommen sie [die Phänomene der Reflexion in der Erinnerung] in Betracht um einer bestimmten, höchst wunderbaren Leistung willen, die sie ermöglichen: nämlich der allumfassenden Wendung aller natürlichen Erfahrung nicht 8
„An sich betrachtet sind die Phänomene der Reflexionen in der Erinnerung, in der Vergegenwärtigung jeder Art von allergrößtem Interesse, ihre genaue Deskription und Analyse ein Fundamentalstück der Phänomenologie. Allerdings [sind sie] bisher von niemand auch nur gesehen worden.“ (Hua XIII, 178, m. H.)
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nur nach dem, was in ihr cogitatio ist, sondern auch nach dem, was in ihr intentional liegt.“ (Hua XIII, 178–179, m. H.) Alle empirischen Gegebenheiten sind übersetzbar in transzendentale. Von hier aus eröffnet sich der Weg zum reinen Ich. Zu 2. Die eindeutige Auslegung des Korrelat-Ich in einem empirischen Sinne zeigt sich jetzt durch das Verfahren der doppelten Reduktion nicht mehr berechtigt. Vorausgesetzt, dass alle empirischen Gegebenheiten in transzendentale umzuwenden sind, muss es prinzipiell möglich sein, auch das Ich transzendental zu bestimmen. Hier sei daran erinnert, dass im § 19 der Vorlesungen aus dem WS 1910/11, wo die doppelte Reduktion noch nicht ans Licht getreten ist, das reine Ich dahingestellt bleibt.9 Der komplexe Weg, der ausgehend von der doppelten Reduktion zum reinen Ich führt, verflicht sich sowohl mit der Intersubjektivitätstheorie als auch mit der Zeitproblematik. Zunächst betrachten wir die Rolle der Intersubjektivität näher. Es wurde festgestellt, dass die transzendentale Reduktion alle empirischen Gegebenheiten betrifft. Zu diesen sind auch jene wissenschaftlichen Behauptungen zu zählen, die eine intersubjektive Gültigkeit haben. Diese Art von Gültigkeit impliziert einen intersubjektiven Zusammenhang bzw. die von einem Ich-Bewusstsein zu einem anderen Bewusstsein laufende Erfahrung (Hua XIII, 184). Diesbezüglich stellt Husserl die Frage, ob sich die phänomenologische Reduktion auf das empirisch aufgefasste Ich des Phänomenologen beschränke. Um diesen Sachverhalt zu vertiefen, fragt Husserl weiter: „Zunächst wie charakterisiert sich dies reine Bewusstsein, das reine Ichbewusstsein?“ (Hua XIII, 184) Um diese Frage zu beantworten, führt Husserl in dem wichtigen § 37 das Prinzip der Konstruktion eines einheitlichen Ich ein. Wenn man den bisher geschilderten Gedankengang in Betracht zieht, kommt deutlich zum Vorschein, wie eng das reine Ich mit der Intersubjektivitätsproblematik zusammenhängt: Da Husserl die Gegebenheit intersubjektiver Phänomene wie beispielsweise wissenschaftliche Behauptungen feststellt und sie untersuchen will, sieht er sich gezwungen, 9
„Der Einwand kann also nur meinen, dass etwa gegenüber dem empirischen Ich noch ein reines Ich als etwas von den cogitationes Unabtrennbares anzunehmen sei. Darüber haben wir jetzt keine Entscheidung zu fällen.“ (Hua XIII, 155)
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auf die einzelnen Bewusstsein bzw. Ich-Bewusstsein zurückzugreifen. Anders gesagt: Um den intersubjektiven Zusammenhang zu verdeutlichen, muss zuerst Klarheit in Bezug auf den phänomenologischen Sinn des Ich-Bewusstseins herrschen. Bei der Untersuchung der Bewusstseinseinheit eines einzelnen Ich spielt die Zeitanalyse eine herausragende Rolle. Ausgehend von der Erforschung der Beziehungen zwischen zeitlich getrennten Erinnerungen wird das Prinzip der Konstruktion eines einheitlichen Bewusstseinsstromes entdeckt. Jede Erinnerung impliziert — um die Terminologie aus den Ideen I zu verwenden — einen bestimmten und unterschiedlichen zeitlichen Horizont und demzufolge einen anderen Bewusstseinsfluss. Hierbei wird die fundamentale Frage gestellt, ob es möglich sei, zwei auf unterschiedliche Zeiten und dann auch Bewusstsein verweisende Erinnerungen zur Einheit zu bringen oder sie, im Gegenteil, als zusammenhangslos zu betrachten: „Könnte es nicht getrennte Erinnerungen geben? [ ] Könnten zwei durch Erinnerungen gesetzte Bewusstseinsflüsse nicht zusammenhangslos sein? Und müssen sie mit ihren Zeithintergründen sich einordnen in die Einheit eines doch gar nicht gegebenen Bewusstseinsstromes?“ (Hua XIII, 185) Dieselbe Einheit des Bewusstseins steht hier auf dem Spiel. Die Gefahr einer Zersplitterung des Einheitsbewusstseins in viele Flüsse wird beiseite geschoben, weil Husserl zum Ergebnis kommt, dass beide Erinnerungen einem Gegenwartsbewusstsein angehören können, das sie umspannt und miteinander verbindet: „Je zwei Erinnerungen, die zur Einheit einer sie verknüpfenden Bewusstseinsgegenwart gehören, schließen sich in ihr zusammen zur Einheit einer Erinnerung, d. h. eines, wenn auch nicht intuitiv erfüllten, Zeitbewusstseins, in dem das Erinnerte der einen Erinnerung und das der anderen Erinnerung zu einem Erinnerten sich zusammenschließen, zu einer Zeit gehören, also im Sinn dieses Einheitsbewusstseins notwendig als zugleich oder nacheinander anschaubar sind.“ (Hua XIII, 185 f.)
An diesem Punkt kann man den entscheidenden Schritt — fast die Bewegung dieses Schrittes — zum reinen Ich ausfindig machen. Die beiden getrennten Erinnerungen mit ihren jeweiligen Hintergründen könnten zur Einheit gebracht werden, weil sie zu derselben Zeit bzw. zu demselben Zeitbewusstsein gehören. Dieses Einheitsbewusstsein kann beide Erfahrungen umfassen und die bestehenden zeitlichen Beziehungen zwischen ihnen im Sinne der Gleichzeitigkeit oder der Sukzession
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anschaulich machen. Es ist wichtig hervorzuheben, dass die klare Anschauung der die cogitationes charakterisierenden Zeitordnungen nicht immer zustande kommt: „Es kann sein, dass die Zeitordnung unbestimmt bewusst ist, dass es im Sinn dieses Zeitbewusstseins offen bleibt, welches das Frühere, welches das Spätere ist oder ob sie nicht gleichzeitig sind. Aber dann ist dies eine Unbestimmtheit, die eine Bestimmbarkeit im Sinn einer der drei möglichen Fälle [früher, später oder gleichzeitig] in sich birgt, nur vorausgesetzt, dass überhaupt die Erinnerung sich als geltend durchhalten lässt.“ (Hua XIII, 186)
Außerdem — selbst wenn wir der zeitlichen Ordnung zwischen den cogitationes nicht innewerden — besteht aus Wesensgründen die Möglichkeit, in der Zukunft (durch den Eintritt einer neuen Erinnerung) eine solche Lücke aufzuheben und folglich über diese Erinnerungsreihe zu verfügen. Nach der Analyse des ersten Teils von § 37 sind wir imstande, das Prinzip eines einheitlichen Bewusstseinsflusses zu verstehen. Es muss beachtet werden, dass dieses Prinzip deshalb von ausschlaggebender Bedeutung ist, weil es nicht nur eine fundamentale Eigenschaft des Bewusstseinsstroms beschreibt, sondern auch als Kriterium — und in diesem Sinne wird es als Prinzip bezeichnet — dient, um zu bestimmen, was im engeren Sinne einem einzigen Ich angehört. Das Prinzip entscheidet, „ob mehrere cogitationes zur Einheit eines phänomenologischen Ich gehören, und sozusagen aufweist, woran zu erkennen ist, dass mehrere cogitationes, die, wie immer, in phänomenologischer Erfahrung gegeben sind, zu einem Bewusstseinstrom gehören müssen, und das andererseits begründet, dass ein Strom existieren muss, der sie in sich fasst.“ (Hua XIII, 186) Es ist von daher kein Zufall, dass dieses Prinzip mit dem Wort „gelten“ anfängt, das sowohl eine beschreibende als auch eine normative Funktion hat. Das Prinzip lautet: „Allgemeiner gilt, dass zwei Erfahrungen, die sich überhaupt zur Einheit eines sie umspannenden synthetischen Bewusstseins zusammenfügen, sich darin zusammenfügen zur Einheit einer Erfahrung und dass zur Einheit einer Erfahrung wieder eine Zeiteinheit des Erfahrenen gehört.“ (Hua XIII, 186)
Dieses Prinzip ist durch zwei wesentliche Momente charakterisiert, auf welche wir oben schon gestoßen sind. Die Satzbildung mit den zwei Dass-Sätzen verrät diesen Doppelsinn: Das Einheitsbewusstsein, das
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die beiden getrennten Erfahrungen umfasst, und die Zeiteinheit dieses vereinheitlichten Erfahrenen. Die erwähnte „Zeiteinheit des Erfahrenen“ bezieht sich auf die Möglichkeit, die beiden Erfahrungen als sukzessiv oder gleichzeitig zu beurteilen. Letztlich stellt — das ist mein Interpretationsvorschlag — diese motivierte Möglichkeit der Anschauung der zeitlichen Verhältnisse zwischen den cogitationes im Sinne der Vorgängigkeit, der Gleichzeitigkeit und der Nachträglichkeit ein wesentliches Moment des Prinzips dar, das entscheidet, ob mehrere cogitationes zur Einheit eines phänomenologischen Ich gehören. Gleichzeitig möchte ich schon jetzt vorausschicken, dass dieses Prinzip eine phänomenologische Berechtigung ausschließlich unter der Bedingung in Anspruch nehmen kann, dass ein als Nullpunkt der Orientierung fungierendes leibliches Subjekt vorausgesetzt wird (vgl. S. 24 ff.). Wenn man sich darauf beschränken würde, eine Zeitordnung festzustellen, ohne die Erfahrungen gleichsam wieder zu erleben, wäre eine solche Analyse rein formal und könnte in keiner Hinsicht als phänomenologisch bezeichnet werden.10 Zum Schluss möchte ich eine Bemerkung hinsichtlich des Einheitsbewusstseins machen, welches die beiden Erfahrungen umspannt und sie zur Einheit zusammenschließt. Es wurde gezeigt, dass sich eine Erweiterung der phänomenologischen Erschauung sowohl in die Richtung meines eigenen vergangenen Bewussteins als auch in die Richtung des Fremdbewusstseins ergibt. Es gilt jedoch zu betonen, dass diese Erweiterung des Bewusstseinsfeldes, wonach man über das aktuelle Bewusstsein hinausgeht, keineswegs den Vorrang der Gegenwart — denjenigen Vorrang, der das wesentliche Merkmal der so genannten Präsenzmetaphysik ausmacht — in Frage stellt, sondern zirkulär von demselben Gegenwartsbewusstsein ausgeht. Das Bewusstsein wird stets auf das aktuelle Bewusstsein zurückgeführt. Man
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Bezüglich der Auslegung des Subjekts als Orientierungspunkt ist es wichtig — vor allem hinsichtlich der Debatte über die Zweideutigkeit des Ich-Begriffes — zu beachten, dass in § 37 der Vorlesungen aus dem WS 1910/11 die Beschreibung des einheitliches Bewusstseins von dem Verhältnis zwischen cogitationes und Umgebung ausgeht. Ich werde im Abschnitt 3 des vorliegenden Kapitels im Zusammenhang mit einigen aufschlussreichen Texten aus Husserliana XIV (aus den Jahren 1914/15), die auf die Vorlesungen 1910/1911 ausdrücklich verweisen, diesen Sachverhalt vertiefen.
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denke an die oben zitierte Textstelle, die den Begriff des reinen Ich einführt: „Je zwei Erinnerungen, die zur Einheit einer sie verknüpfenden Bewusstseinsgegenwart gehören, schließen sich in ihr zusammen zur Einheit einer Erinnerung [ ].“11 (Hua XIII, 185) Zu 3. Nachdem das Ich als Einheit des Bewusstseinsflusses aufgezeigt worden ist, drängt sich die Frage auf, ob die phänomenologische Reduktion zur Idee mehrerer phänomenologischer Ich kommen kann (Hua XIII, 187). Diesbezüglich muss man notwendigerweise auf die Erfahrung der Einfühlung zurückgreifen, durch die die Fremdwahrnehmung gegeben wird. Da die Einfühlung nach Husserl als Vergegenwärtigung zu betrachten ist, muss sie — wie jede andere Art von Vergegenwärtigung — dem Verfahren der doppelten Reduktion unterzogen werden. In dem Fall der Einfühlung hat das cogitatum jedoch insofern einen einzigartigen Charakter, als es ein anderes Ich-Subjekt ist: „Phänomenologische Einfühlung ist phänomenologische Erfahrung eines phänomenologischen Ich, das in ihr, und zwar prinzipiell, ein anderes solches Ich erfährt als [es] selbst.“ (Hua XIII, 190, Fußn.) Hier wird zum ersten Mal bei Husserl das Intersubjektivitätsproblem behandelt, nachdem er das Ich als transzendentale Gegebenheit gesetzt hat. Husserl stellt diesbezüglich ein Gesetz auf, das die Verhältnisse zwischen den Ich-Subjekten bestimmt. Dieses Gesetz bringt die Abgeschlossenheit der jeweiligen Bewusstseinsflüsse deutlich zum Ausdruck: „Nun gilt aber das Gesetz, dass prinzipiell ein eingefühltes Datum und das zugehörige einfühlende Erfahren selbst nicht demselben Bewusstseinstrom, also demselben phänomenologischen Ich, angehören können. Von dem eingefühlten Strom führt kein Kanal in denjenigen Strom, dem das Einfühlen selbst zugehört.“ (Hua XIII, 189)
Jedes Datum hat eine bestimmte Zeitumgebung, die keineswegs identisch mit der eines anderen Bewusstseins sein kann. Jedes Zeitbewusstsein ist in sich selbst abgeschlossen.12 11
Diesbezüglich verweise ich auf Bernet, 1994, 36 ff. „Niemals kann ein Datum des einen und anderen Stromes in dem Verhältnis stehen, dass das eine die Umgebung des anderen ist. Die Umgebung! heißt das aber nicht Zeitumgebung, und besagt unser Gesetz nicht, dass eins und das andere nicht einem Zeitbewusstsein angehören kann?“ (Hua XIII 189).
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Nachdem man eine solche absolute Trennung zwischen den Bewusstseinströmen festgestellt hat, ergibt sich das Problem ihrer wechselseitigen Kommunikation. Husserl versucht, diese Schwierigkeit zu überwinden, indem er auf die objektive Zeit verweist. Sowohl der einfühlende als auch der eingefühlte Akt gehören zu demselben identischen Jetzt: „Vermittelt ist diese Identifikation durch die Beziehung auf die objektive Zeit des Leibes und der Dingwelt.“ (Hua XIII, 190) Um diesen Ansatz zu stützen, macht Husserl einen Unterschied innerhalb der Gegenwartsdimension, dem zufolge sich nicht nur ein selbsterschautes, sondern auch ein vergegenwärtigtes Jetzt zeigt: Ich kann mir einen Gegenstand der äußeren Wahrnehmung (wie z. B. ein Gasthaus) vorstellen, der, obwohl er nicht in mein aktuelles Wahrnehmungsfeld fällt, von mir als gegenwärtig gesetzt wird.13 Vor allem hinsichtlich der Debatte über die Präsenzmetaphysik könnte diese Differenzierung eine wichtige Folge haben, da das Gegenwartsbewusstsein von der aktuellen Anschauung getrennt wird (vgl. S. 222 f.). Bevor ich auf die andere Ich-Auffassung als Ausstrahlungszentrum eingehe, möchte ich darauf hinweisen, dass die oben dargestellte Intersubjektivitätstheorie aus zwei unterschiedlichen Gründen mangelhaft ist. Zum einen wird nach diesem Ansatz die Fremderfahrung zu einer sekundären, bzw. abgeleiteten Form der Konstitution herabgesetzt, welche die objektive Zeit voraussetzt. Sie ist paradoxerweise auf diejenige objektive Zeit angewiesen, die sich eigentlich nur durch den Eintritt des Anderen konstituieren kann (vgl. S. 106 ff.). Das zweite Manko wird von Husserl selbst in einem Text aus dem Jahr 1924 hervorgehoben: Während ich im Fall des Gasthauses auf irgendeinem Wege dorthin hingehen und das Ding als solches zur Gegebenheit bringen kann, bleibt mir diese Möglichkeit im Fall der Einfühlung a priori vorenthalten. Folglich macht Husserl einen Unterschied zwischen direkter Erfahrung, die das Selbstgegebene erfasst, und indirekter 13
„Es gibt auch ein vergegenwärtigtes Jetzt (das nicht wiedererinnertes ist), d. h. eine Vergegenwärtigung, die das vergegenwärtigte Jetzt, obschon es nur vergegenwärtigtes ist, doch mit dem aktuellen Jetzt identifiziert. So z. B., wenn ich mir den Roons [ein Gasthaus in Göttingen] vergegenwärtige. So ist auch das eingefühlte Jetzt ein vergegenwärtigtes und nicht ein selbsterschautes, und somit ist auch die Gleichzeitigkeit der Einfühlung und des Eingefühlten keine selbsterschaute.“ (Hua XIII, 189)
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Erfahrung, in der ein Gegenständliches nur mittels eines anderen in eigentlicher Anschauung zur Setzung kommt (Hua XIII, 223). Die in den Vorlesungen 1910/11 vertretene These hat dementsprechend die „völlig neuartige Transzendenz“ (Hua XIV, 8) missverstanden, welche die Erfahrung der Einfühlung charakterisiert. Die Fremdwahrnehmungen als solche sind a priori unzugänglich: „Ein zweites Bewusstsein, ein zweiter Strom, kann niemals Erinnerung an etwas haben, das dem ersten angehört, und so überhaupt kein Bewusstsein, das ,direktes’ ist, Erfassen des ,Selbst’.“ (Hua XIII, 221) „Ich kann einen Außenkörper, also auch diesen Leibkörper, unter verschiedenen Umständen zur aktuellen Wahrnehmung bringen ,wie er wirklich ist’. Ich kann aber keine der vergegenwärtigten Erscheinungen vom Leibessubjekt und von seinen Empfindlichkeiten, Beweglichkeiten, von seinen psychischen Eigenschaften wirklich zu Gesicht bekommen, und prinzipiell nicht. Und doch sind es Vergegenwärtigungen, also mögliche Wahrnehmungen. Mögliche Wahrnehmungen, die aber für mich, in dem aktuellen Erlebnisstrom, zu dem meine Vergegenwärtigungen gehören, prinzipiell nicht möglich sind.“ (Hua XIII 317, m. H.)
Die aktuelle, lebendige Erscheinung des Anderen bleibt mir a priori vorenthalten (vgl. Kapitel IV.2.). 3. Das Ich als Ausstrahlungszentrum und als Quellpunkt der Aufmerksamkeit In Ideen I wird überwiegend das Ich als Aufmerksamkeits- und als Ausstrahlungszentrum interpretiert. Im Bewusstseinsstrom zeigt sich die wesentliche Korrelation zwischen Noesis und Noema, zwischen cogitatio und cogitatum. Diese Korrelation ist ein sehr komplexes Phänomen: Im cogito selbst waltet ein ihm immanenter ,Blick auf’ das Objekt, der aus dem ,Ich’ hervorquillt, das nicht fehlen kann (Hua III/1, 81). Die Beziehung zwischen dem Ich und den Erlebnissen ist nach Husserls Ansicht von größter Bedeutung innerhalb der transzendentalen Phänomenologie. Sie nimmt sogar die erste Stelle innerhalb des transzendentalen Erfahrungsgebiets ein.14 14
„Unter den allgemeinen Wesenseigentümlichkeiten des transzendental gereinigten Erlebnisgebietes gebührt eigentlich die erste Stelle der Beziehung jedes Erlebnisses auf das ,reine’ Ich. Jedes ,cogito’, jeder Akt in einem ausgezeichneten Sinne ist
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Um diese Beziehung zu bestimmen, wird auf die Kategorie des Aktes hingewiesen. Jedes cogito in einem ausgezeichneten Sinne ist Akt des Ich, geht aus dem Ich hervor. Hier ist das Entscheidende, die Redewendung „in einem ausgezeichneten Sinn“ zu verdeutlichen. Diese Redewendung verweist auf die Aktualität: Die Aktualität, nämlich das EtwasZugewendet zu sein, wird in § 35 demgemäß als der prägnante Sinn des Ausdrucks cogito bezeichnet (Hua III/1, 79). Um der Beziehung zwischen Ich und Erlebnissen gerecht zu werden, ist es demnach erforderlich, den Unterschied zwischen intentionalem und aktuell erfasstem Objekt genau zu bestimmen. Alle Gegenstände sind intentionale Objekte der Anschauung, oder, anders gesagt, Korrelat einer Noesis. Unter diesem Horizont der Gegenstände gibt es jedoch etwas, z. B. ein Gefühl, dem ich meine Aufmerksamkeit schenke. Dieses Zugewendetsein ist Funktion des reinen Ich: „Es ist zu beobachten, dass intentionales Objekt eines Bewusstseins (so genommen, wie es dessen volles Korrelat ist) keineswegs dasselbe sagt wie erfasstes Objekt. [ ] Es handelt sich nun mit diesem Achten oder Erfassen nicht um den Modus des cogito überhaupt, und den der Aktualität, sondern, genauer besehen, um einen besonderen Aktmodus, den jedes Bewusstsein, bzw. jeder Akt, der ihn noch nicht hat, annehmen kann. Tut er das, so ist sein intentionales Objekt nicht nur überhaupt bewusst und im Blick des geistigen Gerichtetseins, sondern es ist erfasstes, bemerktes Objekt.“ (Hua III/1, 75–76, m. H.)
In diesem Kontext bedeuten Zuwendung und Erfassung dasselbe. Einem bestimmten Objekt Zugewendetsein ist von jeder Art intentionaler Akte, wie dem Wahrnehmen und dem Phantasieren, deutlich abzugrenzen. Die Aufmerksamkeit fungiert innerhalb der Intentionalität, sie ist aber nicht mit einem intentionalem Akt zu verwechseln: „in jedem Akt waltet ein Modus der Achtsamkeit.“15 (Hua III/1, 77, m. H.) Das Walten der Aufmerksamkeit ist nichts anderes als ein Ausdruck für Vollzug eines intentionalen Erlebnisses (Hua XXIII, 340). Die cogitationes werden dementsprechend anhand der Funktion der Aufmerksamkeit auf das Ich als ihren Quellpunkt zurückgeführt.
charakterisiert als Akt des Ich, er ,geht aus dem Ich hervor’, es ,lebt’ in ihm ,aktuell’.“ (Hua III/1, 178) 15 Diesbezüglich vgl. Hua III/1, 106.
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In dem bedeutenden Manuskript Richtungen der Aufmerksamkeit aus dem Jahr 1912 wird in einer markanten Weise das Ich als Ausstrahlungszentrum ausgelegt. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Aufmerksamkeit auf verschiedene Gegenständlichkeiten gerichtet sein kann: Ich kann mich auf einen intentionalen Gegenstand (wie ein Haus) oder reflexiv auf den Seinscharakter dieses Gegenstands (im Sinne des Wirklichseins, Nichtigseins usw.) oder auf die Hintergrundwahrnehmungen richten. Diesbezüglich fügt Husserl hinzu: „Bei diesem Wechsel des sich-richtenden Aufmerkens, mag er sich innerhalb einer Dingerscheinung vollziehen (die durch alle diese Unterschiede hindurch ihre Einheit behält) oder im Übergang zu verschiedenen, und in ganz beliebigen Übergängen des Sich-Richtens überhaupt, ist es so, als ob das Sich-Richten ein ausgesandter Strahl wäre und als ob alle diese Strahlen Zusammenhang hätten als Emanationen aus einem zentralen „Ich“. Ich richte mich aufmerkend dahin und dorthin. Ich „vollziehe“ dabei Wahrnehmungen, Erinnerungen usw., die auf das und jenes gehen.“16 (Hua XXXVIII, 402)
In § 32 von Ideen II wird diese Ich-Auffassung als Ausstrahlungszentrum weiterentwickelt. Hier wird das Ich, das identische Subjekt der Funktion in allen Akten desselben Bewusstseinstromes, „als Ausstrahlungszentrum, bzw. Einstrahlungszentrum alles Bewusstseinslebens“ dargestellt (Hua IV, 105). Alle vielgestaltigen, unterschiedlichen Akte, wie z. B. das Beurteilen, das Betrübtsein, das Hoffen, finden im Ich den „notwendigen terminus a quo“, von „dem sie ausstrahlen.“ (Hua IV, 105) Gleichzeitig ist es in diesem Phänomenbereich möglich, eine andere Richtung der Strahlungen festzustellen: „Oft, wo nicht gar immer, finden wir hierbei eigentlich doppelte Strahlungen, Vorlauf und Rücklauf: vom Zentrum aus durch die Akte auf deren Objekte hin und wiederum rückläufig Strahlen vom Objekte zum Zentrum hin in vielfach wechselnden phänomenologischen Eigenheiten.“ (Hua IV, 105) Von daher tritt ein Verhältnis zwischen Noesis und Noema ans Licht, das als Wechselbezug zu betrachten ist.17 16
Hier wird das Problem der transzendentalen Reinheit des Ich aber offen gelassen: „Ich, das ist aber das empirische Ich. Ob es etwas anderes noch enthalten oder besagen kann und überhaupt, was diese Beziehung zum Ich phänomenologisch weiter enthält, inwiefern sie auf ursprüngliche eigentümliche Elemente führt oder nicht, das schalten wir hier aus.“ (MS. A VI 8 I, 17a = Hua XXXVIII 402) 17 Schon in den Ideen I wird auf die doppelten Richtungen der Strahlungen hingewiesen: „Das ,Gerichtetsein auf’, ,Beschäftigtsein mit’, ,Stellungnehmen zu’, ,Erfahren’, ,Leiden
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Nicht nur wegen der Vertiefung der Beziehungen zwischen Noesis und Noema ist § 32 bedeutsam, sondern auch deshalb, weil hier ausdrücklich das Ich mit dem Leib in Verbindung gebracht wird. Die Ich-Auffassung als Ausstrahlungspunkt der cogitationes wird als Analogon der Zentrierungsfunktion des Leibes angesehen: „Die Struktur der Akte, die vom Ich ausstrahlen, bzw. das Ich selbst, ist eine Form, die ein Analogon in der Zentralisierung aller sinnlichen Phänomene in Beziehung auf den Leib hat.“ (Hua IV, 105) Diesbezüglich haben Marbach und Kern zu Recht die These vertreten, dass unter vielen Gesichtspunkten weniger eine Analogie zwischen der Funktion des Ich und dem Leib als eine Identität besteht: Das Ich fungiert als Nullpunkt der Orientierung für die sinnlichen Phänomene. In diesem Sinne zitiere ich einen Text aus dem Husserliana-Band Ding und Raum (1907), der stellvertretend für viele ähnliche steht: „Zum Sinn unserer Dingwahrnehmung gehört die räumliche Stellung des Objekts zum räumlichen Ich-Zentrum als dem Beziehungspunkt aller räumlichen Orientierungen, aller möglichen Darstellungen (d. h. in allen Darstellungen mitgefasst).“ (Hua XVI, 129, m. H.) Die Interpretation zu teilen, dass in vielerlei Hinsicht der Leib und das Ich identisch sind, bedeutet aber nicht, die These der Zweideutigkeit des Ich anzunehmen. Im nächsten Abschnitt werde ich diesbezüglich einen alternativen Interpretationsvorschlag vorlegen. Dass dem Ich eine Zentrierungsfunktion zugeschrieben wird, ist ebenfalls eine charakteristische These für Husserls Spätwerk. Der Begriff vom Ichpol — auf den Husserl nach den Ideen I systematisch verweist — zielt lediglich darauf ab, die zentripetale Bewegung des Ich hervorzubeben, durch die alles aktuell und potentiell im Ich zentriert ist (Hua XIV, 28). Manchmal wird sogar eine Gleichsetzung zwischen dem Ich-Begriff und der Zentrierungsfunktion behauptet. In einem Forschungsmanuskript aus dem Jahr 1931 wird behauptet, dass das Ich Subjekt des Bewusstseins sei: „,Subjekt’ ist dabei nur ein anderes Wort für die Zentrierung“ des Ich-Lebens (MS. C 3, Mat. VIII, 57). Das identische Ich ist leer an Inhalt und hat „an und für sich betrachtet nur das spezifisch Eigene und
von’ birgt notwendig in seinem Wesen dies, dass es eben ein ,von dem Ich dahin’ oder im umgekehrten Richtungsstrahl ,zum Ich hin’ ist — dieses Ich ist das reine, ihm kann keine Reduktion etwas anhaben.“ (Hua III/1, 195)
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Allgemeine, Funktionszentrum überhaupt zu sein und hier, in diesem Strom, sein Funktionszentrum überhaupt zu sein.“ (Hua XIV, 29–30) In diesem Zusammenhang ist es angebracht, auf das Verhältnis zwischen Ich und seinen cogitationes zurückzugreifen, um eine wichtige Eigenschaft des transzendentalen Subjekts deutlicher hervortreten zu lassen: Das Ich kann niemals von seinen cogitationes getrennt werden. Es kann nicht für sich genommen werden, als ob es neben oder unabhängig von den cogitationes wäre: „Bei diesen eigentümlichen Verflochtenheiten mit allen ,seinen’ Erlebnissen ist doch das erlebende Ich nichts, was für sich genommen und zu einem eigenen Untersuchungsobjekt gemacht werden könnte. Von seiner ,Beziehungsweise’ oder ,Verhaltungsweise’ abgesehen, ist es völlig leer an Wesenskomponenten, es hat gar keinen explikabeln Inhalt, es ist an und für sich unbeschreiblich: reines Ich und nichts weiter.“ (Hua III/1, 195)
Seine Funktion als Ausstrahlungszentrum drückt sich wesensnotwendig und ausschließlich in den unterschiedlichen Erlebnissen aus, die passiv oder aktiv wie z. B. „ich leide durch“, „ich empfinde das“ oder „ich denke“, „ich habe Freude daran“ sein können (Hua III/1, 194).18 Das Ich „ist ,in’ seinen Zuständen (auch in seinen reaktiven Zuständen, wie in den passiven Realisationen) und ,in’ seinen sich richtenden Akten, sich richtend ins Ichfremde, das affizierte.“ (Hua XIV, 30) In diesem Abschnitt sind wir zum folgenden Ergebnis gekommen: Das Ich wird hier als Quellpunkt der Aufmerksamkeit und als Ausstrahlungszentrum aufgefasst, das sich nicht mit den cogitationes deckt und dennoch ausschließlich in diesen auftreten kann. 4. Die Leiblichkeit des vergegenwärtigten Subjekts und die Auflösung der Zweideutigkeit des Ich-Begriffs Die in dem Husserliana-Band XIII enthaltenen Texte 10, 11 und 12 sind für die vorliegende Untersuchung deshalb sehr wichtig, weil sie ermöglichen, die Beziehung zwischen den zwei Ich-Auffassungen (als 18
In diesem Sinne hat die Husserl’sche These eine klare Analogie zur Auffassung Diltheys, wonach das Leben nie von den Ausdrücken getrennt werden kann, in denen es sich objektiviert.
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sich in den vergegenwärtigenden Akten herausstellende Identität und als Ausstrahlungszentrum) in einem neuen Licht zu betrachten bzw. neu zu artikulieren. In diesem Kontext werde ich dem Text Nr. 10 besondere Aufmerksamkeit schenken, in welchem die komplexen Verhältnisse zwischen der Phantasiemodifikation, der Einfühlung und dem aktuellen originären Ich das Objekt der Untersuchung darstellen. Es gilt, daran zu erinnern, dass die Auslegung der Zweideutigkeit des Ich in diesem Text Nr. 10 einen fundamentalen Anhaltspunkt findet: Marbach weist auf diese Schrift hin, um die These zu vertreten, dass die Leiblichkeit keine konstitutive Rolle für den Ich-Begriff spielt, der im Zusammenhang mit der Vergegenwärtigung steht (Marbach, 1974, 110 u. 298). Wegen der Leiblichkeit bzw. der Leiblosigkeit des Ich-Subjekts der Vergegenwärtigung wird dieser Ich-Begriff dem leiblichen Ich als Aufmerksamkeit und Ausstrahlungszentrum gegenübergestellt: „Diese beiden Auffassungen des Ich sind bei Husserl nicht klar geschieden, so dass sein Begriff als ein zweideutiger zu bezeichnen ist. Er tritt einmal als Bezeichnung des Prinzips der Einheit des Bewusstseins die reine subjektive Einheit der aktuellen und der vergegenwärtigten Akte, die nicht durch den Leib erfüllbar ist, das andere Mal als Bezeichnung des Einstrahlungs- bzw. Ausstrahlungszentrums der intentionalen Erlebnisse aber gerade das leiblich bestimmte Subjekt des aktuellen Bewusstseinsverlaufs, den fungierenden Leib.“ (Marbach, 1974, 299, m. H.)
Was ich in dieser Auslegung für nicht überzeugend halte, ist, dass Marbach auf der einen Seite eine Reihe von Texten zitiert, in denen die Leiblichkeit des vergegenwärtigten Ich ans Licht tritt (Marbach, 1974, z. B. 109); auf der anderen Seite sieht er eine Textstelle (Hua XIII, 97) als entscheidend an, in der die Möglichkeit eines Subjekts ohne Leib oder mit unbestimmter Leiblichkeit erwähnt wird, ohne jedoch den Sinn dieser Möglichkeit einer tiefer dringenden Analyse zu unterziehen. Dadurch wird eine Zweideutigkeit künstlich beibehalten und der Eindruck eines Ich der Vergegenwärtigung ohne Leiblichkeit erweckt. Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, dass diese Interpretation dem Sinn des Husserl’schen Ich-Begriffes tatsächlich gerecht wird: Dasselbe Ich als „reine Einheit der aktuellen und vergegenwärtigten Akte“ verweist wesensnotwendig auf das Ich als Ausstrahlungszentrum. Die vergegenwärtigten Akte sind immer Akte eines leiblichen Subjekts. Eine Analyse des Textes Nr. 10 kann diesen entscheidenden Aspekt der transzendentalen Phänomenologie zur Erscheinung bringen. Dieses
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Forschungsmanuskript fängt mit einer Hinterfragung der Intersubjektivitätsproblematik an. Hierbei wird folgende Leitfrage gestellt: Wie komme ich auf die Idee, ein anderes Ich zu setzen, das ich nicht bin? Diese Idee entsteht durch die Ähnlichkeit zwischen meinem Leib und dem fremden Leibkörper. Die Analogie beschränkt sich nicht nur auf das Aussehen, sondern bezieht auch das Benehmen mit ein: Dieser Körper dort benimmt sich so wie mein Leib. Wegen der Ähnlichkeit kann ich mir vorstellen, mich in diesen Körper hineinzuversetzen und von dort aus die Welt zu betrachten.19 Husserl versucht, die Phantasiemodifikation zu vertiefen, damit eine klare Trennung zwischen meinem Ich und dem Anderen zum Zuge kommt. Diesbezüglich wird das Verhältnis zwischen dem phantasierten und dem wirklichen Ich thematisiert. Es ist allerdings wichtig hervorzuheben, dass ein solcher Versuch, anhand der Phantasiemodifikation eine Trennung zwischen dem Ich und dem Anderen auszuweisen, deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, weil die durch die Einfühlung gegebene Fremderfahrung als „Vergegenwärtigung von Erlebnissen, denen ich nicht bloß Möglichkeit, sondern Wirklichkeit zumesse“ zu betrachten ist (Hua XIII, 297). Kommen wir auf die Beziehung zwischen wirklichem und phantasiertem Ich zurück. Husserl betrachtet diesen Sachverhalt sowohl in Bezug auf die Gegenwart als auch in Bezug auf die Vergangenheit. Bezüglich der Gegenwart wird behauptet, dass ich mir vorstellen bzw. phantasieren kann, überall zu sein, obwohl ich in der Wirklichkeit aktuell nur hier bin: „Tausend Meter unter dem Meer kann ich doch mit meinem Leibe nicht sein, auch nicht auf der Sonne etc. Und doch liegt es im Sinn der phänomenalen Welt, dass jeder Punkt der Welt zu meinem Hier werden könnte, dass von jedem Hier aus Aspekte, und bestimmte, geordnete, bestehen müssen als Wahrnehmungsmöglichkeiten.“ (Hua XIII, 294)
Hier gilt es, eine als idealiter gedachte Möglichkeit, wonach ich jede Lage im Raum haben kann, von meinen wirklichen begrenzten Möglichkeiten zu unterscheiden: Mein Leib kann nicht gleichzeitig überall sein. 19
„Der fremde Körper dort ist so, dass ich mich in ihn hineinversetzen, ihn mir als meinen Leib denken kann.“ (Hua XIII, 289)
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Im Zusammenhang mit der Untersuchung des Verhältnisses zwischen phantasierendem und phantasiertem Ich wird der Begriff des reinen Ich und die Möglichkeit eines Korrelat-Ich in unbestimmter Leiblichkeit oder sogar ohne Leib eingeführt: „Das als Korrelat reiner Phantasiegegebenheiten fungierende Ich sei identisch mit dem jeweilig phantasierenden Ich? Freilich nicht mit dem empirischen, mit dem und dem Leib und der und der Gruppe bestimmter Persönlichkeitseigenschaften begabten Subjekt (dem Menschen), aber mit dem reinen Ich? Sowie die pure Phantasie (Neutralitätsmodifikation) in eine Setzung verwandelt wird, haben wir da nicht ,unser’ Ich, das sich freilich in unbestimmter Leiblichkeit (oder gar keiner) und in unbestimmter Persönlichkeit oder als pures, reines Ich da hineinversetzt in die Korrelatfunktion? [ ] Immerhin, ist da nicht immerfort das Korrelat-Ich als reines Ich gesetzt, und als dasselbe, das aktuelles reines Ich ist?“ (Hua XIII, 296 f.)
Wenn wir das Verhältnis zwischen dem phantasierenden und dem phantasierten Ich betrachten, müssen wir zunächst berücksichtigen, dass in der oben zitierten Textstelle diejenige Denkfigur der IchVerdoppelung wieder zum Vorschein kommt, der wir in den Vorlesungen 1910/11 begegnet sind. Hier sei daran erinnert, dass die Ich-Verdoppelung auf die Identität zwischen den zwei Ich verweist. In diesem Sinne behauptet Husserl in dem Text Nr. 11, dass die Vergegenwärtigung der Wiedererinnerung ein Doppel-Ich enthält: Das Ich der Gegenwart, Träger des fließenden Jetzt, und das Ich der Vergangenheit, Träger des vergangenen Jetzt: „Beide decken sich, haben eine Einheit der Identität. Es ist dasselbe Ich, aber in eins das aktuell jetzige und das vergegenwärtigte vergangene: das Ich dauert, es ist jetzt, es war und wird sein. Aber so wunderbar ist das Ich, dass es nicht nur war, sondern im Jetzt sich eben in das ,war’ versetzen kann und seiner Identität in dieser Verdoppelung bewusst sein kann.“ (Hua XIII, 318)
Im Moment genügt es, die Frage der Identität nur zu erwähnen. Ich werde darauf zurückkommen, nachdem ich das Problem der Leiblichkeit des reinen Ich behandelt habe. Es geht jetzt darum zu verdeutlichen, dass sich die These eines Ich ohne Leib durch den Text nicht belegen lässt. Wenn vom Ich ohne Leib die Rede ist, bezieht sich dieser Ausdruck ausschließlich auf mein empirisches Ich, das durch meine bestimmten persönlichen Eigenschaften charakterisiert ist (z. B. Beilage XV, Hua
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XIII, 304). Es gibt zahlreiche Texte, die unmissverständlich zeigen, dass sowohl das vergegenwärtigende als auch das vergegenwärtigte Ich durch die Leiblichkeit bestimmt sind, obwohl es im Fall des Ich-Korrelats nicht möglich ist, den Leib phänomenologisch adäquat zu beschreiben. Die Tatsache, dass das fungierende Ich ein leibliches Subjekt ist, steht außer Frage. Diesbezüglich schreibt Husserl: „Erstens bin ich wirkliches Ich, mit dem wirklichen Leib in der wirklichen Welt, so wie all das in originär gebenden Erlebnissen konstituiert ist.“ (Hua XIII, 302, m. H.) Der heikelste Punkt ist die Frage, ob auch das Korrelat-Ich als leiblich zu betrachten ist. Hierbei weise ich zuerst auf ein von Husserl angeführtes Beispiel von einem Phantasieren hin, das den Kampf eines deutschen Schiffes mit den Engländern zum Inhalt hat. Die phantasierten Vorgänge deuten laut Husserl auf einen Ausgangspunkt der Orientierung hin. Das phantasierte Korrelat-Ich wird als Hier interpretiert, „von wo aus ihm alle Dinge der Phantasiewelt in bestimmter Orientierung, bzw. in bestimmten Apparenzen erscheinen.“ (Hua XIII, 314) Das vergegenwärtigte Ich fungiert in diesem Kontext als Ausstrahlungszentrum und Quellpunkt der Aufmerksamkeit. Es ist allerdings hinzuzufügen, dass hier keine Notwendigkeit besteht, dass das Ich mit seinen Persönlichkeitseigenschaften, mit seinem Alter und seinen Kleidern etc. in Erscheinung tritt: „Es ist keineswegs notwendig, dass ich mich hineinversetze, dass ich meinen wirklichen Leib und mein Ich mit dabeihabe. Aber bin ich nicht in der Phantasie voll gespannter Erwartung, erregt, erschüttert von dem gewaltigen Ereignis des Schiffkampfes usw., und fordert nicht der Phantasieaspekt sein Subjekt und das Ich mit dem Ich-Leib in der Gegebenheitsweise eben des von seinem Hier aus zusehenden, explizierenden, bald das und jenes erblickend, es erkennend, wertend, usw.?“ (Hua XIII, 300, m. H.; vgl. Hua XIII, 301, 314)
Daraus ergibt sich, dass das phantasierte Ich über einen Leib verfügt, durch den es die verschiedenen Erfahrungen in der phantasierten Welt erlebt. Um die Art und Weise zu erläutern, wie sich das Ich in der phantasierten Welt bewegt, verweise ich auf die folgende Textstelle, worin die These der doppelten Leiblichkeit sowohl des vergegenwärtigenden als auch des vergegenwärtigten Ich wieder deutlich zum Ausdruck kommt: „Ich bin dabei als das fingierende Ich, jetzt und hier mit diesem Leib in der faktischen Welt lebend, ich, die empirische Person: ich (dieses Ich) fingiere. [ ] In der Fiktion lebend,
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kann ich dieses selbe empirische Ich mit seinem Leib etc. in die Phantasiewelt hineinfingieren, ich brauche es aber nicht. Ich kann die Dinge fingieren, ohne mich (das empirische Ich) als Zuschauer hineinzufingieren, oder überhaupt als Mitglied der fingierten Welt, in ihr lebend, handelnd etc. Andererseits habe ich in der Phantasie die betreffenden Dingerscheinungen, die Dinge sind quasi wahrgenommen in gewissen Orientierungen und in keinen anderen, mittels gewisser quasi-Empfindungsdaten (sinnlichen Phantasmen) und quasi-Auffassungen, und quasi vollzogen sind Explikationen, aufgrund deren ich in der Phantasie quasi urteile. Ferner, um wollend als praktisches Ich in dieser Welt sein zu können, muss ich in ihr schon mehr sein, etwas als leiblich begabtes Ich, wo[bei] der Leib der Phantasiewelt angehörte. Ich müsste über die Sinnenfelder Macht haben, fähig sein, die Gruppe der Erscheinungen zu wandeln etc.“ (Hua XIII, 290, m. H.)
Die Husserl’sche Phänomenologie lässt eine Dimension hervortreten, die bisher völlig unbekannt geblieben ist: die Leiblichkeit des phantasierten Subjekts. Die Eröffnung dieser bisher unbekannten Dimension wird durch das Verfahren der doppelten Reduktion ermöglicht. Das phantasierte Ich ist begabt mit quasi-Wahrnehmungen, die durch Kinästhese bestimmt sind. Die Kinästhese betrifft nicht nur die Augenbewegungen20 , sondern alle Sinnesfelder: „Bin ich denn nicht auch taktuell und mit allen Sinnen dabei? Die Phantasielandschaft enthält herrlich duftende Blumen und zwischen den Felsen springen kühle Quellen, schwellendes Moos ladet zur Ruhe ein usw.“ (Hua XIII, 293) Wenn ich in der Phantasie lebe, bin ich gerichtet „auf das phantasierte Objekt, und dieses konstituiert sich in einer phantasierten Erscheinung, mit phantasierten kinästhetischen Empfindungsverläufen, Sinnesfeldern etc. [ ] Es gehört also dazu auch das Subjekt der Sinnesfelder, das Subjekt der Orientierung, das, wofür der Gegenstand mit den und den Erscheinungen quasi perzeptiv erscheint, das seine Augen (quasi) bewegt, den Gegenstand betrachtet etc.“ (Hua XIII, 302–303) Wenn die Frage nach dem Phantasie-Subjekt gestellt wird: „Also bin ich nicht ganz und gar dabei als leiblich-geistiges Ich?“, antwortet Husserl ohne Zögern: „Doch wohl.“ (Hua XIII, 293) Folglich wird ersichtlich, dass hier das Problem keineswegs ist, ob das Phantasie-Subjekt — das notwendig zur 20
„Ich bewege wirklich die Augen (so sage ich in der Reflexion und in der Auffassung der Leibeswahrnehmung), aber wenn ich im Abbildungsbewusstsein lebe, so bewege ich zwar die Augen, aber darin verbildlicht sich ein Phantasie-Augenbewegen.“ (Hua XIV, 292 f.)
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phantasierten Welt gehört (Hua XIII, 304) — als leiblich zu betrachten ist, sondern wie diese Leiblichkeit des Korrelat-Ich phänomenologisch zu beschreiben ist.21 Husserl ist nicht fähig, dieses Problem zu lösen. Im Hinblick auf das vergegenwärtigte Ich, das in einem Bildbewusstsein gegeben ist, beschränkt er sich darauf, sowohl zu wiederholen, dass das KorrelatIch nicht mit dem empirischen Ich identisch sei, als auch zu behaupten, dass die Leiblichkeit durch die Akte der Aufmerksamkeit, durch die Stimmungen etc. zu bestimmen sei. Eine weitere Vertiefung des Wie der Leiblichkeit des vergegenwärtigten Ich erweist sich als nicht möglich.22 Es ist nicht auszuschließen, dass eine tiefere Untersuchung der vergegenwärtigten Leiblichkeit deshalb nicht möglich ist, weil dieses
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Selbst wenn Husserl die Leiblichkeit des Korrelat-Ich als solche in Frage stellt, beschreibt er dennoch das Ich als Nullpunkt der Orientierung für die sinnlichen Phänomene der Phantasie-Welt: „Dieses Ich ist zwar relativ unbestimmt und vielfältig bestimmbar (quasi bestimmbar), aber immer doch nur numerisch eines (ich möchte auch sagen, es kann, muss aber nicht, einen Leib haben. Halte ich eine Phantasiewelt, eine Phantasielandschaft etc. fest und stelle ich mir sie in verschiedenen Ansichten, nach verschiedenen Partien etc. vor, so entspricht dem Wechsel der Aspekte eine verschiedene Orientierung desselben Korrelat-Ich, das Subjekt dieser Welt ,bewegt’ sich, ändert in ihr seine Orientierungsstelle.“ (Hua XIII, 314, m. H.) Die Leiblichkeit des phantasierten Ich muss keineswegs identisch mit dem Leib des empirischen Ich sein: „Hierbei ist es klar, dass kein Leib dieses Ich seine Rolle spielt und keine Persönlichkeitseigenschaft, als ob ein empirisches Ich in dieser Welt herumkutschierte. Diesem Ich kann mein Leib angedichtet, aber dieser Leib beliebig modifiziert werden und dann wieder auf Null reduziert.“ Einige Zeilen später interpretiert Husserl das phantasierte Korrelat-Ich erneut als Aufmerksamkeitszentrum und Nullpunkt der Orientierung: „Was das phantasierte Korrelat-Ich anlangt, so ist zu beachten, dass es Korrelat-Ich ist, also als in einem Hier imaginiert ist, von wo aus ihm alle Dinge der Phantasiewelt in bestimmter Orientierung, bzw. in gewissen Apparenzen erscheinen. Also ganz so wie ich, das aktuelle Ich, ein aktuelles Hier habe, um das sich die ganze Welt mit ihren Da’s und Dorts in geordneten Erscheinungsweisen gruppiert” (ebd.). 22 „Unmöglich ist das Korrelat-Ich mein empirisches Ich. Das wäre doch eine schöne Störung der Germanenwelt oder der Heiligenwelt, die da dargestellt ist, ein schöner Anachronismus etc. Es ist eben ein pures Phantasie-Ich, mit einer unbestimmten Leiblichkeit, einer unbestimmten Persönlichkeit, bestimmt nur durch die Akte der Betrachtung, der Aufmerksamkeit, das Haben der Aspekte, das Erleben der vom Künstler mittels des Bildes erregten Stimmungen. Das Ich ist unbestimmt, wie ja auch Phantasieobjekte unbestimmt und nur nach gewissen Seiten bestimmt sind — so unbestimmt, dass man
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Phänomen als solches durch Unzugänglichkeit gekennzeichnet ist: Jede Phantasie bildet sich in einer vielfältigen, brüchigen Dimension der unklaren Phantasie heraus, die, wie wir sehen werden, zeitlich betrachtet durch ein Intermittieren charakterisiert ist. Aus Wesensgründen lässt sich die „wilde“ Dimension der Phantasie und insbesondere die Leiblichkeit des Ich-Subjekts nicht deutlich definieren (vgl. S. 226 f.). Die Entdeckung der Leiblichkeit des phantasierten sowie des wiedererinnerten Subjektes zeigt, wie fruchtbar die Einführung des Verfahrens der doppelten transzendental-phänomenologischen Reduktion ist. Die Ausschaltung des Weltglaubens erlaubt den Ausweis von grundwesentlich unterschiedenen konstitutiven Funktionen, die den Zugang zu eigentümlichen, einzigartigen Welten (Phantasie-, Erinnerungswelt usw.) ermöglichen. Hierbei gilt es hervorzuheben, dass die transzendental-phänomenologische Epoché bei Husserl zwei Momente einschließt, die eigentlich auseinanderzuhalten sind. Zum einen bedeutet die Epoché die Reduktion auf die Immanenz: Jedes Seiende konstituiert sich innerhalb des ursprünglich Immanent-Subjektiven. Im Lauf der Arbeit werde ich mehrfach im Hinblick auf verschiedene Phänomenbereiche (wie die Passivität, die Intersubjektivität und die Zeitlichkeit) den fragwürdigen Status eines solchen Ansatzes hervorheben. Zum anderen wird der Weltglaube ausgeschaltet und demnach die natürliche Einstellung durch die Epoché radikal in Frage gestellt.23 Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, diejenigen Aporien zu überwinden, die mit dem metaphysisch inspirierten Wirklichkeitsbegriff zusammenhängen. Wenn man von einer wirklichen objektiven äußeren Welt ausgeht, ist es unvermeidlich, die Phantasie als eine Vorstellungsfunktion zu betrachten, die sich innerhalb der Seele oder des psychischen Feldes abspielt. Ausgehend von einer wirklichen Welt ist es unmöglich, sich dem metaphysischen, ontologisch belasteten Begriffspaar nach ihrem näheren Wie gar nicht fragen kann. So kann ich auch nicht fragen, was für einen Leib der Bild-Zuschauer hat etc.“ (Hua XIII, 300 f., m. H.) 23 In der zeitgenössischen Phänomenologie hat vor allem Marc Richir versucht, eine radikale (hyperbolische) Epoché zu vollziehen, die sich von der Immanenz endgültig verabschiedet (Richir, 1992). Vgl. zur Bestimmung der transzendentalphänomenologischen Epoché bei Husserl: Kern, 1962; Aguirre, 1970, insb. 112 ff.; Mohanty, 1985; Sokolowski, 1974, 89 ff.
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Innen/Außen zu entziehen. Durch die Epoché im Sinne der Ausschaltung des Weltglaubens bahnt sich ein Weg an, die Vielfalt von intentionalen Erschlossenheiten in grundverschiedenen Dimensionen analysieren zu können. Hierbei gilt es einen weiteren problematischen Aspekt Husserl’scher Phänomenologie zu erwähnen: Die Beziehungen der unterschiedlichen Formen der Intentionalitäten werden im Licht des Fundierungsverhältnisses beschrieben: Die Wahrnehmung fungiert als Grundlage für alle anderen konstitutiven Funktionen. Obwohl dieser Ansatz zweifelsohne der herrschende in den Husserl’schen Texten ist, zeichnen sich auch Tendenzen ab, die über ein solches Paradigma hinausgehen. In § 32 von Husserliana-Band XXIII wird die radikale These aufgestellt, wonach Vergegenwärtigung ein letzter Modus intuitiver Vorstellung genauso wie die Wahrnehmungsvorstellung, wie die Gegenwärtigung ist (Hua XXIII, 85). In dieser Hinsicht zeigt sich eine Gleichursprünglichkeit zwischen reiner Phantasie und äußerer Wahrnehmung (vgl. S. 226).24 Wenn die Leiblichkeit des reinen Ich sowohl auf der Seite des Korrelat-Ich als auch auf der Seite des vergegenwärtigenden Subjekts festgestellt wird, sind wir nicht mehr berechtigt, die These einer Zweideutigkeit des Ich-Begriffs in der Husserl’schen Phänomenologie in der Form zu vertreten, wie Marbach und Kern sie beschrieben haben. Meiner Meinung nach ist es zweifellos legitim, die beiden verschiedenen Aspekte des Ich (einerseits als Beziehungspunkt aller Orientierungen und Wahrnehmungen und andererseits als Identität zwischen dem aktuellen vergegenwärtigenden und dem vergegenwärtigten Subjekt) hervorzuheben. Aber ich halte es für entscheidend, ihre wechselseitigen Beziehungen genauer zu betrachten: Zwischen den zwei
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Obwohl die unterschiedlichen intentionalen Funktionen miteinander verbunden sind und vielleicht sogar eine beständige Kontamination zwischen Phantasie, Wahrnehmung und Wiedererinnerung stattfindet, ist es m. E. erforderlich, in einem ersten Stadium der phänomenologischen Untersuchung „die letzten Modi intuitiver Vorstellung“, die als gleichursprünglich anzuerkennen sind, auseinanderzuhalten, um ihren jeweils unterschiedlichen, eigentümlichen Dimensionen gerecht zu werden.
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Ich-Auffassungen besteht weder eine Identität ohne Unterscheidung noch eine Gegenüberstellung. Die These von einer Identität — der wir zu Beginn des Kapitels bei Zahavi begegnet sind — ist deswegen auszuschließen, weil a priori keine Notwendigkeit besteht, dass ein leibliches Subjekt das Vermögen der Vergegenwärtigungen hat und sich in diesen Akten als identisch ausfindig macht. Man denke an manche Tiere (z. B. eine Spinne), denen ein solcher vergegenwärtigender Akt schwer zuzutrauen wäre. Es ist jedoch erforderlich, unmittelbar hinzuzufügen, dass diese IchAuffassung keine alternative These gegenüber dem leiblichen Subjekt — wie Marbach und Kern behaupten — darstellt, sondern es im Gegenteil voraussetzt. In der Wiedererinnerung wird ein leibliches Subjekt als Ausstrahlungspunkt in Anspruch genommen, welches die vergangene Erfahrung gleichsam wieder erlebt; in der Phantasiemodifikation ist ein Ich impliziert, das sich in der Phantasie-Welt kinästhetisch und aufmerkend bewegt. Obwohl ein wesentlicher Unterschied zwischen Phantasie und Wiedererinnerung besteht, da die erste sich als Neutralitätsmodifikation definiert, während die zweite das intentionale cogitatum als wirklich Vergangenes setzt, gibt es keine Differenz bezüglich der Art und Weise, wie das Korrelat-Ich in diesen Vergegenwärtigungen fungiert bzw. „dabei ist“ (Hua XIII, 319). Das Ich dient dabei als leiblicher Orientierungspunkt und als Quellpunkt der Aufmerksamkeit (Hua XIII, 301). Von daher ist die Funktion des Leibes unausweichlich: Er steht in der Einheit der ganzen originären Erfahrung und ist von ihr untrennbar (Hua XIII, 334). Das Verhältnis zwischen dem Ich als Identität der vergegenwärtigenden Akte und dem Ich als Ausstrahlungspunkt ist als Ineinander anzusehen: Obwohl sich eine Nicht-Koinzidenz zwischen ihnen zeigt, können sie nicht voneinander getrennt werden. Sie greifen ineinander und implizieren sich gegenseitig.25 25
Ein chiasmatisches Verhältnis zwischen Leib und Bewusstsein, zwischen Geist und Natur bei Husserl — obwohl im Hinblick auf einen anderen Sachverhalt, nämlich die Beziehung zwischen dem Berühren und Berührtwerden — ist, wie bekannt, in der Schrift Merleau-Pontys Der Philosoph und sein Schatten (Merleau-Ponty, 1960) deutlich aufgezeigt worden.
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Im Folgenden möchte ich zeigen, wie eng die verschiedenen Momente der Leiblichkeit, des Zeitbewussteins und des Ich-Begriffes miteinander verflochten sind.26 Im Licht der oben dargestellten Auslegung, die die Beziehungen der zwei Ich-Auffassungen neu artikuliert, greifen wir nun auf die schon zitierte Textstelle zurück, welche die Ich-Verdoppelung betrifft: „Aber so wunderbar ist das Ich, dass es nicht nur war, sondern im Jetzt sich eben in das ,war’ versetzen kann und seiner Identität in dieser Verdoppelung bewusst sein kann.“ (Hua XIII, 318) Das Bewusstsein der im Lauf der Zeit bestehenden Identität des Ich, das die vielfältigen und zeitlich getrennten cogitationes synthetisch vereinheitlicht, kommt eigentlich durch die sich in der Wiedererinnerung abspielende Ich-Verdoppelung zustande. In einem Text aus dem Jahr 1934 wird ersichtlich, dass die Ich-Verdoppelung oder Ich-Deckung zwischen dem aktuellen und dem wiedererinnerten Ich im Leib stattfindet — einem Leib, der als Zentrierung aller Handlungen angesehen wird. „Worin besteht also die vielgenannte Ich-Deckung, die des ,Ich-Pols’? Da versuche ich jetzt zu sagen: Es ist nichts anderes als die Leibzentrierung aller ,Handlungen’ im doppelseitigen Sinn. In der Erinnerung spreche ich von Selbstidentifizierung oder von Identität des Ichpols, ebenso in der Phantasie“. (Hua XV, 642 f.)
Der Leib kann sich seinerseits nur dank der Synthesis der Retention als Identität konstituieren: „Aber ist nicht zunächst die Retention (auf der primordialen Stufe) eine kontinuierliche Modifikation, in der Leib und Leibzentrierung in stetiger Abwandlung und dabei Deckung sind? Dabei erhält sich der Leib als derselbe, als identischer Beziehungspunkt der Akte, als Orientierungsnull.“ (Hua XV, 643) Durch die Retention werden im Bewusstseinsleben die „Spuren“ der vergangenen leiblich zu charakterisierenden Erfahrungen beibehalten. Die synthetische Funktion des Zeitbewusstseins birgt in sich dementsprechend die Vielfalt der Bewusstseinsflüsse, die durch die Wiedererinnerungen wieder zur Gegebenheit gebracht werden können. In Bezug auf diese Vielfalt der Bewusstseinsflüsse spricht Husserl 26
Diesbezüglich sei hier daran erinnert, dass dasselbe Prinzip der Konstruktion des IchBewusstseins das Zeitbewusstsein als ihr wesentliches Moment voraussetzt (vgl. S. 20 f.).
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nicht nur von Ich-Verdoppelung, sondern auch von einer unendlichen Pluralität des Ich: „Ich bin nicht nur und lebe nicht nur, sondern ein zweites Ich und ein zweites ganzes Ich-Leben wird bewusst, spiegelt sich gleichsam in meinem Leben, nämlich vergegenwärtigt sich in meinen gegenwärtigen Erinnerungen. Und daran noch nicht genug, nicht ein zweites Leben, sondern eine Unendlichkeit von solchen Leben, sofern die Vergangenheit ein Kontinuum ist und jedem Punkt der erinnerungsmäßigen Vergangenheit eine andere vergegenwärtigte Gegenwart mit dem vergegenwärtigten Ich und Ich-Leben zugehört.“27 (Hua XI, 310 f., m. H.)
Meines Erachtens besteht in dieser Verflechtung zwischen Leiblichkeit, Zeitbewusstsein und Ich-Leben keine Zweideutigkeit, sondern es liegt darin gerade das Faszinierende des Husserl’schen Unternehmens und seiner paradigmatischen Treue zu den Sachen selbst. Durch die Analyse der passiven Synthese wird die oben geschilderte Verflechtung zwischen Leiblichkeit, Zeitbewusstsein und Ich-Leben vor allem in Bezug auf die immer wichtigere Rolle der Affektion weiter vertieft. Wenn die Aufmerksamkeit, die in den verschiedenenartigen cogitationes waltet, a priori die Affektion voraussetzt, wie ist es möglich, das Ich — das sich durch die Aufmerksamkeit definiert — vom Leib zu trennen? Könnte sich eine Affektion ohne Leiblichkeit zeigen?
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Einen ähnlichen Ausdruck finden wir schon in Ideen I: „Jeder Akt hat seine Form cogito und in gewisser Weise ,Sein Ich’.“ (Hua III/1, 76) Eine solche Vervielfältigung des Ich kompromittiert keineswegs, nach Husserl, seine Identität: „Das jeweilige Ich ist aber kontinuierlich durch alle diese Reproduktionen hindurch identisch, identisch mein Ich [ ].“ (Hua XI, 311)
KAPITEL II
UMWANDLUNG DES ICH-BEGRIFFS IM LICHT DER PASSIVEN SYNTHESIS
1. Spannung und Wechselbezug zwischen statischer und genetischer Phänomenologie Die Husserl’sche Phänomenologie erschöpft sich nicht in einer statischen Analyse der Korrelation zwischen Noesis und Noema, einer Korrelation, die innerhalb der durch die Epoché ermöglichten transzendentalen Sphäre untersucht wird. Zwischen 1915 und 191728 wird ein neuer phänomenologischer Forschungsbereich eröffnet: die Genesis des transzendentalen Bewusstseins. Eine solche Entdeckung führt zu einer Umwandlung des Ich-Begriffes, da die Bestimmung des Ich als Ichpol im Licht einer genetischen Betrachtungsweise zu abstrakt ist. Die statische Phänomenologie analysiert die Einheit der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse, die eine intentionale Gegenständlichkeit konstituieren. Sie findet ihren Ausgangspunkt in einem — transzendental reduzierten — vorgezeichneten Gegenständlichkeitstypus, der seiner Form nach unveränderbar ist und eben dadurch als Leitfaden für die Analyse der intentionalen Erlebnisse dient: „Ich gehe überhaupt aus von Gegenständlichkeiten, auch idealen, wie begrifflichen Gedanken, mathematischen Sätzen, und frage, wie das Bewusstsein von ihnen aussehen kann, wie mannigfaltiges Bewusstsein von ihnen möglich ist und wie sie bewusstseinsmäßig als selbstgegebene sich ,konstituieren’.“ (Hua XIV, 40)
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Vor kurzem ist Bernet zum Ergebnis gekommen, dass der Durchbruch zur genetischen Phänomenologie nicht in der Vorlesung zur „transzendentalen Logik“ aus dem WS 1920/21 (Hua XI), sondern in den Bernauer Manuskripten geschieht (Bernet, 2001, XLVI). Die vor kurzem im Husserliana-Band XXXVIII erschienenen Forschungsmanuskripte Studien zur Struktur des Bewusstseins (A VI 12 1) könnten hilfsreich sein, um das Entstehen der genetischen Phänomenologie eindeutig zu bestimmen.
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Anhand eines bestimmten Gegenständlichkeitstypus (z. B. eines Objektes der äußeren Wahrnehmung) betrachten wir die Mannigfaltigkeit der subjektiven Erscheinungen, in denen diese Art der Objektivität ursprünglich zur Gegebenheit kommt. Es ist wichtig zu betonen, dass eine solche phänomenologische Analyse eidetisch ausgerichtet ist: Sie zielt darauf ab, die Wesensgesetze festzustellen, die die Korrelation zwischen den Abläufen der intentionalen Erlebnisse und der mannigfaltigen noematischen Erscheinungsweisen betreffen.29 Da die statische Konstitution die verschiedenen Typen der (schon konstituierten) Gegenständlichkeiten als Leitfaden nimmt, bezeichnet sie Husserl als „Phänomenologie der Leitfäden“ (Hua XIV, 40). In diesem Sinn wird die statische Analyse in den Cartesianischen Meditationen mit den naturhistorischen Beschreibungen verglichen, „die den einzelnen Typen der Gegenständlichkeit nachgehen und sie allenfalls ordnend systematisieren.“ (Hua I, 110) Diese Art von Konstitution, die die Korrelation zwischen konstituierendem Bewusstsein und konstituierter Gegenständlichkeit untersucht, kann vom Phänomen der Genesis absehen: Statisch kann man phänomenologische Forschungen bezeichnen, „die genetische Probleme überhaupt ausschließen“ (Hua XIV, 38). Es gilt zu betonen, dass in einer statischen Betrachtungsweise dem objektivierenden Akt ein Vorrang gegenüber jeder anderen Art (von Akt) zugeschrieben wird: „Jedes intentionale Erlebnis ist entweder ein objektivierender Akt oder hat einen solchen Akt zur Grundlage [ ].“ (Hua XIX/1, 514) Die Begehr- oder Wertintentionen setzen z. B. notwendigerweise einen objektivierenden Akt als ihre Basis voraus. In diesem Sinne vertritt Husserl in der Ethik-Vorlesung die These, dass dem objektivierenden Akt das Konstituieren als solches vorbehalten ist: „Wertende Akte sind wesentlich für die Konstitution von Werten, das sehen wir; aber reflektieren wir darüber, wie sie konstituierend fungieren können, so geraten wir in Unverständlichkeiten. Konstituieren können doch nur 29
„Es sind hier überall konstitutive Fragen, und die Konstitution betrifft Wesenskorrelationen zwischen Gegenstand der Erkenntnis und Erkenntnis, Betrachtung der noetischen Zusammenhänge, in denen ontische Zusammenhänge, auch solche zwischen Gegenständen und Begriffen, Wahrheiten etc. sich konstituieren.“ (Hua XIV, 40–41, m. H.)
