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Hartmut Zwick (Hrsg.) Bewegung als Therapie Gezielte Schritte zum Wohlbefinden Zweite, erweiterte Auflage
SpringerWienNewYork
Univ.-Prof. Dr. Hartmut Zwick Abteilung für Atmungs- und Lungenerkrankungen, Krankenhaus Lainz, Wien
Lektorat: Mag. Elisabeth Illnar
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abrufbar.
ISBN-10 3-211-29357-4 SpringerWienNewYork ISBN-13 987-3-211-29357-7 SpringerWienNewYork ISBN 3-211-20153-X 1. Aufl. SpringerWienNewYork
Geleitwort In der heutigen Zeit kommt regelmäßiger Sportausübung fraglos eine ganz große psychosomatische Bedeutung zu. Dies sowohl in Hinblick auf eine Prophylaxe als auch zur Erhaltung der Lebensqualität, auf die der verzichten muss, der sich – aus welchen Gründen auch immer – auf falsche Weise schont. Dabei spielt sicher auch die im Berufsleben häufig geforderte, aber oft missdeutete, „adäquate“ Belastungsökonomie eine Rolle. Das richtet sich letztlich aber gegen den Menschen selbst und stellt eine Ursache vieler Zivilisationskrankheiten dar. Auch die einseitige Interpretation des Begriffes „Stress“ trägt dazu bei. Doch nur mit dem richtigen Ausmaß an körperlicher, geistiger und psychischer Belastung können wir gesund leben. Die Autoren dieses Buches beziehen zu diesem Problemkreis – aus zum Teil sehr unterschiedlicher Sicht – klar Stellung. Die Bedeutung der richtigen körperlichen Belastung für Körper und Psyche des modernen Menschen ist wissenschaftlich bewiesen. Daher stellt Bewegung völlig berechtigt einen integralen Bestandteil der komplexen Prävention und Therapie dar. Der Begriff „Anti-Aging“ soll besonders angesprochen werden, da ihm hier eine spezifische Bedeutung zukommt. Bewegung als Therapie ist hochaktuell und kann die Lebensqualität vieler Menschen positiv beeinflussen. Deshalb ist zu wünschen, dass sich nicht nur Mediziner dieser Fragen annehmen. em. Univ.-Prof. DDDDr. Ludwig Prokop
Vorwort Sind Sie jung und schlank, gerade richtig gebaut? Körperliche Beschwerden und Laster wie Nikotin, Alkohol und Süßigkeiten sind Ihnen fremd? Im Fitness-Center zählen Sie zu den fittesten und Ihr Bauch gleicht einem Waschbrett? Ja, dann können Sie dieses Buch getrost weglegen. Es ist nichts für Sie. Wenn Sie aber schon etwas älter oder übergewichtig sind, eine Krankheit haben, die Sie stört, oder wenn Sie nikotinabhängig sind, dann sollten Sie dieses Buch lesen. Je untrainierter und je weniger fit Sie sind, desto mehr werden Sie von unserem Buch profitieren. Ärzte mit viel Wissen und Erfahrung erklären Ihnen, worum es bei „Bewegung als Therapie“ geht. Sie informieren Sie über die Voraussetzungen für ein effizientes Training und darüber, wie man es durchführt. Es werden Ihnen keine „Wunderkuren“ aufgeschwatzt, vielmehr wird von Ihnen hohe Motivation verlangt. Schweiß muss fließen. Wir surfen nicht auf der Wellness-Welle, wir reden Ihnen keine Sensationen ein, wir verkaufen keine Gefühle. Einer Sache sind wir allerdings sicher: Sie können durch gezielte, ärztlich indizierte, dosierte und kontrollierte Bewegungstherapie bei fast allen chronisch stabilen Erkrankungen eine deutliche Besserung Ihrer Leistungsfähigkeit und Ihrer Lebensqualität erreichen. Durch ungesunden Lebensstil oder durch angeborene „Schwachstellen“ haben viele von uns mit chronischen Leiden oder Krankheiten zu kämpfen. Der therapeutische Einsatz von Bewegung erhöht die Leistungsfähigkeit und lindert Schmerzen, hilft uns, von Medikamenten loszukommen, und garantiert Mobilität, welche für unsere Lebensqualität so wichtig ist. Wir sind für alle Ihre Fragen, Informationen, Anregungen und kritischen Stellungnahmen offen. In diesem Sinne viel Freude mit diesem Buch. Auf geht’s! Wien, im April 2004
Hartmut Zwick
Inhaltsverzeichnis Autorenadressen ................................................................................................... XIII Anti-Aging (Paul Haber)....................................................................................... 1. 2. 3. 4.
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Was bedeutet Anti-Aging? .......................................................................... 1 Ein Blick in die Geschichte ......................................................................... 1 Der Alterungsprozess .................................................................................. 4 Gibt es eine Anti-Aging-Medizin? ............................................................. 10
Epidemiologie der Zivilisationskrankheiten (Marcus Müllner) ....................... 13 1. 2. 3. 4.
Was sind eigentlich Zivilisationskrankheiten? .......................................... Die typischen Zivilisationskrankheiten...................................................... Alter und Erkrankungshäufigkeit .............................................................. Wirkt sich Training auf die Gesundheit aus?.............................................
13 15 29 30
Gesundheitscheck vor dem Training (Christian Leithner und Gudrun Wolner-Strohmeyer) .................................. 33 Training bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Christian Leithner und Gudrun Wolner-Strohmeyer) .................................. 35 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen .................................................................... Prophylaxe bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen.......................................... Bewegung als Therapie bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen..................... Risiken – Plötzlicher Herztod durch Ausdauertraining? ........................... Fallbeispiele ................................................................................................. Zusammenfassung .......................................................................................
35 47 48 62 63 66
Erkrankungen der Bronchien (Hartmut Zwick) ................................................. 67 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Das luftleitende System............................................................................... Welche Erkrankung liegt vor? .................................................................... Ursachen und Prophylaxe ........................................................................... Bewegung als Therapie............................................................................... Trainingspläne.............................................................................................. Risiken .......................................................................................................... Training trotz oder wegen einer bronchopulmonalen Krankheit............. Fallbeispiele ................................................................................................. Zusammenfassung .......................................................................................
67 69 73 76 79 84 87 88 90
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Inhaltsverzeichnis
Diabetes mellitus und Fettleibigkeit (Dagmar Rabensteiner)........................... 91 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Was versteht man unter Diabetes? ............................................................. 91 Wie entsteht Diabetes? ................................................................................ 91 Was lässt sich vorbeugend tun?.................................................................. 93 Ausdauertraining als Therapie ................................................................... 96 Gefahren und Kontraindikationen ............................................................. 111 Veränderung des Lebensstils und der Ernährung .................................... 119 Wie lässt sich der Gefahr einer Unterzuckerung beim Training begegnen? ................................................................................ 120 8. Fallbeispiele ................................................................................................. 124 9. Zusammenfassung ....................................................................................... 126 Periphere Durchblutungsstörungen – die periphere arterielle Verschlusskrankheit (Martin Schillinger)..................................................... 127 1. Wer versorgt unsere Beine mit Blut? .......................................................... 127 2. Periphere Durchblutungsstörungen und ihre Ursachen........................... 128 3. Häufigkeit und Bedeutung der peripheren Durchblutungsstörungen ....................................................................... 131 4. Risikofaktoren, Prophylaxe und Verlauf arterieller Verschlusskrankheiten ........................................................................... 131 5. Bewegung als Therapie .............................................................................. 134 6. Training bei Durchblutungsstörungen ....................................................... 137 7. Wie soll trainiert werden – und vor allem wie lange?............................... 141 8. Nebenwirkungen versus positive Effekte.................................................. 148 9. Fallbeispiele ................................................................................................. 150 10. Zusammenfassung ....................................................................................... 152 Häufige orthopädische Probleme (Dieter Gehmacher) ..................................... 153 1. Auswirkungen der Durchblutungsstörungen auf den Bewegungsapparat ................................................................... 153 2. Wie lassen sich Schäden vermeiden?......................................................... 155 3. Sport bei Arthrose........................................................................................ 158 4. Training bei Osteoporose ............................................................................ 170 5. Sport mit künstlichem Gelenksersatz ........................................................ 178 6. Medizinisches Krafttraining........................................................................ 186 7. Zusammenfassung ....................................................................................... 197 Bewegungstherapie aus psychiatrischer Sicht (Otto M. Lesch, Gabriele Hofmann und Henriette Walter).......................... 199 1. Hinweise für Bewegungstherapie für Patienten der Allgemeinmedizin aus psychiatrischer Sicht........................................ 199 2. Bewegungstherapie in der Psychiatrie ...................................................... 203 3. Störungen auf funktionell-organischer, sensomotorischer und sozioemotionaler Ebene ......................................................................... 208 4. Bewegungstherapie bei spezifischen psychiatrischen Krankheitsbildern ................................................................................... 216 5. Spezifische Techniken in Bewegungstherapien ....................................... 233
Inhaltsverzeichnis
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Literatur ..................................................................................................................235 Glossar ....................................................................................................................237
Autorenadressen Prim. Univ.-Prof. Dr. Hartmut Zwick
Krankenhaus Lainz Abteilung für Atmungs- und Lungenerkrankungen Wolkersbergenstraße 1 1130 Wien Tel: (01) 801 10 2472 oder Medical Fitness Team Wohllebengasse 9/7 1040 Wien Tel: (01) 503 53 35 [email protected] http://www.med-fit-team.at
Dr. Dieter Gehmacher
Facharzt für Orthopädie und orthopädische Chirurgie Amraserstraße 3 6020 Innsbruck Tel: (0512) 393400 Fax: (0512) 393400 75 [email protected]
Univ.-Prof. Dr. Paul Haber
Klinische Abteilung Pulmologie Univ.-Klinik für Innere Medizin IV Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Tel: (01) 40400 4776 [email protected]
Gabriele Hofmann
Univ.-Klinik für Psychiatrie Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien [email protected]
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Autorenadressen
Prim. Univ.-Prof. Dr. Christian Leithner
Kaiser Franz Josef Spital Kundratstraße 3 1100 Wien Tel: (01) 60191 2101 [email protected]
Univ.-Prof. Dr. Otto-Michael Lesch
Univ.-Klinik für Psychiatrie Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Tel: (01) 40400 3531 [email protected]
Univ.-Prof. Dr. Marcus Müllner
Univ.-Klinik für Notfallsmedizin Währinger Gürtel 18–20/6D 1090 Wien Tel: (01) 40400 1964 [email protected]
Dr. Dagmar Rabensteiner
Zentrum für Medizin und Sport Paniglgasse 9 1040 Wien Tel: (01) 228 00 28 [email protected]
Univ.-Prof. Dr. Martin Schillinger
Univ.-Klinik für Innere Medizin II Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Telefon: (01) 40400 4671 [email protected]
Dr. Gudrun Wolner-Strohmeyer
Kaiser Franz Josef Spital Kundratstraße 3 1100 Wien Tel: (01) 60191 9992 156 [email protected]
Univ.-Prof. Dr. Henriette Walter
Univ.-Klinik für Psychiatrie Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien Tel: (01) 40400 3528 [email protected]
Anti-Aging Paul Haber
1. Was bedeutet Anti-Aging? Anti-Aging ist ein modernes, aus dem Englischen stammendes Schlagwort, dessen Bedeutung nicht genau definiert ist. Wörtlich übersetzt bedeutet Anti-Aging „gegen das Altwerden“. Das Älterwerden ist zunächst eine simple Funktion der Zeit. Es kann natürlich weder beeinflusst und schon gar nicht verhindert werden. Eine – etwas zynische – Volksweisheit besagt: Wer nicht alt werden will, muss jung sterben! Nun, das ist sicher nicht das, was Anti-Aging bezweckt. Im Gegenteil, die meisten Menschen wünschen sich durchaus, möglichst lange zu leben, also möglichst alt zu werden. Allerdings ist mit dem Altwerden auch ein vollkommen normaler, physiologischer Prozess verbunden, nämlich das Altern, und genau dieses Altern ist es, das den Menschen Probleme macht. Mit Anti-Aging ist also gemeint, lange zu leben, ohne körperlich zu altern. Das ist es! Alt werden und jung bleiben. Ist das möglich? Kann der Alterungsprozess beeinflusst und das Leben verlängert werden? Gibt es den „Jungbrunnen“, von dem die Menschen schon seit Jahrhunderten träumen? Um auf diese und ähnliche Fragen plausible Antworten zu finden, ist es sinnvoll, zunächst Begriffe wie Altern, Lebenserwartung und Einflussmöglichkeiten näher zu besprechen.
2. Ein Blick in die Geschichte Lebenserwartung
Der berühmte Philosoph Immanuel Kant war Professor an der Universität in Königsberg. Zu seinem 50. Geburtstag fand ihm zu Ehren eine große Festversammlung statt, bei der natürlich auch eine Laudatio gehal-
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ten wurde. Diese Laudatio eröffnete der Festredner mit der Anrede: „Verehrungswürdiger Greis.“ Das Wort „Greis“ bezeichnet – damals wie heute – einen sehr alten Menschen. Heute aber wären die meisten Menschen in vergleichbarem Alter ob einer solchen Anrede höchstwahrscheinlich unangenehm berührt. Von Kant ist derartiges nicht überliefert. Es ist im Gegenteil eher anzunehmen, er habe sich geehrt gefühlt. So ändern sich die Zeiten! Warum konnte zu Kants Zeit ein 50-Jähriger mit Recht als Greis bezeichnet werden, was heutzutage zu Empörung führen würde? Ein Grund dafür liegt in der historisch unterschiedlichen Lebenserwartung. Die Lebenserwartung der Menschen im 18. Jahrhundert lag weit unter der heutigen. Sie betrug damals weniger als 40 Jahre und hat sich bis heute nahezu verdoppelt! Das bedeutet, dass zu Kants 50. Geburtstag bereits weit mehr als die Hälfte seines Jahrganges verstorben war! Ganz allgemein war der Anteil der Menschen über 60 an der gesamten Bevölkerung sehr klein (unter 10%). Dies erklärt, warum man sich damals über die besonderen Probleme des Älterwerdens, wie wir sie kennen, kaum den Kopf zerbrach. Diejenigen, die – mit viel Glück – alt geworden waren, betrauerten die dahingegangene Jugend. Dafür machte man sich umso mehr Gedanken über den Tod, der allgegenwärtig war. Übrigens: Schon im alten Ägypten erreichten Pharaonen ein Lebensalter, das dem in der heutigen Zeit vergleichbar ist. Pharao Ramses II., der im 13. Jahrhundert v. Chr. lebte, wurde 88 Jahre alt. Von einem noch früheren Pharao, Pepi II., der der 6. Dynastie angehört und im 3. Jahrtausend v. Chr. lebte, ist sogar eine Regierungszeit von 96 Jahren überliefert. Seine Lebenszeit muss also mehr als 100 Jahre betragen haben. Ein derart hohes Alter kam aber nur sehr selten vor. Es zeigt allerdings, dass die artspezifische Lebenserwartung des Homo sapiens unter günstigen Bedingungen etwa 90–110 Jahre betragen kann. (Auch Tiere haben eine solche arttypische Lebenserwartung, Katzen werden z.B. etwa 20 Jahre alt.) Diese Beispiele aus dem alten Ägypten stellen einen historischen Hinweis auf eine artspezifische Lebenserwartung des Menschen dar. Der Homo sapiens hat sich in den letzten 5000 Jahren mit Sicherheit nicht biologisch verändert, deshalb ist auch seine arttypische Lebenserwartung heute dieselbe.
Infektionskrankheiten
Die meisten Menschen starben in früheren Zeiten aber weit vor dem Erreichen dieser artspezifischen Lebenserwartung. Vom Altertum bis
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zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Menschen durchschnittlich 35 Jahre alt. Die dominierende Todesursache waren die Infektionskrankheiten. Keineswegs nur Pest oder Pocken rafften die Menschen dahin, sondern alltägliche Infektionen, wie Enteritis, Lungen- und Blinddarmentzündung, Wundinfektion oder Kindbettfieber. Insbesondere die Säuglingssterblichkeit war aus diesen Gründen sehr hoch: 40% aller Neugeborenen starben bis zum 5. Lebensjahr! Die Lebenserwartung derer, die das 5. Lebensjahr erreichten, lag bereits bei 45 Jahren. Wurde im antiken Rom jemand 50 Jahre alt, so waren seine Chancen, 70 zu werden, annähernd so hoch wie heute. Die Infektionskrankheiten wurden in den letzten 150 Jahren entscheidend zurückgedrängt. Mit der Verbesserung der Ernährung, der Wohnverhältnisse und der allgemeinen Hygiene erhöhte sich der Lebensstandard. Aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung verschwanden z.B. die Säuglingskrankheiten, die Tuberkulose und das Kindbettfieber weit gehend. Die Möglichkeit, Infektionskrankheiten mittels antibiotischer Medikamente zu heilen, hat aber auf den allgemeinen Rückgang der Infektionskrankheiten erstaunlicherweise keinen erkennbaren Einfluss. Der Anteil der Infektionskrankheiten an allen Todesursachen ist in den westlichen Industriegesellschaften aufgrund des hohen Lebensstandards gering. In Ländern mit niedrigem Lebensstandard und niedriger Lebenserwartung, wie z.B. in den Entwicklungsländern der Dritten Welt, ist auch heute noch der Anteil der Infektionskrankheiten an allen Todesursachen im Vergleich zu dem westlicher Industriestaaten hoch. Der Rückgang der Infektionskrankheiten in den letzten 100 Jahren ermöglichte in unseren Breiten einen explosionsartigen Anstieg der Lebenserwartung um etwa 100%. In Österreich beträgt sie derzeit zirka 76 Jahre. Dies bedeutet nicht, dass die dem Homo sapiens zugemessene arttypische Lebensspanne von zirka 90–110 Jahren zugenommen hätte. Das kann biologisch völlig ausgeschlossen werden. Es ist vielmehr so zu verstehen, dass weniger Menschen einer Infektionskrankheit erliegen und sehr viele vor einem frühen Tod bewahrt werden. Daher erleben sie auch tatsächlich einen immer größeren Teil der arttypischen Lebensspanne. Derzeit sind die Geburtenzahlen rückläufig, aber die Lebenserwartung steigt. Deshalb prophezeien die Demoskopen, dass der Anteil der Menschen über 60 in unserer Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten zunehmen wird. Heute liegt dieser Anteil bei etwa 15%, das sind in Österreich ungefähr 1,2 Mio Menschen. Für das Jahr 2050 wird ein Anteil von 30% prognostiziert, das sind zirka 2,5 Millionen Menschen. Im Gegensatz dazu wird der Anteil der Jugendlichen von 25% auf
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20% und der Anteil der Menschen im erwerbsfähigen Alter von heute 60% auf 50% zurückgehen. Die Bevölkerungszahl von etwa 8 Millionen Einwohnern wird aber gleich bleiben. Daher besteht zunehmend Konsens, dass die Probleme des Alterns zu einem zentralen Anliegen unserer Gesellschaft werden. Das beinhaltet nicht nur medizinische, sondern auch soziale, wirtschaftliche, pensionsrechtliche, familiäre und viele andere Aspekte. Prognosen bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung besagen, dass die durchschnittliche Produktivität eines Erwerbstätigen im gleichen Zeitraum um zirka 100% zunehmen wird. Obwohl der Anteil der Erwerbstätigen abnimmt, wird 2050 das Bruttonationalprodukt daher etwa das 1,67-fache des heutigen Wertes betragen. An dieser Stelle sei ein Wort zur Pensionsproblematik erlaubt. Bezieht man sowohl die wirtschaftlichen als auch die demoskopischen Prognosen mit ein, ist nicht nachvollziehbar, warum die Pensionen in Zukunft dramatisch gekürzt werden müssen. Dies setzt allerdings einen gesellschaftlichen Konsens voraus. Alle Menschen sollten in gerechter Weise an der Entwicklung und am Reichtum der Gesellschaft teilhaben. Derzeit profitieren hauptsächlich die Shareholder und zu einem kleineren Teil die aktiv Erwerbstätigen – Kinder, Jugendliche und Pensionisten hingegen überhaupt nicht.
3. Der Alterungsprozess Altern – ein uraltes genetisches Programm
Zunächst eine gute Nachricht: Altern ist keine Krankheit, sondern ein physiologischer, natürlicher Vorgang, der an sich keiner medizinischen Behandlung bedarf. Nun kann man einwenden, dass eine medizinische Behandlung zwar nicht notwendig, aber vielleicht nützlich sei, da sie das Altern verzögere. Derartigen Spekulationen muss aus biologischer Sicht klar entgegengehalten werden, dass das Altern ein aus der Entwicklungsgeschichte stammendes, uraltes genetisches Programm ist. Mit den heute bekannten medizinischen Methoden und Mitteln kann es weder verlangsamt noch außer Kraft gesetzt werden. Wie erläutert, war die geringe Lebenserwartung in den vergangenen Jahrhunderten nicht das Produkt rascheren Alterns. Die Menschen starben wegen des niedrigeren Lebensstandards bereits in jüngeren Jahren. Aus heutiger Sicht sind diese Ursachen vermeidbar. Was also zugenommen hat, ist die Wahrscheinlichkeit eines normal ablaufenden und daher entsprechend langfristigen Alterungsprozesses. Dieser Alterungsprozess endet
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in unabänderlicher Weise mit dem Tod. Unter idealen Lebensbedingungen würde der Tod nach 90–110 Jahren eintreten, wenn der Mensch, wie einst Abraham, „alt und lebenssatt“ geworden ist. Abraham ist allerdings, wenn man dem biblischen Bericht Glauben schenken darf, erheblich älter geworden!