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objektivierende Akte.“ (Hua XXVIII, 277) Von daher ist in einem statischen Bereich das Primat des objektivierenden Aktes als unumstritten anzusehen. Bevor die genetische Phänomenologie einer umfassenden Analyse unterzogen wird, ist es angebracht, auf die Mehrdeutigkeit des Terminus „Genesis“ hinzuweisen. 1. Zunächst gilt es, einen engen Zusammenhang zwischen einer Gestalt der Genesis und dem Stufenbau des konstitutiven Prozesses, wonach das Fundierte (z. B. die Wertintention) das Fundierende (den objektivierenden Akt) voraussetzt, festzustellen. Eine solche Bestimmung der Genesis fällt jedoch unter die statische Phänomenologie, und zwar schreibt sie sich in ein Ordnungssystem von schon fertig konstituierten Gegenständlichkeiten ein.30 2. Darüber hinaus wird Genesis mit der intentionalen Erfüllung der Wahrnehmung in Verbindung gebracht: Die Gegenständlichkeit konstituiert sich durch den Ablauf einer Mannigfaltigkeit von Abschattungen, aus deren Synthesis die Einheit des Objektes entsteht. Im dritten Band der Ideen wird diesbezüglich ein Unterschied zwischen dem phänomenologischen und dem ontologischen Ansatz aufgezeigt. Während die Ontologie den Gegenstand als eine feste, starre Identität betrachtet, wird er in einer phänomenologischen Perspektive als Einheit im Fluss ausgelegt. Die phänomenologische Analyse verfolgt die Abläufe, „in denen solche Einheit und jede Komponente, Seite, reale Eigenschaft solcher Einheit das Identitätskorrelat ist. Diese Betrachtung ist kinästhetisch oder gewissermaßen ,genetisch’: eine ,Genesis’, die einer total verschiedenen, ,transzendentalen’ Welt angehört als die natürliche und naturwissenschaftliche Genesis.“ (Hua V, 129) Auch diese Art der Analyse bleibt innerhalb der statischen Phänomenologie, indem sie die Geschichte und die Vorgegebenheit der jeweils unterschiedlichen Apperzeptionsformen nicht thematisiert: Sie nimmt als Leitfaden eine schon vorgezeichnete Form des Gegenstandes, um die innere Teleologie hervortreten zu lassen, die zur Einheit der Abschattungen führt. 30
In diesem Sinn behauptet Husserl: „Indessen, statisch beschreibe ich nicht nur die konstitutiven Möglichkeiten in Beziehung auf einen Gegenstand als Leitfaden, ich beschreibe auch die Typik der Zusammenhänge im Bewusstsein irgendeiner Entwicklungsstufe.“ (Hua XIV, 41)
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3. In Bezug auf die Zeitkonstitution ist ebenfalls von Genesis die Rede. Dennoch ist in diesem Zusammenhang die Verwendung der Kategorie „Genesis“ problematisch: Die Zeit als beständige, unveränderte Form ist weniger der Genesis unterworfen, sondern vielmehr als die Grundlage jeder Genesis zu betrachten (Kern, 1988, 184). Ich werde in Kapitel V das Problem der Zeit als Form ausführlich behandeln.31 Gehen wir jetzt zur „eigentlichen“ genetischen Phänomenologie über. Selbst das, was als der selbstverständlichste und elementarste Akt — wie z. B. die Wahrnehmung eines äußeren Dinges — erscheint, hat eine Geschichte hinter sich: „Mit gutem Grunde heißt es, dass wir in früher Kinderzeit das Sehen von Dingen überhaupt erst lernen mussten, wie auch, dass dergleichen allen anderen Bewusstseinsweisen von Dingen genetisch vorangehen musste. Das vorgebende Wahrnehmungsfeld in der frühen Kindheit enthält also noch nichts, was im bloßen Ansehen als Ding expliziert werden könnte.“ (Hua I, 112)
Dieselbe Kategorie des Gegenstandes, die als Leitfaden für die intentionale Analyse dient, verweist auf eine Genesis bzw. auf eine Urstiftung.32 Das meditierende Ego ist imstande „durch Eindringen in den intentionalen Gehalt der Erfahrungsphänomene selbst [ ], intentionale Verweisungen, die auf eine Geschichte führen, also diese Phänomene als Nachgestalten anderer, ihnen wesensmäßig vorangehender (wenn auch nicht gerade auf denselben konstituierten Gegenstand beziehbarer) Vorgestalten kenntlich zu machen.“ (Hua I, 113) In diesem Sinn fragt die genetische Phänomenologie nach dem Zusammenhang zwischen Bedingtem und Bedingendem bzw. nach der Art und Weise, wie das
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Bezüglich der Mehrdeutigkeit der Genesis verweise ich auf Kapitel VII von Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens (Bernet et al. 1989): „Statische und genetische Konstitution“. 32 „Schon dass alles mich als entwickeltes ego Affizierende apperzipiert ist als Gegenstand, als Substrat kennenzulernender Prädikate, gehört hierher. Denn das ist eine im voraus bekannte mögliche Zielform für Möglichkeiten der Explikation als bekannt machender, als solcher, die einen Gegenstand als bleibenden Besitz, als immer wieder Zugängliches konstituieren würde: und diese Zielform ist im voraus verständlich als aus einer Genesis entsprungen. Sie weist selbst auf eine Urstiftung dieser Form zurück.“ (Hua I, 113)
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Bedingte aus dem Bedingenden entspringt (Hua XIV, 40), wie Bewusstsein aus Bewusstsein wird (Hua XIV, 41). Aus dieser Perspektive versucht man, die „konstitutive“ Geschichte der Objektivierung (Hua XI, 345) bzw. der verschiedenartigen Apperzeptionsformen ausfindig zu machen, in denen sich die jeweiligen Objekte konstituieren (Hua XI, 186). In der genetischen Phänomenologie ist das Primat des objektivierenden Aktes deshalb viel problematischer als in der statischen, nicht nur weil deutlich wird, dass dieselbe als Leitfaden genommene Kategorie des Objekts auf eine Urstiftung verweist, sondern auch, weil die genetische Analyse einige konstituierende Momente — wie z. B. die Triebintentionalität oder die Affektion — hervortreten lässt, die letztlich über die synchronische Korrelation Noesis–Noema hinausgehen (zur Diachronie der Affektion vgl. S. 62 ff.). In diesem Kontext ist es von größter Bedeutung, auf den Unterschied zwischen zwei Formen der Genesis aufmerksam zu machen: die aktive und die passive. Im Fall einer aktiven Genesis vollzieht das Ich die der Vernunft zugehörigen Akte. Alle Arten von Leistungen der erzeugenden Vernunft, wie z. B. die Konstitution von idealen Gegenständen (z. B. Prädikate oder Theorie) oder von kulturellen Objekten (z. B. Kunstwerke) fallen in den Bereich der aktiven Genesis. Auf der Basis der schon konstituierten Gegenständlichkeiten ist es möglich — durch jeweils unterschiedliche synthetische Akte — über den aktuellen Gegenstandshorizont hinauszugehen und neue Formen der Objektivität zu konstituieren. In diesem Zusammenhang findet der oben erwähnte Begriff der Urstiftung seinen ursprünglichen Sinn. Die Urstiftung eröffnet eine neue Vermöglichkeit des Ich, die sich im Bewusstsein sedimentiert.33 33
Klaus Held hat diesen Sachverhalt deutlich geschildert: „Eine Urstiftung findet statt, wenn das Bewusstsein — nicht irgendein Einzelner, sondern eine wie immer zu definierende Sprach- oder Kulturgemeinschaft — seinen bisherigen Gegenstandshorizont auf eine neue Art von Gegenständlichkeit hin überschreitet, also z. B., wenn ein neues Werkzeug erfunden wird. [ ] Mit jeder Urstiftung erwirbt das Bewusstsein die Vermöglichkeit, auf die neue Art von Gegenständlichkeit von nun an immer wieder zurückzukommen; d.h. die Erfahrung der betreffenden Gegenstände wird zur Gewohnheit. Diese ,Habitualisierung’ oder auch ,Sedimentierung’ ist ein passiver, d.h. kein von mir als Vollzieher aktiv im Gang gebrachter Prozess. Der schöpferische Akt der Urstiftung gerät dabei normalerweise in Vergessenheit. Die Gewohnheit wird zur
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Alle aktiven Konstitutionen verweisen jedoch auf eine passiv konstituierte Vorgegebenheit: „Was uns im Leben sozusagen fertig entgegentritt als daseiendes bloßes Ding [ ], das ist in der Ursprünglichkeit des ,es selbst’ in der Synthesis passiver Erfahrung gegeben.“ (Hua I, 112) In der Schrift Formale und transzendentale Logik hat Husserl in diesem Sinne gezeigt, dass die Individualurteile eine vorprädikative Erfahrung implizieren. Nicht nur im Husserliana-Band XI und in den Cartesianischen Meditationen, sondern auch in den Forschungsmanuskripten aus den dreißiger Jahren (insbes. in den C-Manuskripten) wird die Assoziation unmissverständlich als das universale Prinzip der passiven Genesis für die Konstitution aller im aktiven Bilden vorgegebenen Gegenständlichkeiten angesehen (Hua I, 113). Die Assoziation darf nicht als eine objektive Kausalität, die von einer außenstehenden Position festgestellt wird, sondern muss als „eine Form und Gesetzmäßigkeit der immanenten Genesis“ betrachtet werden, die aus Wesensgründen „beständig“ zum Bewusstsein gehört und innerhalb der transzendental reduzierten Dimension zu denken ist (Hua XI, 117). In seiner Vorlesung zur transzendentalen Logik aus dem WS 1920/21 untersucht Husserl als erste Form diejenige Assoziation, welche aufgrund der Ähnlichkeit die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet: Ein in meinem aktuellen Wahrnehmungsfeld vorhandenes Objekt erinnert an einen vergangenen Gegenstand. Ein Phänomen verweist auf das andere. In diesem Zusammenhang spricht Husserl in einem besonderen Sinne von Genesis: Genesis nimmt hier die Gestalt des Weckens an: „Ferner gibt sich das Phänomen selbst als eine Genesis, das eine Glied als weckendes, das andere als gewecktes. Die Reproduktion des letzteren gibt sich als durch die Weckung erwirkt.“ (Hua XI, 121) Das Bewusstsein von einem gegenwärtigen Objekt (ein Bild von Tizian) weckt eine in der Vergangenheit liegende Erfahrung (meine Reise nach Florenz). Dieser Verweis auf die vergangene Gegenständlichkeit schließt den ganzen Horizont des geweckten Phänomens ein. Die Phänomenologie der Assoziation ist zum einen eine höhere Fortführung der Analyse der ursprünglichen Zeitkonstitution. Zum anunthematischen Vertrautheit mit der Vermöglichkeit, Gegenstände der betreffenden Art zu erfahren.“ (Held, 1986, 39)
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deren definiert sie sich als eine Phänomenologie des Unbewussten. Im Folgenden werde ich zuerst auf die Verdeutlichung der These eingehen, die einen engen Zusammenhang zwischen der Zeit- und der Assoziationsproblematik herstellt. Danach werde ich — vor allem im Licht der Affektionslehre — die Thematik des Unbewussten untersuchen. Die phänomenologische Analyse der Assoziation macht besonders deutlich, dass sich das Bewusstsein nicht nur auf ein einzelnes Objekt bezieht, sondern dass es gleichzeitig auf eine Mannigfaltigkeit der Objekte, Erlebnisse und Phänomene verweist. Die zeitlichen Phänomene werden dementsprechend sowohl in Bezug auf das ursprüngliche zeitkonstituierende Bewusstsein bzw. auf das höchst komplexe „Zusammenspiel“ zwischen Urimpression, Retention und Protention analysiert als auch in Bezug auf die höherstufige Synthese (Hua XI, 126), die der Gleichzeitigkeit und Sukzession. In jeder Gesamtphase konstituieren sich mehrere Objekte — sowohl innerhalb des gleichen Sinnfeldes als auch in den unterschiedlichen Sinnfeldern (Hör-, Sehfeld usw.) —, die in verschiedenartigen Formen zueinander im Verhältnis stehen.34 Die mannigfaltigen hyletischen Daten laufen in einem absolut identischen Tempo ab (Hua I, 127). Die Intentionalität richtet sich allerdings nicht nur auf die Koexistenz mehrerer hyletischer Einheiten, sondern auch auf die Synthesis der Sukzession: „Das Verströmen des Jetzt in die zeitlichen Orientierungen besagt zugleich eine weitere universale Synthese im konstituierenden Leben, wodurch die verlaufenden Gegenwarten als eine Einheit der Folge bewusst werden.“35 (Hua XI, 127) Die hier erwähnte
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„Aber in derselben Konkretion des Lebens, je und je in demselben Lebensmoment und seinem Fortströmen können noch andere Gegenstände konstituiert sein, jeder durch eine parallele konstitutive Struktur, z. B. ein anderer Ton, eine Farbe usw. Hierbei konstituiert sich notwendig Gleichzeitigkeit, es konstituiert sich nicht für jedes solche Datum eine Zeitlichkeit für sich, die mit derjenigen des anderen nichts zu tun hätte. Es konstituiert sich ein Jetzt, das das Jetzt des einen und anderen Datums zur Identitätseinheit bringt.“ (Hua XI, 127) 35 Hierbei möchte ich einen wichtigen Unterschied zwischen diesen zwei Formen der zeitlichen Assoziationen betonen: Während die Sukzession als eine Ordnungsform anerkannt und als geradlinig bestimmt wird (Hua XI, 136), ist die Koexistenz keine allgemeine Ordnungsform. Die einzelnen besonderen Sinnesfelder — wie die visuelle
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Assoziation der Gleichzeitigkeit und der Sukzession ist „die allgemeinste und allererste Synthese, die alle in der Passivität ursprünglich als seiend bewusst werdenden besonderen Gegenstände, wie immer ihr Inhalt sein und wodurch sonst sie als inhaltlich einheitliche Gegenstände konstituiert sein mögen, notwendig verknüpft.“ (Hua XI, 127) Hierbei gilt es hervorzuheben, dass die Zeitanalyse prinzipiell vom Inhalt absieht: Sie ist von vornherein eine abstraktive Leistung, die darauf abzielt, „die notwendige Zeitform aller einzelnen Gegenstände und Gegenstandsvielheiten“ zu bestimmen (Hua XI, 128). Um dem Zeitbewusstsein in seiner vollen Konkretion gerecht zu werden und um die Genesis der Gegenständlichkeit in ihrer Vollständigkeit zu verfolgen, ist es deshalb erforderlich, eine Analyse durchzuführen, die auch den Aspekt des Inhaltlichen in Erwägung zieht, weil das Zeitbewusstsein immer Bewusstsein eines zeitlichen inhaltsbestimmten Gegenstandes ist (Hua XI, 128). Berücksichtigt man die Inhalte, so ist es möglich, verschiedenartige Formen der Assoziation auszuweisen, die im Rahmen der zeitlichen Synthesis stattfinden. Inhaltlich betrachtet ist die Synthesis der Homogenität die allgemeinste. Auch diese Art der Synthesis, die den zeitgeformten gegenständlichen Inhalt betrifft, ist nicht nur transzendental, sondern auch „apodiktisch notwendig für die Genesis einer Subjektivität (die auch nur in Genesis denkbar ist).“ (Hua XI, 125) Hier ist vorauszuschicken, dass eine innere Verwandtschaft der zu den jeweils unterschiedlichen Sinnesgebieten gehörigen Inhalte festzustellen ist. Jedes Sinnesfeld ist einheitlich für sich: „Alles Visuelle ist durch visuelle Homogenität verbunden, alles Taktile durch taktile, Akustische durch akustische Homogenität usw. In einem weitesten Sinn sprechen wir von einheitlichen Sinnesfeldern. Eines und das andere ist heterogen, danach nur durch die Zeitlichkeit der lebendigen Gegenwart vereint.“ (Hua XI, 138)
Aus dem Gesagten ergibt sich — und das muss als Leitsatz für die Analyse der passiven Synthesis festgehalten werden —, dass formal betrachtet die zeitliche Synthesis die ursprünglichste Assoziation darstellt,
Lokalität oder das Feld der Tastdaten — erfüllen diese Funktion der Ordnung der Koexistenz (Hua XI, 139).
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während inhaltlich betrachtet die Synthesis der Homogenität die elementarste und fundierende ist. Es gilt zu betonen, dass sowohl die formalen als auch die inhaltlichen Assoziationen zustande kommen, ohne dass das Ich in Anspruch genommen wird. Die inhaltliche Assoziation wird sowohl im Hinblick auf Koexistenz als auch auf Sukzession untersucht. Als Ausgangspunkt für die Analyse der inhaltlichen Assoziation gilt die Abhebung von immanenten hyletischen Daten, wie z. B. im visuellen Feld die konkreten Farbendaten, die als koexistent bewusst sind. Die inhaltlichen, einander ähnlichen und koexistenten Daten haben eine bewusstseinsmäßige Einheit, die Einheit der Verwandtschaft (Hua XI, 129). Die abgehobenen immanenten Daten gruppieren sich vermöge ihrer Ähnlichkeit (ebd.). Die Verwandtschaft zwischen den Daten kann je nachdem stärker oder schwächer sein. Bezüglich der Verbindung der Homogenität ist Gleichheit der Fall der vollkommensten Verwandtschaft. Das Verhältnis der Homogenität, das inhaltlich verwandte Daten miteinander verbindet, wird noch deutlicher — auffälliger hinsichtlich der kinetischen Betrachtung bzw. der Sukzession — im vergleichenden Übergang von Verwandtem zu Verwandtem. Das Neue erweist sich hier als Wiederholung. In der folgenden Textstelle kommt ein fundamentaler Aspekt der genetischen Phänomenologie zur Sprache. Die Konstitution der Gegenständlichkeit wird zur einer geschichtlichen Konstitution, indem das Neue mit dem Vergangenen unmittelbar und konkret verglichen wird: „Das neue Gleiche gibt sich in solchem Übergang als ,Wiederholung’ desselben. Nicht ebenso das bloß Ähnliche, aber es tritt doch auch im Ähnlichen in gewisser Weise ein Selbiges hervor. Im Vergleichen findet eine Art Überschiebung des einen Bewusstseins über das andere statt, durch Übergehen erhält sich das eine Bewusstsein, trotz der Modifikation, die es durchmacht, als Bewusstsein vom selben ersten Gegenstand und kommt mit dem zweiten Bewusstsein, dem von dem zweiten Gegenstand, zu einer Deckung, im Fall der Gleichheit zu einer Kongruenz.“ (Hua XI, 130).
Im Übergang von Verwandtem zu Verwandtem kommt eine Überschiebung des ersten Bewusstseins über das zweite Bewusstsein zustande: Einerseits besteht in diesem Prozess ein Identitätsbewusstsein vom WasGehalt, von demselben Inhalt, der voll kongruierend ist, während sich andererseits ein Bewusstsein der Zweiheit zeigt, wobei die Besonderungen, die dieses gemeinsamene Etwas charakterisieren, im Widerstreit
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stehen. Der Widerstreit zwischen den Besonderungen nimmt die Form eines wechselseitigen Verdrängens an: „Das Verdrängen besagt, dass eins das andere verdeckt, dass das Verdeckte zur Aufdeckung tendiert, durchbrechend dann das vordem Aufgedeckte verdeckt usw. So, wenn wir ein rotes Quadrat und ein blaues zur Überschiebung bringen.“ (Hua XI, 130) Im Husserliana-Band XI werden verschiedene Arten der passiven Synthesis voneinander unterschieden: 1. Die Deckung ohne Streit oder Kongruenz, nach der sich eine inhaltliche Verschmelzung zeigt, die nichts mehr von Zweiheit oder von Sonderung hat (Hua XI, 131 f.). Im Hinblick auf die Synthesis der Sukzession wird die innere und kontinuierliche Verschmelzung einer abgehobenen Einheit als Konkreszenz bezeichnet. Jedes abgehobene Datum „hat in sich selbst einen inneren synthetischen Aufbau, und zwar ist es in sich selbst eine Kontinuität der Folge.“ (Hua XI, 140) 2. Die Deckung par distance, die zwei immanente Daten wegen ihrer Ähnlichkeit (z. B. beide sind Dreiecke, in unterschiedlicher Farbe) vereinigt. Auch hier ist „etwas von Verschmelzung da, aber nicht reine Verschmelzung und Einheitsbildung, sondern Einheit als Voraussetzung, als Boden einer Verdeckung, und damit von Verdrängung und Durchbruch.“ (Hua XI, 131) Es ist wichtig zu bemerken, dass in der Deckung par distance der Anfang der inneren Besonderung und damit die Voraussetzung für die Explikation innerer Merkmale in der Aktivität liegt (Hua XI, 133). Bezüglich dieses Phänomens wird die Husserl’sche These besonders ersichtlich, nach der die passive Synthesis die aktive vorbereitet. 3. Im Phänomen der Steigerung zeigt sich eine innere Deckung zwischen den zwei betreffenden Daten: Das Mindere wiederholt sich nicht einfach im Gesteigerten: Es ist dasselbe und doch noch mehr (Hua XI, 136). Als Beispiel wird eine Dreiecksreihe angeführt, deren Größenordung stetig ansteigt. 4. Die Analyse der passiven Synthesis ist vom Phänomen der Abhebung ausgegangen. Die Vertiefung der Abhebung streicht einen wichtigen Aspekt heraus: das Kontrastphänomen. Die Abhebung ist dadurch bestimmt, dass sich etwas durch Kontrast von seinem Hintergrund unterscheidet:
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„Jedes in einem Feld für sich Abgehobene ist von etwas abgehoben in ebendiesem Feld. [ ] Für die Einheitsbeziehung eines abgehobenen Datums und desjenigen, von dem es sich abhebt, haben wir noch einen anderen besonders brauchbaren Ausdruck: Kontrast [ ]. Zu einer homogenen Gruppenmehrheit gehört beides, konkrete Verschmelzung und Kontrast: Die Mehrheitsglieder sind ein jedes für sich durch Kontrast, aber nicht gegeneinander; miteinander sind sie ja besonders einig durch kontrastlose Verschmelzung, z. B. rote Flecken auf einem weißen Grund.“ (Hua XI, 138 f.)
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ein innerer Zusammenhang zwischen der Abhebung, der Konkreszenz und dem Kontrast besteht. Nur durch Kontrast vom Hintergrund kann etwas zur Abhebung kommen. Das abgehobene Datum definiert sich dadurch, dass es sich von Phase zu Phase bzw. „vermöge und in“ der Kontinuität der Dauer konstituiert (Hua XI, 140). Wenn man darauf aufmerksam macht, dass die oben erwähnten verschiedenartigen Assoziationen in den unterschiedlichen Sinnfeldern gleichzeitig zustande kommen, wird deutlich, dass sich hier eine Dimension bekundet, die prinzipiell über die Evidenz der Intentionalität hinausgeht: Die Assoziation entzieht sich nicht nur der Aktivität, sondern auch in vielerlei Hinsicht dem Blick des Ich. Die Mannigfaltigkeiten der Synthesis in ihrem lebendigen Fungieren und ganzen Ausmaß können nicht zur Erscheinung gebracht werden, sondern sie machen die unumgängliche Grundlage für jede Art von Erscheinung aus. Vergleicht man die oben erwähnten Phänomene der Assoziation mit dem Schema Auffassung–Auffassungsinhalt, wobei etwas undifferenziertes Hyletisches seine Gestalt durch die aktive Auffassung des Ich erhält, dann kommt deutlich die Tragweite und die Radikalität der genetischen Phänomenologie zum Vorschein. Abschließend möchte ich auf die komplexe Beziehung zwischen statischer und genetischer Phänomenologie zurückgreifen, die m. E. in der Husserl-Forschung zu Missverständnissen führte. In Derridas Schrift Genèse et structure wird die These vertreten, dass die genetische Betrachtungsweise die statische vertieft, ohne sie jedoch in Frage zu stellen: „Et pourtant ce passage [von einer statischen zu einer genetischen Phänomenologie] est encore un simple progrès, qui n’implique aucun ,dépassement’, comme on dit, encore moins une option et surtout pas de repentir. C’est l’approfondissement d’un travail qui laisse intact ce qui a été découvert, un travail de fouille où la mise au jour des fondations génétiques et de la productivité originaire non seulement n’ébranle ni ne ruine aucune des structures superficielles déjà exposées, mais encore fait apparaître
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à nouveau des formes eidétiques, ’des apriori structuraux’ — c’est l’expression de Husserl — de la genèse elle-même.“ (Derrida, 1967, 231, dt., 225)
Nach Derrida wäre für Husserl dasselbe Problem einer Alternative zwischen Genesis und Struktur nicht sinnvoll, weil einige Sachverhalte — wie z. B. die Hyle oder das Telos — eine genetische Betrachtungsweise verlangen, während andere Phänomene eine statische Vorgehensweise fordern.36 Während Derrida die Inkommensurabilität zwischen genetischer und statischer Phänomenologie hervorhebt, ist Steinbock hingegen davon überzeugt, dass die genetische Vorgehensweise die Ergebnisse der statischen Analyse in Frage stellt. In dieser Perspektive zeigt sich eine Überwindung der statischen Phänomenologie durch die genetische. Die statischen Strukturen werden durch die genetische Betrachtungsweise aufgehoben: „For example, is it not true that through genetic analyses the hyle/morphe distinction peculiar to a static model of constitution is seriously called into question, implying a surpassing by more nuanced descriptions of constitution: the phenomenology of association, the process of habitualization, sedimentation, reactivation, and the fundamental role of horizons in the constitution of the sense?“ (Steinbock, 1995, 265)
Sowohl die Auslegung von Derrida als auch die von Steinbock missverstehen m. E. die Beziehung zwischen genetischer und statischer Phänomenologie, indem sie ihren Wechselbezug nicht anerkennen. Die Interpretation Derridas verfälscht insofern den Sinn der genetischen Phänomenologie, als sie den Eindruck erweckt, dass die genetische Betrachtungsweise ausschließlich charakteristisch für einen begrenzten Bereich der Phänomene ist, die durch eine eigentümliche Bewegtheit gekennzeichnet sind. Die genetische Phänomenologie betrifft hingegen jedes Phänomen: Jede Apperzeption, jeder Gegenstand hat eine Geschichte hinter sich, die zur Gegebenheit gebracht werden kann (Hua XI 345). Steinbocks Perspektive übersieht die Verankerung der 36
„Et si l’on avait exposé ex abrupto la question ‘structure ou genèse’ à Husserl, je gage qu’il eût été très étonné de se voir convoqué à un tel débat ; il aurait répondu que cela dépendait de quoi l’on entendait parler. Il y a de données qui doivent se décrire en termes de structure, d’autres en termes de genèse.“ (Derrida, 1967, 231, dt. 225)
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genetischen Vorgehensweise in der statischen Analyse. Es ist in der Tat unbestreitbar, dass Husserl durch eine genetische Analyse zu Phänomenen gelangt, die über die Korrelation zwischen Noesis und Noema hinausgehen, aber gleichzeitig dient diese Korrelation als Leitfaden. Es ist nicht nur wahr, dass jede Konstitution Resultat einer Genesis ist, sondern auch, dass dieselbe genetische Untersuchung aus Wesensgründen die Ergebnisse statischer Konstitution voraussetzt. Um der Beziehung zwischen statischer und genetischer Phänomenologie gerecht zu werden, ist es demnach erforderlich, sowohl ihre möglichen Spannungen als auch ihren notwendigen Wechselbezug bzw. ihr Ineinandersein zum Vorschein zu bringen: Einerseits geht die genetische Betrachtungsweise von dem Konstituierten aus, nimmt das Ergebnis der statischen Konstitution (die transzendental reduzierte Gegenständlichkeit) als Leitfaden, andererseits eröffnet sie durch die Rekonstruktion der Geschichte des Konstitutionsprozesses bzw. durch die Analyse der zeitlichen und inhaltlichen Synthesis usw. neue Wege und Zugänge für die Phänomenologie, indem sie auf Phänomene stößt — wie z. B. die Affektion —, die mit einer statischen Betrachtungsweise nicht in Einklang zu bringen sind. Bevor ich mich mit der Thematik der Affektion befasse, um einen weiteren Aspekt der Passivität hervortreten zu lassen, möchte ich auf die Problematik des Ich zurückkommen. Im Folgenden werde ich versuchen, die Umwandlung des Ich-Begriffes zu zeigen, die aus einer genetischen Betrachtungsweise folgt.
2. Der Ausweis des Ich in voller Konkretion durch die genetische Betrachtungsweise In den Cartesianischen Meditationen behauptet Husserl, dass die systematische Analyse des konkreten Ego, und zwar als Monade, außerordentliche Schwierigkeiten mache (Hua I, 107). Die Phänomenologie hat tatsächlich den Zugang zur Erforschung des konkreten Ich und der synthetischen Funktion der Assoziation sehr spät gefunden (Hua I, 113). Das Problem der Genesis entsteht, wenn die folgenden Fragen gestellt werden: Vorausgesetzt, dass das Universum des Apriori eine unendliche Mannigfaltigkeit von Erlebnissen einschließt, wie verhalten sie sich zueinander?
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Sind alle Erfahrungen kompossibel? In welche Ordnung sind die unterschiedlichen noetischen Akte zu setzen? Um die Problemstellung deutlich zu machen, verweist Husserl auf das folgende Beispiel: Die wissenschaftliche Tätigkeit, wie z. B. das Philosophieren, setzt ein vernünftiges Ego voraus, das eine genetische Entwicklung hinter sich hat. Die Vernunftaktivität des wissenschaftlichen Theoretisierens ist eidetisch betrachtet dem Kind vorenthalten.37 Anders gesagt: Diese komplexe Aktivität ist durch eine Gesetzmäßigkeit bestimmt, die mit der Geschichte des Ego eng zusammenhängt. Die genetische Phänomenologie zielt eigentlich darauf ab, die Geschichte des Ego und seiner synthetischen Funktionen hervorzuheben, Funktionen, die sich durch Wiederholung sedimentieren, zur Habitualität werden und als Grundlage für weitere Akte und Assoziationen gelten. Sie versucht, das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Formen von Apperzeptionen (wie z. B. das kindliche und das wissenschaftlich-theoretische Leben) zu verdeutlichen, indem sie aufzeigt, wie ein Bewusstsein aus dem anderen entsteht. Es wurde schon festgestellt, dass in einem genetischen Zusammenhang die zeitliche Synthesis als die allgemeinste und elementarste Form der Genesis anerkannt wird. Innerhalb dieser universalen Form „verläuft das Leben als ein motivierter Gang besonderer konstituierender Leistungen mit vielfältigen Motivationen und Motivationensystemen, die nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Genesis eine Einheit der universalen Genesis des ego herstellen. Das ego konstituiert sich für sich selbst sozusagen in der Einheit einer ,Geschichte’ [ ].“ (Hua I, 109) Wenn man die Entwicklung einer Monade als konkretes Individuum untersucht, dann muss man feststellen, dass der Gehalt eines späteren Zeitstückes und jeder Zeitphase an ihrer Stelle der Dauer nicht ohne die früheren sein kann (Hua XIV, 12): „Die Apperzeption, die an einer Stelle ansetzt, ist eben an dieser und an keiner anderen motiviert und trägt in sich selbst den unabtrennbaren Stempel einer Genesis in sich.“ (Hua XIV, 12) Um den Unterschied zwischen einer genetischen und einer statischen Untersuchung des Ich-Begriffs deutlich zu machen, 37
„Eidetische Fassung meines kindlichen Lebens und seiner konstitutiven Möglichkeiten schafft einen Typus, in dessen Fortentwicklung, aber nicht in dessen eigenem Zusammenhang der Typus wissenschaftliches Theoretisieren auftreten kann.“ (Hua I, 108)
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können wir auf Husserls Cartesianische Meditationen zurückgreifen. In den ersten drei Meditationen findet keine Thematisierung des Ich als solche statt. Husserls Analyse beschränkt sich darauf, die Korrelation zwischen Noesis und Noema zu erforschen. Eine solche Korrelation wird komplexer, wenn nicht nur die Polarisierung des Objektes, sondern auch die des Subjektes in Erscheinung tritt. Dadurch zeigt sich eine zweite Art von Synthesis, „die die besonderen Mannigfaltigkeiten von cogitationes alle insgesamt und in eigener Weise umgreift, nämlich als solche des identischen Ich, das als Bewusstseinstätiges und Affiziertes in allen Bewusstseinserlebnissen lebt und durch sie hindurch auf alle Gegenstandspole bezogen ist.“ (Hua I, 100) Hierbei kommt die Konfiguration des Ich als identischer Pol, die im Kapitel I umfassend behandelt worden ist, zum Zuge. In § 32 fügt Husserl jedoch eine wesentliche Präsizierung hinzu, und zwar, dass ein solches zentrierendes Ich nicht als leerer Identitätspol, sondern als Substrat der Habitualitäten zu betrachten ist: Vermöge einer Gesetzmäßigkeit der „transzendentalen Genesis“ gewinnt das Ich „mit jedem der von ihm ausstrahlenden Akte eines neuen gegenständlichen Sinnes eine neue bleibende Eigenheit.“ (Hua I, 100) Die von mir getroffenen Entscheidungen, meine Überzeugungen, meine Ziele spielen als bleibende Habitualitäten eine herausragende Rolle bei der Konstitution meiner Identität: Sie bestimmen meinen persönlichen Charakter. Hierbei gilt es zwei Aspekte des Aktes „Entscheidung“ streng auseinanderzuhalten. Zum einen hat eine Entscheidung einen individuellen und zeitlich begrenzten Charakter. Als zeitlicher Vorgang unterliegt sie retentionalen Modifikationen und rückt allmählich in eine immer fernere Vergangenheit. Zum anderen bleibt sie fortdauernd geltend, solange ich sie nicht durchgestrichen habe: „Ich bin hinfort der so Entschlossene, und solange, als ich den Entschluss nicht aufgebe. [ ] Ich selbst, der in meinem bleibenden Willen Verharrende, ändere mich, wenn ich Entschlüsse oder Taten durchstreiche, aufhebe.“ (Hua I, 100/1)
Dadurch konstituiert sich das stehende und bleibende personale Ich.38 38
„Solange sie [die Überzeugung] für mich geltende ist, kann ich auf sie wiederholt ,zurückkommen’ und finde sie immer wieder als die meine, die mir habituell eigene, bzw. ich finde mich als das Ich, das überzeugt ist — durch diesen bleibenden Habitus als verharrendes Ich bestimmt ist.“ (Hua I, 100)
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In § 33 wird dazu eine weitere Bestimmung des Ich eingeführt: Das in voller Konkretion genommene Ego oder die Monade. Zunächst möchte ich darauf aufmerksam machen, dass der Begriff von Monade zwei unterschiedliche Interpretationen erlaubt, eine sozusagen engere und eine andere weitere. Es ist unbestreitbar, dass die Monadologie bei Husserl vor allem im Zusammenhang mit der Intersubjektivitätsproblematik steht.39 In vielen Texten bezieht sich der Begriff der Monade allerdings nicht nur auf das Verhältnis zum Anderen, sondern auf die gesamte Fülle des intentionalen Lebens: „Da das monadisch konkrete ego das gesamte wirkliche und potentielle Bewusstseinleben mit befasst, so ist es klar, dass das Problem der phänomenologischen Auslegung dieses monadischen ego (das Problem seiner Konstitution für sich selbst) alle konstitutiven Probleme überhaupt in sich befassen muss.“ (Hua I, 103, m. H.)
In diesem Sinne lässt sich die Monade mit dem Begriff des Ich in voller Konkretion identifizieren.40 Bevor ich auf eine nähere Bestimmung des Ich als Person und des Ich in voller Konkretion eingehe, möchte ich bezüglich des Unterschieds zwischen statischer und genetischer Phänomenologie eine kurze methodische Bemerkung machen: Während die erste Bestimmung des Ich als Ichpol in die statische Phänomenologie fällt, impliziert das Ich als Person schon eine genetische Betrachtungsweise, die sich jedoch im Reich der Aktivität des Ich (Überzeugungen, Entscheidungen usw.) erschöpft. Im Hinblick auf die Genesis seiner eigenen Geschichte umfasst das Ich in voller Konkretion dagegen jede Form der Synthesis (auch die passive).41 Dadurch wird das Ich „als ein unendlicher, in der Einheit universaler Genesis verknüpfter Zusammenhang von synthetisch zusammengehörigen Leistungen verständlich.“ (Hua I, 113) 39
Vgl. dazu Thyssen, 1953; Meist 1980; Richir, 1990, insbes. 158 ff.; Kaehler, 1995. Bezüglich der Identität zwischen dem Begriff der Monade und dem des Ich in voller Konkretion vgl.: Hua I, 107; Hua XIV, 53; Hua XIV, 10; Hua XV, 375. 41 Der Begriff der Monade wird mehrmals in Zusammenhang mit den Phänomenen der passiven Synthesis gebracht: „Die Monade ist eins, und zwar ein Ich, das in der monadischen Zeit identisch ist in seinen notwendig wechselnden Akten, in seinen wechselnden Affektionen, in seinen wechselnden Bewusstseinsweisen, darunter den spezifisch erfahrenden Erscheinungsweisen, in seinen passiven (nicht vom Ich her entquellenden) Assoziationen, Verschmelzungen, etc.“ (Hua XV, 375, m. H.) 40
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Im Folgenden versuche ich — vor allem in Abgrenzung zur Bestimmung des Ich als Ichpol — die Eigentümlichkeiten der anderen beiden oben dargestellten Auffassungen des Ich zu beleuchten. Im Zusammenhang mit dem Ich als Substrat der Habitualitäten entsteht phänomenologisch betrachtet das Problem der Individualität der Monade, und zwar das Problem der Person. Die Person bekundet sich nicht in der Sphäre der Passivität (Lust- oder Schmerzgefühle, Triebe oder in der passiven Doxa), sondern in der aktiven doxischen Erwägung und Entscheidung, „im aktiven Denken und allen intellektiven Tätigkeiten“ (Hua, XIV 20–21). Man kann Person sein, sofern man nicht nur bleibende Apperzeptionen hat, die die Welt als einstimmiges Wahrnehmungsgebilde konstituieren, sondern auch „selbsterworbene, selbsttätig gewonnene Überzeugungen, durch tätige Stellungnahmen vom Ich her, bleibende Wertungen, bleibenden Willen in dem Sinn, dass für mich selbst konstituiert ist dieses Identische: diese Überzeugung z. B., dass die Idee des Deutschen mir Pflichten auferlegt, dass ich ihr genugzutun habe, dieser bleibende Wille, diese feste Willensrichtung, ihr wirklich genugzutun etc.“42 (Hua, XIV, 196) Ich kann dasselbe identische Ich nur bleiben, wenn ich mich unter gegebenen Umständen in gewisser Weise verhalten würde (Hua XIV, 31). Wenn sich meine Überzeugungen, meine Entscheidungen oder mein Verhalten dramatisch ändern würden, würde ich auch meine Individualität verlieren. Es ist zu betonen, dass die Analyse der Individualität notwendigerweise die Intersubjektivitätsproblematik mit einbezieht. Husserl behauptet sogar, dass der Ursprung der Personalität in der Einfühlung und in den sozialen Akten, die aus der Einfühlung stammen, liegt (Hua XIV, 175): „Es genügt nicht zur Personalität, dass das Subjekt seiner selbst inne wird als Pol seiner Akte, sie konstituiert sich erst,
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„Die Person, als die Individualität einer Subjektivität, ist bezogen auf die Sphäre der spezifischen Aktivität in der Form des ego cogito. In der Mannigfaltigkeit dieses cogito entfaltet aber auch, entwickelt sich und wandelt sich (kehrt sich evtl. um) das eine und selbe ego als Individualität. Es ist eine Einheit, die sich, die Ichakte aus sich entwickelnd oder vielmehr aus sich heraus tätig vollziehend, dabei in eigener Weise konstituiert und für sich konstituiert, so dass sie sich selbst als individuelle Person in ebensolchen freien Akten (Axiosen, Stellungnahmen) kennenlernen kann als Einheitssubstrat von personalen Charaktereigenschaften.“ (Hua XIV, 18) Diesbezüglich vgl. Hua XV, 510.
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indem das Subjekt in soziale Beziehung tritt zu anderen Subjekten [ ].“ Das Ich wird zum personalen Ich durch die Ich-Du-Beziehung (Hua XIV, 171).43 Abschließend möchte ich einen „merkwürdigen“ Aspekt der Husserl’schen Freiheitslehre hervorheben, der im Zusammenhang mit der Individualität des Ich steht. Wir haben schon gesehen, dass jedes Sich-Entscheiden entweder urstiftender oder bloß wiederholender Akt ist: „Als urstiftender stiftet er mit der Entscheidung eine bleibende Entschiedenheit des Ich. Das Ich, das sich so entschieden hat, ist als Ich von nun ab ein anderes. In ihm hat sich etwas niedergeschlagen als seine verbleibende Bestimmtheit, und wenn nun das Ich das Urteil wiederholt, so ,aktualisiert’ es, verwirklicht es nur die Entscheidung, die von früher in ihm war, als seine bleibende Entschiedenheit.“ (Hua XI, 360).
Das personale Ich ist nach Husserl kein passiver Schauplatz von Erlebnissen, sondern frei: „Es entscheidet sich, wie es sich entscheidet, es kann sich aber auch anders entscheiden.“ (Hua XIV, 21) Eine solche Behauptung enthält jedoch die Gefahr, dass Freiheit mit Willkür verwechselt wird, als ob man sich für alles Beliebige entscheiden könnte. Um eine deutliche Trennung zwischen Willkür und Freiheit zu setzen, gelangt Husserl zur paradoxen Formulierung der „individuellen Notwendigkeit“ des freien Subjektes: „Ich, der ich bin (als der also, der ich war, ich als Ich dieses Erlebnisstromes, der bisher der seiende war, der jetzt aber in der dunklen unentwickelten Habitualität begraben ist), kann nur dies eine (jetzt) und muss dies eine. Ich habe vor mir das bestimmte ich will’ = ich werde’ als eine individuelle Notwendigkeit.“ (Hua XIV, 24)
Wenn das Ich als Ich-Pol völlig leer an Inhalt ist, hat es zum anderen „eine Eigenart in seiner Freiheit“. 43
„Mein als Ich, als Person Sein ist nicht nur Sein aus meinem primordialen Werden, sondern aus der kommunikativen Verflechtung mit dem Werden des Anderen.“ (Hua XV, 50, m. H.) „Fingieren wir ein Subjekt vor der Einfühlung, triebhaft eine Raumwelt konstituierend, so ist das keine Person. Auch wenn wir dazunehmen die Freiheit der Erwägung, die Suspension der triebhaften Realisierung, das Beste erwägend, beste Lustziele oder beste Wege (Sachlust und sinnliche Unlust, Lustdinge etc).“ (Hua, XIV 165) Da ich in Kapitel IV die Husserl’sche Intersubjektivitätstheorie systematisch behandeln werde, genügt es mir, an dieser Stelle bezüglich der Individualität des Ich die konstitutive Rolle des Anderen zu erwähnen.
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„Was für ein Ich überhaupt (eine leere Allgemeinheit, die im Spezifizierbaren keine Unterschiede zeigt) möglich ist, das ist verschieden, aber für jedes Ich ist gegebenenfalls nur eins möglich, und das ist für es also notwendig. Es gibt also für jedes Ich seine Notwendigkeiten, und Notwendigkeiten nicht der äußeren Bestimmung durch auferlegte äußere Regeln (empirisch zu erkennende Regeln), sondern innere Notwendigkeiten, einsichtige, als ,apriorische’ Möglichkeiten, die Wirklichkeiten bestimmen.“ (Hua XIV, 23)
Diese innere Bestimmung der Monade unterscheidet sich deutlich von der Notwendigkeit der in den äußeren Wahrnehmungen erscheinenden Objekte: Das freie Ich ist keiner überindividuellen Regel untergeordnet, so wie es z. B. für die hyletischen Daten gilt, wodurch alle Vereinzelungen eines Wesens (die grüne Farbe) als gleichberechtigte Möglichkeiten anzusehen sind. Die Monade ist dagegen kein beliebiger Zusammenhang in der Zeit. Husserl behauptet sogar, dass meine zukünftigen Entscheidungen a priori im Voraus bestimmt sind.44 Vorausgesetzt, dass ich einige Habitualitäten, Charaktere usw. gestiftet habe, ist es im Voraus bestimmt, wie ich mich — unter bestimmten Umständen — benehmen werde. Es ist offenkundig, dass eine solche Darstellung des Ich keineswegs der geschichtlichen, von der genetischen Phänomenologie eröffneten Dimension der Subjektivität gerecht wird: Man denke z. B. an jede Art von schöpferischen Antworten, die ein „Subjekt“ — sich selbst überraschend — auf eine bekannte Situation geben kann. Gehen wir jetzt zur Konfiguration des Ich in voller Konkretion über. Die Beschreibung von formalen und inhaltlichen Synthesen hat eine Dimension des Lebens ausgewiesen, die dem Ich vorausgeht. Die Assoziationen werden nicht vom Ich vollzogen: Niemand vollzieht stricto sensu die Synthesis. Im subjektiven Leben zeigt sich dementsprechend eine unaufhebbare Anonymität. Es wäre keineswegs zu gewagt zu behaupten, dass der Sinn sich aus sich selbst herausbildet. Gesetzt, dass mehrere Daten (Lichterreihe) eine innere Homogenität haben, kommt (aus sich selbst heraus) eine passive Assoziation zustande, die eine einheitliche Figur gestaltet. Die Bildung einer solchen Figur entsteht aus 44
„Nur wenn wir ein Ich als dieses Ich dieses Stromes (in diesem Jetzt) nehmen, ist a priori jede mögliche Entscheidung für jede im Strom auftretende Lage im voraus bestimmt, und für dieses Ich daher jede wirkliche Entscheidung bestimmt als eindeutig notwendig.“ (Hua XIV, 22)
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komplexen und passiven Phänomenen (wie Kontrast, Konkreszenz, Abhebung und zeitliche Synthesis). Die Husserl’sche Analyse ist somit zu einer Dimension vorgedrungen, in der sich dieselbe Differenz zwischen Subjektivem und Objektivem als sehr schwankend erweist. Es ist bekannt, dass Merleau-Ponty diesen Aspekt der passiven Synthesis bei Husserl mit Nachdruck hervorgehoben hat: „Eine passive Synthesis wäre ein Widerspruch in sich, bedeutete Synthesis Komposition, bestünde aber alle Passivität in bloßer Hinnahme — und nicht der Zusammensetzung — des Mannigfaltigen. Doch wollte die Rede von passiver Synthesis vielmehr sagen, dass in ihr das Mannigfaltige zwar von uns durchdrungen ist, gleichwohl aber nicht wir es sind, die seine Synthese vollbringen.“ (Merleau-Ponty, 1945, 487, dt. 485)
Merleau-Ponty hat versucht, die Ambiguität der passiven Synthesis mit Verweis auf die paradoxe Beziehung zu verdeutlichen, die zwischen dem Ich und der Zeit besteht. Als geboren bin ich — im Hinblick auf die Zeit — dem Zeitstrom ausgesetzt — und zwar völlig passiv. Nichtsdestoweniger kann ich mich dem Strömen der Zeit entgegensetzen, wie im Fall eines bindenden Entschlusses oder auch eines Versprechens. Passivität bedeutet hier „eine Belehnung, ein Sein in Situation, dem zuvor wir gar nicht existieren, das wir beständig aufs neue beginnen und das uns selbst erst konstituiert. Eine ein für allemal ,erworbene Spontaneität, die auf Grund des Erwerbs fortfährt, Spontaneität zu sein’ (Sartre, 1943, 195, dt. 201), genau das aber ist die Zeit, und genau das ist die Subjektivität.“ (Merleau-Ponty, 1945, 488, dt. 486) Um den Unterschied zwischen dem vorpersonalen Stadium des anonymen Lebens und dem Ichpol deutlich herauszustellen, gehe ich auf die Husserl’sche Beschreibung des Grenzphänomens der Ohnmacht ein, wie sie in Beilage XX von Hua XIV geliefert wird. Im Kapitel I wurde festgestellt, dass nach den Ideen I das transzendentale Subjekt durch eine Ich-Polarisierung bestimmt ist: Jedes Bewusstsein in der Monade ist Bewusstsein desselben identischen Ich (Hua XIV, 27). Meine vergangenen Erlebnisse zeigen sich nicht als bloßes Nacheinander von Gegenwarten im Vergangenheitsmodus: „Ich finde in jedem Zeitpunkt ein ,ich war so und so tätig’. Ich finde all die Tätigkeiten in diesem Zeitpunkt als zentriert eben in dieser Form cogito im identischen ego. Und ich finde für das Kontinuum der Zeitphasen und ihre Erlebnis– und Aktströme immerfort nicht nur die gleiche Zentrierung, sondern die Zentrierung in Beziehung auf dasselbe
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ego. [ ] Alles ist zentriert, aktuell und potentiell, alles ist für mich da, es ist mein Thema [ ].“ (Hua XIV, 28)
In diesem Sinne ist das Ich als qualitätsloser Pol von Akten zu betrachten, in denen es lebt (Hua XIV, 43). Was bei der Husserl’schen Analyse der Ohnmacht bemerkenswert erscheint, ist, dass hier das Ich als Ichpol ausgeschaltet wird. Wenn man in Ohnmacht gefallen ist, ist es unmöglich, ein polarisierendes, in seinen cogitationes lebendes Ich ausfindig zu machen. Eigentlich erscheint im Fall der Ohnmacht kein cogito mit seinem entsprechenden cogitatum. Das, was in der oben zitierten Textstelle als für mich da, als im identischen ego zentriert betrachtet wird, tritt im Phänomen der Ohnmacht nicht in Erscheinung. Dieses Grenzphänomen, in dem keine Abgehobenheit der immanenten Daten stattfindet, gehört jedoch zum Ich in voller Konkretion, zur Monade: „In der dumpfen, ,nackten’ Monade ist das Ich nicht reell vorhanden, als zentraler Pol, auf den alles bezogen wäre. Es gibt da eigentlich kein ,alles’, da alles eben verflossene Einheit ist. Doch fragt es sich, was das ,reell vorhanden’ sei; ob es eine bloße Potentialität sei usw. Aber jedenfalls musste es doch sagen, dass, wenn das Ich erwachte und eine Strecke seines vorgängigen Zustandes des Unbewusstseins erhaschen könnte, es sich nicht darin, nicht durch rückgewendete Reflexion finden könnte als zugehöriges gewesenes Ich.“ (Hua XIV, 53)
Man darf nur von Ich-Funktion sprechen, wenn es ein abgehobenes Erlebnis gibt: „Aber sicher ist doch dies, dass Selbstbewusstsein und abgegrenztes Erlebnis notwendig zusammengehen, nur wo abgehobene Erlebnisse [sind], da ist auch das Ich ,da’, vorgegeben, nicht nur erlebendes, sondern erlebtes Ich.“ (Hua XIV, 53, m. H.) Ausschließlich durch eine Reflexion, die von einem Gegenstand ausgeht, kann das Ich seiner selbst bewusst werden. Nur wo ein Gegenstand da ist, kann das Ich reflexiv erfassbar werden (Hua XIV, 53). Das Phänomen der Ohnmacht, wie auch z. B. der Schlaf, verweist auf eine Dimension, die für das Ich unzugänglich ist und dennoch zu ihm gehört. Diese Dimension lässt sich nicht polarisieren. In Kapitel V werde ich zeigen, dass die Grenzphänomene des Schlafes, der Geburt und des Todes das Prinzip der Zeitkontinuität in Frage stellen, indem sie als „Brüche der Anschaulichkeit“ zu betrachten sind. Diese Erfahrungen lassen eine Sphäre hervortreten, die nicht nur keine Evidenz, sondern — noch radikaler — keine Synthese erlaubt.
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3. Immanenz, passive Synthesis und die eigentümliche Diachronie der Affektion Im Zusammenhang mit der Problematik der Affektion und der passiven Synthesis gehe ich jetzt auf einen fundamentalen Aspekt der Husserl’schen Phänomenologie ein, der auf viel Kritik gestoßen ist: Die Immanentisierung der Erfahrung. Es ist wohlbekannt, dass der Begriff von Vergegenwärtigung bei Husserl alle intentionalen Akte einschließt, die sich auf einen Gegenstand beziehen, der nicht originär wahrgenommen ist. Die verschiedenartigen Vergegenwärtigungen wie Wiedererinnerungen, Phantasien und Fremdwahrnehmungen setzen immer eine originäre Wahrnehmung voraus. Lévinas geht über diese Interpretation der Vergegenwärtigung hinaus. In seiner Interpretation von Husserls Phänomenologie betrachtet er die Intentionalität als solche wie eine Form der Repräsentation: Was ursprünglich diachronisch ist, wird bei Husserl synchronisiert. Durch die Intentionalität wird dem Ichfremden und dem Ich „ein gemeinsames Maß“ untergeschoben. Indem das Ich den Anderen mit sich selbst identifiziert, wird es seiner Fremdheit nicht gerecht. Die Kritik von Lévinas hat eine gewisse Analogie zu der These Patocˇ kas, die in der Schrift Der Subjektivismus der Husserl’schen und die Möglichkeit einer ,asubjektiven’ Phänomenologie vertreten wird (Patocˇ ka, 1991). Die von mir festgestellte Analogie zwischen den zwei Philosophen darf jedoch nicht missverstanden werden. Die Ansätze von Patocˇ ka und Lévinas sind tatsächlich unter vielen Gesichtspunkten streng voneinander zu unterscheiden. Die Perspektive Patocˇ kas ist vor allem von Heideggers Philosophie, insbesondere nach der Kehre, beeinflusst, während Lévinas lediglich darauf abzielt, über die Ontologie hinauszugehen, um den ethischen Überschuss des Unendlichen und der Verantwortung für den Anderen aufzuspüren. Allerdings lässt sich hinsichtlich der Kritik an Husserl ein gemeinsamer Einwand identifizieren: Husserl manipuliert die Phänomene, indem er sie auf die Seite des Ich zurückführt. Dadurch werden die Phänomene von ihrem wilden, fremden Charakter künstlich getrennt. Durch die Rückführung des Sich-Zeigens auf das Ich kommt eine unberechtigte Zähmung des Äußeren ans Licht. Im Lauf der Arbeit werde ich zeigen, dass in der Phänomenologie Husserls wichtige Spannungen in Bezug auf die so genannte Immanentisierung der Erfahrung vorhanden sind: Die Immanentisierung stößt
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bei Husserl immer wieder auf Phänomene, die sie in Frage stellen bzw. gefährden. In diesem Abschnitt zielt mein Anliegen darauf ab, eine Sphäre hervortreten zu lassen, die prinzipiell nicht darstellbar oder vorstellbar ist. Auch im Sinne Lévinas’: Es besteht ein Überschuss des Phänomens über den intentionalen Sinn. Bevor ich auf diese Sphäre eingehe, möchte ich aber wieder auf Patocˇ ka zurückkommen. In dem oben genannten Aufsatz Der Subjektivismus der Husserl’schen und die Möglichkeit einer ,asubjektiven’ Phänomenologie wird genau gezeigt, wie Husserl die phänomenale Dimension vom SichZeigen in seinem Erscheinen entdeckt und gleichzeitig verdeckt hat. Die Verdeckung kommt durch eine subjektivistische Interpretation der phänomenalen Sphäre zustande. Eine solche Umdeutung des SichZeigens in seinem Erscheinen in die Immanenz hat eine komplexe Struktur. Sie hängt vor allem mit der Überzeugung Husserls zusammen, nach welcher ausschließlich der immanenten Erscheinung der Charakter einer absoluten Gewissheit und Selbstgegebenheit zugesprochen werden darf. Vorausgesetzt, dass die immanente Erscheinung bzw. das Erlebnis sich nicht abschattet, kann es sich absolut zeigen, in dem was es ist: „Man spaltet also zuerst die phänomenale Sphäre in zwei Momente auf — das Erscheinende in seinen Gegebenheitsmodi einerseits, die angebliche subjektive Grundlage dieses Erscheinens andererseits, man beschreibt diese letztere als Erlebnis, das dem reflexiven Blick gegeben ist, und schreibt schließlich diesem reflexiven Blick diejenige Evidenz zu, welche dem Zeigen und Sich-Zeigen des phänomenalen Feldes, der Erscheinung selber in ihrem Erscheinen eignet.“ (Patocˇ ka, 1991, 278)
Patocˇ ka findet es einerseits angebracht, eine Reduktion zu vollziehen, um zu vermeiden, dass die von Husserl hervorgehobene phänomenale Sphäre der Erscheinung auf die des Erscheinenden zurückgeführt und dadurch verzerrt werden könnte. Aber Husserl geht einen Schritt weiter: Anstatt das Erscheinungsfeld zu beschreiben, vollzieht er eine Reduktion auf die Immanenz: „Das Problem, ursprünglich gestellt als Problem des Nichtenthaltenseins der phänomenalen Sphäre in den Realitäten und Idealitäten, wird nun zum Problem des reellen Nichtenthaltensseins der Dinge in der subjektiven Sphäre der Erlebnisse umgebogen.“45 (Patocˇ ka, 1991, 279) Dadurch ist Husserl zur These einer universalen Korrelation
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zwischen Noesis und Noema gekommen, eine Korrelation, die sich paradoxerweise rein in der Immanenz abspielt. In dieser Korrelation wird von Patocˇ ka eine höchst problematische Verdoppelung der sinnlichen Daten hervorgehoben: Einmal werden sie als objektiv angesehen und in diesem Sinne gehören sie zum Konstituierten bzw. zum Noema. Ein anderes Mal werden sie als subjektiv betrachtet und demnach gehören sie zum reellen Bestand des Erlebnisses: „Husserl lässt dasselbe zweimal in geändertem Bedeutungszusammenhang auftreten.“ (ebd., 281) Diese Verdoppelung verdankt sich der These Husserls, dass die objektive Seite nicht durch die Charaktere der Gewissheit und der Selbsgebung gekennzeichnet ist. Marc Richir hat die Kritik Patocˇ kas in Bezug auf eine Immanentisierung der Erlebnisse bei Husserl aufgenommen und gleichzeitig revidiert. Einerseits teilt er die Meinung Patocˇ kas, dass Husserl mittels des cartesianischen Weges versucht hat, die Erfahrung dadurch zu repsychologisieren, „dass die Abschattungen in die Subjektivitätssphäre eingeschlossen werden.“ (Richir, 1992, 27, dt. 31) Das Husserl’sche Verfahren schließt das Erscheinende in die Subjektivität ein, „als ob die im Erlebnis für unterscheidbar gehaltenen Erscheinungen das Erscheinende vor dem Erscheinenden wären, reine Erscheinungen, die nur durch die Arbeit der aktiven Konstitution des transzendentalen Bewusstseins Erscheinungen des Erscheinenden würden“ (Richir, 1992, 30, dt. 34), „als ob das Erscheinen der Phänomene im transzendentalen Bewusstsein ein reines, noch nicht verdoppeltes oder noch nicht mit einem unerklärbaren Verlust wiederholtes Erscheinen mit der Positivität des als Äußerlichkeit Erscheinenden wäre, als ob es also ein Erscheinen als Selbst-Erscheinen vor dem Erscheinen gäbe, wobei die 45
Der Einwand Patocˇ kas wird von Klaus Held aufgenommen. Die Rückführung der Gegebenheiten auf die subjektiven Erlebnisse sei, nach Held, eine einseitige Interpretation: „Gewiss sind die Gegebenheitsweisen die Art, wie das intentionale Bewusstsein seine Erlebnisse vollzieht, aber ineins damit sind sie das Erscheinen-von-etwas, also Weisen des Sich-Zeigens, des Sich-Darbietens des Seienden selbst. Ihre Eigentümlichkeit lässt sich nicht angemessen befreien, wenn man die cartesianisch inspirierte Frage stellt, ob man sie der ,Außenwelt’ oder der ,Innenwelt’ des Bewusstseins zuschlagen soll. Sie sprengen diesen Dualismus; denn sie sind das Zwischen, das ursprünglich die Dimension des intentionalen Erscheinens eröffnet, worin sich Bewusstsein und Welt schon vor aller Subjekt-Objekt-Spaltung getroffen haben.“ (Held, 1985, 46 f.)
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gleiche Erschleichung zwischen dem Selbst-Erscheinen der ,Erlebnisse’ des Bewusstseins und dem Phänomen als solchem auftritt.“ (Richir, 1992, 33, dt. 37) Andererseits stellt Richir fest, dass Husserl durch die Analysen zur passiven Synthesis die Anonymität der Erfahrung anerkennt, eine Anonymität, die mit dem cartesianischen Ansatz einer Selbstgebung bricht, die an die Immanenz des Wahrnehmungserlebnisses gebunden ist. Die passive Synthesis immanentisiert keineswegs die Erlebnisse, sondern führt vielmehr zu einer phänomenologischen Anonymisierung des Subjekts.46 Die Anonymisierung der Phänomene findet m. E. eine weitere und fundamentale Vertiefung durch die phänomenologische Analyse der Affektion. Husserl stößt von vornherein auf große Schwierigkeiten bei der Beschreibung des Phänomens der Affektion. Einerseits versucht er, es auf die Kategorie Noesis und Noema zurückzuführen (z. B. Ms. C 10)47 , anderseits erkennt er an, dass zum Wesen der Affektion eine Zeitverschiebung gehört: Sie kann nur im Nachhinein wahrgenommen werden, nachdem sie eine gewisse Intensität erreicht hat. Die Affektion, die von Außen her kommt, entzieht sich demzufolge prinzipiell. Es ist eben kein Zufall, dass Husserl ausgehend von der Affektion eine phänomenlogische Analyse des Unbewussten entwickelt. Im Folgenden werde ich das Phänomen der Affektion vor allem im Hinblick auf den Husserliana-Band XI untersuchen. Im dritten Kapitel der Vorlesung zur „transzendentalen Logik“ aus dem WS 1920/21 thematisiert Husserl die komplexe Beziehung zwischen der passiven Synthesis (sowohl formal als auch inhaltlich) und der Affektion. Er definiert zuerst die Affektion als „den bewusstseinsmäßigen Reiz, den eigentümlichen Zug, den ein bewusster Gegenstand auf das Ich übt.“ (Hua XI, 148) Hier zeigt sich die Schwierigkeit, die den Sinn des Adjektivs „bewusstseinsmäßig“ betrifft. Im welchen Sinn ist die Affektion
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„Dieser dunkle Teil des Bewusstseins ist nicht eigentlich erscheinend — es sei denn nachträglich durch kohärente Verformung vom Konstituierten her — obwohl er wesentlich zum Erscheinen beiträgt. Erlebnis als Phänomen fungiert, aber wird nie zur Selbstgegebenheit.“ (Richir, 1992, 33, dt. 37) 47 „Die Affektion ist noetisch ein Modus der konstitutiven Intentionalität und noematisch ein Modus der intentionalen Einheit bzw. des Gegenstandes, der eventuell als seiender in einem Seinsmodus bewusst ist.“ (Ms. C 10, Mat. VIII, 193)
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bewusstseinsmäßig? In welchem Sinn ist das „Maß“ des Bewusstseins zu interpretieren? Eigentlich steht eben dieses Maß zwischen Bewusstsein und Ichfremdem zur Debatte, das ins Zentrum der Kritik von Lévinas und Patocˇ ka gerückt ist. Im Forschungsmanuskript C 16 wird das Adjektiv „bewusstseinsmäßig“ folgendermaßen definiert: „Das bewusstseinsmäßig besagt: zur urströmenden Gegenwart gehört das mannigfaltig einheitliche cogito, dessen cogitatum Welt ist bzw. die mannigfaltigen-einheitlichen cogitata der bewussten Welt als ihr Universum.“ (Mat. VIII, 353)
Wenn man eine solche Definition des Wortes „bewusstseinsmäßig“ in Betracht zieht, folgt aber daraus, dass nicht alle Reize stricto sensu bewusstseinsmäßig sind. In den Vorlesungen aus dem WS 1920/21 behauptet Husserl, dass das Bewusstsein sowohl abgehobene Gegenstände konstituiert als auch implizite, die nicht oder noch nicht zur Abhebung gekommen sind. Er unterscheidet ausdrücklich eine wirkliche Affektion von einer Tendenz zur Affektion, „als einer nicht leeren, sondern in Wesensgründen sachlich verwurzelten Potentialität der Affektion. Sinnliche Daten (und so Daten überhaupt) senden gleichsam affektive Kraftstrahlen auf den Ichpol, aber in ihrer Schwäche erreichen sie ihn nicht, werden nicht wirklich für ihn zu einem weckenden Reiz.“ (Hua XI, 149) Es ist außerdem hervorzuheben, dass immer eine Konkurrenz zwischen affektiven Tendenzen besteht: Sie streiten miteinander im Kampf um die Aufmerksamkeit des Ich, um es zur entsprechenden Aktivität zu bringen (E III 9, 4a). Wenn die Daten die Aufmerksamkeit des Ich wecken, beginnt der Konstitutionsprozess, indem man den Gegenstand immer näher betrachtet. In diesem Zusammenhang stellt Husserl fest, dass die Affektion ein Zug ist, der sich in der Zuwendung des Ich entspannt und sich von da aus im Streben nach näherer Betrachtung des Gegenstandes fortsetzt (Hua XI, 148 f.). Hinsichtlich der Interpretation der Beziehung zwischen Affektion und passiver Synthesis neigt Husserl zuerst dazu, der Affektion eine sekundäre, nicht ursprüngliche Rolle für die Konstitution der hyletischen Einheiten zu verleihen. Die Prinzipien hyletischer Gegenständlichkeiten machen Wesenbedingungen der Affektion aus. Die Konstitution bildet sich durch die passive Synthesis heraus. Diese artikuliert sich in der formalen Synthesis, die der Sukzession und der Gleichzeitigkeit, und in
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der inhaltlichen, die der Homogenität. Die Affektion tritt demnach ein, nachdem die Einheitsbildungen schon konstituiert sind. Husserl stellt jedoch diese Interpretation des Verhältnisses zwischen Einheitsbildungen und Affektion in Frage, da die Verschmelzung als solche die Affektion hinsichtlich der ursprünglich Einzelheit konstituierenden Gegenständlichkeit voraussetzt. Anhand dieses Zweifels an der oben gelieferten Interpretation versucht Husserl, die Beziehung zwischen Einheitsbildung und Affektion neu zu definieren. Hier geht er von einem ganz anderen Ansatz aus — von der Vorgegebenheit der Gegenstände: Wir sind zunächst von etwas affiziert. Die Leistung der hyletischen Passivität schafft für das Ich ein Feld vorgegebener Gegenständlichkeit, welche das Ich affektiv motiviert: „Vorgegeben ist irgendein Konstituiertes, sofern es einen affektiven Reiz übt, gegeben ist es, sofern das Ich dem Reiz Folge geleistet, aufmerkend, erfassend sich zugewendet hat. Das sind Grundformen der Vergegenständlichung. [ ] Affektive Einheiten müssen sich konstituieren, damit sich in der Subjektivität überhaupt eine Gegenstandswelt konstituieren kann.“ (Hua XI, 162, m. H.)
Husserl behauptet hier, dass jedes konstituierte Datum einen Reiz auf das Ich ausübt. Vorher haben wir gesehen, dass er noch einen Schritt weiter geht, indem auch nicht konstituierte bzw. nicht abgehobene Gegenstände Kraftstrahlen auf den Ichpol senden, ohne ihn erreichen zu können. Außerdem sei hierbei an die Gesetze der Fortpflanzung der Affektion erinnert, wonach durch Einstrahlen einer weckenden Affektion eine schon vorhandene schwache stark wird (Hua XI, 163). Zum Beispiel: Bisher haben wir kein Geräusch bemerkt, dann plötzlich tritt eine Steigerung der Lebendigkeit dieses schon vorhandenen Geräusches auf, die uns bewusst macht, dass es schon vorhanden war. Dadurch werden die intentionalen Modifikationen des Geräusches wieder erweckt, Modifikationen, die bisher nicht wahrgenommen wurden. Was zuerst unmerklich war, wird jetzt merklich. Dieses Phänomen wäre unmöglich, wenn nicht schon vorher etwas uns affiziert hätte.48 Ausge48
„Dass aber etwas affektive Kraft überhaupt gewinnen soll, wo nichts an dergleichen vorhanden war, dass etwas, das für das Ich überhaupt nicht da war, ein pures affektives Nichts, allererst zu einem aktiven Etwas werden soll, das ist eben nicht verständlich.“ (Hua XI, 163)
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hend von dieser Feststellung fährt Husserl fort, es läge sogar sehr nahe, „dass Affektion schon in der Konstitution aller Gegenständlichkeiten ihre wesensmäßige Rolle spiele, so dass ohne sie überhaupt keine Gegenstände und keine gegenständlich gegliederte Gegenwart wären.“ (Hua XI, 164) Die Affektion spielt in diesem neuen Licht eine fundamentale konstitutive Rolle, auch auf einer elementaren Ebene. Die verschiedenen Phasengehalte (z. B. die von einem Farbenfleck im Sehfeld) müssen eine Homogenität haben, damit eine Gegenstandskonstitution durch ihre Verschmelzung zustande kommen kann. Diese Verschmelzung der momentanen Phasengehalte, die noch nicht Gegenstände und doch nicht Nichts sind, setzt jedoch die Affektion voraus, oder besser gesagt, ist der Affektion unterworfen: „Demgemäß kehrt aber auch im Elementaren wieder das Problem der Affektion, und im besondern als Problem, ob nicht für das Zustandekommen schon jeder konstitutiven Synthese Affektion eine Wesensbedingung ist und ob nicht beides zusammenhängen muss: eine voraffektive Eigenart der Elemente, mit den ihr zugehörigen Wesensvoraussetzungen der Einheitsbildung, und die Affektion selbst. Also die Möglichkeit ist zu erwägen, ob alle die Verschmelzungen und Absonderungen, durch die gegenständliche Einheiten im Gegenwartsfeld werden, nicht einer affektiven Lebendigkeit bedürfen, um überhaupt werden zu können, und dass sie es vielleicht nicht werden könnten, wenn zwar die sachlichen Bedingungen der Vereinheitlichung erfüllt wären, aber die affektive Kraft Null wäre. Nur eine radikale Theorie, welche in gleicher Weise dem konkreten Aufbau der lebendigen Gegenwart und dem Aufbau der einzelnen Konkretionen selbst aus konstitutiven Elementen Genüge tut, kann das Rätsel der Assoziation und damit alle Rätsel des ,Unbewussten’ und des wechselnden ,Bewusstwerdens’ lösen.“ (Hua XI, 165, m. H.)
Dieser Textstelle zufolge kommen die Verschmelzungen in der hyletischen Einheit insofern zustande, als sie durch die affektive Kraft bestimmt sind. Wenn sich dasselbe in der elementaren Sphäre wiederholt, was sich auf der Konstitutionsschicht der schon konstituierten Gegenständlichkeiten abspielt, dann folgt daraus, dass die Affektion stricto sensu den affektiven Einheiten vorausgeht. Anders gesagt: Ausgehend von der Affektion bilden sich die Einheiten heraus. Dieser Sachverhalt wird deutlich, wenn wir noch einmal die Art und Weise berücksichtigen, wie sich das Ich auf das Affizierende im Hinblick auf die schon konstituierten Einheiten bezieht. Zunächst tritt eine Affektion ein, die von einem hyletischen Datum (z. B. einem Geräusch) ausgeht, welches das Ich nicht erhaschen kann. Nimmt seine Lebendigkeit zu, wächst
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zugleich auch der Reiz auf das Ich. Es gibt einen Reiz, der das Ich bis zu einem gewissen „Punkt“ bzw. mit einer schwachen, aber schon unterschwellig wahrnehmbaren Intensität berührt. Husserl verwendet einen sehr passenden Ausdruck für dieses Zwischenreich zwischen dem Unbewussten und der Erfassung: Das Datum (Geräusch) ist im Vorzimmer des Ich: „Genauer besehen ist aber schon vor der Zuwendung eine modale Änderung der Affektion eingetreten. Bei einer gewissen, unter den gegebenen affektiven Umständen wirksamen Stärke hat der vom Geräusch ausgehende Zug das Ich so recht eigentlich erst erreicht, es ist im Ich zur Geltung gekommen, sei es auch nur im Vorzimmer des Ich. Das Ich hört es nun schon in seiner Besonderheit heraus, obschon es noch nicht darauf hinhört in der Weise aufmerkender Erfassung.“ (Hua XI, 166)
In der Tat muss hinzugefügt werden, dass diese Beschreibung eine Vereinfachung des Phänomens darstellt, da das Ich nicht von einem Reiz, sondern von verschiedenen Reizen gleichzeitig „in seinem Vorzimmer“ affiziert wird.49 Diese Art von Affektion ist von dem Bereich zu unterscheiden, in dem die affektiven Tendenzen völlig unterschwellig bleiben. Wenn wir die verschiedenen Formen der Affektion bei Husserl betrachten, müssen wir drei verschiedene Ebenen auseinanderhalten: 1. Es gibt eine Dimension, in der eine Konkurrenz zwischen den affektiven Tendenzen besteht, die sich völlig unterschwellig abspielt, und zwar ohne dass das Ich sich dessen irgendwie bewusst ist. 2. Es gibt Affektionen, die das Ich in einem (schwachen) Grad berühren; die — wie gesagt — bis ins Vorzimmer des Ich vordringen. 3. Es gibt eine Affektion, die das Ich erweckt.
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„Es gibt also so etwas wie mögliche Konkurrenz und eine Art Verdeckung von affektiven Tendenzen durch besonders starke. Z.B. einzelne farbige Figuren, sich wohl abhebend, affizieren uns, zugleich Geräusche, wie Wagenrollen, Töne eines Liedes, abgehobene Gerüche u. dgl. Das alles zugleich, wobei das Lied insofern siegt, als wir ihm allein im Zuhören zugewendet sind. Aber das übrige reizt doch. Wenn aber ein gewaltiger Krach hereinbricht, wie von einer Explosion, so löscht er nicht nur die affektiven Besonderheiten des Gehörfeldes aus, sondern auch die aller anderen Felder. Was sonst zu uns sprach, wie wenig wir ihm zuhörten, das kann nicht mehr zu uns dringen.“ (Hua XI, 149 f.)
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Im letzteren Fall verwendet Husserl mehrmals das Wort „Antwort”: Das Ich antwortet auf die Affektion: „Zuerst eine steigende Affektion; der affektive Zug ist aber noch nicht vom Ich her ein Gegenzug, noch nicht eine auf den gegenständlichen Reiz antwortende Tendenz, die ihrerseits den neuen Modus der aufmerkend erfassenden annehmen kann.“ (Hua XI, ebd., m. H.) Hierbei ist es angezeigt zu betonen, dass die Antwort keineswegs im Sinne Lévinas’ zu interpretieren ist, so als sei ein Appell da, auf den wir antworten. Das Affizierende, das das Ich geweckt hat, fällt nicht in den Bereich der Intersubjektivität. Ich möchte deshalb darauf aufmerksam machen, dass die Antwort nicht in Zusammenhang mit dem Appell steht, weil sich in der letzten Zeit (vor allem in Frankreich) in der Husserl-Forschung eine Lesart durchgesetzt hat, wonach die fundamentale Rolle der Hyle innerhalb der letzten Konstitutionsschicht in den Vordergrund gerückt ist. Hinsichtlich der konstitutiven Funktion der Hyle wird vor allem die Ichfremdheit betont; Ichfremdheit, die mit der Intersubjektivitätstheorie in Verbindung gebracht wird, als ob diese Fremdheit irgendeinen Zugang oder ein Verhältnis zum Anderen hätte. Diese fundamentale Funktion der Hyle als Ichfremdes wird — nach diesem Interpretationsvorschlag — durch das von Husserl neu eröffnete Feld der genetischen Analyse entdeckt. Eine solche These lässt sich auch bei Derrida in Le problème de la genèse dans la philosophie de Husserl wiederfinden. Derrida behauptet: „La racine commune de ces trois thèmes [Objektivität der Erkenntnis, passive Synthesis und transzendentale Intersubjektivität] est encore mise au jour par Husserl qui définit la hylè originaire comme le noyau de l’alter ego.“ (Derrida, 1990, 239 f.)
Diese Perspektive wurde unter anderem von Didier Franck und Natalie Depraz weiterentwickelt. Franck vertieft diesen Ansatz in seinem Artikel La chair et le problème de la constitution temporelle, der auf den Ergebnissen der Schrift Chair et corps beruht.50 In diesem Artikel werden die hyletischen Daten auf die Empfindnisse zurückgeführt, Empfindnisse, 50
Es gilt hervorzuheben, dass Didier Frank sich in einer Zeit (Anfang der 1980er Jahre) in Frankreich mit der Husserl’schen Phänomenologie auseinandergesetzt hat, in der sie in Vergessenheit geraten war. Durch die Schrift Chair et corps wird Husserl in Frankreich wieder entdeckt.
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die eminenterweise das Phänomen der Leiblichkeit charakterisieren. Wenn man aber auf die Interpretation Francks aufmerksam macht, wonach sich bei Husserl die eigene Leiblichkeit nur ausgehend von der Leiblichkeit des Anderen konstituiert, folgt daraus, dass die Intersubjektivität auch innerhalb der letztkonstituierenden Schicht eine wesentliche konstitutive Rolle spielt.51 Natalie Depraz liefert ihre intersubjektive Deutung der Hyle in der Schrift Trascendance et incarnation. In Kapitel 5 („Naître à soi“) behauptet sie, dass es eine tiefere Konstitutionsschicht gibt, die demselben Unterschied zwischen Aktiv und Passiv vorangeht, wo die Hyle als Ichfremdes anzusehen ist. In dieser Konstitutionsschicht findet dieselbe urströmende Intersubjektivität ihren Ursprung.52 Ausgehend von der Urhyle, die als Ichfremdes betrachtet wird, konstituiert sich nach der Interpretation Depraz’ allmählich die Mitgegenwart der urströmenden Intersubjektivität und dann die durch die Appräsentation gegebene Kompräsenz. Obwohl eine solche „intersubjektive“ Interpretation der Urhyle im aktuellen Stadium der Phänomenologie sehr verlockend klingt — ein Stadium, das man nicht nur als postheideggersch, wie Richir es definiert hat, sondern auch postlévinasisch bezeichnen könnte —, verzerrt sie m. E. den Sinn der Husserl’schen Phänomenologie der passiven Synthesis. Dieses Missverständnis beruht auf einer Überinterpretation des Wortes „Ichfremdes“. In den Texten Husserls gibt es keine einzige Passage, in der die Fremdheit der Hyle mit der Fremdheit des Anderen 51
„Si, comme le montrent tous les textes husserliens, il ne peut y avoir de constitution purement égologique et propre de la chair, c’est que la relation à une autre chair est constituante du sens de la mienne propre. [ ] Nous pouvons désormais déterminer l’origine des limites de ma chair en tant que surface de localisation des Empfindnisse: ma chair reçoit ses limites d’une autre chair. C’est à dire que les sensations charnelles pures sont, elles aussi, altérées ou encore que toute sensation en général comme pure sensation de soi est aussi et originairement pure sensation de l’autre.“ (Franck, 1984, 149) 52 „La constitution génétique de la temporalité requiert un changement de sens de la hylé, qui doit devenir l’unité originaire de la distinction hylé/morphè tout en demeurant immanente à cette distinction. L’altérité à l’œuvre dans l’hylé ne sera donc ni l’altérité objectale ou transcendante, ni non plus l’altérité immanente retentionnelle, mais une altérité originaire au moi lui-même (Ichfremdheit), génétiquement motrice de la constitution intersubjective: ’la hylé originaire (Urhyle) est le noyau de l’étranger-au-moi (ichfremde Kern).’ (Hua Materialien, Ms. C 6, Mat. VIII, 110)“ (Depraz, 1995, 255).
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in Verbindung gebracht wird. Sowohl im Husserliana-Band XI als auch in den C-Manuskripten ist im Hinblick auf die affizierende Hyle von unerwarteten Lichtern, Geräuschen usw. die Rede. Sinnliche Daten bzw. Daten, die innerhalb der Sinnfelder wie des Seh- oder des Hörfeldes fungieren, „senden affektive Kraftstrahlen auf den Ichpol.“ (Hua XI, 149) Vom Anderen gibt es hier keine Spur. Und wenn man sich wie Depraz darauf beschränkt, die Untrennbarkeit zwischen Ich und Ichfremdem festzustellen, versteht man auch nicht, warum eine solche Behauptung innerhalb der genetischen Phänomenologie fallen soll. Wenn die Urhyle in einem genetischen Sinn eine konstitutive Rolle für das alter ego spielen würde, wäre es erforderlich, den genetischen Prozess des Entstehens einer Bewusstseinsweise aus der anderen ausweisen zu können. Wenn die Appräsentation der Vergegenwärtigung auf der Mitgegenwart der urströmenden seienden Intersubjektivität beruht und ihrerseits die Mitgegenwart in der Hyle als ichfremd genetisch fundiert ist, dann muss man imstande sein, die genetischen Übergänge von einem Phänomen zum anderen zu zeigen, so dass ersichtlich wird, dass ein Phänomen die Vorgegebenheit des anderen ist. Aus der Tatsache, dass ich den intersubjektiven Charakter der affizierenden Hyle verneint habe, ergibt sich nicht, dass sich in Bezug auf das Verhältnis zwischen Affektion und Antwort keine eigentümliche Fremdheit zeigen könnte, welche über die statische Korrelation zwischen Noesis und Noema hinausgeht. Hinsichtlich der Affektion behauptet Benoist: „L’affection, cela signifie la rencontre par le moi d’un noyau que lui est étranger, en fait strictement contemporain a lui et dont l’étrangéité est ce qui constitue le moi comme moi“ (1994, 22, m. H.). Man könnte an dieser Stelle fragen, ob im Gegensatz zu der Perspektive von Benoist nicht eine wesentliche Zeitverschiebung, eine Diachronie anstatt einer Synchronie bestehen muss, damit sich eine Fremderfahrung zeigt. Der Begriff „Fremdheit“ erschöpft sich keineswegs im Verhältnis zum Anderen.53 In der oben zitierten Interpretation von Depraz und von Franck wird die Hyle zuerst als Ichfremdes angesehen und dann ihre affizierende Funktion untersucht. 53
In diesem Sinne hat Waldenfels in Bruchlinien der Erfahrung verschiedene Verkörperungen der Fremdheit — wie die ekstatische, die duplikative, die extraordinäre und die liminale — genau unterschieden.
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Vielleicht ist es möglich, eine echte Fremdheit in einem phänomenologischen Sinn auszuweisen, wenn der umgekehrte Weg eingeschlagen wird: Wenn man vom Affizieren ausgeht, kann man vielleicht die Hyle als ichfremd betrachten. Sowohl in Bruchlinien der Erfahrung als auch in Phänomenologie der Aufmerksamkeit hat Waldenfels im Hinblick auf die Denkfigur der Urdiastase die wesentliche Zusammengehörigkeit zwischen Zeitverschiebung, Affektion und Fremdheit deutlich aufgezeigt. Die Fremdheit ist immer durch die Unzugänglichkeit charakterisiert: „Fremdheit besagt Zugänglichkeit in der eigentlichen Unzugänglichkeit, im Modus der Unverständlichkeit.“ (Hua XV, 635) Die Unzugänglichkeit nimmt die Gestalt der Zeitverschiebung an. Eine echte Fremdheit zeigt sich dann, wenn das, was uns getroffen hat, nicht mehr einholbar ist und vor dem Getroffensein nicht identifizierbar ist bzw. war. Die oben ausgeführte Analyse der Affektion im Husserliana-Band XI zeigt m. E. in vielen Hinsichten das Phänomen der Diachronie im Sinne Waldenfels’ auf. Aus dieser Perspektive besteht kein terminus a quo, der als solcher schon identifiziert wird und in die Korrelation Noesis und Noema fällt, sondern wir sind ursprünglich von etwas affiziert: Zuerst tritt nicht die Urhyle ein, sondern ihre Affizierung. Von dort aus beginnt der Prozess der Identifizierung oder der Objektivierung. Die Unterscheidung zwischen einer noematischen und einer noetischen Affektion versucht, dem Phänomen eine Korrelation unterzuschieben, die sich deshalb als unmöglich zeigt, weil die zwei „Seiten“ in Wahrheit nicht synchron sind. Die Synchronie, die Gleichzeitigkeit zwischen ichlicher und ichfremder Seite ist nur a posteriori ausfindig zu machen. Nur im Nachhinein, und zwar reflexiv, wird die Materie auf das Ich zurückgeführt (E III 2, 34a). Die Spannung zwischen einer durch eine echte phänomenologische Analyse entstandenen Bestimmung der Affektion und der Forderung nach einer reinen Immanenz zeichnet sich im Forschungsmanuskript E III 2 unter einem weiteren Gesichtspunkt ab. Die Forderung nach der Immanenz findet ihren paradigmatischen Ausdruck in der Ansicht, die eine Innerlichkeit des reinen Ich behauptet, bevor die Innerlichkeit als Kehrseite der Äußerlichkeit zu betrachten ist (Ms. E III 2, 24 b). Hierbei möchte ich nicht auf die prinzipielle Berechtigung dieser These eingehen, die eine Reihe von Fragen aufwirft (Wie kann eine Innerlichkeit ohne Äußerlichkeit sich zeigen? Wie kann eine Innerlichkeit sich
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konstituieren, die derselben Unterscheidung zwischen Außen und Innen vorangeht?, usw.), stattdessen bevorzuge ich, dem Gedankengang des Husserl’schen Textes zu folgen, um den problematischen Status eines solchen Ansatzes auszuweisen. Wenige Zeilen später behauptet Husserl überraschenderweise, dass innerhalb der oben genannten Innerlichkeit das affizierende Hyletische erscheint: „Innerhalb der Innerlichkeit das erste ,Ichfremde’, dem puren Ich vorgegeben, das Ich Affizierende (Reiz Ausübende): das Hyletische.“ (Ms. E III 2, 22a) Macht man auf die notwendige Vorgängigkeit der Affektion aufmerksam, dann macht das den Traum einer reinen Innerlichkeit zunichte: Nicht nur zeigt sich eine Kontamination zwischen Außen und Innen, sondern die vom Außen her kommende Affektion ist auch der „Ausgangspunkt“ des konstitutiven Prozesses. Husserl selbst behauptet ausdrücklich, dass das Ich insofern es selbst sein kann, als es Subjekt für eine Umgebung ist, die ihm schon vorgegeben ist: „Sofern es zum Wesen des Ich gehört, auf ein ihm Fremdes (in einem eigenen Sinn ,Äußeres’) angewiesen zu sein und reizbar zu sein. Sofern wir nicht sagen müssen, dass zu diesem Verhältnis wesentlich gehört Reize zu erfahren und Reize zu üben, nur dass nicht jeder Reiz das Ich ,bewegt’, ,motiviert’, ihm zu folgen, weil Reize mit Reizen in Streit treten, oder weil Reize von vorneherein eine Schwelle der ,Reizestärke’ haben müssen, um zu bewegen — sofern heißt das Subjekt rezeptiv. Rezeptivität betrifft also die vom Reiz auf das Subjekt gehende Tendenz, ,Anzeigung’.“54 (Ms. E III 2, 22a)
Bei der Analyse der Affektion zeigt sich also eine Dimension, die den Prozess der Immanentisierung in Frage stellt: Etwas Äußeres wird zum 54
Das Wort ,Rezeptivität’ bezeichnet bei Husserl zwei wesensunterschiedliche Phänomene. In der oben zitierten Textstelle lässt sich ,rezeptiv’ mit dem Phänomen des Getroffenseins identifizieren. Meistens verwendet Husserl jedoch ,rezeptiv’ im Sinne des leeren Bewusstseins. Diesbezüglich vgl. Holenstein, 1974, 208 ff. Zahavi thematisiert die Beziehung zwischen Rezeptivität und Affektion bei Husserl folgendermaßen: “Receptivity is taken to be first, lowest, and most primitive type of intentionality activity, and consists in responding to or paying attention to what which is affecting us passively. Thus, even receptivity understood as a mere ‘I notice’ presupposes a prior affection. It presupposes that which is now thematized was already affecting and stimulating the ego unheeded. To be affected by something is not yet to be presented with an object, but to be invited to turn one’s attention toward that which exerts the affection. If it succeeds in calling attention to itself, that which affects us is given, whereas it is only pregiven as long as it remains unheeded.“ (Zahavi, 1999, 116)
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Ausdruck gebracht, das — um den Ausdruck Lévinas’ zu verwenden — kein gemeinsames Maß mit dem Bewusstsein hat. a) Zum einen bleibt etwas Äußeres dem Bewusstsein immer entzogen, indem es unterhalb der Reizschwelle bleibt. Nicht alle Tendenzen sind für das Ich zugänglich: Das Ich kann nur auf sie antworten, wenn die Bedingung erfüllt ist, dass eine bestimmte Schwelle der Reizstärke erreicht wird. Diese Sphäre geht nicht nur der Triebintentionalität, bzw. dem Instinkt zur Objektivierung, voraus, sondern auch derselben passiven Synthesis. Husserl bezeichnet diese Sphäre konsequent als das Unbewusste. Die Affektionen können weder nach der formalen Synthesis der Sukzession und der Koexistenz zeitlich geordnet werden noch sich durch Kontrast abheben. Demnach können sie nicht durch Verhältnisse der Homogenität vereinheitlicht werden. Daher gelangen wir zu einer Sphäre, die uns vorausgeht und prinzipiell nicht vorstellbar oder darstellbar ist. Wie muss die Konkurrenz zwischen den affektiven Tendenzen gedacht werden, bevor sie eine hinreichende Intensität erreicht haben, um das Ich zu erwecken? b) Zum anderen kann aus Wesensgründen das Bewusstsein nur im Nachhinein der Affektion bewusst werden: Das Ich kann nur auf die Affektion antworten, wenn es schon von Außen her, von der Affektion getroffen worden ist. Das Ich ist dem Außen ausgesetzt, ohne es einholen zu können.55 In Bezug auf das Unbewusste ist es außerdem entscheidend, die „affektiven Tendenzen“ nicht mit dem Reservoir zu verwechseln, das aus den — in der zeitlichen Form der Urimpression und Retention — abgelaufenen Wahrnehmungen besteht. Das Unbewusste in der Form eines sedimentierten, aber nicht jetzt wahrnehmbaren Sinnes ist keineswegs identisch mit Affektionen, die noch nicht irgendeine Gestalt angenommen haben bzw. die prinzipiell keine Gestalt annehmen können.56
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Anhand der oben durchgeführten Analyse kann ich das Urteil Waldenfels’ nicht teilen, wonach immer der Eindruck bei Husserl bliebe, dass ein schon konstituierter Jemand etwas erleidet (Waldenfels, 2002, 37): In dem Band XI „fungiert“ das Affizieren, bevor ein Jemand sich konstituiert hat. 56 Wird diese affektive Dimension in Betracht gezogen, so verliert m. E. die Kritik Ricoeurs der Boden (Ricoeur, 1992, 123). Nach Ricoeur ist das Unbewusste in der
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Es ist ebenfalls zu beachten, dass die zeitverschobene Affektion nicht nur für die genetische Untersuchung der Gegenstandskonstitution — wobei es darum geht, die sich in den anonymen passiven Synthesen herausbildende Vorgegebenheit ausfindig zu machen, die zum Wesen jeder Gegenständlichkeit als solcher gehören —, sondern auch für die ursprüngliche Zeitigung des Ich eine herausragende Rolle spielt. Dies wird in den Manuskripten aus den dreißiger Jahren besonders ersichtlich (vgl. S. 211 ff.). Abschließend möchte ich eine letzte Bemerkung über die Rolle der Passivität in der Husserl’schen Phänomenologie machen. Es ist von größter Bedeutung zu betonen, dass der Begriff von Passivität der Subjektivität über den der passiven Genesis hinausgeht. Die genetische Betrachtungsweise ist als eine eigentümliche Art „Archäologie“ anzusehen, welche die sedimentierte Geschichte des Ich in ihrer Vielfältigkeit einzuholen versucht. Der Begriff der Passivität des Ich erschöpft sich jedoch nicht in einer Rekonstruktion seiner Geschichte, die in Analogie zu Leibniz’scher Philosophie steht, indem man regressiv zu einem immer dunkleren, unterscheidungsloseren, „schlafenden“ Zustand des Bewusstseins gelangt. In diesem Kontext steht die Passivität der Aktivität gegenüber. Husserl bringt jedoch eine Passivität zum Vorschein, die nicht auf eine regressive Betrachtungsweise angewiesen ist, sondern inmitten der Erfahrung auftaucht. Diese Passivität bezieht sich nicht auf ein schlafendes Ich, sondern im Gegenteil auf die höchste geistige Aktivität des Ich. Es gibt eine eigentümliche Passivität im reinen schöpferischen Tun: „Alles im höchsten Sinn schöpferische Tun hat einen wunderbaren Bewusstseinscharakter, der sich in der Reflexion mit den Worten ausspricht: Eigentlich tue ich gar nichts, es tut in mir, [ ] in herrlicher Vollendung und Zweckmäßigkeit ordnet sich Glied für Glied der Geisteskette, ich habe das bloße Zusehen, also ich bin passiv. [ ] Im höchsten Sinne schöpferisch zu sein, heißt, völlig passiv zu sein, bloß zuzusehen, wie ich dem Ziel entgegengetragen werde in einem Tun, das nicht mehr eigentlich meines ist.“ (Ms. A VI 5b)
Husserl’schen Phänomenologie deshalb nicht radikal gedacht, weil in ihr das, was jetzt aus Wesensgründen nicht wahrnehmbar ist, im Nachhinein zur Gegebenheit gebracht werden kann. In Bezug auf die affektiven Tendenzen zeigt sich dagegen eine Dimension, die grundsätzlich unzugänglich ist.
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Das Ich, das völlig von seinem Ziel hypnotisiert wird, verschwindet in dem, was es tut. Dieses Verschwinden des Ich deckt sich paradoxerweise mit der höchsten Form des Selbstbewusstseins und zwar mit der des philosophischen Denkens. Darüber hinaus ist eine andere Form der Passivität in Betracht zu ziehen, die im Zusammenhang mit einem neuen, auf der Phänomenologie beruhenden Sinn der Metaphysik steht. Hierin ist von der Irrationalität der Weltrationalität die Rede. Die Teleologie, welche die transzendentale Subjektivität charakterisiert, ist als solche ein „irrationales Faktum“. Wir empfangen dieses Faktum: Wir sind von dieser Konstitution durchzogen, ohne die Möglichkeit zu haben, sie zu verstehen. Die Tatsache, dass sich eine Weltkonstitution ereignet, geht über das Ich hinaus. Die Weltkonstitution spielt sich dementsprechend völlig passiv ab. Es ist kein Zufall, dass Husserl diesbezüglich von „Wunder“ spricht (Hua VII, 394).
KAPITEL III
DAS ICH ALS ABSOLUTES URFAKTUM
1. Die Mehrdeutigkeit der Faktizität Die folgende Analyse zielt darauf ab, die verschiedenen Bedeutungen des Faktums zu bestimmen und sie streng voneinander zu unterscheiden, damit ihre vielfältigen Funktionen deutlich hervortreten. Bevor ich mit dieser Analyse anfange, möchte ich jedoch eine allgemeine Bemerkung über die Vorgehensweise machen, die meine Untersuchung leitet. Diese Bemerkung beweist zugleich die dringende Notwendigkeit eines strengeren Differenzierungs- und Artikulierungsprozesses innerhalb der Faktumsproblematik. In der Husserl-Forschung werden häufig Texte, die das Problem des Faktums betreffen, aus ihren Zusammenhängen gerissen. Es ist demnach kein Zufall, dass dieselben Passagen von verschiedenen Forschern in Verbindung mit ganz unterschiedlichen Problembereichen interpretiert werden. Man denke z. B. an die bekannte Textstelle Husserls, wonach die Geschichte als absolutes Faktum zu betrachten sei. Dieser Text wird von Landgrebe (1982, 40–47) auf die Problematik der Individuation bzw. der Undeklinierbarkeit des Ich — so wie sie in der Krisis-Schrift aufgezeigt wird — zurückgeführt, während Lembeck (1988, 231–242) das Faktum der Geschichte im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Apriori der Genesis und geschichtlich konstituierter Welt erörtert. Wie ist es möglich, dass derselbe Text auf zwei unterschiedliche Problembereiche verweist? Um der Problematik des Faktums bei Husserl gerecht zu werden, bietet sich m. E. als einzige Möglichkeit eine Forschung topologischer Art bzw. eine Topologie der Faktizität an, wonach in erster Linie die verschiedenen Kontexte, in denen das Wort Faktum auftaucht, berücksichtigt werden müssen. In einer statischen Betrachtungsweise ist es unumstritten, dass der Begriff „Faktum“ vor allem das Zufällige und das Individuelle bezeichnet. Das Eidos zeichnet hierbei dem Faktischen den Sinn seiner 79
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Möglichkeiten der Erscheinung vor. Das Faktische ist, wie exemplarisch in Ideen I geschildert wird, „etwas, das an dieser Stelle ist, diese seine Zeitdauer und einen Realitätsgehalt hat, der seinem Wesen nach ebenso gut an jener Zeitstelle sein könnte. [ ] Individuelles Sein jeder Art ist, ganz allgemein gesprochen, zufällig.“ (Hua III/1, 12) Zu Beginn der zwanziger Jahre tritt jedoch eine Mehrdeutigkeit des Terminus „Faktum“ ein. Um diese Mehrdeutigkeit zum Ausdruck zu bringen und genau zu artikulieren, werde ich eine sorgfältige Analyse der Vorlesungen von 1922/23 Einleitung in die Philosophie durchführen.57 Anhand der Unterscheidung einer transzendentalen und einer apodiktischen Reduktion versuche ich im Hinblick auf die Faktizitätsproblematik die Entwicklung der Vorlesungen von 1922/23 zu verfolgen, die in drei Schritten zu schematisieren ist. 1.1. Der Zugang zur egologischen Tatsachensphäre Wenn man zu einer radikalen Wissenschaftslehre gelangen will, ist es erforderlich, all seine eigenen Voraussetzungen in Frage zu stellen und sich ausschließlich von adäquaten und apodiktischen Evidenzen leiten zu lassen. Diese zwei Arten der Evidenz — Adäquatheit und Apodiktizität — machen das hodegetische Prinzip aus. In diesem Kontext beruht die apodiktische Evidenz auf der adäquaten: Wenn sich eine vollkommene Evidenz zeigt, dann kann sie als absolut Selbstgegebenes nicht aufgehoben werden.58 In der Einleitung in die Philosophie wird die Problematik 57
Es ist nicht illegitim zu behaupten, dass der Begriff „Faktum“ eines der Hauptthemen dieser Vorlesungen ist, obwohl er nie zum eigenständigen thematischen Objekt der Untersuchung wird. Mit den Kategorien Finks könnte man sagen, dass das Faktum als ein operativer Begriff anzusehen ist. 58 „So ergibt sich als hodegetisches Anfangsprinzip dieses, dass der Anfang eine adäquate Erfahrung oder eventuell ein ganzer Grundstock adäquater Erfahrungen sein muss. Als solche müssen sie den Charakter der Apodiktizität haben, der Ansatz des Nichtseins oder auch des Vielleicht-Nichtseins jedes so Erfahrenen muss als absolute Unmöglichkeit charakterisiert sein […].“ (Hua XXXV, 66) Es ist deswegen wichtig darauf aufmerksam zu machen, weil sich in der Entwicklung der Phänomenologie Husserls das Verhältnis zwischen Apodiktizität und Adäquatheit stark gewandelt hat. Um solcher Umwandlungen inne zu werden, denke man an die Cartesianischen Meditationen. In dieser Schrift nimmt das Verhältnis zwischen Apodiktizität und Adäquatheit eine ganz neue Konfiguration an: Sowohl im Sinne, dass die apodiktische Evidenz eine
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„des Faktums der Erfahrung“ zuerst im Zusammenhang mit der Inadäquatheit der äußerlichen Wahrnehmung eingeführt. Husserl ist deshalb der Meinung, dass die äußerliche Wahrnehmung keineswegs die Bedingung einer absoluten Rechtfertigung (Adäquatheit und Apodiktizität) erfüllen kann, weil der Wahrnehmungsglaube „weiter reicht als was jeweils als wirklich Gesehenes vorliegt“ (Hua XXXV, 68). Jede äußere Wahrnehmung besteht einerseits aus einem Gehalt an Bestimmungen, die eigentlich als selbsterfasst anzusehen sind, andererseits gibt es auch einen Gehalt leerer Mitmeinungen und Vormeinungen, „der nur bewusst ist als ein solcher, der erst im Fortgang eines weiteren und evt. frei ins Spiel zu setzenden Wahrnehmens zur leibhaften Selbstgegebenheit kommen würde.“ (Hua VIII, 44) Wenn jede äußere Wahrnehmung ein Gemisch von eigentlicher Selbstgebung und Mitmeinungen ist, dann ergibt sich daraus, dass jede solche Wahrnehmung eine täuschende sein kann, indem sie immer vorgreifend auf ein Mitgemeintes ist. In einer äußeren Wahrnehmung liegt immer ein Moment des Vorgriffs, eine Angewiesenheit auf die fortlaufende Wahrnehmungsbestätigung, und dementsprechend bleibt auch die Möglichkeit eines weiter Sich-nicht-Bestätigens immer offen. Deswegen ist es von vornherein verständlich, dass sich die Erfahrung eines Dinges „in Schein“, in Halluzinationen usw. auflösen kann (Hua III, 1, 86; Hua XXXV, 68). Nachdem wir die Apodiktizität und die Adäquatheit der äußeren Wahrnehmung in Frage gestellt und demnach die Existenz der in der natürlichen Einstellung gegebenen Welt bestritten haben, scheint es, dass jeder sichere Boden für eine strenge phänomenologische Untersuchung entzogen ist: Kann es überhaupt eine als „apodiktisch“ zu bezeichnende Erfahrungsart geben? Oder noch radikaler, und zwar über die Apodiktizitätsproblematik hinaus: Wenn das Weltall das All des
höhere Dignität gegenüber der Adäquaten hat; als auch im Sinne, dass die Apodiktizität auch an inadäquaten Evidenzen auftreten kann (Hua I, 17). In § 9 wird ausschließlich der lebendigen Gegenwart eine adäquate Evidenz zugesprochen: Apodiktizität und Adäquatheit gehen nicht mehr „Hand in Hand“ (Hua I, 24). Hierbei möchte ich nicht den komplexen Weg einschlagen, der eine solche Umkehrung der Beziehungen zwischen Apodiktizität und Adäquatheit zustande gebracht hat. An dieser Stelle reicht es mir, auf die Schwierigkeit dieser Problematik hingewiesen zu haben.
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Erfahrbaren umschließt, was kann dann noch übrig bleiben? Husserl antwortet auf diese Frage, indem er das Thema des Faktums der Erfahrung einführt: „Die apodiktisch erwiesene Möglichkeit des Nichtseins des Weltalls, das ich soeben erfahre, und während ich das tue, berührt in keiner Weise das Faktum dieser Erfahrung; genauer: das Faktum, dass ich diese und diese Dinge, in der und der Weise sich gebend, diese Raumwelt, mit diesen Körpern, Menschen usw. erfahre.“ (Hua XXXV, 69, m. H.)
Wenn es auch möglich ist, dass die Welt nicht existiert, ist es absolut unzweifelhaft, dass das Faktum meines Wahrnehmens existiert, dass mir diese Dinge als wahrgenommene gegeben sind. Folglich ist die Erfahrung unabhängig von der Nichtexistenz der Welt. Die äußere Wahrnehmung ist immer eine antizipierende, transzendendierende. Aber hinsichtlich des Faktums, dass durch Reflexion die äußere Wahrnehmung erfassbar ist, besteht kein Zweifel: Dies ist eine absolut unaufhebbare Tatsache.59 Indem ich die Reduktion vollziehe, beschränke ich mich darauf, die Unleugbarkeit des Faktums des Wahrnehmens, des ego cogito festzustellen. Jede Behauptung hinsichtlich der realen Existenz des cogitatum wird ausgeschaltet.60 Die transzendentale oder absolute Subjektivität ist schlechthin unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz der Welt, also in keiner Weise zu dieser gehörig.61 59
„Dieses Reflektieren ist ein neuartiges Wahrnehmen, eine Wahrnehmung von den Dingwahrnehmungen und ihren Gehalten. [ ] Diese phänomenologische Wahrnehmung ist absolut unaufhebbar, die Tatsache, die sie erfasst, erfasst sie als eine apodiktisch evidente, als adäquat gegebene Tatsache. So Wahrgenommenes zu leugnen, ist apodiktisch unmöglich.“(Hua XXXV, 69, m. H.) 60 „Prinzipiell muss ich also beachten, dass jedes solche cogito sein cogitatum hat, zu dem es so und so Stellung nimmt, dass ich aber in der reflektiven egologischen Einstellung keine dieser Stellungnahmen zum cogitatum als geltend mit aufnehmen darf, dass ich keine mitmachen darf. Nur die Phänomene als Fakta, nur die in ihnen beschlossenen Stellungnahmen als Fakta konstatiere ich und darf ich konstatieren, wenn ich die rein egologische Tatsachensphäre gewinnen will.“ (Hua XXXV, 70) 61 Die Epoché des in jedem cogito implizierten cogitatum ist umfassender als die Ausschaltung der Existenz der Welt. Die Reduktion hinsichtlich der realen Existenz der Welt ist „ein Sonderfall der universalen Ausschaltung aller Stellungnahmen, die wir in jedem cogito vollziehen müssen, um es als reines Phänomen, als absolute egologische Tatsache zu gewinnen.“ (Hua XXXV, 71)
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In diesem Kontext sind das Faktum der Erfahrung, das reine Phänomen und die absolute egologische Tatsache dasselbe und sie stehen im Gegensatz zu der mundanen, transzendierenden Wahrnehmung. Das Wort „Faktum“ definiert sich in dieser Gegenüberstellung: Die egologische Sphäre ist ein apodiktisches und adäquates Faktum gegenüber dem natürlichen Glauben an die Existenz des in jedem cogito implizierten cogitatum. 1.2. Objektivierende Interpretation des Faktums Nachdem das Feld der transzendentalen Tatsachen gewonnen wurde, drängt sich die Frage auf, wie weit die Apodiktizität innerhalb der Sphäre der transzendentalen Tatsachen reicht. Diese Kritik der Apodiktizität innerhalb der transzendentalen Tatsachensphäre wird als apodiktische Reduktion bezeichnet (vgl. dazu Melle, 1996; Mertens, 1996). Diese beginnt mit der absoluten Unbezweifelbarkeit der aktuellen Selbstwahrnehmung und erstreckt sich dann allmählich auf die Phänomene der Retention, der Wiedererinnerung, der Einfühlung, der Phantasie, der logischen Kategorien usw. Im Folgenden werde ich mich auf den apodiktischen Status der Wiedererinnerung konzentrieren, da in diesem Zusammenhang eine neue Bestimmung des Faktums eintritt. Zuerst ist es jedoch notwendig, auf die Retention zurückzugreifen, um konkret zu verdeutlichen, wie sich der Charakter der Apodiktizität auf die nicht-impressionalen Phänomene überträgt. In Bezug auf die zeitliche Extension der Selbstwahrnehmung führt Husserl die Analyse eines Tones im Licht des hodegetischen Prinzips durch, wonach man sich ausschließlich auf die Selbstgebung des transzendental reduzierten immanenten Tones beschränkt. Dieses reduzierte Phänomen zeigt sich als dauernd: „Aber mir ist doch nicht ein unausgedehntes Jetzt gegeben, beständig vielmehr erscheint der Ton als dauernd. Er fing soeben an. Ich war vielleicht noch nicht darauf gefasst, die phänomenologische Adäquation zu vollziehen, schnell fasste ich mich und nun schwimme ich mit ihm mit. Aber er steht doch vor mir als der von dem noch bewussten Anfang aus dauernde und dann immerfort als dieser dauernd hineintönende und in die Zukunft hineintönende Ton.“62 (Hua XXXV, 117) 62
In Bezug auf diese Textstelle drängt sich die Frage nach der möglichen Geschwindigkeit auf, mit der die Epoché vollzogen werden kann. In dieser Passage fängt der Ton an, ohne dass der Phänomenologe die Epoché durchgeführt hat. Der
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Das Gebiet lebendig anschaulicher Gegenwart ist kein mathematischer Punkt (vgl. Kapitel V.1). Die Tatsache, dass der transzendental reduzierte Ton sowohl einen Vergangenheitshorizont hat, indem die Jetzt-Phase in die retentionalen Modifikationen übergeht, als auch eine offene Zukunft vor sich hat, ist unbestreitbar. Husserl geht davon aus, dass das Soeben-Gewesene des Tones, obwohl es „im allerursprünglichsten und eigentümlichsten“ Sinne nicht wahrgenommen wird, in dem zum Ich gehörigen Bewusstseinsfeld liegt. Es rückt in immer weitere Vergangenheit und wird dadurch matter und unbestimmter, „und doch, es wäre grundverkehrt, hier sehr kritisch sein und sagen zu wollen: Das ist keine apodiktische und adäquate Gegebenheit. Ich habe den soeben vergangenen Ton im Modus der Noch-Gegebenheit, und in erfassender Retention habe ich ihn noch im Griff, ihn selbst, und noch unmittelbar: nicht in einem Abbild, nicht als durch ein Gegenwärtiges bloß angezeigt und durch Anzeige mitgesetzt. Ich habe ihn noch, nur dass dieses ,Noch-Haben’ und Noch-im-Griff-Haben nicht die Ursprünglichkeit der Urimpression hat.“ (Hua XXXV, 122) Demnach wird das folgende Prinzip festgestellt: „Also so weit die zur Einheit der konkreten Gegenwart gehörige retentionale Vergangenheit reicht, so weit reicht die Apodiktizität.“ (Hua XXXV, 124) Bisher hat Husserl sich bemüht, die Apodiktizität der Retention aufzuzeigen, die dem soeben Vergangenen eine unauflösliche Gewissheit verleiht, aber doch nicht dem unendlichen vergangenen Leben des Ich. Diese Art der Gewissheit, die das unendliche Leben des Ich betrifft, entsteht durch die Funktion der Wiedererinnerung. Dank dieser Funktion kann das Ich „immer wieder“ zu seinen vergangenen Erlebnissen zurückkehren:
Eintritt des Tones überrascht in einem gewissen Grad den Phänomenologen. Nichtsdestotrotz kann er die transzendentale Reduktion vollziehen und gleichzeitig das Ganze des Tones von Anfang an retentional beibehalten: „Er [der Ton] fing soeben an. Ich war vielleicht noch nicht darauf gefasst, die phänomenologische Adäquation zu vollziehen, schnell fasste ich mich und nun schwimme ich mit ihm mit.“ (Hua XXXV, 117) Wie schnell kann ich mich fassen, um die Epoché zu vollziehen? Ist es wirklich möglich, mit einer solchen Geschwindigkeit die transzendentale Reduktion zu vollziehen, dass nichts vom hyletischen Inhalte des Tones verloren geht, der unerwartet aufgetaucht ist?
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„Das ,Immer-Wieder’ gibt es erst dank der Wiedererinnerung, und nur aus ihr stammt die Möglichkeit von Tatsachen, die an sich sind, die in der Wahrnehmung ursprünglich erfahren werden, aber beliebig oft wieder erfahren werden können, wieder identifiziert werden als dieselben und demgemäß wieder beschrieben, und in identischer Weise und in identischer Wahrheit beliebig oft beschrieben werden können. Also was dasselbe. Es gibt gegenüber der momentanen Wahrheit eine bleibende Wahrheit.“ (Hua XXXV, 132, m. H.)
In diesem Kontext kommt das, was als objektivierende Interpretation des Faktums zu bezeichnen ist, zum Zuge. Das Faktum wird als identisch mit der bleibenden Wahrheit und der Gegenständlichkeit betrachtet, die nicht mit der das aktuelle ego cogito charakterisierenden Kontingenz behaftet ist. Die Wahrheit ist Resultat der Wiederholung, die ihrerseits immer die Funktion der Wiedererinnerung voraussetzt. Durch die Wiederholungen gewinnt dieselbe Vergangenheit eine höhere Stufe der Klarheit. Die Vergangenheit wird durch die erste Wiedererinnerung enthüllt und „durch neue Wiedererinnerung bleibt sie erst recht im Griff und wird noch einmal enthüllt“ (Hua XXXV, 135). Als Limes der Klarheit setzt Husserl die vollkommene Erinnerung: Sie „reproduziert die Wahrnehmungsgegenständlichkeit und implicite das Wahrnehmen selbst in vollkommener Weise, und sie verschafft dem leer Retinierten die vollkommenste Explikation, weckt alles wieder, was in ihm zur Unklarheit und Verwischung gekommen ist“ (ebd.). Durch die Wiedererinnerung kann prinzipiell ein vergangenes Phänomen vollkommen eingeholt werden.63 Dieser faszinierende Aspekt der Husserl’schen Phänomenologie der Zeit ist zu Recht auf Kritik gestoßen: Gerät 63
Ein literarisch zutreffendes Beispiel für diese Vollkommenheit der Wiedererinnerung könnte der Erzählung Das unerbittliche Gedächtnis von Borges entnommen werden. In der Erzählung verkörpert der Hauptcharakter, Funes, das vollkommene Gedächtnis: „ Jetzt waren seine Wahrnehmung und sein Gedächtnis unfehlbar. Wir nehmen mit einer Blick drei Gläser auf einem Tische wahr; Funes alle Triebe, Trauben und Beeren, die zu einem Rebstock gehören. Er kannte genau die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufgangs vom 30. April 1882 und vermochte sie in der Erinnerung mit einer Maserung auf einem Pergamentband vergleichen, den er nur ein einziges Mal angeschaut hatte, und mit den Linien der Gischt, die ein Ruder auf dem Rio Negro am Vorabend des Quebracho-Gefechtes aufgewühlt hatte. Diese Erinnerungen waren indessen nicht einfältig; jedes optische Bild war verbunden mit Muskel-, Wärmeempfindungen usw. Er konnte alle Träume, alle Dämmerungsträume rekonstruieren. Zwei- oder dreimal hatte er einen ganzen Tag rekonstruiert; nie war er über etwas im Zweifel gewesen,
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dadurch nicht das Phänomen des Vergessens völlig aus dem Blick? Bekunden sich nicht in der Erfahrung Phänomene, wie z. B. das Trauma, die nie prinzipiell einzuholen sind? Als Extremfall solcher Phänomene, die nicht einzuholen sind, kann man die Geburt erwähnen, die eine Urvergangenheit darstellt, die nie Gegenwart war (MerleauPonty, 1945, 249). 1.3. Die apriorische Wendung und die Urfaktizität des Ich Wenn wir von den bisherigen Resultaten ausgehen, dann folgt, dass sowohl die retentionalen Modifikationen als auch die Wiedererinnerung durch den Charakter der Apodiktizität gekennzeichnet sind. Die Wiedererinnerung ist sogar fähig, eine bleibende Wahrheit zu erreichen, die nicht mehr an das momentane ego cogito gebunden ist. Hierbei drängt sich die Frage auf, ob die Apodiktizität der Wiedererinnerung den Forderungen einer radikalen Wissenschaftslehre genügt. In § 34 steht im Grunde zur Debatte, wie die unterschiedlichen Gegebenheitsweisen des Denkens, des Fühlens usw. innerhalb der egologischen Sphäre zu untersuchen sind, um zu einer endgültigen Wissenschaft zu gelangen (Hua XXXV, 251). Was Husserl mit dem Ausdruck „egologische Empirie“ bezeichnet, wird zuerst von der Wahrnehmung gegeben und dann, wie oben aufgezeigt wurde, durch wiederholte Wiedererinnerungen immer wieder identifiziert. Diesbezüglich schreibt Husserl: „Gewiss bietet die Wiedererinnerung hier, das war festgestellt worden, apodiktische Gehalte; aber Wiedererinnerung bedarf einer Weckung und diese Weckung hängt an Zufälligkeiten der Assoziationsanregungen.“ (Hua XXXV, 251)
Wenn die egologischen Phänomene nur auf der Basis der Wiedererinnerung untersucht werden, dann ist es deshalb a priori ausgeschlossen, zu einer absoluten Erkenntnis zu gelangen, weil die Wiedererinnerung immer mit der Zufälligkeit der Assoziationsregungen bzw. der Weckung behaftet ist.64 aber jede solche Rekonstruktion hatte einen ganzen Tag beansprucht.“ (Borges, 1981, 178 f.) 64 „Immanente Erfahrung mag absolut Undurchstreichbares bieten, sie führt nur zu einem zufälligen Gemenge von Einzelheiten aus einer kontinuierlich strömenden Unendlichkeit.“ (Hua XXXV, 251)
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Die Zweckidee der absoluten Erkenntnis ist keineswegs mit einer solchen Zufälligkeit der Weckung vereinbar. Sie besteht dagegen in einer systematischen Folge von evident endgültigen Feststellungen, die jederzeit wieder frei verfügbar wären. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es erforderlich, eine apriorische Wendung zu vollziehen. Die reine apriorische Erkenntnis ist dadurch charakterisiert, dass ich, das Ego, ein Wesen und Wesensgesetz immer wieder zu ursprünglich erzeugender Bildung bringen kann „und, wiederholte Erzeugungen überblickend, jederzeit und selbst a priori erkennen, dass das Erzeugnis numerisch dasselbe, das eine und selbe undurchstreichbare ist. Zum Wesen der Wesenserzeugnisse überhaupt gehört also apodiktisch objektive Endgültigkeit für das Ego, und das ist der Grundcharakter absoluter Erkenntnis, wie wir sie suchen.“ (Hua XXXV, 252) Im Gegensatz zur Wiedererinnerung kann ich jederzeit die intentionale Einheit der Wesensgesetzlichkeiten erzeugen. Die Rolle der Wesensschau ist deshalb grundlegend, weil ich dadurch die transzendentale Empirie auf die apodiktische Notwendigkeit zurückführen kann.65 Gleichzeitig muss beachtet werden, dass alle apriorischen Notwendigkeiten auf das Apriori ego–cogito–cogitatum verweisen: Alles, was für mich als Gegenstand selbstgegeben ist, kann es nur für mich als in irgendeinem konstituierenden Bewusstseinsmodus und als synthetische Einheit geben (Hua XXXV, 254). Jedes gegenständliche Apriori weist auf ein Apriori zurück, das die gegenständliche Einheit als synthetische Einheit in die Synthesen und in die Bewussteinsmannigfaltigkeiten zurückleitet und sich auf die Wesenszusammenhänge zwischen so gearteter Gegenständlichkeit und so geartetem konstituierenden Bewusstsein bezieht. In diesem Kontext kommt ein neuer Sinn des Faktums zum Ausdruck, der die tiefste Dimension der Phänomenologie betrifft: „Eine apriorische Egologie, einzig auf dem absoluten Faktum ,Ich bin’ beruhend, im übrigen aber kein empirisches Datum aus der Faktizität meines dahinströmenden Er-
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„Ferner, durch das Wesensapriori kann ich [in] die Empirie, sozusagen durch , apodiktische Notwendigkeit hineinbringen und kann jene besonders ausgezeichnete Leistung vollführen, die da apodiktische Erklärung, ,exakte Erklärung’ heißt.“ (Hua XXXV, 252 f.)
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lebnisses mitsetzend, ist die Bedingung der Möglichkeit einer Philosophie überhaupt.“ (Hua XXXV, 255)
In dieser bedeutungsvollen Textstelle wird einerseits behauptet, dass das egologische Apriori die Bedingung der Möglichkeit der Philosophie darstellt; andererseits wird aufgezeigt, dass dieses egologische Apriori nur auf dem absoluten Faktum „Ich bin“ beruht. Das absolute Faktum „Ich bin“ ist nicht mit „der Faktizität meines dahinströmenden Erlebnisses“ zu verwechseln. Die letztere Faktizität verweist auf die zufälligen von der Wiedererinnerung geweckten Daten, die ständig als Beispiel für die Wesensschau dienen können. Das absolute Faktum „Ich bin“ darf nicht als etwas Zufälliges und Kontingentes missverstanden werden, das aus der Funktion der Wiedererinnerung entsteht. Das absolute Faktum „Ich bin“ wird von den Wesensgesetzen unterschieden. Dieselben apriorischen Wesensgesetze beruhen auf dem absoluten Faktum „Ich bin“. Wie muss dieses „Beruhen“ aber interpretiert werden? Wie soll diese Beziehung zwischen eidetischer Notwendigkeit und dem absoluten Faktum „Ich bin“ ausgelegt werden? Was bedeutet hier absolutes Faktum? Muss ein solches „Beruhen“ der Wesensgesetze auf dem Faktum des „Ich bin“ derart ausgelegt werden, dass sie immer die Existenz des Ich voraussetzen? Bedeutet das absolute Faktum des Ich ein „Immer-schon-als-existent-vorausgesetzt-Sein“? Zeigt sich dadurch eine Kontamination zwischen metaphysischen Aussagen, die die Wirklichkeit betreffen, und den konstitutiven Analysen, die Fundierungsverhältnisse ausweisen? An diesem Punkt der Untersuchung wäre es zu gewagt, eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Was aber bereits feststeht, ist, dass das egologische Apriori nicht auf dem Ich als Eidos, sondern auf dem Ich als Faktum beruht. Die Differenz zwischen dem egologischen Apriori und dem absoluten Faktum des „Ich bin“ wird in § 57 (Phänomenologie der Vernunft als Theorie der Evidenz. Die Rechtfertigungsfunktion eidetischer Wesensgesetze) im Licht der Unterscheidung zweier Arten der Apodiktizität bestätigt. Das „Ich bin“ ist von einer eigentümlichen Apodiktizität gekennzeichnet, die nach Husserl von der Art der Wesensgesetze zu unterscheiden ist: der Apodiktizität des Faktums.66 66
„Hierher gehört auch die zur reinen und absoluten Adäquation mit ihrer absolut undurchstreichbaren, also vorbehaltlosen Gewissheit gehörige Unterscheidung zwischen der
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Dank einer ausführlichen Untersuchung der Vorlesungen Einleitung in die Philosophie — bei der ich auch versucht habe, ein Beispiel dessen, was man zuvor als eine Forschung topologischer Art bezeichnet hat, zu liefern — sind verschiedene Schichten der Konstitution und Zusammenhänge zum Vorschein gekommen, in denen sich unterschiedliche Bedeutungen des Wortes „Faktum“ zeigen: 1. Innerhalb der transzendentalen Reduktion war zuerst von Tatsachensphäre die Rede. In diesem Kontext wird dem transzendierenden, antizipierenden Charakter der äußeren Wahrnehmung das Faktum der immanenten Erfahrung gegenübergestellt. 2. Danach wird nach dem Prinzip der „Zickzack-Methode“ derselbe Sinn der Apodiktizität der Tatsachensphäre vertieft. Demzufolge stellt sich heraus, dass die transzendentale Sphäre nur dann wirklich als Faktum angesehen werden darf, wenn sich ihre Apodiktizität nicht ausschließlich auf das aktuelle ego cogito beschränkt. Hierbei bedeutet das Faktum Objektivität, bleibende Wahrheit, die den Charakter der Wiederholbarkeit in sich einschließt und demnach die Funktion der Wiedererinnerung voraussetzt. In diesem Kontext definiert sich das Faktum, indem es sich von der Kontingenz des momentanen ego cogito abhebt. 3. Es wurde folglich aufgezeigt, dass die Apodiktizität der Wiedererinnerung den Forderungen einer radikalen Wissenschaftslehre nicht genügt, indem sie prinzipiell mit der Zufälligkeit der Weckung behaftet ist. Daher ist es notwendig, eine apriorische Wendung zu vollziehen. Im Rahmen einer solchen apriorischen Wendung wurde außerdem dargestellt, dass das Faktum des „Ich bin“ von jeder anderen Art der Wesensgesetze zu unterscheiden und durch eine eigentümliche Form der Apodiktizität charakterisiert ist. Die letztere Bestimmung des Faktums ist die tiefste und gleichzeitig auch die problematischste. In allen anderen Kontexten ist es möglich, Apodiktizität des Faktums (und das ist eine einzige, die des Ego für sich selbst) und der Apodiktizität im gewöhnlichen und besonderen Sinn, der aller Wesensgesetze.“ (Hua XXXV, 287) Wenn man den oben erwähnten Text berücksichtigt, wonach eine apriorische Egologie einzig auf dem absoluten Faktum „Ich bin“ beruht, dann ergibt sich daraus, dass die Apodiktizität der Wesensgesetze auf der Unleugbarkeit des absoluten Faktums „Ich bin“ beruht.
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den Sinn des Faktums auf der Basis der Gegenüberstellung mit einem Gegenbegriff zu definieren: Sein Sinn bestimmt sich, indem er auf einen Gegensatz zurückgeführt wird (z. B. Faktum als Selbstgegebenheit der immanenten Erfahrung gegenüber dem transzendierenden, antizipierenden Charakter der äußeren Wahrnehmung, Faktum als Objektivität gegenüber der Kontingenz des aktuellen ego cogito usw.). Hinsichtlich der tiefsten Ebene der Faktizität scheint es unmöglich, sie auf eine Gegenüberstellung mit einem anderen Begriff zurückzuführen. Wie ist es dann möglich, das absolute Faktum des Ich zu verstehen? 2. Die Urfaktizität Des Ich und Eine Neue Metaphysik Die Problematik des Faktums gehört im engsten Sinne nicht der Phänomenologie, sondern der Metaphysik an. In der Schrift Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens (Bernet, Kern, Marbach, 1989) werden zwei verschiedene Hauptbedeutungen des Begriffes Metaphysik unterschieden.67 Während im Spätwerk eine Bedeutung der Metaphysik auftritt, die auf das transzendentale Faktum der „Irrationalität der Weltrationalität“ verweist, meint Husserl damit zunächst nichts anderes als die Klärung von Sinn und Vorgehensweise aller empirischen Wissenschaften auf Basis der transzendentalen Phänomenologie. In diesem Kontext unterscheidet sich eine Erste Philosophie von einer Zweiten. Die Erste Philosophie ist die eidetische Phänomenologie; die Zweite ist die phänomenologische Auslegung der empirischen Wissenschaften. In diesem Sinn behauptet Husserl in einem Brief an Karl Joel von 1914, dass die Philosophie sich nicht auf die transzendentale Phänomenologie beschränke. Die Phänomenologie sei eine eidetische Wissenschaft des reduzierten transzendentalen Bewusstseins, die eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Metaphysik darstelle, die nicht von bloß idealen Möglichkeiten, sondern von der Realität handle (Ms. F III 1, 140 a/b). Im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen einer Ersten und einer Zweiten Philosophie bedeutet „Faktum“ etwas Zufälliges und Individuelles und es ist prinzipiell dem Eidos 67
Diese Unterscheidung wird in Kapitel X hervorgehoben, das den Titel „Erste Philosophie und Zweite Philosophie (Transzendentale Phänomenologie und Metaphysik)“ trägt und von Iso Kern verfasst wurde.
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untergeordnet. Von daher ist auch deutlich, dass das Ego als Eidos erkannt und zugleich das Eidos nicht durch das Faktische bedingt ist. Anhand der Vorlesung 1922/23 ist dagegen festgestellt worden, dass das Eidos auf dem „Ich bin“ als Faktum beruht. In einem entscheidenden Text aus dem Jahr 1931 kommt die Radikalität der Umwandlung der Beziehung zwischen Faktum und Eidos unmissverständlich zur Sprache: „Wir haben hier einen merkwürdigen und einzigartigen Fall, nämlich für das Verhältnis von Faktum und Eidos. Das Sein eines Eidos, das Sein eidetischer Möglichkeiten und des Universums dieser Möglichkeiten ist frei vom Sein oder Nichtsein irgendeiner Verwirklichung solcher Möglichkeiten, es ist seinsunabhängig von aller Wirklichkeit, nämlich entsprechender. Aber das Eidos transzendentales Ich ist undenkbar ohne transzendentales Ich als faktisches.“ (Hua XV, 385)
In diesem Kontext möchte ich darauf aufmerksam machen, dass es in der Husserl-Forschung bisher als unumstritten gilt, dass die Urfaktizität des Ich eine Entdeckung des Spätwerkes sei. Sowohl Kern als auch Fink gehen davon aus, dass dieser „merkwürdige Gedanke“ in den dreißiger Jahren aufkommt.68 Nicht nur die Vorlesungen 1922/23 Einleitung in die Philosophie, sondern auch die Beilagen XIX, XX, XXI der Texte zur Phänomenologie der Intersubjektivität (Hua XIV) zeigen dagegen, dass sich diese Wendung schon zu Beginn der zwanziger Jahre abgezeichnet hat und konsequent durchgeführt worden ist. Marc Richir (2004, 93–102) hat gezeigt, dass in diesen Beilagen, die in der Zeit zwischen Dezember 1921 und Januar 1922 entstanden sind, dieselbe These der Urfaktizität des Ich vertreten wird, die in der oben zitierten Textpassage aus dem Jahr 1931 (Hua XV, 385) formuliert ist.69
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In diesem Sinne schreibt auch Landgrebe in Faktizität und Individuation: „Diese Reflexionen [über das Problem des absoluten Faktums] gehen also weiter über das hinaus, was in dem Buche über die ,Krisis’ zusammengefasst wurde, und geben Kunde von einer entscheidenden Wendung in Husserls Denken, die sich schon früh angekündigt, aber erst im Beginn der dreißigen Jahre erfolgt. Sie bedeutet keinen Bruch in seiner Entwicklung, sondern nur eine letzte Konsequenz aus seinem ursprünglichen Ansatz, von deren Tragweite sich Rechenschaft zu geben ihm nicht mehr vergönnt war.“ (Landgrebe, 1982, VII) 69 Es gilt hervorzuheben, dass von der faktischen Notwendigkeit des cogito bereits in Ideen I die Rede ist: „Offenbar ist die Seinsnotwendigkeit des jeweiligen aktuellen Erlebnisses darum doch keine pure Wesensnotwendigkeit, d.i. keine rein eidetische
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Im Folgenden gehe ich auf einige Schlüsselstellen der Beilagen XIX, XX, XXI ein, die m. E. nicht nur den engen Zusammenhang zwischen der genetischen Perspektive, die das Ich in voller Konkretion untersucht, und dem Ich-Begriff als Urfaktum hervortreten lassen, sondern auch den neu aufzufassenden metaphysischen Sinn der Wirklichkeit des urfaktischen Ich näher bestimmen. In der Beilage XIX zieht Husserl die Möglichkeit in Betracht, dass das Ich auch anders sein könnte: Es hätte auch andere Habitualitäten erwerben können, es hätte von anderen Reizen affiziert werden können usw. Alle diese Bemerkungen betreffen aber ausschließlich das Sosein, keineswegs die absolute Tatsache, dass ich bin: „Es ist dabei immerfort das Sosein insofern zufällig, als ich es umfingieren könnte und mir vorstellen könnte, dass ich anderes erlebte, dass das Erlebnis, das so ist, ein anderes wäre. [ ] Ein ganz anderer Fall scheint hinsichtlich des Ich Selbst zu bestehen (und hinsichtlich irgendeines Lebens überhaupt). Dass das Ich überhaupt nicht sei, dass ich, der ich meiner selbst in der Reflexion inne bin, nicht sei, ist schlechthin für mich undenkbar, und damit undenkbar, dass ich überhaupt kein Leben hätte.“ (Hua XIV, 151 f.)
Die apodiktische Wesensnotwendigkeit des möglichen Lebens des Ich wird auf das Ich als Faktum zurückgeführt. Obwohl die Wesensnotwendigkeit des Ich die höchste ist, ist sie abhängig vom Urfaktum meines wirklichen Lebens: Sie ist „nur Abwandlung meines wirklichen Lebens, dessen ich apodiktisch gewiss bin“ (Hua XIV, 152, m. H.). Wenn ich „keinen wirklichen Existenzboden“, „keine Erfahrungsbasis“ habe, dann kann ich auch keine Möglichkeit haben (Hua XIV, 153). Die Ichabwandlungen gehören zum Bereich meiner Möglichkeit und setzen deshalb immer den Existenzboden des Ich voraus. Dieser Existenzboden wird als „meine Selbsterfahrung, eine mich in originaler Selbstheit in Gewissheit gebende ,Impression’“ definiert (ebd.). Die Möglichkeiten meines Andersseins betreffen dementsprechend nur die Sphäre meines Soseins, des Wesens, nicht meine Existenz, die absolut notwendig ist.70 Besonderung eines Wesensgesetzes; es ist die Notwendigkeit eines Faktums, die so heißt, weil ein Wesensgesetz am Faktum, und zwar hier an seinem Dasein als solchem, beteiligt ist.“ (Hua III/1, 98) 70 „Ich habe also die apodiktische Evidenz als Urevidenz des Ich-bin, und bin als Subjekt eines zweiseitigen Lebens, das nach seinem Wirklichsein (Existenz) absolut
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Ebenso wie die vorherige Textstelle unterscheidet die Beilage XX zwischen der Sphäre des Soseins und der der absoluten apodiktischen Existenz, welche nur dem Ich zuzuschreiben ist: „Ich bin, der ich bin. Aber ich könnte doch anders sein. Es ist ein bloßes Faktum, zufällig, dass ich bin der oder so, wie ich bin.“ (Hua XIV, 154) Hier wird das Wort Faktum als etwas Zufälliges und Kontingentes interpretiert, das der Notwendigkeit der eidetischen Gesetzlichkeit gegenübersteht. Dieses Anderssein bezieht die Zufälligkeit der verschiedenen Phänomene ein, die durch Wesensgesetze bestimmt sind. Jedes Ich hat z. B. eine andere Individualität, aber jedes hat doch dasselbe Wesen wie die Form der immanenten Zeit; jedes Ich steht außerdem in Bezug auf den Erlebnisstrom, ist Pol der Affektivität und Passivität, Substrat von habituellen Eigenschaften, usw. Dieses Anderssein darf nicht mit meinem Sein, mit meiner Existenz im absoluten Sinne, die als „undurchstreichbares Faktum“ anzusehen ist, verwechselt werden. In diesem Zusammenhang bedeutet Faktum etwas Notwendiges und Unauflösliches im apodiktischen Sinne: „Also Ich (und jedes Ich) kann sich denken, dass kein anderes Ich sei, aber kein Ich kann sich denken, dass es selbst nicht sei. Nur denken kann es sich, dass es anders sein könnte, als es faktisch ist. Immer bin ich aber nur zufällig nach meinem Sosein, nicht aber nach meinem Sein schlechthin. Für mein Sosein ist nur bindend der allgemeine Wesensrahmen, der alle Möglichkeiten meines Ich und eines Ich überhaupt umspannt. [ ] Jede mögliche Abwandlung, die ich an einem Anderen ersinnen kann, kann ich, und noch ursprünglicher, an mir selbst ersinnen. Bin ich so ein absolutes, undurchstreichbares Faktum, so fragt es sich nun, wie weit das reicht. Meine Vergangenheitssphäre ist ebenfalls, wohl verstanden, undurchstreichbar.“ (Hua XIV, 155, m. H.)
Die Abwandlungen meiner eidetischen Möglichkeiten setzen ein konkretes Individuum voraus, das seine bestimmte Vergangenheit hinter sich hat, eine Vergangenheit, die unauslöschbar ist. Diese Behauptung zeigt, wie konkret dieses Ich auszulegen ist. In der Beilage XXI wird wieder die These aufgestellt, nach der das Nichtsein des Ich nur in der Form des Andersseins vorstellbar sei. In diesem Zusammenhang behandelt Husserl explizit das Problem des Nichts, indem eine Unterscheidung hinsichtlich der Nicht-Existenz notwendig ist, nach seinem Sosein anders sein könnte derart, dass das System der Anders-Möglichkeiten ein abgeschlossen unendliches ist.“ (Hua XIV, 154)
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der Dinge und der des Ich festgestellt wird. Das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit muss in Bezug auf die Dinge anders als in Bezug auf die Monaden aufgezeigt werden. Es ist möglich, die Dinge schlechthin als nicht seiend zu denken: „Eine gegebene Natur enthält wirklich ein Ding, und das Ding ist faktische Wirklichkeit. Sie könnte aber auch anders sein, und so, dass dieses Ding ihr nicht angehörte, nicht existierte. Hier gehen die Möglichkeiten den Wirklichkeiten vorher.“ (Hua XIV, 159) Im Gegensatz dazu ist die Essenz jeder Monade von der monadischen Existenz untrennbar: „Die Monade ist sich aber absolut gegeben, und jede andere Monade ist von ihr aus als für diese selbst absolut gegeben, vernunftgemäß, wenn auch vorbehaltlich, gesetzt. Alle monadischen Möglichkeiten sind daseinsrelativ zu den monadischen Wirklichkeiten.“ (Hua XIV, 159)
Die Monade wird hier als Individuum bezeichnet, das nie zweimal sein kann. Die Essenz der Monade setzt schon die Tatsache voraus, dass ich ein konkretes und einzigartiges Individuum bin. Wenn man die Fortsetzung des Textes Nr. 22 von Hua XV betrachtet, zeigt sich deutlich, dass keine undifferenzierte, zeitlos-ewige Lebenstiefe des absoluten Geistes, die vor aller Individuation liegt (Fink 1976, 183), sondern eine zurückgehende Bewegung des Ich hervorgehoben wird, das seinen eigenen Ursprung nicht finden kann. Das Ich stößt auf das unlösbare Rätsel, dass es sich selbst — in seinen verschiedenartigen Funktionen — vorfindet: Es geht sich selbst voraus, ohne zu wissen, woher es herkommt. Durch die zurückgehende Bewegung entdeckt das Ich, dass es keinen festen Boden hat und wird sich seines einigen grundlosen Seins bewusst. Die Phänomenologie findet hier ihre Grenze: „Wir kommen auf letzte Tatsachen — Urtatsachen, auf letzte Notwendigkeiten, die Urnotwendigkeiten. [ ] Ich bin das Urfaktum in diesem Gang, ich erkenne, dass zu meinem faktischen Vermögen der Wesensvariation etc. in meinem faktischen Rückfragen sich die und die mir eigenen Urbestände ergeben, als Urstrukturen meiner Faktizität. Und dass ich in mir einen Kern von ,Urzufälligem’ trage in Wesensformen, in Formen vermöglichen Funktionierens, in denen dann die weltlichen Wesensnotwendigkeiten fundiert sind. Mein faktisches Sein kann ich nicht überschreiten und darin nicht das intentional beschlossene Mitsein Anderer etc., also die absolute Wirklichkeit. Das Absolute hat in sich selbst seinen Grund und in seinem grundlosen Sein seine absolute Notwendigkeit als die eine ,absolute Substanz’. Seine Notwendigkeit ist nicht Wesensnotwendigkeit, die ein Zufälliges offen ließe. Alle Wesensnotwendigkeiten
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sind Momente seines Faktums, sind Weisen seines in Bezug auf sich selbst Funktionierens — seine Weisen, sich selbst zu verstehen oder verstehen zu können.“ (Hua XV, 385 f., m. H.)
In der Schrift De Dieu qui vient à l’idée behauptet Lévinas, dass in der Husserl’schen Phänomenologie das Erstaunen beständig in das Wissen münde. Das gemeinsame Maß zwischen Noesis und Noema werde unaufhörlich wiederhergestellt und beibehalten; es bestehe immer eine symmetrische Korrelation zwischen Bewusstsein und Seinssinn: „Husserl parlera d’une téléologie de la conscience transcendantale. De cette manière la pensée pensant l’être dont elle se distingue, est un processus intérieur, un resteren-soi-même: l’immanence. Il y a là correspondance profonde de l’être à la pensée. Rien ne déborde l’intention: le voulu ne se joue pas du savoir et ne le surprend pas. Rien n’entre dans le pensée, ,sans se déclarer’, ,par contrebande’. [ ] L’étonnement, disproportion entre cogitatio et cogitatum où la vérité se cherche, se résorbe dans la vérité retrouvée.“ (Lévinas, 1998, 235)
Die Korrelation zwischen dem cogitatio und cogitatum wird m. E. innerhalb der letztkonstituierenden Dimension des transzendentalen Ich, die vielleicht stricto sensu nicht mehr als Konstitutionsschicht anzusehen ist, in Frage gestellt. Eine Korrelation zwischen Noesis und Noema „entgleitet“ in der oben dargestellten Thematik der Faktizität des Ich: Das Erstaunen wird nicht durch das Wissen aufgehoben. Mit der Einführung des Begriffes der Faktizität zielt Husserl darauf ab, die irrationale Tatsache aufzuzeigen, dass ich mich selbst in meinem konkreten Fungieren vorfinde. Es ist nicht möglich, einen (zureichenden) Grund dafür zu finden, dass die intentionalen Funktionen (Wahrnehmen, Phantasieren, Zeitbewusstsein usw.) existieren, welche die Welt konstituieren. Dass diese Funktionen existieren, ist ein absolutes Faktum, das nicht hinterfragbar ist: „Und dass ich in mir einen Kern von ,Urzufälligem’ trage in Wesensformen, in Formen vermöglichten Funktionierens, in denen dann die weltlichen Wesensnotwendigkeiten fundiert sind.“ (Hua XV, 385 f.) Es scheint mir angebracht, diese eigentümliche, metaphysische Art der Vorgängigkeit des Ich gegenüber sich selbst von zwei weiteren Phänomenen zu differenzieren, die mit den tiefen Dimensionen der Subjektivität verbunden sind: a) Erstens lässt sich die Frage nach der Urtatsache, dass ich mein urkonstituierendes Vermögen vorfinde, keineswegs mit der
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kapitel iii phänomenologischen Untersuchung gleichsetzen, welche auf die eigentümliche Struktur des Ich eingeht. Im Zusammenhang mit der Anonymität des Ich verwendet Husserl in den Forschungsmanuskripten aus den dreißiger Jahren mehrfach den Ausdruck: „Ich gehe mir selbst voraus.“ Schon im Jahr 1927 schreibt er in diesem Sinne:
„Alles, was mir gilt, setzt mich und mein Notwendiges voraus, und so ist immerzu vorausgesetzt mein Ich in einem notwendigen Seinsbestand, der von allen meinen Meinungen schon vorausgesetzt ist, ob sie sich auf anderes oder auf mich selbst beziehen. Ich gehe mir selbst so vorher und zugleich allem Nicht-Ich.“ (Hua XIV, 432)
Zu Recht behauptet Taguchi, dass diese Aussage Grundgedanken in sich birgt, die später zur Lehre des Ur-Ich führen werden: Die Vorgängigkeit des Ich gegenüber sich selbst ist durch einen EntzugsMoment und die Ich-Spaltung gekennzeichnet (Taguchi, 2005, 123). Diese Art der Vorgängigkeit des Ich gegenüber sich selbst wird im Forschungsmanuskript B I 5 aus dem Jahr 1930 ausführlich thematisiert. „[ ] Ich habe doch kein anderes Sein als aus meiner Erkenntnis, das Wort in einem weitesten Sinne genommen, das gewissermaßen in dem prägnantem kulminiert. Mein Sein geht allem Sein, auch meinem eigenen Sein vorher.“71 (Ms. B I 5, 15b) b) Zweitens ist die Urfaktizität des Ich aus Band XV vom „brutalen Faktum“, das in Manuskript A IV 16 vorkommt, streng zu unterscheiden.72 In diesem Text wird versucht, die inneren Unterschiede der einzelnen Monaden ausfindig zu machen. Die Bestimmung der
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Der innere Zusammenhang zwischen Ich und Welt darf hier nicht übergangen werden. In diesem Sinn behauptet Waldenfels: „Dieses Schon-sein bedeutet Welt- und Selbstvorgegebenheit in eins. Das ist zunächst nicht zu verstehen als äußeres Prius: Welt und Ich waren schon da, sondern als inneres Prius: ich bin mir voraus und habe eine Welt“ (Waldenfels, 1971, 127). Das Vorausgehen des Ich schließt auch das Affiziertwerden durch die Urhyle mit ein (vgl. Taguchi, 2006, Kapitel VII, § 3 „,Ich gehe mir selbst voran’: Das Urich in seiner Selbstdifferenz“; s. auch Montavont, 1999, Kapitel IV, insbes. den Abschn. „La permanence de la corrélation noético-noématique: moi et non moi)”. 72 In der aufschlussreichen Untersuchung „De la passivité dans la phénoménologie chez Husserl“ werden diese zwei Bedeutungen nicht auseinandergehalten (Montavont, 1999, 194 ff.).
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individuellen Eigenheiten der Monaden hebt die Kontingenz der Empfindungsmaterialien hervor: „Die Unverständlichkeit der Natur verwandelt sich [ ] in einem verständlichen Zusammenhang, der nur zurückgeführt auf ein Letztunverständliches [ ] und dieses Letztunverständliche ist das Empfindungsmaterial in jeder Seele oder Monade, das in ihrem Bewusstseinsfluss auftritt und dann als Material der Apperzeption geistig, wenn auch geistig in niederster Stufe der Rezeptivität gestaltet [wird].“ (Ms. A IV 16, 27b)
Anders gesagt: Was in uns auftritt, ist mit einer unumgänglichen Kontingenz behaftet. Dieses faktische Material stellt jedoch keineswegs die Weltrationalität in Frage: Das irrationale Material „durchbricht nicht die Verständlichkeit der Welt, sondern ist von dieser vorausgesetzt“ (ebd.). Husserl fügt dem hinzu: „Andererseits aber ist jede sinnliche Empfindung, die in einem Bewusstsein neu auftritt, ein brutales Faktum, und die Ordnung des Auftretens der Empfindung, die in einem Bewusstsein neu auftritt, ein brutales Faktum. Endlich ist alles, was unter dem Titel der Natur im erweiterten Sinn steht, ein verständlicher Zusammenhag mit einem brutalen Faktizitätsgehalt: Dahin gehört das Letzte der geistigen Personalität, die Individualität im letzten Sinne mit ihrem letzten Untergrund, mit ihren ganz subjektiven sinnlichen Assoziationstypen, die Eigenheit dieses einen einzigen Subjektes und keines anderen.“ (ebd., m. H.)
Sowohl die Empfindungen als auch ihre Sukzession können nicht auf eine allgemeine Regel zurückgeführt werden. Der Übergang von der Zufälligkeit des Auftretens der sinnlichen Empfindungen zum Problem der Individualität der Monade rechtfertigt sich nicht nur im Licht der genetischen Phänomenologie, nach der die vergangenen Erfahrungen eine konstitutive Bedeutung für die folgenden erhalten, sondern auch darin, dass jedes Ich mit einer anderen Hyle beginnt (Ms. A VI 10, 51b). Aus diesem Text geht deutlich hervor, dass die phänomenologische Klärung der Welt auf die „irrationale Materie aller zur einer Welt [gehörigen] objektivierenden Formen“ (ebd.) stößt. Der Ursprung des individuellen Soseins der Monaden besteht aus einem nicht verständlichen Empfindungsmaterial. Jedes Subjekt hat bestimmte, einzigartige Dispositionen, die unerklärlich sind: „Dieses spezifisch geistige Ich, das Subjekt der Geistesakte, die Persönlichkeit findet sich abhängig von einem dunklen Untergrunde von Charakteranlagen, ursprünglichen
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und verborgenen Dispositionen, andererseits abhängig von der Natur.“ (Hua IV, 276)
Die Motivationen des Einzelnen, seine Neigungen, verweisen auf ein dunkles Reich, das genetisch nicht zu verfolgen ist. Sie bleiben letztlich unverständlich: „Die Untergründe, auf denen sich das verständlich motivierte Geistesleben des Anderen aufbaut und denen gemäß es in individualtypischer Weise verläuft, stellen sich also als ,Abwandlungen’ meiner eigenen dar. Ich stoße auf diese Untergründe auch, wenn ich die Entwicklung eines Menschen verstehen will. Ich habe dann von Stufe zu Stufe zu beschreiben, welches die Umwelt war, in der er aufwuchs, und wie die Umgebungsdinge und Menschen, so wie sie ihm erscheinen, so wie er sie ansah, ihn motivieren. Dabei komme ich auf einen faktischen Bestand, der in sich unverständlich ist. Dieses Kind hat eine ursprüngliche Freude an Tönen, jenes nicht.“73 (Hua IV, 275 f.)
Die Unverständlichkeit, die sich auf den Charakter des personalen Ich bezieht, darf jedoch nicht mit der metaphysischen Frage nach der Urfaktizität verwechselt werden, die in der Textstelle aus Hua XV behandelt wird (vgl. S. 94 f.). Hier geht es darum, dass das urkonstituierende Funktionieren des Ich als solches zufällig, ja unverständlich ist. Das Ich findet intentionale Urstrukturen (Zeitbewusstsein, Wahrnehmen, Phantasieren) vor: Es waltet in seinem eigenen Leib, in der Zeit; es bewegt sich in vielfältigen Sinnhorizonten, ohne zu wissen, wo die intentionalen Urstrukturen herkommen, die die jeweiligen unterschiedlichen Phänomenbereiche konstituieren. Wieso kommt die Tatsache zustande, dass ich sehen kann? Woher konstituiert sich das Zeitbewusstsein? Wieso erscheint das Phantasieren? Während hinsichtlich des brutalen Faktums aus dem Manuskript A IV 16 die Unverständlichkeit der individuellen Eigenschaften thematisiert wird, geht es hier darum, die unvordenkliche 73
Vgl. dazu Montavont (1999, 205 f.): „Avant tout comportement proprement égoique, il y a un arrière-plan de représentations obscures et latentes qualifié par Husserl de ‘sol d’enracinement dans de profondeurs obscures’ (Hua IV, 277) et un certain caractère qui la déterminent dans sa façon d’être motivé par le monde et par les autres, sans qu’il puisse disposer de l’origine de ses propriétés. En effet, l’ultime motivation d’un comportement est aveugle et incompréhensible, et cette incompréhensibilité ne renvoie pas à des horizons de l’expérience encore implicites dont la poursuite de l’expériences nous offrirait une explicitation ultérieure.“
das Ich als absolutes urfaktum
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Dimension der urkonstituierenden Funktionen ins Visier zu nehmen, die mir zugefallen sind. Diesbezüglich ist es angebracht, auf die zweite Bedeutung der Metaphysik hinzuweisen, die einen ähnlichen Bruch der Anschauung wie die Urfaktizität des Ich aufweist. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Metaphysik in einem engen Zusammenhang mit dem transzendentalen Faktum der „Irrationalität der Weltrationalität“ und der Kontingenz der Weltkonstitution steht. Hierbei bezieht sich Husserl auf das Wunder, dass in der transzendentalen Subjektivität eine immanente Teleologie fungiert74 (Ms. E III 10, 14a–14b): „Aber dahinter eröffnet sich auf phänomenologischem Boden eine weiter nicht mehr zu interpretierende Problematik: die der Irrationalität des transzendentalen Faktums, das sich in der Konstitution der faktischen Welt und des faktischen Geisteslebens ausspricht: also Metaphysik in einem neuen Sinn.“ (Hua VII, 188, m. H.)
Im Bezug auf das Problem der Weltrationalität behält Husserl stets die Möglichkeit der Weltvernichtung im Auge, eine Weltvernichtung, die im engeren Sinne die Vernichtung des Stiles von weltkonstituierenden Erscheinungen und Abschattungen bedeutet: Warum gehen die Abschattungen „ordentlich“ ineinander über? Warum lösen sie sich nicht in ein Chaos auf? Die Teleologie, die die transzendentale Subjektivität durchzieht, ist ein „irrationales Faktum“. Es ist unmöglich, eine „adäquate Erfüllung“ für dieses Faktum zu finden. Demzufolge kommt es auch hier zu einem Erstaunen, das in kein Wissen münden kann; zu einem Überschuss der Erfahrung gegenüber der Anschauung. Es handelt sich hier jedoch nicht um einen Überschuss an Sinn, der „noch nicht“ bestimmt ist, sondern um einen Überschuss über den Sinn hinaus. Man könnte hier fast den Eindruck gewinnen, dass der Metaphysik in letzter Instanz die paradoxe Aufgabe zukommt, Fragen zu behandeln, die keine Vertiefung erlauben: Sie beschäftigt sich mit „Problematiken“, die nicht weiter hinterfragbar sind. Jeder direkte Zugang 74
Hierbei gilt es hervorzuheben, dass bei Husserl die Tendenz vorhanden ist, die Thematik der Urfaktizität des Ich in Zusammenhang mit der Gottesproblematik zu bringen. Man kann sich hierbei auf zahlreiche Forschungsmanuskripte aus den dreißiger Jahren beziehen: vgl. insbensondere Ms. E III 2, Ms. E III 4, Ms. E III 7.