Medizinische Aspekte des Alterns
Worin besteht das Altern eigentlich? Nun, ganz genau weiß das auch die moderne Medizin noch nicht, aber bestimmte Merkmale wie die Änderung des Aussehens und die Abnahme der Leistungsfähigkeit verschiedener Organe sind allgemein bekannt. Ein Physiologe aus Kiel, der immer zu einem Scherz aufgelegt war, pflegte zu formulieren: „Alle Sinne nehmen ab, nur einer nimmt zu, der Starrsinn.“
Abnahme der Sauerstoff- und Energiebereitstellung
Aus der Sicht des Leistungsmediziners hat der Alterungsprozess allerdings ein dominantes Merkmal: Die Körperzellen, insbesondere die Muskelzellen, haben die Aufgabe, Energie bereitzustellen. Zu diesem Zweck verbrennen sie Nährstoffe mit Sauerstoff. Genau diese Fähigkeit nimmt im Laufe des Alterungsprozesses ab. Auch die Ausdauerleistungsfähigkeit geht zurück. Die Leistungsfähigkeit kann medizinisch folgendermaßen bestimmt werden: Während körperlicher Belastung wird die Sauerstoffmenge gemessen, die der Körper für das Verbrennen der Nährstoffe aufnimmt. Die Sauerstoffmenge, die der Körper bei anstrengender Belastung (Fahren auf dem Ergometerrad) äußerstenfalls aufnehmen kann, ist das anerkannte Maß für die Leistungsfähigkeit. Es wird maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) genannt. Mit 25 Jahren, dem Alter der größten Leistungsfähigkeit des ganzen Lebens, beträgt sie beim Mann 42 ml Sauerstoff pro kg Körpergewicht und bei der Frau 33,5 ml, das sind zirka 20% weniger. Während des Älterwerdens verringert sich die maximale Sauerstoffaufnahme. Wie rasch und wie stark die Leistungsfähigkeit im Laufe des Lebens abnimmt, ist bekannt: Bei Männern beträgt der Rückgang pro Dekade (also in zehn Jahren) zirka 10% des Wertes mit 25 Jahren, bei Frauen ungefähr 6%. Es lässt sich leicht ausrechnen, dass die Körperzellen eines Mannes nach 100 Lebensjahren nicht mehr fähig sind, Energie bereitzustellen. Tatsächlich sinkt aber die Leistungsfähigkeit
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bereits nach 8 Dekaden auf ein derart niedriges Niveau, dass die dauerhafte und ausreichende Energieversorgung des Körpers nicht mehr gewährleistet ist. Die vitalen Funktionen wie Atmung, Herztätigkeit, Verdauung, Körperwärme u.a. können nicht mehr aufrechterhalten werden. Damit ist auch aus leistungsmedizinischer Sicht der Zeitpunkt des natürlichen Todes gekommen. Interessanterweise kommt man bei dieser Extrapolation auf 105 Jahre Lebenszeit. Das deckt sich in etwa mit jener Spanne von 90–110 Jahren, die sich auch bei der historischen Betrachtungsweise ergeben hat. Da bei Frauen, wie oben erwähnt, der Leistungsrückgang langsamer vor sich geht als bei Männern, errechnet sich für Frauen eine um etwa 10 Jahre längere Lebenserwartung. Das entspricht auch den tatsächlichen Gegebenheiten. Veränderung der Muskelmasse
Ein weiterer leistungsmedizinischer Aspekt des Alterns ist der Verlust an Muskelmasse. Bei jungen, schlanken Männern beträgt der Muskelanteil an der Körpermasse etwa 40%, der Körperfettanteil 15%, bei einem 75 kg schweren Mann sind das zirka 30 kg. Auch bei den Muskeln beträgt der altersbedingte Abbau 10% pro Dekade. Da das Körpergewicht in der Regel nicht geringer wird, bedeutet das, dass der Körperfettanteil entsprechend zunimmt. Bei 50-jährigen Männern beträgt der durchschnittliche Körperfettanteil daher schon 25%, ohne dass dabei ein wesentliches Übergewicht bestünde. Bei jungen, schlanken Frauen liegt der Muskelanteil bei etwa 30% und der Fettanteil bei 25%. Dafür ist auch hier der alternsbedingte Abbau langsamer. Der Abbau der Muskelmasse hat vor allem die Abnahme der Körperkraft zur Folge. Das kann so weit gehen, dass im höheren Alter das eigene Körpergewicht, z.B. beim Aufstehen aus einem Sessel oder beim Treppensteigen, Schwierigkeiten bereitet. Der Verlust an Muskelmasse und der Ersatz durch Fettgewebe verändern das körperliche Erscheinungsbild mit, was den Alterungsprozess äußerlich sichtbar macht. Verlust an Knochenmasse
Eine weitere bekannte Folge des Alterungsprozesses ist der Verlust an Knochenmasse. Ausgehend von einem Spitzenwert, etwa um das 25. Lebensjahr, beträgt der Abbau ebenfalls rund 10% pro Dekade (hier allerdings bei Frauen etwas schneller als bei Männern). Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Muskelmasse und Knochenmasse.
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Wieso werden wir nicht alle 100 Jahre alt? Degenerative Erkrankungen
Die Infektionskrankheiten sind leider nicht die einzige Ursache dafür, dass Menschen vor dem Erreichen der arttypischen Lebenserwartung sterben. In der heutigen Statistik der Todesursachen dominieren mit zirka 50% die Erkrankungen des Herzens und des Kreislaufs, wie z.B. Herzinfarkt oder Schlaganfall. Weitere 25% machen die bösartigen Tumore (Krebserkrankungen) aus. Alle anderen Todesursachen, inklusive der früher dominierenden Infektionskrankheiten oder Unfälle, sind in den restlichen 25% enthalten. Die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bösartigen Neubildungen kann man mit einem Überbegriff als degenerative (Entartungs)erkrankungen bezeichnen. Sie werden für Menschen ab 50 zunehmend relevant. Deshalb entspricht die durchschnittliche Lebenserwartung noch immer nicht den an sich möglichen 90–110 Jahren. Das Wesentliche an degenerativen Erkrankungen ist, dass es nicht möglich ist, eine dominierende Ursache zu benennen, wie z.B. ein Bakterium oder ein Virus bei den Infektionskrankheiten. Man kann lediglich Merkmale beschreiben, die Menschen kennzeichnen, die ein höheres Risiko haben, eine solche degenerative Erkrankung zu bekommen. Solche Merkmale heißen Risikofaktoren. Es ist zu vermuten, dass bestimmte Risikofaktoren ursächlich an der Entstehung und am Fortschreiten degenerativer Erkrankungen beteiligt sind. Das lässt sich aber keineswegs immer beweisen. Risikofaktoren
Es ist eine Reihe von Risikofaktoren für verschiedene Krankheiten bekannt. Ein zu hoher Cholesterinspiegel im Blut, überhöhter Blutdruck und besonders Diabetes mellitus Typ 2 (Alterszucker) gelten als Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zigarettenrauchen stellt außerdem einen Risikofaktor für eine Erkrankung an Bronchialkrebs dar. Wissenschaftliche Erkenntnisse weisen stark daraufhin, dass sich die Gefahr einer Erkrankung tatsächlich verringert, wenn man derartige Risikofaktoren ausschaltet. Ein Herzinfarkt zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr muss also kein unabänderliches Schicksal darstellen. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses, das die individuelle Lebensspanne radikal verkürzen kann, wird durch Risikofaktoren erhöht und durch deren Ausschaltung vermindert. Für den Risikofaktor des Zigarettenrauchens hat der Nobelpreisträger Linus Pauling einmal ausgerechnet, dass (statistisch gesehen) jede Zigarette
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das Leben um 13 Minuten verkürzt. Für einen Menschen, der 40 Jahre hindurch täglich ein Päckchen raucht, macht das in Summe rund 7 Jahre. Wie oben geschildert, ist ein niedriger allgemeiner oder individueller Lebensstandard ein Risikofaktor für Infektionskrankheiten. Wird er ausgeschalten, ist das Auftreten von Infektionskrankheiten erwiesenermaßen weniger wahrscheinlich. Ein dominanter Risikofaktor ist übrigens das Alter an sich! Das bedeutet, dass die genannten körperlichen Risikofaktoren mit dem Alter an Häufigkeit zunehmen. Auch ohne andere nachweisliche Risikofaktoren steigt die Wahrscheinlichkeit, eine degenerative Krankheit zu bekommen und auch daran zu sterben ganz automatisch, je älter man wird. Kontrolliertes Risiko und Lebensstilmedizin
In welchem Ausmaß lassen sich Gesundheit und Lebenserwartung durch die Kontrolle von Risikofaktoren beeinflussen? Erbanlagen
Auch dazu gibt es plausible Schätzungen: Etwa 25–30% aller Faktoren, die sich auf Gesundheit und Lebenserwartung auswirken, sind in den Erbanlagen fixiert, sind also per se nicht beeinflussbar. Das heißt durchaus, dass es eine Erbanlage für langes Leben gibt! Sie wird übrigens am stärksten von der Mutter auf den Sohn übertragen. Mit anderen Worten: Die wichtigste genetische Voraussetzung für ein langes Leben ist es, der Sohn einer Mutter zu sein, die sehr lange lebt! Unbeeinflussbare Umweltfaktoren
Weitere 25–30% sind Umweltfaktoren, die außerhalb des unmittelbaren Einflussbereiches des Einzelnen liegen. Der allgemeine Lebensstandard, das Niveau des Gesundheitswesens, der Verkehr, die Arbeitswelt u.a. hängen mit der Entwicklung der gesamten Gesellschaft zusammen. Lebensgewohnheiten
Die restlichen 40–50% der Umweltfaktoren lassen sich vom Individuum verändern. Schlechte Lebensgewohnheiten können die Ernährung, das Bewegungsverhalten, den Genussmittelkonsum, das Sozialverhalten und weitere persönliche Verhaltensweisen betreffen. Sie fördern die Ausbildung von Risikofaktoren im Organismus und letztlich die Ent-
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stehung degenerativer Krankheiten. Eine Änderung derartiger Lebensgewohnheiten ist allerdings keine leichte Aufgabe. Eher im Gegenteil. Denn persönliche Verhaltensweisen sind – wie bereits erwähnt – in ein Netzwerk von allgemeinen Umweltbedingungen eingebettet. Arbeitszeiten, Einkommen und Familienverhältnisse schaffen relativ fixe Rahmenbedingungen. Lebensstilmedizin
Lebensstilmedizin befasst sich mit der gezielten Änderung des Lebensstils, um degenerativen Erkrankungen vorzubeugen oder sie zu behandeln. Zwischen Lebensstilmedizin und „klassischer“ Medizin, die vorwiegend mit Medikamenten oder Operationen arbeitet, gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die Maßnahmen der Lebensstilmedizin können ausschließlich von den Betroffenen selbst umgesetzt werden. Die Rolle des Arztes beschränkt sich auf das Empfehlen und Beraten. Die Lebensstilmedizin hat es weniger mit medizinischen als mit pädagogischpsychologischen Problemen zu tun: Wie gelingt es Ärzten, möglichst viele Menschen dazu zu bewegen, lieb gewonnene, aber ungesunde Lebensgewohnheiten aufzugeben und sie durch neue, gesundheitsfördernde zu ersetzen? Zusammenfassende Übersicht der unerwünschten Aspekte des Alterns
Aspekte des Alterns – Verlust an Ausdauerleistungsfähigkeit und Muskelkraft – Zunehmende Einschränkung der Mobilität bis hin zur Pflegebedürftigkeit – Beschwerden und Erkrankungen des Bewegungsapparates – Verlust an Knochenmasse bis hin zur Osteoporose, erhöhte Bruchgefahr – Veränderung des körperlichen Erscheinungsbildes – Häufiges Auftreten körperlicher Risikofaktoren: Bluthochdruck, erhöhte Blutspiegel an Cholesterin und Blutfetten, Diabetes mellitus Typ 2 – Kontinuierliche Einnahme von Medikamenten auch ohne körperliche Beschwerden – Gefahr von Herzinfarkt, Schlaganfall, Karzinomen – Mentale Erkrankungen
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4. Gibt es eine Anti-Aging-Medizin? „Reparaturmedizin“
Hat nun die moderne Medizin wirksame Möglichkeiten, den Alterungsprozess mit seinen unerwünschten Merkmalen wirksam zu beeinflussen? Gibt es also so etwas wie eine Anti-Aging-Medizin? Außer Frage stehen die ans Wunderbare grenzenden Möglichkeiten bei eingetretenen Schäden Reparaturen anzubieten (z.B. Bypass- oder Unfallchirurgie und Transplantantionsmedizin). Allerdings wird durch diese „Reparaturmedizin“ nicht ein einziger neuer Erkrankungsfall verhindert. Der Alterungsprozess selber wird ja nicht beeinflusst. Behandlungsbedürftige Zustände bzw. Schäden treten trotzdem auf. Die moderne Medizin hat durchaus wirksame Medikamente zur Verfügung und so fällt es Patienten mit chronischen Erkrankungen und Schäden leichter, diese zu ertragen. Auch das Fortschreiten von Erkrankungen lässt sich verlangsamen. Das ist aber wahrscheinlich nicht das, was sich die meisten Menschen unter Anti-Aging vorstellen. Der Verlust der körperlichen Leistungsfähigkeit ist wahrscheinlich der gravierendste Aspekt des Alterns. Er kann auf keine wie immer geartete Weise medizinisch, d.h. mittels Medikamenten oder Operationen, verhindert werden. Somit bleibt leider nur die ernüchternde Feststellung, dass es, entgegen anders lautenden Behauptungen der Pharmaindustrie, keine traditionelle Anti-Aging-Medizin, das heißt in Form von Medikamenten, gibt.
Regelmäßiges Training
Allerdings gibt es eine Maßnahme, mit der sich alle genannten altersbedingten Beschwerden wirksam und nachhaltig beeinflussen lassen:
Regelmäßiges, ganzjähriges und lebenslanges Training
Dabei bedeutet regelmäßig, dass jede Woche an 2–4 Tagen trainiert werden soll, ganzjährig bedeutet 52 Wochen im Jahr und lebenslänglich bedeutet wirklich ein ganzes Leben lang, nämlich bis zum Tod. Die Wirksamkeit des Trainings ist auch für 90-jährige gebrechliche Menschen und für chronisch Kranke wissenschaftlich seriös bewiesen. Die meisten Menschen bewegen sich aber in ihrem beruflichen Alltag zu wenig. Spazieren zu gehen reicht erfahrungsgemäß ebenfalls
Anti-Aging
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nicht aus, um ein normales Niveau körperlicher Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten, geschweige denn, es zu verbessern. Auf die Qualität und Quantität der Bewegung kommt es an. Nur ein ganzjähriges, lebenslanges Training sowohl der Ausdauer (Atmung, Kreislauf und Muskelstoffwechsel) als auch der Muskelkraft verbessert die Leistungsfähigkeit und erzielt die erwünschten präventivmedizinischen Effekte. Ausdauer und Kraft sind entscheidende Grundlagen für die Geschicklichkeit, die zusätzlich durch mannigfaltige Übungen und verschiedene Sportarten erhalten und verbessert werden kann. Die präventivmedizinische Wirkung des Trainings lässt sich natürlich auch therapeutisch nutzen. Ausdauertraining senkt erhöhten Blutdruck, erhöhte Cholesterin-und Triglyzeridspiegel im Blut und wirkt dadurch vorbeugend auf die Atherosklerose mit allen Folgeerkrankungen. Es wirkt vorbeugend und behandelnd beim Diabetes mellitus Typ 2, bei Depressionen und unterstützt die Gewichtsabnahme. Krafttraining wirkt ebenfalls durchschlagend bei Alterszucker, so dass die Feststellung zulässig ist: Training ist die wirksamste bekannte Einzelmaßnahme zur Vorbeugung und Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2. Muskeltraining ist von hervorragender Wirkung bei Rückenschmerzen, weil diese fast immer muskulär bedingt sind. Krafttraining ist die beste Vorbeugung gegen Osteoporose. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen dem Muskelquerschnitt und der Knochendichte. Krafttraining hat ebenfalls eine deutliche antidepressive Wirkung.
Regelmäßiges, ganzjähriges und lebenslanges Training der Ausdauer und der Kraft ist in jedem Alter die wichtigste und wirkungsvollste Maßnahme, zur Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Es ist die einzige Anti-Aging-Maßnahme von erwiesener Wirksamkeit, die eine schwache Leistungsfähigkeit wieder verbessern kann. Es gibt kein Medikament und keine Kombination von Medikamenten, die dem Training an umfassender Wirksamkeit und Sicherheit auch nur annähernd gleichkämen.
Auswirkungen auf die Lebenserwartung
Bedeutet das nun, dass Training auch lebensverlängernd wirkt? Die arttypische Lebenserwartung zu verlängern ist – wie gesagt – biologisch unmöglich. Training vermindert aber die Risikofaktoren und die Gefahr der Entstehung degenerativer Erkrankungen vor allem des Kreislaufs, aber auch von Karzinomen. Dadurch steigt die Wahrschein-
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lichkeit, einen größeren Teil der arttypischen Lebenserwartung auch zu erleben, so wie das bei der Zurückdrängung der Infektionskrankheiten zu beobachten war. Ein zweiter wesentlicher Aspekt ist, dass durch regelmäßiges Training in jedem Alter die Leistungsfähigkeit und damit die Mobilität höher bzw. die Pflegebedürftigkeit geringer ist. Dies wirkt sich sicherlich auf die Lebensqualität alter Menschen entscheidend aus. Dieser Aspekt ist auch für die Konzeption zukünftiger gesundheitspolitischer Strategien von erheblicher Bedeutung.
Epidemiologie der Zivilisationskrankheiten Marcus Müllner
Unsere Kinder sind zu dick! Das Durchschnittsgewicht der ÖsterreicherInnen nimmt zu! Die häufigste Todesursache sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen!
Täglich werden wir in den Medien vor den Zivilisationskrankheiten und ihren Folgen gewarnt. Die Liste der Schlagzeilen lässt sich beliebig lange fortsetzen. Was steckt nun tatsächlich dahinter? Genauer gesagt, welches Problem liegt vor und wie groß ist es wirklich?
1. Was sind eigentlich Zivilisationskrankheiten? Zivilisationskrankheiten im weitesten Sinne sind Erkrankungen, die durch ungesunde Lebensweisen hervorgerufen werden. Kurz, wir rauchen, wir bewegen uns zu wenig, essen das Falsche – und davon oft zu viel. Außerdem leiden wir unter Stress.
Einfluss der Lebensbedingungen
Die Lebensgewohnheiten des Menschen unterscheiden sich heute grundlegend von denen unserer stammesgeschichtlichen Vorfahren. Seit ungefähr 120.000 Jahren gibt es den intelligenten Homo sapiens sapiens. Im Laufe der Entwicklungsgeschichte passten sich die Menschen den jeweiligen Lebensbedingungen an: Es ging darum, unter teilweise sehr widrigen Bedingungen zu überleben. 2,5 Millionen Jahre beschäftigten sich unsere Vorfahren ausschließlich mit dem Sammeln und Jagen.
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M. Müllner
Dies tat auch der Homo sapiens. Durch den Selektionsdruck der Evolution richteten sich die Menschen darauf aus, schwer für ihr Essen zu arbeiten. Man könnte fast sagen, der Mensch sei dafür „entwickelt“ worden. Um genügend Nahrung zu finden, wurden mitunter ausgedehnte und unwegsame Areale durchwandert. Das Jagen war mit viel Laufen – sowohl mit kurzen Sprints als auch mit Dauerläufen – verbunden, um schnelles Vorwärtskommen zu gewährleisten. Oft mussten unsere Vorfahren schwere Lasten, wie Nahrungsmittel und lebensnotwendige Güter zu einem Sammelplatz transportieren. Dabei fehlten meist jegliche technische Hilfsmittel. Nahrungsmittel waren im Verhältnis zur verbrauchten Energie jedenfalls nicht im Übermaß vorhanden. Trotz der „natürlichen“ Lebensweise starben unsere Vorfahren sehr jung: Die durchschnittliche Lebenserwartung lag etwa zwischen 25 und 35 Jahren. Das hat sich erst seit zirka 150 Jahren mit der Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards wesentlich verändert. Aber auch die Form der Nahrungsbeschaffung und der Sorge um den Lebensunterhalt hat sich verhältnismäßig rasch und radikal gewandelt. Erst seit wenigen Jahren ist in den Ländern der westlichen Welt der Anteil an Menschen mit so genannten „sitzenden Tätigkeiten“ im Vergleich zur Gesamtbevölkerung groß. Auch das zunehmende Angebot an Fertignahrung (teilweise von extrem geringem Nährwert), die jederzeit griffbereit ist, gibt es erst seit kurzer Zeit. Wie schnell können wir Menschen uns an geänderte Lebensbedingungen anpassen? Einerseits können wir uns innerhalb von Tagen aufgrund unserer Intelligenz auf neue Lebensumstände einstellen, ohne uns körperlich – also genetisch – verändern zu müssen. Andererseits brauchen wir Menschen wahrscheinlich mehrere hunderttausend Jahre, um uns genetisch an bestimmte Umweltbedingungen anzupassen. Die körperliche Anpassung funktioniert so, dass laufend eine Reihe von zufälligen genetischen Veränderungen, von so genannten Mutationen, stattfindet. Solche Mutationen können nützlich oder auch schädlich sein. Viele Mutationen bleiben jedoch unbemerkt, weil sie keinen direkten Einfluss auf das Funktionieren des Individuums in der Umwelt haben. Oft tritt der Nutzen – oder auch Schaden – einer vorerst unbemerkten Mutation erst zutage, wenn andere Mutationen hinzukommen. Wenn eine oder mehrere Mutationen eine merkbare Veränderung hervorrufen, die das Überleben des Einzelnen und somit den Fortbestand der Art sichert, entsteht ein Auswahldruck. Über tausende von Jahren kann sich die Art, die über diese Anpassung verfügt, besser vermehren als andere.
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Zum Glück sind wir aufgrund unserer Intelligenz auch ohne genetische Veränderung in der Lage, uns an schwierigste Lebensbedingungen anzupassen. Auf ein paar Dinge sind wir aber weder intellektuell noch genetisch vorbereitet: Dazu zählen der Überfluss in der westlichen Welt und die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte rasant verändernden Lebensumstände.