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zu solchen Phänomenbereichen bleibt prinzipiell verschlossen: Sowohl mit der Frage nach der Urfaktizität der Strukturen des Ich als auch mit der Frage nach der Irrationalität der Rationalität der Welt stößt die Phänomenologie auf eine nicht überwindbare Grenze. Wie könnte man ausgehend von einer phänomenologischen Einstellung die Irrationalität der Weltrationalität weiter vertiefen? Wie kann man die Tatsache, dass ich das Sehen vorfinde bzw. immer schon vorgefunden habe, näher bestimmen? Die Metaphysik in einem neuen Sinne wäre demnach weniger als eine analytische Disziplin, sondern vielmehr als ein Reich des Erstaunens zu betrachten. Man muss jedoch davor warnen, der Metaphysik einen allzu negativen, fast mystischen Charakter zuzuschreiben. Wie zuvor herausgestellt, gehen die Husserl’schen Beschreibungen der Urfaktizität unter vielen Gesichtspunkten über die zur klassischen Metaphysik gehörenden Begriffspaare Existenz/Wesen, Wirklichkeit/Möglichkeit hinaus: Man denke angesichts des oben zitierten Textes Nr. 22 von Hua XV nicht nur an die rückgängige Bewegung des Ich, das seinen Ursprung nicht ausfindig machen kann, sondern auch an die paradoxe Formulierung Husserls, nach der das Ich eine absolute Notwendigkeit in seinem grundlosen Sein hat, so als ob es möglich wäre, den Abgrund mit dem Begriff der Notwendigkeit in Einklang zu bringen (vgl. S. 94 f.). Vielleicht liegt darin das größte Potential der Metaphysik in einem neuen Sinne: Durch das Ausweisen von verschiedenartigen Formen der Urfaktizität, die über jede Anschauung hinausgehen, ermöglicht sie ein radikales In-Frage-Stellen der traditionell bestehenden Kategorien.
KAPITEL IV
DAS VERHÄLTNIS DES ICH ZUM ANDEREN
Die Husserl’sche Intersubjektivitätstheorie ist von einer inneren Spannung durchzogen. Einerseits beschränkt sich Husserl nicht nur darauf, methodisch vom Ich auszugehen, um die Fremdheit des Anderen phänomenologisch zur Gegebenheit zu bringen, sondern er betrachtet — unter verschiedenen Gesichtspunkten — die eigene Sphäre als Fundament der Fremderfahrung. Andererseits wird in der phänomenologischen Analyse Husserls immer deutlicher, dass der Andere durch einen eigentümlichen Überschuss charakterisiert ist. In diesem Sinne wird der außerordentliche „Status“ des Anderen anerkannt, der sich prinzipiell dem Blick des Ich entzieht. Der Andere ist nicht vom Ich direkt anschaubar bzw. kann nicht zur Selbstgebung gebracht werden. Dadurch zeichnet sich eine Dimension ab, die dem Ich vorenthalten bleibt und dementsprechend die Grenzen der phänomenologischen Forderung nach einer absoluten Evidenz aufzeigt: Die Fremdheit als solche wird somit konsequent als Zugänglichkeit des Unzugänglichen definiert. Darüber hinaus gilt es hervorzuheben, dass der Andere nicht nur eine wesentliche Rolle hinsichtlich der Weltkonstitution spielt, sondern als absoluter zu betrachten ist, indem er sich selbst konstituiert. Bei der Forschung zur Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie ist es entscheidend, diese beiden (fast gegenläufigen) Tendenzen zu berücksichtigen. Während man in der Vergangenheit fast durchweg auf den solipsistischen Charakter der Husserl’schen Phänomenologie fixiert blieb, kann man dagegen feststellen, dass die jüngste Husserl-Literatur den intersubjektiven Aspekt so überbetont, dass es beinahe zu einer Verzerrung der Husserl’schen Ansicht in die andere Richtung kommt. Die Intersubjektivitätstheorie Husserls besteht aus einer komplexen Bewegung, die sich in verschiedenen Schritten artikuliert: Zuerst muss man die primordiale Reduktion berücksichtigen. Im Laufe dieser Arbeit werde ich die Zweideutigkeit dieser Reduktion aufzeigen. Obwohl sie darauf abzielt, nur ein methodisches Verfahren zu sein, verrät die 101
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primordiale Reduktion eine fungierende solitäre Sphäre, die letztlich als solipsistisch zu betrachten ist. Ausgehend von dieser Reduktion begegnet man dem Anderen, der durch eine eigentümliche Unzugänglichkeit gekennzeichnet ist. Der Andere ist als absoluter — als von mir völlig getrennter — und als selbstkonstituierender anzusehen. Gleichzeitig muss man darauf hinweisen, dass Husserl im Hinblick auf den absoluten Charakter des Anderen wiederum das Ich ins Spiel bringt. Die Unzugänglichkeit des Anderen ist ein phänomenologischer Befund, indem sie mir erscheint: Der absolute Andere setzt somit mein fungierendes Ich voraus. Auch in anderen Zusammenhängen (wie z. B. die Problematik der Apodiktizität) zeichnet sich ab, was als eine zirkuläre Bewegung der Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie zu bezeichnen ist, indem das Ich sowohl als Ausgangs- als auch Endpunkt der Fremdwahrnehmung fungiert. In diesem Kapitel werde ich zunächst versuchen, die Husserl’sche Position sorgfältig zu rekonstruieren und damit zugleich ihre inneren Spannungen zu unterstreichen. Dann werde ich mich mit der Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie kritisch auseinandersetzen und in diesem Kontext auch die Thesen Lévinas’ und Derridas einbeziehen.
1. Die Husserl’sche Intersubjektivitätstheorie 1.1. Primordiale Reduktion und die Beschreibung der verschiedenen Stufen der Weltkonstitution Im Folgenden werde ich den Sinn der primordialen Reduktion sowohl im Hinblick auf die Cartesianischen Meditationen als auch auf einige Texte, die in den Husserliana-Bänden XIV und XV Zur Phänomenologie der Intersubjektivität enthalten sind, verdeutlichen. In den Cartesianischen Meditationen zielt die Analyse der Fremdwahrnehmung darauf ab, diejenigen Motivationszusammenhänge zu explizieren, in denen der Andere zur Gegebenheit kommt. Die Fremdkonstitution bedeutet keineswegs die Schöpfung des Anderen durch das Ich, sondern den phänomenologischen Ausweis derjenigen intentionalen Synthesis, durch die der Andere Seinsgeltung gewinnt (Hua VI, 189). Um den Sinn des Anderen phänomenologisch zu beschreiben, führt Husserl das Verfahren der primordialen Reduktion ein.
das verhältnis des ich zum anderen
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Der Terminus „primordial“, der systematisch bezüglich der Intersubjektivitätsproblematik ab Mitte der zwanziger Jahre auftritt75 , ist durch eine Zweideutigkeit gekennzeichnet, auf die Husserl selbst hinweist: 1. Zum einem bedeutet „primordial“ das, was unmittelbar und direkt, bzw. im Original zugänglich ist; 2. zum anderen muss „primordial“ in einem methodisch-solipsistischen Sinne verstanden werden. Zu 1. Die primordiale Reduktion muss hierbei als eine Einschränkung auf das wirklich Wahrgenommene ausgelegt werden (Hua XV, 129). Die Reduktion auf die Primordialität ist Reduktion auf die uroriginale Selbstgegebenheit. Aus dieser Perspektive gehören die Einfühlungen demnach zur uroriginalen Sphäre: Meine Einfühlungserlebnisse treten innerhalb der absolut abgeschlossen Sphäre meines Eigenen auf (Hua XV, 12). Die Primordialität bezeichnet Sein, das für das Ich durchaus in Uroriginalität erfüllbar ist: „Die primordiale konkrete Subjektivität umgreift alle Bewusstseinsweisen, also auch die einfühlenden und die den Ausdruck von Personen in Sachen verstehenden. Sie umfasst sie als original erfahren und erfahrbar.“ (Hua XV, 559)
Während die Einfühlungen in die originale Sphäre einzuschließen sind, bleiben ihre noematischen Korrelate dagegen außerhalb der primordialen Dimension: Das Korrelat geht über das originale Erfahrungsfeld hinaus. Eine solche These ist folgendermaßen zu verstehen: Auf keinen Fall kann ich einen unmittelbaren Zugang zu den Erfahrungen des Anderen haben. Es ist mir a priori verwehrt, die Möglichkeit zu verwirklichen, die in der aktuellen Wahrnehmung des Anderen besteht, wie z. B. seine Beobachtung eines äußeren Objekts. Ich kann mir, ausgehend von einem bestimmten Orientierungsmodus, nur die das räumliche Objekt konstituierende Abschattungsreihe vergegenwärtigen — so als ob ich die Position des Anderen einnehmen würde, als ob ich dort wäre, wo der Andere aktuell ist. Von dort aus eröffnet sich eine andere 75
Hier gilt es darauf hinzuweisen, dass Husserl zuerst die Form „primordinal“ — bis Herbst 1929 — konsequent verwendet. Danach gebraucht er den oben zitierten Terminus „primordial“. Diesbezüglich verweise ich auf die Anmerkung Iso Kerns — des Herausgebers der Husserliana-Bände XIII, XIV, XV Zur Phänomenologie der Intersubjektivität — in Hua XIV, S. 389, und auf die Einleitung des Bandes XV, S. XVIII.
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Perspektive des räumlichen Gegenstandes, eine Perspektive, die mir dank der intentionalen Funktion der Vergegenwärtigung in der Tat zugänglich ist. Entscheidend ist jedoch, dass der lebendige Blick des Anderen nie zur Gegebenheit (Selbstgebung) gebracht werden kann. Was er direkt anschaut, kann ich niemals als solches sehen. Zu 2. Gehen wir jetzt zur zweiten Bedeutung des dem Terminus „primordial“ über. Diese Bedeutung wird deutlich, wenn wir auf die Husserl’sche Beschreibung der primordialen Reduktion achten, sowie sie in den Cartesianischen Meditationen geliefert wird. Diese „eigentümliche“ Reduktion zielt methodisch darauf ab, eine Schicht einzugrenzen, die nichts Fremdes enthält. Diese Unterschicht kann insofern als solipsistisch bezeichnen werden, als dass sie keine Spur des Anderen in sich birgt: „Um hier richtig vorzugehen, ist es ein erstes methodisches Erfordernis, dass wir zunächst innerhalb der transzendentalen Universalsphäre eine eigentümliche Art thematischer Epoché durchführen.“ (Hua I, 124, m. H.) Diese Epoché auf meine transzendentale eigene Sphäre bedeutet eine Abstraktion von allem, was mir die transzendentale Konstitution als Fremdes ergibt (Hua I, 125). Ohne eine solche Reduktion auf das Eigene wäre es unmöglich, den Konstitutionsprozess phänomenologisch zu verfolgen, in dem sich das Fremde herausbildet: „Ist also, und als erstes, das ego in seiner Eigenheit umgrenzt, [ ] so muss, daran anschließend, die Frage gestellt werden, wie mein ego innerhalb seiner Eigenheit unter dem Titel ,Fremdwahrnehmung’ eben Fremdes konstituieren kann.“ (Hua I, 125 f.) In diesem Kontext definiert sich die primordiale Sphäre nicht durch die originale Selbstgebung, sondern sie erweist sich als Resultat eines abstraktiven Prozesses, wobei innerhalb der originalen Dimension jede Form von Fremdheit ausgeschaltet wird. Hierbei ist es angezeigt, den Sinn des Fremden näher zu bestimmen. Unter den Begriff „Fremdheit“ zählt Husserl: a) jede Art von ich-artigen lebenden Wesen (z. B. Menschen, Tiere); b) jede objektive Bestimmung, die auf die Funktion des Anderen verweist, wie geistige Aktivität, Kulturprädikate (z. B. Monumente, Bücher usw.) c) den objektiven Charakter der Welt und der Umwelt als Fürjedermann-da.
das verhältnis des ich zum anderen
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Die in einem methodisch-solipsistisch zu interpretierende primordiale Reduktion artikuliert sich in zwei Momenten: 1. Zuerst wird die konkrete Art und Weise untersucht, wie die von jeder Fremdheit befreite Sphäre des Eigenen auszulegen ist, bzw. wie sie sich entfaltet. Dabei wird der konstitutive Entstehungsprozess der primordialen Welt beschrieben. 2. Innerhalb der primordialen eigenen Sphäre wird dann der Eintritt des Anderen sorgfältig analysiert. Die Analyse der Fremdwahrnehmung stößt auf komplexe Phänomene wie die analogische Apperzeption sowie die eigentümliche Synthesis der Paarung. Zu 1. Die primordiale Reduktion geht davon aus, dass es methodisch möglich ist, eine letzte Schicht zu isolieren, die mit nichts Fremdem kontaminiert ist. Eigentlich geht Husserl noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur die eigene Sphäre als Ausgangspunkt der Analyse betrachtet, sondern ihr bezüglich der Fremderfahrung eine fundierende Funktion zuschreibt: „In der Abstraktion verbleibt uns eine einheitlich zusammenhängende Schicht des Phänomens Welt, des transzendentalen Korrelats der kontinuierlichen einstimmig fortgehenden Welterfahrung. [ ] Diese einheitliche Schicht ist ferner dadurch ausgezeichnet, dass sie die wesensmäßig fundierende ist, d.h. ich kann offenbar nicht das ,Fremde’ als Erfahrung haben, also nicht den Sinn objektive Welt als Erfahrungssinn haben, ohne jene Schicht in wirklicher Erfahrung zu haben, während nicht das Umgekehrte der Fall ist.“ (Hua I, 127, m. H.)
Obwohl das Verhältnis zum Anderen zum Wesen der Monade, und zwar zum Ich in seiner konkreten Form gehört, ist es von größter Bedeutung, eine Asymmetrie zwischen dem Fremden und dem Eigenen, zwischen der so genannten primären und sekundären Sphäre76 , zu betonen: Die Fremderfahrung konstituiert sich innerhalb der Sphäre des Eigenen. Die primordiale Sphäre, in der sich jede ursprüngliche Sinnbildung konstituiert, ist „Unterlage für die höhere Sinnbildung durch Intersubjektivität“ (Hua XV, 46). Das Eigene und das Fremde sind keineswegs gleichursprünglich, vielmehr beruht ein Moment auf dem anderen.
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Die sekundäre Sphäre betrifft die unzugängliche Dimension des Anderen bzw. sein lebendiges und ursprüngliches Fungieren.
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Husserl beschreibt die primordiale Sphäre ausgehend vom eigenen Leib und seinem Korrelat: der Natur. Innerhalb der primordial reduzierten Natur nimmt mein Leib eine privilegierte bzw. außerordentliche Position ein, indem er das einzige Objekt innerhalb meiner abstraktiven Weltschicht ist, „dem ich erfahrungsgemäß Empfindungsfelder zurechne“ (Hua I, 128); der Leib ist das einzigartige Objekt, „,in’ dem ich unmittelbar ,schalte und walte’, und insonderheit walte in jedem seiner ,Organe’.“ (Hua I, 127) In dieser primordial reduzierten Sphäre werde ich mir nicht nur dessen bewusst, dass ich in einem Leib „walte“, sondern auch, dass mein ,Sein’ durch einen unendlichen Erlebnisstrom bestimmt ist (Hua I, 127), der aus verschiedenartigen Akten (Wahrnehmung, Wiedererinnerung, Phantasie usw.) in ihrer Aktualität und Potentialität besteht. Die vielfältigen Bestimmungen meines eigenen ego erschließen sich allmählich in der explizierenden Blickrichtung auf mich selbst. Die Selbstgegebenheit der Phänomene, die durch eine solche Selbstauslegung der eigenen Sphäre des ego zum Vorschein kommen, wird als die ursprünglichste bewertet (Hua I, 127). Bei weiterer Untersuchung wird ersichtlich, dass die primordiale Sphäre nicht nur die noetische Seite — wie die Akte oder die Habitualität des Ich —, sondern auch die hyletischen Daten sowie die noematischen Einheiten, wie z. B. die transzendenten Gegenstände äußerer Wahrnehmung, enthält: Die noematischen Einheiten sind letztlich von meinem Erlebnisstrom untrennbar. Dadurch konstituiert sich eine echte primordiale Welt. Zu 2. Nach dieser Eingrenzung der primordialen Sphäre stellt Husserl die entscheidende Frage, die im Zentrum der Intersubjektivitätstheorie steht: Wie ist es möglich, eine neuartige Intentionalität mit ihrem Seinsinn auszuweisen, der mein Sein ganz und gar transzendiert? Das Sein des Anderen, der wirklich außerhalb meiner selbst ist, lässt sich keineswegs auf „einen Schnittpunkt meiner konstitutiven Synthesis reduzieren“ (Hua I, 135). Hierbei gilt es zu betonen, dass die Fremdwahrnehmung als die erste und fundierende Stufe der intersubjektiven Konstitution anzusehen ist. In der Schrift Husserl und die transzendentale Intersubjektivität hat Zahavi dagegen versucht, die Objektivität der Welt als Ausgangspunkt der Fremderfahrung zu betrachten. Für eine solche These gibt es in den Husserl’schen Texten — weder in den Cartesianischen Meditationen noch in den Forschungsmanuskripten aus den dreißiger Jahren — keine hin-
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reichende Bestätigung. Der in den Cartesianischen Meditationen vertretene Ansatz ist auch in den Husserliana Bänden XIII, XIV und XV der vorherrschende. In diesem Sinne ist es angebracht, mit Verweis auf § 49 der Cartesianischen Meditationen einen Blick auf das Ganze der Intersubjektivitätstheorie Husserls zu werfen: a) Die Fremdwahrnehmung beruht auf der Einfühlung: Das an sich erste Fremde ist das andere Ich (Hua I, 137). b) Die zweite Form der Fremdheit besteht in der Objektivität der Natur als Für-Jedermann-da. Dass das Wahrgenommene für Jedermann zugänglich ist, setzt schon die Begegnung mit dem Anderen voraus. In verschiedenen Textstellen kommt unmissverständlich eine solche konstitutive Abstufung zur Sprache. Die folgende Passage kann stellvertretend für viele andere sein: „Der Seinssinn ,objektive Welt’ konstituiert sich auf dem Untergrunde meiner primordialen ,Welt’ in mehreren Stufen. Als erste ist abzuheben die Konstitutionsstufe des ,Anderen’ oder ,Anderer überhaupt’, das ist aus meinem konkreten Eigensein (aus mir als dem primordialen ego) ausgeschlossener ego’s. Damit in eins, und zwar dadurch motiviert, vollzieht sich eine allgemeine Sinnesaufstufung auf meiner primordialen ,Welt’, wodurch sie zur Erscheinung ,von’ einer bestimmten ,objektiven’ Welt wird, als der einen und selben Welt für jedermann, mich selbst eingeschlossen.“ (Hua I, 137, m. H.)
c) Eine weitere Form der Fremdheit, die auf der oben dargestellten beruht, ist die Vergemeinschaftung: Der Andere und Ich bilden zusammen eine Gemeinschaft, gehören z. B. zu derselben Familie, zu demselben Volk, Staat, usw. Hierbei kommt das Wort „wir“ zustande. Die Vergemeinschaftung setzt sowohl die Einfühlung als auch eine objektive, gemeinsame Welt voraus. Transzendental ausgedrückt spricht man von einer Monadengemeinschaft, deren Korrelat die intersubjektiv konstituierte Welt ist.77 77
In diesem Kontext beschränkt sich meine Analyse der Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem auf die — konstitutiv betrachtet — elementare Ebene. Eine umfassendere Forschung muss berücksichtigen, dass sich meine Einfühlungen nicht nur auf die Wahrnehmungen des Anderen, sondern auch auf seine Phantasie oder Wiedererinnerungen beziehen können. In diesem Sinne spricht Husserl von einer tertiären Sphäre. Darüber hinaus muss sie auch das Phänomen der „Entfremdung“ in Betracht ziehen, wobei durch die Begegnung mit dem Anderen ich mich „verfremde“
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Wie ist dann die Einfühlung zu beschreiben, die als die Erste und fundamentale Erfahrung des Fremden in einem intersubjektiven Sinn gilt? Die Beschreibung des Phänomens der Einfühlung ist deshalb so schwierig, weil sie gleichzeitig gegensätzliche Aufgaben zu erfüllen hat: Sie muss meiner leibhaften Erfahrung des Anderen — und zwar dass der Andere „in Fleisch und Blut“ vor mir steht —, der absoluten Trennung zwischen seinem und meinem Erlebnisstrom und damit zugleich der Forderung der transzendentalen Epoché nach Selbstgebung sowie Voraussetzungslosigkeit gerecht werden, obwohl jede direkte Anschauung der Erlebnisse des Anderen prinzipiell ausgeschlossen ist: „Wäre das der Fall, wäre das Eigenwesentliche des Anderen in direkter Weise zugänglich, so wäre es bloß Moment meines Eigenwesens, und schließlich er selbst und ich selbst einerlei.“ (Hua I, 139) Um den phänomenologischen Sinn des Anderen sachgerecht zu beschreiben, geht Husserl von einer sich innerhalb der Wahrnehmung abspielenden Erfahrung aus: „Nehmen wir nun an, es tritt ein anderer Mensch in unseren Wahrnehmungsbereich, so heißt das, primordial reduziert: Es tritt im Wahrnehmungsbereich meiner primordialen Natur ein Körper auf, der als primordialer natürlich bloß Bestimmungsstück meiner selbst (immanente Transzendenz) ist.“ (Hua I, 140)
Als Ausgangspunkt der Einfühlung gilt eine sinnlich-räumliche Erfahrung. Was innerhalb der natürlichen Einstellung als Mensch interpretiert würde, zeigt sich dagegen innerhalb der primordial reduzierten Sphäre als ein Körper bzw. als eine Einheit meines intentionalen Lebens. Der Körper sowie jedes andere Objekt der äußeren Wahrnehmung konstituiert sich durch Appräsentationen, welche immer mit originären Präsentationen verflochten sind. Sobald ich die Vorderseite eines Dinges sehe, appräsentiere ich die Rückseite bzw. mache ich sie mit-gegenwärtig (Hua I, 139). Der Körper, der jetzt in mein Wahrnehmungs- bzw. Sehfeld eingetreten ist, ist jedoch durch eine besondere Eigentümlichkeit gekennzeichnet, die sich von jeder anderen Dingauffassung unterscheidet: Ich nehme ihn als Leib wahr.
(Hua XV, 76 f.; vgl. Theunissen, 1965, 141). Die Entfremdung ist als eine Doppelbewegung zu betrachten: „Indem ich mich zum Fremden mache, nehme ich dem Anderen seine Fremdheit.“ (Waldenfels, 1995, 62)
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Die Erfassung des Körpers als Leib beruht auf einer passiven Assoziation der Ähnlichkeit.78 Diese Art von Assoziation wird von Husserl als Paarung näher bestimmt. Allgemein gesprochen definiert sich die Paarung dadurch, dass in dem Bewusstseinsstrom zwei abgehobene Daten passiv bzw. unabhängig von jedem Akt der Aufmerksamkeit „eine Einheit der Ähnlichkeit begründen, also eben stets als Paar konstituiert sind.“ (Hua I, 142) Diese Art der Synthesis ist schon in den Vorlesungen zur transzendentalen Logik aus dem WS 1920/21 untersucht worden. Im Fall der Fremdwahrnehmung nimmt die Paarung eine besondere Gestalt an. In meinem Wahrnehmungsfeld ist mein primordiales Ich, und insbesondere mein Leibkörper, immer abgehoben. Falls ein Körper eintritt, der eine überraschende Ähnlichkeit — sowohl morphologisch als auch im Hinblick auf das Verhalten — mit meinem Leib hat, entsteht eine Assoziation, die ihm den Sinn „Leib“ gibt: „Tritt nun ein Körper in meiner primordialen Sphäre abgehoben auf, der dem meinen ,ähnlich’ ist, d.h. so beschaffen ist, dass er mit dem meinen eine phänomenale Paarung eingehen muss, so scheint nun ohne weiteres klar, dass er in der Sinnesüberschreitung alsbald den Sinn ,Leib’ von dem meinen her übernehmen muss.“ (Hua I, 143)
Im Hinblick auf die Erfahrung des Fremden fungiert mein Leib in der paarenden Assoziation nicht nur als „Original“, sondern auch als Fundament. Mein Leib ist als absolutes Hier, als Nullpunkt der Orientierung zu betrachten, in dem alle Dinge ihre Position finden: Ich kann selbstverständlich meine räumliche Position wechseln; dementsprechend kann ich die Dinge und ihre Erscheinungsweise aus verschiedenen Perspektiven anschauen, aber jede Art der sinnlichen Erscheinung konstituiert sich in Bezug auf meinen Leib, der sich als Zentrum der Konstitution zeigt. Der Leib der Anderen hat dagegen a priori den Modus des Dort (Hua I, 145). Gleichzeitig ist zu betonen, dass die paarende Assoziation auf einer passiven Ebene stattfindet: Gesetzt, dass in meinem Wahrnehmungsfeld ein meinem Leib ähnlicher Körper eintritt, entsteht die Assoziation 78
„Es ist von vornherein klar, dass nur eine innerhalb meiner Primordialsphäre jenen Körper dort mit meinem Körper verbindende Ähnlichkeit das Motivationsfundament für die analogisierende Auffassung des ersteren als anderer Leib abgeben kann.“ (Hua I 141, m. H.)
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„von sich selbst“. Die Ähnlichkeit der Daten affiziert mich — auch in diesem Zusammenhang spielt die Affektion eine wesentlich Rolle (Hua I, 142) — und dadurch erfassen wir mit einem Schlag, und zwar ohne irgendeinen Akt oder eine Schlussfolgerung, den Körper als Leib des Anderen. Der Ausdruck „mit einem Schlag“ weist darauf hin, dass wir — ganz genau wie bei der Erfassung eines Werkzeuges — nicht zuerst ein allgemeines Ding sehen und dann durch einen zusätzlichen Akt ein lebendiges Wesen begreifen. Wir erfassen direkt und unmittelbar das Erscheinende vor uns als Leib. Husserl geht davon aus, dass jede Art von Apperzeption der Genesis unterworfen ist. Die Erfassung eines Werkzeuges verweist auf eine urstiftende Erfahrung, die diese Dimension der Zweckbestimmung eröffnet hat: Wir haben als Kind gelernt, ein Ding als Werkzeug zu „sehen“ (vgl. S. 44). Die Erfassung des Körpers als Leib des Anderen stiftet ihrerseits eine bestimmte Appräsentation, die durch einen eigentümlichen Stil der Bewährung gekennzeichnet ist. In meiner primordialen Sphäre bekundet sich der fremden Leib „in seinem wechselnden, aber immerfort zusammenstimmenden Gebaren derart, dass, dieses seine physische Seite hat, die Psychisches appräsentierend indiziert, das nun in originaler Erfahrung erfüllend auftreten muss.“ (Hua I, 144) Die psychische Seite kann nie a priori von mir erfüllt werden, sondern nur von dem Anderen; aber der Verlauf der Präsentationen weist — dank der Einstimmigkeit der Synthesis — darauf hin, dass dort, in „jenem“ Punkt meiner primordialen Sphäre bzw. meiner Sinnlichkeit, eine Verflechtung zwischen dem Leib und dem waltenden Ich des Anderen stattfindet. Nachdem ich die primordiale Reduktion dargestellt habe, möchte ich einen (ersten) Interpretationsversuch dieses Verfahrens liefern, das auf den ersten Blick zweifelsohne etwas Merkwürdiges an sich hat. Die primordiale Reduktion scheint die folgende Frage beantworten zu wollen: Vorausgesetzt, dass in meinem Erfahrungsfeld kein Subjekt aufgetreten ist, woran ist zu erkennen, dass ein Seiendes als Ich zu betrachten ist? Wie entsteht — konkret — der Sinn des Anderen? Durch die primordiale Reduktion werden die ursprünglichen Sinnbildungen ausfindig gemacht, in denen sich der Sinn des Anderen konstituiert. Die primordiale Reduktion zielt dementsprechend darauf ab, die Sinnentstehung des Anderen zu verfolgen. Um eine solche Entstehung zu beschreiben, ist es erforderlich, die primordiale Welt, die von jeder Art
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von Fremdheit befreit ist, als Ausgangspunkt zu nehmen. Man könnte von daher sagen, dass die primordiale Reduktion einer Inszenierung ähnelt, welche die phänomenologische bzw. die genetische Analyse des Entstehungsprozesses des Anderen ermöglicht. Obwohl Husserl selbst behauptet, dass die in den Cartesianischen Meditationen durchgeführte Analyse der Intersubjektivität in die statische Phänomenologie fällt, erfüllt die primordiale Reduktion letztlich eine genetische Funktion. Husserl beabsichtigt lediglich, die urstiftende Erfahrung hervortreten zu lassen, durch die wir den Körper als Leib des Anderen erfassen. Nach diesem Interpretationsvorschlag wäre es erforderlich, den grundwesentlichen Unterschied zwischen der primordialen und der transzendentalen Reduktion zu schildern. Die transzendentale Reduktion eröffnet eine phänomenologische Dimension, in der sich die notwendige Korrelation zwischen Noesis und Noema zeigt — eine Dimension, die nie aufgehoben oder überwunden werden kann. Obwohl auch die transzendentale Dimension weiter vertieft werden kann, indem man z. B. den apodiktischen Charakter der Phänomene durch die so genannte apodiktische Reduktion untersucht, fällt jede Art von phänomenologischer Untersuchung sowie jede Form der Reduktion (eidetisch, apodiktisch, primordial usw.) in die transzendentale Epoché. Dagegen erfüllt die primordiale Reduktion ausschließlich eine methodische Funktion: Sie grenzt die Sphäre des Eigenen ein, um den Sinn des Anderen zu explizieren: Die auf das Fremde gerichtete Intentionalität ist nur „aus methodischen Gründen“ auszuschalten (Hua I, 125). Nachdem sie diese Funktion erfüllt hat, verliert diese Reduktion ihre Existenzberechtigung: Sie wird somit aufgehoben. In seiner Fülle ist das Ich als Monade mit dem Anderen unablösbar verbunden. Die Subjektivität erweist sich letztlich als Intersubjektivität. Diese Interpretation scheint mir jedoch nicht überzeugend: Jedes angeblich rein methodische Verfahren hat metaphysische Implikationen. Jede Hypothese setzt eine These voraus. Was wie eine Inszenierung scheint, verrät vielleicht ein ursprüngliches Erfahrungsfeld. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf aufmerksam machen, dass Husserl selbst zwei Begriffe von Solipsismus unterschieden hat. Die genaue Unterscheidung dieser beiden Formen des Solipsismus macht das Hauptthema des folgenden Abschnittes aus.
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1.2. Die Zweideutigkeit des Solipsismus Husserl ist sich der Zweideutigkeit des Begriffes „Primordialität“ bewusst. In verschiedenen Texten grenzt er eine Reduktion der Primordialität im Sinne der originalen Selbstgebung deutlich von einer Reduktion im Sinne des Solipsismus ab: „Die solipsistisch reduzierte Welt ist nicht zu verwechseln mit der primordialen Welt, oder die solipsistiche Reduktion mit der primordialen Reduktion. Denn diese ist die Reduktion dessen von der Welt, die ich erfahrungsmäßig in Geltung habe, auf das von ihr, was ich originaliter erfahre und je erfahren kann. Damit reduziere ich mich auf mein primordiales Ich als Schichte meines konkreten Ich. Zum Primordialen gehören alle meine einfühlenden Erfahrungserlebnisse, nicht aber die darin wenn auch rechtmäßig erfahrenen Anderen.“ (Hua XV, 51)
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass in der primordialen Reduktion im Sinne der originalen Erfahrung die Einfühlungen — selbstverständlich ohne ihre Korrelata — mit einbezogen sind, während es in der zweiten Art der Reduktion eigentlich darum geht, jede Art von Fremdheit auszuschalten. Die Beilage I des Husserliana-Bandes XV verdient deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil Husserl hier nicht nur ausdrücklich die zwei Bedeutungen der Reduktion thematisiert und auseinanderhält, sondern weil er auch das Verhältnis zwischen den von den unterschiedlichen Reduktionen eröffneten Dimensionen näher bestimmt. Durch eine solche nähere Bestimmung entsteht ein neuer Sinn des Solipsismus, der über die methodische Forderung hinausgeht. Was zuerst eine solipsistische Welt ist, wird — durch den Eintritt des Anderen in mein Erfahrungsfeld — zu einer intersubjektiven Welt: Eine solipsistische Welt könnte sich so in der „Forterfahrung“ gestalten, „dass in mir die Erfahrungsmotivationen erwachsen, mit denen Einfühlungen auftreten, und in der möglichen Einstimmigkeit einfühlungsmäßiger Fortbestätigung sind dann rechtmäßig Andere da, und damit gewinnt die solipsistische Welt im Lauf der Forterfahrung den Sinn einer intersubjektiven Welt [ ].“ (Hua XV, 51) Hierbei ist von einer Genesis einer solipsistischen Welt zu einer intersubjektiven Welt die Rede. Husserl fährt folgendermaßen fort: „Oder zum Wesen des sich als solus findenden Ich gehört, dass es im Lauf seines Fortlebens sich als socius von Genossen finden könnte. Das könnte darauf hinweisen, dass ich und jeder Mensch eine subjektive Entwicklung und letztlich eine transzendentalsubjektive haben dürfte und vielleicht wesensnotwendig hat, in der ich mir in der
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transzendentalen Immanenz meines Seins und Lebens zuerst eine, wenn auch sehr arme, solipsistische Welt intentional aufbaue und dann wieder stufenweise mittels der einfühlenden Erfahrungen das Sein von Anderen und durch sie hindurch — stufenweise — eine Welt im vollen Sinn.“ (Hua XV, 52)
In diesem Kontext ist die Sphäre des Eigenen als ursprüngliches Erfahrungsfeld zu betrachten, in dem das Phänomen der Selbstgebung stattfindet. Es handelt sich nicht mehr, wie in den Cartesianischen Meditationen, um den Ausweis eines Fundierungsverhältnisses, das sich, obwohl es eine genetische Funktion erfüllt, als ein abstraktives Verfahren erweist, sondern um eine Beschreibung der konkret genetischen „subjektiven Entwicklung“ des Ich; eine Entwicklung, die „vielleicht wesensnotwendig“ durch einen Übergang von einer solipsistischen zu einer intersubjektiven Sphäre bestimmt ist. Es gilt zu betonen, dass Husserl unmissverständlich mehrmals den Ausdruck „im Laufe der Forterfahrung“ des Ich oder „im Fortgang seines erfahrenden Lebens“79 verwendet. Von daher ist es von größter Bedeutung, einen methodischen Solipsismus von einer anderen Form des Solipsismus zu unterscheiden, der als Erfahrungsfeld anzusehen ist. Nicht nur in der Beilage I, sondern auch in der Beilage XXXIX des Husserliana-Bandes XV kommt diese zweite Form des Solipsismus zur Sprache. In diesem Text grenzt sich die Frage nach der Erdenklichkeit eines allein seienden Ich-Subjektes in einer Umwelt, „die nicht das Mindeste in ihrem Seinssinn hätte, das auf andere IchSubjekte verweist“ (Hua XV, 562), deutlich von der Frage nach der Geltung des Anderen ab. Zwei unterschiedliche Fragestellungen sind demnach streng auseinanderzuhalten: Eine Frage betrifft das konstitutive Problem, wie sich der Sinn des Anderen herausbildet, wenn die Welt ihren Seinssinn nur aus meinem Bewusstseinsleben schöpft. Die andere Frage bezieht sich dagegen auf die konkrete, „wirkliche“ und zwar erfahrungsmäßige Möglichkeit eines Subjektes ohne alter ego: „Es kann nur aber die Frage gestellt werden, ob nicht die primordiale ,Welt’ als solche und nicht als Gegebenheitsschichte der intersubjektiv identischen Welt, der Welt,
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„Zu den Wesensmöglichkeiten einer solipsistischen Welt gehört, dass sie sich dem Ich im Fortgang seines erfahrenden Lebens enthüllt als nicht bloß solipsistische Welt, sondern als beschränkte Vorstellung einer intersubjektiven.“ (Hua XV, 51 f.)
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die wir vorgegeben haben, eine Wesensmöglichkeit darstellt oder so abzuwandeln ist zu einer Wesensmöglichkeit, die unabhängig von dem Sich-Darstellen von anderen Subjekten als eine solipsistische Welt denkbar wäre. [ ] Kann es nicht überhaupt als möglich gedacht werden, dass mein Leib in meiner durch ihn konstituierten Natur nie seinesgleichen hätte, kein Analogon, das Einfühlung motivierte? [ ] Es ist also die Frage, ob es eine auszudenkende Möglichkeit ist, ich also von mir wirklich alles abtun könnte, was den Konnex mit Anderen voraussetzt bzw. aus der Welt alles [abtun könnte], was sie zur kommunikativen Welt macht.“ (Hua XV, 561 f., m. H.)
In dieser Passage muss das Adjektiv „wirklich“ betont werden. Der Sinn dieses Adjektivs geht über die Verstärkungsfunktion hinaus. Hier ist mit „wirklich“ eine konkrete Erfahrungsmöglichkeit gemeint. Anders gesagt: Ist es möglich, dass sich in der Wirklichkeit eine Welt zeigt, die keine Spur des Anderen enthält? Wenn wir auf den Begriff der primordialen Reduktion zurückgreifen, muss die folgende Frage gestellt werden: Isoliert die primordiale in einer solipsistisch zu interpretierenden Reduktion nur eine Geltungssphäre oder lässt sie ein echtes Erfahrungsfeld hervortreten? Die Zweideutigkeit des Begriffes des Solipsismus macht den schmalen Grat deutlich, der in der Husserl’schen Phänomenologie die durch ein abstraktives Verfahren entstandenen konstitutiven Schichten von dem Reich der Erfahrung trennt: Das, was in einem konstitutiven Sinne als fundierend angesehen wird, kann zu einer Erfahrungsmöglichkeit werden. Nicht nur hinsichtlich der solipsistischen Sphäre, sondern auch in anderen Kontexten ist es oft sehr schwierig, die Grenze zwischen Konstitutionsschichten und konkreten Erfahrungsmöglichkeiten zu ziehen. In diesem Zusammenhang sei an die in § 49 der Ideen I dargestellte radikale Möglichkeit der Weltvernichtung erinnert: Obwohl sich die Welt „in Schein“ verwandelt, bleibt die chaotische Mannigfaltigkeit ichlicher Erscheinungen als letztes wirkliches und absolutes Residuum bestehen: „Dann leuchtet es ein, dass das Sein des Bewussteins, jedes Erlebnisstromes überhaupt, durch eine Vernichtung der Dingwelt zwar notwendig modifiziert, aber in seiner eigenen Existenz nicht berührt würde.“ (Hua III/1, 115) Es gilt hervorzuheben, dass sowohl bezüglich der Möglichkeit der Weltvernichtung als auch angesichts der solipsistischen Reduktion von Husserl dieselbe Terminologie verwendet wird: Die jeweils betroffenen Phänomene (die Welt und der Andere) lösen sich in Schein auf. Sie
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modifizieren den Erlebnisstrom, ohne jedoch die Existenz des Ich als solche zu gefährden.80 Wenn wir die bisherigen Ergebnisse zusammenfassen möchten, muss zuerst eine Form der primordialen Reduktion im Sinne der originalen Selbstgegebenheit von einer primordialen Reduktion in einem solipsistischen Sinne streng unterschieden werden. Letztere schaltet jede Geltung des Anderen aus: Jede Art von Fremdheit ist somit in Schein verwandelt. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, die ursprünglichen stiftenden Motivationszusammenhänge zu rekonstruieren, in denen sich innerhalb der eigenen Sphäre der Sinn des Anderen konstituiert. Diese Art von Solipsismus, die als methodisch zu bezeichnen ist, ist wiederum klar von einer Form des Solipsismus abzusondern, welche die konkrete, „wirkliche“ Möglichkeit einer Welt ohne Andere offen lässt. 1.3. Das Ich und nicht die Intersubjektivität als letzter Geltungsboden Vor dem Hintergrund der oben durchgeführten Analyse der primordialen Reduktion kann ich die These nicht teilen, nach der sich im Spätwerk Husserls ein radikaler Paradigmenwechsel durchgesetzt haben soll. Die These von einem Paradigmenwechsel, nach der nicht mehr die solipsistisch zu interpretierende primordiale Sphäre, sondern die Intersubjektivität als der letzte Geltungsboden zu betrachten ist, wird sowohl von den vorher zitierten Forschern wie Zahavi und Depraz als auch von Steinbock vertreten. Sie entdecken vor allem in den Texten aus dem Husserliana-Band XV eine Umgestaltung der Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie, welche die aus den Cartesianischen Meditationen gewonnenen Ergebnisse im Wesentlichen korrigiert. Der Herausgeber der Husserliana-Bände über die Intersubjektivität — Iso Kern — ist der Auffassung, dass Husserl im Spätwerk seine in den Cartesianischen Meditationen herausgestellte solipsistische Perspektive revidiert: In seiner Einleitung zum Husserliana-Band XV verweist er auf mehrere Textstellen Husserls, welche das Primat des solipsistischen Ich als letzten Trägers der Weltgeltung in Frage zu stellen scheinen. Im Folgenden werde ich mich mit der Auslegung Kerns auseinandersetzen
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„Das immanente Sein ist also zweifellos in dem Sinne absolutes Sein, dass es prinzipiell nulla ,re’ indiget ad existendum.“ (Hua III/1, 115)
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und auf die von ihm hervorgehobenen Textstellen Husserls eingehen, die wiederholt auch von anderen Forschern als Grundlage für die intersubjektive Deutung der letztkonstituierenden Sphäre benutzt werden. Zunächst weist Kern auf die Inkompatibilität zwischen dem Begriff der Erweiterung und dem der Implikation hin. Nach dieser Interpretation zeigt sich in den Cartesianischen Meditationen eine Zweideutigkeit bezüglich des Begriffes der egologischen Sphäre. In § 8 der ersten Meditation wird eine Epoché vollzogen, die jeden Bezug zum Anderen ausschaltet. Die transzendentale Sphäre lässt sich demnach mit meiner eigenen konstituierenden Subjektivität identifizieren (§ 8, Hua I, 58 f.). Hier geht man von einem solipsistischen Ich aus, das stufenweise den Sinn des Anderen gewinnt: Der Eintritt des Anderen bedeutet somit stricto sensu eine Erweiterung der transzendentalen Sphäre, die ursprünglich solipsistisch ist. Gleichzeitig gibt sich die fünfte Meditation nicht als eine Erweiterung der transzendentalen Sphäre, „also nicht als ein Überschreiten eines zunächst eingenommenen ,solipsistischen Standpunktes’, sondern als eine Explikation (Auslegung, Enthüllung) der schon gewonnenen transzendentalen Sphäre, bzw. als Aufweis des transzendentalen Solipsismus als einen bloßen Schein.“ (Kern, 1973, XXXIII) In diesem zweiten Fall entdeckt die egologische Reduktion die Intersubjektivität als eine genauere, bestimmtere, umfassendere Form der Subjektivität, die immer schon implizit da war: „Die egologisch Reduktion ist also keineswegs identisch mit der primordinalen (Reduktion auf die Eigenheitssphäre), sondern diese ist nur ein methodischer Schritt innerhalb jener mit dem Ziele, sie als intersubjektive zu bestimmen. M.a.W., das transzendentale Feld muss implizit bereits in den ersten vier Meditationen ein intersubjektives sein; das Transzendentale ist an sich schon von Anbeginn der Reduktion Intersubjektivität.“ (Kern, 1973, XXXIII)
Kern zitiert eine wichtige Passage aus Text Nr. 5 (Hua XV), um deutlich zu machen, dass sich Husserl selbst der Ambiguität der Reduktion auf die transzendentale Subjektivität bewusst ist: „,Reduktion auf transzendentale Subjektivität’, das wird sich als zweideutig erweisen. Die in der Epoché setzbare Subjektivität wird zu verstehen sein als ,meine monadisch eigene’, des phänomenologisierenden Ich monadisch eigene Subjektivität, und als die in dieser sich erschließende transzendentale Intersubjektivität.“ (Hua XV, 73)
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Der Übergang von einer cartesianischen Perspektive zu einer intersubjektiven wird nach Kern besonders im Zusammenhang mit der lebendigen Gegenwart ersichtlich: Während im Manuskript C 17 die Reduktion auf die lebendige Gegenwart noch das Ich als den letzten absoluten Boden aller Geltungen voraussetzt, zeigt sich dagegen im Manuskript C 3 die Intersubjektivität als das Absolute (Ms. C 3, Mat. VIII, 57). In diesem Zusammenhang kommt Husserl zu der Festlegung, [ ]„dass der Andere als transzendentales Mitsubjekt und als strömende Mitgegenwart von der strömenden Gegenwart des ego unabtrennbar ist. [ ] Jene neue Feststellung würde bedeuten, dass ,der absolute Boden aller meinen Geltungen’ die transzendentale Intersubjektivität ist und dass sich die Phänomenologie vom Augenblick ihrer Etablierung als transzendentale im Rückgang von der Welt auf die konstituierende strömend lebendige Gegenwart auf einen intersubjektiven Boden stellt, auf den der ,urströmenden Intersubjektivität’.“ (Texte aus dem Nachlass, in Kern 1973a, XLVIII)
Auch in einer Passage aus Text Nr. 13 Hua XV erweist sich die im ego implizierte Intersubjektivität als „die wahrhafte Dimension der Phänomenologie.“ Aus verschiedenen Gründen halte ich diese Interpretation für nicht stichhaltig: Ausgehend von der solipsistischen Sphäre ist zunächst die Fremdwahrnehmung des Eigenen auszulegen. Die solipsistische Sphäre hat, wie oben dargestellt, zwei verschiedene Bedeutungen: Eine sozusagen schwächere, die sich als methodisches Verfahren abzeichnet, und eine andere stärkere, die auf die Möglichkeit einer wirklichen Welterfahrung ohne Fremdsubjekte hinweist. Vor allem im Bezug auf die methodische Funktion des Solipsismus besteht eine eindeutige Konkordanz nicht nur in den Texten aus den zwanziger Jahren, sondern auch in den Forschungsmanuskripten aus den dreißiger Jahren: Die Intersubjektivität ist keineswegs der letztkonstituierende Boden, sondern wird vom Ich in Geltung gesetzt. Die Intersubjektivität kann nur als Korrelat der Welt in ihrer ganzen Konkretheit als absolut betrachtet werden. Dieses Absolute ist seinerseits relativ zum urtümlichen Ich. Das Ich bleibt der letzte Boden aller (auch intersubjektiven) Geltungen. Wenn sich der Sinn des Anderen in einem einstimmigen Stil der Erscheinung nicht bestätigen würde, müsste die Intersubjektivität als unseiend bewertet werden.
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Hier zitiere ich eine Stelle, die stellvertretend für viele andere ist. Sie stammt aus dem Jahr 1934, und zwar aus einer Zeit, in der die Unterscheidung zwischen der solipsistischen und der primordialen Reduktion schon festgestellt worden ist: „Aber Ich bin doch Ich, bevorzugt als der Geltungsträger der für mich seienden Welt. Sie ist zwar als Einheit wirklicher und möglicher Erfahrung bezogen auf die Allheit der fungierenden Subjekte, aber diese Allheit ist das All der aus meiner Primordialität her ihren Seinssinn für mich gewinnenden mitfungierenden Subjekte, und nur das bleibt übrig, dass sie notwendig von mir aus die Geltung und mit dem Sinn erhalten als je ihr All von Subjekten zur Geltung bringend, mich darin beschlossen, dass sie je von sich aus das Weltall konstituieren als Welt möglicher Erfahrung, wobei das Weltall und darin das als Menschen verleiblichte und verweltlichte Ichall ein und dasselbe sei für alle.“ (Hua XV, 645–646)
Wenn Husserl einige Spannungen im Hinblick auf die transzendentale Subjektivität (mein eigener Bewusstseinsfluss und die Intersubjektivität), die primordiale Sphäre (die der uroriginalen Selbstgegebenheitsdimension und die solipsistische) und die solipsistische Sphäre (Geltungsschicht und Erfahrungsfeld) hervorhebt, stellt er keineswegs das Primat des Ich in Frage. Er bemüht sich lediglich darum, in den jeweils unterschiedlichen Bereichen eine neue kohärente Artikulierung der Phänomene zu finden, die in den Cartesianischen Meditationen noch nicht völlig „durchsichtig“ geworden waren. Die Ambiguität der transzendentalen Subjektivität kann des Weiteren nicht durch den Gegensatz zwischen dem Begriff der Erweiterung und dem der Implikation verstanden werden. Zum einen werden zwei Begriffe (Erweiterung und Implikation) gegenübergestellt, die innerhalb der transzendentalen Sphäre eine innere Affinität haben. Zum anderen führt ein solcher Gegensatz zu einer Verkennung der Husserl’schen Fundierungsordnung. Im Bereich der natürlichen Einstellung ist es tatsächlich unmöglich, im Hinblick auf die Intersubjektivitätstheorie den Begriff der Erweiterung mit dem der Implikation in Einklang zu bringen: Der erste Begriff weist auf eine Bewegung hin, die von einer völlig solitären, solipsistischen zu einer intersubjektiven Welt führt. Der Sinn des Anderen wird dementsprechend im Lauf der Erfahrung gewonnen. Der zweite Begriff verweist dagegen auf die gegensätzliche These, nach der das Ich a priori als Mitglied einer Sozialität anzusehen ist: Es hat von vornherein einen Bezug zum Anderen.
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In einem transzendentalen Bereich und insbesondere im Bezug auf die primordiale Reduktion im Sinne von Selbstgegebenheit hat eine solche Gegenüberstellung jedoch keine Berechtigung: Die Epoché schaltet den Weltglauben hinsichtlich jeder Art von Seiendem aus. Selbst die fremden Subjekte als Seiende werden demnach „eingeklammert“. Wenn ein Phänomen — in diesem Fall der Andere — jedoch in einer einstimmigen Erfahrung zur Gegebenheit kommt, muss man dies als transzendentales Faktum betrachten. Es ist nicht nur zwecklos, sondern phänomenologisch illegitim, es zu leugnen und als Schein zu bewerten. Dadurch erweitert sich die egologische Dimension und gleichzeitig expliziert sich das, was schon als Eingeklammertes impliziert war, jedoch noch nicht in Geltung gebracht werden konnte, um der Forderung der Epoché nach Selbstgebung und Voraussetzungslosigkeit gerecht zu werden. Darüber hinaus gilt es hervorzuheben, dass eine tiefer gründende Analyse der von Kern zitierten Husserl’schen Texte beweist, dass sich kein Primat der Intersubjektivität abzeichnet, sondern in diesen Texten dieselbe Fundierungsordnung wie bei den Cartesianischen Meditationen festzustellen ist. In Text Nr. 5, in dem der Doppelsinn der transzendentalen Subjektivität (zum einen als meine eigene, zum anderen als Intersubjektivität) thematisiert wird, zeigt sich ein unmissverständlicher Vorrang der Sphäre des Eigenen über die intersubjektive Sphäre. Im Hinblick auf die Zeitproblematik wird ein „fundamentaler Unterschied“ zwischen der primordialen Sphäre und der Intersubjektivität ausgewiesen: Der Unterschied besteht zwischen „1) der an sich ersten universalen Zeitigung, durch die die konkrete Einheit (die Ganzheit) ,meine Monade’ konstituiert ist“, und „2) der fundierten Zeitigung, durch die Kompräsenz konstituiert ist, die Kon-präsenz einer anderen und überhaupt anderer Monaden und die Kon-temporalität ihrer monadischen (und für sie primordialen) Zeiten mit meiner Gesamtzeit [ ].“ (Hua XV, 74, m. H.) Es ist ersichtlich, dass auch in diesem Zusammenhang ein Fundierungsverhältnis zwischen der monadischen, primordialen Sphäre und dem Bezug zum Anderen besteht: Die Schicht der Primordialität ist die erste Konkretion bzw. die Grundschicht, in der sich das Fremde erschließt (Hua XV, 77).81 Die transzendentale Subjektivität, die sich 81
„Die Einfühlung ist im absoluten ego eine Leistung, die fundiert ist durch die abstraktiv herausgefasste Primordialität. Aber es ,liegt’ alsbald in dieser Leistung, durch
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als Intersubjektivität erweist, wird von dem phänomenologisierenden Ich getragen: Das transzendental phänomenologisierende Ich „fasst die Intersubjektivität in sich“ (Hua XV, 75). Eine ähnliche These ist in Text Nr. 36 aus dem Jahr 1934 zu finden, obwohl hier eine bemerkenswerte Differenzierung zwischen dem absoluten Ich, das in der lebendigen Gegenwart fungiert, und dem primordialen Ich vorkommt (Hua XV, 637). Dasselbe Forschungsmanuskript C 3 — dem zufolge die Welt als Haben der strömend seienden Intersubjektivität bezeichnet wird — geht nicht nur vom Ich aus, sondern behauptet die Angewiesenheit der Geltung des Anderen auf das Ich: „Sein von Anderen ist als Sein einer anderen lebendigen Gegenwart bezogen auf meine Gegenwart. [ ] Ich bin in der Ursprünglichkeit dieses strömenden Lebens als strömenden Konstituierens. Alles, was ich darin als Konstituiertes habe, habe ich als solches in Geltung, und es ist meine bleibende Habe — Ich bin in Bezug auf die Anderen, die ich bleibend in Geltung habe oder als offene Potentialitäten für zu gewinnende bleibende Geltungen und die ich so habe als Mitkonstituierende etc., so dass meine konstituierte Habe unter dem Titel Welt gemeinsame Habe ist der strömend-seienden Intersubjektivität [ ].“ (Ms. C 3, Mat. VIII, 57, m. H.)
In verschiedener Hinsicht kann man bei der Husserl’schen Phänomenologie eine Asymmetrie zwischen der eigenen und der fremden Sphäre feststellen: Sowohl in der schon dargestellten Auffassung der Paarung, nach der im Hinblick auf die Fremdwahrnehmung mein Leib als Original und als Fundament zu betrachten ist, als auch in der These der intentionalen Modifikation (Hua I, 144), nach der das andere Ich als eine Abwandlung von mir anzusehen ist. Ursprünglich kenne ich mich selbst ausschließlich durch mich selbst. Der Ausdruck „alter ego“ verweist von vornherein auf mein Ich: Die Appräsentation des Anderen beruht auf der beständigen lebendigen Selbstapperzeption des Ich. Jede Apperzeption des Anderen setzt mein Ich voraus, das aus
die sie fremde Subjektivität zur Seinsgeltung bringt, und fremde, die selbst wieder fremde hat, dass hinterher die Einfühlung mit dem fundierenden primordialen Bestand sich einigt zum monadischen Bewusstseinsleben, und dass so in der Monadisierung zu jeder Monade ihre primordiale Sphäre (primordiales Konstituieren und primordial Konstituiertes) gehört und mitgehört ihre Einfühlung.“ (Hua XV, 639, m. H.)
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Wesensgründen als „urstiftendes Original“ ständig lebendig gegenwärtig ist. Um die Asymmetrie zwischen der Sphäre des Eigenen und der des Fremden noch deutlicher hervortreten zu lassen, werde ich zwei wichtige Aspekte der Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie berücksichtigen: Die Problematik der Apodiktizität und den Begriff des Ur-Ich. 1.4. Die Asymmetrie zwischen der Sphäre des Eigenen und des Fremden im Licht der Apodiktizitätsproblematik Die Behauptung, dass sich angesichts der Problematik der Apodiktizität eine Asymmetrie zwischen eigener und fremder Sphäre abzeichnet, scheint mit der Husserl’schen Ansicht, der zufolge die Existenz des Anderen als transzendentales Faktum anzuerkennen ist, unkompatibel zu sein. Viele Forscher — u.a. Steinbock und Zahavi — haben auf diesen Aspekt hingewiesen, um das Primat des Ich in Frage zu stellen: Wenn die Anderen als transzendentale Fakta zu betrachten sind, hat dies zur Folge, dass eine endgültige Verabschiedung von jeder Art von Solipsismus stattfindet. In einem Text aus den zwanziger Jahren (Nr. 13 von Hua XIV aus dem Jahr 1922) kommt das komplexe Verhältnis zwischen Apodiktizität und Faktizität bezüglich der Intersubjektivitätsproblematik am deutlichsten zum Ausdruck. Diese Perspektive findet in den Forschungsmanuskripten aus den dreißiger Jahren eine systematische Bestätigung. Durch die Einfühlung erfahre ich, dass der Andere dieselben Erscheinungen hat, die auch meinem Erscheinungssystem angehören, wobei dieselben Gegenstände in Erscheinung treten (Hua XIV, 254). Diese Identität des Erscheinungssystems lässt jedoch den wesentlichen Aspekt außer Acht, dass mir a priori die aktuelle, lebendige Erscheinung des Anderen vorenthalten bleibt. Der Leib des Anderen ist nicht mein Leib, sondern nur ein ähnlicher. Seine Erscheinungen sind nicht die Erscheinungen, „die ich im Hingehen als Erfahrungen hätte, sondern die Erscheinungen, die der Andere gegenwärtigt hat [ ].“ (Hua XIV, 255) Das Ich des Anderen ist durch eine eigentümliche Nicht-Wahrnehmbarkeit gekennzeichnet, die von der eines Objektes der äußeren Wahrnehmung streng zu unterscheiden ist. Ein Objekt kann sich nur durch Abschattung zeigen, wodurch immer eine Seite bzw. die Rückseite nicht gegeben ist, sondern nur appräsen-
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tiert. In diesem Fall besteht jedoch die Möglichkeit, das Appräsentierte zur Präsentation zu bringen. Aber „das dem fremden ego Eigene ist in einer anderen Weise appräsentiert, es ist a priori nicht direkt erfahrbar als es selbst — es würde sonst zum Moment meiner selbst, und der Andere wäre nicht mehr Anderer.“ (Hua XV, 12) Die Gegenwart, die ich den Erscheinungen des Anderen beimesse, ist vergegenwärtigte Gegenwart, „aber doch eine real motivierte. Die Erscheinungen des Anderen, die ich in der ,Einfühlung’ vergegenwärtigt habe, sind gesetzt als appräsentative Vergegenwärtigungen, d.h., sie sind gesetzt als gegenwärtige, nicht hypothetische, sondern wirkliche Wahrnehmungserscheinungen, aber als Erscheinungen, die ich nicht habe, sondern die der Andere hat.“ (Hua XIV, 255) Die oben zitierten Textstellen zeigen zwei grundlegende Momente Husserl’scher Intersubjektivitätstheorie auf: Zum einen ist der Andere durch eine eigentümliche unaufhebbare Unzugänglichkeit gekennzeichnet, zum anderen wird den Erscheinungen des Anderen der Charakter der Wirklichkeit zugeschrieben. Diese Erfahrungen sind als transzendentale Tatsachen meiner phänomenologischen Sphäre anzusehen (Hua XV, 4). Anhand der Hervorhebung dieser zwei Charaktere könnte man eine Tendenz der Husserl’schen Phänomenologie aufzeigen, die mit der Präsenzmetaphysik und mit dem damit verbundenen Primat der Evidenz bricht. In der Erfahrung würde sich — nach dieser Perspektive — ein Nicht-Ort zeigen, der wirklich und damit zugleich unzugänglich ist. Diesbezüglich könnte man zu Recht Lévinas Terminus der Diachronie verwenden, insofern als das, was der Andere wirklich wahrnimmt, prinzipiell außerhalb meiner Gegenwart fällt.82 Der Ausweis der Unzugänglichkeit des Anderen darf allerdings nicht zu voreiligen Ergebnissen führen. Die oben gelieferte Interpretation muss ergänzt werden: Es besteht eine Disproportion bezüglich der Apodiktizität zwischen der eigenen und der fremden Sphäre. Der 82
Im folgenden Abschnitt werde ich auf den kritischen Standpunkt Lévinas’ zur Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie eingehen. Gleichfalls darf nicht verschwiegen werden, dass im Spätwerk Lévinas’ eine deutlich positivere Bewertung der Husserl’schen Bestimmung des Anderen vorliegt. Vgl. sowohl Lévinas’ Vorwort zu T.F. Geraets Vers une nouvelle philosophie transcendentale (Lévinas, 1971, XIII) als auch „Notes sur le sens“ (Lévinas, 1982, 244, dt. 211).
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Andere als transzendentales Faktum ist nicht durch dieselbe apodiktische Evidenz bestimmt, die das eigene Ich charakterisiert. Wenn man von der Urfaktizität des Ich absieht, ist das Faktum bei Husserl immer — im wörtlichen Sinne — frag-würdig, und zwar hinterfragbar: Als Faktum muss es nach seiner Geltung befragt werden. Nur unter der Voraussetzung, dass der Andere durch eine einstimmige Abschattungsreihe von demselben Stil erscheint, kann er als Seiender betrachtet werden. Danach ist er auch als Weltkonstituierender — und in diesem Sinne als Mitgegenwart — zu bewerten. Dadurch gewinnt er auch den Charakter der Apodiktizität. Die Existenz des Anderen als solche ist jedoch nicht durch den apodiktischen Charakter bestimmt: „Wenn ich dessen sicher bin, dass der Andere existiert, bin ich auch dessen sicher, dass er Selbstbesinnung vollziehend seiner als in apodiktischer Gewissheit seiend innewerden kann. Aber dies, dass das so ist, diese zweite Sicherheit, hängt von der ersten ab.“ (Hua XV, 43, m. H.)
Es besteht immer die Möglichkeit, dass ich mich im Sein des Anderen täuschen kann: „Ich habe jetzt zwei ego (bzw. mehrere), das meine apodiktisch mir gewiss, in dem das andere empirisch gewiss ist, und dieses dabei gewiss als seiner selbst apodiktisch gewiss [ ].“ (Hua XV, 43)
Das eigene Ich bleibt das Zentrum des konstitutiven Prozesses (Hua XV, 45). Auf dem Boden des transzendentalen ego bekundet und bewährt sich das alter ego als seiend. Die Intersubjektivitätstheorie ist letztlich durch eine Zirkularität gekennzeichnet. Die zirkulare Bewegung kommt in der folgenden Textstelle deutlich ans Licht: „Denn ‘es ist ein Anderer’ sagt doch überhaupt für mich nur, er ist aus meiner Konstitution. Also ist es evident, dass das Sein der Anderen von meinem Sein transzendental gesprochen abhängt. Allerdings gehört zum Sinn des für mich seienden Anderen zugleich, dass für ihn dasselbe gilt. Also so ist Welt für mich konstituiert bzw. Andere und mittels ihrer intersubjektive Welt, dass alles, was ist, von meinem Sein abhängt, dass aber auch alles, was ist, vom Sein der Anderen abhängt — die für mich sind“. (Hua XV, 39)
Es ist wichtig hervorzuheben, dass der letzte Satz der Kern der Sache ist. Das Für-mich-sein fungiert als letztes Kriterium.
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Fassen wir die bisher erreichten Ergebnisse wie folgt zusammen: Als Ausgangspunkt gilt die eigene Sphäre des Ich, in der sich das Sein des Anderen transzendental konstituiert. Nachdem ich die Geltung des Anderen anerkannt habe, kann ich ihn nicht mehr aus der Welt wegdenken (Hua XV, 50). Die intersubjektive Konstitution erweitert sich allmählich: Sie ist beständig auf dem Marsch und ein ins Endlose offener Sinn (Hua XV, 45). Diese Erweiterung artikuliert sich in verschiedene Richtungen. Man denke an den oben erwähnten Prozess der Vergemeinschaftung oder an die Vermenschlichung der Welt: Die Allheit der Monade ist ständig im Werden und strebt nach einer immer einstimmigeren, teleologisch stukturierteren Welterfahrung.83 Es gilt jedoch zu betonen, dass sich das Ineinander der Monaden in ihrem unendlichen und teleologischen Prozess in der immanenten und apodiktischen Sphäre des fungierenden Ich bekundet. Im folgenden Abschnitt werden wir in Bezug auf das Ur-Ich noch genauer verstehen, dass alles in jedem erdenklichen Sinn Seiende letztlich im Ich liegt (Hua XV, 587). 1.5. Die letzte Reduktion auf das Ur-Ich Es wurde auf eine innere Spannung der Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie hingewiesen: Zum einen besteht der notwendige Verweis jeder Form des Erscheinenden auf die Sphäre des Eigenen bzw. des Ich; zum anderen stößt man im Fall der Fremdwahrnehmung auf eine andersartige Transzendenz, die prinzipiell keine direkte Evidenz duldet. In § 54 und § 55 der Krisis-Schrift wird das Verhältnis zwischen der Intersubjektivitätsproblematik und dem Ich ausführlich behandelt. In diesem Kontext wird der Begriff des Ur-Ich eingeführt. In § 53 tritt ein fundamentales Problem ans Licht, das eine unlösbare Paradoxie zu sein scheint. Die Epoché hat eine transzendentale Dimension eröffnet, in der eine wesensnotwendige Korrelation zwischen Noesis und Noema besteht: Das Erscheinende konstituiert sich vermittels der synthetischen Einheit der Abschattungsreihen.
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In diesem Kontext muss die universale Teleologie der Monadengemeinschaft — sowohl in Bezug auf die generativen Zusammenhänge als auch im Hinblick auf das Triebleben — berücksichtigt werden (Vgl. Text Nr. 34 und Beilage XLIII des Husserliana-Bandes XV).
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Dadurch zeigt sich bezüglich des Subjektivitätsbegriffes folgende Paradoxie: Wie soll die menschliche Subjektivität, „ein Teilbestand der Welt“, die ganze Welt konstituieren? (Hua VI, 183) Die menschliche Subjektivität spielt hierbei eine doppelte Rolle: Sie ist Objekt in der Welt und zugleich Subjekt für die Welt (Hua VI, 186). Die Frage kann auch folgendermaßen formuliert werden: Sind wir letztlich transzendentale oder empirische Subjekte? Die Antwort von Husserl lautet: Um die Menschen sachgerecht zu verstehen, müssen ihre Gegebenheitsweisen innerhalb der durch die Epoché eröffneten Dimension im Modus der Selbstgebung zum Vorschein gebracht werden.84 Dadurch scheint das Paradoxe gelöst zu sein. Dennoch gilt es darauf hinzuweisen, dass diese Auflösung der Paradoxie für Husserl keineswegs einwandfrei ist, insofern sie die zentrale Rolle des Ich überspringt. Die Auflösung der Paradoxie durch den Rückbezug auf die konstituierende Intersubjektivität ist nicht befriedigend, da sie das absolute ego als Funktionszentrum aller Konstitution vergisst (Hua VI, 190). Das asymmetrische Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen kommt bei diesem Versuch nicht zur Sprache: „Unser naives Vorgehen war in der Tat nicht ganz korrekt, und zwar durch die Selbstvergessenheit unserer selbst, der Philosophierenden, oder deutlicher gesprochen: die Epoché vollziehe ich, und selbst wenn da mehrere sind, und sogar in aktueller Gemeinschaft mit mir die Epoché üben, so sind für mich in meiner Epoché alle anderen Menschen mit ihrem ganzen Aktleben in das Weltphänomen einbezogen, das in meiner Epoché ausschließlich das meine ist. Die Epoché schafft eine einzigartige philosophische Einsamkeit, die das methodische Grunderfordernis ist für eine wirklich radikale Philosophie.“ (Hua VI, 187 f.)
Durch die Epoché sind die Anderen tatsächlich zum Phänomen geworden, als Pol der transzendentalen Rückfragen. Die Epoché ist ein 84
„Wer sind wir als die Sinn- und Geltungsleistung der universalen Konstitution vollziehenden Subjekte — wir als die in Vergemeinschaftung die Welt als Polsystem, also als intentionales Gebilde des vergemeinschafteten Lebens Konstituierenden? Wir, kann das heißen ,wir Menschen’, Menschen in dem natürlich-objektiven Sinn, also Realitäten der Welt? Aber sind diese Realitäten nicht selbst ,Phänomene’ und als solche selbst Gegenstandspole und Themen der Rückfrage nach den korrelativen Intentionalitäten, deren Pole sie sind, aus deren Fungieren sie ihren Seinssinn haben und gewonnen haben? Natürlich ist diese Frage zu bejahen.“ (Hua VI, 186)
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individualisierender Akt: Durch die Epoché wird die Welt nicht nur zum Phänomen, sondern zu „meinem“ Phänomen. Das Manko der oben dargestellten Auflösung der Paradoxie besteht nicht nur darin, dass die transzendentale Reduktion auf mein Ich plötzlich und unberechtigterweise auf die ganze Menschheit übertragen wird85 , sondern vor allem darin, dass dabei die Undeklinierbarkeit des ego außer Acht gelassen wird. Das Ur-Ich ist nicht durch Aussonderung aus der Gemeinschaft der Menschheit herauszunehmen, sondern durch die Epoché der einzigartige Ort der Erscheinung, an dem sich die Phänomene (auch die intersubjektiven) zeigen: „Ich bin nicht ein Ich, das immer noch sein Du und sein Wir und seine Allgemeinschaft von Mitsubjekten in natürlicher Geltung hat. Die ganze Menschheit und die ganze Scheidung und Ordnung der Personalpronomina ist in meiner Epoché zum Phänomen geworden, mitsamt dem Vorzug des Ich-Mensch unter anderen Menschen. Das Ich [ ] heißt eigentlich nur durch Äquivokation ,Ich’, obschon es eine wesensmäßige Äquivokation ist, da, wenn ich es reflektierend benenne, ich nichts anders sagen kann als: ich bin es, ich, der Epoché-Übende, ich, der die Welt, die mir jetzt nach Sein und Sosein geltende Welt, mit allen ihren Menschen, deren ich so völlig gewiss bin, als Phänomen befrage; also ich, der ich über allem natürlichen Dasein, das für mich Sinn hat, stehe und der Ichpol bin des jeweils transzendentalen Lebens, worin zunächst Welt rein als Welt für mich Sinn hat: Ich, der ich, in voller Konkretion genommen, all das umfasse.“ (Hua VI, 188, m. H.)
Die oben gelieferte Darstellung des Ur-Ich ist kaum zu unterschätzen, da sie hinfort die ganze Methode der transzendentalen Phänomenologie bestimmt (Hua VI, 190). An dieser Stelle ist es wichtig, auch eine kurze Bemerkung über die Beziehung zwischen dem phänomenologisierenden und dem fungierenden Ich zu machen. Man darf keine Gegenüberstellung oder eine Trennung zwischen dem phänomenologisierenden und dem fungierenden Ich vollziehen, als ob zwei verschiedene Ich da wären. Die Ausdifferenzierung zwischen diesen Arten von Ich zielt lediglich darauf ab, einen 85
„Die Naivität der ersten Epoché hatte, wie wir sogleich sahen, die Folge, dass Ich, das philosophierende ,ego’, indem ich mich als fungierendes Ich, als Ichpol transzendentaler Akte und Leistungen erfasste, in einem Sprunge und unbegründet, als unrechtmäßig, der Menschheit, in der ich mich finde, dieselbe Verwandlung in die fungierende transzendentale Subjektivität zumaß, die ich allein vollzogen hatte.“ (Hua VI, 190).
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funktionalen Unterschied zum Ausdruck zu bringen. Das phänomenologisierende Ich eröffnet durch die so genannte letzte Epoché die anonyme Fülle des intentionalen Lebens, in dem die Ich-Funktion operiert.86 Eine weitere Vertiefung des Begriffes des Ur-Ich ist in dem bekannten Text Nr. 33 des Husserliana-Bandes XV zu finden. In der konkreten Dimension des Ur-Ich strömt einerseits das vielseitige, unendliche Leben ein, in der eine anonyme Sphäre in den Vordergrund zu rücken scheint, andererseits hat diese Fülle des Lebens einen notwendigen Rückbezug auf mein Ich. Wenn ich über diese Fülle reflektiere, kann ich es nicht vermeiden, diese Phänomene als meine Phänomene zu betrachten. Die Überwindung der Naivität besteht darin, den Blick auf das thematische Phänomen zu inhibieren, um das anonyme Fungieren des Lebens des urtümlichen Ich hervortreten zu lassen: „Die Methode der Überwindung der Naivität: die letzte Reduktion, die den schauenden Blick richtet auf das absolute urtümliche Leben, auf das urtümliche Ich-bin, auf das Strömen, auf das urpassive Strömen, auf das Ich-tue, Ich-identifizieren etc, aber als im Strömen verströmend — und von da aus auf das Identische, auf die ,Gebilde’ in allen Stufen, als die im Strömen implizierten Vermöglichkeiten identifizierenden Tuns etc.“ (Hua XV, 585)
Die Art und Weise, wie Husserl die letzte Reduktion beschreibt, hat eine einzigartige Eigentümlichkeit: Die typische Richtung des statischen Verfahrens, das von dem Konstituierten ausgeht, wird völlig umgekehrt. Die letzte Reduktion geht direkt von dem zeitigenden und identifizierenden Leisten des urtümlichen Ich aus. Die Identität des Konstituierten wird erst im Nachhinein hervorgehoben. Indem sie als Ausgangspunkt das urpassive und anonyme Strömen des urtümlichen Ich nimmt, hat die „letzte Reduktion“ keine Analogie zu den drei als klassisch zu bezeichnenden Wegen der Epoché: dem cartesianischen, dem psychologischen und dem ontologischen (Kern, 1962).
86
Hierbei gilt es darauf hinzuweisen, dass Husserl die These Finks bezüglich der Unterscheidung der drei Ich — und zwar a) des menschlichen, b) des transzendentalkonstituierenden und c) des phänomenologisierenden Ich — kritisiert hat, indem der Gegensatz zwischen dem konstituierenden und dem phänomenologisierenden zu stark betont war (Dok II/I, 183; vgl. Fink, 1966, 122; Luft, 2002, 233 ff.).
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Berücksichtigt man die folgende Textstelle, wird offensichtlich, dass es sich im Zusammenhang mit der letzten Reduktion um dieselbe Dimension handelt, die in der Krisis-Schrift untersucht worden ist, und zwar die Dimension des Ur-Ich. Zwischen § 55 der Krisis-Schrift und Text Nr. 33 besteht fast eine wörtliche Konkordanz: „Wenn es zunächst in der Phänomenologie heißt, ego cogito, als Ausdruck des Ich, worauf die Reduktion führt, so ist das ein aequivocum, ein Anfang mit einer absolut notwendigen Äquivokation.“ (Hua XV, 586) Das urtümliche Ich bzw. Ur-Ich hat stricto sensu kein alter ego: Das absolute Ich, das vor allen Seienden ist und alle Seienden in sich trägt, „ist das erste ,ego’ der Reduktion — ein ego, das fälschlich darum so heißt, weil für es ein alter ego keinen Sinn gibt.“ (Hua XV, 586) Die letzte Reduktion auf das Ur-Ich hebt das passive, anonyme Strömen hervor, das jeder persönlichen Deklination vorausgeht.87 Text Nr. 33 ist deshalb von größter Bedeutung bezüglich der Bestimmung des Ur-Ich, weil er einerseits die Identität zwischen fungierendem Ich und Ur-Ich ausweist (Hua XV, 585) und andererseits eine Thematisierung des Fundierungsverhältnisses zwischen primordialem und urtümlichem Ich liefert. Das Ur-Ich ist vom primordialen, einfühlenden Ich klar zu unterscheiden. Dadurch bestätigt sich die fundamentale Asymmetrie zwischen der Sphäre des Eigenen und der des Fremden: „Das urtümliche ,ego’, das urtümliche absolut konkrete ,Ich’, ist es Monade und hat es eine Allheit von Monaden in sich als seinesgleichen und so zugleich gar außer sich? In sich trägt es die eigentlichen ego’s, die in Bezug aufeinander alteri sind. Und in sich trägt es das einzige Ich, das ich als primordiales bin (die Einfühlungen mitgerechnet). Von dem absolut konkreten Ich aus gewinne ich feststellend die für mich seienden vielen Ich, als erstes und fundierendes mein ,eigenes’ Ich und von da aus die anderen. Ich sagte, als transzendentale.“ (Hua XV, 587, m. H.)
Aus Text Nr. 33 ergibt sich die folgende Ordnung des konstitutiven Prozesses: Als fundierende Ebene ist das zeitigende Strömen des urtümlichen Ich anzuerkennen. Innerhalb dieser Dimension konstituiert sich die Sphäre des Eigenen bzw. das primordiale Ich mit all seinen 87
Da sich der Begriff der Person nicht in der Sphäre der Passivität, sondern in der der Aktivität des Subjekts bekundet (vgl. S. 53 ff.), erweist sich Orths Interpretation, die dem Ur-Ich einen persönlichen Charakter zuschreibt, als nicht berechtigt (Orth, 1999, 94).
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intentionalen Leistungen (Kinästhese, Wahrnehmung, Phantasie usw.). Unter diese intentionalen Leistungen sind auch die Einfühlungen zu zählen. Durch die Einfühlungen wird ersichtlich, dass mein urtümliches Ich eine Unendlichkeit von urtümlichen egos impliziert. Abschließend betont Husserl jedoch wiederum, dass diese Unendlichkeit in mir liegt (Hua XV, 587): „Dann komme ich also wieder darauf zurück, dass mein urtümliches ego eine ,Unendlichkeit’ vom urtümlichen ego’s impliziert, deren jedes jedes andere und von sich aus eben diese Unendlichkeiten impliziert, darunter auch mein ego, in dem alles das impliziert ist, wie eben dieses auch wieder in jedem impliziert ist. Alles in jedem erdenklichen Sinn Seiende liegt in mir — mit der teleologischen Harmonie, die Allheit als All-Einheit möglich macht.“ (Hua XV, 587, m. H.)
Die Analyse des Ur-Ich bestätigt die Ansicht, nach der bei der Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie eine zirkuläre Bewegung festzustellen ist, die schon hinsichtlich der Apodiktizität hervorgehoben worden ist. 2. Der Bruch mit der Zirkularität der Immanenz und die Diachronie des Anderen. Eine Auseinandersetzung mit Lévinas und Derrida 2.1. Lévinas’ Kritik an Husserl: Der Bruch mit der Immanenz und die Vorgängigkeit des Anderen Im Laufe der vorherigen Untersuchungen wurde mehrfach auf die Kritik Lévinas’ an der Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie hingewiesen. Im Folgenden versuche ich, die wichtigsten Einwände Lévinas’ — vor allem mit Verweis auf Totalität und Unendlichkeit — konsequent und systematisch zu schildern. Die Analyse der Einwände führt zu einer Auseinandersetzung mit der Philosophie Lévinas’. Durch eine solche Auseinandersetzung beabsichtige ich, eine Perspektive hervortreten zu lassen, die angesichts der Fremderfahrung mit der Immanenz endgültig bricht und dadurch der radikalen Fremdheit des Anderen gerecht wird. Nach Lévinas ist die Husserl’sche Phänomenologie beim Ausweis des Fremden dem ontologischen Imperialismus zum Opfer gefallen. Der „ontologische“ Ansatz zeigt sich 1. im Hinblick auf die Idee des Horizontes,
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2. in Bezug auf das intentionale Primat des Gegenstandes, 3. in Bezug auf die herrschende Reduktion aller Phänomene auf die Immanenz. Zu 1. Mit dem Ausdruck „Ontologie“ meint Lévinas die Rückführung des Anderen auf das Selbe und damit seine Neutralisierung (Lévinas, 1961, 13, dt. 50). Indem sie dem Verhältnis zum Sein überhaupt eine ethische Beziehung unterordnet, erweist sich die Ontologie als eine Philosophie der Freiheit und letztlich der Ungerechtigkeit. Freiheit definiert sich dadurch, dass man sich, trotz aller Beziehungen mit dem Anderen, seine eigene Identität, seine Autarkie bewahrt (Lévinas, 1961, 16, dt. 55). Ein solches Primat der Dimension des Selben hängt eng mit den Ideen des Horizontes und des Lichtes zusammen; eine Idee, durch die alle Arten von Seienden undifferenziert verständlich werden. Dieser Ansatz übergeht jedoch die außerordentliche Position des Anderen, der sich nicht in meinen Horizont einfügt, sondern mir gegenübersteht und mich in Frage stellt. Der ontologische Imperialismus offenbart sich nicht nur in der Heidegger’schen Frage nach dem Sein des Seienden, sondern zeigt sich schon in der Anonymität des Begriffes des Horizontes bei Husserl: „Die gesamte Phänomenologie, Husserl eingeschlossen, steht unter der Idee des Horizontes, der für sie die Rolle spielt, der im klassischen Idealismus der Begriff hatte; wie das Individuum vom Konzept, so erhebt sich das Seiende von einem Grunde, der über es hinausgeht. Aber das Sein des Seienden, das die Nicht-Koinzidenz von Seiendem und Denken beherrscht und das die Unabhängigkeit und die Fremdheit des Seienden gewährleistet, ist ein Leuchten aus eigenem Grund, ein Lichten, ein freigebendes Aufgehen. [ ] Im Ausgang vom Sein, im Ausgang von dem lichten Horizont, in dem sich das Seiende abschattet, aber sein Gesicht verloren hat, ist das Sein der eigentliche Anruf an das Verstehen.“ (Lévinas, 1961, 15, dt. 53 f.)
Zu 2. Die zweite Kritik, die sich explizit auf die in den Cartesianischen Meditationen dargestellte Intersubjektivitätstheorie bezieht, möchte das folgende Manko der Husserl’schen Phänomenologie hervorheben: Bei der Analyse der Fremdwahrnehmung dient die Dingkonstitution als Leitfaden. Dadurch hat Husserl zum einem die Gleichursprünglichkeit zwischen Fremdwahrnehmung und Dingkonstitution nicht anerkannt, und zum anderen wird er der grundwesentlichen Differenz nicht gerecht, welche die Gegebenheitsweise des alter ego von der Erschei-
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nungsweise des Dinges unterscheidet.88 Während der Horizont den Sinn des Objektes bestimmt, ist die Manifestation des alter ego kath’auto. Das alter ego drückt sich selbst aus, da es Prinzip seiner Manifestation ist. Zu 3. Bei Husserl konstituiert sich der Andere innerhalb einer monadischen Sphäre bzw. in einem rein subjektiven Vorgang (Lévinas, 1961, 185, dt. 304). Die Begegnung mit dem Anderen bedeutet dagegen nach Lévinas einen radikalen Bruch mit der Immanenz.89 Diese Begegnung ist eine ursprüngliche Erfahrung, die über jede Form der Gewissheit eines solitären cogito hinausgeht. Der in der Vorstellung oder im Sehen erscheinende Gegenstand ist letztlich Resultat einer Reduktion des Äußeren auf das Innen: „Tatsächlich ist das Sehen wesentlich eine Adäquation der Exteriorität an das Innen: Die Exteriorität geht auf in der betrachtenden Seele und zeigt sich, indem sie adäquate Idee ist, a priori, als Resultante einer Sinngebung.“ (Lévinas, 1961, 271, dt. 427)
Hier kommt eine Herrschaft des Denkenden über das Gedachte deutlich zum Vorschein, indem das Gedachte die Gestalt — in der Husserl’schen Sprache ausgedrückt — des Noema oder — Cartesianisch gesprochen — die Form einer klaren und deutlichen Idee annimmt, hat es jeden Widerstandscharakter, jede Opazität und Fremdheit verloren und wird dadurch zu etwas Intelligiblem (ebd., 96 f., dt. 174). In der Intelligibilität der Vorstellung wird der Unterschied zwischen Innen und Außen aufgehoben (ebd.). Der Bezug zum Anderen als Sprechenden 88
„Die Konstitution des Leibes des Anderen in dem Bereich, den Husserl die ,primordiale Sphäre’ nennt, die transzendentale ,Paarung’[ ], all dies verschleiert, dass auf jeder der Stufen, die man für eine Beschreibung der Konstitution hält, die Objektkonstitution mit der Beziehung zum Anderen verwechselt wird — obwohl diese Beziehung ebenso ursprünglich ist wie die Konstitution, aus der man sie ableiten möchte. Die primordiale Sphäre, die dem entspricht, was wir das Selbe nennen, wendet sich dem absolut Anderen nur zu, weil dieser sie anruft. Im Verhältnis zur objektivierenden Erkenntnis stellt die Offenbarung eine wahre Umkehr dar.“ (Lévinas, 1961, 39, dt. 90) 89 „Die Ursprünglichkeit der Rede im Verhältnis zur konstituierenden Intentionalität im Verhältnis zum reinen Bewusstsein zerstört den Begriff der Immanenz: Die Idee des Unendlichen im Bewusstsein ist ein Überfließen dieses Bewusstseins; die Inkarnation dieses Überfließens bietet einer Seele, die nicht länger paralysiert ist, neue Vermögen, das Vermögen zu empfangen und zu geben, das Vermögen voller Hände, das Vermögen der Gastlichkeit.“ (Lévinas, 1961, 180, dt. 295)
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setzt dagegen den Spalt voraus, der das Wesen der Sprache ausmacht: Ich wende mich demjenigen zu, der meine Thematisierung bzw. meine Sinngebung „debordiert“. Er entzieht sich deshalb, weil er seiner Erscheinung beisteht (ebd., 273, dt. 429). Um die Einwände Lévinas besser verstehen zu können, wird im Folgenden die Grundthese von Totalität und Unendlichkeit skizzenhaft verdeutlicht: Nach Derrida beruht die Grundstruktur von Totalität und Unendlichkeit auf einer „doppelten Bewegung“ (Derrida, 1967, 162, dt. 168). Zum einen versucht Lévinas, sich von der eleatischen Tradition zu verabschieden, welche die Mannigfaltigkeit der Einheit unterordnet und geht von der Figur des Psychismus aus, der als absolut getrennt aufzufassen ist und sich in keinerlei Totalität einfügen kann. Der Psychismus wird von Lévinas als Werk der Identifizierung betrachtet, die jede Art von Fremdheit aufhebt. Meiner Meinung nach muss eigentlich von einer Bewegung die Rede sein, die sich in drei Schritten vollzieht: Das Ich wird sich im Nachhinein dessen bewusst, dass es vom Anderen empfangen wird: Es entdeckt sich als Kreatur. In diesem Sinne folgt Lévinas dem cartesianischen Weg: „Wenn Descartes in einem ersten Schritt ein zweifelsfreies Bewusstsein seiner selbst durch sich selbst gewinnt, so erkennt er in einem zweiten Schritt — in der Reflexion über die Reflexion — die Bedingungen dieser Gewissheit. Diese Gewissheit liegt an der Klarheit und Deutlichkeit des Cogito — aber die Gewissheit selbst wird gesucht wegen der Gegenwart des Unendlichen in diesem endlichen Denken, das ohne diese Gegenwart seine Endlichkeit nicht erkennen würde.“ (Lévinas, 1961, 186, dt. 304-5)
Zuerst gibt es die Gewissheit eines solitären cogito, danach wird diese Gewissheit in der Gewissheit der Existenz Gottes verankert. Gott wird hier als das Unendliche in einem ethischen Sinne interpretiert, und zwar als Majestät, die als Antlitz angesprochen wird. In Totalité et infini versucht Lévinas einerseits, der radikalen Trennung zwischen dem Selben und dem Anderen gerecht zu werden und anderseits, die rückläufige Bewegung des Ich zu verfolgen, welche die Diachronie der Zeit deutlich hervortreten lässt. Diese rückläufige Bewegung zu dem, was vor der Dimension des Selben liegt und die „Wahrheit“ des Phänomens verkörpert, spielt sich in verschiedenen Kontexten ab: Das Bedürfnis findet letztlich seinen Ursprung im Begehren. Die Dimension des Selben, welche die konkrete Form
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des Wohnens annimmt, setzt den schweigenden und intimen Empfang der Frau voraus, die die Extraterritorialität des Hauses ermöglicht.90 Es ist allerdings zu betonen, dass das Selbe als Ausgangspunkt dieser komplexen Bewegung gilt. Das Selbe definiert sich durch seine identifizierende Leistung: Das Sein des Ich besteht im Identifizieren und zwar darin, seine eigene Identität durch alle Erfahrungen hindurch wieder zu finden (Lévinas, 1961, 6, dt. 40). Das Ich ist identisch in all seinen Veränderungen: Es führt sie auf sich zurück, indem es sie vorstellig macht. Es identifiziert sich nicht kraft des Gegensatzes zum Anderen, sondern durch sich selbst. Die Identifizierung des Selben sowie seine absolute Trennung sind nicht von einer Beziehung zwischen Termini abzuleiten. Trennung bedeutet im positiven Sinne: Existieren als Egoismus. Egoismus ist ein ontologisches Faktum, ein Ereignis, das aus dem „Es gibt“ entsteht.91 Egoismus nimmt die Gestalt des Leibes, des Genusses und des Wohnens an.92 Dass sich ein solches Geschehen ereignet, ist die notwendige Bedingung, um dem Anderen begegnen zu können. Lévinas behauptet unzählige Male, dass das Ich der unumgängliche Ausgangspunkt des Bezuges zum Anderen sei. Nur ausgehend von mir ist es möglich, dem Fremden zu begegnen: „Die Andersheit, die absolute Heterogenität des Anderen, ist nur möglich, sofern der Andere anders ist im Verhältnis zu einem Terminus, der seinem Wesen nach an seinem Ausgangspunkt bleibt, dessen Wesen es ist, als Eingang in die Beziehung zu dienen, der nicht nur relativ, sondern absolut der Selbe ist. Absolut am Ausgangspunkt einer Beziehung bleiben kann ein Terminus nur als Ich.“ (Lévinas 1961, 6, dt. 40)
In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen Husserl und Lévinas.
90
„Die Frau ist die Bedingung für die Sammlung, für die Innerlichkeit des Hauses und für das Wohnen.“ (Lévinas, 1961, 128, dt. 222) 91 „Der Egoismus — ist ein ontologisches Geschehen, ein wirklicher Riss [ ]. Das Zerreißen der Totalität kann sich nur in der Erschütterung des Egoismus ereignen.“ (Lévinas, 1961, 150, dt. 254) 92 „Die Trennung, der Atheismus, diese negativen Begriffe ereignen sich durch ein positives Geschehen. Ich, atheistisch, bei sich, glücklich, geschaffen sein — dies sind Synonyme“ (Lévinas, 1961, 121, dt. 211)
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Ein solcher Ansatz scheint mir für jede Analyse, die der Fremdheit des Anderen gerecht werden will, erforderlich. Die Beziehung zwischen mir und dem Anderen kann keineswegs von einer außenstehenden Position durch eine „panoramahafte“ Perspektive (Lévinas, 1961, dt. 425) betrachtet werden, die beide Termini — sowohl mich als auch den Anderen — mit einbezieht. Die Husserl’sche Lehre besteht darin, den objektivierenden Ansatz einer neutralen dritten Person zu überschreiten, um die lebendige und vergessene Erfahrung auszuweisen (Lévinas, 1961, XVII, dt. 31). Obwohl das Ich als Eingang der Beziehung zum Anderen dient, ist nach Lévinas der Andere als absolut Anderer zu betrachten, sofern er sich aus der Beziehung ablöst (Lévinas, 1961, 82, dt. 151). Die Beziehung zwischen mir und dem Anderen definiert sich nicht durch einem Blickwinkel, der beide Termini von außen umfasst, sondern vollzieht sich im Von-Angesicht-zu-Angesicht von mir zum Anderen (Lévinas 1961, 266 dt. 418). Der Andere unterscheidet sich von jedem anderen Seienden, indem er seinen Sinn nicht von seinem Kontext gewinnt: Er ist ausgehend von sich selbst, von seinem Ausdruck, zu begreifen. Der Andere bestätigt sich in seiner Andersheit, sobald man ihn anruft: Er ist der, mit dem ich spreche: Der Vokativ ist das Wesentliche der Sprachbeziehung zwischen mir und dem Anderen: „Der Angerufene ist nicht Gegenstand meines Verstehens: Er steht unter keiner Kategorie.“ (Lévinas, 1961, 41, dt. 93) Der Andere ist aufgerufen, das Wort zu ergreifen (ebd.). In der Rede tritt ein Abstand zwischen dem Anderen als meinem Thema und dem Anderen als Gesprächspartner ein.93 Dieser letztere ist vom Thema, „das ihn einen Augenblick festzuhalten schien“, befreit; „dieser Abstand 93
Es gilt hervorzuheben, dass der Begriff der Sprache bei Lévinas mit einer Zweideutigkeit behaftet ist: Einerseits hat die Sprache des Anderen eine konstitutive Funktion: Ich empfange durch die Sprache die Welt, die mir der Andere anbietet: „Die Welt wird unser Thema — und dadurch unser Gegenstand —, weil sie uns angeboten worden ist; sie hat ihre Herkunft in einer ursprünglichen Unterweisung [ ]. In der Sprache des Anderen wird die Welt angeboten, sie wird in Aussage vorgebracht. Der Andere ist Prinzip des Phänomens.“ (Lévinas, 1961, 65, dt.129) Aus dieser Perspektive ist die Sprache des Anderen nicht nur Prinzip der Welt, sondern erfüllt eine konstitutive Funktion bezüglich des Ich, indem sie mir sogar die Möglichkeit gibt, Fragen stellen zu können. Anderseits hat der Begriff der Sprache überwiegend
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macht unmittelbar den Sinn, den ich meinem Gesprächspartner verleihe, streitig.“ (ebd., 169, dt. 279) Das Antlitz des Anderen belehrt uns, indem es immer wieder sein Wort zurücknehmen, ergänzen und verändern kann. Der Andere bezieht sich auf sich selbst, ist Ausdruck, der sich unaufhörlich aktualisiert und der über meine Sinngebung hinausgeht, indem er mich überrascht.94 Seine Manifestation ist jenseits jeder Form: Derjenige, der sich manifestiert, kommt sich selbst zur Hilfe und zerstört als lebendiger Ausdruck in jedem Augenblick die Form, unter der er sich darbietet (ebd., 37, dt. 87). Das Wesen des Wissens lässt sich mit der Philosophie identifizieren: Die Philosophie ist dadurch charakterisiert, dass sie sich selbst in Frage stellt und somit zu dem vordringen kann, was ihrer Bedingung voraus liegt (ebd., 57, dt. 117). Wenn man diesen Ansatz weiter verfolgt, muss man die Evidenz des cogito, in der Erkennen und Erkanntes, Denkender und Gedachtes zusammenfallen, als letztes Kriterium anzweifeln: „Gewiss bezeichnet das Cogito den Anfang: denn es ist das Erwachen einer Existenz, die ihre eigene Bedingung ergreift. Aber dieses Aufwachen kommt von dem Anderen.“ (ebd., 58, dt. 118) Die Ungewissheit — die unvermeidlich jede Evidenz des cogito plagt — lässt sich als Verweis auf die Idee des Unendlichen interpretieren. Wenn die Philosophie radikal betrieben wird, gelangt sie zu einer In-Frage-Stellung ihrer eigenen Spontaneität, einer Spontaneität, die im Sinne des conatus bei Spinoza zu interpretieren ist. Dadurch kommt eine Umkehr zustande, wobei meine Freiheit, meine Spontaneität dem Urteil des Anderen unterworfen ist. Demnach zeigt sich „eine Krümmung des intersubjektiven Raumes”: „Die Wahrheit des Seins ist nicht das Bild des Seins, die Idee seiner Natur, sondern das Sein, sofern es in einem subjektiven Feld angesiedelt ist; das subjektive Feld deformiert die Sicht, aber gerade dadurch gestattet es der Exteriorität, die ganz und gar Befehl und Autorität, nämlich ganz und gar Überlegenheit ist, sich zu sagen. Diese Krümmung des intersubjektiven Raumes macht aus dem Abstand eine Erhebung: sie verfälscht nicht das Sein, sondern macht erst seine Wahrheit möglich.“ (Lévinas, 1961, 326, dt. 420)
eine ethische Konnotation, wobei meine Freiheit, meine Spontaneität vom Anderen in Frage gestellt wird. 94 Der Andere als Ausdruck wird somit als Trauma des Staunens bezeichnet (Lévinas, 1961, 46, dt. 100).
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Die Krümmung des intersubjektiven Raumes nimmt die plastische Form der Scham vor mir selbst im Angesicht des Anderen an, des Anderen, der mir nicht als Thema, sondern als Richter gegenübersteht: „Der Empfang des Anderen ist ipso facto das Bewusstsein meiner Ungerechtigkeit — die Scham der Freiheit über sich selbst.“ (ebd., 59, dt. 119) In diesem Sinne sagt Lévinas, dass in der Beziehung VonAngesicht-zu-Angesicht das Subjekt Apologie bzw. Rechfertigungsrede ist und dass ich dem Anderen als Richter und als Lehrer begegne. Die Tatsache, dass der Andere über meine eigene Sphäre hinausgeht, fixiert seinen Status des Unendlichen. Dieses Unendliche darf aber nicht als ein apeiron interpretiert werden wie im Sinne einer Flüssigkeit, „die über den Rand einer Vase fließt“ (ebd. 170, dt. 280). Das Unendliche erhält hier eine moralische Konnotation in Form des „im Angesicht von“: „Diese Setzung im Angesicht von , der Gegensatz schlechthin, ist nur als moralische Infragestellung möglich. Diese Bewegung geht vom Anderen aus. Die Idee des Unendlichen, das unendlich Mehr, das im Weniger enthalten ist, ereignet sich konkret in der Gestalt einer Beziehung mit dem Antlitz.“ (Lévinas, 1961, 170, dt. 280)
Auf eine eigentümliche Weise entzieht sich das Antlitz prinzipiell meinem Vermögen. Sein Widerstand ist ausschließlich ethischer Natur. Es setzt mir keine Kraft entgegen, die mein Vermögen herausfordert, sondern stellt mein Vermögen als solches in Frage: „Das Unendliche paralysiert das Vermögen durch seinen unendlichen Widerstand gegen den Mord; der Widerstand, hart und unüberwindbar, leuchtet im Antlitz des Anderen, in der vollständigen Blöße seiner Augen ohne Verteidigung, in der Blöße der absoluten Offenheit des Transzendenten. Hier liegt nicht eine Beziehung mit einem sehr großen Widerstand vor, sondern mit etwas absolut Anderem.“ (ebd. 173 f., dt. 285 f.)
Dank der Epiphanie des Antlitzes ist das Ich zur unendlichen Verantwortung gerufen: Das Wesen des Ich definiert sich dadurch, dass es sich der Verantwortung für die Anderen nicht entziehen kann, insofern als es für den Anderen existiert und Mord mehr als den Tod fürchtet (Lévinas, 1961, 223, dt. 361). Dadurch entsteht die Möglichkeit einer Philosophie, die grundsätzlich heteronom ist. Das Selbe hat nicht in sich selbst sein Fundament: „Nicht die Existenz für sich, sondern die In-Frage-Stellung des Selbst, die Rückkehr zu dem, was dem Selbst vorausgeht, die Rückkehr zur Gegenwart
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des Anderen, ist nach unserer Auffassung der letzte Sinn des Wissens.“ (Lévinas, 1961, 61, dt. 122) Im Aufsatz De wijsbegeerte van Levinas als ethische transcendentaalfilosofie hat Theo de Boer die rückläufige Bewegung in einem transzendentalen Sinn interpretiert. Mit Verweis auf drei Bereiche (Erkenntnis, Arbeit und Gesellschaft) versuchte er zu zeigen, wie der Andere als transzendentales Fundament des Selben fungiert. Der Andere ist die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinung der Welt. De Boer erwähnt die Gemeinsamkeit zwischen Kants und Lévinas’ Methode: Das Lévinas’sche Verfahren ähnelt in vielerlei Hinsichten der transzendentalen Deduktion der Kritik der reinen Vernunft (vgl. de Boer, 1972). Im Aufsatz Re-reading Totality and Infinity hat Robert Bernasconi meines Erachtens nach die Interpretation de Boers zu Recht in Frage gestellt, da sie der Umwandlung der Transzendentalproblematik in Totalité et infini nicht gerecht wird. Nach Bernasconi verwendet Lévinas das Begriffspaar Apriori und Aposteriori nicht um zu einem transzendentalen Empirismus zu gelangen, sondern um die Dichotomie selbst zu überwinden: Zwischen Apriori und Aposteriori zeigt sich ein double bind, ein Verhältnis im Sinne des Ineinander: „Neither a transcendental nor an empirical discourse can be maintained in isolation from the other.” (Bernasconi, 1989, 29) Ebenso wie das Selbe das Antlitz des Anderen voraussetzt, impliziert das Gesicht seinerseits die Welt: „,No face can be approached with empty hands and closed home’, is Lévinas’s way of saying that the relation with the absolutely Other who paralyzes possession presupposes economic existence and the Other who welcomes me in the home.” (ebd.) Meiner Meinung nach muss betont werden, dass die Umwandlung der Transzendentalproblematik bereits in Lévinas’ Text En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger vorkommt (Lévinas, 1967). Das Transzendentale schreibt hier keineswegs dem Empirischen die Erscheinungsweise vor: Die Bedingungen sind nicht allgemeine Regeln, die auf die einzelnen Fälle angewendet werden, sondern wohnen der Empirie inne. In der Schrift Réflexions sur la ,technique’ phénomenologique hebt Lévinas die Eigentümlichkeiten der phänomenologischen Methode hervor. Dadurch wird die wesentliche Differenz zwischen dem Kantischen und dem Lévinas’schen Verfahren besonders sichtbar: Die Phänomenologie vermeidet jede Art von Deduktion und Induktion: Sie beruht auf der Beschreibung. Sie
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verweist auf implizite Sinne und Sinnhorizonte95 , die das Primat der Vorstellung in Frage stellen. Immer wenn die Phänomenologie Fundierungsverhältnisse ausweist, bedeutet das nichts anderes als eine Bestimmung von Verhältnissen, die dem Phänomen innewohnen (vgl. Lévinas, 1967, 114 ff.). In Totalité et infini zeichnet sich eine radikale Umgestaltung der traditionellen Beziehungen zwischen Apriori und Aposteriori auch unter einem weiteren Gesichtspunkt ab: Es zeigt sich eine Umkehrung der Beziehungen im Hinblick der Zeit. In diesem Sinne ist von einer Nachträglichkeit des Apriori der Rede: Das Apriori kommt erst post factum zustande.96 In diesem Zusammenhang scheint es mir von größter Bedeutung, eine Bemerkung Lévinas’ hinsichtlich der in Totalité et infini geübten Methode in Betracht zu ziehen: „Alle Erörterungen des vorliegenden Werks zielen darauf ab, von einer Konzeption freizukommen, die die mit entgegengesetzten Vorzeichen versehenen Geschehnisse der Existenz in einem ambivalenten Grundverhältnis zu vereinigen trachtet, wobei allein das Grundverhältnis ontologische Würde hat, wohingegen die Geschehnisse selbst, die sich in die eine oder andere Richtung ausprägen, einen empirischen Status behalten, ohne ontologisch irgendetwas Neues zu artikulieren. Die hier geübte Methode
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„Mais la constitution husserlienne ne jouera pas, quoi qu’on en ait dit, le rôle qu’elle joue chez Kant et que le terme commun évoque. La constitution de l’objet chez les phénoménologues n’a pas pour but la justification d’emploi des concepts ou des catégories, ou comme Kant l’appelle, leur déduction. La constitution husserlienne est une reconstitution de l’être concret de l’objet, un retour vers tout ce qui a été oublié dans l’attitude braquée sur l’objet, laquelle n’est pas une pensée, mais une technique. Et cette distinction entre pensée et technique qui revient dans la Krisis a été faite très tôt par Husserl. Déjà d’après les Prolégomènes (pp. 9–10) le savant n’est pas obligé de comprendre entièrement ce qu’il fait. Il opère sur son objet. La pensée théorique est, dans ce sens, technique. En découvrant l’objet, elle ignore les voies qui y ont mené et qui constituent le lieu ontologique de cet objet, l’être dont il n’est qu’une abstraction. La manière phénoménologique consiste à retrouver ces voies d’accès — toutes les évidences traversées et oubliées. Elles mesurent le poids ontologique de l’objet qui semble les dépasser.“ (Lévinas, 1967, 115 f.) 96 Schon im Bereich der Urfaktizität bei Husserl könnte man eine erste Spur der paradoxen Struktur der Nachträglichkeit des Apriori, die von Lévinas in Totalität und Unendlichkeit herausgestellt hat: das Eidos transzendentales Ich ist undenkbar ohne transzendentales Ich als faktisches (vgl. S. 91 ff.).
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besteht durchaus darin, die Bedingung der empirischen Situation aufzusuchen; aber sie schreibt den sogenannten empirischen Ausprägungen, in denen sich die bedingende Möglichkeit erfüllt — sie schreibt der Konkretisierung —, eine ontologische Rolle zu, die den Sinn der begründenden Möglichkeit präsiziert, einen Sinn, der in der Bedingung selbst unsichtbar bleibt.“ (Lévinas, 1961, 148, dt. 251 f.)
Zunächst scheint Lévinas auf das ambivalente Grundverhältnis zu verweisen, welches die Gestalt des Begriffpaares „Transzendental– Empirisch“ bei Kant oder „Ontisch–Ontologisch“ bei Heidegger annehmen könnte. Sogar die Philosophie Lévinas’ könnte als transzendental betrachtet werden, insofern als sie auf der Suche nach den Bedingungen der Erfahrung ist. Dennoch sind diese Bedingungen nicht a priori vorgezeichnet: Sie „vollziehen sich“ in der Erfahrung selbst. Als paradigmatisches Beispiel kann selbst die Begegnung des Antlitzes gelten: Sobald das Selbe dem Antlitz des Anderen begegnet, gewinnt es einen neuen und tieferen Sinn, eine Wahrheit, die vorher nicht in ihm vorhanden war. Die a priori transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit korrigieren sich dementsprechend im Laufe der Erfahrung. Die Trennung bedeutet nicht mehr das ontologische Ereignis, das auf sein Glück abzielt, sie wird zur Bedingung der Verantwortung für den Anderen. Der Anfang der Beziehung ist nicht ihre Wahrheit. In diesem Kontext gilt es jedoch darauf hinzuweisen, dass die oben erwähnte Offenheit zur Erfahrung in vielerlei Hinsichten beschränkt zu sein scheint. Lévinas interpretiert nicht nur den Vertiefungsprozess der Subjektivität — den Prozess von „actuation“ des Ich — ausschließlich in einem ethischen Kontext, sondern dieser Prozess findet im Gesicht des Anderen seine letzte Wirklichkeit. In Totalité et infini wird die Beziehung zwischen mir und dem Anderen als „letzte Struktur des Seins“ anerkannt. An dieser Stelle könnte man aus einer phänomenologischen Perspektive einen Einwand gegen diese These Lévinas’ vorbringen: Obwohl die Philosophie Lévinas’ die anachronistische Dimension der Fremdheit deutlich hervortreten lässt, könnte man in ihr eine Rückkehr zu einem quasi-transzendentalen Ansatz feststellen, indem die oben geschilderte Offenheit zur Erfahrung abgebrochen wird, um die ethische Struktur als letztes Prinzip des Sinnes sowie des Seins herauszustellen: Wenn man die Beziehung zwischen Empirischem und Transzendentalem neu definiert, indem das Transzendentale, das Bedingende in der Erfahrung als sich korrigierend und dem Empirischen innewohnend angesehen wird, mit
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welcher Legitimität kann man dem Vollzugsprozess eine Grenze setzen? Ist dieser Grenze kompatibel mit einer radikalen Offenheit zum Neuen und zum Unvorhersehbaren? Gleichzeitig könnte man auch in dieser Perspektive eine Einseitigkeit der Beschreibung des Vollzugsprozesses des Ich hervorheben, die von Lévinas geliefert wird. Sobald man von einem Bereich „ausgezeichneter, eminenter“ Phänomene ausgeht, wie im Fall der Verantwortung für den Anderen, läuft man Gefahr, zu einer kohärenten Verformung der Phänomene zu gelangen (um einen Ausdruck zu verwenden, der von Merleau-Ponty eingeführt und von Richir weiter vertieft wurde) und die „surdétermination“ der Erfahrung zu übergehen. Diese Kritik missversteht jedoch — könnte man einwenden — die ethische Bedeutung der Begriffe „Bedingung“ und „Sinn“, eine Bedeutung, die über die Phänomenologie hinausgeht. Es geht hier nicht nur darum, den eigentümlichen Sinn der unterschiedlichen Phänomene zum Ausdruck zu bringen. Der Begriff „Bedingung“ bedeutet in einem ethischen Sinne nicht Bedingung der Möglichkeit der Erscheinung der Welt — eine Bedingung, die immer die Funktion darin erfüllt, das Phänomen zeigen zu lassen, obwohl sie nicht mehr als transzendentales universales Apriori, sondern als inkarniert und im Laufe der Zeit sich wandelnd anzusehen ist. Angesichts des anachronistischen Ursprungs des Bedeutens handelt es sich vor allem um den sinnvollen Charakter des Seins bzw. die Rechfertigung der eigenen Existenz. Bei Lévinas zeigt sich eine Wandlung des Begriffes der Bedingung, indem ihr ein menschlicher Sinn verliehen wird: „Die Frage par excellence oder die erste Frage lautet nicht: ,Warum gibt es Sein und nicht vielmehr nichts?’, sondern: ,Habe ich ein Recht auf das Sein?’ Sinnfrage, die sich keiner natürlichen Zweckbestimmtheit zuwendet, sondern die fortdauert in unseren seltsamen menschlichen Reden über den Sinn des Lebens, in denen das Leben zur Menschlichkeit erwacht.“ (Lévinas, 1982, 257, dt. 228)
Es geht hierbei um den Sinncharakter des Sinnes: „Bei der hier vorgestellten Denkweise geht es nicht darum, das Sein abzulehnen oder es in lächerlicher Überheblichkeit geringschätzig zu behandeln, als Versagen einer höheren Ordnung oder Unordnung. Das Sein nimmt jedoch, umgekehrt erst von der Nähe her seinen rechten Sinn an.“ (Lévinas, 1974, 142, dt. 152) Es handelt sich darum, den rechten, gerechten Sinn des Seins näher zu bestimmen. Der entscheidende Punkt ist
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jedoch, zu begreifen, welchen phänomenologischen Status der rechte und anachronistische Sinn des Seins hat. Beschränkte sich Lévinas darauf, den gerechten Sinn des Seins zu postulieren, würde man zu einem Dogmatismus gelangen. Lévinas selbst betont, dass die Untersuchungen in Autrement qu’être den intentionalen Analysen treu geblieben seien, „insofern diese das Wiedereinrücken von Begriffen in den — verkannten, vergessenen oder verschobenen — Horizont ihres Offenbarwerdens bedeutet, verschoben in die Schauseite des Gegenstandes, in seinen Begriff, in dem vom bloßen Begriff absorbierten Blick.“ (ebd., 230–231, dt. 390) Die Rückführung vom Gesagten auf das Sagen erfüllt eine solche Aufgabe. Dagegen hat Janicaud in der Schrift Le tournant théologique de la phénoménologie française den phänomenologischen Charakter der Lévinas’schen Philosophie in Frage gestellt. Er stellt dem minimalistischen Verfahren Merleau-Pontys Lévinas’ Philosophie gegenüber. Lévinas geht von einer dogmatischen, nicht-phänomenologischen Setzung des metaphysischen Begehrens aus. Vor dem philosophischen Denken ist eine theologisch-metaphysische Montage schon vorausgesetzt, die kein radikales philosophisches Hinterfragen erlaubt.97
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An dieser Stelle möchte ich nicht auf die einzelnen Kritikpunkte Janicauds eingehen, sondern beschränke mich auf das Hinterfragen der Grundvoraussetzung seiner Argumentation: „Le lecteur, confronté au tranchant de l’absolu, se retrouve dans la position d’ un catéchumène qui n’a plus d’autre choix que de se pénétrer des paroles saintes et des dogmes altiers: ’Le Désir est désir de l’absolument Autre Pour le Désir, cette altérité, inadéquate à l’idée, a un sens. Elle est entendue comme altérité d’Autrui et comme celle du Très-Haut’ (Lévinas, 1961, 23). Tout est acquis et imposé d’emblée; ce tout est de taille: rien de moins que le Dieu de la tradition biblique. Stricte trahison de la réduction qui livrait le Je transcendantal à sa nudité, voici la théologie de retour avec son cortége de majuscules. [ ] Avec ses gros sabots critiques, tout philosophe est en droit d’intervenir et de pointer du doigt le Désir: majusculisé, ne devient-il pas générique? Tout comme l’Autre? Et après tout, même si l’on admet que soit considérée la dimension de la hauteur, doit-elle livrer d’emblée le Très-Haut? Ainsi pourrait-on multiplier à l’envi des questions inégalement insolentes, auxquelles on devine trop que la seule réponse serait un renvoi aux présuppositions initiales: ’C’est à prendre ou a laisser’.“ (Janicaud, 1991, 16) Eine solche Alternative scheint mir jedoch irreführend zu sein, weil sie den phänomenologischen Entdeckungen der Rekurrenz, der Diachronie, des Selbst als Sich nicht gerecht wird. Es ist durchaus möglich, sich die Tiefgründigkeit der Lévinas’schen Analyse und die von ihm entwickelten Begriffe
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Schon aus einer aufmerksamen Lektüre der Einführung zu Autrement qu’être wird deutlich, dass der Ausgangspunkt von Lévinas nicht in einer dogmatischen These, sondern in der konkreten Erfahrung meiner Verantwortung für den Anderen besteht. Das Phänomen der Verantwortung fordert seine eigene Sprache, die über die Korrelation Noesis–Noema hinausgeht. Wieso sind die Anderen mir nicht indifferent? Wieso fühle ich mich verantwortlich für den Anderen — nicht nur für sein Schicksal, sondern auch für seine freien Akte? Der Ausgangspunkt ist eine konkrete Erfahrung, die jedoch die Synchronie der Freiheit und der Intentionalität debordiert: „Indessen findet sich die Beziehung mit einer Vergangenheit, die getrennt bleibt von allem, was gegenwärtigt und zu vergegenwärtigen ist — weil sie nicht der Ordnung der Gegenwart angehört — einbegriffen in das außerordentliche und alltägliche Geschehen meiner Verantwortung für die Schuld und für das Unglück der Anderen, in meiner Verantwortung, die verantwortlich ist für die Freiheit des Anderen. [ ] Die Freiheit des Anderen kann niemals in der meinen ihren Anfang haben, das heißt, sie kann nicht aus derselben Gegenwart herrühren, sie kann nicht zeitgenössisch, nicht für mich vorstellbar sein. [ ] Die grenzlose Verantwortung, in der ich mich vorfinde, kommt von diesseits meiner Freiheit, von einem „Früher-als-alle-Erinnerung, einem „Späterals-alle-Vollendung“, vom Ungegenwärtigen, dem schlechthin Nicht-Ursprünglichen, An-Archischen, von einem Diesseits- oder Jenseits des Seins.“ (Lévinas, 1974, 12, dt. 40)
Ich finde mich schon verstrickt in die Verantwortung für den Anderen vor, eine Verantwortung, die ich nicht gewählt habe und die eigentlich mir selbst vorausgeht; das ist der entscheidende Punkt: „Alle negativen Attribute, die das Jenseits-des-sein aussagen, werden zu Positivität in der Verantwortung — einer Antwort, die einer nicht thematisierbaren Provokation antwortet und daher Nicht-Berufung, Verletzung ist — die antwortet, bevor sie versteht, und so Verantwortung trägt für eine vor jeder Freiheit, vor jedem Bewusstsein, vor jeder Gegenwart eingegangene Schuld.“ (Lévinas, 1974, 14, dt. 43)
zu Nutze zu machen, selbst wenn man einige Aspekte für nicht stichhaltig hält. Man kann zum Beispiel die Dichotomie zwischen dem Sein und dem Anders als Sein in Frage stellen — indem man das Sein einseitig auf den Begriff des conatus essendi zurückführt — und gleichzeitig die Diachronie als phänomenologische Entdeckung betrachten.
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Im Spätwerk Lévinas’ wie in Autrement qu’être ou au-delà de l’essence oder in De Dieu qui vient à l’idée wird versucht, eine Sprache zu entwickeln, die dem ethischen Überschuss der Verantwortung gerecht wird. Dadurch zeigt sich auch ein Abschied von den ontologischen Kategorien, durch die das mögliche Missverständnis einer letzten Wirklichkeit entstehen könnte: Die ethische Beziehung darf nicht mehr als letzte Struktur des Seins angesehen werden, weil sie nicht mehr durch das Sein bestimmt ist: Die ethische Beziehung, die durch eine Diachronie gekennzeichnet ist, wird nicht mehr im Licht der absoluten Trennung zwischen dem Selben und dem Anderen beleuchtet, sondern das Selbst wird von vornherein in einem diastatischen Sinne interpretiert.98 Das Selbst ist ein „Term“, der rekurrent ist, „wie ein Klang, der in seinem eigenen Echo widerklingt“. (Lévinas, 1974, 130, dt. 228) Die Rekurrenz ist die Kontraktion, die hinter meine Identität zurückgeht und meine Verantwortung für den Anderen offenbart. Hier liegt die Andersheit im Selbst: Man hat den Anderen in seiner Haut (ebd., 146, dt. 254). 2.2. Das Problem der Symmetrie im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen. Die Kritik von Derrida an Lévinas in „Gewalt und Metaphysik“ Violence et métaphysique gilt als die erste Etappe der Auseinandersetzung Derridas mit dem Werk Lévinas’.99 Im Folgenden werde ich vor allem auf die zwei wichtigsten Einwände eingehen, die Derrida gegen Totalität und Unendlichkeit vorbringt. Der erste Einwand betrifft den Charakter der absoluten Andersheit des Anderen; der Zweite stellt die Möglichkeit in Frage, nach der der Andere als Ausgangspunkt für eine Intersubjektivitätstheorie dienen kann. In Bezug auf den letzteren Aspekt bezieht Derrida die Husserl’sche Intersubjektivitätstheorie mit ein. 98
„Diastatische Identität, bei der die Übereinstimmung schließlich an sich selber scheitert, Sich in der identifizierenden Rekurrenz, in der ich mich weiter zurückgeworfen finde als bis zu meinem Ausgangspunkt“ (Lévinas, 1974, 147, dt. 255) 99 In drei Schriften Derridas, Violence et métaphysique (1964), En ce moment même dans cet ouvrage me voici (1980), Adieu à Emmanuel Lévinas (1997), werden die Texte Lévinas’ einer umfassenden Analyse unterzogen. Lévinas’ Philosophie spielt eine entscheidende, kaum überschaubare Rolle für Derridas Werk und insbes. für die Spätschriften (vgl. dazu Gondek-Waldenfels 1994).
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Derrida stellt die These von Lévinas in Frage, der zufolge der Andere als „absolute“ Fremdheit anzusehen ist. Stricto sensu kann sich keine „absolute“ Fremdheit zeigen: Fremdheit, Exteriorität, Heterogenität sind Begriffe, die notwendigerweise aus einem Differenzierungsprozess entstehen. Die Andersheit kann nur als Negativität gedacht werden.100 Dieselbe außerordentliche, un-endliche Fremdheit des Antlitzes des Anderen definiert sich negativ bzw. im Gegensatz zur räumlichen Äußerlichkeit. Die Negativität wohnt jeder Kategorie, jedem Begriff und Phänomen inne. Es gilt auch hervorzuheben, dass sich jeder Versuch, das absolut Andere zum Ausdruck zu bringen, in eine Sprache, in eine Schrift einschreibt, die das angeblich absolut Fremde oder das Unendliche einschließt und artikuliert: „Sagt man, die unendliche Äußerlichkeit des Anderen sei nicht räumlich, sie sei NichtÄußerlichkeit und Nicht-Innerlichkeit, unfähig, sie anders als negativ zu bezeichnen, heißt das nicht einzusehen, dass sich das Unendliche (das in seiner aktuellen Positivität ebenfalls negativ bezeichnet wird: un-endlich) nicht aussprechen lässt? Führt das nicht zur Einsicht, dass die Struktur des „Innen–Außen“, die die Sprache selbst ist, die ursprüngliche Endlichkeit der Sprache und das, was zur Sprache kommt, kennzeichnet?“ (Derrida 1967, 166, dt. 172 f.)
Jedes Phänomen, jeder Sinn und dieselbe Innen-Außen-Struktur gehen aus einem eingeschriebenen Ursprung hervor, der keineswegs zeitlich oder räumlich zu lokalisieren ist (ebd). Sie entstehen aus einer Negativität, aus einer Unruhe, die als Ökonomie und als Gewalt bezeichnet wird (ebd., 188, dt. 195). Das Unendliche ist im Sinne des apeirons zu denken: Es ist das Reich der „différance“, ein Reich, in dem die Differenzierung zwischen Außen und Innen, Fremdem und Eigenem keinen Sinn mehr hat (ebd., 188, dt. 195 f.). Der Begriff eines aktuell positiven Unendlichen ist deshalb ein Konstrukt, weil er nicht der Negativität gerecht wird, die ihn ermöglicht:
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„Der Fremdling im Sophistes, der mit dem Eleatismus im Namen der Andersheit zu brechen scheint, wie Levinas ebenfalls, weiß, dass sich die Andersheit nur als Negativität denken lässt, und sich vor allem nur als Negativität — mit deren Ablehnung Levinas beginnt — nennen lässt; er weiß, dass das Andere, im Unterschied zum Sein, immer relativ ist, und sich pro heteron nennt.“ (Derrida, 1967, 186 f., dt. 193)
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„Wenn ich deshalb die irreduzible (unendliche) Andersheit des Fremden nur durch die Negation der räumlichen (endlichen) Äußerlichkeit bezeichnen kann, dann liegt das vielleicht daran, dass sein Sinn endlich, in positiver Weise nicht unendlich ist. Der unendliche Andere, die Unendlichkeit des Anderen ist nicht der Andere als positive Unendlichkeit, Gott oder Abbild Gottes. Das unendliche Andere wäre nicht, was es ist: anders —, wäre es positive Unendlichkeit und enthielte es nicht in sich die Negativität des Un-Bestimmten, des Apeiron.“ (Derrida 1967, 168, dt. 174)
Der „Begriff“ des Antlitzes widerspricht allerdings der Möglichkeit einer positiven Unendlichkeit: Das Antlitz fällt aus Wesensgründen innerhalb der räumlichen Äußerlichkeit. Zweifelsohne ist es Nullpunkt des Raumes, aber gleichzeitig befindet es sich im Raum selbst. Außerdem ist das Antlitz prinzipiell endlich bzw. sterblich. Wie kann man die Sterblichkeit mit Gott als positivem Unendlichen in Einklang bringen? „Ist das Gesicht Körper, dann ist es sterblich. Die unendliche Andersheit als Tod lässt sich nicht mit der unendlichen Andersheit als Positivität und Präsenz (Gott) versöhnen.“ (ebd., 170, dt. 176) Vor allem anhand der letzten Behauptung bezüglich der Leiblichkeit des Antlitzes und der Beziehung zu Gott wird deutlich, dass Derrida den Sinn des Unendlichen und der absoluten Andersheit bei Lévinas missverstanden hat. Die absolute Andersheit lässt sich keineswegs mit einem positiven Unendlichen identifizieren, das im Sinne der Präsenzmetaphysik artikuliert wird. Vom aktuell positiven Unendlichen als Unbestimmtem, als Allem, als Ganzem, Leben und Tod (Derrida, 1967, 170, dt. 176) ist in Totalität und Unendlichkeit keine Rede. Dadurch würde man wiederum in einen Ansatz geraten, der durch das Primat des Neutrums gekennzeichnet ist. Lévinas versucht dagegen — in anderen Textstellen hebt Derrida selbst dieses hervor — den Sinn der absoluten Andersheit von jeder theoretischen Abstraktion zu befreien und ethisch zu interpretieren. Lévinas bezieht sich auf eine konkrete Erfahrung, um den Begriff des Unendlichen neu zu gestalten. Das Unendliche steht mir gegenüber und nimmt die lebendige Gestalt des Von-Angesicht-zu-Angesicht an. Während der Andere zu mir im Verhältnis steht, löst er sich jedoch von dieser Beziehung ab. Die Sprache realisiert eine Beziehung, in der sich die Termini aus der Beziehung ablösen (Lévinas, 1961, 169, dt. 278). Der Andere, der von Außen kommt, bringt mir mehr, als ich enthalte.
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Man empfängt das, was nicht schon a priori in uns vorhanden ist. Das macht den Sinn der Unterweisung aus: „Den Andere ansprechen, heißt, seinen Ausdruck empfangen; in seinem Ausdruck überschreitet der Andere in jedem Augenblick die Idee, die sich ein Denken von diesem Ausdruck machen könnte. Ebendas heißt, vom Anderen über die Aufnahmefähigkeit des Ich hinaus empfangen; genau dies bedeutet, die Idee des Unendlichen haben.“ (Lévinas, 1961, 22, dt. 64)
Gehen wir jetzt zum zweiten Einwand Derridas über. Die ursprüngliche Gewalt steht nach Derrida im Zusammenhang mit dem Begriff eines ego im Allgemeinen, der als Anfang der Philosophie anzusehen ist. Die Erfahrung ist immer meine Erfahrung: Ich kann nicht anders als von mir selbst auszugehen. Die Phänomene erscheinen ursprünglich innerhalb meiner eigenen Sphäre bzw. des Ich: „Husserl wusste das und nannte das irreduzibel ichliche Wesen der Erfahrung Urtatsache, nicht empirische transzendentale Tatsache (ein Begriff, auf den man nie geachtet hat).“ (Derrida, 1967, 193, dt. 199) Ich kann den Anderen als Anderen erkennen, sofern ich über die Ichheit als Kriterium schon verfüge: „Der Andere ist also nicht, was er ist (mein Nächster als Fremder), wenn er nicht alter ego ist“ (Derrida, 1967, 187, dt. 193); „der Andere als alter ego bedeutet der Andere als Anderer, der auf mein ego irreduzibel ist, eben weil er ego, weil er die Gestalt des ego besitzt. Die Ichheit des Anderen macht es möglich, dass er, wie ich, ,ego’ sagt; deshalb ist er ein Anderer, nicht aber ein Stein oder ein sprachloses Wesen in meiner reellen Ökonomie.“ (Derrida, 1967, 185, dt. 191)
Ohne eine solche transzendentale Symmetrie, die am gemeinsamen Moment der Ichheit liegt, wäre es unmöglich, die empirische Asymmetrie zwischen den zwei egos, nach der sich das Antlitz des Anderen als Befehl zeigt, festzustellen: „Ohne die Symmetrie, die nicht zur Welt gehört und die der Andersheit, der Dissymmetrie keine Grenze aufzwängt, weil sie nichts Reelles ist, sondern sie im Gegenteil ermöglicht, wäre keine Dissymetrie möglich. Diese Dissymmetrie ist eine Ökonomie in einer neuen Bedeutung, die für Lévinas zweifellos ebenfalls unannehmbar wäre. Ungeachtet der logischen Absurdität dieser Formulierung ist sie die transzendentale Symmetrie zweier empirischer Asymmetrien. Der Andere ist für mich ein ego, von dem ich weiß, dass er zu mir ein Verhältnis wie zu einem anderen hat.“ (Derrida, 1967, 185, dt. 191)
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Aus dieser Perspektive beschränkt sich Husserl darauf, den Anderen ausgehend von der intentionalen Modifikation meines Ich auszulegen. In einer solchen These zeigt sich nach Derrida nichts Gewaltsames. Im Gegenteil: Die Geste jeder Gewalt besteht darin, den Anderen nicht als ego anzuerkennen (ebd., 184, dt. 190). Da Lévinas die These der intentionalen Modifikation ablehnt, bleibt ihm der einzige Zugang verschlossen, in dem der Andere als Anderer zur Sprache kommen kann: Der Andere kann letztlich nur durch und für das Selbst als das, was er ist, in Erscheinung treten (ebd., 195, dt. 201). Daraus ergibt sich, dass die Metaphysik im Sinne Lévinas’ die transzendentale Phänomenologie Husserls voraussetzt, die sie eigentlich in Frage stellen wollte (ebd., 196, dt. 202). Auch bezüglich des zweiten Einwands scheint mir, dass Derridas Interpretation der Ansicht Lévinas’ nicht gerecht wird. In der oben durchgeführten Analyse von Totalität und Unendlichkeit wurde mehrmals darauf hingewiesen, dass Lévinas prinzipiell von der Sphäre des Selben ausgeht — eine Sphäre, die die Gestalt des Psychismus, des Leibes, des Egoismus, usw. annimmt —, um die Begegnung mit dem Anderen zu beschreiben: Diesbezüglich besteht kein Gegensatz, sondern eine Konvergenz zwischen Husserl und Lévinas (vgl. S. 133 ff.). Der fundamentale Unterschied ist indessen darin zu suchen, dass diese Begegnung bei Lévinas eine neue Dimension eröffnet, die das Ich radikal in Frage stellt. Das Ich, das als Ausgangspunkt der Beziehung mit dem Anderen gesetzt ist, entdeckt sich als Kreatur. Anders gesagt: Das Ich wird im Nachhinein dessen inne, dass der Andere die Initiative hat und — zeitlich betrachtet — durch eine Vorgängigkeit charakterisiert ist. Der Ausgangspunkt der Beziehung ist nicht die Wahrheit der Beziehung. Dadurch entsteht die oben geschilderte Krümmung des intersubjektiven Raumes. Derrida übergeht etwas Wesentliches von Totalität und Unendlichkeit, indem er diese komplexe Struktur, die ich als dreifache Bewegung bezeichnet habe, nicht in Betracht zieht (vgl. S. 132 f.). Des Weiteren möchte ich auf ein anderes Manko der Interpretation Derridas hinweisen. Diese geht von einem allgemeinen Begriff der Ichheit aus. „Der Andere ist nicht ein Ich — wer hätte das jemals behauptet? —, er ist aber ein Ich; Lévinas muss das wohl oder übel nehmen, um seine Aussage stützen zu können. Dieser Übergang des Ich zum Anderen als zu einem Ich ist der Übergang zur wesenhaften, nichtempirischen Ichheit der subjektiven Existenz überhaupt.“ (Derrida, 1967, 162, dt. 168)
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In diesem Sinn spricht man von der transzendentalen Symmetrie, auf der die zwei empirischen Asymmetrien beruhen. Eine solche These scheint mir deshalb fragwürdig, weil sie die außenstehende Position eines Dritten einnimmt, die den Begriff „Ichheit“ isoliert, einen Begriff, der für alle Ich gültig ist. Bezüglich der Fremderfahrung steht das Problem der Zuschreibung der Ichheit nicht zur Debatte. Es ist grundverkehrt, jede Fremderfahrung ausgehend von der Bestimmung eines gemeinsamen Momentes zwischen mir und dem Anderen auszulegen. Die Erfahrung des Fremden definiert sich dadurch, dass „etwas“ auftritt, das als Unzugängliches und Unverständliches erscheint und sich nicht in meine Ordnung einfügt. Diesbezüglich hat Waldenfels zu Recht auf die Figur der Schwelle verwiesen. Das Fremde hängt wesentlich mit dem Phänomen der Ein- und Ausgrenzung zusammen. Diese Ausgrenzung bedeutet eine Differenz von Diesseits und Jenseits: „Was jenseits der Schwelle lockt und erschreckt, gehört nicht mehr zum Spiel mit eigener Freiheit, sondern bedeutet eine Herausforderung der eigenen Freiheit durch Fremdartiges, das in der jeweils bestehenden Ordnung keinen Platz findet.“ (Waldenfels, 1990, 31)
In jeder Art von Fremdheit (z. B. sexuellen, kulturellen) zeigt sich die Unmöglichkeit, gleichzeitig auf beiden Seiten der Schwelle zu sein. Wenn man von einer transzendentalen Symmetrie oder von der Bestimmung einer neutralen „gemeinsamen“ Ebene ausgeht, bleibt der Zugang zum Fremden verschlossen. Der größte Beitrag Lévinas’ besteht m. E. darin, dass er nicht nur — wie Husserl — eine phänomenologische Vorgehensweise bezüglich der Fremderfahrung zum Ausdruck gebracht hat, die auf jede panoramahafte Perspektive verzichtet, sondern dass er konsequent einen heteronomen Sinn des Anderen ausgewiesen hat, der keine Rückkehr zur Immanenz erlaubt: Das Ich ist nicht mehr als Geltungsboden des Anderen zu betrachten. Die Begegnung des Antlitzes des Anderen eröffnet, wie jede andere radikale Erfahrung, eine Dimension, die in ihrer eigentümlichen Phänomenalität und Zeitlichkeit zu artikulieren ist, ohne sie auf eine vorgestiftete und allgemeine Ordnung zurückzuführen: Die Begegnung des Anderen geht über die Korrelation Noesis/Noema hinaus und lässt sich im Licht der diachronischen Beziehung zwischen
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Anruf und Antwort interpretieren. Sie stellt dadurch die Apodiktizität der immanenten Erscheinung als letztes Kriterium in Frage: Die moralische Rechtfertigung meiner Freiheit ist „weder Gewissheit noch Ungewissheit“, indem sie keineswegs den Status einer deutlichen Idee hat, die sich aufgrund ihrer Deutlichkeit durchsetzt und sich in ein solitäres Bewusstsein einfügt (Lévinas, 1961, 281, dt. 442). Die moralische Rechtfertigung meiner Freiheit vollzieht sich als eine unendliche Forderung gegen mich selbst: Ich werde in eine Situation gestellt, „in der ich nicht allein bin, in der über mich geurteilt wird“ (Lévinas, 1961, 281, dt. 442). Dadurch wird die oben dargestellte zirkuläre Bewegung, die die Husserl’sche Phänomenologie kennzeichnet, gebrochen.
KAPITEL V
PHÄNOMENOLOGIE DER ZEIT
Im vorliegenden Kapitel werde ich die letzte Dimension des transzendentalen Ich umfassend untersuchen: die Zeit. Um die vielleicht schwierigste Thematik der Husserl’schen Phänomenologie sachgerecht zu beschreiben, unterziehe ich die drei Etappen der Zeitanalyse, die Vorlesung aus dem Wintersemester 1904/05 mit den zusammenhängenden Forschungsmanuskripten, insbes. die aus den Jahren 1909/11, die sog. Bernauer Manuskripte aus den Jahren 1917/18 und die C-Manuskripte aus den dreißiger Jahren einer tiefgründigen Untersuchung. In diesem Kontext werde ich mich zum einen darum bemühen, die Umwandlungen des zeitkonstituierenden Bewusstseins, insbesondere die verschiedenartigen Konfigurationen des Verhältnisses zwischen den inneren Momenten des ursprünglichen Zeitfeldes (Urimpression, Retention und Protention), hervortreten zu lassen. Zum anderen werde ich zeigen, dass die Husserl’sche Phänomenologie der Zeit — wohlgemerkt nicht auf einer programmatischen, sondern auf einer „operativen“ Ebene — vielfältige und verschobene Zeitlichkeiten ausgewiesen hat. 1. Die Husserl’sche Zeitanalyse in den Vorlesungen aus dem Jahr 1905 In den Zeitvorlesungen aus dem Jahr 1905 und in den mit ihr zusammenhängenden Forschungsmanuskripten, die im Husserliana-Band X gesammelt worden sind, zielt Husserl vor allem darauf ab, sowohl die Art und Weise zu beschreiben, wie sich das innerhalb der immanenten Zeit eine bestimmte bzw. einzigartige Stelle einnehmende Zeitobjekt konstituiert, als auch das zeitkonstituierende Bewusstsein in seinen intentionalen Akten zu untersuchen. Es ist im Vorhinein wichtig, auf die innere Beweglichkeit der im Husserliana-Band X durchgeführte Zeitanalyse hinzuweisen: Wenn 151
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zuerst z. B. die Zeitwahrnehmung anhand des Schemas „Auffassung– Auffassungsinhalt“ untersucht wird, scheint dann in Texten aus den Jahren 1909 bis 1911 die Anwendung desselben Schemas auf das zeitkonstituierende Bewusstsein höchst problematisch. Bewegt sich die Zeitanalyse zuerst ausschließlich innerhalb der Wahrnehmungsproblematik, spielt in den späteren Schriften die Vergegenwärtigungsthematik hinsichtlich der Zeitauffassung eine immer wichtigere Rolle. Husserl geht ständig neue Wege, um den Kernproblemen seiner Zeitauffassung — insbesondere dem Verhältnis zwischen Urimpression und Retention, sowie der Bestimmung des absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseins — gerecht zu werden. Die Vorlesungen aus dem Jahr 1905 beginnen mit der Ausschaltung der objektiven Zeit. Husserl versucht, die empirische, objektive Zeit zu verdeutlichen, indem er diejenigen Momente herausstellt, auf denen sie beruht: die sich in der immanenten Zeit herausbildenden Erscheinungen. In § 9, der den Titel „Das Bewusstsein von den Erscheinungen immanenter Objekte“ trägt, vollzieht Husserl die immanente Analyse des Zeitbewusstseins in zwei fundamentalen Richtungen: 1. Zum einen können wir unsere Aufmerksamkeit auf den immanenten Gegenstand richten. Ein Ton erscheint in verschiedenen zeitlichen Gegebenheitsweisen (bzw. als aktueller, als vergangener, als zukünftiger). Wir sagen dann, dass ein Ton angefangen hat, dass der Ton jetzt dauert, dass der Ton in eine immer fernere Vergangenheit rückt usw. 2. Zum anderen können wir auch die Art und Weise beschreiben, wie wir dieser zeitlichen Unterschiede bewusst werden. Demnach achte ich auf die immanente Zeitbewusstseinsweise des Tones, auf das Bewusstsein des gegenwärtigen Tones, des soeben gewesenen und des zukünftigen (Hua X, 372). Dem Jetztsein des Tones entspricht als eigentümliches Bewusstsein die Urimpression, mit der das dauernde Objekt einsetzt (Hua X, 24). Diese ist als Urquelle des dauernden Gegenstandes anzusehen: „Die Urimpression ist das absolut Unmodifizierte, die Urquelle für alles weitere Bewusstsein und Sein. Urimpression hat zum Inhalt das, was das Wort Jetzt besagt, wofern es im strengsten Sinne genommen wird. Jedes neue Jetzt ist Inhalt einer neuen Urimpression.“ (Hua X, 67, m. H.)
phänomenologie der zeit
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Sobald eine neue Urimpression auftritt, schließt sich ein „Kometenschweif“ der Retentionen an (Hua X, 35). Die retentionale Modifikation wird demzufolge als ein originäres Bewusstsein des eben Gewesenen definiert (Hua X, 32): Sie behält das im Griff, was soeben gegenwärtig war. Wenn ein zweiter Ton auftritt, ist das Bewusstsein des vorherigen nicht verschwunden: Ich kann meine Intention auf den ersten Ton noch erhalten, während der zweite wirklich wahrgenommen wird bzw. als „jetzt“ bewusst ist (Hua X, 167). Die protentionale Intention richtet sich hingegen auf das, was noch nicht aufgetreten ist. Sie ist die unmittelbare Erwartung der zukünftigen Phase. Ohne diese vorwärts gerichtete Intention sind wir nicht und können wir nicht sein (Hua X, 167). Bei der Analyse des immanenten Gegenstandes macht Husserl somit „die bekannte bahnbrechende (bei Augustinus und William James von Ferne vorbereitete) Entdeckung, dass das konkret erfahrene Jetzt keine unausgedehnte Grenze ist, sondern ein Präsenzfeld: Das Gegenwartsbewusstsein spannt sich durch ,Protention’ und ,Retention’ aus in eine gewisse — vom Grad der jeweiligen Aufmerksamkeit abhängige — Breite.“ (Held, 2005, 253) Diesbezüglich spricht Granel vom ,großen Jetzt’. Jedes Jetzt ist kein mathematischer Punkt, sondern hat eine „sichtbare Ausdehnung“ (Hua X, 168): „Indem ich die abgelaufene Phase im Griff habe, durchlebe ich die gegenwärtige, nehme sie — dank der Retention — ,hinzu’ und bin gerichtet auf das Kommende (in einer Protention).“ (Hua X, 118) Protention, Retention und Urimpression konstituieren das originäre Zeitfeld. Als originäres Zeitfeld wird jedoch nur eine momentane Phase der Wahrnehmung eines Zeitobjektes bezeichnet: „Diese Wahrnehmung hat in jeder Phase urimpressional-retentional-protentional ihr originäres Zeitfeld, aber diese Phase geht ständig über in eine neue Phase.“ (Kern, 1989, 99) Das Zeitfeld ist dementsprechend dem ständigen Wandel unterworfen: Es verändert sich stetig, indem immer wieder eine neue Urimpression eintritt und sich damit zugleich die vorangegangene in Retention wandelt. Die Wahrnehmung eines Zeitobjektes entsteht aus der synthetischen Einheit von originären Zeitfeldern. Ich möchte vorausschicken, dass sich Husserls phänomenologische Zeitanalyse keineswegs darauf beschränkt, das immanente Zeitobjekt (als jetzt, als vergangen, als zukünftig bewusst) von den jeweiligen
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Zeitbewusstseinweisen, die den zeitlichen Charakter verleihen (Impression, Retention, Protention), zu unterscheiden, sondern auch den „problematischen“ Status der Zeitlichkeit des Wahrnehmungsaktes in seinem ganzen Umfang hervortreten lässt: Wenn der Wahrnehmungsakt als zeitlicher Vorgang angesehen wird, dann scheint es schwierig, wenn nicht unmöglich, dem Problem des unendlichen Regresses zu entgehen. Eine solche Vertiefung der Zeitlichkeit des Wahrnehmungsaktes führt in den späteren Texten (ab dem Jahr 1909) nicht nur zur Entdeckung der Quasi-Zeitlichkeit des absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseins, sondern auch zu einer durch die Untersuchung der Retention entstandenen Unterscheidung zwischen einer Längs- und einer Querintentionalität des Zeitbewusstseins. Mit der Einführung der doppelten Intentionalität der Retention ereignet sich eine Selbsterscheinung des Flusses. Von daher ist begreiflich, dass sich letztlich die Zeitproblematik in drei Stufen gliedert: Auf einer Stufe wird das Zeitobjekt, auf einer anderen die Zeitwahrnehmung als zeitlicher Vorgang und auf der letzten das absolute innere zeitkonstituierende Bewusstsein untersucht. Im Folgenden werde ich mich auf drei zentrale Momente der im Husserliana-Band X entwickelten Zeitauffassung konzentrieren: 1. Verdeutlichung des Schemas „Auffassung–Auffassungsinhalt“ mit der Thematisierung seiner Aporien; 2. Bestimmung des absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseinsflusses; 3. Ausarbeitung der sich innerhalb des originären Urfeldes abspielenden Beziehung zwischen Retention und Urimpression. 1.1. Das Schema „Auffassung–Auffassungsinhalt“ und seine Aporien In einem Text aus dem Jahr 1901 kommt Husserl zu dem Ergebnis, dass die zeitlichen Unterschiede zwischen einem als gegenwärtig und einem als vergangen erscheinenden Gegenstand von der Apperzeptionsweise abhängen: „Derselbe sinnliche Inhalt wird als Vergangenes aufgefasst, in Relation zu einem Gegenwärtigen irgendeiner Wahrnehmung. Das Objekt erscheint vielleicht genau als dasselbe, nur modifiziert, aber die Modifikation betrifft nicht den sinnlichen Inhalt, also nicht das, was das Objekt seiner Materie nach konstituiert. Ich bin geneigt, diesen Unterschied in die Apperzeptionsweise hineinzuverlegen.“ (Hua X, 174)
Die Retention wird somit als Auffassung eines Inhalts definiert. Nach diesem Interpretationsvorschlag hängt der zeitliche Charakter des
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Objekts keineswegs mit der Materie zusammen, sondern beruht ausschließlich auf den unterschiedlichen Zeitauffassungen. Das hier verwendete Modell „Auffassung–Auffassungsinhalt“ wird zum ersten Mal in den Logischen Untersuchungen im Hinblick auf die Sprachphänomene gebraucht und dann auch methodisch auf die Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes angewendet: Nach diesem Modell ermöglicht das Erscheinen eines Inhaltes verschiedene Auffassungen, die über seinen Sinn entscheiden bzw. ihm den Sinn geben. Das Schema wird dann in den Zeitvorlesungen von 1905 systematisch auf die Zeitphänomene angewendet. Die in § 8 und § 13 der Vorlesungen aus dem Jahr 1905 durchgeführte Analyse des zeitlichen Gegenstandes gleicht der Untersuchung des in der äußeren Wahrnehmung gegebenen räumlichen Objekts. In der äußeren Wahrnehmung zeigt sich eine Intentionalität, die sich durch die Vermittlung einer Reihe von immanenten Erscheinungen bzw. der Abschattungen auf ein transzendentes Objekt bezieht. Auch hinsichtlich der Zeitwahrnehmung wird das dauernde identische Objekt von dem „Objekt im Wie“101 bzw. von den zeitlich orientierten Punkten unterschieden, welche die Dauer des Objekts ausmachen. In der Zeitkonstitution erscheint das Objekt in einem wandelnden Ablaufmodus und zwar als jetziges, als vergangenes und als zukünftiges. Die Zeitintentionalität ist somit durch einen Doppelsinn gekennzeichnet: Es ist sowohl möglich, den Blick auf die Erscheinung und zwar auf das Objekt im Ablaufmodus als auch auf den identischen Gegenstand zu richten, der die mannigfaltigen Phasen durchläuft. Die Phase, die als Jetzt bewusst ist, wird „voll eigentlich wahrgenommen“ (Hua X, 26). Mit dem aktuellen Jetzt ist aber auch die Kontinuität von früheren Phasen bewusst bzw. retentional bewusst: Die ganze Strecke der Zeitdauer vom Anfangspunkt bis zum Jetztpunkt ist als abgelaufene Dauer gegenwärtig. Husserl beschreibt das Bewusstsein des Zeitobjekts folgendermaßen: „,Während’ dieses ganzen Bewusstseinsflusses ist der eine und selbe Ton als dauernder bewusst, als jetzt dauernder. ,Vorher’ (falls er nicht etwa erwarteter war) ist er nicht
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Um Missverständnisse zu vermeiden, wird hierbei das Objekt im Wie als „Ablaufsphänomen“ oder „als Modi der zeitlichen Orientierung“ (Hua X, 27) bestimmt.