2. Die typischen Zivilisationskrankheiten Zivilisationskrankheiten sind mittlerweile ein wichtiges Problem, das sowohl den Einzelnen als auch die Volksgesundheit betrifft. Die häufigsten und wichtigsten davon werden in diesem Kapitel besprochen. Ärzte und Patienten bewerten wichtige Gesundheitsprobleme aufgrund ihres unterschiedlichen Zugangs oftmals anders. Das trifft besonders bei Zivilisationskrankheiten zu. Diese entstehen allmählich und verursachen lange keine Beschwerden, daher werden sie von den Betroffenen lange Zeit nicht wahrgenommen. Sie erscheinen dem Betroffenen nicht wichtig und werden von ihm nicht als Krankheit gesehen.
Bluthochdruck
Der Bluthochdruck stellt ein gutes Beispiel für diese Problematik dar. Er wird in zwei Werten angegeben, einem oberen und einem unteren Wert (zum Beispiel 125/80), und in Millimetern Quecksilbersäule (mmHg) gemessen. Wenn der obere Wert 140 mmHg oder mehr bzw. der untere 90 oder mehr beträgt, dann spricht man derzeit von Bluthochdruck. Die Normalwerte liegen unter diesen Grenzwerten. Wahrscheinlich werden in absehbarer Zukunft die definierten Normalwerte (unter 140/unter 90) weiter reduziert. Die neuen USA-Richtlinien sind bereits strenger. Das Risiko, eine der Begleiterkrankungen zu bekommen, macht nämlich bei diesen Grenzwerten nicht halt. Es nimmt aber bei einer weiteren Senkung des Blutdruckes ab. Das heißt, ein Blutdruck von 120/80 ist besser als einer von 135/85. Ist der Blutdruck dauerhaft erhöht, wird vom Arzt eine Krankheit, nämlich Bluthochdruck (Hypertonie), diagnostiziert. Dies bedeutet in den meisten Fällen, dass der Patient eine Krankheit hat, die er nicht wahrnimmt. Oft ist es sogar so, dass das Krankheitsgefühl erst auftritt, wenn der Bluthochdruck behandelt wird. Durch eine wirksame Behandlung sinkt der Blutdruck auf Werte, die der Körper nicht mehr als normal empfindet. Immer wieder berichten Patienten, dass sie sich erst
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M. Müllner
Tabelle 1. Die häufigsten Ursachen für erhöhten Blutdruck Unbekannt und auch nicht herauszufinden
>90%
Chronische Nierenerkrankungen bzw. Erkrankungen der Nierenarterien
5–7%
Seltene hormonelle Erkrankungen
<1–2%
seit ihrer Behandlung müde und schlapp fühlen, zumindest bis sich der Körper an die normalisierten bzw. niedrigeren Blutdruckwerte gewöhnt hat. Das dauert manchmal sogar mehrere Wochen. Aus Menschen, die sich bislang als gesund betrachteten, werden so unversehens Patienten, da der Bluthochdruck zufällig entdeckt wurde. Überdies fühlen sie sich durch die Behandlung schlechter als zuvor. Das lädt nicht gerade zum Mitspielen ein. Obendrein rufen die Medikamente – selten, aber doch – Nebenwirkungen hervor. Je nach Medikament kann es zum Beispiel zu Husten, Beinschwellungen, Schwindel oder anderen typischen Beschwerden kommen. Die Ursache des Bluthochdrucks ist in den meisten Fällen vollkommen unklar (idiopathisch), obwohl bekannt ist, dass gewisse Faktoren, zum Beispiel das Gewicht, eine Rolle spielen. Tabelle 4 (siehe S. 28) zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, im Laufe seines Lebens an Bluthochdruck zu erkranken, hoch ist. Auf der Suche nach den körperlichen Ursachen werden oft weitere Erkrankungen entdeckt, nach deren Behandlung auch der Blutdruck sinkt. Die häufigsten Ursachen des Bluthochdrucks sind in Tabelle 1 angeführt. Bleibt der Bluthochdruck unbehandelt und arbeitet der Patient nicht mit, kommt es über Jahre zu schleichenden Veränderungen in vielen Organsystemen (siehe Tabelle 2). Diese bleiben lange unbemerkt, besonders die Blutgefäße werden geschädigt. Sie verlieren an Geschmeidigkeit und Elastizität und verengen sich. Derart veränderte Blutgefäße neigen dazu, sich teilweise oder sogar ganz zu verstopfen. Durch diese Veränderungen zerreißen sie leichter als gesunde Blutgefäße. Bis diese Probleme zu Tage treten, ist bereits viel wertvolle Zeit vergangen. In Europa haben etwa 44% aller Erwachsenen einen erhöhten Blutdruck, also fast jeder Zweite. Noch erschreckender ist, dass der Bluthochdruck nur ungefähr bei einem Viertel der Betroffenen behandelt wird. Die Häufigkeit ist zwar bei 35- bis 44-Jährigen geringer, nimmt aber mit steigendem Lebensalter stark zu. Interessanterweise bietet sich in Nordamerika ein umgekehrtes Bild: Nur 28% der Nordamerikaner haben einen erhöhten Blutdruck, in 44% der Fälle wird er auch medikamentös behandelt.
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Tabelle 2. Die häufigsten Folgen eines jahrelang schlecht eingestellten Bluthochdrucks – – – – –
Herzinfarkt chronisches Nierenversagen chronische Herzmuskelschwäche Hirnblutung arterielle Verschlusskrankheit
Die koronare Herzkrankheit: Angina pectoris und Herzinfarkt
Das Herz ist eine nahezu perfekte Blutpumpe. Es besteht aus Muskelzellen, die in einer faszinierend komplizierten Struktur angeordnet sind. Sie ermöglichen so einen höchst wirksamen Bluttransport durch den gesamten Körper. Diese Zellen bilden einen Hohlraum und ziehen sich rhythmisch und koordiniert zusammen, um das Blut vorwärts zu schieben. Bestimmte Muskelzellen, so genannte Schrittmacherzellen, haben auch elektrische Eigenschaften und geben den Rhythmus vor. Die Herzklappen sorgen dafür, dass das Blut in die richtige Richtung geleitet wird und nicht zurückfließt. In den Lungen wird das Blut mit lebensnotwendigem Sauerstoff angereichert. Mit diesem sauerstoffreichen Blut werden dann alle lebenden Zellen des Körpers versorgt. Wenn der Sauerstoffbedarf im Körper steigt, pumpt das Herz schneller, um mehr Blut transportieren zu können. Ein gesundes Herz passt sich an einen weiten Anforderungsbereich innerhalb von Sekunden an. Der Herzmuskel selbst muss natürlich auch ausreichend mit sauerstoffhältigem Blut versorgt werden, um dieser Aufgabe nachkommen zu können. Die Bezeichnung koronare Herzerkrankung ist ein Überbegriff. Er besagt, dass die Herzkranzgefäße – die Arterien, die den Herzmuskel mit Blut versorgen – erkrankt sind. Dadurch wird der Herzmuskel weder ausreichend durchblutet noch mit Sauerstoff beliefert. Von Angina pectoris sprechen die Mediziner, wenn die Arterien so weit eingeengt sind, dass bei Belastungen nicht genug Blut zum Herzen bzw. in bestimmte Herzregionen fließt. Der Betroffene bekommt dann Brustschmerzen, vielleicht auch Atemnot und muss die Belastungssituation beenden. Danach verschwinden die Beschwerden wieder. Wenn ein Blutgefäß im Herzen plötzlich durch ein Blutgerinnsel verstopft wird, sterben die Zellen des betroffenen Gebietes ab. Das Absterben von Herzmuskelzellen durch akuten Sauerstoffmangel nennen wir Herzinfarkt. Abgestorbene Herzmuskelzellen können sich nicht mehr
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neu bilden und werden durch Narbengewebe ersetzt. Da die Architektur des Herzens kompliziert ist, kann die Funktion unserer Muskelpumpe empfindlich beeinträchtigt werden. In der Folge wird zu wenig Blut gefördert. Neben der mangelhaften Pumpleistung kann es, insbesondere während der ersten Stunden bis Tage, auch zu einer Störung der regelmäßigen elektrischen Aktivität kommen: Meist wird der Rhythmus durch eine „Fehlzündung“ geschädigter Herzmuskelzellen gestört. Die Schrittmacherzellen können keinen geordneten Rhythmus mehr erzeugen. Die Herzkammer produziert in der Folge nur mehr unkoordinierte Muskelzuckungen, anstatt zu pumpen. Dies lässt sich anhand eines vielleicht etwas ungewöhnlichen Vergleichs gut veranschaulichen: Es ist, als hätten bei einem Eishockey-Match alle Spieler wegen eines Stromausfalls die Orientierung im Dunkeln verloren. Doch ohne Zusammenspiel ist jede Mannschaft hilflos. Wenn die gesamte Herzmuskulatur nicht mehr koordiniert funktioniert – was beim Kammerflimmern der Fall ist – kann das Herz das Blut nicht mehr vorwärts pumpen. Der Betroffene verstirbt innerhalb von Sekunden. Kammerflimmern, oft ausgelöst durch einen Herzinfarkt, ist meistens die Ursache des plötzlichen Herztodes. Jedes Jahr sterben in Europa etwa 400.000 Menschen am plötzlichen Herztod. Auch wenn Patienten mit einem akuten Herzinfarkt das Krankenhaus erreichen, ist die Gefahr noch nicht gebannt: Innerhalb der ersten 4 Wochen danach stirbt etwa einer von 20 Betroffenen. 3 von 4 Patienten, die ihren ersten Herzinfarkt überleben, haben nach entsprechender Behandlung eine gute Lebensqualität. Bei jedem 4. Patienten sind jedoch Lebensqualität und -erwartung stark vermindert. Die Leistungsfähigkeit ist geringer, die Betroffenen leiden unter Atemnot, mitunter schon bei geringsten Belastungen, Brustschmerzen können immer wieder auftreten, mehrfache Eingriffe (zum Beispiel Herzkatheteruntersuchungen oder Herzoperationen) können notwendig sein.
Schlaganfall
Das Gehirn ist die Schaltzentrale unseres Körpers. Alle bewussten und auch viele unbewusste Aktionen werden dort auf kleinstem Raum geplant, koordiniert und eingeleitet. Schon kleine Schäden können zu großen Problemen führen, je nachdem, welche Zentren des Gehirns betroffen sind. Wenn ein Blutgefäß im Gehirn durch ein Blutgerinnsel verstopft wird, so kommt es – ähnlich dem Herzinfarkt – zur Sauerstoffunterversorgung der betroffenen Gehirnzellen. Leider sind diese Zellen einem Sauerstoffmangel gegenüber besonders empfindlich und sterben innerhalb von
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wenigen Minuten ab. Anschließend kommt es zu einer Entzündungsreaktion, das betroffene Gewebe schwillt an. Das Gehirn ist von einer knöchernen Schale, dem Schädelskelett umgeben. Zum Glück, denn das schützt es vor Gewalteinwirkungen, zum Beispiel vor Schlägen – was besonders in der Evolutionsgeschichte von Bedeutung war. Der Schädel verhindert aber eine Ausdehnung des Gehirns bei der vorher beschriebenen Schwellung. Der dabei entstehende Druck schädigt weiteres Gehirngewebe, da es gequetscht wird. Das Bild eines Schlaganfalls ergibt sich auch, wenn ein Blutgefäß im Gehirn platzt. Eine angeborene Schwachstelle in den Blutgefäßen oder durch langjährigen Bluthochdruck und erhöhte Blutfette brüchig gewordene Gefäße können die Ursache sein. Wenn ein Blutgefäß im Gehirn zerreißt, fließt das Blut mit relativ hohem Druck in das weiche Gehirngewebe und zerstört es. Auch hier kommt es anschließend zu einer Entzündungsreaktion und noch mehr Gewebe wird durch die Schwellung geschädigt. Die Symptome des Schlaganfalls können geringfügig und vorübergehend sein, wie z.B. Blindheit auf einem Auge für wenige Minuten, Schwindel, verwaschene, undeutliche Sprache, als wäre man betrunken, oder eine wenige Stunden anhaltende Lähmung eines Armes. Schwerwiegende Symptome reichen von einer bleibenden Lähmung einer Körperhälfte, über Sprech-, Denk-, und Gemütsstörungen bis hin zur vollkommenen Pflegebedürftigkeit. Sie können auch zum Tod führen. In jedem Fall tritt das Ereignis so plötzlich auf, dass der Patient sich wie „vom Schlag getroffen“ fühlt.
Nierenversagen
Die Nieren sorgen für einen ausgeglichenen Wasserhaushalt und scheiden „giftige“ Substanzen aus. Sie haben eine Reihe von weiteren wichtigen, aber weniger bekannten Aufgaben: Gemeinsam mit dem Wasserhaushalt wird auch der Elektrolythaushalt (dazu zählen zum Beispiel Natrium, Kalium, Magnesium und Kalzium) geregelt. Schon kleine Schwankungen können wir als sehr unangenehm empfinden. Die Symptome reichen von unspezifischer Müdigkeit und Muskelschwäche bis hin zu Muskelkrämpfen und im (sehr seltenen) Extremfall sogar bis zu Bewusstseinsverlust oder tödlichen Herzrhythmusstörungen. Weiters sind die Nieren an der Regulierung des Blutdrucks maßgeblich beteiligt. Einerseits über die Steuerung des Wasserhaushaltes, andererseits produzieren sie Substanzen, die die Blutgefäße eng stellen und damit den Blutdruck regeln.
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Die Nieren beeinflussen auch den Knochenstoffwechsel, denn sie spielen bei der Produktion des dafür notwendigen Vitamin D eine wichtige Rolle. Außerdem erzeugen sie ein Hormon, das für die Bildung der roten Blutkörperchen nötig ist. Sind die Nieren geschädigt, gerät daher vieles im Körper aus dem Lot. Zum Glück benötigt man nur relativ wenig Nierengewebe, um die genannten Funktionen aufrecht zu erhalten. Es treten erst dann Probleme auf, wenn der größte Teil des Nierengewebes geschädigt ist. Eine der häufigsten Ursachen des chronischen Nierenversagens ist langjähriger Bluthochdruck. Ein großer Teil der Nieren besteht aus kleinsten, geschlängelten Blutgefäßen, durch die das Blut strömt. Durch Filtrierungsprozesse wird der Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt geregelt. Auch diese Gefäßchen werden durch den hohen Blutdruck verändert, verdicken sich und gehen dann eines nach dem anderen zu. Obwohl die medizinischen Probleme erst sehr spät auftreten, ist eine entsprechende Behandlung in der Lage, das Fortschreiten der Niereninsuffizienz zu verhindern bzw. zu bremsen. Man schätzt, dass in Österreich etwa 300.000 Menschen eine chronische Nierenerkrankung mit Versagen von unterschiedlich starker Ausprägung haben. Wenn die Nieren ihrer Funktion nicht mehr ausreichend nachkommen können, muss eine Nierenersatztherapie (Dialyse) durchgeführt werden. Obwohl viele Patienten relativ gut damit zurechtkommen und sich einer angemessenen Lebensqualität erfreuen, darf man nicht vergessen, dass ihre Lebenserwartung stark vermindert ist. Sie ist ungefähr um 20 Jahre kürzer als die der gleichaltrigen, gesunden Bevölkerung. Als Alternative zur Nierenersatztherapie bietet sich die Nierentransplantation an. In Österreich stehen derzeit etwa 3.000 Menschen unter Nierenersatztherapie, 3.000 unterzogen sich einer Nierentransplantation.
Herzinsuffizienz
Herzinsuffizienz ist der medizinische Fachausdruck für Herzmuskelschwäche. Der Tabelle 3 sind auf einen Blick die häufigsten Ursachen zu entnehmen. Die häufigste Ursache der Herzinsuffizienz ist ein früherer Herzinfarkt. Die Pumpleistung des Herzen ist durch die fehlende Muskelmasse, die durch Narbengewebe ersetzt wurde, geringer. Eine andere häufige Ursache der Herzinsuffizienz ist ein langjähriger, unbehandelter Bluthochdruck. Der Herzmuskel muss andauernd
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Tabelle 3. Ursachen der Herzinsuffizienz – – – – – – – –
Koronare Herzkrankheit/Herzinfarkt Langjähriger Bluthochdruck Herzmuskelentzündung Herzklappenveränderungen Alkohol Unbekannte Ursachen Stoffwechselstörungen Angeborene Ursachen
gegen einen mitunter stark erhöhten Widerstand arbeiten. Anfänglich passt sich der Herzmuskel an, indem sich die Muskelzellen vergrößern. Wenn das nicht ausreicht, werden neue Muskelzellen gebildet. Für diese Muskelzellen gibt es aber keine ausreichende Blutversorgung. In weiterer Folge gehen Zellen unter und werden durch Narbengewebe ersetzt. Wenn die Herzklappen verengt sind, muss das Herz ebenfalls gegen einen erhöhten Widerstand pumpen und es kann zum Versagen kommen. Wenn Herzklappen undicht sind, wird das Blut nicht nur in eine Richtung gepumpt, sondern vor- und zurückgeschoben. Das Herz muss viel mehr Arbeit leisten, um den Körper entsprechend mit Sauerstoff versorgen zu können, einer Sisyphosarbeit gleich. Wenn dieser Zustand über viele Jahre anhält, kann es auch dadurch zum Herzmuskelschaden kommen. Wenn die Pumpleistung des Herzens gestört ist, erhalten die Organe zu wenig Blut und Sauerstoff. Durch verschiedene Rückkoppelungsmechanismen versucht der Körper diesen Mangel auszugleichen: Er scheidet weniger Natrium und Wasser aus und körpereigene Stoffe, die Blutgefäße verengen, werden ausgeschüttet. Beim Herzgesunden sind diese Regelmechanismen notwendig, um optimale Leistungen in allen Lebenslagen bzw. bei allen Belastungen erbringen zu können. Beim Herzkranken verselbständigen sich diese Prozesse und zwingen das ohnedies schon geschwächte Herz dazu, noch mehr zu leisten, als es eigentlich in der Lage ist. Die Ausprägung des Herzversagens, welche der Patient wahrnimmt, hat ein extrem breites Spektrum. Ein Großteil der Betroffenen bemerkt die Erkrankung lange nicht. Wenn Beschwerden auftreten, leiden Menschen mit Herzschwäche vor allem an Atemnot und verminderter Leistungsfähigkeit, da der Körper nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. Atemnot tritt in leichten Fällen nur bei schweren körperlichen Belastungen, in Extremfällen sogar beim Sitzen auf. Weitere mögliche Symptome können vor allem geschwollene Beine sein. Beinschwellungen entstehen, wenn die Pumpleistung des Herzens nicht aus-
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reicht, um das Blut schnell genug aus diesen am tiefsten liegenden Körperpartien abzutransportieren. Sehr fortgeschrittene Fälle von Herzinsuffizienz können durch die stark verminderte Blutzirkulation Niereninsuffizienz nach sich ziehen. Mit zunehmendem Alter steigt die Häufigkeit der Herzinsuffizienz. Bei etwa jedem 25. Erwachsen über 45 Jahre kann mit speziellen Untersuchungen eine verminderte Pumpleistung nachgewiesen werden, ohne dass die Betroffenen etwas davon merkten. Nur jeder 50. klagt über Beschwerden. Der Schweregrad der Herzinsuffizienz bestimmt die Lebensqualität der Patienten. Menschen mit Herzinsuffizienz haben eine stark verminderte Lebensqualität und Lebenserwartung. Die Lebenserwartung hängt von der Ursache der Herzinsuffizienz und von der entsprechenden medizinischen Behandlung ab. Sie kann stark schwanken: Manche Menschen überleben nur mehr wenige Wochen oder Monate, andere jedoch viele Jahre. Eine entsprechende medizinische Behandlung vermag die Lebenserwartung und Lebensqualität vieler Patienten zu verbessern. Regelmäßiges Training hilft, die Ursachen der Herzinsuffizienz – zum Beispiel Bluthochdruck und Blutfette – zu reduzieren. Ob das auch zu einer messbaren Verminderung der Herzinsuffizienzrate in der Bevölkerung führt, ist unklar. Wenn Patienten mit bereits bestehender Herzinsuffizienz Ausdauertraining betreiben, erhöht sich die Belastbarkeit und damit die Lebensqualität.
Diabetes mellitus
Im Volksmund ist der Diabetes mellitus als Zuckerkrankheit bekannt. Im Wesentlichen kann man zwischen zwei Formen unterscheiden. Der Diabetes Typ 1 tritt fast ausschließlich bei Kindern und Jugendlichen auf, der Diabetes Typ 2 normalerweise erst im Erwachsenenalter. Der Diabetes Typ 1 ist selten und es sind keine Vorbeugungsmaßnahmen bekannt. Die Bauchspeicheldrüse hört auf, das körpereigene Hormon Insulin zu produzieren. Es ist notwendig, um Zucker aus der Blutbahn aufzunehmen und in der Leber und im Muskel zu speichern. Da der Blutzucker ungenügend oder gar nicht gesenkt werden kann, ist ein erhöhter Blutzuckerspiegel feststellbar. Zu hohen Blutzucker spürt man, wenn überhaupt, nur bei extrem erhöhten Werten. Die Zeichen sind oft schwer zu interpretieren, da sie unspezifisch sind. Die Betroffenen klagen meist über starken Durst, trinken viel und müssen viel Harn lassen. Gewichtsverlust, Müdigkeit und
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Abgeschlagenheit können auftreten. Im Extremfall eines Coma diabeticum verliert der Betroffene das Bewusstsein. Oft genug wird ein Diabetes Typ 1 bei Kindern erst durch das Koma erkannt. Wenn der Blutzuckerspiegel über lange Zeit erhöht ist, spüren das die Betroffenen nicht. Dennoch nehmen die Blutgefäße, ähnlich wie bei langjährigem Bluthochdruck, Schaden. Der Mechanismus unterscheidet sich allerdings. Zuerst werden die kleinen Blutgefäße verändert und verengt, was ganz besonders die Augen und die Nieren beeinträchtigt. Einerseits ist es möglich, deshalb zu erblinden, andererseits können die Nieren versagen. Später erfasst die Erkrankung auch die größeren Gefäße, was zu Herzinfarkt, Schlaganfall oder peripherer arterieller Verschlusskrankheit führen kann. Da beim Diabetes Typ 1 kein Insulin gebildet wird, ist eine lebenslange Behandlung mit Insulin notwendig, um Spätschäden vorzubeugen. Beim Diabetes Typ 2 wird zwar Insulin von der Bauchspeicheldrüse produziert, aber weder im notwendigen Ausmaß noch zur richtigen Zeit. Es kommt zur Entwicklung einer so genannten Insulinresistenz – die Insulinwirkung ist abgeschwächt. In Österreich sind etwa 1–3% aller Erwachsenen am Diabetes Typ 2 erkrankt. Er tritt vor allem bei Übergewicht auf und ist bei vielen Menschen vermeidbar, theoretisch sogar heilbar. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass er völlig verschwindet, er lässt sich aber ohne Medikamente, nur mit einer vernünftigen Diät und mit körperlichem Training behandeln. Diabetes Typ 1 und Typ 2 werden von den Betroffenen kaum bemerkt. In beiden Fällen ist der Zuckerspiegel hoch und die Beschwerden sind ähnlich: Durst, viel Harn, Gewichtsverlust, Müdigkeit und Abgeschlagenheit. Beim Diabetes Typ 2 tritt ein Koma nur sehr selten auf. Die Spätfolgen jedoch sind vergleichbar, manchmal ist Erblindung möglich. Die Beteiligung der großen Blutgefäße steht im Vordergrund: Verengung der Herzkranzgefäße bis hin zu Herzinfarkt, Schlaganfall, arterieller Verschlusskrankheit und vor allem Nierenversagen.
Metabolisches Syndrom
Die Vorstufe des Diabetes Typ 2 ist das metabolische Syndrom. Hier sind mehrere Systeme des Stoffwechsels, die eng zusammenhängen, gestört. Menschen mit diesem Syndrom haben Übergewicht und einen grenzwertig erhöhten Blutzucker. Der Blutzuckerspiegel wird nach Zuckerbelastungen nicht ausreichend schnell gesenkt. Cholesterinspiegel, Harnsäurewerte und Blutdruck sind ebenfalls erhöht. Es gibt keine genauen Angaben, wie häufig das metabolische Syndrom vorkommt, aber etwa
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jeder 10. Österreicher ist als betroffen einzustufen. Das gemeinsame Auftreten dieser Risikofaktoren wirkt sich auf die oben diskutierten Krankheiten natürlich ungünstig aus.
Risikofaktor Übergewicht
Als Faustregel für das Normalgewicht gilt Körpergröße (in cm) minus 100. Misst ein Mann 183 cm, so sollte er daher etwa 83 kg wiegen. Bei Frauen ist das Normalgewicht etwas geringer anzusetzen und die Regel lautet: Die um 100 verminderte Körpergröße muss mit dem Faktor 0,9 multipliziert werden. Das Normalgewicht einer gleich großen Frau beträgt daher 75 kg. Das Idealgewicht errechnet sich aus dem Normalgewicht, also 83 kg, mal 0,9 und ist daher 75 kg. Bei Frauen wird der Faktor 0,9 durch den Wert 0,85 ersetzt. Diese Faustregeln ergeben natürlich nur sehr ungenaue Näherungswerte. Außerdem bedeutet Idealgewicht nicht automatisch, dass man sich bei diesem Gewicht auch wohl fühlt. In der internationalen wissenschaftlichen Literatur wird nicht von Normal- und Idealgewicht gesprochen, sondern vom Body Mass Index, kurz BMI. Der BMI setzt die Größe (besser gesagt die Körperoberfläche) in Relation zum Gewicht. Bei einer Körpergröße von 183 cm (oder 1,83 m) und einem Gewicht von 79 kg errechnet sich der BMI wie folgt: Formel des BMI: 79 ----------------------1.83 1 1.83 Die Formel lautet: Gewicht dividiert durch das Quadrat der Körpergröße in Metern. 79 dividiert durch (1,83 mal 1,83) und ergibt daher einen BMI von 23,6 (aufgerundet 24). Welcher BMI gilt nun als normal, was ist zu wenig und was zu viel? International gelten für Frauen und Männer unterschiedliche Richtwerte. Gewicht
Männer
Frauen
Untergewicht Normalgewicht Übergewicht Adipositas (Fettleibigkeit) Massive Adipositas
unter 20 20–25 25–30 30–40 über 40
unter 19 19–24 24–30 30–40 über 40
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Obwohl der BMI eine international anerkannte Methode ist, führt ihre Anwendung bei Kindern zu einer Unterschätzung des Übergewichts und der Fettleibigkeit. Hier scheint es besser, den Hüftumfang bei der Berechnung heranzuziehen. Wie viele Menschen leiden an Übergewicht? Aus Österreich liegen leider derzeit keine zuverlässigen Daten vor, doch scheint ein Großteil aller Erwachsenen zumindest übergewichtig zu sein (BMI über 25). Das Durchschnittsgewicht der Europäer lässt sich nicht unmittelbar mit dem der Amerikaner vergleichen. In den USA sind 39% der Männer und 24% der Frauen übergewichtig (BMI 25 bis 30) bzw. leiden 12% der Männer und 16% der Frauen an Adipositas (BMI über 30). Vergleichsdaten aus Großbritannien dürften für mitteleuropäische Verhältnisse aufschlussreicher sein. Dort sieht es aber ähnlich aus: Etwa 20% der Erwachsenen sind adipös (BMI über 30). Es ist kaum zu übersehen, dass auch Kinder und Jugendliche immer dicker werden. Da auch für diese Altergruppe hochwertige wissenschaftliche Daten aus Österreich fehlen, sei abermals auf das Datenmaterial aus Großbritannien verwiesen. In Großbritannien waren 1977 etwa 8% aller 11- bis 16-jährigen Buben übergewichtig oder adipös; 1997 waren es bereits 21%! Bei Mädchen verhält es sich ähnlich: Waren 1977 nur 6% übergewichtig oder adipös, so waren es 1997 schon 17%. In Österreich dürfte die Lage ganz ähnlich aussehen. Übergewicht ist ein starker Risikofaktor für Gelenksprobleme, vor allem der Knie und Hüften, da es eine übermäßige Dauerbelastung für die Gelenke darstellt. Es scheint, dass die andauernde Mehrbelastung vorzeitig zu Abnutzungserscheinungen führt. Übergewicht führt aber auch zu Bluthochdruck, zum metabolischen Syndrom und zu Diabetes und den damit verbundenen Folgeerscheinungen. Es wird derzeit geschätzt, dass in England mit 49 Millionen Einwohnern jedes Jahr etwa 30.000 Todesfälle durch Übergewicht verursacht werden. Schließt man von diesen Werten auf Österreich, bedeutet das, dass jedes Jahr etwa 5.000 Menschen an den Folgen des Übergewichts sterben! Osteoarthrose
Osteoarthrose ist der medizinische Ausdruck für chronische Abnutzungserscheinungen an den Gelenken. Osteoarthrosen in Knie- und Hüftgelenken sind durch Röntgenuntersuchungen ab dem 40. Lebensjahr bei fast allen Menschen nachweisbar (bei etwa 90%)! Zum Glück verursachen im Röntgenbild sichtbare Veränderungen nicht sofort Be-
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schwerden. Sie können von morgendlicher Gelenkssteifigkeit bis hin zu starken bewegungs- und belastungsabhängigen Schmerzen reichen. Oft führen die Beschwerden zur Immobilität und damit zu einer empfindlichen Beeinträchtigung der Lebensqualität, ganz besonders im fortgeschrittenen Lebensalter. Betroffen sind vor allem die kleinen Gelenke der Hände sowie Hüft- und Kniegelenke. Wie stark sich die Veränderungen ausprägen, hängt von der Belastung der Gelenke zum Beispiel durch Übergewicht ab. Auch erbliche Faktoren scheinen beteiligt zu sein. Einige eher seltene Krankheiten führen als Nebenfolge zu Osteoarthrosen. Die Osteoarthrose ist keine Zivilisationskrankheit im engeren Sinne. Selbst in steinzeitlichen Funden kann man bereits degenerative Veränderungen an den Gelenken beobachten. Die Bedeutung dieser Erkrankung liegt in ihrem gehäuften Auftreten im Alter. Kann Sport zu Osteoarthrosen führen? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Wahrscheinlich muss man hier die Intensität des Trainings und die Art des Sports berücksichtigen. Der Umfang des Trainings, also über wie viele Jahre wie intensiv trainiert wurde, ist wesentlich. Es macht einen Unterschied, ob man sich als Hobbyläufer für Marathons vorbereitet oder ob man sich als Athlet für die Olympischen Spiele qualifizieren möchte. Olympioniken, besonders Läufer, haben im Alter überdurchschnittlich häufig Gelenksprobleme. Die Sportart spielt ebenfalls eine Rolle: Professionelle Kraftsportathleten haben seltener Probleme als Langstreckenläufer oder Kontaktsportler. Professionelle Athleten bilden aber nur eine kleine Gruppe, deren Trainingsaufwand nicht mit dem von Hobby- und Freizeitsportlern zu vergleichen ist. Für den Durchschnittssportler sind deshalb vom Sport eher viele positive Effekte zu erwarten.
Osteoporose
Unsere Knochen werden laufend ab-, um- und aufgebaut. Ein begrenztes Ausmaß an Knochenabbau ist normal. Mit steigendem Alter wird aber zunehmend mehr Knochengewebe abgebaut, als neu aufgebaut. Die Knochensubstanz nimmt daher ab und die Knochen werden in der Folge schwächer. Es kann schon bei geringen Gewalteinwirkungen, welchen gesunde Knochen problemlos standhalten würden, zu Knochenbrüchen (Frakturen) kommen. Wenn der Knochenschwund stark fortgeschritten ist, brechen die Knochen manchmal sogar spontan, also ohne äußere Gewalteinwirkung. Diese Frakturen treten vor allem im Bereich der Wirbelsäule auf und sind oft nur Minibrüche. Sie sind fast nicht nachweisbar, können aber extrem schmerzhaft sein.
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Beweglichkeit und Lebensqualität leiden manchmal beträchtlich darunter. Oft macht sich die Osteoporose aber lediglich dadurch bemerkbar, dass die Betroffenen im Alter mehrere Zentimeter kleiner sind, als sie im jungen Erwachsenenalter waren. Frauen sind häufiger und stärker betroffen als Männer: Jede 6. Frau erleidet irgendwann in ihrem Leben eine Hüftfraktur, jedoch nur jeder 17. Mann. Das Risiko einer Fraktur steigt bei Osteoporose und Gangunsicherheit. Diese beiden Faktoren häufen sich im Alter. Daher steigt mit dem Alter auch das Risiko einer Hüftfraktur. In den USA ist Osteoporose jährlich die Ursache für 1,5 Millionen Knochenbrüche, vor allem der Wirbelsäule. Legt man diese Zahl auf österreichische Verhältnisse umlegt, so ergibt das etwa 40.000 Knochenbrüche pro Jahr. Wodurch wird Osteoporose verursacht? Zu einem guten Teil ist das Auftreten der Osteoporose genetisch bedingt. Gleich mehrere Gene scheinen dafür verantwortlich zu sein. Weiters werden das Auftreten und die Schwere der Osteoporose auch durch andere Faktoren mitbestimmt. Diät, Nikotin, Alkohol wie auch sportliche Aktivitäten beeinflussen in unterschiedlicher Weise die Entwicklung der Osteoporose. Regelmäßiges sportliches Training im jungen Erwachsenenalter führt zu einer höheren Knochendichte im späteren Lebensalter. Die Knochendichte ist ein Maß für die Osteoporose. Neben der medikamentösen Therapie kann Sport – sowohl Ausdauertraining als auch Krafttraining – die Knochendichte erhöhen und so wahrscheinlich das Risiko eines Knochenbruchs senken. Dies gilt auch bei bereits bestehender Osteoporose.
Lungenerkrankungen
Die Lunge ist der Sauerstoffumschlagplatz des Körpers. Hier wird Sauerstoff aus der Atmluft in das Blut aufgenommen. Bei Verbrennungsprozessen im Körper entsteht Kohlendioxid. Es wird über die Lunge ausgeatmet. Im Folgenden werden zwei Erkrankungen der Lunge besprochen: das Asthma bronchiale und die chronische obstruktive Lungenerkrankung.
Asthma bronchiale
Asthma bronchiale ist eine entzündliche Erkrankung der kleinen und kleinsten Atemwege. Sie führt zu einer Schwellung der Schleimhaut und
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M. Müllner
einer vermehrten Schleimbildung. Bei starker Schwellung oder Schleimbildung wird der Fluss der Atemluft gestört und es gelangt nicht genug Sauerstoff in das Blut. Typisch für die Erkrankung ist, dass die Beschwerden anfallsweise auftreten. Sie erscheinen meist saisonal gehäuft, zum Beispiel zur Zeit des Pollenflugs. Bei manchen Patienten treten sogar über Jahre keine Symptome auf. Die Anfälle können in ihrer Stärke extrem variieren. Verursacht wird Asthma meistens durch Allergien, erbliche Faktoren und Luftverschmutzung. Es ist auffällig, dass Asthma um so häufiger beobachtet wird, je höher der Zivilisationsgrad ist. In hoch entwickelten Staaten kommt Asthma in der Stadt häufiger vor als in ländlichen Gegenden. Bei manchen Patienten löst erst sportliche Belastung eine Verengung der Bronchien aus. Etwa jeder 20. Mensch leidet unter Asthma, wobei die Erkrankung besonders häufig bei Kindern auftritt: Je nach Region können bis zu einem Viertel aller Kinder betroffen sein. Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD)
Chronisch obstruktiv bedeutet, dass die Atemwege andauernd, jedoch in wechselndem Ausmaß, verengt sind. Durch jahrelange chronische Entzündungen, meistens chronische Bronchitis, wird das Lungengewebe abgebaut und kann seiner Aufgabe nicht mehr ausreichend nachkommen. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation ist die chronisch obstruktive Lungenerkrankung weltweit die vierthäufigste Todesursache mit 2,7 Millionen Todesfällen im Jahr 2000 (im Jahr 2003 hatte unsere Erde 6,3 Milliarden Einwohner). Die Hauptursache der COPD ist das Zigarettenrauchen, aber auch die Luftverschmutzung spielt eine wichtige Rolle. Zusammenfassende Übersicht der häufigsten Zivilisationskrankheiten Tabelle 4. Die häufigsten „Zivilisationskrankheiten“ Krankheit
Häufigkeit
Bluthochdruck
Etwa jeder 2. bis 3. Erwachsene hat Bluthochdruck
Koronare Herzkrankheit (Angina pectoris und Herzinfarkt)
Häufigste Todesursache in der westlichen Welt; in Österreich jedes Jahr etwa 23.000 Todesfälle durch koronare Herzkrankheit
Schlaganfall
Etwa jeder 350. Mensch erleidet pro Jahr einen Schlaganfall
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Tabelle 4 (Fortsetzung) Nierenversagen
Etwa jeder 30. Erwachsenen hat eine Niereninsuffizienz
Nierenersatztherapie
Etwa jeder 1000. Erwachsene erhält Nierenersatztherapie (aber die Kosten der Therapie betragen 2% des Gesundheitsgesamtbudgets)
Herzinsuffizienz
Etwa jeder 50. Erwachsene > 45 Jahre hat Herzinsuffizienz; jeder 13. Erwachsene über 65 Jahre hat Herzinsuffizienz
Diabetes mellitus
Etwa jeder 30. bis 100. Erwachsene hat Diabetes mellitus
Metabolisches Syndrom
Etwa jeder 10. Erwachsene hat ein metabolisches Syndrom
Übergewicht
Etwa jeder 3. Erwachsene ist übergewichtig
Osteoarthrose
Unbekannt; ab 40 hat fast jeder Mensch Veränderungen in den Kniegelenken
Chronische Lungenerkrankungen – Asthma – COPD
Etwa jeder 10. bis 20. Erwachsene hat Asthma Etwa jeder 20. Erwachsene pro Jahr hat COPD
Osteoporose
Etwa jeder 200. ältere Erwachsene erleidet einen Knochenbruch durch Osteoporose pro Jahr
„Überalterung“
Jeder 5. Europäer ist älter als 65 Jahre; in 50 Jahren ist es vielleicht jeder 3. oder jeder 2.
3. Alter und Erkrankungshäufigkeit Bis vor zirka 200 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei etwa 35 bis 40 Jahren. Wohlhabende Menschen lebten deutlich länger, ärmere deutlich kürzer. In weniger entwickelten Ländern hat sich bis heute an diesen Zahlen wenig geändert. Mit zunehmendem Wohlstand verbesserten sich die sanitären und hygienischen Lebensbedingungen und die Ernährung. Die Lebenserwartung stieg dadurch. Die moderne Medizin mag zwar auch ihren Beitrag leisten, er wird aber in den meisten Fällen deutlich überschätzt. Medizinische Eingriffe, die das Leben einzelner Menschen nachhaltig verändern, wie z.B. Herz- oder Nierentransplantationen, spielen statistisch keine Rolle.
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M. Müllner
In den westlichen Industrieländern, ganz besonders in Europa, führen der Geburtenrückgang und die stark verlängerte Lebenszeit dazu, dass die Bevölkerung immer älter wird. 1950 war jeder 8. Europäer bzw. Nordamerikaner über 65 Jahre alt, derzeit ist jeder 5. Europäer älter als 65 Jahre. Im Jahr 2020 wird jeder 4. Europäer und 2050 voraussichtlich jeder 3. Europäer über 65 Jahre alt sein. Prinzipiell ist diese Entwicklung begrüßenswert. Leider treten aber alle oben genannten Krankheiten mit zunehmendem Alter immer häufiger auf. Auch der Schweregrad der Erkrankungen nimmt zu. In Zukunft werden immer mehr erkrankte ältere Menschen eine entsprechende Gesundheitsversorgung benötigen. Dies könnte zu einer Ressourcenknappheit im Gesundheitssystem führen.
4. Wirkt sich Training auf die Gesundheit aus? Einfluss auf Erkrankungen
Hilft Sport, Krankheiten zu vermeiden und unser Leben zu verbessern und zu verlängern? Im vorliegenden Buch soll aufgezeigt werden, dass regelmäßiges Training das Auftreten vieler Krankheiten verzögern, ihren Schweregrad vermindern, ja in manchen Fällen sogar ihr Auftreten verhindern kann. Es gibt Hinweise von hoher wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, dass durch regelmäßiges Training – – – –
das Gewicht reduziert, der Blutdruck gesenkt, die Blutfette vermindert und die Knochendichte erhöht werden kann.
Durch nachweisliche Effekte auf das Gewicht, den Blutdruck, die Blutfette und die Knochendichte können viele Krankheiten und Bereiche günstig beeinflusst werden. Dazu zählen – – – – – – –
Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Schlaganfall, Nierenversagen, Diabetes mellitus, Knochenbrüche und letztlich die Lebensdauer.
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In unzähligen Studien wurden die Auswirkungen von Sport und Training auf die genannten Erkrankungen untersucht und beschrieben. Um die Wirksamkeit einer Gesundheitsintervention wirklich nachweisen zu können, sind jedoch bestimmte Voraussetzungen für die Planung und Durchführung einer solchen Studie notwendig. Leider liegen keine Studien vor, die nach wissenschaftlichen Kriterien einwandfrei durchgeführten worden wären, denn die Gestaltung derartiger Studien ist technisch, logistisch und finanziell sehr anspruchsvoll. Viele Probanden müssten an einer solchen Studie teilnehmen, je nach Fragestellung mehrere Tausend, in manchen Fällen sogar mehrere Millionen Menschen.
Einfluss auf die Lebenserwartung
Aus diesem Grund fehlen auch wissenschaftlich fundierte Antworten auf die Frage, ob Sport tatsächlich das Leben verlängert. Wenn man aber von den vorhandenen Studien ausgeht und ihre wissenschaftlichen Schwächen vorerst ignoriert, ist der Schluss zulässig, dass regelmäßiges Ausdauertraining das Leben verlängern kann. Für die Gruppe aller 35- bis 54-jährigen Männer ist zum Beispiel aufgrund dieser Untersuchungen der folgende Effekt zu erwarten: Trainieren sie regelmäßig ein ganzes Leben lang in einer Ausdauersportart, kann sich ihre Lebenserwartung um durchschnittlich 8 Monate verlängern. Werden nicht alle Männer sofort zu lebenslangen Sportfanatikern, ist der durchschnittliche Effekt natürlich wesentlich geringer.
Auswirkungen auf die Lebensqualität
Die Weltgesundheitsorganisation definiert Gesundheit nicht nur als das Fehlen von Krankheit. Um wirklich gesund zu sein, müssen wir uns physisch, psychisch und sozial wohlbefinden. Nur wenige Menschen auf dieser Erde sind nach dieser Definition als gesund zu betrachten. Diese Charakteristika – physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden – sind subjektive Empfindungen, deren Wahrnehmung sowohl von der jeweiligen Person als auch vom kulturellen Umfeld abhängt. Sie bestimmen die Lebensqualität. Ein langes Leben ist nur bei guter Lebensqualität erstrebenswert. So gut wie alle Studien zeigen, dass die Lebensqualität durch regelmäßiges Training verbessert wird.