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bewusst. ,Nachher’ ist er ,eine Zeitlang’ in der ,Retention’ als gewesener ,noch’ bewusst, er kann festgehalten und im fixierenden Blick stehend bzw. bleibend sein.“ (Hua X, 24)
Dann rückt der Ton allmählich in eine weitere Vergangenheit: Er modifiziert sich stetig, wird immer unklarer und leerer. Es besteht eine Analogie zwischen der räumlichen und der zeitlichen Wahrnehmung — eine Analogie, die nach Rudolf Bernet (1994, 217) als ein Kennzeichen der Präsenzmetaphysik anzusehen ist — auch in Bezug auf die Art und Weise, wie sich der Gegenstand vom jeweiligen Nullpunkt der Wahrnehmung, der zeitlich gesehen der Jetztpunkt, räumlich gesehen das absolute Hier des Leibes ist, entfernt. In beiden Fällen zeigt sich derselbe Prozess: Je weiter der Gegenstand vom Nullpunkt wegläuft, „bekundet sich eine um so größere Verflossenheit und Zusammengerücktheit“ (Hua X, 26). Auch in anderen Hinsichten stellt Husserl eine Analogie zwischen räumlicher und zeitlicher Wahrnehmung fest. Durch die beständige Verschiebung hat das Gesichtsfeld über den objektiven Raum sowie über das Zeitfeld immer dasselbe Spektrum bzw. dieselbe Extension.102 Außerdem besteht eine weitere Korrespondenz zwischen dem durch die Wiedererinnerung identifizierten Zeitobjekt und dem räumlichen Gegenstand hinsichtlich der Einordnung in eine Umgebung, in welche sie sich einfügen müssen (Hua X, 55). Anhand des Schemas „Auffassung–Auffassungsinhalt“ erweist sich die Materie — zeitlich betrachtet — als neutral. Demnach verwendet Husserl mehrmals die Ausdrücke ,außerzeitlich’ sowie ,unzeitlich’ im Hinblick auf die Materie. Der Gegenstand erhält eine zeitliche Bestimmung ausschließlich durch die Funktion der Auffassungen, welche den Materien ihren Zeitcharakter verleihen: „Die Gesamtauffassung des Gegenstandes enthält zwei Komponenten: die eine konstituiert das Objekt nach seinen außerzeitlichen Bestimmungen, die andere schafft die Zeitstelle, das Jetztsein, Gewesensein usw. Das Objekt als die Zeitmaterie, als das, was die Zeitstelle und die zeitliche Ausbreitung hat, als das, was dauert oder sich
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„Das originäre Zeitfeld ist offenbar begrenzt, genau wie bei der Wahrnehmung. Ja, im großen und ganzen wird man wohl die Behauptung wagen dürfen, dass das Zeitfeld immer dieselbe Extension hat.“ (Hua X, 31)
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verändert, als das, was jetzt ist und dann gewesen ist, entspringt rein aus der Objektivation der Auffassungsinhalte, im Falle sinnlicher Objekte also der sinnlichen Inhalte.“ (Hua X, 63)
Anders gesagt: Wenn sich ein Inhalt in der Urimpression bekundet, ist er als jetzt bewusst. Wenn der Inhalt sich in der primären Erinnerung (Retention) bekundet, dann ist er als „soeben gewesen“ bewusst. In § 31 wird dieses Schema noch komplexer, indem sich sowohl die Auffassungen als auch die Auffassungsinhalte verdoppeln. Der Inhalt erfährt eine Auffassung sowohl in Bezug auf seine Qualität bzw. „auf den qualitativen Gehalt des Empfindungsmaterials“ (Hua X, 66) als auch in Bezug auf seine Zeitstelle. Der qualitative Gehalt wird auch als „Zeitmaterie“ bezeichnet und betrifft die Eigentümlichkeit des Zeitobjekts, wie z. B. die Intensität des Tones. Selbst wenn der Ton qualitativ unverändert bleibt, besteht immer — phänomenologisch betrachtet — ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich der Phasen der Dauer, in der der Ton erscheint: Jede Phase hat eine andere nicht austauschbare Zeitstelle, die ihre Individualität ausmacht. Diese Art von Inhalt wird als „Zeitstellenrepräsentant“ bezeichnet. Nachdem eine erste Beschreibung der Anwendung des Schemas auf das Zeitobjekt geliefert wurde, werde ich auf das (schon erwähnte) entscheidende Problem, das die Zeitlichkeit des Wahrnehmungsaktes betrifft, eingehen. In diesem Zusammenhang gilt es hervorzuheben, dass die „objektivierende Auffassung“ selbst (Hua X, 67) ein Zeitobjekt ist. Aus dieser Perspektive sind sowohl das Jetztbewusstsein als auch die Retentionen Akte, die im Ablauf der subjektiven Erlebnisse als „jetzt“ bewusst sind. Zuerst neigt Husserl dazu, hinsichtlich der phänomenalen Extension eine vollständige Deckung zwischen der Zeitwahrnehmung und dem Zeitobjekt zu behaupten (z. B. Hua X, 92). Dem Jetztpunkt des Gegenstandes entspricht der Jetztpunkt des Bewusstseins: „Und das Bewusstsein vom Jetzt ist selbst ein Jetzt und das Bewusstsein von der dauernden Gegenwart selbst eine dauernde Gegenwart.“ (Hua X, 321) Geht das Bewusstsein vom Ton-Jetzt — die Urimpression — in Retention über, dann ist diese Retention selbst wieder als ein Jetzt bzw. als „ein aktuelles Daseiendes“ (Hua X, 29) zu betrachten. Das Beachten eines Bechers wird als Beispiel angeführt, um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen. Im Zeitbewusstsein erfährt derselbe Inhalt (der Becher)
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verschiedene Auffassungen, die in einer Beziehung der Gleichzeitigkeit mit den gegenständlichen Phasen stehen: „Zum Jetzt des beachteten Bechers gehört das Jetzt des Beachtens, und zum Vorhin des beachteten Bechers das Vorhin-beachtet-gewesen-sein.“ (Hua X, 321) Indem die Simultanität zwischen dem Jetztbewusstsein und der Jetztphase des Gegenstandes anerkannt wird, kommt ein lineares Zeitverständnis zum Vorschein. Die These von einer Simultanität zwischen dem Zeitobjekt und dem das Objekt konstituierenden Zeitbewusstsein führt jedoch zu zwei unauflösbaren Schwierigkeiten: Erstens muss beachtet werden, dass wir der Zeitwahrnehmung als Zeitobjekt nur durch die Reflexion inne werden können — von daher verweist die Zeitwahrnehmung auf ein weiteres Bewusstsein, das sie konstituiert. Da dieses reflexive Bewusstsein seinerseits noch ein weiteres Bewusstsein voraussetzt, um sich selbst bewusst zu werden, scheint es unmöglich, dem „Spuk“ des unendlichen Regresses (Hua XXXIII, 243) zu entgehen: „Die Reflexion auf diese [auf die Wahrnehmung des Zeitobjekts] lässt aber auch wieder sie als ein Zeitobjekt dastehen, das nicht sein kann ohne einen konstituierenden Fluss von Mannigfaltigkeiten, der selbst wieder ein Zeitfluss ist und eine zeitliche Einheit konstituiert, und so in infinitum.“ (Hua X, 285)
Zum anderen verzerrt dieses lineare Zeitverständnis den Sinn der retentionalen Modifikationen, indem es seine Tiefendimension nicht anerkennt (vgl. S. 162 f.). Im Text Nr. 49 erreichen die Bedenken an der Anwendung des Schemas ein weiteres Stadium: Der erste Einwand erinnert an die Kritik Husserls an Brentano (Hua X, § 6). Auch hier steht in der Tat das Problem der Konstitution einer phänomenologisch ausweisbaren Sukzession zur Debatte. Es bleibt unverständlich, wie sich eine eigentliche Sukzession konstituieren kann, wenn wir im Jetztpunkt ein Kontinuum von primären Inhalten und dazu gleichzeitig ein Kontinuum von Auffassungen, welche diesen Inhalten ihren zeitlichen Charakter verleihen, haben können (Hua X, 322): „Kann aber eine Serie von koexistenten primären Inhalten jemals eine Sukzession zur Anschauung bringen?“ ‘(Hua X, 323) Der zweite Einwand stellt die Analogie zwischen der Dingauffassung und der Zeitauffassung in Frage. Während im Fall der Dingkonstitution
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identische Erscheinungen durch unterschiedliche Auffassungen eine wesentliche Modifikation erfahren und sich sogar, wie im klassischen Beispiel von der Vogelscheuche, das Wesen desselben Objekts verändern kann, sind die Inhalte des Zeitbewusstseins durch eine feste Form gekennzeichnet. Was als Jetztphase gegenwärtig ist, kann nicht als soeben gewesen aufgefasst werden. Was als gleichzeitig erscheint, kann nicht durch eine Auffassungsänderung als sukzessiv betrachtet werden: „Die primären Inhalte, die im Jetzt sich ausbreiten, können ihre Zeitfunktion nicht vertauschen, das Jetzt kann nicht als Nicht-Jetzt, das Nicht-Jetzt nicht als Jetzt dastehen.“ (Hua X, 322) Die Phasen des Zeitobjekts sind demnach inhaltlich nicht neutral: Sie können nicht willkürlich als vergangen oder als jetzig aufgefasst werden, sondern sie unterliegen einer festen Zeitordnung: Sie sind von vornherein zeitlich bestimmt. Diese Besinnungen drängen Husserl dazu, eine wesentliche Unterscheidung zwischen der Konstitution des Zeitobjektes und der des Bewusstseinflusses zu treffen. In einer schwer datierbaren Schrift, die auf jeden Fall zwischen dem 15. Oktober 1908 und dem Sommersemester 1909 verfasst worden ist, kommt Husserl zu dem bahnbrechenden Ergebnis, dass das Jetztbewusstsein nicht in derselben Zeit wie das Zeitobjekt vorkommt bzw. nicht ein Jetzt sein kann: „Liegt eine Absurdität darin, dass der Zeitfluss wie eine objektive Bewegung angesehen wird? Ja! Andererseits ist doch Erinnerung etwas, das selbst sein Jetzt hat, und dasselbe Jetzt etwa wie ein Ton. Nein. Da steckt der Grundfehler. Der Fluss der Bewusstseinsmodi ist kein Vorgang, das Jetzt-Bewusstsein ist nicht selbst Jetzt. Das mit dem Jetzt-Bewusstsein ,zusammen’ Seiende der Retention ist nicht ,jetzt’, ist nicht gleichzeitig mit dem Jetzt, was vielmehr keinen Sinn gibt.“ (Hua X, 333)
Von daher besteht keine Simultanität mehr zwischen der konstituierenden und der konstituierten Stufe. Die Kritik an dem Schema macht die bereits erwähnte Einteilung des Zeitfeldes in drei verschiedene Ebenen verständlich. Das Zeitobjekt entsteht durch die objektivierende Auffassung. Aus der oben durchgeführten Analyse ist ersichtlich geworden, dass die zeitlich begrenzten intentionalen Akte von dem absoluten zeitkonstituierenden Fluss zu unterscheiden sind. Demnach wird das Zeitfeld folgendermaßen eingeteilt:
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1. Zeitobjekt, 2. Zeitwahrnehmung, 3. absolut zeitkonstituierender Fluss.103 1.2. Die mehrdeutige Bestimmung des absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseins Die Einwände gegenüber dem Schema „Auffassung–Auffassungsinhalt“ haben uns zur Bestimmung des absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseinsflusses geführt. Das Problem des absoluten Bewusstseins steht im Zusammenhang mit der Frage nach der Art und Weise, wie das Zeitbewusstsein als solches aufzufassen ist. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff eines absoluten Bewusstseins in den Husserl’schen Texten keine eindeutige Bestimmung findet. In der Schrift The emergence of the absolute consciousness in Husserl’s early writings hat John Brough zu Recht den Unterschied zwischen der im Text Nr. 39 gelieferten Definition des absoluten Bewusstseins und der reiferen Position, welche die doppelte Intentionalität der Retention impliziert, hervorgehoben. Darüber hinaus hat Rudolf Bernet in seiner Einleitung in die Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins sowohl gezeigt, dass eine erste tastende Formulierung des absoluten Bewusstseins in der Vorlesung vom WS 1906/07 zu finden ist, als auch, dass sie im engen Zusammenhang mit der transzendentalen Reduktion steht, welche die konstitutive Korrelationsbetrachtung ermöglicht. In § 44 der Vorlesung vom WS 1906/07 wird das absolute Bewusstsein nicht mehr als eine Wahrnehmung, sondern als „Erlebnis“ der Komponente des Wahrnehmungsbewusstseins dargestellt (vgl. Kortooms, 2002, 79–91). Ich möchte nun zu der oben zitierten Bestimmung des absoluten Bewusstseins übergehen, die in Text Nr. 39 aus dem Jahr 1909 ihren Ausdruck findet. Hierbei wird zuerst im Hinblick auf einen in reeller, immanenter Wahrnehmung gegebenen Ton die Beziehung zwischen der Abschattungskontinuität der Phasen und der Identität des Gegenstandes untersucht. Ein immanentes Objekt wie ein Ton fängt an und dauert. Der Toninhalt grenzt sich von dem identischen Ton ab, indem er von 103
Bezüglich der Einteilung in drei verschiedene Ebenen der Zeitanalyse Husserls verweise ich auf den Beitrag Husserl’s Phenomenology of Time-Consciousness von J. Brough (1989, insbes. pp. 249–253).
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Phase zu Phase ein anderer wird. Gleichzeitig ist zu betonen, dass durch alle abwechselnden Phasen die Identität des Gegenstandes bzw. des Tones hindurchgeht, „der als dieses Identische nur denkbar ist als das sich durch diese Kontinuität hindurch Erstreckende, in ihr Dauernde, ein Selbiges, das ruht und wieder sich verändert.“ (Hua X, 278) Obwohl die Abschattungen immer wechseln, haben wir das klare Bewusstsein, dass vor unseren Augen der identische Ton steht. In diesem Kontext hebt Husserl die Mehrdeutigkeit des Begriffs „Immanenz“ hervor. Zuerst steht die Unterscheidung „Immanenz–Transzendenz“ im Zusammenhang mit der transzendentalphänomenologischen Reduktion: Während der Ton in der natürlichen Einstellung notwendigerweise inadäquat gegeben ist und auf die räumliche Wirklichkeit verweist, kommt er als Empfindungs-Ton innerhalb der transzendentalen Sphäre zur absoluten Gegebenheit (Hua X, 271 f.). Bisher ist der Ton insofern als immanent zu betrachten, als er in reeller Wahrnehmung enthalten ist. Diese These kann jedoch zu Missverständnissen führen, weil das Enthaltensein des immanenten Objekts den Eindruck erweckt, dass das Wahrnehmen ein „unterschiedloses Haben“ des Inhalts wäre (Hua X, 279). Wenn aber eine reflexive Wahrnehmung derselben Zeitwahrnehmung — derjenigen, die das immanente Objekt erfasst hat — zustande kommt, werden wir des Folgenden inne: In jedem Jetzt der inneren Wahrnehmung birgt sich ein retentionales Bewusstsein vom Soeben-Gewesen. Das immanente Objekt kann sich nur deshalb als Einheit konstituieren, weil das Wahrnehmungsbewusstsein nicht nur den Punkt aktueller Empfindung, sondern auch „die Kontinuität der abklingenden Phasen der Empfindungen der früheren Jetzt mit umspannte.“ (Hua X, 280) Husserl versucht in diesem Sinne die höchst komplexen Beziehungen zwischen dem, was inhaltlich im engsten Sinne (die sich immer verändernde Phase) erscheint, und dem, was als Einheit, als „phänomenologisches Ding“ aufgefasst wird, näher zu bestimmen. Die Einheit des Gegenstandes beruht auf der Leistung der Zeitwahrnehmung, welche nicht nur die jetzige inhaltliche Phase des Tones wahrnimmt, sondern sich auch der vorangegangenen bewusst ist. Das Abschattungskontinuum darf nicht mit dem Kontinuum von Empfindungspunkten verwechselt werden. Die vergangenen Empfindungen fallen nicht innerhalb des impressionalen Bewusstseins. Nichtsdestoweniger sind die Abschattungsreihen der vergangenen Phasen
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als einheitliche Kontinuität gegenwärtig: Die Kontinuität der Abschattungsreihe „ist in jedem Moment der Wahrnehmung im echtesten Sinne reell immanent.“ (Hua X, 281) Ohne das retentionale Bewusstsein der Abschattungsreihe könnte sich der immanente Gegenstand als solcher nicht konstituieren. Wenn wir von der Abschattungskontinuität absehen und ausschließlich auf die Phasen des Tones von Jetztpunkt zu Jetztpunkt achten, werden wir „nirgends den Ton finden, das phänomenologische Ding, ja im eigentlichen Sinn nicht einmal die entsprechenden Jetztphasen des Tones.“ (ebd.) Die Dingkonstitution beruht auf dem eigentümlichen Vermögen des Bewusstseins, das darin besteht, dass es über die aktuell gegebene Phase hinausgehen kann: Zum einen wird die Dingwahrnehmung nur unter der Bedingung zustande kommen, dass ein retentionales Bewusstsein des SoebenGewesen vorhanden ist. Dadurch zeigt sich eine ursprüngliche Asymmetrie, eine Nicht-Koinzidenz zwischen der impressional gegenwärtigen Erscheinung und dem Bewusstsein, dass das aktuell Gegebene ständig durch Protention und Retention „debordiert“. Die Wahrnehmung des Tones löst sich demnach nicht in eine fließende Folge der Jetztphasen auf. Das lineare Zeitverständnis wird dadurch radikal in Frage gestellt. Zum anderen genügt die retentionale Funktion nicht, dem Ton als Einheit gerecht zu werden: Selbst wenn die retentionalen Modifikationen radikal gedacht werden, und man davon ausgeht, dass jede neue Retention das Kontinuum der vorherigen Phasen in sich birgt und somit als Kontinuum der Kontinua zu betrachten ist, kann ein solcher Fluss keine Wahrnehmung des dauernden Tones gewährleisten. Die Wahrnehmung ist nur dann möglich, wenn in dieser Abschattungskontinuität der identische Gegenstand durch eine Auffassung erfasst wird. Das Wahrnehmungsbewusstsein umspannt intentional die Kontinuität der früheren Phase, indem es auf die Identität des immanenten Gegenstandes gerichtet ist (Hua X, 281). Hierbei greift Husserl wieder auf das Problem verschiedener Formen der Immanenz zurück. In diesem Kontext tritt zum ersten Mal im Husserliana-Band X die Formulierung „absolutes Bewusstsein“ auf. Ich habe vorher zwei verschiedene Sinne der Immanenz hervorgehoben, die im Zusammenhang mit der natürlichen und transzendentalen Einstellung
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stehen. Darüber hinaus wird jetzt eine noch tiefere Bedeutung der Immanenz zum Vorschein gebracht. Wenn man den transzendental reduzierten Ton als immanent dauerndes Objekt mit dem fließenden Prozess der Auffassungen der Abschattungen — Urimpressionen, Retentionen und Protentionen — vergleicht, dann kann er nicht mehr als immanent betrachtet werden. Immanenz im letzteren Sinne bedeutet Sein des absoluten Bewusstseins: „Und wir sehen zugleich, dass diese Immanenz des identischen Zeitobjekts Ton wohl zu unterscheiden ist von der Immanenz der Ton-Abschattungen und der Auffassungen dieser Abschattungen, die das Gegebenheitsbewusstsein des Tones ausmachen. Was als Einheit gegeben, und, wie wir hier voraussetzen, adäquat gegeben ist als individuelles und damit zeitliches Sein, das ist im letzten absoluten Sinn nicht reell immanent gegeben, nämlich nicht gegeben als Bestandstück des absoluten Bewusstseins. Immanent kann besagen den Gegensatz zu transzendent, dann ist das Zeitding Ton immanent; es kann aber auch besagen das Seiende im Sinn des absoluten Bewusstseins, dann ist der Ton nicht immanent.“ (Hua X, 283 f.)
Das einheitliche Zeitobjekt verweist auf einen absoluten Bewusstseinsfluss, der sich im Sinne des Wahrnehmungsaktes definiert: „Ist dieser Bewusstseinsfluss, so ist das einheitliche Zeitobjekt da, und steht es da, so muss ein absoluter Bewusstseinsfluss dieses Gehalts sein, in dem es einheitliche Gegebenheit ist oder aus dem es als Einheit zu geben ist. Das esse des immanenten Ton-Dinges geht in gewissem Sinne auf in seinem percipi.“104 (Hua X, 284)
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es aus dieser Perspektive unmöglich scheint, dem Problem des unendlichen Regresses zu entgehen. Wie schon angedeutet, hat John Brough diese Art des absoluten Bewusstseins als einen Wahrnehmungsakt von der späteren Bestimmung differenziert105 , die die doppelte Intentionalität der Retention 104
Die Identifizierung zwischen dem absoluten Bewusstsein und der Wahrnehmung kommt deutlich in der folgenden Textstelle vor: „Das Objekt selbst ist, was es ist, nur als intentionales der adäquaten Wahrnehmung, bzw. als ein gewisser Fluss absoluten Bewusstseins, der solche adäquate Wahrnehmung ermöglicht.“ (Hua X, 284) 105 „Nonetheless, the conception of the absolute time-constituting consciousness which here emerges probably does not coincide exactly with the sense of the ultimate dimension discussed in later texts. The sketch, we noted, is concerned with ,immanent’ or ,adequate perception,’ a mode of consciousness which seems closer to objectivating reflection (if not identical to it) than to the experiencing (Erleben) of immanent
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hervortreten lässt und im Zentrum der von Derrida und Bernet gelieferten Auslegung steht (vgl. S. 170 ff.). Mit dieser neuen Konfiguration des zeitkonstituierenden Bewusstseinsflusses entfällt das Problem des unendlichen Regresses. Die Auflösung dieses paradoxen Problems ist deshalb möglich, weil ein identischer Bewusstseinsfluss sowohl die immanente Einheit des Objekts als auch sich selbst — als Einheit des Bewusstseinslebens — konstituiert. Jeder Verweis auf ein nachträgliches, reflexiv gerichtetes Bewusstsein erweist sich als überflüssig. Der entscheidende Text bezüglich dieser neuen Bestimmung des absoluten Bewusstseins ist der in Nr. 54. In diesem Text hebt Husserl einen fundamentalen Charakter der Retention hervor: Jede Retention ist durch eine doppelte Intentionalität charakterisiert. Es ist möglich, die Aufmerksamkeit sowohl auf die Konstitution des immanenten Zeitobjekts bzw. auf das Retinierte, als auch auf eine Strecke des retentionalen Flusses zu richten, in dem sich das Retinierte konstituiert. Husserl hebt somit ausdrücklich den inneren Zusammenhang zwischen den Retentionen hervor, welche den absoluten Fluss des Bewusstseins konstituieren. Die Intentionalität, die auf den immanenten Gegenstand gerichtet ist, wird als Querintentionalität bezeichnet. Der intentionale Blick auf den retentionalen Fluss des abgelaufenen Bewusstseins wird als Längsintentionalität definiert. Retention ist nicht nur das Behalten der soeben gewesenen Phase des Gegenstandes, sondern auch Retention der Retention. Die Retention umspannt dementsprechend nicht nur den intentionalen Bezug auf den Ton, sondern verhält sich auch zu den vorangegangenen Urimpressionen und zugleich zu den retentionalen Modifikationen, welche sich notwendigerweise an die soeben gewesene Urimpression anschließen. Wenn eine neue Urempfindung auftritt, verschiebt sich der ganze Prozess noch weiter. Husserl beschreibt diesen letztkonstituierenden Prozess folgendermaßen: „Im absoluten Übergehen, fließend, wandelt sich die erste Urempfindung in Retention von ihr, diese Retention in Retention von dieser Retention usw. Zugleich aber mit der ersten Retention ist ein neues ,Jetzt’, eine neue Urempfindung da, und mit jener kontinuierlich-momentan verbunden, so dass die zweite Phase des Flusses Urempfindung des neuen Jetzt und Retention des früheren ist, die dritte Phase abermals neue objects, which is a marginal and a not objectivating mode of consciousness.“ (Brough, 1972, 309)
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Urempfindung mit Retention der zweiten Urempfindung und Retention von der Retention der ersten usw.“ (Hua X, 81)
Durch die Längsintentionalität kommt derselbe konstituierende Fluss zur Selbsterscheinung, ohne auf einen weiteren Bewusstseinsfluss verweisen zu müssen: Er konstituiert sich selbst als Phänomen (Hua X, 381). Es gilt hervorzuheben, dass die Beziehung zu der vorangegangenen Retention ihrerseits jedoch auch ein Verhältnis zum Objekt des früheren Bewusstseins impliziert — so wie eine Erinnerung an eine Erinnerung von A nicht nur die Erinnerung, sondern auch das A als Erinnertes der Erinnerung bewusst macht (Hua X, 380). Der letztere Satz zeigt am deutlichsten, wie die Längs- und Querintentionalität letztlich untrennbar sind. Das Bewusstsein von einer abgelaufenen Phase ist nur dank der Funktion der Retentionen möglich, selbst wenn sie nicht explizit erfasst werden. Andererseits impliziert der Blick auf die vergangene Retention, wie gesagt, eine Beziehung zu deren Gegenstand. Die zwei Intentionalitäten sind demnach aus Wesensgründen miteinander verflochten und gehören zu einem einzigen Bewusstseinsfluss (Hua X, 83). Diese Verflechtung zwischen den zwei Intentionalitäten bedeutet jedoch keineswegs — zeitlich betrachtet — eine vollständige Deckung, eine Gleichzeitigkeit. Es sei daran erinnert, dass Husserl bei der Kritik an der schematischen Interpretation des Zeitbewusstseins zum Ergebnis gekommen ist, dass der konstituierende Fluss nicht gleichzeitig mit dem Konstituierten stattfindet: Das Jetzt-Bewusstsein ist nicht selbst jetzt. Um diesen Unterschied zwischen konstituierender und konstituierter Ebene zu betonen, wird nicht mehr — wie im Text Nr. 50 — auf die Unzeitlichkeit des Flusses hingewiesen. Das Adjektiv „unzeitlich“ konnte einen entscheidenden Aspekt des Zeitbewusstseins verdecken: In der Tat unterliegt dasselbe durch die Längs- und Querintentionalität bestimmte absolute Zeitbewusstsein einem beständigen Wandel. Die Urimpression wandelt sich stetig in Retention, und — wie gezeigt — mit jedem Eintritt einer neuen Urimpression verschiebt sich der ganze konstituierende Prozess. Um diesen beiden gegensätzlichen Aufgaben — einerseits der verschiedenartigen Zeitlichkeit zwischen Konstituierendem und Konstituiertem und andererseits dem Wandel des zeitkonstituierenden Bewusstseins — gerecht zu werden, wird auf Präfixe (z. B. vorzeitlich/präzeitlich) oder Ausdrücke wie „quasi“ (z. B. QuasiZeitlichkeit) verwiesen.
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Bisher wurde die Unterscheidung zwischen dem Zeitbewusstsein als sich in der Zeit abspielenden Wahrnehmung und als letztkonstituierendem Fluss thematisiert. Im Text Nr. 54 werden aber auch die grundwesentlichen Differenzen zwischen dem Zeitobjekt und dem letztkonstituierenden Fluss geschildert. Der absolute zeitkonstituierende Fluss grenzt sich von der Gegebenheitsweise eines Zeitobjektes deutlich ab: Jedes individuelle Objekt ist ein Dauerndes und zwar ist dies kontinuierlich in der Zeit. Das Zeitobjekt als Dauerndes kann seine Erscheinungsweise behalten oder ändern: Ein Ton wird z. B. plötzlich lauter. Diese Veränderungen können mit unterschiedlicher Geschwindigkeit auftreten. Sie können plötzlich erscheinen und dann sofort verschwinden oder aber länger andauern. Der zeitkonstituierende Fluss unterscheidet sich strukturell deshalb vom Zeitobjekt, weil sein Ablauf durch eine feste Form bestimmt ist: „Umgekehrt finden wir prinzipiell notwendig den Fluss stetiger ,Veränderung’, aber diese Veränderung hat das Absurde, dass sie genauso so läuft, wie sie läuft, und weder ,schneller’ noch ,langsamer’ laufen kann.“ (Hua X, 370) Die Urwandlung von Jetzt in Nicht-Mehr findet immer mit „der identischen Geschwindigkeit“ statt. Ein noch tieferer Unterschied zwischen dem Zeitobjekt und dem zeitkonstituierenden Fluss besteht darin, dass sich im Bewusstseinsfluss kein Objekt eigentlich konstituiert: „Aber weiter: Wo ist das Objekt, dass in diesem Fluss sich verändert? In jedem Vorgang geht doch a priori etwas vor? Hier geht aber nichts vor. Die Veränderung ist keine Veränderung, und darum ist auch von etwas, das da dauert, sinnvoll keine Rede und ist es unsinnig, hier etwas finden zu wollen, was in einer Dauer einmal sich nicht verändert.“ (Hua X, 370)
In diesem Kontext zeigt sich die Schwierigkeit, welche das Sprechen vom Letztkonstituierenden betrifft, in ihrem ganzen Umfang. Auch wenn man sich der grundwesentlichen Differenzen zwischen zeitkonstituierendem Fluss und konstituiertem Zeitobjekt bewusst ist, bleibt es unvermeidlich, für beide Konstitutionsebenen dieselbe Sprache zu verwenden, die sich nach dem Konstituierten richtet.106 106
„Dieser Fluss ist etwas, das wir nach dem Konstituierten so nennen, aber es ist nichts zeitlich ,Objektives’. Es ist die absolute Subjektivität und hat die absoluten Eigenschaften eines im Bilde als ,Fluss’ zu Bezeichnenden, eines Aktualitätspunktes,
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Text Nr. 54 verdient nicht nur wegen der These von der doppelten retentionalen Intentionalität besondere Aufmerksamkeit, sondern auch weil in ihm ein wichtiger Aspekt hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Urimpression und Retention ans Licht kommt: Ausschließlich durch den retentionalen Prozess können wir die Urimpression sehen. Was sich in der Urimpression abspielt, kann sich als solches nur in den Retentionen zeigen. Die Zeitverschiebung, die den Retentionen innewohnt, wird zur Bedingung für die Erscheinung dessen, was sich in der Urimpression zeigt: Jede Phase des Strecken-Zugleich bzw. der retentionalen Modifikationen hält das zurück, was vorher in der Urempfindung bewusst war: „In gewisser Weise vergegenwärtigt es aber den früher im Modus des Jetzt bewussten Zeitpunkt dadurch, dass es die Urempfindung vorstellig macht.“ (Hua X, 376) In dieselbe Richtung geht die folgende, aus der Beilage IX stammende Behauptung: „Zum Objekt werden kann die Anfangsphase nur nach ihrem Ablauf auf dem angegebenen Wege, durch Retention und Reflexion (bzw. Reproduktion).“ (Hua X, 119) Eine solche Beschreibung stößt jedoch auf eine große Schwierigkeit bezüglich des Bewusstseinscharakters der Urimpression: „Aber wäre sie nur durch die Retention bewusst, so bliebe es unverständlich, was ihr die Auszeichnung als ,Jetzt’ verleiht. Sie könnte allenfalls negativ unterschieden werden von ihren Modifikationen als diejenige Phase, die keine voranliegende mehr retentional bewusst macht; aber sie ist ja bewusstseinsmäßig durchaus positiv charakterisiert. Es ist eben ein Unding, von einem ,unbewussten’ Inhalt zu sprechen, der erst nachträglich bewusst würde.“ (Hua X, 119)
Nicht nur versteht man — formal betrachtet — nicht, wieso etwas Unbewusstes durch eine nachträgliche Funktion (die Retention) zum Bewusstsein bzw. zu einer Bewusstseinsleistung werden kann; sondern das Rätsel wird noch verzwickter, wenn man sich hierbei auf die zeitliche Dimension konzentriert: Konstituiert sich das Gegenwartsbewusstsein in den retentionalen Modifikationen und hat man nur im Nachhinein das Bewusstsein, dass etwas als jetzt erscheint, dann kommt ein zeitlicher Kurzschluss zustande: Wir würden uns dessen bewusst Urquellpunktes ,Jetzt’ etc. Im Aktualitätserlebnis haben wir den Urquellpunkt und eine Kontinuität von Nachhallmomenten. Für all das haben wir keinen Namen.“ (Hua X, 371)
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werden, dass etwas gegenwärtig ist, wenn das eigentlich lebendige Aktuelle nicht mehr da ist bzw. schon vergangen ist. Das Gegenwartsbewusstsein würde seinen Bewusstseinscharakter von einer nachträglichen intentionalen Funktion (dem Vergangenheitsbewusstsein) erhalten, wenn seine intentionale Funktion offensichtlich nicht mehr zu erfüllen ist. Um dieses Paradox zu vermeiden, kommt Husserl zu dem Ergebnis, dass ein nicht-gegenständliches Bewusstsein fungiert: „Bewusstseins ist notwendig Bewusstsein in jeder seiner Phasen. Wie die retentionale Phase die voran liegende bewusst hat, ohne sie zum Gegenstand zu machen, so ist auch schon das Urdatum bewusst — und zwar in der eigentümlichen Form des ,jetzt’ — ohne gegenständlich zu sein. Eben dieses Urbewusstsein ist es, das in die retentionale Modifikation übergeht — die dann Retention von ihm selbst und dem in ihm originär bewussten Datum ist, da beide untrennbar eins sind —: wäre es nicht vorhanden, so wäre auch keine Retention denkbar; Retention eines unbewussten Inhalts ist unmöglich.“ (Hua X, 119)
Was ich in der oben erwähnten Textstelle aus der Beilage IX für bemerkenswert halte, ist, dass hierbei das Jetztbewusstsein keineswegs ein Wahrnehmungsakt als zeitlich ausgedehnter Vorgang ist. Dies gilt noch für den Text Nr. 39, obwohl in ihm eine Definition des Zeitbewusstseins vorhanden ist, die den nicht-objektivierten Charakter des „absoluten“ Bewusstseins in den Vordergrund rücken lässt. In diesem Zusammenhang wird das Zeitbewusstsein als objektivierend bezeichnet: „Einheit ist Einheit der Objektivation, und Objektivation ist eben objektivierend, aber nicht objektiviert. Alle nicht objektivierte Objektivation gehört in die Sphäre des absoluten Bewusstseins.“ (Hua X, 286) Hierbei deckt sich die objektivierende Einheit mit dem Wahrnehmungsakt, der (reflexiv) im Nachhinein erfasst werden kann. In Beilage IX zeichnet sich das Jetztbewusstsein dagegen als etwas anonym Fungierendes ab: „Es ist ein (Selbst-) Bewusstsein des aktuellen Bewusstseinsflusses, das aber prinzipiell nicht aufmerkendes, meinendes, setzendes sein kann.“ (Kern, 1989, 106) Husserls Behauptung, dass Bewusstsein notwendig Bewusstsein in jeder seiner Phasen ist, möchte keineswegs ein punktuelles Kontinuum von Präsenzen (Derrida, 1967a, 94, dt. 100), sondern unser lebendiges inneres Bewusstsein beschreiben, das uns in der Zeit „unmittelbar“ orientiert: Ich weiß zum Beispiel, dass mein Schreiben jetzt stattfindet, ohne dass ich dieses Bewusstsein thematisch mache. Die Orientierung meiner Akte in der Zeit ist mir
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als „gegenwärtig“ bewusst, ohne dass ich einen zusätzlichen Akt vollziehen muss. Das Zeitbewusstsein (sowohl die Urimpression als auch die Retention) ist in dieser Hinsicht in einem doppelten Sinne nicht gegenständlich: Es ist weder objektivierend noch objektiviert. Diese Art von Bewusstsein wohnt dem Akt selbst inne. Demnach wird es in der Beilage XII als inneres Zeitbewusstsein bezeichnet (Hua X, 127). Die Beilage IX ist deshalb von größter Bedeutung, weil sie eine neue Bestimmung des absoluten Zeitbewusstseins ans Licht bringt, die sich weder mit einem Wahrnehmungsakt noch mit dem durch die doppelte Intentionalität retentionalen Fluss identifizieren lässt. 1.3. Der Eintritt des Neuen und die retentionale Differenz: Das problematische Verhältnis zwischen Urimpression und Retention Eine wesentliche Aufgabe der Phänomenologie der Zeit besteht darin, die problematischen Verhältnisse zu verdeutlichen, die für die das originäre Zeitfeld konstituierenden Momente charakteristisch sind. Zunächst ist festzustellen, dass im Gegensatz zu den Bernauer Manuskripten im Husserliana-Band X die Protention keiner ausführlichen Analyse unterzogen wurde. Daher werde ich mich ausschließlich auf die Vertiefung der komplexen Beziehung zwischen Urimpression und Retention beschränken. Im Rahmen der obigen Ausführungen zeigt sich eine Spannung hinsichtlich der Bestimmung dieser Beziehungen. Diese Spannung kann folgendermaßen beschrieben werden: Einerseits wird die Urimpression als Urquelle bzw. als Fundament der Retention angesehen, andererseits kann sie nur durch die Retention als solche erscheinen. In der zeitgenössischen Philosophie haben sich dementsprechend zwei Lesarten durchgesetzt, welche diese Spannung in gegensätzliche Richtungen entwickelt haben. Ein zuerst von Derrida gelieferter und dann von Bernet vertiefter Interpretationsvorschlag zielte — vor allem im Hinblick auf die Debatte über die Präsenzmetaphysik — darauf ab, den differentiellen Status der Jetztphase zu betonen: Die Jetztphase ist keine selbständige, punktuelle Selbstpräsenz, sondern konstituiert sich notwendigerweise mithilfe der Retention. Obwohl mit unterschiedlichen Absichten, haben sowohl Lévinas als auch Henry dagegen auf den außerordentlichen Status der Urimpression hingewiesen, welche die Kontinuität des intentionalen Flusses in
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Frage stellt.107 Im Folgenden werde ich auf die beiden Interpretationen eingehen, um ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. 1.3.1. Die Verflechtung zwischen Gegenwärtigung und Nicht-Gegenwärtigung und das Primat des differentiell retentionalen Bewusstseins Die zwiespältige Bestimmung des Husserl’schen Gegenwartsbegriffes in der Deutung von Derrida
In der Schrift La voix et le phénomène ist von Derrida eine Zweideutigkeit der Zeitanalyse Husserls hervorgehoben worden: 1. Zum einen ist das Husserl’sche Zeitverständnis metaphysisch inspiriert; 2. zum anderen geht er durch die Entdeckung der ursprünglich konstituierenden Rolle der Retention über die Präsenzmetaphysik hinaus. Zu 1. In vielen Texten wird als Kern der Zeit die punktuelle Präsenz der aktuellen Jetztphase anerkannt. Obwohl Husserl auf die Zeitkontinuität bzw. auf den ständigen Übergang der Urimpression in die Retention hinweist, geht er prinzipiell von der Identität des Jetzt als Punkt aus, um diese Kontinuität darzustellen. Die Momente des zeitlichen Ablaufes haben lediglich ihren Ursprung im Jetzt (Hua X, 63). In diesem Kontext erweist sich die These einer ursprünglich konstitutiven Funktion der Retention als undenkbar. Hierbei wäre es in der Tat widersinnig zu behaupten, dass das aktuelle Bewusstsein ausschließlich durch die Retention zum Selbstbewusstsein wird: Das aktuelle Bewusstsein ist von vornherein bzw. in allen seinen Phasen Bewusstsein (Hua X, 119). Zu 2. In den Husserl’schen Texten zeigt sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz, welche den notwendigen Rückbezug der Jetztphase bzw. der Präsenz der wahrgenommenen Gegenwart auf die NichtGegenwärtigkeit der Retention deutlich hervortreten lässt. Zeitkonstituierende Akte sind diejenigen, die wesensmäßig Gegenwart und Vergangenheit konstituieren: „Ein Akt, der den Anspruch erhebt, ein 107
Bezüglich dieser beiden unterschiedlichen Lesarten der im Husserliana-Band X durchgeführten Zeitanalyse Husserls verweise ich auf einen bis dato noch unveröffentlichten Aufsatz von L. Tengelyi: „L’impression originaire et le remplissement des protentions chez Husserl“ (in Vorbereitung).
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Zeitobjekt selbst zu geben, muss in sich ,Jetztauffassungen’, ,Vergangenheitsauffassungen’ usw. enthalten, und zwar in der Weise ursprünglich konstituierender.“ (Hua X, 39) Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung (Retention/Protention) gehen somit kontinuierlich ineinander über und „sie terminieren in einer Auffassung, die das Jetzt konstituiert, die aber nur eine ideale Grenze ist. Es ist ein Steigerungskontinuum gegen eine ideale Grenze hin“ (Hua X, 40). Derrida kommentiert die oben zitierte Husserl’sche Textstelle folgendermaßen: „Wenn man einmal diese Kontinuität des Jetzt und des Nicht-Jetzt, der Wahrnehmung und der Nicht-Wahrnehmung in der Ursprungszone, in die sich die ursprüngliche Impression und die Retention teilen, zugesteht, so muss man auch dem anderen in der Selbstidentität des Augenblicks stattgeben: der Nicht-Präsenz und der Inevidenz im Augen-Blick des Augenblicks (dans le clin d’œil de l’instant). Im Augenblick waltet eine Dauer, die das Auge verschließt. Diese Andersheit ist die allen daraus sich möglicherweise ergebenden Dissoziationen voraus liegende Bedingung der Präsenz, der Präsentation und damit der Vorstellung überhaupt.“ (Derrida, 1967a, 114, dt. 120)
Da die gegenwärtige Phase außerdem aus Wesensgründen die Möglichkeit impliziert, immer wieder zur Gegebenheit gebracht bzw. unendlich wiederholt zu werden, wird auch die Vergegenwärtigung der Wiedererinnerung — eine weitere Form der Nicht-Wahrnehmung — miteinbezogen, um die Präsenz der Gegenwart zu gewährleisten. Aus dieser Perspektive ergibt sich nach Derrida, dass die Selbstzeitigung der Zeit nicht von einer ursprünglichen Impression ausgeht, sondern durch eine notwendige Kontamination zwischen Gegenwärtigkeit und Nicht-Gegenwärtigkeit gekennzeichnet ist. Die durch genesis spontanea entstandene Urimpression (Hua X, Beilage I) kann sich ausschließlich durch den Prozess der Selbstdifferenzierung der Zeit konstituieren, eine Selbstdifferenzierung, die aus den retentionalen Modifikationen hervorgeht. Die Zeit wird anhand der paradoxen Denkfigur eines ursprünglichen Supplements beleuchtet: Es besteht eine unumgängliche Unselbständigkeit der Urimpression, die wesensnotwendig die Funktion der Nicht-Gegenwärtigungen in Anspruch nimmt. Derrida beschränkt sich jedoch nicht darauf, die zeitlich verschobene Verflechtung zwischen Gegenwart und Nicht-Gegenwart zu betonen, sondern behauptet das Primat der Differenz in der Gestalt der retentionalen Modifikationen. Hierbei verwendet er den von Lévinas übernommenen Terminus „Spur“, um den unausweichlichen, nachträglich verschobenen Status der Gegenwart zu definieren:
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„Die lebendige Gegenwart entspringt aus einer Nicht-Identität mit sich und aus der Möglichkeit der retentionalen Spur. Sie ist allemal eine Spur. Diese Spur ist von einer Gegenwart her undenkbar, deren Leben sich selbst innerlich wäre. Das Sich der lebendigen Gegenwart ist ursprünglich eine Spur.” (Derrida, 1967a, 95, dt. 142)
Bevor ich auf Bernets Vertiefung dieser Lesart eingehe, möchte ich ein Manko aus Derridas Interpretation hervorheben: Derridas Auslegung geht von einem Gegensatz zwischen einem Gegenwartsbegriff als punktuell vollständig gefüllte Selbstpräsenz und einem Gegenwartsbegriff, der mit der Nicht-Gegenwart untrennbar verflochtenen ist, aus. Dieser aufgezeigte Gegensatz ist aber m. E. illegitim, da einer der Pole dieses Gegensatzes in den Husserl’schen Texten nicht zu finden ist: Nirgendwo in den Husserl’schen Schriften zeigt sich eine Jetztphase, die nicht von einem Zeithof in der Form des Nicht-mehr und des Noch-nicht umgeben, die völlig selbständig bzw. selbstbezüglich wäre. Die in Beilage IX vorhandene Definition der Urimpression lässt auf keinen Fall eine punktuelle, objektivierte Präsenz hervortreten, sondern bringt ein eigentümliches Gegenwartsbewusstsein zum Ausdruck, das keinen gegenständlichen Charakter hat (vgl. S. 168 f.). Ein Akt kann ein Zeitobjekt nur unter der Bedingung konstituieren, dass er Vergangenheitsauffassungen enthält (Hua X, 39). Anders gesagt: Nur der konstituierte, aus dem Jetztbewusstsein und dem retentionalen Bewusstsein gebaute Akt ist adäquate Wahrnehmung des Zeitobjekts (Hua X, 38). Die notwendige Verflechtung zwischen Urimpression und Retention wird nie in Frage gestellt: „Und die Jetztphase ist nur denkbar als Grenze einer Kontinuität von Retentionen, so wie jede retentionale Phase selbst nur denkbar ist als Punkt eines solchen Kontinuums, und zwar für jedes Jetzt des Zeitbewusstseins.“ (Hua X, 33)
In § 16 wird sogar die Möglichkeit einer Selbstpräsenz der Jetztphase, so wie sie die Präsenzmetaphysik versteht, in Betracht gezogen und daraufhin ausdrücklich abgelehnt: „Im idealen Sinne wäre dann Wahrnehmung (Impression) die Bewusstseinsphase, die das reine Jetzt konstituiert, und Erinnerung jede andere Phase der Kontinuität. Aber das ist eben nur eine ideale Grenze, etwas Abstraktes, das nichts für sich sein kann. Zudem bleibt es dabei, dass auch dieses ideale Jetzt nicht etwas toto coelo Verschiedenes ist vom Nicht-Jetzt, sondern kontinuierlich sich damit vermittelt.“ (Hua X, 40)
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Selbst wenn Husserl in anderen Kontexten der Urimpression gegenüber der Retention einen Vorrang einräumt, in dem Sinne, dass die Serie von Retentionen notwendigerweise auf eine vorangehende Urimpression verweist (Hua X, 395), bedeutet dies keineswegs, dass die notwendige Verflechtung zwischen Urimpression und Retention in Frage gestellt wird. Dadurch, dass sich die Retention an die Urimpression notwendigerweise anschließt, und dass die Jetztphase immer ein Grenzpunkt ist, der sich außerhalb des kontinuierlichen Ineinanderübergehens von Urimpression und Retentionen nicht konstituieren kann, verliert die These von einer punktuell gefüllten Gegenwart ihre Grundlage. Hinsichtlich der Beziehung zwischen Urimpression und Retention scheint es mir wichtig, auf den Doppelsinn der Wahrnehmung hinzuweisen. In § 17 der Zeitvorlesungen (1905) werden in der Tat zwei Bedeutungen der „Wahrnehmung“ voneinander unterschieden. Einerseits lässt sich die Wahrnehmung mit dem Akt identifizieren, der das Jetzt originär konstituiert (Hua X, 41). Die Retentionen sowie die Protentionen werden deshalb als Nicht-Wahrnehmungen bezeichnet, weil sie nichts Aktuelles enthalten. Die Retention ist deswegen keine Wahrnehmung, weil ihr Objekt — das Retinierte — nicht etwas Gegenwärtiges, sondern das Soeben-Gewesene ist. Husserl führt jedoch im Anschluss eine andere Definition der Wahrnehmung ein, welche mit der Funktion ursprünglicher Selbstgebung der Phänomene im Zusammenhang steht. In diesem Fall ist die Retention als Wahrnehmung zu betrachten, indem wir dank ihrer Vergangenheit „sehen“: „Nennen wir aber Wahrnehmung den Akt, in dem aller ,Ursprung’ liegt, der originär konstituiert, so ist die primäre Erinnerung Wahrnehmung. Denn nur in der primären Erinnerung sehen wir Vergangenes, nur in ihr konstituiert sich Vergangenheit, und zwar nicht repräsentativ, sondern präsentativ.“ (Hua X, 41)
So wie in der Jetztwahrnehmung das Jetzt zur Anschauung gebracht wird, schaut man in der Retention das Soeben-Gewesene direkt an. Außerdem behält die Retention die vorangegangenen Urimpressionen mit ihren jeweiligen retentionalen Modifikationen nicht nur in der Form der Evidenz im Griff, sondern auch in der Form der Apodiktizität (Hua X, 49).
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Bernets Vertiefung des differentiellen Charakters der Gegenwart
In vielen Beiträgen hat sich Bernet mit der Frage nach dem metaphysischen Charakter des Husserl’schen Zeitbegriffs auseinandergesetzt. Zunächst ist es jedoch erforderlich, die Eigentümlichkeiten der Metaphysik bzw. Präsenzmetaphysik zu erläutern. Bernet benennt drei Charaktere als Kennzeichen der von Heidegger eröffneten und von Derrida weiterentwickelten Problematik der Präsenzmetaphysik: 1. Es zeigt sich ein unbestreitbares Primat der Präsenz, welches im Licht der Punktualität der Jetztphase interpretiert wird. 2. Die Gegebenheit nimmt die Gestalt des Vorhandenen an. 3. Die Analogie zwischen Zeit und Raum dient als Leitfaden der Zeitanalyse: Die Zeit ist ein Ordnungssystem, in dem die Vorkommnisse eintreten. (Bernet, 1994, 217) Husserls Zeitanalyse fällt nach Bernet in vielerlei Hinsicht in die Präsenzmetaphysik, insbesondere wenn sie an das Schema „Auffassung– Auffassungsinhalt“ gebunden bleibt. Das Schema führt nicht nur zu widersprüchlichen Begriffen wie dem des Phantasmas, das, obwohl aktuell mir vor Augen stehend, die Vergangenheit zur Gegebenheit bringen soll, sondern ausgehend von diesem Schema erweist sich auch die Selbstreflexion des absoluten Bewusstseins auf die Akte bzw. auf Zeitwahrnehmungen als völlig unverständlich. Das absolute Bewusstsein wird den Zeitwahrnehmungen als dauernde Vorgänge in Analogie zum Bewusstsein des räumlichen Gegenstandes inne (vgl. S. 156), als ob sich der reflexive Blick auf einen repräsentativen Inhalt richten würde. In diesem Kontext fällt es schwer zu begreifen, welche Funktion im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem absoluten Bewusstsein und den Akten die Kategorie eines vermittelnden Inhaltes erfüllen kann: „La saisie de la durée d’un acte par la conscience absolue se fait sans intermédiaires.“ (Bernet, 1994, 229) Bei Husserls Analyse der Zeitwahrnehmung tritt eine Vergegenständlichung des Aktes ein, welche, wie schon gezeigt, zum Problem des unendlichen Regresses führt: „Die Wahrnehmung wird also selbst zu einem (immanent-) zeitlichen Gegenstand, dessen zeitliche Bestimmtheit durch eine neue, tiefer liegende Wahrnehmung erfasst wird.“ (Bernet, 1983, 31) Die Husserl’sche Zeitanalyse geht jedoch durch die These der doppelten Intentionalität der Retention über die Präsenzmetaphysik hinaus,
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wobei sowohl die vorangegangenen Phasen des Zeitobjekts als auch die abgelaufenen Strecken des Bewusstseinsflusses im Griff behalten werden. Der Bewusstseinsfluss ist kein formaler Behälter, der Urimpression und Retention enthält, sondern bildet sich in der unauflöslichen Verflechtung zwischen Urimpressionen und retentionalen Modifikationen heraus, eine retentionale Modifikation, „welche in sich das Erbe des ganzen abgelaufenen Prozesses trägt“ (Hua X, 327). Während die Wahrnehmung die Gestalt einer unmittelbaren Beziehung zwischen Akt und Objekt annimmt, ist das absolute Bewusstsein in der Form der doppelten Intentionalität der Retention keineswegs wahrnehmend im Sinne eines reflexiven, objektivierenden Aktes.108 Dadurch kann Husserl dem Problem des unendlichen Regresses entgehen: „Dans l’intentionnalité longitudinale, la conscience absolue ne s’appréhende donc pas comme un objet, mais dans l’intentionnalité transversale elle appréhende cependant des objets. Puisque les deux fonctions sont dites ‘inséparables’, la conscience absolue se trouve à la source de la différence entre sujet et objet.“ (Bernet, 1994, 235)
Die Sachangemessenheit der Längsintentionalität besteht vor allem darin, dass in ihr der abgelaufene Fluss des absoluten Bewusstseins nicht als gegenständliche Dauer erscheint (Bernet, 1983, 53). Der Fluss ist folglich durch eine wesentliche Nachträglichkeit gekennzeichnet: Er kann nur als gewesener erscheinen. Gleichzeitig ist diese Erscheinung — oder besser gesagt: Selbsterscheinung des Flusses — jedoch ein differentieller Prozess, da der Eintritt einer neuen Urimpression den ganzen Fluss neu rekapituliert. „Die Kontinuität des retentionalen Bewusstseins ist ein differentiell iterativer Prozess, in dem aus der stetig modifizierten retentionalen Abrückung des absoluten Bewusstseins von sich selbst im nachhinein sowohl das ,subjektive’ Selbstbewusstsein als auch das ,objektive’ Zeitbewusstsein entstehen.“ (Bernet, 1984, LIV)
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„Si en revanche ‘perception’ veut dire saisie intuitive d’un objet en chair et en os, il faut dire qu’à travers l’intentionnalité transversale la conscience absolue perçoit la temporalité immanente. [ ] La durée du temps immanent est perçue à travers la médiation des modifications de modifications rétentionnelles et non à travers un représentant intermédiaire.“ (Bernet, 1994, 234)
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Die oben genannten Charaktere des retentionalen Bewusstseins — und zwar Ungegenständlichkeit, Nachträglichkeit, differentielle Iterativität — können nach Bernet als Grundlage für eine nicht-metaphysische Beschreibung des Flusses dienen, die nicht mehr an der Wahrnehmung orientiert ist. Das Zeitbewusstsein als differentieller Prozess kann deshalb weder sich selbst gegenüber transparent sein, noch über sich selbst eine Herrschaft ausüben, da es notwendigerweise auf weitere retentionale Modifikationen und so in infinitum verweist. Seine Konstitutionsweise führt zu einer uneinholbaren Abwesenheit: „La présence de la conscience à elle-même se fait donc sur fond d’absence, la conscience ne se donne qu’en tant qu’elle a été donnée comme [ayant été donnée comme]. (Bernet, 1994, 235) Bevor ich durch eine Auseinandersetzung mit Lévinas und Henry die Urimpression weiter vertiefe, möchte ich eine letzte Bemerkung über die oben dargestellte differentielle Interpretation machen. Man könnte den Zweifel haben, dass eine solche Interpretation vom zeitkonstituierenden Bewusstseinsfluss einen Ebenenwechsel zur Folge hat, der nicht mehr mit dem ursprünglichen Anliegen Husserl’scher Zeitanalyse in Einklang zu bringen ist. Die von Derrida und Bernet gelieferte Auslegung betont radikale Differenzen im Sinne von einem ständigen Übergang von Gegenwart in Nicht/Gegenwart, als ob die Zeit von Brüchen durchzogen wäre. Dagegen könnte man behaupten, dass das Phänomen der Retention in der Vorlesung aus dem Jahr 1905 vor allem darauf abzielt, die Identität in der Differenz bzw. die Kontinuität der Zeit hervorzuheben, eine Kontinuität, die im Adverb „noch“ ihren sprachlichen Ausdruck findet. In der Schrift Zeit und Erzählung hat Ricœur in diesem Sinne das Verhältnis zwischen Urimpression und Retention im Lichte der Modifikation ausgelegt: Ricœur kommt zu dem Ergebnis, dass bei Husserls Zeitanalyse der Differenz die Modifikation vorausgeht. Die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Urimpression und Retention steht im Zusammenhang mit der Konstitution eines identischen Gegenstandes: Obwohl sich jede Phase in ihrer Gegebenheitsweise ändert — z. B. jede aktuelle zur vergangenen wird —, steht das identische Objekt vor uns. Demnach fällt die Retention von vornherein innerhalb eines Identitätshorizontes. Etwas ändert sich, ohne etwas anderes zu werden: Die Retention ist
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dementsprechend eine positive Modifikation der Urimpression und nicht ihre Differenz. 1.3.2. Die Urimpression als Urschöpfung
Wenn man die Urimpression ausschließlich im Zusammenhang mit der Retention im Sinne des Querschnittes auslegt, übergeht man nicht nur eine eigentümliche Gestalt des inneren Zeitbewusstseins und zwar seinen nicht-gegenständlichen Charakter, der, wie schon gezeigt, in Beilage IX formuliert wird (vgl. S. 168 f.), sondern es bleibt auch der Weg verschlossen, die urschöpferische Dimension der Urimpression zu begreifen. Dies ist eine Dimension, die von Lévinas und Henry mehrmals betont worden ist (vgl. dazu Tengelyi, 1994, 63 ff.). Der Doppelsinn der Empfindung in der Lesart von Lévinas
In der Schrift Intentionalité et Sensation unterscheidet Lévinas zwei Bedeutungen der Empfindung streng voneinander: Zum einen hängt die Empfindung mit der doppelten Intentionalität der Retention bzw. mit der Quer- und Längsintentionalität des absoluten Bewusstseins eng zusammen. In diesem Fall deckt sich das Zeitbewusstsein mit dem Identifikationsprozess, der von retentionalen und protentionalen Modifikationen geleitet ist. Hierbei ist die Zeit eine Form, in die sich die Empfindung als Materie einfügt. Die Empfindung hat aber nach Lévinas auch eine tiefere Bedeutung. In diesem Fall ist sie Urimpression, die stricto sensu Ursprung der Zeitkonstitution, sogar Urschöpfung ist. Hier ist sie keine undifferenzierte Materie, die für eine Form bestimmt ist, sondern das lebendige Empfinden der Empfindung. Im Gegensatz zur ersten Beschreibung kann die zweite Bedeutung der Empfindung als lebendiges Erleben in ihrer einzigartigen Individualität nicht auf irgendeine Form des Bewusstseins zurückgeführt werden. Darum scheint hier eine radikale These zum Vorschein zu kommen: Dieselbe Intentionalität — die Grundstruktur der transzendentalen Subjektivität — findet ihren Ausgangs- bzw. Quellpunkt in der Urimpression, welche keineswegs Bewusstsein oder Meinen, sondern lebendige Gegenwart ist. Die Urimpression entzieht sich jeder Formalisierung, Idealisierung, und sogar der synchronischen Korrelation zwischen Noesis und Noema. Die lebendige Gegenwart ist, nach Lévinas,
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das immer wieder überraschende Auftreten der kleinsten und lebendigen Verschiebung zwischen dem Empfinden und dem Empfundenen — eine Verschiebung, die mit jeder neuen Urimpression eintritt: „Ein betonter Augenblick, lebendig, absolut neu — die Urimpression. Schon entfernt sie sich von dieser Nadelspitze, auf der sie zur absoluten Präsenz gedeiht; und durch diese Entfernung präsentiert sie sich, festgehalten für eine neue punkthafte Präsenz. Diese Präsenz war in der von der ersten Urimpression ausgehenden Protention vorweg empfunden, und dieses Vorwegempfinden umfasste das unmittelbare Bevorstehen des eigenen Absinkens in die unmittelbare Vergangenheit der Retention. Eigentümlicherweise ist es die in der Spitze gesammelte und wie abgetrennt erscheinende Punkthaftigkeit der Gegenwart, die ihr Leben ausmacht; in ihr sind Protention und Retention, welche aus dem Fluss des Erlebten Zeitbewusstsein machen, verankert.“ (Lévinas, 1967, 153, dt. 168)
In Jenseits des Seins liefert Lévinas eine weitere Interpretation des Zeitbewusstseins anhand der Zwiespältigkeit der Urimpression: Die dem Zeitbewusstsein eigene Intentionalität ist ohne Korrelat. Sie ist ein Differenzierungsprozess, der jedoch innerhalb des Identitätshorizontes fällt. Sie verändert sich, indem sie dasselbe bleibt. Der Prozess des Sich-Differierens ohne zu differieren findet seinen paradigmatischen Ausdruck in der beweglichen Identität, die durch die Funktion der retentionalen und protentionalen Modifikationen entsteht: „Doch in der Identität differieren, den Moment in Griff behalten, der sich verändert, genau das meint Protention oder Retention. In der Identität differieren, sich modifizieren, ohne sich zu wandeln — das Bewusstsein leuchtet in der Impression auf, soweit diese sich von sich selbst entfernt: um noch auf sich zu warten oder um sich schon wiedereinzuholen.“ (Lévinas, 1974, 41, dt. 83)
Die Nicht-Koinzidenz der Zeit mit sich selbst bzw. das SichDifferieren der Urimpression in Retention und Protention tritt in einen schon vorgezeichneten Identitätshorizont ein, wobei nichts verloren geht. Anders gesagt: Es ist prinzipiell möglich, alle Differenzen (sowohl auf der Seite des Zeitbewusstseins als auch auf der Seite des Zeitobjekts) zu einer Einheit zusammenzuschließen. Dem Zeitbewusstsein bleibt prinzipiell nichts fremd. Die Urimpression ist schon Bewusstsein, indem die zeitlichen Verschiebungen anhand der Intentionalität an etwas Identischem ausgerichtet sind. Oder besser gesagt: Die Urimpression ist hier
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als Bewusstsein anzusehen, indem in ihr und in ihren Modifikationen (Retentionen und Protentionen) das Zeitobjekt als identisch konstituiert wird. Die Zeitkonstitution ist von vornherein vom Paradigma der intentionalen Konstitution einer identischen Einheit geleitet. Nach der zweiten Auslegung des inneren Zeitbewusstseins kommt eine nicht-modifizierte bzw. nicht sich in der identischen Zeit entfaltende Urimpression zum Zuge. Um die Tragweite dieser Bestimmung der Urimpression zu begreifen, ist zu berücksichtigen, dass Lévinas sie als den bemerkenswertesten Punkt der konstitutiven Phänomenologie bezeichnet, auch weil sie imstande ist, „das Erstaunen hervorzurufen“ (Lévinas, 1974, 42, dt. 84). In diesem Fall ist die Urimpression nicht-intentional. Lévinas bezieht sich auf die Textstellen, nach denen die Urimpression als absoluter Anfang, als Urschöpfung betrachtet wird, die durch genesis spontanea entsteht. Streng genommen muss eine nicht-modifizierte Urimpression als absoluter Anfang nicht nur ohne Retentionen sein, die sich erst danach an die Urimpression anschließen können, sondern sie muss auch gleichermaßen den Protentionen vorausgehen. Eine solche Urimpression wird als das Wirkliche bezeichnet und dem Reich des retentional und protentional Möglichen entgegengesetzt: „Das ,Wirkliche’, das dem Möglichen vorausgeht und es überrascht — sollte das nicht exakt die Definition der Gegenwart sein, die nach dieser Beschreibung zwar gleichgültig wäre gegenüber der Protention (,die Erzeugung hat keinen Keim’), aber deswegen nicht weniger ihr Bewusstsein?“ (Lévinas, 1974, 42, dt. 84)
Die Urimpression entzieht sich der dialektischen Negativität des Seins und macht letztlich den Begriff der Schöpfung einsichtig. Die Schöpfung wird im Hinblick auf eine Spontaneität interpretiert, „in der Aktivität und Passivität ganz ineinander übergehen“ (Lévinas, 1974, 43, dt. 85). Aus dieser Perspektive beruht das intentionale objektivierende Bewusstsein paradoxerweise auf dem nicht-objektivierenden Gegenwartsbewusstsein bzw. der Urimpression. Gleichfalls darf nach Lévinas nicht übergangen werden, dass bei Husserl letztlich ein Primat des intentionalen Bewusstseins bestehen bleibt, indem sich die ursprünglich nicht-objektivierende und nicht-objektivierte lebendige Gegenwart in den Retentionen modifiziert und dadurch auf das intentionale Kontinuum zurückgeführt wird (Lévinas, 1974, 42, dt. 85).
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Die Ekstase der Intentionalität und das ursprüngliche Pulsieren in der Interpretation von Henry
Obwohl Henry von einem ganz anderen Ansatz ausgeht (und auch ein anderes Anliegen verfolgt), kommt er im Hinblick auf die Rolle der Urimpression angesichts der Zeitkonstitution zu Ergebnissen, die den oben geschilderten Thesen Lévinas’ sehr nahe stehen. In der Schrift Phénoménologie hylétique et phénoménologie matérielle ist Henrys Leitfrage: Welche ist die letztkonstituierende Dimension der Subjektivität? Ist das intentionale oder das hyletische Moment dasjenige, das als letzte Wirklichkeit der Subjektivität anzusehen ist? Es ist wohlbekannt, dass sich der Bewusstseinsfluss bei Husserl in reelle und nicht reelle Momente teilt. Letztere gehören nicht zum wirklichen Bestand des Erlebnisses. Durch die Synthesis der Abschattungsreihe entsteht das Noema, das die Subjektivität transzendiert. Die Hyle ist in der Husserl’schen Phänomenologie durch einen Doppelsinn gekennzeichnet. Einerseits ist sie eine nicht-intentionale Selbstgebung, die uns ohne Rückbezug auf ein vermittelndes Moment affiziert, andererseits wird sie als Unterlage für die Funktion des intentionalen Aktes betrachtet. Hierbei „wartet“ die undifferenzierte Materie auf die Noesis, um beseelt zu werden. Nach Henry besteht der Grundfehler der Husserl’schen Phänomenologie darin, dass sie die Impression im Zusammenhang mit der Intentionalität so auslegt, als ob sie ein perzeptiver Inhalt wäre. Im Fall des Affizierens ist es jedoch unmöglich, so etwas wie ein Noema ausfindig zu machen: Ein Pathos zeigt sich als solches, und zwar ohne Bezug zu irgendwelcher Intentionalität. Bei Husserl wird dagegen die Materie nicht in der ihr eigentümlichen Funktion verstanden, sondern in die Ekstase der Intentionalität eingeführt. Die „Funktion“ der Materie beschränkt sich fast immer darauf, als Grundlage des Wahrnehmungsaktes zu dienen, um die Welt als intentionales Gebilde erscheinen zu lassen. In der Husserl’schen Phänomenologie zeichnet sich dementsprechend ein deutliches Primat der noetischen Dimension über das Hyletische und dementsprechend ein Vorrang der noetischen Phänomenologie über die hyletische ab. Dadurch wird die ursprüngliche Selbstgebung der Hyle, welche bei jeder Noesis vorausgesetzt ist und sogar den intentionalen
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Akten ihre Erscheinungsweise vorschreibt (Henry, 1990, 77–79), als ein auf der Intentionalität beruhender Inhalt missverstanden. Die Zeitvorlesungen aus dem Jahr 1905 sind deshalb von ausschlaggebender Bedeutung, weil sie der einzige Ort in den Husserl’schen Schriften sind, an dem die urkonstituierende Funktion der Urimpression anerkannt wird. In den Zeitvorlesungen — die Henry als den vielleicht schönsten philosophischen Text des letzten Jahrhunderts bewertet — kommt die „unerhörte“ These zum Ausdruck, wonach das Prinzip der Intentionalität in der Urimpression besteht. Daraus müsste die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die hyletische Untersuchung keineswegs eine sekundäre (abgeleitete) Disziplin, sondern die radikalste Form der Phänomenologie darstellt, da ihr Objekt — die Urimpression — die Phänomenalität der Phänomene selbst konstituiert: Jede Glaubensform, jedes Urteil hat zuerst einen impressionalen Charakter. Selbst ein mathematischer Satz ist zunächst von innen heraus empfunden und nimmt nur im Nachhinein die Gestalt eines Noema an bzw. kristallisiert sich in einer vor- oder dargestellten Wirklichkeit, die nicht mehr lebendig ist. Nicht ein intentionaler Blick, sondern nur das nichtekstatische lebendige Empfinden des Schmerzes lässt mich den Schmerz verstehen. Es ist jedoch nicht zu verschweigen, dass in vielen Texten der Zeitvorlesungen (1905) die Gegebenheitsweise der Hyle nicht radikal gedacht wird: Sie wird dann nicht als ursprüngliche Selbstgebung ausgelegt, sondern im Zusammenhang mit einer Urwahrnehmung verstanden, welche die Urimpression in ein intentionales Jetztbewusstsein verwandelt. Das Jetztbewusstsein wird dann zum Soeben-Gewesen109 : Die innere Verflechtung zwischen Retention und Urimpression bringt die Einheit des Flusses zustande und macht damit zugleich aus der Urimpression ein abstraktes Moment (Henry, 1990, 91). Außerdem ist der Fluss in dieser Hinsicht einem ständigen Wandel unterworfen, der letztlich im Nichts verschwindet: Die Nicht-Beständigkeit ist die letzte Bestimmung des Flusses (Henry, 1990, 100). Der Fluss, der zum Nichts führt, kann nach Henrys Ansicht nicht in sich selbst fundiert sein, sondern verweist auf ein Fundament, das außerhalb liegt: 109
Hierbei scheint es mir, dass Henry die Verschiedenzeitlichkeit zwischen dem letztkonstituierendem Fluss und den Zeitobjekten nicht anerkennt (vgl. S. 166 ff.).