Gesundheitscheck vor dem Training Christian Leithner und Gudrun Wolner-Strohmeyer
Bevor man mit dem Training beginnt, sollte geklärt werden, ob eine ärztliche Untersuchung notwendig ist. Die Wahl der Trainingsmethode muss dem Alter und dem individuellen Gesundheitszustand angemessen sein. Tabelle 1. Notwendigkeit einer ärztlichen Untersuchung – – – –
Herzerkrankungen Herz- bzw. Brustbeschwerden Herzrhythmusstörungen häufige Herzerkrankungen in der Familie
– Blutarmut – hoher Blutdruck – niedriger Blutdruck mit Neigung zu Kollaps – Übergewicht, besonders beim „Apfeltyp“ – Fettstoffwechselstörungen – Zuckerkrankheit – Schilddrüsenerkrankungen – Lungenerkrankungen – starkes Rauchen – auffällige Atemnot bei körperlicher Belastung – Leistungsabfall oder ungeklärte plötzliche Leistungsschwäche – Wirbelsäulenbeschwerden (besonders mit Lähmungen oder Gefühlsstörungen der Arme oder Beine) andere orthopädische Beschwerden
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Kinder und Jugendliche in einem Wachstumsschub sollten untersucht werden, weil die Belastbarkeit des Stütz- und Bewegungsapparates oft vermindert ist und daher gehäuft orthopädische Probleme auftreten. Bei unter 35-jährigen, gesunden Menschen ist ein GesundheitsCheck nicht unbedingt nötig, aber zu empfehlen. Natürlich sollten die Regeln des Trainingsaufbaus, wie z.B. eine langsame Steigerung, eingehalten werden. Der Sportmediziner ist hier der richtige Ansprechpartner. Er informiert genauer über den individuellen Leistungsstand und hilft, ein optimales Training aufzubauen. Bei welchen Erkrankungen und Risikofaktoren eine ärztliche Untersuchung nötig ist, zeigt Tabelle 1. Wer über 35 Jahre alt ist, sollte sich auf jeden Fall vor dem ersten Training an seinen Arzt wenden, besonders wenn eine der oben genannten Erkrankungen besteht. Jeder, der zu trainieren beginnen will, sollte seinem Arzt erklären, was er vorhat. Der Arzt wird sich ein Bild über den Gesundheitszustand machen und berücksichtigen, welches Training im Einzelfall sinnvoll erscheint. Davon hängen die notwendigen Untersuchungen ab. Bei speziellen Fragestellungen wird er Spezialisten zu Rate ziehen. Bei Vorliegen eines Infektes, z.B. einer Grippe, sollte nicht trainiert werden. Auch bei anderen ungeklärten körperlichen Symptomen ist es vernünftiger, das Training einzuschränken oder zu beenden, als Schäden zu riskieren.
Training bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen Christian Leithner und Gudrun Wolner-Strohmeyer
Herz- und Gefäßkrankheiten sind in den Industrienationen mit mehr als 50% die häufigste Todesursache. Die Wahrscheinlichkeit, herzbzw. gefäßkrank zu werden, steigt mit dem Alter. Herzkrankheiten können angeboren oder erworben sein. Das Zweite ist häufiger der Fall. Sie können direkt am Herzen entstehen oder sich als Folge anderer Erkrankungen entwickeln. Dazu gehören vor allem der Bluthochdruck, die Zuckerkrankheit sowie Lungen- und Nierenerkrankungen. Die häufigste Krankheit der Schlagadern (Arterien) ist die Atherosklerose (Arterienverkalkung). Die Atherosklerose entsteht als Folge schädlicher Einflüsse (Risikofaktoren) auf die Gefäßwand. Sie kann die Schlagadern aller Körperteile betreffen, vom Gehirn über das Herz bis zu den Beinen. Schlaganfall, Herzinfarkt bzw. periphere arterielle Verschlusskrankheit sind die Folge.
1. Herz-Kreislauf-Erkrankungen Welche sind die wichtigsten erworbenen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und was haben wir darunter zu verstehen?
Arterielle Hypertonie
Arterielle Hypertonie bedeutet Bluthochdruck. Von Hypertonie spricht man nach den Kriterien der WHO (World Health Organization) bei systolischen (oberen) Werten über 140 mmHg und diastolischen (unteren) Werten über 90 mmHg. Die neuen USA-Richtlinien (siehe Tabelle 1) sind aufgrund der Datenlage noch strenger geworden. Der Blutdruck ist normalerweise starken Schwankungen unterworfen und Patienten sind beim Arzt oft aufgeregt. Daher reichen ein-
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Tabelle 1. Stadien laut USA-Richtlinie Prähypertonie
120/80 bis 139/89 mmHg
Stadium I der Hypertonie
140/90 bis 159/99 mmHg
Stadium II der Hypertonie
160/100 mmHg und höher
malige oder seltene Messungen beim Arzt nicht aus, um festzustellen, ob der Blutdruck erhöht ist. Besser ist es, wenn der Patient selbst häufig den Blutdruck misst und notiert. Die Österreichische Hochdruckliga hat eine Richtlinie ausgearbeitet, um festzustellen, ob jemand an Bluthochdruck leidet. Sie enthält folgende Punkte: – – – – –
Der Patient führt zumindest 28 Selbstmessungen über einige Tage verteilt durch. Beim systolischen Blutdruck gelten Werte bis inklusive 135 mmHg und beim diastolischen bis inklusive 85 mmHg als normal. Überschreitet bei den Selbstmessungen auch nur einer der beiden Werte diese Grenze, so wird diese Messung als erhöht betrachtet. Nur ein Viertel aller Messungen darf erhöht sein, also 7 von 28. Sind mehr als 7 von 28 Messungen erhöht, liegt Bluthochdruck vor.
Die 24-Stunden-Blutdruckmessung gibt in unklaren Fällen genauere Aufschlüsse. Beim Bluthochdruck unterscheidet man die essenzielle von der sekundären Hypertonie. Die essenzielle (primäre) Hypertonie macht mehr als 90% der Fälle aus. Ihre Entstehung ist nicht völlig geklärt, viele Risikofaktoren spielen jedoch eine wichtige Rolle. Diese sind vor allem Übergewicht, Alter, kochsalzreiche Ernährung, Stress, Bewegungsarmut und erhöhter Alkoholkonsum. Die sekundäre Hypertonie betrifft weniger als 10% der Patienten. Sie ist Folge einer Erkrankung der Nieren, der hormonproduzierenden Organe oder der Hauptschlagader. Der Blutdruck und die Durchblutung aller Organe hängen ganz wesentlich vom Zustand der Schlagadern ab. Diese sind normalerweise keine starren Rohre, sondern lebendige Systeme, die sich bei Bedarf erweitern oder verengen. Sind sie flexibel, funktioniert die Organdurchblutung und der Blutdruck ist eher normal. Tendieren sie hingegen zur Engstellung, werden die Organe schlecht durchblutet und der Blutdruck wird krankhaft ansteigen. Ein wesentlicher Teil der Behandlung des Hochdrucks, ja die natürlichste, ist körperliche Betätigung bis
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hin zum Ausdauertraining. Sie begünstigt die Weitstellung der Arterien, bessert die Durchblutung und senkt somit den Blutdruck. Die arterielle Hypertonie ist ein wichtiger Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen, wie Schlaganfall, Herzinsuffizienz, koronare Herzkrankheit, chronisches Nierenversagen, periphere arterielle Verschlusskrankheit und Aortenaneurysmen (Ausbuchtungen der Hauptschlagader). Daher ist die Einstellung des Bluthochdruckes von großer Bedeutung für das weitere Schicksal des Patienten.
Arterielle Hypotonie
Unter arterieller Hypotonie versteht man den zu niedrigen Blutdruck. Die untere Grenze des oberen (systolischen) Blutdruckes wird mit 100 mmHg angegeben. Systolische Werte von 90–100 mmHg in Ruhe können normal sein, wenn dabei keine Beschwerden auftreten. Kennzeichnend für die Hypotonie sind hingegen systolische Blutdruckwerte unter 100 mmHg, die mit Beschwerden verbunden sind. Beschwerden bei Hypotonie ■ ■ ■ ■ ■ ■
Schwäche Müdigkeit Benommenheit Nachlassen der Leistungsfähigkeit Schwindelgefühl Kollaps
Eine Sonderform der Hypotonie ist die orthostatische Hypotonie. Bei ihr sinkt der Blutdruck beim Aufstehen zu stark ab und Beschwerden, wie Schwarzwerden vor den Augen und Schwäche bis hin zur Bewusstlosigkeit sind zu beobachten. Hypotonie und orthostatische Hypotonie betreffen meist junge schlanke Personen, vorzugsweise Frauen. Die orthostatische Hypotonie wird aber auch gehäuft bei älteren Personen beobachtet. Sollte jemand unter Hypotonie leiden, ist eine ärztliche Untersuchung deswegen sinnvoll, weil sich dahinter andere Erkrankungen, z.B. Eisenmangelanämie bei jungen Frauen oder Herzinsuffizienz (Pumpleistungsstörung) bei älteren Menschen verbergen können.
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Koronare Herzkrankheit
Die koronare Herzerkrankung (KHK) bedeutet, dass die verengten Herzkranzgefäße (Koronararterien) den Herzmuskel nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgen können. Die Ursache liegt hauptsächlich in den atherosklerotisch bedingten Gefäßverengungen (Stenosen durch Plaques). Im Herzmuskel besteht ein Missverhältnis zwischen Sauerstoffangebot und Sauerstoffbedarf. Oft reicht die Durchblutung in Ruhe trotz der Engstellen noch aus und die Symptome des Sauerstoffmangels machen sich erst unter Belastung bemerkbar.
Was spürt ein Patient mit KHK?
Der Angina pectoris-Anfall (Stenokardie) äußert sich in Schmerzen oder Druckgefühl hinter dem Brustbein, die in den linken Arm, in den Hals bzw. Unterkiefer, aber auch in den Oberbauch, ja sogar in den rechten Arm ausstrahlen können. Dieser Anfall kann durch körperliche Anstrengung (z.B. beim Stiegensteigen), durch Stress und Ärger ausgelöst werden. Er kann ebenfalls auftreten, wenn jemand im Winter aus dem warmen Zimmer nach draußen in die Kälte geht. Besondere Beachtung sollte die instabile Angina pectoris erhalten, weil sie in einen akuten Herzinfarkt übergehen kann. Zur instabilen Angina pectoris zählt man jede erste Stenokardie, das Auftreten von Stenokardien in Ruhe und nach einem Herzinfarkt sowie jede Stenokardie, die an Dauer und Schwere zunimmt.
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Akuter Myokardinfarkt
Der akute Myokardinfarkt (akute Herzinfarkt) entsteht meist aufgrund einer koronaren Herzerkrankung. Er tritt auf, wenn ein Plaque aufreißt, sich dort ein Gerinnsel bildet und das Herzkranzgefäß verschließt. Es gibt drei große Herzkranzarterien bzw. -äste. Je nach betroffenem Gefäß sind verschiedene Anteile des Herzmuskels (Myokard) in unterschiedlichem Ausmaß vom akuten Sauerstoffmangel betroffen. Im Volksmund wird dabei meist nur vom so genannten Vorder- bzw. Hinterwandinfarkt gesprochen. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen dem klassischen Angina pectoris-Anfall und dem wirklichen Herzinfarkt. Im gesunden Herzen sind die Arterien durchlässig. Eine verengte Arterie löst Angina pectoris aus. Ist die Koronararterie verschlossen, kommt es zum Herzinfarkt. Während bei einem Angina pectoris-Anfall der Herzmuskel unbeschädigt bleibt, stirbt beim Herzinfarkt ein Teil des Herzmuskels ab. Es ist wichtig, die Symptome des Herzinfarktes zu erkennen:
Ein dumpfer Schmerz in der Brustgegend, der beim Einatmen nicht schlimmer wird, ist spürbar. Er sitzt meist in der Brustmitte, kann aber in die linke Seite, beide Arme, den Nacken oder Kiefer ausstrahlen. Der Schmerz fühlt sich schwer, brennend, schneidend oder wie ein Gewicht auf der Brust an.
Die Beschwerden bei Herzinfarkt sind denen der Stenokardie ähnlich, nur meist intensiver. Daher sollte ein Patient mit derartigen Herzbeschwerden rasch in ein Krankenhaus gebracht werden, wo weitere Untersuchungen klären, was wirklich vorliegt. In 20% der Fälle sind die Symptome des Herzinfarktes leicht und werden oft als Beschwerden der Speiseröhre oder des Magens fehlgedeutet. Dies trifft häufig bei älteren Menschen und Diabetikern zu. Wahrscheinlich sind bei ihnen die schmerzleitenden Fasern des Herzens nicht so empfindlich. Bei manchen Menschen tritt der Herzinfarkt aus heiterem Himmel auf. Die meisten verspüren bereits vorher über längere Zeit Schmerzen, weil sich die Blutgefäße langsam verengen. Wichtig ist, dass bei Verdacht auf Herzinfarkt rasch die Rettung verständigt und die Aufnahme in ein Krankenhaus veranlasst wird. Die Erfahrung zeigt, dass bei Herzinfarkten oft zu viel Zeit durch Abwarten verloren geht.
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Herzrhythmusstörungen
Unter Herzrhythmusstörungen (Arrhythmien) versteht man alle Unregelmäßigkeiten der Herzschlagfolge. Herzrhythmusstörungen können durchaus normal, aber auch krankhaft sein. Harmlose Arrhythmien sind oft nur in Ruhe nachweisbar und nehmen unter Belastung ab oder verschwinden dabei ganz. Treten sie jedoch nur bei Belastung auf, sollten sie abgeklärt werden. Sind bereits Anfälle von Bewusstlosigkeit (Synkopen) im Rahmen der Herzrhythmusstörungen aufgetreten, ist eine ärztliche Untersuchung unbedingt notwendig. Die Vielfalt der Rhythmusstörungen ist insgesamt sehr hoch. Neben dem Herzen haben auch andere Organe, wie die Schilddrüse und die Nebenniere oder das autonome (dem Willen nicht unterworfene) Nervensystem, Einfluss auf die Herzschlagfolge. Rhythmusstörungen werden nur behandelt, wenn sie lebensbedrohlich sind oder als sehr unangenehm empfunden werden.
Endokarditis
Bei den Entzündungen der Herzklappen und der Innenschichte des Herzens kennt man 2 Gruppen: die nicht-infektiöse und die infektiöse Endokarditis.
Nicht-infektiöse Endokarditis, meist bei rheumatischem Fieber
Das rheumatische Fieber ist eine immunologisch verursachte Zweiterkrankung des gesamten Körpers, die nach einer Infektion durch Streptokokken (eine Bakterienart), z.B. einer Angina der Halstonsillen (Mandeln), auftritt. Das Immunsystem richtet sich nicht nur gegen die Streptokokken, sondern auch gegen Organe und Gewebe des eigenen Körpers. Dadurch kommt es zu Fieber und Gelenksentzündungen, also dem rheumatischen Fieber, sowie zu Störungen der Haut und eventuell des zentralen Nervensystems. Die verschiedenen Gewebe des Herzens sind ebenfalls betroffen: Endokarditis, Myokarditis (Herzmuskelentzündung) und Perikarditis (Entzündung der Außenschichte des Herzens = Herzbeutelentzündung) können auftreten. Die Prognose des rheumatischen Fiebers hängt davon ab, wie sehr die Herzklappen beteiligt sind. Es sind vor allem die Mitralklappe und die Aortenklappe betroffen. Die Herzklappenentzündung heilt mit einer
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Narbenbildung aus, die 1–3 Jahre nach dem rheumatischen Fieber zu einem Herzklappenfehler führen kann. Die Therapie des rheumatischen Fiebers besteht aus Antibiotika zur Behandlung des Streptokokkeninfektes, Aspirin hochdosiert bzw. Kortison zur Entzündungshemmung, einer Gaumenmandelentfernung unter Antibiotikaschutz nach der Akutphase und einer Vermeidung neuer Streptokokkeninfektionen durch eine Antibiotikaprophylaxe.
Infektiöse (bakterielle) Endokarditis
Es handelt sich um eine lebensgefährliche Erkrankung. An der Innenschichte des Herzens (am Endokard) und an den Herzklappen bilden sich ein oder mehrere Streuherde, die aus einer Bakterienansammlung in einem Blutgerinnsel (Thrombus) bestehen. Die Patienten zeigen das Bild einer Sepsis (Blutvergiftung) mit hohem Fieber, Herzjagen (Tachykardie), Blutdruckabfall, Herzgeräuschen und einer Vergrößerung der Milz. Gefährdet, eine infektiöse Endokarditis zu bekommen, sind Patienten mit bereits geschädigten Herzklappen, mit künstlichen Materialien (z.B. Herzschrittmacher, Endoprothesen), aber auch solche mit schlechter Abwehrlage (z.B. Diabetiker). Die Sepsis verläuft bei einer Sonderform, der Endocarditis lenta, oft schleichend über Wochen und Monate. Die Endokarditis kann aufgrund der Sepsis zum Tode führen, aber auch Herzklappenfehler, Herzinsuffizienz, Embolien im Gehirn und viele andere Komplikationen hervorrufen. Therapeutisch ist die rasche, gezielte Antibiotikatherapie im Krankenhaus besonders wichtig. Unter Umständen muss eine befallene, bereits zerstörte Herzklappe rasch operativ entfernt und durch eine Klappenprothese ersetzt werden.
Myokarditis und Perikarditis
Die Myokarditis ist eine entzündliche Erkrankung des Herzmuskels, die sowohl den Herzmuskel als auch die Herzgefäße betreffen kann. Für die infektiöse Myokarditis, sind vor allem Viren und Bakterien verantwortlich. Die nicht infektiöse Myokarditis kann im Rahmen einer rheumatoiden Arthritis, als Folge einer Bestrahlungstherapie und bei anderen Erkrankungen des gesamten Körpers auftreten. Die Patienten haben meist Herzrhythmusstörungen, einen allgemeinen Leistungsverlust und eine Störung der Pumpfunktion des Herzens. Diese
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kann mild sein, aber auch zu einer Herzinsuffizienz, meist verbunden mit schweren Rhythmusstörungen, führen. Der Verlauf der Myokarditis ist sehr variabel und reicht von einer raschen völligen Wiederherstellung bis zum schweren Verlauf. Sie kann in eine Kardiomyopathie übergehen und lebensbedrohlich werden. Der therapeutische Ansatz liegt einerseits in einer Therapie wie etwa der Erregersanierung, andererseits in einer strikten körperlichen Schonung, die eingehalten werden sollte, solange Zeichen einer Myokarditis vorliegen. Unter Perikarditis versteht man eine Entzündung der den Herzmuskel umgebenden Häute, des Herzbeutels. Die Entstehung der Perikarditis ist jener der Myokarditis sehr ähnlich. Auch vom Beschwerdebild ist eine Trennung zwischen Myokarditis und Perikarditis nicht immer möglich. Sie ist auch nicht sinnvoll, da eine Herzmuskelentzündung häufig mit einer entzündlichen Veränderung des Herzbeutels vergesellschaftet ist und umgekehrt. Die häufigste Ursache der infektiösen Perikarditis stellen Viren dar. Erwähnenswert ist noch die Perikarditis nach einem Herzinfarkt, im Rahmen eines chronischen Nierenversagens oder im Spätstadium einer Tumorerkrankung. Die Behandlung entspricht im Wesentlichen jener der Myokarditis und besteht sowohl in einer Therapie des Grundleidens als auch in einer Symptomlinderung.
Herzklappenfehler
Die häufigsten Herzklappenfehler bei Erwachsenen betreffen die Aorten- und die Mitralklappe. Unter einer Stenose versteht man eine Verengung im Klappenbereich, wodurch es zu einer Behinderung des Blutflusses kommt. Die Stenosen hängen von der verbleibenden Klappenöffnungsfläche ab und werden in verschiedene Schweregrade eingeteilt. Eine länger bestehende Klappenverengung führt immer zu einer erhöhten Druckbelastung des Herzens. Bei der Klappeninsuffizienz besteht hingegen eine Undichtigkeit der Klappen. Dadurch entsteht ein so genanntes Pendelblutvolumen, das langfristig zu einer größeren Volumenbelastung des Herzens führt.
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Aortenklappenstenose
Die Aortenklappenstenose (Verengung der Aortenklappe) kommt in allen Altersgruppen vor. Die häufigsten Ursachen sind degenerative Veränderungen (Klappensklerose ähnlich der Atherosklerose), angeborene Fehlbildungen und das rheumatische Fieber. Die Aortenklappenstenose verursacht lange keine Beschwerden. Liegt jedoch eine hochgradige Verengung der Klappe vor, ist das ausgeworfene Blutvolumen pro Minute zu gering. Die Versorgung des Körpers mit sauerstoffreichem, arteriellem Blut ist zu gering. Es kann bei körperlicher Belastung zu Anfällen von Atemnot und zur Bewusstlosigkeit (Synkopen) kommen. Außerdem treten Stenokardien auf. Bei solchen Patienten ist eine sportliche Betätigung gefährlich, ein Kardiologe muss konsultiert werden und häufig bleibt eine Herzoperation nicht erspart.
Aortenklappeninsuffizienz
Die Aortenklappeninsuffizienz (Schlussunfähigkeit der Aortenklappe) kann akut auftreten oder sich chronisch entwickeln. Als Ursachen kommen ebenfalls degenerative Veränderungen, Infektionen, das rheumatische Fieber, aber auch seltene Erkrankungen des Bindegewebes oder eine Ausbuchtung (Aneurysma) der Brustschlagader in Frage. Auch die Aortenklappeninsuffizienz kann angeboren sein. Durch die Schlussunfähigkeit der Klappen fließt während jeder Herzaktion ein Teil des ausgeworfenen Volumens wieder in die linke Herzkammer zurück. Mit Fortschreiten der Klappeninsuffizienz nimmt das Pendelvolumen und somit die Größe der linken Kammer immer weiter zu. Das Endstadium ist die Herzinsuffizienz. Die Patienten klagen über Atemnot bei körperlicher Belastung, in der Nacht und schließlich bei völliger Ruhe. Bei geringer Aortenklappeninsuffizienz ist Ausdauersport noch möglich, eine hochgradige Insuffizienz sollte jedenfalls mit einem Klappenersatz saniert werden. Bei rechtzeitiger Operation kann danach in 80% der Fälle uneingeschränkt Sport betrieben werden. Die akut auftretende Aorteninsuffizienz ist meist die Folge einer akuten Infektion am Herzen und fast immer höhergradig. Bis zur frühest möglichen Operation ist zumeist eine intensivmedizinische Betreuung nötig.