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Im Fluss fungiert unmodifiziert die lebendige Gegenwart — die Urimpression —, die keine Distanz zu sich selbst hat; sie ist eine unendliche Wirklichkeit, die sich selbst empfindet und letztlich das Selbst ausmacht (Henry, 1990, 100): „Parce que rien n’advient jamais à l’être qu’au lieu où l’être s’étreint d’abord lui-même dans le pathos de sa Parousie originelle. Parce que l’Origine est un pathos, parce que celui-ci comme tel est toujours effectif, alors en effet rien n’advient jamais que comme une impression, laquelle pour cette raison ,est toujours là.’“ (Henry, 1990, 49)
Jede neue Urimpression kann nichts anderes als eine Selbstaffektion des Lebens sein, die eine weitere innere Zunahme zur Folge hat.110 Das Leben ist in seiner letzten Dimension Pulsieren, das danach strebt, von einem Innen heraus sich selbst zu verändern bzw. in einem immer größeren Pathos sich selbst zu affizieren: „C’est toute la vie qui est pervertie de fond en comble et son sens perdu quand on n’aperçoit pas que c’est toujours la force du sentiment qui la jette à la rencontre et que ce à la rencontre de quoi elle se jette, c’est toujours elle aussi, c’est l’intensification et l’accroissement jusqu’à l’ivresse de son pouvoir et de son pathos.“ (Henry, 1990, 56)
Aus diesem Grund ist es erforderlich, das retentionale Kontinuum deutlich von dem impressionalen Kontinuum, das als Prinzip für jede Form von Ekstase anzusehen ist, zu unterscheiden. Infolgedessen zeigt sich bei Henry eine Gegenüberstellung zwischen intentionalem Fluss und der urschöpferischen Impression, zwischen Welt und Leben — eine Gegenüberstellung, die sich nach Bernet in die Tradition Sartres einreiht (Bernet, 1994, 316) und die in seinem Buch Incarnation besonders akzentuiert ist (Henry, 2000). Es wurde vorher auf die Gemeinsamkeit zwischen Lévinas’ und Henrys Lesart der Zeitvorlesungen hingewiesen: In beiden Lesarten wird die urquellende Funktion der Gegenwart als „außerordentlich“ betrachtet; dem kontinuierlichen Fluss wird die Urimpression derart gegenübergestellt, als ob sie zueinander in einem Gegensatz stünden, als ob die Urimpression ursprünglich „reine“ Differenz ohne Einheit wäre. Nach beiden Auslegungen findet außerdem der Fluss — und das ist
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„Ce qui demeure est l’accroissement. L’accroissement est le mouvement de la vie qui s’accomplit en elle en raison de ce qu’elle est, de sa subjectivité.“ (Henry, 1990, 55)
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der entscheidende Punkt — in der urschöpferischen Urimpression sein Fundament. Bei den Interpretationen von Lévinas und Henry wird das Fundierungsverhältnis zwischen Urimpression und retentionalem Fluss genau umgekehrt dargestellt als bei Derrida, wonach bezüglich der Beziehung zwischen Gegenwärtigung und Nicht-Gegenwärtigung ein Primat des letzteren anerkannt wird. Anstatt sich darauf zu beschränken, eine Verflechtung zwischen den zwei Momenten anzusehen, interpretiert Derrida das differenzielle retentionale Kontinuum als Fundament der Jetztphase. Bezüglich dieser beiden gegensätzlichen Lesarten (einerseits Derrida, andererseits Lévinas/Henry) möchte ich die Kategorie in Frage stellen, die beiden Interpretationen als Leitfaden dient: das Fundierungsverhältnis. Es ist m. E. weder legitim, der Urimpression einen Vorrang über den kontinuierlichen Fluss einzuräumen, noch ist es berechtigt, das Kontinuum als Fundament der Urimpression anzusehen. Zwischen den zwei Momenten besteht eine Beziehung des Ineinander, die kein Fundierungsverhältnis duldet: Jedes Moment setzt das andere voraus. So wie die aus dem Nichts eintretende Urimpression den Fluss impliziert, um zum Vorschein zu kommen, verweist der Fluss notwendigerweise auf die Urimpression. Die urschöpferische Urimpression und der intentional kontinuierliche Fluss sind untrennbar miteinander verflochten. Die paradoxe und radikale Beschreibung Husserls besteht lediglich darin, dass die außerordentliche Urimpression das intentionale Kontinuum konstituiert, indem sie es immer wieder eröffnet und sich gleichzeitig in dieses einfügt. Um diese paradoxe These zu begreifen, muss man sich m. E. dessen bewusst sein, dass es sich angesichts der urschöpferischen Urimpression weniger um den überraschenden Inhalt handelt, als vielmehr um das Wunder, dass sich in jedem Augenblick eine neue Zeit eröffnet und zwar, dass erstaunlicherweise eine neue Phase auftritt, die sich an die vorangehende anschließt. Das Überraschende besteht hierbei eigentlich darin, dass eine Fortsetzung des Bewusstseinsflusses bzw. unseres Lebens stattfindet. Wenn man jedoch radikal phänomenologisch vorgehen will, darf man sich nicht darauf beschränken, eine solche Verflechtung festzustellen, sondern man muss auch — unter bestimmten Gesichtspunkten — eine ursprüngliche Heterogenität hervorheben: Der Eintritt des Neuen und das intentionale Kontinuum sind gleich ursprüngliche Momente,
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welche einzigartige Aspekte der Zeit hervortreten lassen. Der Versuch, ein Fundierungsverhältnis zwischen ihnen anzusetzen, entspricht dem, was man als systematische Gewaltsamkeit bezeichnen könnte. Innerhalb der Philosophie herrscht in der Tat eine unwiderstehliche, allgegenwärtige Tendenz, heterogene, letztlich unermessliche Dimensionen in einer hierarchischen Ordnung festzusetzen. Dies hat zur Folge, dass die Eigentümlichkeit der Phänomene verloren geht. Eine radikale phänomenologische Analyse zielt dagegen darauf ab, die vielfältigen Sinne der Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, indem auch ihre Beziehungen sowie ihre Brüche sachgerecht beschrieben werden. Demzufolge darf man das Verhältnis zwischen Urimpression und intentionalem Fluss weder in der Form der Gegenüberstellung noch in der Gestalt des Fundaments bestimmen, sondern es ist erforderlich, sowohl ihre Verflechtung als auch (in vielen Hinsichten) ihre Unermesslichkeit hervorzuheben. Man muss sich außerdem davor hüten, die Beziehung der durch die phänomenologische Analyse entdeckten, vielfältigen Sinne des Phänomens nach dem Begriffspaar Eigentlichkeit/Uneigentlichkeit zu interpretieren. Die Urimpression als Urschöpfung ist keineswegs eine eigentlichere, echtere Erfahrung der Gegenwart als der intentionale Fluss. Das Phänomen „Gegenwart“ erscheint niemals als solches, sondern nur in einer Pluralität von heterogenen Sinnen, die jedoch keineswegs als Repräsentanten (Vor- oder Darstellungen) einer Wahrheit zu betrachten sind, die prinzipiell über unser Vermögen hinausgeht und letztendlich unerfahrbar ist: Sie bringen die Sache selbst zum Ausdruck, ohne sie jedoch erschöpfen zu können. 2. Der Überschuss der Zeit bei Husserl Im Folgenden möchte ich mich mit der Husserl’schen These auseinandersetzen, wonach die Zeit durch eine starre und universale Form gekennzeichnet ist. Diese Form definiert sich wesentlich dadurch, dass die Zeitkonstitution mit der Urimpression anfängt, und dass die Urimpression notwendigerweise in Retention übergeht. Durch einen beständigen Übergang von Urimpression in Retention konstituiert sich dann das retentionale Kontinuum: „Wir finden viele Flüsse, sofern viele Reihen von Urempfindungen anfangen und enden, aber wir finden eine verbindende Form, sofern für alle nicht nur gesondert das
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Gesetz der Umwandlung von Jetzt in Nicht-mehr und andererseits von Noch-nicht in Jetzt statthat, sondern sofern es so etwas wie gemeinsame Form des Jetzt, Gleichheit überhaupt im Flussmodus gibt.“ (Hua X, 373)
In dieser Textstelle wird zum einen eine Pluralität von Erlebnisflüssen anerkannt, zum anderen werden einige Gesetze — wie der notwendige Übergang von Jetzt in Nicht-Mehr — festgestellt, die für jede Form von zeitlichem Phänomen gelten. In Kapitel III haben wir in diesem Sinne schon gesehen, dass sowohl in den Cartesianischen Meditationen als auch in der Vorlesung zur transzendentalen Logik aus dem WS 1920/21 die Ansicht der Zeit als notwendige und universale Form deutlich herausgestellt wird. In den Cartesianischen Meditationen behauptet Husserl, dass das Universum des Erlebnisses kompossibel „nur in der universalen Einheitsform des Strömens“ ist (Hua I, 108). Diese Form wird als die allgemeinste aller Sonderformen von konkreten Erlebnissen, „als eine formale Gesetzmäßigkeit einer universalen Genesis“ angesehen, „der gemäß sich immer wieder in einer gewissen noetisch-noematischen Formstruktur strömender Gegebenheitsweisen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins konstituieren.“ (Hua I, 108) Im HusserlianaBand XI wird beschrieben, wie gleichzeitig hyletische Einheiten eintreten können, die zu unterschiedlichen Sinnfeldern gehören (wie z. B. eine Farbe und ein Ton). Die Form der Jetztphase ist jedoch für alle Daten identisch: „Es konstituiert sich ein Jetzt, das das Jetzt des einen und anderen Datums zur Identitätseinheit bringt. Und ebenso ist die ganze Formstruktur der subjektiven Zeitmodi für beide Daten, und so für alle von demselben Jetzt aus sich konstituierenden, in Identitätsdeckung — die mannigfaltigen Urimpressionen sind verknüpft zu einer Urimpression, und diese untrennbar eine strömt als eine, so dass alle Sonderimpressionen in einem absolut identischen Tempo verströmen müssen. Das macht es, dass nicht den vielen Gegenständen viele Zeiten entsprechen, sondern der Satz gilt: Es ist nur eine Zeit, in der alle Zeitverläufe der Gegenstände verlaufen.“ (Hua XI, 127, m. H.)
Die Zeitanalyse sieht völlig vom Inhalt ab. Sie beschränkt sich darauf, die Rahmen einzugrenzen, die für jede Art von zeitlichen Phänomenen gültig sind: Sie abstrahiert vom Inhalt und gibt allein eine Vorstellung „der notwendigen synthetischen Strukturen der strömenden Gegenwart und des Einheitsstromes der Gegenwarten“ (Hua XI, 127).
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„Ist nun das Zeitbewusstsein die Urstätte der Konstitution von Identitätseinheit oder Gegenständlichkeit, und dann der Verbindungsformen der Koexistenz und Sukzession aller bewusst werdenden Gegenständlichkeiten, so ist es doch nur das eine allgemeine Form herstellende Bewusstsein. Bloße Form ist freilich eine Abstraktion, und so ist die intentionale Analyse des Zeitbewusstseins und seiner Leistung von vornherein eine abstraktive. Sie erfasst, interessiert sich nur für die notwendige Zeitform aller einzelnen Gegenstände und Gegenstandsvielheiten, bzw. korrelativ für die Form der Zeitliches konstituierenden Mannigfaltigkeiten.“ (Hua XI, 128)
In allen diesen Texten findet eine systematische Verwendung des Begriffspaares „Form und Materie“ statt, wonach ein deutliches Primat der Form über die Materie behauptet wird. Die Zeit als Form ist ein Ordnungssystem, in dem die Materie die Gestalt des Früheren, des Späteren oder der Gleichzeitigkeit annimmt (Hua XIII, 186). Jeder Inhalt muss sich demnach in die formalen, universalen Rahmen der Zeitkonstitution einfügen: „Im A,B,C der Konstitution aller bewusstwerdenden Objektivität und der Subjektivität für sich selbst als seiend liegt hier das A. Es besteht, wie wir sagen können, in einem universalen formalen Rahmen, in einer synthetisch konstituierten Form, an der alle anderen möglichen Synthesen Anteil haben müssen.“ (Hua XI, 125, m. H.)
Vor allem hat Derrida darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Begriffspaares Materie/Form eine strenge Phänomenologie der Zeit verfälscht und zu einer an Präsenzmetaphysik orientierten Zeitbestimmung führt.111 111
Hinsichtlich der Husserl’schen Zeitanalyse wird die Zirkularität zwischen Präsenzmetaphysik und dem Gedanken der Form insbes. in der Schrift Marges de la philosophie hervorgehoben: „Man kann nun denken, der Sinn von Sein wäre durch die Auferlegung der Form begrenzt worden, die, in ihrer weitesten Bedeutung und seit dem Ursprung der Philosophie, ihm — mit der Autorität der ,ist’ — die Abgeschlossenheit der Präsenz, die Form-der-Präsenz, die Präsenz-in-der-Form, die Form-Präsenz zugewiesen hätte. Man kann hingegen denken, das Formhafte — oder die Formalisierung — sei begrenzt durch den Sinn von Sein, der tatsächlich in seiner gesamten Geschichte nie von seiner Bestimmung als Präsenz losgelöst war — unter der vortrefflichen Beaufsichtigung des ist; und dass seither das Denken der Form vermag, sich bis jenseits des Denkens des Seins zu erstrecken. Aber die Tatsache, dass die beiden auf diese Weise aufgezeigten Grenzen dieselben sind, illustriert vielleicht das Husserl’sche Unternehmen.“ (Derrida, 1972, 206 f., dt. 174) — Der Ansatz Derridas könnte folgendermaßen weiter entwickelt werden. Aus drei verschiedenen Gründen
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Die Husserl’sche Phänomenologie könnte darüber hinaus Gefahr laufen, einer „bestimmten“ Zeitstruktur eine allgemeine Geltung zu verleihen. Man könnte in dieser Hinsicht die Einseitigkeit des für das Zeitverständnis als Leitfaden dienenden Phänomens vielleicht als ein strukturelles Manko der Husserl’schen Zeitauffassung anerkennen: Der unumgängliche Ausgangspunkt der Husserl’schen Zeitanalyse besteht in der Wahrnehmung eines immanenten dauernden Gegenstandes, z. B. eines Tones. Es ist nicht auszuschließen, dass die Vorentscheidung, die Zeit systematisch ausgehend von einer immanenten Wahrnehmung zu untersuchen, die Zeitlehre in ihrem Ganzen beeinflussen bzw. bedingen kann. Die Zeiterfahrung der immanenten Wahrnehmung wird zur „Urzeiterfahrung“. Was zuerst „nur“ als Beispiel angeführt ist, wird allmählich und unterschwellig zum Vorbild. Anstatt alle Phänomene in ihrer eigentümlichen Zeitlichkeit zu untersuchen, werden sie auf die für die Tonwahrnehmung charakteristische Zeitstruktur zurückgeführt. Wenn man dagegen von einem — phänomenologisch betrachtet — radikalen Ansatz ausgeht, wonach jede Erfahrung durch eine eigene einzigartige Zeitlichkeit bestimmt ist, dann erweist sich diese Rückführung auf eine universale Zeitform als unberechtigt und letztlich als metaphysisch inspiriert. Jede Zeiterfahrung muss als ein einzigartiges Gewebe eigentümlicher Spuren betrachtet werden. Die Bestimmung einer einzelnen Zeitstruktur, die notwendigerweise für alle Zeitphänomene gültig ist — wie z. B. der Übergang von Urimpression in Retention —,
scheint die Verwendung dieses Begriffspaares Form/Materie höchst problematisch im Hinblick auf die Zeitlichkeit: 1. Die Verwendung des Paares Form/Materie verdeckt und verstellt die zeitlichen Phänomene, indem sie diese einschränkt und auf die Gegenwart zurückführt. Wenn eine Form alle zeitlichen Phänomene regeln muss, dann muss sie notwendigerweise allgegenwärtig sein (hier ist es nicht entscheidend, die Art und Weise zu berücksichtigen, wie die Form dargestellt wird — z. B. passiv oder aktiv, bewusst oder unbewusst, stetig/fließend oder fest). 2. Wenn alle Zeitphänomene auf eine einzige Form zurückgeführt werden, dann ist es unvermeidlich, dass alle Brüche, die die Erfahrung charakterisieren, übergangen werden. Die Brüche können hier nur einen relativen Sinn haben: Sie werden immer durch die synthetische Funktion der Form zu einer Einheit geführt und so aufgehoben. Die Verwendung des metaphysischen Begriffspaares Materie/Form schließt von vorneherein eine unberührte Kontinuität der Erfahrung ein. 3. Sie hat eine hierarchische — metaphysisch inspiriert — Abstufung zur Folge, wonach die Materie einer einzigen Form zu- und untergeordnet wird.
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wird einer radikalen Phänomenologie der Zeit nicht gerecht. Es genügt, auf einige Grenzphänomene, wie z. B. ein traumatisches Ereignis oder die Geburt hinzuweisen, um die angeblich universale Notwendigkeit des Überganges von der Urimpression in Retention in Frage zu stellen. Stricto sensu hat ein traumatisches Ereignis weder seinen Ausgangpunkt in einer Urimpression, noch wird ein Kontinuum von retentionalen Phasen „eingeschaltet“, die „ordentlich“ ineinander übergehen. Was das Subjekt traumatisiert bzw. traumatisiert hat, kann deshalb nur im Nachhinein bestimmt werden, weil es das Subjekt völlig überfordert. Es besteht eine derartige Asymmetrie zwischen dem traumatischen Ereignis und meinem „Vermögen“, dass keine intentionale Synchronie stattfinden kann. Die zum traumatischen Ereignis gehörigen Symptome führen außerdem zu keiner synthetischen Einheit, sondern treten plötzlich auf, um dann im Nichts zu verschwinden: Sie entziehen sich jeder Art von Zeitordnung im Sinne der Gleichzeitigkeit und der Sukzession. Der Husserl’sche Versuch, eine universale Zeitform zu bestimmen, könnte somit anhand des Verfahrens der „kohärenten Verformung“ beleuchtet werden: Sobald eine Erfahrung durch einen einzigen Begriff oder eine einzige Denkfigur isoliert wird, kommt eine Verformung der Phänomene zustande.112 Diese Kritik scheint mir jedoch nicht völlig berechtigt. Die These, der zufolge die Husserl’sche Phänomenologie dazu neigt, die „surdétermination“ der zeitlichen Phänomene (im Sinne Merleau-Pontys) auf eine an der immanenten Wahrnehmung orientierte Zeitstruktur zurückzuführen, scheint mir entscheidende Aspekte der Husserl’schen Zeitanalyse zu verkennen: a) Zuerst ist daran zu erinnern, dass es keine eindeutige Bestimmung des absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseins gibt. Wir haben schon im Hinblick auf Husserliana-Band X sowohl die Mehrdeutigkeit des absoluten Bewusstseins als auch die Spannung bezüglich seiner inneren 112
„Toute tentative d’isoler un concept logique pour l’élucider et pour en assurer la référence objective univoque est, par son isolation même, censée pouvoir ouvrir à la description phénoménologique du vécu, une manière de sur-déterminer le vécu, de passer sous silence toute une masse inchoative et confuse de concepts — et d’intuitions eidétiques-catégoriales — qui en est coextensive.“ (Richir, 1992, 16, dt. 20) Vor allem in Bezug auf die Zeitproblematik ist es erforderlich, dass sich die phänomenologische Vorgehensweise auf vielfältige Zugänge einstellt (ebd., 22, dt. 27).
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Momente (Retention und Urimpression) geschildert. Wenn man die so genannten Bernauer Manuskripte in Betracht zieht, dann stellt man eine Umgestaltung der innerhalb des originären Zeitfeldes bestehenden Beziehungen fest, indem die Verflechtung zwischen Retention und Protention in den Vordergrund rückt. In den C-Manuskripten kommt eine weitere Bestimmung des zeitkonstituierenden Bewusstseins ans Licht, indem es sich durch das Verhältnis zwischen ichlichen und vor-ichlichen Momenten definiert. Es ist wichtig zu betonen, dass dasselbe Urgesetz von einem Übergang der Urimpression in Retention in den verschiedenartigen Konfigurationen der Selbstzeitigung des absoluten Zeitbewusstseins eine neue und andere Konnotation annimmt. b) Darüber hinaus ist hervorzuheben, dass die Husserl’sche Phänomenologie grundwesentlich unterschiedliche Formen von Zeitigungen beschrieben hat. Man denke z. B. an die ausführliche Analyse der Zeitlichkeit der Wiedererinnerung (Hua X, insbes. § 14, § 15, § 18, § 42 und Beilage IV; Hua XXXIII, Text Nr. 21 und 22), an die Zeitlichkeit der Phantasie (vor allem Hua XXXIII, 82 ff.) oder an die Zeit von individuellen Gegenständen in ihren unterschiedlichen Gegebenheitsweisen, und zwar als Erfahrungsgegenstände, Phantasiegegenstände und ideale Gegenstände (V. Kapitel der Bernauer Manuskripte). Außerdem gilt es darauf hinzuweisen, dass Husserl sich mit der Zeitlichkeit von Grenzphänomenen wie Tod oder Schlaf befasst hat, welche das angeblich unantastbare Prinzip der Zeitkontinuität in Frage stellen. Im Folgenden werde ich diese zwei Richtungen der Zeitanalyse Husserls vertiefen. Zuerst werde ich die neue Auffassung des zeitkonstituierenden Bewusstseins in den Bernauer und den C-Manuskripten umfassend untersuchen. Danach werde ich auf die Problematik der Vielfalt der Zeit bei Husserl eingehen. 2.1. Die neue Bestimmung des letzten zeitkonstituierenden Bewusstseinsflusses in den Bernauer Manuskripten 2.1.1. Die doppelte Intentionalität der Protention
Selbst wenn man sich darauf beschränkt, die ersten Paragraphen der Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1905) mit denen
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der Bernauer Manuskripte (1917/18) zu vergleichen, werden hinsichtlich derselben tragenden Struktur des Zeitbewusstseins fundamentale Unterschiede sichtbar: Die Beschreibung der bestehenden Verhältnisse zwischen den inneren Momenten des Zeitbewusstseins (Urimpression, Retention, Protention) verändert sich grundlegend. Im Abschnitt 1.2. des vorliegenden Kapitels habe ich mich mit den das zeitkonstituierende Bewusstsein betreffenden Schwierigkeiten befasst, indem ich durch eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen phänomenologisch inspirierten Philosophie die im Husserliana-Band X vorhandene zweideutige Beziehung zwischen Urimpression und Retention behandelt habe: Einerseits kann die Urimpression als solche nur in den retentionalen Modifikationen erscheinen. Andererseits ist der außerordentliche, urschöpferische Status der Urimpression hervorgehoben worden. In den Bernauer Manuskripten versucht Husserl die Urimpression — hierbei wird jedoch der Terminus Urpräsenz verwendet — nicht nur im Hinblick auf die Retentionen, sondern auch auf die Protentionen zu bestimmen. Besser gesagt: Die Urpräsenz wird als Resultat des Zusammenspiels zwischen Retention und Protention angesehen: „Das Jetzt (bzw. die Urpräsentation) ist Grenzpunkt von zweierlei ,vergegenwärtigenden’ Akten, den Retentionen und Protentionen.“ (Hua XXXIII, 4) Bevor ich eine ausführliche Analyse der komplexen Verhältnisse zwischen Urpräsenz, Protention und Retention vornehme, möchte ich vorausschicken — auch um die Bedeutsamkeit der folgenden Untersuchung zu betonen —, dass die neuartige Konfiguration der inneren Momente des Zeitbewusstseins wichtige Konsequenzen für die Debatte über die Präsenzmetaphysik hat. Vor kurzem hat Klaus Held in diesem Sinne gezeigt, dass die neue Artikulation des Verhältnisses zwischen Gegenwart und Retention-Protention einen Ausweg aus der Präsenzmetaphysik bedeuten könnte. Während in den Zeitvorlesungen aus dem Jahr 1905 Retention und Protention ihre Bestimmung vom urimpressionalen Jetzt-Zentrum erhalten, wird in einigen Texten der Bernauer Manuskripte dieses Verhältnis zwischen Urimpression und Retention– Protention umgekehrt (Held, 2005, 259). Die Tatsache, dass die Gegenwart nicht mehr Ausgangspunkt, sondern Ergebnis der protentionalen und retentionalen Modifikationen bzw. Nicht-Gegenwärtigkeiten ist, bedeutet einen radikalen Paradigmenwechsel. Wenn die Metaphysik
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prinzipiell darauf abzielt, die Vergangenheit und die Zukunft im Licht der Gegenwart zu verstehen, wird hier genau das Gegenteil behauptet und demzufolge ein neues, von der Präsenzmetaphysik befreites Zeitverständnis möglich. Held findet eine Analogie zwischen dem Ansatz der Bernauer Manuskripte und dem Heidegger’schen Zeitverständnis, das in der Spätschrift Zeit und Sein seinen Ausdruck findet, wobei der Wechselbezug zwischen Ankommen und Gewesen Gegenwart zugleich reicht und erbringt (Heidegger, 1969, 14).113 Hierbei ist auch daran zu erinnern, dass die im HusserlianaBand XXXIII gesammelten Texte Forschungsmanuskripte sind und keineswegs ein konsequentes, kohärentes Theoriegebäude darstellen. Experimentelle Gedankengänge, die neue Zugänge zum Zeitverständnis eröffnen, verflechten sich mit etablierten Ansätzen, obwohl sie oft nicht miteinander in Einklang zu bringen sind: Die Gegenwart wird z. B. nicht nur als Ergebnis des Zusammenspiels zwischen Protention und Retention angesehen, sondern auch, ebenso wie in den Zeitvorlesungen (1905), als Quellpunkt, aus dem die Retention stammt. Die Retention hat somit ihr Fundament im Jetzt (Hua XXXIII, 256).114 Das in den Texten aus den Jahren 1909 bis 1911 in Frage gestellte Schema Auffassung– Auffassungsinhalt wird in vielen Manuskripten systematisch verwendet, und zwar nicht nur um die Zeitlichkeit des Zeitgegenstandes, sondern auch die des zeitkonstituierenden Bewusstseins zu bestimmen. Von daher stößt man in den Bernauer Manuskripten immer wieder — und in verschiedenen Kontexten wie z. B. dem Ineinander der retentionalen Modifikationen oder dem Bewusstseinstatus des letzten „absoluten“ Bewusstseins (vgl. Text Nr. 9, 10, 11, 12 und 13 von Hua XXXIII) — auf das Problem des unendlichen Regresses. Dass Husserl auf das Schema Auffassung–Auffassungsinhalt zurückgreift und dadurch dazu gezwungen ist, sich mit dem Problem des unendlichen Regresses zu befassen, lässt einen wichtigen Aspekt hervortreten: Die im Husserliana-Band X entwickelten Lösungsversuche, 113
„Ankommen, als noch nicht Gegenwart, reicht und erbringt zugleich nicht mehr Gegenwart, das Gewesen, und umgekehrt reicht dieses, das Gewesen, sich Zukunft zu. Der Wechselbezug beider reicht und erbringt zugleich Gegenwart.“ (Heidegger, 1969, 14, m. H.) 114 Selbst in einigen C-Manuskripten wird die Jetztphase als urquellende betrachtet, die sich stetig zum Vergangenen wandelt (z. B. C 17 III, 49a).
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welche über dieses Schema hinausgehen, sind nicht etabliert. Sie sind zu keinem gesicherten Ergebnis der Husserl’schen Phänomenologie geworden. Es ist m. E. wichtig, diesen schwankenden Charakter der Husserl’schen Analyse zu betonen, um zu vermeiden, dass falsche Konsequenzen daraus gezogen werden: Oft glaubt man in der Husserl-Forschung radikale Brüche zu finden, während tatsächlich nur ansatzweise ein neuer Weg beschritten wird, um ein altes Problem zu lösen. Und selbst wenn der neue experimentelle Lösungsversuch das vorangehende Paradigma in Frage stellt, bedeutet das keineswegs einen endgültigen Abschied von demselben. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass in den Bernauer Manuskripten die Protention im Hinblick auf das zeitkonstituierende Bewusstsein eine ausschlaggebende Rolle spielt. Die Jetztphase bedeutet nicht nur das Auftreten einer Urpräsenz, sondern ist Erfüllung einer vorangehenden Protention: „So gibt es im Strom der Wahrnehmung keinen Punkt, der nicht die Intentionalität hätte, und insbesondere die Urpräsentation ist dabei beständig nicht bloß Auftreten von Urpräsenzen, die erst nachträglich Intentionalität annehmen würden, sondern beständiges Auftreten derselben im Modus der Erfüllung von Erwartungsintentionen.“ (Hua XXXIII, 4)
Die Radikalität der Umwandlung des Jetztbegriffs kann daran gemessen werden, dass die Urpräsentation als „erfüllte Erwartung“ definiert wird (Hua XXXIII, 7). Sobald das Ich in einem Wahrnehmungsbewusstsein auftritt, hat es einen offenen Zukunftshorizont vor sich. Die Wahrnehmung eines Zeitobjekts bedeutet „mit offenen Armen“ das Herankommende aufzunehmen. Obwohl im Husserliana-Band X schon die These einer konstitutiven Funktion der Protention innerhalb des originären Zeitfeldes vorhanden ist, findet der zeitkonstituierende Prozess seinen Anfang mit dem Eintritt der Urimpression. In einigen Texten der Bernauer Manuskripte wird dagegen behauptet, dass als Ausgangspunkt des ursprünglichen Zeitbewusstseins nicht die Urimpression sondern die leere Erwartung zu betrachten ist: „Zuerst ist eine leere Erwartung, und dann ist der Punkt der Urwahrnehmung, die selbst ein intentionales Erlebnis ist. Aber dieses [Erlebnis] wird doch im Fluss erst durch Eintreten der Urpräsenzen als füllende Inhalte in die vorhergehende Leerintention, die sich damit wandelt in urpräsentierende Wahrnehmung.“ (Hua XXXIII, 4 f.)
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Die Ereignisse der phänomenologischen Zeit konstituieren sich völlig passiv bzw. ohne Beteiligung der Aufmerksamkeit sowie ohne Erfassung des Ich. Jedes urpräsente hyletische Datum ist nicht nur Kern einer kontinuierlichen retentionalen Modifikation, sondern es gehört auch zum Wesen des zeitkonstituierenden Prozesses, dass es für die Dauer des Zeitobjektes eine vorgerichtete Intentionalität bzw. eine Protention auf das Kommende gibt. Darum kommt Husserl zu dem Ergebnis, dass jede Urpräsenz nicht nur Inhalt, sondern aufgefasster Inhalt ist (Hua XXXIII, 7). Die Protention richtet sich jedoch nicht auf den kommenden Punkt, sondern auf das kommende Ereignis in seinem Ganzen bzw. auf den Ereignishorizont, einen Horizont, der sich ständig wandelt. Die Protention auf die folgende Phase bezieht auch einen Verweis auf die darauf folgende Phase mit ein. Es ist erforderlich, diese zwei Richtungen der Protention im Auge zu haben, um ihren Erfüllungsprozess zu begreifen. Das Eintreten des Urdatums erfüllt die schon darauf gerichtete vorangehende Protention ausschließlich im Hinblick auf einen Punkt. Es kann in keinem Fall das am ganzen Ereignis orientierte protentionale Kontinuum erfüllen. Demzufolge ist jede Jetztphase einerseits punktuelle Erfüllung vorangehender Protention, andererseits leerer Horizont. Wenn wir den Begriff vom „leeren Horizont“ in Bezug auf die Protention näher bestimmen, kommt ein neuer Aspekt Husserl’scher Zeitanalyse ans Licht. Wird die Retention durch eine doppelte Intentionalität bestimmt, dann muss man auch bei der Protention die doppelte intentionale Richtung hervorheben: Zum einen auf das primäre Objekt (im Wie seiner Gegebenheitsweise), zum anderen auf den Bewusstseinsfluss. Die Protention ist aus Wesensgründen „in jeder Urprozessphase Erfüllung einer Protention und in eins damit selbst Protention (die ihren wesentlichen Charakter als Protention selbst an der Erfüllungsstelle nicht einbüßt) [ ].“ (Hua XXXIII, 12) Die erfüllte Protention verweist auf die vorangehende leere Protention: „Das Kontinuum der protentionalen Akte ist in jeder Phase selbst ein Kontinuum, und zwar ein Punkt darin erfüllte Protention und nach dem Übrigen leere Protention. Die erfüllte Protention ist Erfüllung einer vorangegangenen leeren Protention, die selbst nur unselbständiges Stück eines weiteren Aktes ist, der eine Phase [der] Erfüllung hat.“ (Hua XXXIII, 9)
Die protentionale Kontinuität wird folgendermaßen definiert:
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„Im Wesen dieses Bewusstseins liegt es, dass es stetig erfüllbar ist, derart, dass jede Erfüllung zugleich Intention für eine neue Erfüllung ist usw.“ (Hua XXXIII, 24)
Demzufolge kann man hierbei — in der Sprache der Vorlesung aus dem Jahr 1905 ausgedrückt — eine Verdoppelung der Längs- und Querintentionalität feststellen. Das Verständnis des protentionalen Kontinuums vertieft sich, wenn wir es hinsichtlich des Erfüllungsprozesses dem retentionalen Kontinuum gegenüberstellen. Formal betrachtet impliziert jede vorangehende Protention die folgenden, ebenso wie jede aktuelle Retention alle vorangehenden intentional in sich birgt. Im Hinblick auf den Erfüllungsprozess sieht jedoch das Verhältnis zwischen retentionalen und protentionalen Modifikationen ganz anderes aus: Im Fall des protentionalen Kontinuums sind die späteren Modifikationen „inhaltsbestimmter“ im Vergleich zu den früheren. Nachdem wir ein Objekt lang betrachtet haben, werden meine Protentionen — meine unmittelbaren Erwartungen — „artikulierter“ als vorher. Anders gesagt: Da man durch die Betrachtung den „Stil“ des Phänomens besser kennengelernt hat, bildet sich passiv eine konkretere, inhaltsbestimmtere Erwartung auf die nächste Erscheinung heraus. Bei der Retention ist das Gegenteil der Fall. Hierbei zeigt sich mit dem Eintreten neuer Inhalte ein beständiger Prozess von Verarmung. Je mehr neue Retentionen auftreten, desto dunkler wird die Vergangenheit. Jede neue Retention entfüllt die vorangehende. Hinsichtlich des Erfüllungsprozesses wird der Unterschied zwischen protentionalen und retentionalen Modifikationen von Husserl sehr zutreffend folgendermaßen dargestellt: „Freilich ist die Schwierigkeit wohl nicht beiderseits dieselbe, da im Fluss des Urprozesses vorangehen die leeren (relativ leeren) Protentionen und folgen die vollen, während vorangehen die vollen (relativ vollen) Retentionen und folgen die relativ leeren.“ (Hua XXXIII, 10)
Somit gehören zu den wichtigsten Aspekten des zeitkonstituierenden Bewusstseinslebens folgende Momente: 1. das Auftreten des Urdatums als erfüllte Protention; 2. das Anschließen der Retentionen an jedes neue hyletische Datum; 3. der Verweis jeder Protention auf das (leere) protentionale Kontinuum. Es gilt hervorzuheben, dass sich durch die neue Konfiguration des Zeitbewusstseinsflusses der Identitätsbegriff des Gegenstandes grundlegend
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wandelt. Die Identität des Gegenstandes bildet sich nicht mehr, wie im Husserliana-Band X, in den retentionalen Modifikationen heraus, sondern nimmt von vornherein die Funktion der Protention in Anspruch (Hua XXXIII, 14). 2.1.2. Der zeitkonstituierende Bewusstseinsfluss im Licht der Verflechtung zwischen Retention und Protention
Das Neue in den Bernauer Manuskripten beschränkt sich keineswegs auf die Verdoppelung der Längs- und Querintentionalität, indem eine — den retentionalen Modifikationen entsprechende — doppelte Richtung der Protention geschildert wird. Die bahnbrechende Entdeckung der Bernauer Manuskripte besteht vielmehr darin, dass das Verhältnis zwischen Retention und Protention die Gestalt des Ineinander annimmt. Fangen wir mit der Analyse der Protention an, um die ursprüngliche Verflechtung zwischen Protention und Retention näher zu bestimmen. Der folgende Satz könnte als Leitfaden dienen: Die Wirklichkeit ist Verwirklichung eines antizipierenden Bewusstseins (Hua XXXIII, 46). In jeder Phase richtet sich die Protention allerdings nicht nur, wie oben gezeigt, auf das Auftreten neuer Urpräsenzen sowie auf das protentionale Kontinuum, sondern auch auf die kommenden retentionalen Modifikationen, und zwar auf die zukünftigen Retentionen und Retentionen von Retentionen usw. (Hua XXXIII, 7) Da die Retentionen sich stetig an die Urpräsenzen anschließen, projiziert sich eine solche retentionale Urfolge durch das protentionale Bewusstsein in die Zukunft (Hua XXXIII, 21). Die Protention „erwartet“ das Im-Griff-Behalten der Retentionen, welche aufeinander verweisen. Dasselbe Herabsinken der Urdaten ist demzufolge protentional beschlossen (Hua XXXIII, 24). Es gilt darauf hinzuweisen, dass Husserl in diesem Kontext ausschließlich auf die Längsintentionalität verweist: Nur die Retentionen von Retentionen sind erwähnt (Hua XXXIII, 7 f.). Diesbezüglich wäre es m. E. erforderlich gewesen, auch die Intention auf das zukünftig Retinierte im Sinne der Querintentionalität in Betracht zu ziehen. Es gilt, das zukünftig Retinierte vom zukünftig retentionalen Bewusstseinsfluss genau zu unterscheiden. Anhand dieser Unterscheidung könnte man die verschiedenen Richtungen der protentionalen Intention folgendermaßen schildern: Die Protention richtet sich auf 1. das Auftreten neuer Urpräsenzen; 2. das leere protentionale Kontinuum;
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3. das zukünftige Retinierte; 4. die zukünftigen Retentionen von Retentionen, in denen sich das zukünftige Retinierte konstituiert. Inhaltlich betrachtet hängt die Bestimmung des zukünftig Retinierten von den abgelaufenen retentionalen Modifikationen ab. In diesem Zusammenhang wird sogar ein Wesensgesetz festgestellt, welches das Verhältnis zwischen der Dauer des Ereignisses und der Inhaltsbestimmung der Antizipationen betrifft: „Je weiter ein Ereignis fortschreitet, umso mehr bietet es in sich selbst für differenziertere Protentionen, ,der Stil der Vergangenheit wird in die Zukunft projiziert’. [ ] Der Verlauf der retentionalen Zweige bzw. der jeweilige intentionale Gehalt des eben auftretenden retentionalen Zweiges wirkt auf die Protention inhaltbestimmend ein und zeichnet ihr den Sinn mit vor.“ (Hua XXXIII, 38)
Dass das Zukünftige auf das Vergangene angewiesen ist, oder besser gesagt, dass die konkrete inhaltliche Bestimmung der Protention aus den retentionalen Modifikationen stammt und davon völlig abhängig ist, deutet auf eine genetische Herangehensweise hin.115 Tatsächlich kann man die Bernauer Manuskripte auch deshalb als ersten Ausdruck der genetischen Phänomenologie ansehen, weil in diesen Texten zum ersten Mal Themen ausführlich behandelt werden, die für die passive Synthesis charakteristisch sind, wie z. B. vor-ichliche Tendenzen, Strebungen, Hemmungen, Reiz (Bernet, 2001, XLVII). Das zeitkonstituierende Bewusstsein kommt zur Selbsterscheinung, indem unser Blick auf die Verflechtung zwischen Retention und Protention gerichtet ist. Von daher scheint mir die von Bernet gelieferte Definition der Selbsterscheinung des Flusses nicht überzeugend, da in ihr die intentionale Richtung auf den Bewusstseinsfluss — bzw. auf das zukünftig Gewesene konstituierende Ineinander zwischen Retentionen und Protention — nicht berücksichtigt wird: „In diesem dynamisch als Fluss verstandenen Erfüllungsprozess kommt der Fluss des Bewusstseins selbst dadurch zur gegenwärtigen Erscheinung, dass das gegenwär-
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Zu Recht hat Kortooms (2002, 178) dazu geschrieben: „This attention paid to the influence earlier phases of consciousness have on the determination of phases of consciousness that are directed toward what is to come attests to the genetic phenomenological approach in Husserl’s analysis.”
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tig Gegebene zugleich als ein in der Vergangenheit bereits als zukünftig antizipiert Gewesenes bewusst ist. Das gegenwärtige Erlebnis der Erfüllung ist also in Wirklichkeit ein Bewusstsein vom Gegenwärtig-Werden eines in vergangenen Protentionen Antizipierten.“ (Bernet, 2001, XLII)
Eine solche Definition beschreibt eher die Querintentionalität bzw. das zukünftig Retinierte als die Längsintentionalität. Der Blick ist auf das zukünftig Gewesene gerichtet und nicht auf die den Bewusstseinsfluss charakterisierende Verflechtung zwischen Protention und Retention, eine Verflechtung, die das zeitlich verschobene Gegebene konstituiert. Wenn der Bewusstseinsfluss nur dadurch zur Selbsterscheinung kommen würde, dass er das Gegenwärtige als zukünftig Gewesenes betrachtet, wäre es unmöglich, die Querintentionalität von der Längsintentionalität zu unterscheiden: Die doppelte Richtung der Intentionalität würde verloren gehen. Versuchen wir jetzt die sich innerhalb des zeitkonstituierenden Bewusstseins abspielende Verflechtung zwischen Protention und Retention aus der Perspektive der Letzteren zu beleuchten. Vorausgesetzt, dass die Retention die Urpräsenz im Griff behält und dass die Urpräsenz kraft der Protention als aufgefasster Inhalt zu begreifen ist, dann muss die Retention notwendigerweise auch das Moment der sich erfüllenden Erwartung mit einschließen. Die Retention behält die Protention in ihrer doppelten Form — sowohl als leere als auch als erfüllte — im Griff. Daraus folgt, dass — abgesehen vom Einsatzpunkt — jede Phase „ein dreifaches Gesicht“ hat: 1. Sie ist Retention „in Hinsicht auf das abgelaufene System der Urdaten“ (Hua XXXIII, 7); 2. sie ist Retention bezüglich der abgelaufenen Bewusstseinsauffassungen, zu denen auch die durch den Eintritt der Urpräsenz erfüllten Protentionen zählen; 3. sie ist Retention im Hinblick auf die prinzipiell leere Erwartung, die an der immer offenen Zukunft ausgerichtet ist (Hua XXXIII, 7).116 116
Im Text Nr. 2 wird die Verflechtung zwischen Protention und Retention folgendermaßen dargestellt: Die mit der Protention behaftete Retention sinkt in die Vergangenheit: Dadurch lässt sie die vorangehende Retention in eine weitere Vergangenheit rücken; gleichzeitig modifiziert sie — im Hinblick auf die Inhaltsbestimmung — die mit der vorangehenden Retention verflochtene Protention; abschließend lässt sie eine
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In diesem Kontext gilt es auch hervorzuheben, dass Husserl in den Bernauer Manuskripten die These in Frage stellt, nach der die Retentionen einem unendlichen Prozess des Herabsinkens unterworfen sind (Hua X, § 13); die Retentionen geraten dagegen in ein nicht weiter modifizierbares Reich.117 Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass die Jetztphase in der Definition der konstituierenden Gesamtphase überhaupt nicht vorkommt: „Jede konstituierende Gesamtphase ist Retention erfüllter Protention, welche Grenze eines Horizonts, einer unerfüllten und ihrerseits kontinuierlich mittelbaren Protention (eines Streckenkontinuums) ist.“ (Hua XXXIII, 8)
Protention und Retention sind derart miteinander verflochten, dass es unmöglich ist, den Ausgangspunkt des urkonstituierenden Prozesses eindeutig zu bestimmen: Einerseits scheint es, dass der Erfüllungsprozess mit der auf die Urpräsenz gerichteten Protention beginnt. Andererseits wird die Retention als Anfang angesehen. Wie gezeigt, erhält die Protention ihre Inhaltsbestimmung von den abgelaufenen retentionalen Modifikationen: „Wir haben so etwas von Genese spielen lassen. Zuerst bloße Retention, dann notwendig modifiziert, dadurch Protention.“ (Hua XXXIII, 24) Retentionen und Protentionen erfüllen sich ineinander und konstituieren dadurch die Urpräsenzen (ebd., 23). Das Jetztbewusstsein entsteht durch das Zusammenspiel zwischen einer Protention — welche in der Retention schon vorgezeichnet, vorbewusst ist — und einer Retention, die in der Protention schon eingeflochten ist: „Und eben dadurch kommt die erfüllende Deckung im Momentanbewusstsein selbst zustande.“ (Hua XXXIII, 27) Abschließend möchte ich einen problematischen Aspekt der in den Bernauer Manuskripten durchgeführten Zeitanalyse zur Sprache bringen. Die neue Konfiguration des Verhältnisses zwischen Protention und Retention könnte Gefahr laufen, dass kein Spielraum für das überraschende weitere Form von Modifikation eintreten, indem sie als Retention der abgelaufenen Protention zu betrachten ist (Hua XXXIII, 26 f.). 117 „Der Urprozess geht in jeder Phase von einem Punkt maximaler Fülle aus, die ständig entleert wird, bis gegen Null abzufallen zur Leere hin.“ (Hua XXXIII, 32) Diese These wird dann im Husserliana-Band XI im Zusammenhang mit dem Begriff des Unbewussten weiter entwickelt.
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Neue bleibt. Diese These wird von Held in dem schon zitierten Aufsatz Phänomenologie der ,eigentlichen’ Zeit bei Husserl und Heidegger vertreten. Die Haltung Husserls ist gegenüber der Möglichkeit, dass etwas völlig Neues oder Fremdes auftaucht, eher skeptisch. Er geht davon aus, dass das Neue immer irgendeine Affinität mit den vorangegangenen Erfahrungen haben muss und von vornherein in den protentional-retentionalen Bewusstseinstrom eingebettet ist. Abgesehen von seinen besonderen Eigenschaften muss sich jedes „neuartige“ Urdatum dem vorherbestimmten Horizont, in dem es auftritt, anpassen. Anders gesagt: In der äußeren Wahrnehmung kann ich nichts anderem als transzendenten Gegenständen begegnen; demzufolge ist mir das angeblich absolute Neue — mindestens der Form nach (als räumlicher Gegenstand) — schon bekannt. Im Licht der oben dargestellten Verflechtung zwischen Protention und Retention ist es möglich, ein anderes Argument gegen den Auftritt von etwas absolut Neuem anzuführen. Selbst wenn ein völlig unerwartetes Urdatum auftaucht, ein Urdatum, das also durch keine Vorzeichnung bestimmt ist, wird eine Protention als Tendenz auf Erfüllung in Anspruch genommen. Das plötzlich auftretende Datum kann nicht antizipiert werden, solange sich keine aus den retentionalen Modifikationen entstehende Protention herausgebildet hat. Die Tatsache, dass sich die Erwartung nicht nur auf das neue Datum, sondern auch auf das zukünftige Ineinander der retentionalen Modifikationen richten kann, hat zur Folge, dass es zumindest möglich ist, die Fortsetzung des retentionalen Kontinuums zu antizipieren (Held, 2005, 264 f.). Demnach ist es erforderlich, eine auf ein inhaltlich bestimmtes Etwas gerichtete Protention von einer Protention zu differenzieren, die sich auf die Fortsetzung des intentionalen Lebens richtet. Hier sei daran erinnert, dass das Leben keinen gegenständlichen Charakter hat: Das Leben ist weder ein Etwas noch ein Vorkommnis (Hua XXXIII, 266). In diesem Fall kommt demnach eine Protention zum Vorschein, die keine Erfüllung in einem konkreten Inhalt bzw. in einem Erwarteten hat.118 118
Diesbezüglich hat Klaus Held die Frage gestellt, ob es in einem solchen Fall phänomenologisch legitim ist, stricto sensu von einer Protention zu sprechen: „Ist eine Erfüllung, die nur in der Fortsetzung des intentionalen Lebens überhaupt bestünde, protentional erwartbar, d. h. kann es eine Protention geben, die hinsichtlich der
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Die Annahme einer kontinuierlichen Fortdauer der Erfahrung, die durch eine Projizierung der Retentionen in die Zukunft entsteht, stößt nach Held auch auf eine grundlegende Schwierigkeit: Sie wird Grundphänomenen der Existenz nicht gerecht, wie z. B. der von Heidegger hervorgehobenen Grundstimmung der Sorge, in der sich unsere Sterblichkeit bemerkbar macht. In der Stimmung der Sorge wird die selbstverständliche Fortdauer der Welt als Horizont unserer Erfahrung radikal in Frage gestellt: „Weil uns in den tiefen Stimmungen das horizonthafte Ganze unserer Welt aufgeht, können sie nicht auf eine Zukunft bezogen sein, die protentional ,erwartbar’ wäre.“ (Held, 2005, 266 f.) Eine radikale Phänomenologie der Grundstimmungen lässt demnach die Möglichkeit einer Zukunft zu, welche nicht auf das Zusammenspiel zwischen Protention und Retention zurückzuführen ist und uns eigentlich überraschen kann. Auch unter einem anderen Gesichtspunkt könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass die in den Bernauer Manuskripten geschilderte Protention — von vornherein aus strukturellen Gründen — nicht imstande ist, dem Neuen gerecht zu werden. Das wird deutlich, wenn man auf eine Bemerkung Husserls über die Genesis der in den Bernauer Manuskripten neu bestimmten Protention achtet. Husserl behauptet zu Recht, dass durch die ausführliche Untersuchung der Protention eine Umbildung der zeitlichen Intentionalität stattfindet: Man geht — dank der Berücksichtigung der protentionalen Kontinuität — von der Einseitigkeit des retentionalen Kontinuums auf die Doppelseitigkeit des intentionalen Lebens über und „die neue Seite wird eine Art Spiegelbild der Urseite“ (Hua XXXIII, 24). Es ist m. E. nicht auszuschließen, dass die These einer solchen Analogie zwischen Protention und Retention dem aufgezeigten Manko hinsichtlich der Erfahrung des Neuen zugrunde liegt: Die Protention wird ausgehend von der Retention definiert; sie wird eine Art „Spiegelbild“ der Retention. Wenn wir den Sinn von Protention und Retention nur formal betrachten, stehen vor uns zwei Kontinua, die ineinander übergehen. Eine solche formale Perspektive kann allerdings nicht diejenigen Grundphänomene zur Genüge erklären, die auf den eigentümlichen — besorgniserregenden oder hoffnungsvollen — Spalt zwischen dem, was möglichen Inhalte ihrer ,Erfüllung’ vollkommen ,leer’ wäre, will sagen: völlig frei von jeglicher Vorzeichnung ihres intentionalen Gehalts?“ (Held, 2005, 265)
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wir erwarten, und dem, was sich ereignet, verweisen (wie die Hoffnung, das Versprechen oder die Drohung). Das — protentional antizipierte — auf uns Zukommende ist durch eine Offenheit charakterisiert, die der Retention unbekannt ist. Angesichts des Bewusstseins des Zukünftigen ist es außerdem erforderlich, nicht die allgemeine, auf das leere protentionale Kontinuum orientierte Erschlossenheit zu bestimmen, sondern vielmehr die konkrete Art und Weise zu beschreiben, wie wir in den verschiedenen Stimmungen und Zeitigungen der Welt entgegenkommen. Vorher habe ich auf die Interpretation Helds hingewiesen, der zufolge die Umkehrung der Beziehung zwischen Urimpression und Protention/Retention einen möglichen Ausweg aus der Präsenzmetaphysik bedeuten kann. Ich möchte jedoch hinzufügen, dass unter einem anderen Blickwinkel das in den Bernauer Manuskripten dargestellte Verhältnis zwischen Gegenwart und Retention/Protention paradoxerweise vielleicht als ein noch ausgeprägterer Ausdruck der Präsenzmetaphysik angesehen werden könnte. Gesetzt, dass die Urimpression als erfüllte Erwartung auszulegen ist und dass Protention und Retention miteinander verflochten sind, indem die Retention einerseits sowohl die leeren als auch die erfüllten Protentionen im Griff behält und die Protention andererseits das retentionale Kontinuum in die Zukunft projiziert, kommt in jeder Richtung eine übermäßige Erstreckung der zeitlichen Intentionalität zum Vorschein. Nichts scheint sich dem immer komplexeren intentional strukturierten Gewebe zu entziehen und für das radikale Nicht-Gegenwärtige — das, was als solches nie gegenwärtig ist — weniger Raum offen zu lassen. Aus diesem Grund versteht man aus einer anderen Perspektive, warum dieser Ansatz die Erfahrung des Neuen phänomenologisch nicht ausweisen kann.119 2.2. Die Konfiguration des Zeitbewusstseins in den C-Manuskripten 2.2.1. Aktive und passive Zeitigung
In den Zeitvorlesungen (1905) handelt es sich überwiegend insofern um das Zeitbewusstsein, als Husserl den Sinn zeitlicher Bestimmungen 119
In Abschnitt 2.3.1. werde ich zeigen, dass die übermäßige Erstreckung der Intentionalität, die charakteristisch für die Bernauer Manuskripte ist, den Ausweis einer verschobenen Zeitlichkeit ermöglicht, die sich auf das Unerwartete bezieht.
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wie den des Jetzt, den des Soeben-Gewesen und den des unmittelbar Zukünftigen auszuweisen versucht. Wie oben ausführlich behandelt, verweist die Sinnesklärung des Zeitobjekts auf die Zeitwahrnehmung, welche sich in die Bewusstseinsleistungen der Urimpression, Retention und Protention aufgliedert. Eine weitere Vertiefung der Zeitwahrnehmung führt letztlich zur Thematisierung des absoluten inneren Zeitbewusstseins, das durch die doppelte Intentionalität der Retention zum Selbsterscheinen kommt. Im Abschnitt 2.1. des vorliegenden Kapitels wurde gezeigt, dass einer der wichtigsten Beiträge der in den Bernauer Manuskripten durchgeführten Zeitanalyse in einer neuartigen Konfiguration des ursprünglichen Bewusstseinsstroms besteht. Vor allem in den Texten Nr. 1 und Nr. 2 zeigt sich eine Umgestaltung des uroriginalen Zeitfeldes: Die Urimpression ist nicht mehr als „die Urquelle für alles weitere Bewusstsein und Sein“ (Hua X, 67), sondern als Ergebnis einer höchst komplexen Verflechtung zwischen dem protentionalen und dem retentionalen Kontinuum anzusehen. In den C-Manuskripten kann man in Bezug auf die Zeitproblematik dagegen eine Akzentverschiebung feststellen, die ansatzweise in einigen Bernauer Manuskripten schon vorgezeichnet war (wie z. B. im Text Nr. 10, 11 und 14; vgl. Bernet, 2001, XXXI). Im Zentrum der C-Manuskripte steht nicht mehr die Verflechtung zwischen Längsintentionalität und Querintentionalität, sondern die Beziehung zwischen der ichlichen Seite und der ichfremden bzw. vor-ichlichen Seite im Hinblick auf die stehende und strömende lebendige Gegenwart. In den C-Manuskripten geht es vor allem darum, das Ich in seiner ständigen Gegenwart bzw. in seinem stehenden, zeitigenden Strömen zu verdeutlichen (Ms. C 17, Mat. VIII, 441). Die Zeitigung in der Form der Protention, Retention und Urimpression fügt sich in einen neuen Horizont ein, in welchem die Anonymität des Ich eine herausragende Rolle spielt. Die Tatsache, dass die Zeit in den C-Manuskripten vor allem ausgehend von der Ich-Problematik untersucht wird, und dass das Strömen ständig in Zusammenhang mit dem fungierenden Ich gebracht wird (z. B. C 2, Text Nr. I), sollte nicht dazu führen, dass der Dimension der Passivität des Ich — sowohl im Sinne der passiven Synthesis als auch im Sinne der Affektion — eine urkonstituierende Funktion abgesprochen wird. Diese Tendenz ist allerdings in der Husserl-Forschung sehr verbreitet. Alwin Diemer (1956, 145–148) z. B. vertritt die radikale These, dass im Spätwerk Husserls der ursprüngliche zeitkonstituierende
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Prozess ausschließlich auf der Aktivität des Ich beruht. Die urimpressionalen, zuerst passiv vorkonstituierten und vorseienden Daten werden nur durch Auffassungen zu eigentlich gezeigten Einheiten. Die These, dass in den C-Manuskripten der Konstitutionsprozess ausschließlich durch das aktive Ich entsteht, findet — nach Diemer — ihren Anhaltspunkt im Forschungsmanuskript C 17, einem Manuskript, das die in C 10 gewonnenen Ergebnisse in Frage stellt. Im Text C 10 hat Husserl eine passive von einer aktiven Intentionalität unterschieden: Das Korrelat einer passiven Intentionalität ist ein unerfasster Hintergrund, während das Korrelat einer aktiven Intentionalität in der Gestalt eines aufgemerkten Gegenstandes erscheint (Ms. C 10, Hua, Mat. VIII, 202 f.). Der Unterschied zwischen den zwei Intentionalitäten richtet sich nach dem Vollzugmodus: Passivität und Aktivität sind Vollzugsmodi. Nach Diemers Interpretation wird diese Ansicht im Manuskript C 17 überwunden: In diesem Manuskript kommt unmissverständlich zur Sprache, dass es nicht zwei verschiedenartige — passive und aktive — Intentionalitäten gibt; die einzige wirkliche Zeitigung geht aus dem phänomenologisierenden Ich hervor (Ms. C 17, Hua XXXIV, 181). Auch Kortooms in seiner Schrift Phenomenology of Time hat die Rolle des aktiven Ich in Bezug auf die Urzeitigung in den C-Manuskripten besonders hervorgehoben. Grundsätzlich teilt er die Meinung Diemers, nach der die wirkliche Zeitigung als aus dem phänomenologisierenden Ich Entsprungene zu betrachten ist. Obschon es noch möglich ist, von einem Bewusstseinsfluss zu sprechen, in dem die vor-bewussten Einheiten ablaufen, kann dieser Fluss nicht mehr als fundierende Schicht angesehen werden, auf die alle konstituierten Ebenen angewiesen sind. In den C-Manuskripten wird keine „vertikale“ Lösung vorgeschlagen, der zufolge eine tiefere Konstitutionsebene alle anderen fundiert, wie im Husserliana-Band X oder in den Bernauer Manuskripten. Vielmehr setzt sich eine horizontale Perspektive durch, in der das Ich durch Affektion und Aktion die vor-bewussten Einheiten zeitigt. In den C-Manuskripten dient nicht mehr der Bewusstseinstrom, sondern die Zeitigung der Akte als Leitfaden des Zeitverständnisses.120 Im Gegensatz zu Diemer wird 120
„The point of departures of his analysis is no longer the primal stream but the distinction ego — non-ego. The acts and affections of the ego have their own dynamic structure that cannot be expressed in terms of a more or less mechanical occurrence. Acts have their own formation of unity, which Husserl also indicates as their own
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jedoch ein passiver, nicht-ichlicher Urstrom anerkannt. Dieser passive Urstrom nimmt die Gestalt einer, streng genommen, nicht-intentionalen Synthesis an, die nach den Gesetzen der Urphänomene des Kontrastes, der Verschmelzung usw. abläuft.121 Die Urzeitigung kommt durch die aktive Beteiligung des transzendentalen Ich zustande, während die Assoziation ausschließlich als eine Vorbedingung für die ichliche Zeitigung anzusehen ist.122 Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass sowohl die These von Diemer als auch die von Kortooms insofern dem Sinn der sich in den C-Manuskripten durchsetzenden Zeitauffassung nicht gerecht werden, als sie die Urzeitigung ausschließlich mit den Ichakten und nicht, wie in den meisten Forschungsmanuskripten, mit dem neu konfigurierten Urstrom in Zusammenhang bringen. Dadurch kann nicht mehr das fungierende Ich bzw. das komplexe Verhältnis zwischen Affizierendem und Ich als Funktionszentrum ausgewiesen werden. Der Urstrom der lebendigen Gegenwart, die sich in einer ichlichen und in einer nichtichlichen Seite artikuliert, ist keine Vorbedingung, sondern der Ort, an dem die Zeitigung sich ereignet.123 Das Strömen wird zwar einer
temporalisation. [ ] For their formation of unity, acts are no longer dependent on a non-egoich formation of unity that might occur in the primal stream. Of course, it is possible to look at acts from a perspective in which they occur as temporal unities in the primal stream, but this is no longer the most original point of view from which they can be considered.“ (Kortooms, 2002, 262) 121 „According to Husserl’s analysis of time consciousness in the C-manuscripts, the actual temporalisation is accomplished by the transcendental ego. [ ] The associative fusion, the associative pre-temporalisation that occurs in the primal stream without involvement of the ego, provides the necessary precondition for the active temporalisation of the hyletic unities that affect the ego [ ].” (Kortooms, 2002, 277 f.) 122 Kortooms Interpretation möchte sich von der Lesart Diemers abgrenzen, indem er für eine passive Vorzeitigung Raum lässt. Gleichzeitig möchte er sich auch von der Interpretation Helds distanzieren. Nach Kortooms Auslegung hat Held zum einen die Differenz zwischen aktiver und passiver Betrachtungsweise beibehalten, zum anderen hat er beide als ichlich vollzogen betrachtet: Sowohl die aktive als auch die passive Zeitkonstitution werden als zwei Vollzüge intentionaler Vorgänge dargestellt (Kortooms, 2002, 271). Kortooms behauptet dagegen, dass die passive Konstitution weder ichlich vollzogen noch intentional ist. 123 An dieser Stelle möchte ich einige kritische Bemerkungen zu Kortooms Interpretation machen: 1. Wird die Assoziation als Basis der Zeitigung des Ich betrachtet, dann
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Umwandlung unterworfen, diese jedoch bedeutet keine Rückkehr zu einer aktiven Konstitution. Sogar über eine Analyse des Manuskriptes C 17 selbst, das als Grundbasis für die oben zitierten Lesarten dient, lässt sich zeigen, dass die These einer ursprünglichen aktiven Konstitution keinen festen Boden hat.124 In diesem Manuskript wird zuerst eine passive, nicht eigentliche Zeitigung des Stromes von der eigentlichen Zeitigung, die aus dem Ich hervortritt, unterschieden: 1. Die wirkliche Zeitigung der Ichakte besteht im Apperzipieren und zwar in der Konstitution von identischen Seienden; 2. die zweite Zeitigung ist keine Bewusstseinsleistung, sondern nur ein hyletischer Fluss, der nur im Nachhinein einen intentionalen Charakter erhält.125 Da dieser hyletische Fluss keine Intentionalität hat, darf er nicht als Zeitigung bzw. als Vor-Zeitigung betrachtet werden: Nur die Zeitigung des
wird der sich konstituierende Bewusstseinsfluss wieder als ursprünglicher betrachtet als die Zeitigung der Akte. Obwohl die Passivität der Synthesis keine direkte Leistung bzw. Lenkung des Ich impliziert, bleibt der Prozess, in dem die Zeitigung das Ich konstituiert, intentional. Die Urassoziation ist bei Husserl aus Wesensgründen durch Intentionalität gekennzeichnet (vgl. Ms. C 10, C 3 und insbes. C 15). — 2. Beschränkt man sich darauf zu behaupten, dass die ichliche Zeitigung in der Assoziation ihre Vorbedingung findet, dann bleibt unklar, wie die Beziehungen zwischen dem synthetischen Fluss und der Ichbeteiligung aussehen sollen bzw. wie die Vorzeitigung konkret phänomenologisch zu interpretieren ist. Wir werden sehen, dass diesbezüglich die Affektion eine herausragende Rolle spielt. — 3. Die Gegenüberstellung zwischen einem horizontalen Ansatz — der charakteristisch für die Zeitvorlesungen (1905) und für die Bernauer Manuskripte ist — und einer den C-Manuskripten eigenen vertikalen Interpretation ist deshalb nicht stichhaltig, weil die lebendige Gegenwart eine fundierende Funktion erfüllt. 124 Schon in der Schrift Lebendige Gegenwart hat Held deutlich hervortreten lassen, dass am Ende des Textes die Ansicht einer Aufhebung der zwei Intentionalitäten — einer passiven und einer aktiven und damit zugleich der „Vorzeitigung“ — in Frage gestellt wird (Held, 1966, 100). 125 „In nachkommender reflektiver Aktivität, wieder vergegenständlichender, sehe ich und sage ich: Zum Wesen des Erlebnisstromes, der in sich keine eigentliche Zeitigung vollzieht und keine entsprechende Bewusstseinsleistung ist, gehört meine ständige Vermöglichkeit, ihm Intentionalität sozusagen einzuflößen. Aber die wirkliche Zeitigung ist nun nicht die des Stromes als Stromes, sondern meine, des transzendentalphänomenologischen Ich.“ (Ms. C 17, Hua XXXIV, 184)
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Ich ist wirklich und apodiktisch evident (Ms. C 17, Hua XXXIV, 181).126 Husserl wird sich jedoch im Nachhinein bewusst, dass die These einer ursprünglichen aktiven Konstitution unvermeidlich zu einem unendlichen Regress führt. Deshalb kehrt die These zurück, nach der das Strömen dem ego vorausgeht. Obwohl auch das Gegenteil zu behaupten wäre: „Der Strom ist a priori von dem Ego zu verzeitlichen. Dieses Verzeitlichen ist selbst strömendes; das Strömen ist immerzu im Voraus. Aber auch das Ich ist im Voraus, es ist als waches Ich (transzendental phänomenologisch wach) immerfort Bewusstseins-Ich. Immerfort strömt als Erlebnisstrom Bewusstsein-von (jedes Erlebnis ist Bewusstsein, erlebend irgendetwas).“ (Ms. C 17, Hua XXXIV, 181)
Einige Zeilen später bringt Husserl außerdem die vorher in Frage gestellte Ansicht einer Vorzeitigung, die mit dem urpassiven Strömen in Zusammenhang steht, wieder ins Spiel. Daraus folgt, dass die Ergebnisse aus dem Forschungsmanuskript C 16 letztlich als aporetisch zu bewerten sind. Die meisten C-Manuskripte sind nicht durch eine solche Zweideutigkeit gekennzeichnet und gehen ohne Zögern davon aus, dass die Zeitigung ihren Ursprung im passiven Strom hat. Die in C 10 vertretene Ansicht bleibt zweifelsohne die herrschende Perspektive in den C-Manuskripten: Im passiven Strömen findet die Zeitigung statt. In C 2 wird sogar behauptet, dass das Strömen „das Phänomen aller Phänomene“ ist (Ms. C 2, Mat. VIII, 1). In diesem Zusammenhang grenzt sich eine der statischen Betrachtung zugehörige Konstitution, die durch aktive Sinnbildungen entsteht, von einer passiven Konstitution ab, die aller Aktivität vorangeht (Ms. C 2, Mat. VIII, 5). Jeder Akt sowie jedes Seiende konstituiert sich im Urstrom; alle transzendentalen Fragen greifen letztlich auf den Bewusstseinsfluss zurück, in dem sich das Ich zeitigt: „Ich bin Ich — Zentrum der Ichlichkeiten, aber ich bin nur als Ich eines Feldes von assoziativ verbundenen Einheiten, in das alles ichlich Gezeitigte einströmt und assoziative Zeitlichkeit hat.“ (Ms. C 7, Mat. VIII, 122)
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„Nach den späteren Klärungen (1932) bin ich zur Überzeugung gekommen, dass es nicht zweierlei Intentionalität im eigentlichen Sinn gibt und somit im eigentlichen Sinn keine Vorzeitigung. Die wirkliche Zeitigung, die in der evidenten zeitlichen Gegebenheit des Stromes der Erlebnisse vorausgesetzt und getätigt ist, ist die des transzendental-phänomenologisierenden Ich.“ (Ms. C 17, Hua XXXIV, 181)
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Gleich danach fügt Husserl hinzu: „Das Erste ist das formal Allgemeinste des Strömens, das urtümlich stehende Strömen, darin die strömende ,Zeitigung’ des immanenten Stromes.“ (ebd., 124)
In den C-Manuskripten bedeutet die Betonung des fungierenden Ich hinsichtlich der Zeitproblematik keineswegs, dass die ursprüngliche Passivität der Erfahrung zu leugnen ist. Als weitere Bestätigung für diesen Gedanken darf man die Differenzierung zweier Arten der Retention betrachten. In den C-Manuskripten tritt eine neuartige Bestimmung der Retention in Erscheinung, die in einem engeren Zusammenhang mit dem Ich steht. Im Manuskript C 10 unterscheidet sich ein fungierendes Ich von dem gezeitigten Ich, zu dem alle vorangegangenen Icherlebnisse gehören. Während die letztere Ichform in der Zeit vorkommt, steht das erste Ich als zeitigendes außerhalb der Zeit: Es ist als überzeitlich zu betrachten (vgl. S. 210). In diesem Kontext muss auch die Artikulierung von zwei verschiedenen Aspekten der zu jedem Akt gehörigen Zeitigung beachtet werden: Einerseits hat sie die Form des urpassiven Strömens, das in der Protention, Urimpression und Retention erfolgt; andererseits zeigt sie sich in den zu dem Ur-Ich gehörigen urquellenden Aktmodi, die als Modi der Vollzugsweise zu interpretieren sind (Ms. C 10, Mat. VIII, 201). Um den Sinn von „Vollzugsweise“ im Hinblick auf die Retention zu verdeutlichen, verweise ich auf eine Textstelle, die im Forschungsmanuskript C 3 zu finden ist: „Nun kann dieses Versinken in den retentionalen Modus, statt eine bloße Akt-Passivität zu sein, wie wenn ich ein anderes in Angriff nehme und das Aktegebilde ,fahren lasse’, auch beseelt bleiben von Aktivität.“ (Ms. C 3, Mat. VIII, 45)
In diesem Sinn wird eine „aktive Retention“ erwähnt, welche die Gestalt des „Noch-Nicht-ganz-Fahren-Lassens“ annimmt (ebd.). Das Ich kann demgemäß in den Retentionen fungieren, indem seine Aufmerksamkeit auf das Soeben-Gewesene gerichtet bleibt. Dieser Unterschied zwischen einer passiven und einer aktiven Retentionalität kommt noch klarer im Forschungsmanuskript C 13 zur Sprache: „Die einzelnen Aktivitäten vereinheitlichen sich schon durch die ichliche Retentionalität, die erste, die des Noch-Habens, Behaltens ohne eigene Aktivität. So Behaltenes
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entsinkt aber dem Griff wieder. Demgegenüber schafft Einheit eines Interesses Behalten als Festhalten [ ].“127 (Ms. C 13, Mat. VIII, 280)
Auch im Manuskript C 17 tritt die gleiche Differenzierung ein: Das passive Erleben der retentionalen Modifikationen grenzt sich von der aktiven Leistung des Erfassens sowie des Behaltens ab, eine Leistung, die sich in der „passiven Retentionalität“ abspielt und den Identifikationsprozess ermöglicht. Husserl zielt zweifelsohne darauf ab, das „sich Fortbeschäftigen“ des Ich mit den retentional modifizierten Daten von dem passiven Strömen abzusondern. Es ist aber entscheidend festzuhalten, dass dieses Strömen nicht Vor-Bedingung, sondern Fundament der aktiven Art von Retention ist: Die urpassive Retentionalität ist keine konstitutive durch Abstraktion entstandene Schicht, sondern ein selbständiges Phänomen, in dem die aktive, von Interesse geleitete Retention erscheinen muss. Die aktive ichliche Retention setzt aus Wesensgründen die urpassive voraus. Der Bewusstseinsfluss ist dementsprechend als Urphänomen anzusehen, in dem eine echte Zeitigung stattfindet. 2.2.2. Die Urzeitigung des fungierenden Ich
Nachdem ich die urkonstituierende Rolle des Bewusstseinströmens hervorgehoben habe, gilt es näher zu betrachten, wie der Urstrom in den C-Manuskripten neu aufgefasst wird. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf den Urstrom die Differenzierung zwischen ichlicher und nicht-ichlicher Seite in den Vordergrund rückt: „Konstitution von Seiendem verschiedener Stufe, von Welten, von Zeiten, hat zwei Urvoraussetzungen, zwei Urquellen, die zeitlich gesprochen (in jeder dieser Zeitlichkeiten) immerfort ihr ,zugrunde liegen’: 1) Mein urtümliches Ich als fungierendes Ur-Ich in seinen Affektionen und Aktionen, mit allen Wesensgehalten an zugehörigen Modis; 2) mein urtümliches Nicht-Ich als urtümlicher Strom der Zeitigung und selbst als
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Dass die erste Art von Retentionen als ichlich bezeichnet wird, ändert nichts an ihrem passiven Charakter. Hier ist nicht von einer Noch-Geltung die Rede, sondern von der ursprünglichen retentionalen Funktion des Im-Griff-Behaltens. Aus diesem Grund gehe ich davon aus, dass, — im Gegensatz zu Kortooms — die in C 10 und in C 13 herausgestellte Unterscheidung zwischen zwei Arten von Retention denselben Sachverhalt betrifft.
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Urform der Zeitigung, ein Zeitfeld, das der Ur-Sachlichkeit, konstituierend. Aber beide Urgründe sind einig, untrennbar und so für sich betrachtet abstrakt.“ (Ms. C 10, Mat. VIII, 199)
Zu dem Urphänomen des Strömens muss man das Gegenüber von „Ich“ rechnen. Obwohl sich das hyletische Universum konstituiert, ohne dass das Ich daran aktiv beteiligt ist128 , gilt es hervorzuheben, dass das Ich irgendwie „immer dabei ist“: Mit der hyletischen Schicht ist beständig „eine ichliche Schicht der verzeitlichten Affektionen und Aktionen“ verflochten (Ms. C 10, Mat. VIII, 200). Das Gegenüber verweist auf ein anonymes Ich, dem das Begegnende erscheint: „Jeweils ist ,alles, was für mich ist’ urphänomenal strömend gegeben — dieses ,Wasfür-mich-ist’ besagt: aktuell für mich da sein, darauf gerichtetsein, mir gegenüber, jedoch so, dass [das] Ich, dem all, das gegenüber ist, ,anonym ist’ [ ].“ (Ms. C 2, Mat. VIII, 2)
Wenn ich mich auf dieses anonyme Ich richte, dann ist „wieder gespalten das Gegenüber, in dem das Ich auftritt mitsamt dem, was ihm gegenüber war, also ihm gegenüber das gegenüber auftretende Ich und sein Gegenüber. Dabei bin ich, das Subjekt dieses neuen Gegenüber, ,anonym’.“ (Ms. C 2, Mat. VIII, 2) Das anonym fungierende Ich bleibt sich selbst in seiner Lebendigkeit prinzipiell unzugänglich. Es kann nur im Nachhinein durch einen reflexiv gerichteten Akt erfasst werden. Damit verschiebt sich jedoch zugleich das Funktionszentrum, indem das fungierende Ich seinerseits bezüglich dieser neuen Urpräsenz anonym bleibt und nur durch einen weiteren Akt wiederum zur Erfassung kommen kann. Demgemäß zeichnet sich deutlich ein Prozess der Selbstspaltung des Ich ab: Einerseits fungiert anonym und im beständigen Wandel das Ur-Ich und andererseits konstituiert sich das gezeitigte Ich, das auch das Ich-Fremde mit einschließt: „Immer ist zu scheiden der fungierende Pol im urlebendigen Akte (der seiend, und das heißt fungierend, eine Gegenwart für sich stiftet, aber nicht selbst eine Gegen-wart, ein Jetzt, das gegenübersteht, bedeutet) und der zum Gegenüber gewordene und als das nicht 128
„Urströmendes und urkonstituierendes Nicht-Ich — ist das das hyletische Universum je sich konstituierend und stets schon konstituiert habend, ein zeitigend-zeitliches Urgeschehen, das nicht aus Quellen des Ich, das also ,ohne Ich-Beteilung statthat’?“ (Ms. C 10, Hua, Materialien VIII, 200)
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mehr lebendige Pol, der für einen neuen, urlebendigen Pol da ist: aber das Neue ist doch der selbe, absolut identische Pol in neuem urlebendigen Funktionieren.“ (Ms. E III 2, 34a)
Wie der letzte zitierte Satz hervorhebt, ist es erforderlich, nicht nur das fungierende, unreflektierte cogito des Ich vom thematisierten Ich zu unterscheiden, sondern auch dank weiterer Reflexionen höherer Stufe zu erkennen, dass das eine und das andere Ich, obwohl in unterschiedlichen Gegebenheitsweisen, dasselbe Ich sind: „So reflektierend und immer wieder reflektierend finde ich immer wieder gegenüber Seiendes und Ich, finde dasselbe Ich in diesen Reflexionen, finde das Immerwieder des Reflektierens und des Reflektierenkönnens selbst als Gegenüber des Ich, das ein und dasselbe ist, wie es auch immer gegenüber gesetzt sein und zu dem dabei anonymen Ich reflektiert werden mag. Ich finde in diesem beständigen Sichspalten des Ich und sich immer wieder Identifizieren ein Ur-Ich, das ich als Urpol, als ursprünglich fungierendes Ich bezeichne, und das dem Ur-Ich zum Gegenüber, zum seienden gewordene Ich und den Umkreis dessen, was für dieses und für mich als anonymes Ich als Nicht-Ich da ist, darunter die Welt außer mir [ ].“ (Ms. C 2, Mat. VIII, 2)
Husserl bezeichnet die lebendige Gegenwart als vorzeitlich oder als überzeitlich, wenn er den fundamentalen Unterschied zwischen dem ursprünglichen Urquellen der Zeit, welches aus Wesensgründen außerhalb der Zeit liegt, und dem, was sich dadurch konstituiert, hervorheben will.129 Die lebendige Gegenwart hat eine einzigartige Natur: Zum einen geht sie als zeitigender Urwandel über die Zeit hinaus; sie bleibt in ihrer VorZeitlichkeit bzw. in ihrem lebendigen Fungieren sich selbst entzogen.130 Zum anderen verleibt sich der immanenten Zeit der zeitigende Urwandel ein. Wenn wir den Prozess des Sichspaltens des Ich berücksichtigen, wobei das fungierende Ich zum thematischen wird, wird deutlich, dass derselbe Urwandel sich zeitigt und dadurch in die immanente Zeit fällt: 129
„Natürlich hat es keinen Sinn, das Ich als zeitlich zu betrachten. Das Ich ist überzeitlich, es ist der Pol von Ich-Verhaltungsweisen zu Zeitlichem, es ist das Subjekt, das sich zu Zeitlichem verhält, das die unendliche Zeit unter sich hat als Rahmen für alle seine Themen möglichen Verhaltens.“ (Ms. E III 2, 25a) 130 „Das Ich in seiner ursprünglichsten Ursprünglichkeit ist nicht in der Zeit — hier der beständig als lebendige urmodale Gegenwart sich zeitigenden gezeitigten Gegenwart.“ (Ms. C 10, Mat. VIII, 197)
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„Die erwerbende Zeitigung ist nicht das Gezeitigte, hier das Immanente. Nun aber ist das Paradox, dass auch die Zeitigung sich zugleich selbst verzeitigt, dass lebendige Gegenwart selbst wieder, als gegenwärtige lebendige Gegenwart, in soeben lebendige Gegenwart kontinuierlich überleitet.“ (Ms. C3, Mat. VIII, 50)
Im Folgenden werde ich versuchen, den Sinn der Anonymität des fungierenden Ich zu vertiefen. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist es m. E. erforderlich, die Rolle der Affektion im Hinblick auf die Vorzeitigung eingehend zu analysieren. 2.2.3. Affektion und lebendige Gegenwart. Die urkonstituierende Funktion der Affektion im Hinblick auf die Vorzeitigung des fungierenden Ich
In der Husserl-Forschung ist das Phänomen der Affektion bisher fast ausschließlich innerhalb des Bereiches der passiven Gegenstandskonstitution untersucht worden. Auch in der jüngsten Literatur zur Zeitproblematik bei Husserl — wie z. B. in der schon zitierten Schrift Phenomenology of Time (Kortooms, 2002, 273) — spielt die Affektion im Hinblick auf die Bestimmung der lebendigen Gegenwart sowie des fungierenden Ich keine besondere Rolle. Das könnte auch damit zusammenhängen, dass Klaus Held in seiner bis heute wichtigen und immer wieder zitierten Analyse Lebendige Gegenwart, welche seit den sechziger Jahren die Forschung zu den C-Manuskripten stark beeinflusst hat, die Affektion als eine Art von ichlicher Zuwendung interpretiert hat, welche, streng genommen, nicht zur Zeitproblematik gehört (Held, 1966, 27). Der folgende Interpretationsversuch zielt dagegen darauf ab zu zeigen, dass bezüglich der ursprünglichen Zeitigung die Affektion eine urkonstituierende Funktion erfüllt: Die Affektion bestimmt nichts weniger als den Kern der lebendigen Gegenwart, indem sie innerhalb der urhyletischen, vor-ichlichen Sphäre fungiert bzw. vor-fungiert. Zuerst ist es jedoch angebracht, auf die verschiedenen Formen der Affektion aufmerksam zu machen. In der Wachsphäre berührt uns die Affektion auf unterschiedliche Weise: 1. Wir können von einem bestimmten Interesse, z. B. von einem gerade lebendigen Berufsinteresse geleitet sein, welches uns besonders sensibel für die dem Interesse nahe stehenden Affektionen macht. In diesem Fall ist die aktuelle Tätigkeit entscheidend für den „Empfang“ des Affizierenden.
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2. Es ist auch möglich, dass von einem Hintergrund eine Affektion ausgeht, „die das Ich als Person eines anderen seiner habituellen Interessen weckt, was für es z. B. als Vater, als Bürger von Interesse, wichtig ist, bedeutsam ist.“ (Hua XV, 55) 3. Schließlich kann sich die Affektion als „bloße roheste Störung“ zeigen, die außer Beziehung zu irgendeinem Interesse steht, wie z. B. „eine Explosion, bevor noch eine Apperzeption sie bedeutsam macht.“ (Hua XV, 54–5) Im letzteren Fall erscheint ein Ereignis — eine Explosion —, bevor es eine Sinngebung erfährt. Die Affektion ist demnach ein Phänomen, das uns den Auftritt von etwas Noch-nicht-Bedeutsamem bekundet. Die Bestimmung einer solchen Nicht-Bedeutsamkeit darf aber nicht missverstanden werden. Sie bedeutet nicht den Mangel einer Bedeutsamkeit. Die Explosion ist vielmehr deshalb nicht bedeutsam, weil sie überbedeutend ist. Was mich affiziert, konstituiert sich nicht als Gegenüber: Sie ist zunächst überbestimmt. Das Ich kann zuerst keine Distanz zum Affizierenden finden, eine Distanz, welche als eine unumgängliche Bedingung für die intentionale Korrelation zwischen Noesis und Noema anzusehen ist: Es kann sein, dass ich sogar nicht weiß, ob ich durch die Explosion verletzt worden bin.131 Wenn wir jetzt den oben unter Punkt 2 aufgeführten Fall in Betracht ziehen, muss hinzugefügt werden, dass das Ich hierbei durch die Affektion zum Tun „angerufen“ wird: „Das Ich, das getan hat und von daher Erwerbe hat, eine in ihm verharrende Geltung als Modifikation der ursprünglich tuenden, wird geweckt zur Reaktivierung.“ (Ms. C 16 Mat. VIII, 350)
Im Laufe des Manuskriptes C 16 wird diese Art von Affektion ganz anders dargestellt als in den Vorlesungen zur „transzendentalen Logik“ aus dem WS 1920/21, in denen sie durch eine unaufhebbare Nachträglichkeit bestimmt ist, die mit dem antwortenden Ich im Zusammenhang steht (vgl. S. 72 ff.). Im Forschungs-Manuskript C 16 wird die Affektion auf das Gefühl zurückgeführt. Der hyletische Inhalt affiziert das Ich durch das Gefühl: 131
Man denke an die Bombenopfer, die nach einer Explosion ihren eigenen Körper betasten, um zu erfahren, ob alle Körperteile vorhanden sind.
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„Gefühl als ,Anziehendes’ und ,Abstoßendes’; die inhaltliche Abhebung bloße Bedingung der Affektion, nicht eigentlich affizierend: also das Gefühl affiziert in der Weise der ,Anziehung.“ (Ms. C 16, Mat. VIII, 351, m. H.)
Berücksichtigt man, dass das Gefühl als ichlich bezeichnet wird, während das Inhaltliche zur ichfremden Seite gehört, dann liegt es nahe, dass dieser Ansatz die Ergebnisse der Vorlesung zur transzendentalen Logik aus dem WS 1920/21 in Frage stellt. Wenn der hyletische, ichfremde Inhalt das Ich im Gefühl affiziert, „dann ist Affektion kein Anruf, auf den das Ich durch Zuwendung oder Nicht-Zuwendung antwortet, antwortet mit einem Aktus. Der Inhalt fundiert das Gefühl, und mit dem Inhalt ist das Gefühl da.“ (Ms. C 16, Mat. VIII, 351) Das Gefühl ist in einem nicht durch Affektion entstandenen, sondern ausschließlich aus der Abhebung stammenden Inhalt fundiert. Der Terminus „fundieren“ ist hierbei erklärungsbedürftig. Damit ist das Folgende gemeint: Sobald ein Inhalt eintritt, gewinnt er einen bestimmten affektiven Charakter, der den Gefühlen entstammt: „Das ,Ansprechen’ des Inhaltes sei nicht Anruf zu etwas, sondern ein fühlendes Dabei-Sein des Ich, und zwar nicht erst als ein Dabei-Sein durch Hinkommen und Anlangen. Das Ich ist nicht etwas für sich und das Ichfremde ein vom Ich Getrenntes und zwischen beiden ist kein Raum für ein Hinwenden. Sondern untrennbar ist Ich und sein Ichfremdes, bei jedem Inhalt im Inhaltszusammenhang und bei dem ganzen Zusammenhang ist das Ich fühlendes.“ (Ms. C 16, Mat. VIII, 351 f.)
Allein den Gefühlen wird die Funktion zugeschrieben, den hyletischen Inhalten einen affektiven Charakter zu verleihen. In dieser Beschreibung findet sich keine Zeitverschiebung zwischen der ichfremden und der ichlichen Seite, sondern ein durch Gleichzeitigkeit bestimmtes Verhältnis: Das fühlende Ich ist unmittelbar beim Nicht-Ich. Aus dieser Perspektive ist die Affektion demnach nicht mehr wie im Husserliana-Band XI als urkonstituierendes Phänomen zu betrachten. Diese Auffassung widerspricht allerdings der Bestimmung der Beziehung zwischen Affektion, Abhebung und Kontrast, die nicht nur im Husserliana-Band XI, sondern auch in den C-Manuskripten vorherrschend ist. Darüber hinaus stößt sie auf unüberwindliche Schwierigkeiten hinsichtlich der oben unter Punkt 3 aufgeführten Form der Affektion. Wie kann eine von den Gefühlen her verstandene Affektion einer bloß rohesten Störung, wie einer Explosion, gerecht werden, die notwendig von Außen stammt? (Hua XV, 54 f.)
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Die meisten Manuskripte aus den dreißiger Jahren distanzieren sich jedoch von der oben aufgezeigten Auslegung des Verhältnisses zwischen Affektion, Abhebung und Gefühlen (vgl. Ms. C 3, C 10, C 13). Sie stehen in Kontinuität mit dem im Husserliana-Band XI geschilderten Ansatz, dem zufolge die Affektion den hyletischen Daten vorausgeht: Die zeitverschobene, vom Außen her kommende Affektion ist der Ausgangspunkt des konstitutiven Prozesses. Das Affiziertwerden macht — auf einer elementaren Ebene — die erste Erfahrung des „Fremden“ aus, auf den das Ich antwortet.132 Der antwortende Charakter des Ich kommt deutlich durch die Analyse des Forschungsmanuskriptes E III 9 zum Vorschein, in dem die Beziehung zwischen Instinkt und Affektion untersucht wird. Diesem Text zufolge können nur dann Instinkte wach werden, wenn sie von einer vorangehenden Affektion getroffen sind: „Sie [die Instinkte] werden ,der Reihe nach wach’, das sagt, von den im Urboden sich konstituierenden Einheiten gehen auf den Ichpol Affektionen aus.“ (Ms. E III 9, 4a) Das Ich antwortet dann auf die Affektionen mit seinen Zielsetzungen, Wünschen, Bedürfnissen usw.133
132
Im Hinblick auf das oben Ausgeführte erscheint mir die von Nam-In Lee in der Schrift Phänomenologie der Instinkte vorgeschlagene Interpretation nicht gerechtfertigt. Lee hält nicht nur zwei verschiedenartige Bestimmungen des Verhältnisses zwischen dem affizierenden Inhaltlichen und dem Ich auseinander, sondern unterscheidet diesbezüglich zwei verschiedene Konstitutionsstufen. Auf einer Stufe nehme dieses Verhältnis die Gestalt der Affektion und der Antwort an. Zwischen der ichlichen Seite (Kinästhesen, sinnlichen Gefühlen und vorstellenden Intentionen) und der hyletischen Seite (Empfindungshyle) bestehe hier ein Spalt, der die ichliche Antwort ermöglicht. Demgegenüber sei die tiefere Ebene auszumachen, auf der sich zwischen Ich und Affizierendem kein Spielraum, keine Zeitverschiebung zeigt. Im Zusammenhang der Diskussion dieser tieferen Ebene verweist Lee auf das oben zitierte Forschungsmanuskript C 16, in dem das Ich unmittelbar, und zwar gefühlsmäßig, beim Nicht-Ich ist. Meiner Meinung nach ist diese Interpretation deswegen irreführend, weil die oben zitierten Manuskripte (C 16 und E III 2) den gleichen bzw. sich auf der gleichen Stufe abspielenden Konstitutionsprozess beschreiben; sie versuchen lediglich, verschiedene Zugänge zu demselben Phänomen zu finden. 133 „Das Ich ,reagiert’, antwortet auf die Affektion und mit Erfüllungsgestalten der Begehrungen erwachsen intentionale Ziele — Konstitution von Einheiten verschiedener Stufe, unterste Stufe ,Natur’, Stufe der Leiber, und der Anderen, und das instinktive Substrat für subjektiv Bedeutsames, für Nahrung, für Geschlechtswertung,
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Es gilt jetzt, die urkonstituierende Funktion der Affektion im Hinblick auf die Vorzeitigung des fungierenden Ich näher zu bestimmen. Das Ich setzt die Affektionsstrahlen voraus, die seine Aufmerksamkeit erwecken. Nur dadurch konstituiert sich das identische Ich, das sich selbst zeitigt bzw. ontifiziert (Ms. C 10, Mat. VIII, 185–187). Im urtümlichen Strom gliedert sich das Ich in Ich-Affektion und Ich-Aktion (Ms. C 10 Hua, Mat. VIII, 183). Schon in der Konstitution des Vor-ontischen entdeckt Husserl die Zweiseitigkeit des Lebensstroms: Einerseits zeigt sich die ichfremde Seite als das Affizierende und andererseits nimmt die ichliche Seite die Gestalt der Antwort auf das Affizierende an. Es ist nicht nur erforderlich, die Mannigfaltigkeit der fungierenden, affizierenden Akte vom fungierenden Ich als identischem Ich-Pol zu unterscheiden, sondern es gilt auch, ihr gegenseitiges Verhältnis hervorzuheben. Dank der Thematisierung der Akte durch Reflexion wird sowohl der identische Ich-Pol als auch — vermittels einer tieferen, zurückgehenden Reflexion — „die Identität zwischen fungierendem und thematischem Ich thematisch.“ (Ms. C 10 Mat. VIII, 190). In diesem Kontext wird ein allgemeines Wesensgesetz festgestellt, das für alle Formen des Affizierenden gilt: „Dass das Affizierende vor dem Thematischwerden bewusst war, ist Ergebnis nachkommender Reflexion und Identifizierung.“ (Ms. C 10, Hua Mat. VIII, 190) Nur durch Reflexion weiß ich davon, dass das Affizierende mich irgendwie schon berührt hat und dass das thematische Ich ein fungierendes Ich hinter sich hat. Gleich danach greift Husserl auf das Verhältnis zwischen Thematisiertem, fungierendem Ich und Affektion zurück und präzisiert zugleich den Sinn des Vorbewusstseins. Zuerst wird die These aufgestellt, dass das unterste, tiefste Moment der Urgegenwart im Thematischen besteht, welches nichts vom Ichlichen einschließt. Das Ich ist in Thematisches vertieft, fast in diesem verschwunden. Eine tiefere Untersuchung zeigt jedoch, dass dasselbe Thematische das fungierende Ich impliziert: Der Akt geht — aus Wesensgründen — aus dem Ich hervor, das ausschließlich im Nachhinein zu erfassen ist, während es beim Vollzug des Aktes anonym bleibt: „In dieser an sich ersten Thematik ist das thematisierende Ich anonym mitsamt seinen Akten.“ (Ms. C 10, Freunde, Feinde, Genossen, Nutzobjekte, dienende Menschen und Tiere.“ (E III 9, 4a) Diesbezüglich vgl. C 16, Mat. VIII, 308.
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Mat. VIII, 190) Noch wichtiger ist hervorzuheben, was Husserl gleich danach hinzufügt: „Nun ist die Thematik geradehin selbst abkünftig, nämlich von einer Affektion geradehin und diese von einer voraffektiven Weise der ,Vor-Bewusstheit’ dessen, was Affektion übt.“ (Ms. C 10, Mat. VIII, 190–191)
Was sich als unterstes Moment der lebendigen Gegenwart zeigte — bzw. das Thematische —, hat seinerseits eine Geschichte hinter sich: Es ist einer Genesis unterworfen, welche die Rolle der Affektion besonders herausstreicht. Nicht nur das thematische, sondern auch das fungierende Ich ist auf die Affektion angewiesen. Ist die Reizkraft sehr schwach, dann ist es nicht möglich, dass sich das Ich dem Gegenstand zuwendet, und zwar, dass es als fungierendes auf das Thematische gerichtet ist: „Wir müssen dann auch aufweisen, [ ] dass die Ontifizierung des Ich immer schon Ich in Funktion voraussetzt, das seinerseits der Affektion bedarf, um zu fungieren und auch für die Ich-Ontifikation zu fungieren.“ (Ms. C 10, Mat. VIII, 187, m. H.)
Nach dieser entscheidenden Textstelle impliziert zum einen das thematische das fungierende Ich, zum anderen setzt das fungierende Ich seinerseits eine vorangegangene Affektion voraus. Die vor-ontische Konstitution nimmt die Affektion in Anspruch. Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich diese ursprünglich konstituierende Affektion als „urzeitigende“ bezeichnen, um sie von der anderen bzw. der in der immanenten Zeit gezeitigten zu unterscheiden. Der Begriff des „VorSeins“ erschöpft sich nicht in der aktuellen Uneinholbarkeit des lebendigen fungierenden Ich, das sich selbst in jeder urquellenden Gesamtphase entzieht. Das Vor-Sein impliziert ständig die Funktion der Affektion. Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass sich in dem neuen Zusammenhang — und zwar in Hinblick auf die lebendige Gegenwart und auf das fungierende Ich — die Konfiguration der Affektion kaum verändert: Im Forschungsmanuskript C 10 wird die Artikulierung der verschiedenen Formen der Affektion bestätigt, die im Zusammenhang mit der passiven Synthesis dargestellt wurde (vgl. S. 69 f.): 1. Eine unbewusste, dem Grad Null entsprechende — und keine Abhebung habende — Affektion unterscheidet sich 2. vom Unbeachteten, das, obwohl schon affizierend, merklich ist, nicht mit seiner Stimme durchdringt. 3. Darüber hinaus gibt es das Affizierende, dem sich das Ich
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zuwendet, während es aber noch etwas anderes zu tun hat (Ms. C 10, Mat. VIII, 191–193). Die erste Art von Affektion ist keineswegs ein einzelnes Vorkommnis, sondern ein Reich. Von diesem Reich ist im Plural die Rede: Husserl spricht von vornherein von unmerklichen Affektionen. Nicht nur alle vorangegangenen, sondern alle existierenden Affektionen in ihrer Unabgehobenheit verschmelzen zu einem totalen Null, zu einer „stummen Nacht“, die keinen Reiz ausübt. Gleichzeitig ist diese affektive Nacht die Voraussetzung für den Akt des Ich als Antwort. Nur innerhalb eines affektiven Reiches der Unabgehobenheit kann sich eine Affektion durchsetzen und alles andere schon merklich Gewordene übertönen. Innerhalb dieser affektiven Nacht des Unbewussten findet demnach ein Kampf zwischen den abgehobenen merklichen, zu den verschiedenen Sinnfeldern gehörigen Affektionen statt, die das Ich anrufen: „Aber aus dieser ,Nacht’, dieser leeren Stelle können jeweils Stimmen vorbrechen dadurch, dass die Null-Kraft einer Affektionskomponente Kraftzuwachs erfährt.“134 (Ms. C 10, Mat. VIII, 192)
Aus dieser Perspektive fungiert die Affektion — um einen Husserl’schen Ausdruck zu verwenden — als innerer Motor der Zeitlichkeit. Der Ursprung der Zeit ist in der Dimension zu finden, die zwischen dem von der zeitverschobenen Affektion eingeschalteten zeitkonstituierenden Prozess und der Zeitigung des fungierenden Ich liegt. Das Ziel der in diesem Abschnitt durchgeführten Untersuchungen besteht keineswegs darin, eine vollständige Analyse der Bernauer und der C-Manuskripte zu liefern. Ihr Ausgangspunkt lag in der folgenden These: Es gibt keine eindeutige Bestimmung des absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseins (vgl. S. 188 ff.). Wenn man das zeitkonstituierende
134
Im Rahmen des oben Ausgeführten muss die Art und Weise unterschieden werden, wie die bestehende Beziehung zwischen Affektionen im Reich des Unbewussten und in dem Falle, dass sie schon einen Kraftzuwachs gewonnen haben, aussieht. Im ersten Fall verschmelzen sie zu einem Null, im zweiten hemmen sie sich gegenseitig, um das Ich zu erwecken.
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Bewusstsein bei Husserl ausschließlich als universale und feste Form betrachtet, die durch das allgemeine Gesetz des Überganges der Urimpression in die Retention charakterisiert ist, geht man das Risiko ein, etwas Entscheidendes zu verfehlen, und zwar die Tatsache, dass Husserl sich ständig auf vielfältige Zugänge eingestellt hat, um dem Phänomen des letzten absoluten zeitkonstituierenden Bewusstseins gerecht zu werden: Die „feste“ Form ist vielfältigen Wandlungen unterworfen worden. Selbst der universale und notwendige Übergang der Urimpression in die Retentionen erhält in den unterschiedlichen Kontexten eine andere und neue Bedeutung (eine genetische z. B. in den Bernauer Manuskripten). 2.3. Vielfalt und Verschiebung der Zeit bei Husserl Die These von einer Pluralität der Zeit tritt in den Husserl’schen Schriften mehrfach auf. In vielen Texten ist von der Zeit im Plural die Rede (z. B. Hua X Text Nr. 54, Hua XI § 27, Hua XXXIII Text Nr. 11). Angesichts der Vielfalt der Zeit versucht Husserl, die Art und Weise zu verdeutlichen, wie innerhalb eines universalen Tempos die Erlebnisse bzw. Bewusstseinsflüsse eine bestimmte, einzigartige Position einnehmen. Mit dem Ausdruck „Pluralität der Zeit“ ziele ich dagegen darauf ab, einen tieferen Aspekt der Zeitlichkeit zum Vorschein zu bringen. Mit diesem Ausdruck beziehe ich mich nicht auf die Zeitstelle, die zur einen schon gestifteten Ordnung gehört, sondern auf die einzigartige, unermessliche Zeitigung, welche jeder (echten) Erfahrung innewohnt. Jede Erfahrung verkörpert die Zeit in einer unverwechselbaren Weise (vgl. Micali, 2004, 2007, 2008). Die Verflechtung zwischen Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart artikuliert sich in der Langeweile ganz anders als im Phänomen der Hoffnung oder in der Verzweiflung.135
135
In dem Aufsatz „Zeitverschiebung“ hat Waldenfels (2003) in dieser Richtung heterogene Zeiterfahrungen untersucht, wie 1. die Zeitlichkeit der Rede, 2. die Zeit der Sinne, 3. die Zeit des Erinnerns und des Vergessens und 4. die Zeit des Anderen. Mit dem Ausweis der vielfältigen Zeiterfahrungen findet eine Vertiefung des Entformalisierungsprozesses statt, der für die gegenwärtige hermeneutisch-phänomenologische Zeituntersuchung charakteristisch ist (vgl. Lévinas, 1991, 94, dt. 95; vgl. Micali, 2008). Hierbei ist es außerdem wichtig, ein mögliches Missverständnis auszuräumen. Die These der Pluralität der Zeitlichkeiten zielt keineswegs darauf ab, das Faktum einer den verschiedenen Zeiterfahrungen gemeinsamen Zeit in Frage zu stellen. Es ist aber
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Um diesen Ansatz, nach dem jede Erfahrung ihre eigene Zeitlichkeit hat, verständlich zu machen, scheint es mir angebracht, folgende heterogene Phänomene kurz zu skizzieren: 1. die Schlaflosigkeit, 2. das Versprechen, 3. den christlichen Glauben. Zu 1. Um den zeitlichen Sinn der Schlaflosigkeit konkret darzulegen, kann man auf die in Le temps et l’autre vollzogene Analyse von Lévinas zurückgreifen: „Die Schlaflosigkeit besteht aus dem Bewusstsein, dass es nie mehr enden wird, das heißt, dass es keinerlei Mittel mehr gibt, sich aus der Wachsamkeit, zu der man verpflichtet ist, zurückzuziehen. Wachsamkeit ohne irgendein Ziel. In dem Augenblick, in dem man an sie gefesselt ist, hat man jeden Begriff ihres Ausgangs- oder ihres Ankunftspunktes verloren. Die an die Vergangenheit angeschweißte Gegenwart ist voll und ganz Erbe dieser Vergangenheit, sie macht nichts neu. Es ist immer dieselbe Gegenwart oder dieselbe Vergangenheit, die dauert. Eine Erinnerung — das wäre schon eine Befreiung hinsichtlich dieser Vergangenheit. Hier geht die Zeit von nirgendwo aus, nichts entfernt sich oder verschwimmt.“ (Lévinas, 1979, 27, dt. 23–24)
Die Schlaflosigkeit ist eine zeitliche Erfahrung, in der keine Unterbrechung auftaucht, wo sich die von Husserl hervorgehobenen Kontrastphänomene nicht zeigen. Nur der Straßenlärm kann einige Grenzpunkte in dieser zeitlichen Erfahrung setzen, die ohne Anfang und ohne Ende zu sein scheint. Zu 2. Die Zeiterfahrung des Versprechens ist in der Schrift Vielstimmigkeit der Rede von Waldenfels untersucht worden. Im Versprechen findet eine besondere Verdoppelung der zeitlichen Dimensionen statt: Es gibt eine Zeit des Gesagten und eine Zeit des Sagens. In diesem angebracht, die folgende Vorgehensweise zu verfolgen: Zuerst muss man von den unterschiedlichen Zeiterfahrungen ausgehen und dann kann man auf das Problem ihrer Einheit in der Zeit (ihre Koexistenz, ihre gegenseitige Anknüpfung, etc.) eingehen. Wenn man direkt von der Einheit der Erfahrung ausgehen will, ist es fast unvermeidlich, in einen formalistischen Ansatz zu geraten, welcher die Eigentümlichkeit und Vielfalt der zeitlichen Phänomene außer Acht lässt. Darüber hinaus ist es auf diesem Wege ausgeschlossen, die gemeinsame Zeit als solche zu erfassen. Jeder direkte Zugang zu der gemeinsamen Zeit ist verschlossen. Man kann nur versuchen, die Dimension der gemeinsamen Zeit innerhalb einer bestimmten Zeiterfahrung aufzuspüren.
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Zusammenhang wird das folgende Beispiel angeführt: Ich verspreche dir, dass ich dir morgen das Buch mitbringen werde. Zwischen den Verben besteht eine klare zeitliche Divergenz: Das eine Verb steht im Präsens, das andere im Futur. Eine solche zeitliche Verschiebung muss nicht im Sinne einer Ereignis-Kette interpretiert werden, sondern als ein Ereignis, das ein Zeitfeld eröffnet: „Doch als performatives Geschehen tritt das Versprechen keineswegs früher auf als das Versprochene, natürlich auch nicht später, es kommt überhaupt nicht in der Zeit vor, etwa im Bereich des Zukünftigen oder Vergangenen, da es dazu beiträgt, allererst ein Zeitfeld zu eröffnen bzw. andere Zeitfelder zu verschließen.“ (Waldenfels, 1999, 59)
In diesem Kontext muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass es eine verschiedene Zeitigung der Zeit sowohl für denjenigen gibt, der ein Versprechen gemacht hat, als auch für denjenigen, dem es gemacht wurde. Zu 3. Die Struktur der Zeit des christlichen Glaubens ist meines Erachtens noch komplexer als die proleptische, die von Theunissen in der Schrift Negative Theologie der Zeit vorgeschlagen wurde. Nach Theunissen definiert sich die Gegenwart im Anschluss an das Ankommen des Gottesreiches: „Das Gottesreich naht und ist schon da. Es ist, obwohl es erst naht, bereits ,herbeigekommen’ (Mk 1, 15). Es ist künftig und gegenwärtig zugleich.” (Theunissen, 1991, 326) Theunissen interpretiert die Gleichzeitigkeit der Zukunft und der Gegenwart auf folgende Weise: Keineswegs muss eine Relativierung der Zukunft zustande kommen, deshalb bleiben Verheißung und Erfüllung zu unterscheiden. „Aber im Noch-Nicht der Erfüllung ist die Verheißung selbst schon Erfüllung. Vermag auch der in der Gegenwart lebende Mensch das Kommen des Gottesreiches subjektiv nicht zu antizipieren, so ist doch die Gegenwart in sich seine Nähe und damit seine objektive Antizipation.“ (Theunissen, 1991, 326)
Schon in der Erwartung des Gottesreiches ereignet sich eine Erfüllung. Diese zeitliche Struktur wird als proleptische bezeichnet: „Die Gegenwart besitzt eine proleptische Struktur, sofern das, was in ihr vorfällt, durch den Vorfall der Zukunft in sie bestimmt ist.“136 136
Hierbei möchte ich darauf hinweisen, dass die von Theunissen durchgeführte Analyse der Zeitlichkeit des christlichen Glaubens in klarer Analogie zu den Thesen steht,
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Eine Analyse von Markus 11, 24 kann dennoch zeigen, dass der Glaube nicht nur proleptisch ist, sondern auch einen eigentümlichen Bezug auf die Vergangenheit impliziert. Im Glauben kommt eine paradoxe Beziehung zwischen Zukunft und Vergangenheit zustande. In Markus 11, 23 und 24 sagt Jesus: „Wer immer zu diesem Berge sagt: Auf! Stürze dich ins Meer! und dabei in seinem Herzen nicht zweifelt, sondern glaubt, dass geschieht, was er sagt, so wird es ihm eintreffen. Darum sage ich euch: Alles, worum ihr betet und bittet, glaubt, dass ihr es empfangen habt, so werdet ihr es bekommen.“
Das Zustandekommen des Gebetes hängt damit zusammen, wie wir glauben bzw. damit, dass wir im Glauben das Zukünftige als Vergangenheit behandeln: Wenn wir glauben, dass wir das, worum wir beten, schon empfangen haben, dann werden wir es bekommen. Man muss an eine Zukunft glauben, die sich nur ereignen kann, wenn sie als Vergangenheit angesehen wird.137 Kommen wir jetzt auf Husserls Phänomenologie zurück. Erschöpft sich die Husserl’sche Zeitanalyse tatsächlich in der Bestimmung einer universalen Form? Oder hat sie sich auf vielfältige Zugänge eingestellt, um die Eigentümlichkeit der unterschiedlichen Zeiterfahrungen zum Ausdruck zu bringen? Es ist unbestreitbar, dass die Husserl’sche Phänomenologie bezüglich grundwesentlich verschiedener Zeitlichkeiten entscheidende Beiträge geleistet hat. Man denke z. B. an die Analyse der Wiedererinnerung sowie an die genaue Unterscheidung zwischen der Wiedererinnerung und der Retention, eine Unterscheidung, die von Ricœur als eine der zwei größten Entdeckungen der Husserl’schen Phänomenologie der Zeit bewertet wird (Ricœur, 1985, 23), an den Ausweis der eigentümlichen Allzeitlichkeit der idealen Objekte oder an die Beschreibung eigentümlicher Intentionalität der abwesenden Gegenwärtigung (Hua X, 61), wonach es möglich ist, etwas als aktuell seiend zu setzen, ohne es vor Augen zu haben. Schon aus diesem Grund scheint die Heidegger in den Vorlesungen von 1920 Einleitung in die Phänomenologie der Religion aufgestellt hat, in denen sich ein Primat der Zukunft — in diesem Kontext in der Gestalt der Erwartung der Parusie — zeigt. 137 Im Aufsatz „Zeiterfahrungen“ gehe ich ausführlicher auf die Beschreibung der Zeitlichkeit des christlichen Glaubens ein, indem ich die komplexe Beziehung zwischen Zittern, Beten und Glauben untersuche (vgl. Micali, 2004).
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es mir nicht legitim, von einer Rückführung der verschiedenen Zeitigungen auf eine universale Zeitstruktur zu sprechen (vgl. S. 187 ff.). Man könnte bei Husserl jedoch den Vorrang einer bestimmten Zeitstruktur gegenüber anderen Zeitigungen feststellen. Unter den oben zitierten Phänomenen verdient die abwesende Gegenwärtigung besondere Aufmerksamkeit, weil sie einen interessanten Aspekt der Husserl’schen Phänomenologie bezüglich der Präsenzmetaphysik hervortreten lässt. Zur Verdeutlichung dieser Erfahrung kann folgendes Beispiel angeführt werden: Ich habe mehrmals ein Restaurant besucht. Durch die Funktion der Wiedererinnerung kann ich mich an jedes Mal erinnern, an dem ich dort gegessen habe. Ich kann aber auch das Restaurant als gegenwärtig betrachten, obwohl es jetzt nicht in mein Wahrnehmungsfeld fällt. Hierbei wird das „Erinnerungsbild“ benutzt, ohne aber die Erscheinung als vergangen zu setzen: „Gesetzt ist das Dauernde als sich in dieser Erscheinung darstellend, und das erscheinende Jetzt setzen wir und das immer neue Jetzt usw.; aber wir setzten es nicht als ,vergangen’.“ (Hua X, 60)
Obwohl ich jetzt etwas nicht anschaue, betrachte ich seine Anwesenheit als aktuell. Dieses Phänomen unterscheidet sich sowohl von der Phantasie als auch von der Wiedererinnerung: Da diese intentionale Funktion auf etwas Seiendes gerichtet ist, das durch einen Seinscharakter bestimmt ist, grenzt sie sich deutlich von der Vergegenwärtigung „Phantasie“ ab. Gesetzt, dass das Korrelat dieser Art von Intentionalität nicht „als in seiner Zeitdauer wahrgenommen gewesenes“ (Hua X, 61), sondern als Gegenwärtiges charakterisiert ist, lässt sich die abwesende Gegenwärtigung nicht mit der Wiedererinnerung identifizieren.138 Es 138
Man muss außerdem darauf aufmerksam machen, dass sich die Erscheinung der abwesenden Gegenwärtigung in den Husserl’schen Interpretationen nicht so in den Bewusstseinstrom einfügt wie eine Erinnerung. Während die Erinnerung im Zusammenhang mit dem aktuellen Jetzt „durch eine stetige Reihe von inneren Erscheinungen“ (Hua X, 61) steht, so dass keine Lücken zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit bestehen, zeigt sich eine solche Kontinuität bei der Gegenwartserinnerung nicht. Gleichfalls hat auch die abwesende Gegenwärtigung eine Beziehung zu meiner Gegenwartsphäre bzw. zum hic et nunc: „Sie gehört in einen bestimmten Erscheinungszusammenhang hinein (und von Erscheinungen, die durchaus ,setzende’, stellungnehmende wären), und in Beziehung auf diesen hat sie motivierenden Charakter:
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scheint mir im Hinblick auf die Debatte über die Präsenzmetaphysik deshalb wichtig, die besondere Intentionalität der abwesenden Gegenwärtigung zu betonen, weil sie sich auf eine aktuelle Wirklichkeit bezieht, die jedoch von der impressionalen Selbstgebung eines Wahrgenommenen getrennt ist. Was ich nicht nur als wirklich, sondern als gegenwärtig betrachte, geht über die Grenze der Evidenz hinaus. Der Ausweis einer Pluralität der Zeiterfahrungen könnte jedoch nicht hinreichend sein, um zu garantieren, dass die Husserl’sche Phänomenologie der „surdétermination“ der Zeit gerecht wird (vgl. S. 187 ff.). Man könnte den Verdacht haben, dass, obwohl sie unterschiedliche Zeitstrukturen aufweist, die Husserl’sche Analyse alle Zeitphänomene intentional interpretiert. Die verschiedenartigen Zeitigungen werden auf das allgemeine und letztlich undifferenzierte Paradigma der Intentionalität zurückgeführt. Obwohl sie eine wichtige Trennung zwischen Gegenwärtigkeitsbewusstsein und Evidenz spüren lässt, bleibt auch die abwesende Gegenwärtigung eine intentionale Funktion. Diese These übergeht jedoch diejenigen Spannungen, auf die ich vorher mehrmals aufmerksam gemacht habe: Selbst wenn die Sprache terminologisch ständig am Paradigma der Intentionalität und demnach an einer Zeitauffassung ausgerichtet bleibt, die an der Synchronie orientiert ist, kommen in der Analyse Sachverhalte vor, die durch eine verschobene Zeitlichkeit gekennzeichnet sind. Im Lauf der Arbeit sind wir in diesem Sinne auf die Urimpression als Urschöpfung (HusserlianaBand X) und auf die „Vorzeitigung“ in den C-Manuskripten gestoßen, die sowohl die Zeitverschiebung der Affektion als auch die Spannung
die Umgebungsintention ergibt für die ,möglichen’ Erscheinungen selbst je einen Hof von Intentionen.“ (Hua X, 61) Die abwesende Gegenwärtigung geht von der Umgebung aus und setzt das als anwesend, was sich nicht in einem Horizont zeigt: „Es soll ein Dauerndes sein, das da erscheint, das gewesen ist und sein wird. Ich ,kann’ also auf irgendeinem Wege hingehen und sehen, das Ding noch finden, und kann dann wieder zurückgehen und in wiederholten ,möglichen’ Erscheinungsreihen die Anschauung herstellen. Und wenn ich vorhin aufgebrochen und dahin gegangen wäre (und das ist vorgezeichnete Möglichkeit, und dem entsprechen mögliche Erscheinungsreihen), dann hätte ich jetzt diese Anschauung als Wahrnehmungsanschauung usw.“ (Hua X, 61) Es ist nicht auszuschließen, dass in der Funktion der abwesenden Gegenwärtigung die philosophische These des Realismus ihren Ursprung findet.
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zwischen dem Erscheinen und dem unzugänglichen Reich des Unbewussten deutlich hervortreten lässt. Anhand der folgenden Beschreibungen wird noch deutlicher, dass sich die Husserl’sche Phänomenologie der Zeit keineswegs darauf beschränkt, universale formale Rahmen zu bestimmen, die von den Inhalten abstrahieren, sondern dass sie vielmehr die Eigentümlichkeiten der unterschiedlichen Zeitigungen zum Ausdruck bringt. Die folgende Analyse der verschobenen Zeitlichkeiten verfolgt weniger die programmatische Richtlinie der Husserl’schen Phänomenologie, sondern konzentriert sich auf die von Husserl geleistete konkrete Beschreibung der Phänomene. 2.3.1. Die Zeitverschiebung bezüglich der Erfahrung des Neuen in den Bernauer Manuskripten
Im Abschnitt 2.1.2. dieses Kapitels wurde aufgezeigt, dass in den Bernauer Manuskripten eine solche Erstreckung der Intentionalität (in jede Richtung) stattfindet, dass in dem Zeitfeld kein Platz für das Neue zu finden ist. Die These einer Verflechtung zwischen Retention und Protention bedeutet jedoch nicht nur eine Verdeckung der Erfahrung des Neuen, sondern durch sie kommt auch ein Aspekt ans Licht, der phänomenologisch betrachtet von größter Bedeutung ist. Im Text Nr. 1 der Bernauer Manuskripte behauptet Husserl, dass der Einsatzpunkt eines Vorgangs notwendigerweise entweder als erwartet oder als unerwartet eintreten kann. Ist es aber wirklich möglich, dass ein Ereignis keine Protention hat? Sobald ein unerwartetes hyletisches Datum eingetreten ist bzw. retentional im Griff behalten ist, etablieren sich die Protentionen. Die Protentionen sind demnach sowohl vom Verlauf der Urdaten als auch von den Retentionen abhängig: Wir erwarten die Fortsetzung der Urpräsenzen in demselben Stil bzw. in denselben Gegebenheitsweisen, die wir bisher erfahren haben (Hua XXXIII, 13). Je länger das Ereignis dauert, desto mehr wird der Stil der Vergangenheit in die Zukunft projiziert (Hua XXXIII, 38). Der entscheidende Aspekt, der in diesem Kontext hervorgehoben wird und der m. E. als phänomenologische Entdeckung einer eigentümlichen Zeitverschiebung anzusehen ist, besteht darin, dass sich das protentionale Kontinuum nicht nur rückwärts richtet. Gleichfalls „strahlt“ das protentionale Kontinuum „zurück auf den abgelaufenen Prozess und erteilt ihm die vordem noch fehlenden Auffassungen“ bzw. die Protentionen (Hua XXXIII, 11). Husserl geht so weit, dass
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er die nachträgliche Hinzufügung des protentionalen Charakters zu den abgelaufenen Retentionen als apriorische Notwendigkeit betrachtet: „Selbst wenn nicht eine konkret bestimmte Erwartung dem Ereignis vorhergeht, so muss doch jeder Urprozess, nachdem überhaupt in einigem Maße Urprozesse konstitutive geworden sind, als konstitutiv apperzepiert werden.“ (Hua XXXIII, 13)
Sobald die hyletischen Daten eingetreten sind, werden sie so aufgefasst, als ob eine Protention auf sie vorgerichtet war. Diese Analyse des Neuen bei Husserl scheint mir insofern von größter Bedeutung, als sie den Normalisierungsprozess deutlich herausstellt, mit dem die Subjektivität vor jeder Aktivität — bzw. auf ihrer passivsten Ebene, und zwar in der Zeitkonstitution — den Einbruch des Unerwarteten und des Fremden zu „zähmen“ versucht. Bestimmen wir diesen Sachverhalt näher: Im Nachhinein wird das Neue, das Überraschende nicht so behandelt, als ob wir es schon früher hätten erwarten können; als ob ich vorher imstande gewesen wäre, — zugespitzt formuliert — das Überraschende zu erwarten. Sondern es findet in der passiven Zeitkonstitution etwas Einfacheres und noch Verfälschenderes statt: Wir erfahren das plötzlich Eintretende, so als ob es tatsächlich zu erwarten war. Nach einer Weile ist das überraschende Moment völlig aus dem Bewusstsein verschwunden. Das plötzlich Unerwartete wird prinzipiell auf eine gestiftete Ordnung zurückgeführt, die paradoxerweise vom überraschenden Neuen selbst eröffnet worden ist. Die Hinzufügung des Protentionalen zu den Retentionen, die letztlich als Selbstbetrug des Zeitbewusstseins anzusehen ist, manipuliert den Ablauf des Flusses, um den fremden Charakter der Erfahrung zu entschärfen. Diese „Rückprojizierung“ des protentionalen Kontinuums in die schon abgelaufenen retentionalen Modifikationen spielt m. E. eine wichtige Rolle bezüglich desjenigen wunderbaren Phänomens, in dem das, was mir widerfahren ist — und mich vielleicht völlig überwältigt hat —, im Nachhinein als meine Erfahrung empfunden wird. Was sich vorher als Unvorhersehbares und als Fremdes zeigte, ist mit der Zeit zu meinem Erlebnis geworden. Das kann nur dadurch zustande kommen, dass es sich in meine intentionalen (auch zeitlichen) Strukturen völlig eingepasst hat.
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2.3.2. Die Zeitlichkeit der unklaren Phantasie
Im Husserliana-Band XXIII hat Husserl das Bildbewusstsein von der reinen Phantasie am deutlichsten unterschieden. Während im ersten Fall „ein innerhalb der Wahrnehmungsumgebung erscheinender Gegenstand als Abbild für einen anderen abwesenden“ gilt (Hua XXIIII, 82), hat die reine Phantasie keine perzeptive Basis im Sinne der gegenwärtigen Wahrnehmung. In § 13 wird der Vergegenwärtigung der Phantasie sogar ein ursprünglicher, unmittelbarer Zugang zu ihrem Objekt zugeschrieben: Sie enthält nichts von vielfältigen Intentionen, sondern „Vergegenwärtigung ist ein letzter Modus intuitiver Vorstellung genauso wie Wahrnehmungsvorstellung, wie Gegenwärtigung.“ (Hua XXIII, 85) Das Phantasieren und die Gegenwärtigung werden als zwei Vorstellungsmodi angesehen. Wenn man diesen Ansatz weiter verfolgt, hat das eine neuartige Auslegung des Verhältnisses zwischen Wahrnehmung und Phantasie zur Folge, wobei die letztere nicht in der ersten fundiert ist, sondern als gleichursprünglich behandelt werden muss. Die Untersuchung der Vergegenwärtigung „Phantasie“ führt zu einer Unterscheidung zwischen klarem und unklarem Phantasieren. Während sich im ersten Fall ein anschauliches Phantasie-Objekt vor mir konstituiert, tritt im zweiten Fall keine intuitive Intention auf den Gegenstand auf, sondern ein „Ansatz der Anschauung“, ein „Schatten der Anschauung“ (Hua XXIII, 88). Der Gegenstand als solcher ist sozusagen verschwunden. Es bleibt nur ein Rest von widersprüchlichen, dunklen, miteinander verflochtenen Erscheinungen, die sofort abbrechen und zu keinem Bildobjekt führen können: „Bei sehr dunklen Phantasien reduziert sich die Vergegenwärtigung auf einen ganz dürftigen Rest, und fällt dieser ganz weg, wie beim Intermittieren der Phantasmen, so bleibt die bestimmte, aber leere Intention auf den Gegenstand übrig. Mit den dürftigen, wieder auftauchenden Resten bekräftigt sie sich und füllt sie sich nach den oder jenen Momenten. Aber zur wirklichen Anschauung wird sie erst, wenn ein reichhaltiges Bild gegeben ist. Die Lücken, die zerfließenden Färbungen, die untertauchen in den Lichtstaub des Phantasiegesichtsfeldes usw., dergleichen wird erst objektiviert, wenn wir wollen, wenn wir dies nach Analogie wirklicher Gegenständlichkeit interpretieren wollen. Sonst bleibt es einfach ohne gegenständliche Interpretation, und darum streitet es nicht und gibt keine doppelte Objektivität.“ (Hua XXIII, 88)
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Letztlich bildet sich das Phantasie-Objekt innerhalb einer wesensnotwendig überbestimmten, brüchigen und vielfältigen Dimension heraus, eine Dimension, die als solche, wie Richir gezeigt hat, nicht gegenwärtig ist: Weder die Retentionen noch die Protentionen können sich an die lebendige Urimpression anschließen, die blitzhaft erscheint und im Nichts verschwindet (Richir, 2000, 91). Die Phantasie ist durch eine eigentümliche Zeitlichkeit gekennzeichnet, die durch das Phänomen des Intermittierens der Phantasmen bestimmt wird, das zu keinem Objekt führt und das Prinzip der Kontinuität der Zeit in Frage stellt. Eine weitere radikale Infragestellung der Zeitkontinuität kommt zum Vorschein, wenn man die Grenzphänomene des Todes, des Schlafes und der Geburt vor allem im Hinblick auf das Forschungsmanuskript C 17 berücksichtigt. 2.3.3. Die In-Frage-Stellung der Zeitkontinuität durch die Grenzphänomene des Todes, der Geburt und des Schlafes
In den Texten aus den dreißiger Jahren behandelt Husserl ausführlich das Problem des Todes, der Geburt und des Schlafes. In den meisten Forschungsmanuskripten (wie die Nr. 28 aus Hua XXIX „Die Anthropologische Welt“) ist die Kontinuität der Zeit in den Vordergrund gestellt. Die Zeit hat keinen Anfang und kein Ende. Die Monaden sind deshalb transzendental unsterblich. Im Forschungsmanuskript C 17 V wird das schwierige Problem der zeitlich-räumlichen Weltkontinuität bzw. der vollen Weltkonstitution neu dargestellt. Hierbei kommt Husserl zu dem Ergebnis, dass diesbezüglich eine „besondere“ Art von „passiver Synthesis“ stattfindet: Das Leben ist Wachleben, in dem — zeitlich bestimmt — die Welt erscheint; unmittelbar und selbstverständlich identifiziert jedes Subjekt sein Leben mit den Wachperioden. Die Einheit der Wachperioden ist jedoch nicht von vornherein vorgegeben, sondern Ergebnis der Synthesis: „Ich, und wie Ich, jedermann lebt als waches Ich in einem Bewusstseinsleben und verknüpft über die Wachperiode hindurch die Strecken der Wachheit zu einer Einheit.“ (Ms. C 17, Mat. VIII, 417)
Das Problem der Weltkontinuität führt zu einer Besinnung über die sich in der Erfahrung bekundenden Unterbrechungen, welche das
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Wachleben durchziehen. Über diese Besinnung kommt Husserl zu einer Thematisierung der phänomenologischen „Grenzphänomene“ des Schlafes, der Geburt und des Todes. In anderen Kontexten wurde darauf hingewiesen, wie Merleau-Ponty und Lévinas auf das Ereignis der Geburt verwiesen haben, um die Grenze des Prozesses der Selbsterhellung des Bewusstseins hervorzuheben. Es gilt allerdings zu betonen, dass Husserl selbst in verschiedenen Manuskripten darauf aufmerksam gemacht hat. Das Bewusstsein kann nicht durch immer tiefer in die Vergangenheit eindringende Wiedererinnerungsreihen seine eigene Geschichte bis zum Anfang einholen und zur Gegebenheit bringen. Die Geburt zeigt sich als „Limespunkt“ völliger Armut an Anschaulichkeit. Die Zeit der Geburt ist strenggenommen weder erinnert noch erfahren: „Ähnlich ist Geburt, wie wir glauben annehmen zu dürfen, ein Anfang eines Lebens (eines Bewusstseinslebens), das aber ein Vorher, eine frühere Zeit haben soll, nur einer vom erst mit der Geburt seienden Menschen zu erfahrenden, nicht erfahren gewesenen, nicht erinnerten. Ähnlich mit dem Tode.“ (Ms. C 17, Mat. VIII, 424)
Husserl geht so weit, dass er die Phänomene des Schlafes, des Todes und der Geburt durch die Unvorstellbarkeit definiert: „Kann sich intersubjektive Zeiträumlichkeit und Welt ohne all das konstituieren, sind Tod etc. zufällige faktische Vorkommnisse der Welt? Merkwürdige Fakta! Nicht zur Unendlichkeit der durch ,direkte’ eigene und vergemeinschaftete Selbstgebung anschaulich vorstellbar [Fakta gehörig], sondern eben überhaupt so un-vorstellbar.“ (Ms. C 17, Mat. VIII, 427)
Die Aufgabe, die konstitutive Funktion dieser Phänomene für die endgültige, volle Weltkonstitution näher zu bestimmen, ist schwer zu erfüllen. In diesem Zusammenhang wird der Begriff des „Ich-Kann“ herangezogen. Der phänomenologische Blick kann sich sowohl auf die Klärung des in der Welt begegnenden Ontischen als auch auf „das Wie des erfahrenden Lebens“ bzw. auf die ichlichen Vermögen richten (Ms. C 17, Mat. VIII, 429). Das Ich ist imstande, die mannigfaltigen, die Welt konstituierenden Erscheinungen zu lenken. Was nicht anschaulich gegeben ist (wie z. B. die Rückseite eines Dinges), kann durch die ichlichen Vermögen zur Selbstgebung gebracht werden. Gleichzeitig gilt es die wesensnotwendigen Grenzen des Ich-Könnens hervorzuheben:
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„Nun muss ich aber scheiden: sozusagen mein ernstliches Ich-vermag (die wirkliche Könnensgewissheit) und ein merkwürdiges Nicht-Ernstliches. Wenn ich schlafe, schlafen meine Vermögen; im Schlaf kann ich ,eigentlich’ nicht — nur so, dass ich erwachen könnte oder geweckt werden könnte von Anderen, aber das ist nicht mehr das vermögliche Können. Und dazu Geburt und Tod, die zunächst empirisch angesehene Grenzen des Könnens ausdrücken, aber offenbar über das Empirische hinaus Bedeutung haben möchten.“ (Ms. C 17, Mat. VIII, 429)
Der Schlaf, der Tod und die Geburt sind merkwürdige Vorkommnisse, die eine transzendentale Geltung haben und Grenzen des Könnens setzen. Die Phänomenologie in ihrer radikalen Selbstbesinnung stößt auf Phänomene, die sich durch eine unaufhebbare Opazität auszeichnen und paradoxerweise nur in ihrer eigentümlichen Unzugänglichkeit zugänglich sind.139 Die Selbstbesinnung der transzendentalen Subjektivität darf nicht mehr als eine Entwicklung gedacht werden, die fortschreitend durch immer neue Korrekturen zu einem höheren Stadium der Welteinstimmigkeit gelangt, als ob, teleologisch betrachtet, durch stets ergänzende Gegenwärtigungen eine volle Selbsttransparenz des Ich möglich wäre. Eine solche Selbsttransparenz des Ich ist aber faktisch — wegen des unendlich offenen Charakters der Zeit — beständig verschoben und kann lediglich als Horizont in Analogie zur regulativen Idee im kantischen Sinne betrachtet werden. Die Weltkonstitution kann prinzipiell deshalb nie vollständig transparent sein, weil die Welterfahrung von Phänomenen durchzogen ist, die sich als „Brüche der anschaulichen Gegebenheit“ (Ms. C 17, 77a) zeigen. Der Tod, die Geburt und der Schlaf sind eine Herausforderung für die Phänomenologie, weil sie ihre Quelle bzw. das Erfahren ausschalten. Husserl verwendet einen sehr passenden Ausdruck in Bezug auf den Schlaf, wenn er ihn als „Pause des Erfahrens“ (Ms. C 17, 74b) bezeichnet.
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In diesem Sinne ist bezeichnend, wie der Schlaf beschrieben wird. „Unser eigenes Schlafen erkennen wir aus welcher Erfahrung? Wir erkennen das ,Einschlafen’ und die ihm eigentümliche Entspannung und Verarmung des Bewusstseinslebens, und das Aufwachen als plötzliches Wiederhaben eines Wahrnehmungsfeldes und zwar als Weltfeldes, das, wenn es auch völlig neu wäre, doch genau besehen einen Kern von Bekanntem, ja sogar des Allerbekanntesten hat, nämlich unseren eigenen Leib.“ (Ms. C 17, Mat. VIII, 418)
KAPITEL VI
SCHLUSSWORT
Anhand der vorliegenden Untersuchung der Husserl’schen Texte haben sich Dimensionen eröffnet, die der zeitgenössischen phänomenologischen Forschung neue Chancen bieten können: Die genauen Beschreibungen der sich in jeweils unterschiedlichen Phänomenfeldern bekundenden Brüche der Anschauung sind von größter Bedeutung für eine radikale Phänomenologie, die durch eine Konfrontation mit der Sache selbst immer bereit ist, ihre eigene Kategorie in Frage zu stellen1 und bis zu den Grenzen der Phänomenalität vorzudringen. Am Ende der Untersuchung ist es mir wichtig, auf die in den unterschiedlichen Kontexten ausgewiesenen Überschüsse der Erfahrung zurückzukommen, um die Frage zu verfolgen, ob einige gemeinsame Züge zwischen ihnen festzustellen sind. Die Vertiefung des Phänomens der Passivität hat uns zu der zeitverschobenen Affektion geführt, welche die traditionell bestehende Beziehung zwischen Subjekt und Objekt umgestaltet: Es besteht kein schon konstituierter Gegenstand, der das Subjekt affiziert, sondern der Prozess der Identifizierung beginnt mit dem Affiziertwerden. Die Affektion stellt aus zwei unterschiedlichen Gründen das Primat des Bewusstseins in Frage: Einerseits bleibt sie prinzipiell dem Bewusstsein entzogen, indem sie unterhalb der Reizschwelle ist; andererseits wird man sich nur nachträglich der Affektion bewusst, und zwar nachdem man schon von der von Außen her kommenden Affektion getroffen ist. Die intentionale — durch die Gleichzeitigkeit charakterisierte — Beziehung zwischen Noesis und Noema wird der Affektion nicht gerecht: Sie verweist auf ein Vorher, das nicht vor- oder darstellbar ist und strenggenommen dem Subjekt selbst vorausgeht. Jeder Versuch, die Affektion als objektiv oder subjektiv zu bewerten, ist demnach zum Scheitern verurteilt. 1
Hier sei noch einmal an die „Zickzack Methode“ erinnert (Hua XIX, 17). Dazu vgl. Richir, 1992, 15 ff.
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kapitel vi
Im dritten Kapitel wurden zuerst anhand einer Analyse des Husserliana-Bandes XXXV die verschiedenen Bedeutungen des Faktums herausgestrichen. Als Faktum wurde nicht nur die Selbstgegebenheit der immanenten Erfahrung gegenüber dem antizipierenden Charakter der äußeren Wahrnehmung bezeichnet, sondern auch die durch die Wiedererinnerung gewonnene Objektivität gegenüber der Kontingenz des aktuellen ego cogito. Diese Analyse mündet in der Behandlung der Urfaktizität des Ich: Das Ich findet sich selbst in seinen verschiedenartigen Funktionen vor. Die Vorgängigkeit des Ich gegenüber sich selbst, die sowohl vom brutalen Faktum im Sinne des einzigartigen Charakters der Person als auch von der wesentlichen Struktur des Ur-Ich streng zu unterscheiden ist, bedeutet die Entdeckung einer nicht hinterfragbaren Instanz. Ebenso wie die Irrationalität der Weltrationalität verweist sie auf eine Dimension, die jenseits des Ich ist. Hinsichtlich der Intersubjektivitätsproblematik zeichnen sich in der Husserl’schen Phänomenologie Momente ab, die der neuartigen und radikalen Transzendenz des Anderen Genüge tun. Die gegenwärtigen Erscheinungen des Anderen entziehen sich grundsätzlich dem Blick des Ich: Sie sind durch eine unaufhebbare Unzugänglichkeit charakterisiert, obwohl sie als wirklich und als gegenwärtig gesetzt sind. Dadurch zeigt sich eine Tendenz, die mit dem Paradigma der Präsenzmetaphysik bricht. Zugleich wurde gezeigt, dass in der Husserl’schen Intersubjektivitätstheorie eine Asymmetrie zwischen der Sphäre des Eigenen und des Fremden besteht und in vielerlei Hinsichten die Fremderfahrung auf die Ich-Funktion zurückgeführt wird: Hier kommt eine besondere Art der Zirkularität zum Vorschein. Die Analyse hat sich dann von den Husserl’schen Texten entfernt: Lévinas’s Ansichten haben dazu beigetragen, eine kohärente Lösung zu finden, welche die Husserl’sche Zirkularität bricht. In Kapitel V habe ich zuerst die Husserl’sche Zeitproblematik dargestellt und dabei die drei verschiedenen Ebenen (Zeitobjekt, Zeitwahrnehmung und das zeitkonstituierende Bewusstsein) ausführlich untersucht. Danach folgte eine Erforschung von vor allem zwei Richtungen der Husserl’schen Zeitanalyse: 1. die unterschiedlichen Umwandlungen des zeitkonstituierenden Bewusstseins in den Vorlesungen 1905, in den Bernauer und den C-Manuskripten; 2. die eigentümlichen Zeitlichkeiten verschiedenartiger Erfahrungen (mit besonderer Aufmerksamkeit auf der Zeitigung der unklaren Phantasie, der Erfahung des Neven und der Geburt).
schlusswort
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Hinsichtlich der oben kursiv wiedergegebenen Phänomene lassen sich die folgenden Gemeinsamkeiten hervorheben: 1. Die Phänomene verweisen auf eine Dimension, die diesseits des Subjektes liegt, in einer Zeit, an einem Ort, in der bzw. an dem das Subjekt nie gewesen ist und nie sein wird. Sie zeigen demnach eine eigentümliche Unzugänglichkeit. Man muss der Strenge Husserl’scher Terminologie folgen, um die sich hier zeigende Spannung zu bewahren: Sie sind zugänglich als unzugänglich. Diese Unzugänglichkeit soll keineswegs als etwas Unverständliches interpretiert werden, das in der Zukunft verständlich wird. Diese Art der Unzugänglichkeit ist unaufhebbar. 2. Trotz ihrer Differenz bergen alle Phänomene ein Überschussmoment in sich, das sich jeder Art der Sinngebung entzieht. Dieses Überschussmoment muss nicht anhand der Kategorie der „Mehrmeinung“ interpretiert werden, die in den Cartesianischen Meditationen vorkommt und ein Mehr an Bedeutung, ein Zuviel an Sinn ausmacht. Demnach ist etwas durch vielfältige miteinander konkurrierende Sinne charakterisiert, die nicht gleichzeitig zum Ausdruck gebracht werden können: Sie verdrängen einander (ähnlich wie die Traumsymptome bei Freud). Diese Art von Überbestimmtheit unterscheidet sich radikal von einem Überschussmoment, das prinzipiell nicht bestimmbar ist, sondern über jede Bedeutung hinausgeht. Es handelt sich hier nicht um einen Überschuss an Sinn, der „noch nicht“ bestimmt ist, sondern um einen Überschuss über Sinn, Ziel und Regel hinaus (vgl. Waldenfels, 2002, 54–60). Es gilt zu betonen, dass diese Art von Überschuss notwendigerweise an bestimmte Dimensionen (wie z. B. die Zeit-, Leibdimension usw.) gebunden ist: Diese Phänomene sprengen die jeweils bestehende „Ordnung“ sowie die an die Ordnung gebundenen Erwartungen. 3. Die oben geschilderten Phänomene verlangen eine Umwandlung der überlieferten Kategorien. Diese Umwandlung kann verschiedene Gestalt annehmen: Die Entdeckung von Grenzdimensionen führt uns dazu, nicht nur Eigenschaften in Verbindung zu setzten, die traditionell als inkompatibel betrachtet werden — wie im Fall der Leiblichkeit des Phantasie-Subjektes —, sondern auch angesichts ein und desselben Phänomens heterogene Sinne zum Ausdruck zu bringen, die letztlich unermesslich sind. Man denke an die Urimpression: Sie bedeutet das lebendige Auftreten eines immer neuen Augenblickes, der von
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anderswo auf uns zukommt, und damit zugleich das Gegenwärtige, das sich in die Ordnung des intentionales Flusses einfügt. Hierbei ist es Aufgabe der Phänomenologie, sowohl das Ineinandersein als auch die Inkommensurabilität (den Bruch) zwischen den heterogenen Sinnen der Erfahrung zu berücksichtigen (vgl. S. 182 ff.). Die Husserl’sche Phänomenologie hat nicht nur die vielfältigen Erfahrungen in ihrer einzigartigen Erscheinungsweise sichtbar gemacht und dadurch einen neuen und radikalen Begriff der Phänomenalität eingeführt, sondern auch mehrfach inmitten der konkreten phänomenalen Felder Überschüsse der Erfahrung ausgewiesen, welche die Grenzen der Phänomenalität aufzeigen.
LITERATURVERZEICHNIS
Schriften Husserls werden nach der römischen Bandnumerierung der Husserliana und arabischer Seitenzahl zitiert (z. B. XV, 132). Die Passagen aus Husserliana Dokumente und Husserliana Materialienbände werden durch die Abkürzung „Dok.“ und „Mat.“ gekennzeichnet und sonst auf dieselbe Weise zitiert (z. B. Mat. VIII, 323). Unveröffentlichte Manuskripte zitiere ich nach der Signatur des Husserl-Archivs mit Seitenzahl der Originalblätter (z. B. Ms. A 1, 12a); die Manuskripte habe ich in Husserl-Archiv in Köln und in Leuven gelesen. Sekundärliteratur wird zitiert unter Angabe des Verfassers, des Erscheinungsjahres und der Seitenzahl (z. B. Lévinas, 1961, 7). Einfügungen in eckigen Klammern [ ] in den Zitaten stammen von mir. Meine Hervorhebungen wurden mit „m. H.“ kenntlich gemacht.
1. Husserls Schriften Husserliana Husserl, Edmund: Husserliana. Gesammelte Werke. Den Haag/Dordrecht 1950 ff I: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Hg. v. S. Strasser, 1950 II: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Hg. v. W. Biemel, 1973 III/1: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, 1. Halbband. Neu herausgegeben von K. Schuhmann, 1976 III/2: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, 2. Halbband: Ergänzende Texte (1912–1929). Neu herausgegeben von K. Schuhmann, 1976 IV: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. Hg. v. M. Biemel, 1952 V: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. Hg. v. M. Biemel, 1952
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literaturverzeichnis
VI: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hg. v. W. Biemel, 1954 VII: Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil: Kritische Ideengeschichte. Hg. v. R. Boehm, 1956 VIII: Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion. Hg. v. R. Boehm, 1956 IX: Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen, Sommersemester 1925. Hg. v. W. Biemel, 1962 X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917). Hg. v. R. Boehm, 1966 XI: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten (1918–1926). Hg. v. M. Fleischer, 1966 XII: Philosophie der Arithmetik. Mit ergänzenden Texten (1890–1901). Hg. v. L. Eley, 1970 XIII: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil: 1905–1920. Hg. v. I. Kern, 1973 XIV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921–1928. Hg. v. I. Kern, 1973 XV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935. Hg. v. I. Kern, 1973 XVI: Ding und Raum. Vorlesungen 1907. Hg. v. U. Claesges, 1973 XVII: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft. Mit ergänzenden Texten. Hg. v. P. Janssen, 1974 XVIII: Logische Untersuchungen. Erster Band: Prolegomena zur reinen Logik. Hg. v. E. Holenstein, 1975 XIX/1: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, I. Teil. Hg. v. U. Panzer, 1984 XIX/2: Logische Untersuchungen. Zweiter Band: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, II. Teil. Hg. v. U. Panzer, 1984 XX/1: Logische Untersuchungen. Ergänzungsband, erster Teil. Entwürfe zur Umarbeitung der VI. Untersuchung und zur Vorrede für die Neuauflage der Logischen Untersuchungen (Sommer 1913). Hg. v. U. Melle, 2002 XX/2: Logische Untersuchungen. Ergänzungsband. Zweiter Teil. Texte für die Neufassung der Vi. Untersuchung. Zur phänomenologie des Ausdrucks und der Erkenntnis (1893/4-1921). Hg. v. U. Melle, 2005 XXIII: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898–1925). Hg. v. E. Marbach, 1980 XXIV: Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07. Hg. v. U. Melle, 1984 XXV: Aufsätze und Vorträge (1911–1921). Hg. v. T. Nenon und H.R. Sepp, 1987 XXVII: Aufsätze und Vorträge 1922–1937. Hg. v. T. Nenon und H.R. Sepp, 1989
literaturverzeichnis
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XXVIII: Vorlesungen über Ethik und Wertlehre (1908–1914). Hg. v. U. Melle, 1988 XXIX: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934–1937. Hg. v. R. Smid, Reinhold N., 1993 XXX: Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie. Hg. v. U. Panzer, 1996 XXXI: Aktive Synthesen: Aus der Vorlesung „Transzendentale Logik“, 1920/21. Hg. v. R. Breeur, 2000 XXXII: Natur und Geist. Vorlesungen 1927. Hg. v. M. Weiler, 2001 XXXIII: Die ,Bernauer Manuskripte’ über das Zeitbewusstsein (1917/18). Hg. v. R. Bernet und D. Lohmar, 2001 XXXIV: Zur phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926–35). Hg. v. S. Luft, 2002 XXXV: Einleitung in die Philosophie. Vorlesungen 1922/23. Hg. v. B. Goossens, 2002 XXXVI: Transzendentaler Idealismus. Texte aus dem Nachlass (1908–1921). Hg. v. R.D. Rollinger, 2004
Unveröffentlichte Manuskripte A I 31 (1924/26), Ms A IV 16, A VI 4 (1912), A VI 5 (1912), A VI 8 II (1904/12), A VI 12 I (1901/14) B I 4 (1908/1909), B II 1 (1907/08), B III 3 (1931) E III 2 (1920/21, 1931/34), E III 3 (1933/34), E III 4 (1930) , E III 7 (1934), E III 9 (1931/33), Ms. E III 10 (1920) Ms. F III 1, 140, F I 10 (1906/07)
Husserliana Dokumente Husserliana Dokumente. Den Haag/Dordrecht, 1977 ff. Dok. I: K. Schuhmann, Husserl-Chronik. Denk- und Lebensweg Edmund Husserls, 1977 Dok. II/1: E. Fink, VI. Cartesianische Meditation, Teil I. Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre. Hg. v. H. Ebeling, J. Holl, G. van Kerckhoven, 1988 Dok. II/2: E. Fink, VI. Cartesianische Meditation, Teil II: Ergänzungsband. Hg. v. G. van Kerckhoven, 1988 Dok. III/1: Edmund Husserl, Briefwechsel. Hg. v. E. Schuhmann (in Verbindung mit K. Schuhmann), 1994 Dok. III/2: Die Münchener Phänomenologen Dok. III/3: Die Göttinger Schule Dok. III/4: Die Freiburger Schüler Dok. III/5: Die Neukantianer Dok. III/6: Philosophenbriefe Dok. III/7: Wissenschaftlerkorrespondenz Dok. III/9: Familienbriefe
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literaturverzeichnis
Husserliana Materialienbände Mat. I: Logik, Vorlesung 1896. Hg. v. E. Schuhmann, 2001 Mat. II: Logik, Vorlesung 1902/03. Hg. v. E. Schuhmann, 2001 Mat. III: Allgemeine Erkenntnistheorie, Vorlesung 1902/03. Hg. v. E. Schuhmann, 2001 Mat. IV: Natur und Geist, Vorlesungen Sommersemester 1919. Hg. v. M. Weiler, 2002 Mat. V: Urteilstheorie, Vorlesung 1905. Hg. v. E. Schuhmann, 2002 Mat. VI: Alte und neue Logik, Vorlesung 1908/09. Hg. v. E. Schuhmann, 2003 Mat. VII: Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis, Vorlesung 1909. Hg. v. E. Schuhmann, 2005 Mat. VIII: Späte Texte über Zeitkonstitution (1929–1934). Die C-Manuskripte. Hg. v. D. Lohmar, Dordrecht 2006
Sonstige Schriften Husserls EU: Erfahrung und Urteil. Untersuchung zur Genealogie der Logik, red. u. hg. v. L. Landgrebe, mit Nachwort u. Register v. L. Eley, Hamburg 1972
2. Weitere Literatur Aguirre A.: Genetische Phänomenologie und Reduktion. Zur Letztbegründung der Wissenschaft aus der radikalen Skepsis im Denken E. Husserls. Den Haag, 1970 Benoist J.: Autour de Husserl. L’ego et la raison. Paris 1994 Bernasconi R.: Re-reading „Totality and Infinity”. In: A. Dallery, C. Scott (eds.), The Question of the other. Essays in contemporary continental philosophy. New York 1989, pp. 23–34 Bernet R.: Die ungegenwärtige Gegenwart. Anwesenheit und Abwesenheit in Husserls Analyse des Zeitbewusstseins. In: Zeit und Zeitlichkeit bei Husserl und Heidegger. Freiburg/München 1983 (Phänomenologische Forschungen 14) Bernet R. (Hrsg.): Einleitung zu: Husserl E., Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Hamburg 1985, S. XI-LXVII Bernet R.: La vie du sujet. Recherches sur l’interprétation de Husserl dans la phénoménologie. Paris 1994 Bernet R.: Das traumatisierte Subjekt. In: M. Fischer, H.-D. Gondek, B. Liebsch (Hrsg.), Vernunft im Zeichen des Fremden. Frankfurt am Main 2001, S. XVII–LI Bernet R.: Conscience et existence. Perspectives phénoménologiques. Paris 2004 Bernet R., Lohmar D.: Einleitung des Herausgebers. Hua XXXIII, 2001 Bernet R., Kern I., Marbach E.: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens, Hamburg 1989 Boer de T.: The Development of Husserl’s thought, translated by Theodore Plantinga. Den Haag 1978 (Phaenomenologica 76)
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INDEX
Aguirre, A., 35 Benoist, J., 72 Bernasconi, R., 137 Bernet, R., 22, 41, 44, 90, 156, 160, 164, 169, 172, 174–176, 182, 196, 197, 202 Boer, de, T., 137 Borges, J.L., 85 Brough, J., 160, 163, 164 Depraz, N., 70, 71, 72, 115 Derrida, J., 2, 7, 15, 51, 52, 70, 102, 129, 132–133, 143–147, 164, 168–172, 174, 176, 183, 186 Diemer, A., 202–204
Lévinas, E., 2, 7, 62, 63, 66, 70, 71, 75, 95, 102, 122, 129–149, 169, 171, 176–180, 182, 183, 218, 219, 228, 232 Luft, S., 127 Marbach, E., 10, 11, 27, 29, 36, 37 Meist, K.R., 56 Melle, U., 83 Merleau-Ponty, M., 1, 2, 37, 60, 140, 141, 188, 228 Mertens, K., 83 Micali, S., 218, 221 Mohanty, J.N., 35 Montavont, A., 96, 98 Orth, E.W. 128
Fink, E., 80, 91, 94, 127 Franck, D., 70–72 Gondek, H.-D., 143 Granel, G., 153 Heidegger, M., 174, 191, 199, 200 Held, K., 45, 46, 64, 153, 190, 191, 199, 200, 201, 204, 205, 211 Henry, M., 169, 176, 177, 180–183 Holenstein, E., 74 Janicaud, D., 141 Kaehler, K.E., 56 Kern, I., 10, 27, 35, 36, 37, 44, 90, 91, 103, 115, 116, 117, 119, 127, 153, 168 Kortooms, T., 160, 196, 203, 204, 208, 211 Landgrebe, L., 79, 91 Lee, N.-I., 214
Patocˇ ka, J., 62, 63, 64, 66 Richir, M., 2, 35, 56, 64, 65, 71, 91, 140, 188, 227, 231 Ricoeur, P., 15, 75, 176, 221 Sartre, J.P., 60, 182 Sokolowski, R., 35 Steinbock, A.J., 52, 115, 121 Taguchi, S., 96 Tengelyi, L., 170, 177 Theunissen, M., 108, 220 Thyssen, J., 56 Waldenfels, B., 2, 73, 75, 96, 108, 143, 148, 218, 219, 220, 233 Zahavi, D., 9, 37, 74, 106, 115, 121
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