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Mitralklappenstenose und -insuffizienz
Auch bei den Mitralklappenfehlern wird zwischen Insuffizienz und Stenose unterschieden. Die Hauptursache der Mitralklappenstenose ist das rheumatische Fieber. Durch die Verengung der Klappe kommt es zum Blutrückstau in den linken Vorhof und in die Lunge. Der Vorhof wird immer größer und beginnt dann unregelmäßig zu schlagen. Die Folge ist das Vorhofflimmern. Die häufigsten vom Patienten empfundenen Beschwerden sind Leistungsabfall, Atemnot sowie ein unregelmäßiger Herzschlag. Bei der Mitralklappeninsuffizienz kommt es durch das Pendelvolumen zu einer erhöhten Volumenbelastung von linker Herzkammer und linkem Vorhof. Häufigste Ursachen sind das rheumatische Fieber, bakterielle Infekte, die Erweiterung des Klappenringes bei Erkrankung des Herzmuskels (dilatativer Kardiomyopathie) sowie die Klappenringverkalkung. Patienten mit geringgradiger Mitralinsuffizienz sind meist normal belastbar. Erst bei Versagen des linken Ventrikels (Herzkammer) entwickeln sich rasch stärkere Beschwerden, die denen der Mitralklappenstenose sehr ähnlich sind. Bei der akuten Mitralklappeninsuffizienz ist aufgrund der starken Volumenüberlastung des Herzens eine frühe Operation notwendig.
Mitralklappenprolaps
Der Mitralklappenprolaps (Vorwölbung der Mitralklappen) tritt in der westlichen Welt relativ häufig auf und hat meist keine klinische Bedeutung. Die Mitralklappe wölbt sich dabei während der systolischen Herzaktion in den Vorhof. Die Betroffenen sind zumeist normal belastbar, nur wenige klagen über Beschwerden mit Krankheitswert. Diese sollten aber kardiologisch betreut werden.
Herzinsuffizienz
Die Herzinsuffizienz (ungenügende Pumpleistung des Herzens) ist eine der häufigsten Herzerkrankungen, die zahlenmäßig im Alter stark ansteigt. Ihre Ursachen sind lang dauernder, schlecht eingestellter Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit und der Zustand nach Myokardinfarkten, sowie Herzklappenfehler und Erkrankungen des Herzmuskels.
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Bei der Linksherzinsuffizienz (Pumpleistungsstörung der linken Herzkammer) staut sich das Blut in der Lunge. Die Durchblutung des Körpers mit sauerstoffreichem Blut ist unzureichend. Die Patienten mit chronischer Linksherzinsuffizienz leiden unter Herzjagen (Tachykardie), Atemnot bei körperlichen Belastungen, Abnahme der Leistungsfähigkeit, Anfällen von Atemnot in der Nacht und unter chronischem Husten. Die Linksherzinsuffizienz kann aber auch akut auftreten und zeigt dann ein lebensbedrohliches Zustandsbild. Es wird durch eine Wasseransammlung in der Lunge und einen Schock (hoher Puls, niedriger Blutdruck, schlechte Durchblutung des Körpers) verursacht. Dieser Schock wird durch die mangelhafte Pumpleistung des Herzens hervorgerufen. Der Puls beträgt über 100 Schläge pro Minute (100/min), der obere Blutdruck liegt unter 100 mmHg. Der Körper wird schlecht durchblutet, die Extremitäten sind kalt und meist schweißnass. Große Atemnot, eine stark beschleunigte Atmung sowie eine Blaufärbung von Haut und Schleimhäuten sind zu beobachten. Wenn eine krampfartige Verengung der Bronchien (Bronchospasmus) mit Asthmabeschwerden im Vordergrund steht, wird auch von einem Herzasthma gesprochen. Bei der Rechtsherzinsuffizienz staut sich das Blut in der Peripherie des Körpers, den Venen, der Leber und schließlich in den Baucheingeweiden. Die körperliche Leistungsfähigkeit nimmt ab. Die Patienten haben gestaute Halsvenen auch im Sitzen, Wasser in den Beinen (Ödeme), eine vergrößerte und gespannte Leber und schließlich eine Wasseransammlung im Bauchraum (Aszites). Oft treten Links- und Rechtsherzinsuffizienz gemeinsam auf.
Die Stadieneinteilung bei Herzinsuffizienz nach der New Yorker Heart Association (NYHA)
Stadium I: Stadium II: Stadium III: Stadium IV:
Völlige Beschwerdefreiheit, normale körperliche Belastbarkeit Beschwerden bei stärkeren körperlichen Belastungen Beschwerden bei leichten körperlichen Belastungen Beschwerden in Ruhe
Patienten, die an einer Herzinsuffizienz leiden, bedürfen in jedem Fall einer engmaschigen Betreuung durch den Arzt und einer entsprechenden medikamentösen Therapie. Diese setzt sich meist aus mehreren, die Herzleistung verbessernden Medikamenten und einer entsprechenden Lebensführung zusammen. Eine gesunde Ernährung und ein
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dem Schweregrad der Herzschwäche angepasstes körperliches Training sind wichtig.
Kardiomyopathien
Dies sind Störungen des Herzmuskels, die durch sehr viele Erkrankungen verursacht werden können. Man unterscheidet nach Art der Funktionsbehinderung 3 Gruppen von Kardiomyopathien. ■ Bei den dilatativen Kardiomyopathien geht die Störung der Myo-
kardfunktion mit einer Erweiterung (Dilatation) der Herzkammern einher. Die Ursachen sind vor allem koronare Herzkrankheit und Zustand nach Myokardinfarkt, Alkoholkrankheit, Diabetes mellitus, Schilddrüsenerkrankungen, Infektionen (Viren, Bakterien etc.), Medikamente (z.B. bei Krebsbehandlung) und Bindegewebserkrankungen. Die Beschwerden bei dilatativen Kardiomyopathien sind durch Herzinsuffizienz und Rhythmusstörungen gekennzeichnet. ■ Hypertrophische Kardiomyopathien sind durch abnorme Verdickungen des Herzmuskels gekennzeichnet, wobei die Ausflussbahn der linken Herzkammer verengt werden kann. Diese hypertrophischobstruktive Kardiomyopathie ist von Bedeutung, weil sie die häufigste Todesursache bei jungen Leistungssportlern darstellt. In der Hälfte der Fälle handelt es sich um eine vererbte Form, in den restlichen Fällen wird zumeist keine Ursache gefunden. ■ Bei restriktiven Kardiomyopathien ist der Herzmuskel schlecht dehnbar und steif, wodurch die Füllung der Herzkammern mit Blut behindert wird.
Funktionelle Herzbeschwerden
Funktionelle Herzbeschwerden stellen eine psychische Erkrankung aus dem Formenkreis der Neurosen oder Angststörungen dar. Die Patienten haben große Angst, herzkrank zu sein und daran sterben zu können. Sie klagen auch über verschiedene, uncharakteristische Herzbeschwerden. Immer wieder werden sie als Akutfälle in Spitäler eingeliefert. Bei den Untersuchungen finden sich allerdings keine krankhaften Befunde am Herzen. Häufig haben die Patienten auch Panikattacken. Sie sollten vor allem psychotherapeutisch behandelt werden. Hilfreich sind Entspannungsübungen, z.B. im Rahmen eines autogenen Trainings. Nach einer Beruhigung und Stabilisierung des Patienten wird
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Tabelle 2. Risikofaktoren Beeinflussbare Faktoren
Nicht beeinflussbare Faktoren
Rauchen erhöhte Fettwerte Bluthochdruck Diabetes Übergewicht Stress Bewegungsmangel
erbliche Faktoren Alter Geschlecht (Männer sind gefährdeter)
ein körperliches Ausdauertraining durchaus zu empfehlen sein, um dem Patienten neuen Mut, Vertrauen in seinen Körper und damit Selbstsicherheit zu geben. Hier werden die stimmungsaufhellenden und angstlösenden Effekte des Trainings wirksam.
2. Prophylaxe bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen Risikofaktoren
Generell unterscheidet man beeinflussbare von nicht beeinflussbaren Risikofaktoren (siehe Tabelle 2).
Was sollte vorbeugend getan werden?
Fettwerte senken! Bei den Blutfetten unterscheidet man die für das Herz-Keislauf-System weniger gefährlichen Triglyzeride vom Serum-Cholesterin. Dieses wird in das „schlechte“ LDL-Cholesterin und das HDL-Cholesterin aufgetrennt. HDL-Cholesterin bezeichnet man auch als „gutes“ Cholesterin; denn je höher dieser Wert ist, desto geringer ist das Herzinfarktrisiko. Die meisten Menschen, die an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung leiden, haben zu hohe Cholesterinwerte. Diese können zu einem gewissen Teil erblich determiniert sein. Meistens sind sie jedoch die Folge falscher Ernährung. Wer sich ausgewogen ernährt, kann seine Blutfettwerte um 10–20% senken. Der Fettanteil in der Nahrung sollte gesenkt und tierische sollten durch pflanzliche Fette ersetzt werden.
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Ist eine stärkere Reduktion nötig, wird der Arzt fettsenkende Mittel, so genannte Statine, verschreiben. Regelmäßig Sport betreiben! Regelmäßige körperliche Betätigung steigert das Wohlbefinden. Sie schützt vor einer koronaren Erkrankung oder einem Herzinfarkt. Stress abbauen! Stress sollte vermieden und eine gezielte Entspannungstherapie (Yoga, autogenes Training) in Erwägung gezogen werden. Schluss mit dem Rauchen! Mit dem Rauchen aufzuhören bringt deutliche gesundheitliche Vorteile. Dabei zählt jeder Tag. Es besteht heute kein Zweifel mehr darüber, dass Inhalieren von Tabakrauch (auch passiv) das Leben verkürzt. Raucher erleiden auch häufiger Herzinfarkte. Wird das Rauchen eingestellt, geht das Infarktrisiko innerhalb von 5 Jahren auf das von Nichtrauchern zurück.
3. Bewegung als Therapie bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen Bewegung und körperliches Training gelten heute bei vielen Herzerkrankungen als eine wesentliche Säule der Therapie. Bei verschiedenen Krankheitsbildern sind dabei unterschiedliche Gesichtspunkte zu beachten. Das Training muss dementsprechend angepasst werden. Bei einigen der oben geschilderten Krankheiten ist körperliche Belastung nicht angezeigt. Dann kann auf mentales (z.B. autogenes) Training zurückgegriffen werden.
Training als Therapie des Bluthochdruckes
Die neuesten USA-Richtlinien zur Klassifikation und Behandlung der Hypertonie betonen, dass Lebensstilmaßnahmen von großer Bedeutung sind. Dazu gehören mehr Bewegung sowie salz- und fettärmere Ernährung. Besonders bei der Prähypertonie und im Stadium I der Hypertonie eignet sich ein aerobes Ausdauertraining, um die Hypertonie zu verhindern bzw. zu behandeln. Im Stadium II sollte der Blut-
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druck zuerst medikamentös eingestellt werden, bevor man mit dem Training beginnt.
Die Trainingsformel von J. Karvonen
Der Arzt wird zuerst eine Ergometrie durchführen und die Leistungsfähigkeit feststellen. Die Vorschreibung des aeroben Ausdauertrainings erfolgt dann nach der Formel von J. Karvonen, die Prof. Paul Haber empfiehlt.
Formel für das Ausdauertraining HFTr =HFRuhe +(HFmax –HFRuhe )×X±5
■ HFTr … Herzfrequenz bei Training ■ HFRuhe … Herzfrequenz in Ruhe ■ HFmax … Herzfrequenz bei maximaler Belastung ■ X = 0,6 … bei einer Leistungsfähigkeit von 70% des Referenzwertes
oder mehr ■ X = 0,5 … bei einer Leistungsfähigkeit unter 70% des Referenzwer-
tes. Der Referenzwert entspricht dem Normalwert (Sollwert). Dieses Training mittlerer Intensität sollte mindestens 30 Minuten dreimal pro Woche umfassen. Die wöchentliche Trainingsdauer kann dann allmählich, das heißt um nicht mehr als 10% pro Woche, erhöht werden. Innerhalb einiger Monate kann man es auf 50–60 Minuten, 3- bis 5-mal pro Woche steigern. Ein Training hoher Intensität, d.h. mit Herzfrequenzen, die höher liegen als oben berechnet, ist weniger günstig.
Wie effektiv ist das Training?
Die systolischen Blutdruckwerte fallen um durchschnittlich 11 mmHg und die diastolischen um 8 mmHg. Dies entspricht der Wirkung eines blutdrucksenkenden Medikaments in mittlerer Dosierung. Bei den Studien zeigte sich, dass etwa 75% der Hochdruckpatienten aller Altersgruppen auf das Training als Therapie ansprechen. Die blutdrucksenkende Wirkung beginnt nach Trainingsende und hält meist einen Tag an.
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Das Training hat bei den Hochdruckpatienten aber auch günstige Effekte auf das Herz selbst: Die Herzfrequenz sinkt um durchschnittlich 10%. Es kommt zu einer Verminderung des Sauerstoffverbrauches des Herzens. Das Herz schlägt ökonomischer.
Wodurch kommt der Effekt zustande?
Das Training senkt den Sympathikotonus. Damit ist jener Teil des autonomen Nervensystems gemeint, der das Herz mit Adrenalin, Noradrenalin und Nervenfasern antreibt und den Blutdruck steigert. Gleichzeitig steigt der Vagotonus in Ruhe. Das Training beeinflusst also auch jenen Teil des autonomen Nervensystems, der das Herz bremst und die Pulsfrequenz verlangsamt. Die arteriellen Blutgefäße erweitern sich, wodurch die Durchblutung der Organe verbessert und die Belastung des Herzens verringert wird. Jeder abgebaute Kilo senkt den Blutdruck um weitere 1,5–2 mmHg systolisch und um 1,2–1,5 mmHg diastolisch. Auch wenn das Gewicht nicht reduziert wird, senkt das Ausdauertraining den Blutdruck bei Hochdruckpatienten nachweislich. Das Ausdauertraining erzielt bei Bluthochdruck folgende Langzeiteffekte: ■ Ein deutlich verringertes Risiko für kardiovaskuläre Katastrophen
(Herzinfarkt, Schlaganfall, periphere arterielle Verschlüsse) sind zu erwarten. ■ Die Stoffwechselwerte bei Blutzucker, Cholesterin und Triglyzeriden verbessern sich. ■ Hochdruckpatienten haben häufig eine prognostisch ungünstige Faseranreicherung im verdickten Herzmuskel (linksventrikuläre Hypertrophie). Diese bildet sich durch Training zurück.
Wo liegen die Grenzen des Ausdauertrainings?
Bei vielen Menschen reicht das Training allein aber nicht aus, um den Blutdruck zu normalisieren. Bleibt das Übergewicht bestehen oder liegt ein Stadium II der Hypertonie vor, muss der Arzt den Blutdruck medikamentös senken.
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Training bei Hypotonie
Wenn die Untersuchung kein anderes Problem aufzeigt, ist Ausdauertraining sicherlich die effektivste Therapie der Hypotonie. Die üblichen blutdrucksteigernden Medikamente helfen nur kurzfristig. Es klingt paradox, aber Ausdauertraining ist sowohl bei erhöhtem als auch zu niedrigem Blutdruck eine wirksame und völlig natürliche Therapie.
Training bei koronarer Herzkrankheit und nach Herzinfarkt Die Phasen nach Myokardinfarkt
Auch nach einem Myokardinfarkt ist körperliches Training sinnvoll. Traditionell werden 3 Stadien einer zielführender Therapie unterschieden.
Die 3 Phasen der Therapie nach Myokardinfarkt
Phase I:
Hospitalisation und Frühmobilisation
Phase II:
Konvaleszenz: Das ist jener Zeitraum zwischen Beendigung des Krankenhausauf enthaltes und der Wiedereingliederung in das Berufs- bzw. Familienleben
Phase III: Postkonvaleszenz: Darunter versteht man die laufende und dauernde Rehabilitation. Phase I: Während des stationären Klinikaufenthaltes kommen in aller Regel milde Formen des Trainings, z.B. unter genauer Beobachtung auf dem Ergometer, zum Einsatz. Die körperliche Leistungsfähigkeit soll verbessert, der Patient mobilisiert werden. Eine begleitende psychologische Betreuung dient der Aufarbeitung des Infarktes sowie der Motivation des Patienten, nachteilige Lebensumstände zu ändern. Phase II: Die Rehabilitation setzt sich während der Konvaleszenz bevorzugt in einem Rehabilitationszentrum fort. In solchen Zentren steht die nötige Infrastruktur zur Verfügung. Üblicherweise dauern derartige Aufenthalte vier Wochen. In den Phasen I und II wird der Patient fast lückenlosen betreut. Dadurch ist sichergestellt, dass die gewählte Therapie den Bedürfnissen des Patienten entspricht. Phase III fordert Eigenverantwortung vom Patienten. Besondere Bedeutung kommt hier dem Hausarzt oder dem betreuenden Kardiologen zu. Ihm ist die Zusammenstellung und Kontrolle eines entsprechenden Trainingsprogramms vorbehalten.
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Richtlinien für das Training bei KHK und nach Herzinfarkt
Vor Trainingsbeginn ist eine diagnostische Analyse von Krankheitsbild und Leistungsfähigkeit des Patienten unbedingt notwendig. Sie bildet die Basis für den Trainingsplan, der gemeinsam von Arzt und Patient mit klaren Zielsetzungen erstellt wird. Der Trainingsplan regelt die Durchführung des Trainings. Dieses wird kontinuierlich durch den Patienten selbst und durch den Arzt ausgewertet.
Statuserhebung
Eine sorgfältige Diagnostik vor Trainingsbeginn ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor jedes medizinischen Trainings. Nur aufgrund einer solchen Statuserhebung kann ein Trainingsprogramm erstellt werden, das erfolgversprechend, nicht jedoch gesundheitsgefährdend ist. Der Arzt wird dabei insbesondere prüfen, ob einer der drei nachfolgenden Faktoren die Leistungsfähigkeit des Patienten beeinträchtigt. Er wird klären, wie schwerwiegend diese Beeinträchtigung ist und welche Folgen sie für Zielsetzung und Trainingsprogramm hat. Die nachstehenden drei Faktoren müssen in jedem Fall erhoben werden. 3 Faktoren der Statuserhebung ■ Ischämiefaktor:
Er beschreibt den Zustand des Herzkranzgefäßsystems. ■ Myokardfaktor: Er gibt über den Status der linken Herzkammer Aufschluss. ■ Arrhythmiefaktor: Er soll eventuelle Herzrhythmusstörungen aufdecken. Objektivierbar sind diese Faktoren durch eine Reihe diagnostischer Verfahren (siehe Tabelle 3). Die Statuserhebung dient zunächst dem Ausschluss von Krankheitsbildern, die ein körperliches Training nicht oder in nur sehr eingeschränktem Umfang erlauben. In weiterer Folge wird in der Diagnostik eine individuelle Belastungsgrenze ermittelt. Diese ist für die Erstellung eines Trainingsplans von höchster Bedeutung. Als Richtwert für den so genannten Trainingspuls werden 75% der maximalen Herzfrequenz angesehen. Bei der Ergometrie (Belastungs-EKG) wird die maximale Herzfrequenz unter Medikation erhoben. In gewissen Situationen muss jedoch ein Abbruch erfolgen.
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Tabelle 3. Diagnostische Verfahren bei der Statuserhebung – Das EKG (Elektrokardiogramm) kann als Ruhe-EKG, Belastungs-EKG oder Langzeit-EKG geschrieben werden. – Die Thalliumszintigraphie ergänzt das Belastungs-EKG. Eine radioaktive Substanz wird injiziert. So können Ausmaß und Lokalisation einer Sauerstoffunterversorgung des Herzmuskels in Ruhe und bei Belastung dargestellt werden. – Die Herzechokardiographie ist eine Ultraschalluntersuchung des Herzens. – Die Koronarangiographie ist eine Röntgenüberprüfung der Durchgängigkeit der Herzkranzgefäße. Sie identifiziert und lokalisiert Verengungen. – Die VO2max gibt die maximale Sauerstoffaufnahme unter Belastung an. Sie ermöglicht somit weitere Aussagen über das Leistungsverhalten von Herz und Lunge. – Die Laktatkonzentration ist die Milchsäurekonzentration im Blut. Sie stellt ebenfalls ein hervorragendes Belastungskriterium dar. Sie sollte im Rahmen eines Ausdauertrainings bei Herz-Kreislauf-Erkrankten einen bestimmten Wert nicht überschreiten.
Situationen, in denen abgebrochen werden muss: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■
Erreichen einer Herzfrequenz von 200 minus Lebensalter Angina-pectoris-Beschwerden Atemnot Übermäßiger Blutdruckanstieg Starker Blutdruckabfall Gefährliche Herzrhythmusstörungen EKG-Veränderungen, die für eine ungenügende Durchblutung des Herzens sprechen
Zielsetzung und Trainingsplan
Soll das Training medizinisch sinnvoll sein, muss der Trainingsplan auf das Krankheitsbild abgestimmt sein. Die Zielsetzung des Trainingsplans hängt vom Krankheitsbild ab. Es umfasst nicht nur körperliche, sondern auch psychische Aspekte. Es ist relevant, wie der Körper krankheitsbedingte Leistungsdefizite kompensiert und wie Stress abgebaut und die körperliche Selbstwahrnehmung gestärkt werden kann. Wie der Trainingsplan konkret ausgestaltet wird, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Sie können mit den oben genannten Methoden erhoben werden. Der betreuende Arzt sorgt für eine optimale Trainings-
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strategie. Eine zu geringe Intensität bedeutet Wirkungslosigkeit, eine zu hohe Belastung jedoch eine Gefährdung der Gesundheit. Ein Trainingsplan, der diesen Anforderungen genügen will, muss zumindest Angaben über Intensität, Dauer und Häufigkeit der Belastung enthalten. Sie stellen gemeinsam die wöchentliche Nettotrainingsbelastung (WNTB) dar. Sie wird beim Krafttraining in Sätzen pro Muskelgruppe pro Woche, beim Ausdauertraining in Minuten oder Stunden ausgewiesen und gibt direkt Aufschluss über die mit ihr zu erzielende Effektivität. Als Schwelle, ab deren Erreichung keine Verbesserung des Trainingszustandes mehr eintritt, gilt eine WNTB von 13 bis 15 Stunden. Allgemein wird zunächst ein gewünschtes Leistungsniveau definiert. Danach legt man, ausgehend vom Trainingszustand des Patienten, eine anfängliche WNTB fest. Diese wird im Laufe des Programms so lange systematisch gesteigert, bis rechnerisch die gewünschte Effektivität erreicht ist.
Durchführung des Trainings
Das Training wird plangemäß durchgeführt. Das Trainingsziel soll eingehalten, aber nicht überschritten werden. Sonst droht eine Überlastung, die die Gesundheit gefährden kann. Wie das Training konkret zu gestalten ist, richtet sich natürlich nach dem jeweiligen Sport. Einige allgemeine Regeln sind jedoch zu beachten. Was ist beim Training allgemein zu beachten? ■ Vor und während des Trainings sollte der Patient in sich „hineinhö-
ren“, also subjektiv feststellen, ob körperliche Beschwerden oder Auffälligkeiten vorliegen bzw. im Zuge des Trainings auftreten. Ist dies der Fall und fühlt der Patient Übelkeit, Schwindel oder Schmerzen, darf auf keinen Fall (weiter)trainiert werden. Eine Abklärung der Beschwerden und Anpassung des Trainingsplans sind unter Umständen notwendig. Training nach (üppigen) Mahlzeiten oder bei Vorliegen eines Infektes (Grippe etc.) ist auf jeden Fall zu vermeiden. ■ Ausdauertraining sollte immer in eine Aufwärm-, eine Haupt- und eine Ausklangphase unterteilt werden. Besonders wichtig ist langsames und sorgfältiges Aufwärmen bei Patienten mit Belastungskoronarinsuffizienz und Walk-through-Angina pectoris. ■ Krafttraining verlangt in aller Regel eine sorgfältige, kontrollierte (langsame) Übungsausführung unter Einhaltung entsprechender Pausen zwischen den einzelnen Sätzen. Besonders wichtig ist hier die Dehnung der beanspruchten Muskelgruppen nach dem Training.
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In einigen Spitälern und sozialmedizinischen Zentren existieren Bewegungsgruppen für Herzpatienten. Derartige Gruppen sind aus mehreren Gründen zu empfehlen: Sie stellen ein ausgewogenes und auf die speziellen Bedürfnisse des Patienten zugeschnittenes Training sicher. Sie minimieren das Risiko gesundheitlicher Schädigung durch permanente Aufsicht und ermöglichen den Erfahrungsaustausch in der Gruppe. Ein solches gemeinsames Training in der Gruppe ist motivierend.
Auswertung
Der Trainingsfortschritt ist periodisch auszuwerten. In gewissen Zeiträumen muss diagnostisch überprüft werden, ob die gewünschten Effekte eingetreten sind. Die Häufigkeit richtet sich nach der konkreten Schwere der Erkrankung. Eine erste Kontrolle sollte jedenfalls drei bis sechs Monate nach Beginn des Trainings stattfinden, danach sollte jedes halbe Jahr kontrolliert werden. Durch die Evaluierung wird zweierlei erreicht: Der Trainingsfortschritt wird überprüft und das Trainingsprogramm kann der gesteigerten Leistungsfähigkeit angepasst werden.
Welche Sportart soll gewählt werden?
Nicht jede Sportart eignet sich für die Therapie von Herzkranken gleichermaßen. Grundsätzlich zu bevorzugen sind Bewegungsabläufe, die eine gleichmäßige bzw. dosierbare Belastung des Körpers erlauben. Der Sicherheitsaspekt, der Grad der jeweiligen Erkrankung sowie das Alter des Patienten spielen ebenfalls eine Rolle. Man unterscheidet generell Ausdauertraining von Krafttraining. Eine Ausdauerbelastung kann – beispielsweise bei 50% der maximalen Leistungsfähigkeit – sehr lange durchgehalten werden. Sie stimuliert das Sauerstoff-Transportsystem, Herzzeitvolumen und Atmung nehmen zu und es kommt bei regelmäßiger Betätigung zu einem Anpassungseffekt des Herzens an die erhöhte Belastung. Gesichert ist, dass auch die Einbeziehung moderaten Krafttrainings in die Therapie von Herzkranken vorteilhaft ist. Bei stärkerer Belastung erhöht sich allerdings der Blutdruck, weil sich die trainierten Muskelgruppen kontrahieren. Deshalb ist darauf zu achten, dass das Training mit geringer Belastung durchgeführt wird. Eine Steigerung darf nur langsam und unter konsequenter Überwachung des Patienten erfolgen. Therapiemethode erster Wahl ist das Zirkeltraining an Kraftmaschinen. Es besteht aus einer Kombination von etwa 10 Übungen für
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alle großen Muskelgruppen mit leichten bis mittelschweren Gewichten und kurzen Ruhepausen. Folgende Ausdauersportarten kommen in Frage: ■ Das Fahrradergometertraining spielt insbesondere bei der statio-
nären Behandlung koronarer Erkrankungen eine wichtige Rolle. Auch Patienten mit geringer Belastbarkeit können exakt dosiert trainieren. Daneben ist eine sorgfältige Überwachung des Patienten (mittels EKG) möglich. Aufgrund seiner genauen Reproduzierbarkeit sind die Ergebnisse eines Fahrradergometertrainings besonders aussagekräftig. Deshalb eignen sie sich in besonderem Maße für die Einstufung und laufende Kontrolle des Patienten. Die leichte Dosierbarkeit und unkomplizierte Handhabung machen das Fahrradergometer auch zu einem beliebten Sportgerät für zuhause. Das Fahrradergometertraining kommt deshalb auch für Patienten mit Übergewicht oder orthopädischen Zweiterkrankungen in Frage, da es die Gelenke bei der Bewegung schont. Der Nachteil des Fahrradergometertrainings liegt in der Eintönigkeit, über die oft berichtet wird. Hier kann Fernsehen oder der Besuch eines Fitness-Centers Abwechslung bringen. ■ Auch Fahrradtraining ist grundsätzlich eine vernünftige Trainingsform. Es fehlt ihm jedoch an genauer Dosierbarkeit und ist damit dem Ergometertraining unterlegen. Vor allem die Überwindung von Steigungen kann zu erheblichen Kreislaufbelastungen führen. Andererseits ist Fahrradfahren in der Natur ein Erlebnis und oft eine gute Motivation für den Patienten. ■ Gehen und Laufen sind ein besonders vorteilhaftes Training für Herzpatienten. Im Vergleich zu anderen Belastungsformen steigt dabei der Blutdruck nur relativ geringfügig an. Ein gezieltes Gehtraining entlastet das Herz ebenso wie ein Lauftraining. ■ Um Schwimmen unter größtmöglicher Sicherheit für den Patienten durchführen zu können, müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein: – Die Wassertemperatur sollte etwa 27° betragen – Die Dosierung der Schwimmbelastung sollte unter Berücksichtigung der entsprechenden Trainingsherzfrequenz erfolgen. – Die Schwimmtechnik sollte korrekt sein und gegebenenfalls korrigiert werden. Aufgrund des Wasserdrucks und der horizontalen Schwimmlage erhöht sich die Volumenbelastung des Herzens. Herzrhythmusstörungen
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und ein plötzlicher Herztod kommen beim Schwimmen etwas häufiger vor als bei anderen Therapieformen.
Kann Training bei KHK die Prognose der Erkrankung verbessern?
Sportliche Betätigung spielt eine wesentliche Rolle bei der Behandlung von KHK. Neuere Studien legen dabei nahe, dass ein intensives Trainingsprogramm bei stabiler KHK sogar wirkungsvoller ist als ein kardiologisches Maximalprogramm. Dieses besteht aus der Aufdehnung der Koronararterie plus Stent (Maschendrahtrohr) plus medikamentöser Nachbehandlung. Beide Formen können zwar die Belastbarkeit deutlich verbessern, klinische Komplikationen kommen bei sportlicher Betätigung jedoch seltener vor. Die Wirksamkeit sportlicher Betätigung ist dabei keine Frage des Alters: Auch Patienten über 60 Jahren profitieren merklich.
Mit welchen Auswirkungen ist zu rechnen?
Chronische aerobe körperliche Belastung hat auf die Blutfette einen günstigen Einfluss. Das Gesamtcholesterin fällt um etwa 6%, das „schlechte“ LDL-Cholesterin fällt um zirka 10% und das „gute“ HDLCholesterin steigt um ungefähr 5%. Auch die positiven Effekte regelmäßiger körperlicher Betätigung auf den Zuckerstoffwechsel und auf die Insulinsensitivität (Empfindlichkeit für Insulin) sind allgemein bekannt. Die direkten physiologischen Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System seien an dieser Stelle noch einmal angeführt: ■ ■ ■ ■ ■ ■
Senkung der Ruhe- und Belastungsherzfrequenz Senkung des Ruhe- und Belastungsblutdrucks Verminderung des myokardialen Sauerstoffverbrauchs Verbesserung der Kontraktionsfähigkeit des Herzmuskels Erhöhung des Parasympathikotonus Aktivierung von Substanzen, die eine gefäßerweiternde Wirkung haben ■ Mögliche Verbesserung der Herzkranzgefäßdurchblutung und der Kollateralenbildung (Bildung von Umgehungsgefäßen) am Herzmuskel
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Mit dem Training lässt sich außerdem das Gewicht reduzieren. Es wirkt stimmungsaufhellend und antidepressiv – sprich, es erhöht die Lebensfreude!
Training bei Herzklappenpatienten
Die Leistungsfähigkeit von Patienten mit Herzklappenfehlern ist meist aus mehreren Gründen bereits vor einer Operation eingeschränkt. Gründe für eine Leistungseinschränkung bei Herzklappenpatienten: ■ Störung des Blutflusses (der Hämodynamik) durch den Klappen-
fehler ■ verringerte Pumpleistung des Herzmuskels ■ Herzrhythmusstörungen ■ Die zugrunde liegende Erkrankung (z.B. eine den gesamten Körper
betreffende Atherosklerose) ■ Begleiterkrankungen (z.B. Diabetes mellitus) ■ Alter des Patienten ■ Trainingsmangel
Nach der Klappenoperation wird das Training zumeist in einem Herz-Rehab-Zentrum durchgeführt. Hier erfolgt die kardiologische Untersuchung des Patienten, die auch eine Ergometrie enthält. Dabei wird unter anderem die maximale Herzfrequenz ermittelt. Die Vorschreibung des Trainings erfolgt wieder nach der bekannten Formel von J. Karvonen; der Referenzwert entspricht dem Normalwert (Sollwert). Das Training wird ganz allmählich begonnen. Dies geschieht anfangs mit EKG-Kontrolle. Später wird man, wenn das Risiko von gefährlichen Herzrhythmusstörungen gering ist, die Überwachung auf eine Herzfrequenzkontrolle reduzieren.
Welche Sportarten kommen in Frage?
Auch zur Rehabilitation von Herzklappenpatienten lassen sich einige Sportarten empfehlen.
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Für Herzklappenpatienten geeignete Sportarten Spazieren gehen Power-Walking (bei besserer Leistungsfähigkeit) Radfahren Wassergymnastik Schwimmen in langsamem Tempo
Was kann durch Herz-Rehabilitation bei Klappenpatienten erreicht werden?
Man kann davon ausgehen, dass die Leistungsfähigkeit nach 6–12 Monaten wiederhergestellt ist. Wie hoch der Erfolg ist, hängt von vielen Faktoren ab. Dazu gehören: – – – – – –
Art und Zahl der betroffenen Klappen, die Funktionsfähigkeit des Herzmuskels vor der Operation, die zugrunde liegende Erkrankung, Begleiterkrankungen (z.B. der Lunge), frühere sportliche Tätigkeiten des Patienten und bleibende Herzrhythmusstörungen.
Bei Patienten mit Mitralklappenfehlern tritt Vorhofflimmern häufig auf. Es reduziert die Herzleistung, weil die Pumpleistung der Herzvorhöfe wegfällt. Man rechnet, dass die Patienten in Abhängigkeit von den erwähnten Faktoren 80–100% des Tabellensollwertes erreichen können.
Training bei chronischer Herzinsuffizienz
Lange galt, dass körperliches Training für Patienten mit chronischer Herzschwäche ungeeignet sei. Man propagierte Schonung, da angenommen wurde, körperliches Training beeinträchtige die Funktionsfähigkeit des Herzens weiter und bedeute eine Gefahr für den Patienten. Diese körperliche Inaktivität hat aber offensichtlich für den Patienten nachteilige Effekte. Die Muskulatur wird nicht ausreichend aktiviert und daher schlecht durchblutet. Dadurch kommt es zu einer Reihe von Symptomen, die als Myopathiesyndrom bei Herzinsuffizienz bezeichnet wird.
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Symptome des Myopathiesyndroms bei Herzinsuffizienz – – – – – – –
Schwund der Muskelmasse Veränderungen der Muskelfasern weniger Mitochondrien („Kraftwerke“ der Zelle) weniger Kapillaren, welche die Muskulatur durchbluten Tendenz der Muskelarterien, sich zu verengen geringere aerobe Kapazität Verschlechterung des Stoffwechsels
Für den Patienten bedeutet dies, dass sich neben seiner Herzschwäche auch seine Muskulatur reduziert hat und schlecht funktioniert. Dies schränkt ihn in der Bewältigung des Alltages weiter ein. Wahrscheinlich hat das Myopathiesyndrom auch ungünstige Rückwirkungen auf die Herzleistung selbst.
Was kann man tun, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen?
Neuere Studien zeigen, dass selbst bei einer Herzinsuffizienz der NYHAStadien II und III körperliches Training absolut sinnvoll ist. Es hat im Vergleich zu Patienten ohne Training folgende Effekte: – – – – –
Die Herzfrequenz fällt ab, was darauf hinweist, dass das Herz entlastet wird. Die Arterien in der Muskulatur erweitern sich, auch dies entlastet das Herz. Die maximale Sauerstoffaufnahme steigt um 20–25%, wodurch die Leistungsfähigkeit der Patienten wesentlich gesteigert wird. Die Lebensqualität wird besser. Spitalsaufenthalte und Todesfälle gehen zurück.
Strenge Schonung ist in besonders schweren Fällen einer Herzinsuffizienz, die bereits im Ruhezustand Atemnot verursacht, notwendig. Dies entspricht dem NYHA-Stadium IV. Folgende Situationen verbieten ein Training bei chronischer Herzinsuffizienz: – – – – – –
Herzinsuffizienz NYHA IV (Atemnot in Ruhe) akute kardiale Dekompensation (akute Herzschwäche) akuter Myokardinfarkt instabile Angina pectoris hochgradige Aortenstenose schlecht eingestellte Hypertonie (diastolisch über 115 mmHg)
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lebensgefährliche Herzrhythmusstörungen disseziierendes Aortenaneurysma (Ausweitung der Hauptschlagader mit Einriss in die Blutgefäßwand) floride (aktive) Endokarditis akute Infektionen Thromboembolie (Thrombose und Embolie eines Gerinnsels) entgleister Diabetes mellitus
Welches Training ist bei chronischer Herzinsuffizienz anzuraten?
Das Training bei chronischer Herzinsuffizienz ist wie ein Medikament zu werten. Der Arzt verordnet es nach den Regeln der Wissenschaft und berücksichtigt dabei die individuelle Situation des Patienten. Meist wird ein Ausdauertraining 3- bis 5-mal pro Woche für je 30 Minuten empfohlen. Ist die Leistungsfähigkeit des Patienten anfangs sehr gering, beginnt man mit 10 Minuten pro Trainingseinheit. Die Dauer einer Trainingseinheit kann natürlich, wenn es der Patient gut verträgt, ganz allmählich auf 60 Minuten gesteigert werden.
Welche Sportarten werden eingesetzt?
Eingesetzt werden als Sportmethoden das Fahrradergometer oder das Gehen. Es soll ein Ausdauertraining mit niedriger Intensität, mit 50% der maximalen Belastbarkeit, gewählt werden. Die Trainingsherzfrequenz soll 70–80% der maximalen Herzfrequenz nicht überschreiten, wenn man mit der Methode des „Prozentsatzes der maximalen Herzfrequenz“ berechnet. Wählt man hingegen die Formel nach J. Karvonen, wird man für den Faktor X die Zahl 0,5 einsetzten, weil die Leistungsfähigkeit dieser Patienten anfangs meist unter 70% des Referenzwertes beträgt. Das Training wird oft in einem Rehab-Zentrum begonnen. Die Überwachung erfolgt mit EKG. Ein Arzt ist in dieser Phase anwesend. Alle Geräte zur Herz-Kreislauf-Wiederbelebung (EKG-Monitor, Defibrillator, Notfallkoffer, Intubationsbesteck) sind vor Ort. Wenn sich gezeigt hat, dass der Patient das Training gut verträgt und Fortschritte gemacht hat, kann und soll er es auch zu Hause fortsetzten, wo die Kontrolle mit Herz- bzw. Pulsfrequenz erfolgt. Eine optimale medikamentöse Therapie ist in allen Fällen Voraussetzung für die Teilnahme an einem solchen Training.
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Training bei Kardiomyopathie
Auch für Patienten mit einer dilatativen oder hypertrophen Kardiomyopathie kommt unter Umständen moderates körperliches Training unter ärztlicher Aufsicht in einem Rehab-Zentrum in Frage. Maßstab für das Training ist dabei die individuelle Belastbarkeit des Patienten. Für Personen mit obstruktiver Kardiomyopathie ist jedenfalls strenge körperliche Schonung angezeigt.
Kontraindikationen für körperliches Training bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Nicht in allen Fällen eignet sich körperliche Betätigung zur Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Bei einer Myokarditis ist strenge Schonung angesagt; ob nach deren Ausheilen ein Training möglich und sinnvoll ist, hängt einerseits von der Belastbarkeit des Patienten und andererseits vom Restschaden, der nach Ausheilen der Myokarditis verblieben ist, ab. Das gleiche gilt im Falle einer Perikarditis oder einer Endokarditis.
4. Risiken – Plötzlicher Herztod durch Ausdauertraining? Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass aerobes Ausdauertraining in allen Altersklassen das Risiko eines plötzlichen Herztodes dramatisch reduziert. Allerdings kommen dennoch Einzelfälle von plötzlichem Herztod bei Ausdauertraining, bei Marathonläufen und beim Bergwandern vor. Sie führen dann meist zu heftigen Diskussionen über die Sinnhaftigkeit des Trainings. Das größte Risiko eines plötzlichen Herztodes haben Menschen mit einem körperlich inaktiven Lebensstil. Das Risiko von trainierten Personen ist hingegen weit geringer. Während des aeroben Trainings und bis 30 Minuten nachher steigt das Risiko allerdings etwa auf das Niveau von Untrainierten an. Dies ist auf den erhöhten Sympathikotonus und den reduzierten Vagotonus während des Trainings zurückzuführen. Die Herzfrequenz muss ja während der aeroben Belastung ansteigen, wodurch die Gefahr von gefährlichen Arrhythmien etwas höher liegt. Das kardiovaskuläre Risiko fällt allerdings 30 Minuten nach dem Training ab und bleibt
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dann weit tiefer als jenes von Untrainierten. Dies ist zum Teil auf die geringere Herzfrequenz durch das Ausdauertraining zurückzuführen. Das Risiko des plötzlichen Herztodes ist bei anaerobem Training natürlich höher als bei aerobem. Deswegen sollte man die Sauerstoffverarmung bei Herzkranken vermeiden.
Ursachen des plötzlichen Herztodes bei Sportlern
Obduktionen von Sportlern mit plötzlichem Herztod ergaben je nach Altersgruppe unterschiedliche Ursachen. – – –
Bei unter 25-jährigen Sportlern lagen meist familiäre Kardiomyopathien mit Rhythmusstörungen zugrunde. 25- bis 35-jährige hatten Kardiomyopathien und anatomische Anomalien der Koronararterien. Diejenigen, die älter als 35 Jahre waren, erlagen meist einer koronaren Herzkrankheit.
Die Fallzahlen waren dennoch gering. Die Feststellung von Kardiomyopathien und Koronaranomalien bei jüngeren Sportlern ist nicht immer einfach. Aus der Familiengeschichte, dem Beschwerdebild (Schmerzen im Brustkorb) und dem EKG können sich Hinweise ergeben. Ab 35 Jahren und bei erhöhtem kardiovaskulären Risiko sollte vor einem Training eine sportmedizinische Untersuchung, die eine Ergometrie einschließt, erfolgen. Ob es Sinn macht, alle Teilnehmer eines Marathons vorher sportärztlich zu untersuchen, ist aufgrund des sehr geringen Risikos umstritten.
5. Fallbeispiele Vom Sünder zum Life-Style-Apostel
Als Kind und Jugendlicher war Herr Z. sehr sportlich. Er brachte es sogar zum Jugend-Landesmeister von Kärnten im 400-m-Lauf. Dann aber folgte eine arbeits- und stressreiche Lebensphase. Neben seinem Beruf als Lehrer studierte er Medizin und gründete eine Familie. Für Sport und Erholung blieb keine Zeit. Das erhöhte Cholesterin und den Bluthochdruck, ein Erbe seiner Mutter, die bereits im 50. Lebensjahr einen Herzinfarkt erlitten hatte, beachtete er nicht, obwohl er als Arzt über die Risiken Bescheid wusste. Auch die Gefährlichkeit der 20 Zigaretten, die er täglich rauchte, verdrängte er. Manchmal waren es auch mehr. Mit unermüdlichem Fleiß brachte er es bis zum Lungenfacharzt,
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Primarius und Universitätsprofessor, geachtet von Patienten und Kollegen, geliebt von seiner Familie. Alles schien perfekt. Dann kam im Alter von 51 Jahren, ohne jegliche Vorwarnung, die Katastrophe. Er verspürte plötzlich heftige Schmerzen im Brustkorb, verbunden mit Atemnot und einem Vernichtungsgefühl. Man brachte ihn mit dem Notarzthubschrauber ins Krankenhaus, in „sein“ Krankenhaus, in die Kardiologie. Dort stellte man einen akuten Vorderwandinfarkt fest. Es gelang, den lebensgefährlich Erkrankten an der Herzintensivstation zu stabilisieren und das Gerinnsel im Herzkranzgefäß mit einem Medikament aufzulösen. Am nächsten Tag wurde die Herzkatheteruntersuchung durchgeführt. Sie zeigte mittelgradige atherosklerotische Veränderungen an zwei der drei großen Herzkranzgefäße, den abgelaufenen Vorderwandinfarkt und eine gute Pumpleistung der linken Herzkammer. Der Patient beschloss noch in der Intensivstation, sein Leben radikal zu ändern. Er rührte keine Zigarette mehr an, stellte seine Ernährung um, nahm Medikamente gegen Cholesterin und Bluthochdruck und erinnerte sich zu guter Letzt seiner sportlichen Wurzeln. Er war doch einmal ein sehr guter Läufer gewesen. Bereits im Rehab-Zentrum begann er vorsichtig mit dem Ausdauertraining. Er hielt sich genau an den Trainingsplan seiner Ärzte. Die Herzfrequenz wurde stets kontrolliert, um eine Überlastung zu vermeiden. Regelmäßig wurden Belastungs-EKGs durchgeführt. Bald war seine körperliche Leistungsfähigkeit wiederhergestellt. Doch eine normale Kondition genügte ihm nicht. Er wollte zeigen, dass er zu großen sportlichen Herausforderungen fähig war. Der New York Marathon, das musste es sein! Gleichzeitig wusste er, dass sein Kampf gegen die koronare Herzkrankheit nie aufhören würde. Das medizinische Wissen, aber auch ein tief verwurzelter Instinkt sagten ihm, dass er mit dem Ausdauersport das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen, stoppen, ja vielleicht sogar rückgängig machen könnte. Er trainierte regelmäßig, aber nicht verbissen. Es machte ihm große Freude und half, den Stress des Berufsalltages abzubauen. Hin und wieder träumte er noch vom Rauchen, aber nun hatte er etwas wesentlich Besseres als Zigaretten, nämlich das Laufen. 1995, eineinhalb Jahre nach dem Herzinfarkt, lief er seinen ersten Marathon, den New York Marathon, in 4:20 h. Sein Glücksgefühl war unbeschreiblich. Er fühlte sich körperlich topfit. Damals gelangen ihm auch beruflich entscheidende Innovationen. Es folgten weitere Marathons, aber 1997 traten bei körperlichen Belastungen wieder Herzschmerzen auf. Die Herzkatheteruntersuchung zeigte, dass sich eine
Training bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen
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neue Engstelle bei jenem Kranzgefäß gebildet hatte, welches die Vorderwand versorgt. Diese Engstelle wurde mit einem Ballon aufgedehnt und mit einem Stent stabilisiert. Der Herzkatheter zeigte aber auch, dass die koronare Atherosklerose bei einem anderen Kranzgefäß deutlich zurückgegangen war. Ein halbes Jahr später konnten wir unseren Freund beim WienMarathon antreffen. Er lief 3:18 h, eine in seiner Altersklasse hervorragende Zeit. Im Oktober 1999 musste allerdings eine neue Engstelle im Stent aufgedehnt werden. Seither gab es keine Beschwerden mehr. Heute fühlt sich unser Freund wohl und trainiert für den Triathlon. Hat er den Kampf gegen die koronare Herzkrankheit gewonnen? Er hat große Erfolge zu verbuchen – sowohl im Bemühen um einen besseren Gesundheitszustand als auch auf sportlicher Ebene. Aber Training und Medikamente gegen die koronare Herzkrankheit werden fortgesetzt. Ganz nach seiner Art will er diese Erfahrungen an die Mitmenschen weitergeben. Er gründete eine Organisation, die Ärzte zu Raucherentwöhnungsexperten ausbildet, schuf eine Homepage (www.jetztaufhoeren.at), wo sich Raucher beraten lassen können, und erweiterte seine Ordination zu einem sportmedizinischen Institut. Wer ist dieser Life-Style-Apostel? Richtig geraten – Hartmut Zwick!
Trotz Sports koronare Herzkrankheit – trotz koronarer Herzkrankheit Sport!
Der Patient war seit frühester Jugend, unter anderem in Vereinen, sportlich tätig. Seit der Gymnasialzeit widmete er sich intensiv dem Leistungsbergsteigen, dem Skitourengehen und dem Bergwandern. Er war beruflich erfolgreich, verheiratet und hatte drei Kinder, die keinen Anlass zur Klage gaben. Er lebte in einer „heilen Welt“ und war immer körperlich aktiv. Es gab allerdings auch einige Schwachstellen: Infarkt und Schlaganfall bei Mutter und Großmutter, eine deutliche Neigung zu Perfektion in Beruf und Alltag auch bei unwesentlichen Problemen, Ungeduld und aufbrausendes Wesen und schlechte Stressbewältigung, im speziellen bei Mobbing am Arbeitsplatz. Im 4. Lebensjahrzehnt plötzlich auftretende „Empfindungen“ im Brustkorb führten zum Internisten: Außer mäßig erhöhten Blutfettwerten fanden sich keine Auffälligkeiten; die nächsten drei Jahrzehnte brachten diesbezüglich keine nennenswerte Besserung trotz Ernährungsumstellung, sportlicher Betätigung und Behandlung mit blutfettsenkenden Medikamenten.
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C. Leithner und G. Wolner-Strohmeyer
Im 63. Lebensjahr entwickelte sich nach einer mehrere Wochen dauernden Bronchitis ein Vorderwandinfarkt. Nach einer nur vorübergehend wirksamen Dilatation entschloss man sich 1995 zu einer BypassOperation, die erfolgreich verlief. In den darauf folgenden acht Jahren absolvierte der Patient über 600(!) seinem Zustand angepasste alpine Touren. 2002 erzwangen zunehmende, vor allem bei Nacht auftretende Herzrhythmusstörungen die Einpflanzung eines Schrittmachers. Dies ermöglichte rasch wieder eine zufrieden stellende allgemeine Lebensqualität; für den Patienten waren alpine Touren wieder ohne weiteres möglich. Fazit: Sport reduziert zwar das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bietet aber keine absolute Garantie. Es spielen auch andere Faktoren – wie im vorliegenden Fall die familiäre Veranlagung, die klassischen Risikofaktoren und die individuelle psychische Struktur – eine Rolle. Sport kann jedoch, auch bei KHK, wesentlich zur Lebensqualität beitragen und beschleunigt die Rehabilitation. Entscheidend ist auch hier das Maßhalten und die Rücksicht auf den eigenen Zustand, denn, wie es Ludwig Prokop, Pionier der österreichischen Sportmedizin, formulierte: „Sport sollte letztlich dazu beitragen, dass wir gesünder sterben und nicht kränker leben.“
6. Zusammenfassung Körperliches Training ist heute ein wesentlicher Faktor in der Prophylaxe und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zwar ist körperliches Training nicht bei allen Erkrankungen angesagt, in den meisten Fällen hilft es jedoch Krankheitsfolgen zu lindern und die Leistungsfähigkeit zu steigern, manchmal sogar wiederherzustellen. Das Herz, der Motor unseres Körpers, darf dabei nicht falsch oder übermäßig belastet werden. Daher sind ärztlicher Rat und regelmäßige Überwachung ein wichtiger Erfolgsfaktor. Richtiges Training, das heißt regelmäßige, langfristige und vernünftig dosierte körperliche Betätigung, ist dabei nicht nur eine wichtige Säule der Therapie, es bringt auch ein geschärftes Körperbewusstsein und, nicht zuletzt, ein völlig neues Lebensgefühl mit sich. In diesem Sinn: Auf zum Training – langsam, aber sicher!
Erkrankungen der Bronchien Hartmut Zwick
1. Das luftleitende System Bevor der lebensnotwendige Sauerstoff in die verschiedenen Körperorgane verteilt werden kann, muss er zuerst von der Umgebungsluft in das Blut gelangen. Dann wird er an den roten Blutfarbstoff gebunden und weitertransportiert. Das luftleitende System beginnt an den Nasenlöchern bzw. am Mund und führt über den Kehlkopf und die Luftröhre in die Bronchien (siehe Abb. 1). Es endet schließlich an den Lungenbläschen (Alveolen). Man kann sich den Bronchialbaum als verzweigtes Röhrensystem vorstellen. Jede Röhre wird nach jeder Verzweigung enger, der Gesamtquerschnitt wird jedoch weiter. Denn die Tochterbronchien sind in Summe weiter als der Mutterbronchus. Daraus folgt, dass die Luft in den großen Bronchien schneller, im Bereich der kleineren jedoch langsamer fließt. So wird verständlich, dass Einengungen des Kehlkopfes, der Luftröhre und der großen Bronchien eher bemerkt werden, als Veränderungen der kleinen Bronchien. Dies ist bei der Raucherbronchitis typisch. Um die Luft in die Alveolen zu saugen, um also einzuatmen, muss sich die Atemmuskulatur zusammenziehen. In Körperruhe ist dies überwiegend das Zwerchfell. Durch diese Kontraktion bewegt sich das Zwerchfell nach unten und der Brustkorb wird größer. Der Druck sinkt unter den Atmosphärendruck ab, die Luft fließt hinein. Am Ende der Einatmung erschlafft die Atemmuskulatur, die elastische Lunge zieht sich zusammen. Dadurch entsteht ein Überdruck und die verbrauchte Luft fließt wieder hinaus, es wird also ausgeatmet. Während der Verweilzeit in den Alveolen tritt Sauerstoff in das Blut über. Das Kohlendioxyd, welches durch die Stoffwechselvorgänge im Körper erzeugt wird, nimmt die umgekehrte Richtung, um ausgeatmet zu werden (siehe Abb. 2).
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H. Zwick
Abb. 1. Schematische Zeichnung der Belüftung der Lunge
Abb. 2. Schema der Inspiration und Exspiration
Bei körperlicher Belastung, wenn also mehr ein- und ausgeatmet werden muss, treten mehr Atemmuskeln in Aktion. Der Brustkorb wird gehoben und gesenkt, auch die Bauchmuskulatur wird verwendet. Ist die Anstrengung der Atemmuskeln groß, wird das als Atemnot unangenehm bemerkt. Diese Atemnot kann während körperlicher Belastung
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auftreten oder auch schon in Körperruhe, wenn zu viel Arbeit der Atemmuskulatur zur Bewegung der Luft nötig ist. Weil die Sauerstoffspeicher im Körper sehr klein sind, können wir die Luft nicht länger anhalten oder z.B. ohne Gerät nicht länger tauchen. Die Atmung muss also ständig funktionieren. Eine Unterbrechung von mehreren Minuten führt zu lebensbedrohlichem Sauerstoffmangel im Gehirn und in anderen wichtigen Geweben. Die Krankheiten des luftleitenden Systems betreffen auch die Nase. Bei körperlicher Anstrengung wird sie durch das Öffnen des Mundes großteils umgangen. Der Kehlkopf bildet eine Engstelle für den Luftstrom, die Stimmritze wird bei Einatmung aktiv weitgestellt. Gibt es hier vorübergehende oder dauernde Veränderungen, wird das vom Betroffenen meist rasch bemerkt. Heiserkeit oder Atembeschwerden – vorwiegend während der Einatmung – führen ihn zum Hals-Nasen-Ohrenarzt. Dieser schlägt nach entsprechender Diagnostik eine Therapie vor. Derzeit liegen keine Informationen über Auswirkungen einer Bewegungstherapie bei Erkrankungen der Nase und der Nasennebenhöhlen vor. Dieses Kapitel soll sich mit den Krankheiten beschäftigen, welche die Bronchien und das Lungengewebe selbst betreffen. Die häufigsten und wichtigsten sind das Asthma bronchiale, die COPD (chronische Bronchitis und Lungenemphysem) und die Lungengewebserkrankungen. Erkrankungen der Bronchien und des Lungengewebes machen sich durch Husten und Auswurf, vor allem aber durch Atemnot bemerkbar. Diese wird durch Mehrarbeit der Atemmuskulatur hervorgerufen. Die Luft muss, z.B. bei Asthma und COPD, gegen erhöhte Widerstände gepumpt werden, um genügend Sauerstoff in die Lungenbläschen zu transportieren. Krankheiten des Kehlkopfes und der großen Bronchien machen sich früh, die der kleinsten Bronchien und des Lungengewebes leider oft sehr spät bemerkbar.
2. Welche Erkrankung liegt vor? Asthma bronchiale
Asthma bronchiale ist eine Erkrankung, welche die Bronchien betrifft und das Lungengewebe selbst – die Alveolen – sehr lange Zeit verschont. Sie beginnt meist im Kindes- oder Jugendalter. Es gibt häufig lange Phasen, in denen überhaupt keine Beschwerden bemerkt werden. Das Asthma bronchiale hat mit dem Zigarettenrauchen ursächlich nichts zu tun. Vielmehr ist es eine großteils ererbte, angeborene oder
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frühkindlich erworbene Entzündung – in manchen Aspekten mit dem Rheuma vergleichbar – wodurch eine bronchiale Überempfindlichkeit entsteht. Diese gesteigerte Empfindlichkeit führt, meist gemeinsam mit einer Allergie, zum Asthma. Ist die Erkrankung einmal manifestiert, können verschiedenste Auslöser Bronchialspasmen (Krämpfe der Bronchialmuskulatur) verursachen. Auslöser für Bronchialspasmen sind zum Beispiel ■ ■ ■ ■
Pollen, Staub, Kälte, aber auch der Zigarettenrauch.
Die Bronchialspasmen verengen das luftleitende Röhrensystem. Wenn die Luft durch enge Bronchien gepumpt werden muss, benötigt man dazu mehr Muskelkraft. Die erhöhte Arbeit der Atemmuskulatur erzeugt das unangenehme Gefühl der Atemnot, welches den Patienten schließlich zum Arzt führt. Die Atemnot des Asthmatikers entsteht anfallsweise, auch in Körperruhe und manchmal auch nachts. Sie ist nicht unbedingt mit körperlicher Belastung verbunden. Asthma liegt vor, ■ ■ ■ ■
wenn der Betreffende an anfallsartiger Atemnot oder häufigem Engegefühl im Brustkorb leidet. Die Atmung pfeift manchmal, weil sich in den engeren Bronchien Luftwirbel bilden.
Besonders gefährdet sind Personen, ■ die an einer Allergie leiden ■ und in deren Familie Asthma schon bekannt ist.
COPD
Die COPD (Chronic Obstructive Pulmonary Disease), die chronische Bronchitis mit Lungenemphysem, ist die häufigste Erkrankung von Bronchien und Lunge. Sie tritt überwiegend, aber nicht ausschließlich bei Rauchern auf. Nicht jeder Raucher erleidet eine COPD, aber mehr als 80% aller COPD-Patienten sind oder waren Raucher.
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Durch jahrelanges Zigarettenrauchen kommt es auch zur Entwicklung des Kehlkopf- und Lungenkrebses. Darauf wird im Folgenden nicht eingegangen, obwohl auch Krebspatienten von der Bewegung als Therapie sehr profitieren. Uns beschäftigt hier die Entstehung der chronischen Bronchitis und der Lungenüberblähung, des Emphysems. Viele Rauchinhaltsstoffe, aber bei weitem nicht alle, sind bereits untersucht. Der ständige chemische Reiz führt einerseits zu einer entzündlichen Veränderung der Bronchien. Diese sieht ganz anders aus als bei der Bronchialentzündung des Asthmatikers. Andererseits werden auch die Alveolen, also das Lungengewebe selbst geschädigt. Die Lungenbläschen werden größer, manchmal entstehen Blasen von mehreren Zentimetern Durchmesser. Die Anzahl der Alveolen verringert sich stark. Die Folge ist, dass die Gesamtaustauschfläche für den Sauerstoff dramatisch kleiner wird. Viele kleine Alveolen bieten dem eingeatmeten Sauerstoff eine größere Fläche zum Übertritt in das Blut an als wenige große. So entsteht ein Lungenemphysem – eine überblähte Lunge mit nachlassender Elastizität. Die chronische Bronchitis verursacht vermehrte Schleimproduktion, was sich in Husten und Auswurf äußert. Der Bronchialquerschnitt wird, vor allem im Bereich der kleineren Verzweigungen, eingeengt. Dies führt zu einem erhöhten Arbeitsaufwand der Atemmuskulatur, wenn gleich viel Luft durch ein engeres Röhrensystem gepumpt werden muss. Daraus resultiert Atemnot, die anfangs nur während körperlicher Belastung verspürt wird. Viele führen sie auf einen mangelnden Trainingszustand und nicht auf die Bronchien- und Lungenerkrankung zurück. Durch das Emphysem wird nicht nur die Gesamtaustauschfläche für Sauerstoff und Kohlendioxyd verringert, sondern auch die Lungenelastizität verändert. Die Lunge wird schlaff, die Ausatmung benötigt bei emphysematischen Lungen die Unterstützung der Atemmuskulatur. Die Anstrengung der Atemmuskeln erzeugt Atemnot. Bei Gesunden geschieht dies ohne Anstrengung durch die Lungenelastizität selbst Atemnot während körperlicher Belastung wird typischerweise erst in der zweiten Lebenshälfte bemerkt, nachdem schon länger geraucht worden ist. Sie überfällt uns nicht anfallsartig und wird vorerst nur bei Anstrengung spürbar. In Körperruhe genügt die Lungenleistung noch für viele Jahre, obwohl schon viel zerstört ist. Die zunehmende Einschränkung der Belastbarkeit verringert die Lebensqualität aber dramatisch. Es ist deshalb äußerst wichtig, mittels Bewegung als Therapie frühzeitig einzugreifen. Im statistischen Durchschnitt opfert der Raucher 5–10 Minuten seiner Lebenszeit pro Zigarette und riskiert durch Invalidisierung ebenso viele Minuten schlechter Lebensqualität.
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Asthma beginnt also meist im jüngeren Lebensalter und ist durch anfallsartige Atemnot auch in Körperruhe charakterisiert. Die COPD des Rauchers beginnt hingegen mit Belastungsatemnot in der zweiten Lebenshälfte, die nicht anfallsartig ist und fortschreitet, wenn dagegen nichts unternommen wird. Die COPD – in den meisten Fällen mit „Raucherlunge“ gleichzusetzen – ist eine schleichend entstehende, gefährliche Krankheit. Das Zerstörungswerk der Zigaretten beginnt in den kleinsten Bronchien und im Lungengewebe. Die häufigsten Symptome sind – Husten, – Auswurf – und Atemnot bei körperlicher Anstrengung.
Lungengewebserkrankungen
Es gibt eine Reihe von Krankheiten, die primär das Lungengewebe, also den Bereich der Lungenbläschen betreffen. Es handelt sich hier meist nicht um akute Erkrankungen, wie z.B. die Lungenentzündung, sondern um chronische Veränderungen. Allen gemeinsam ist, dass der Übertritt des Sauerstoffs von den Alveolen in das Blut gehemmt wird. Das Blut wird schlechter oxygeniert. Durch Vernarbung im Lungengewebe entsteht nicht nur diese Gasaustauschstörung für Sauerstoff und im extremen Fall auch für das Kohlendioxyd. Die Lunge wird – im Gegensatz zur schlaffen Überblähung beim Emphysem – zusätzlich auch steifer und fester. Durch die Oxygenationsstörung muss der Betroffene mehr Luft in die Alveolen transportieren, also mehr atmen. Dies geschieht aber bei steiferer Lunge gegen einen erhöhten Widerstand, was gesteigerte Atemmuskelarbeit bedeutet. Dies erzeugt Atemnot. Insgesamt handelt es sich bei Lungengewebserkrankungen um eine Gruppe mit vorwiegend immunologischem Hintergrund. Zahlenmäßig spielen sie nicht die Rolle, die der COPD oder dem Asthma bronchiale zukommt. Es geht um Krankheiten, wie z. B. die Sarkoidose, die verschiedenen Alveolitiden und andere interstitielle Lungenerkrankungen. Auch bei dieser Krankheitsgruppe ist Bewegung als Therapie angezeigt, muss jedoch besonders vorsichtig gesteuert werden. Es besteht nämlich die Möglichkeit, dass während des Trainings der Sauerstoffgehalt des Blutes abnimmt. Manchmal muss zusätzlicher Sauerstoff über geeignete Behälter und eine Nasensonde zugeführt werden. Trai-
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ning mit zusätzlichem Sauerstoff – genau indiziert und dosiert – kann Patienten mit interstitieller Lungenerkrankung vor dem fortschreitenden Verlust an körperlicher Leistungsfähigkeit schützen. Es bietet ihnen ein Leistungsniveau, das sie sonst nie erreichen würden.
3. Ursachen und Prophylaxe Kann Asthma bronchiale verhindert werden?
Die Ursachen des Asthma bronchiale liegen meist in einer angeborenen oder frühkindlich erworbenen Allergie und Überempfindlichkeit der Bronchien. Asthma wird – wie auch andere allergische Erkrankungen – immer häufiger. Man stellt sich natürlich die Frage, was dahinter steckt. Es gibt diesbezüglich eine gut begründete Hypothese: Wir haben in unseren Breiten durch zunehmende Sauberkeit und Bekämpfung frühkindlicher Infektionen zwar Fortschritte gemacht. Wir bezahlen dies aber damit, dass unsere Kinder und Jugendlichen häufiger allergische Erkrankungen erleiden. Wenn wir nicht wollen, dass viele überwundene oder eingedämmte Infektionskrankheiten des Kindesalters wieder zurückkehren, müssen wir wohl lernen, mit der Zunahme allergischer Krankheiten zu leben.
Frühzeitige Diagnose
Wenn man die Entstehung einer Erkrankung nicht verhindern kann, wenn also eine primäre Prophylaxe derzeit nicht möglich ist, kommt der frühen Diagnose besondere Bedeutung zu. Dann kann rechtzeitig gezielt behandelt werden, um ein Fortschreiten der Krankheit zu verhindern. Die Diagnose wird von Hausarzt und Lungenfacharzt gestellt. Dieser schätzt mittels Lungenfunktionsanalyse und Allergietest den Schweregrad ein und schlägt die entsprechende Therapie vor. Exakt eingehaltene Therapiepläne gewährleisten eine normale Leistungsfähigkeit.
Sportliche Aktivität
Sehr viele Spitzen- und Weltklassesportler sind Asthmatiker. Sie können ihre Leistung nur bringen, wenn frühzeitig diagnostiziert und
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richtig therapiert wird. Die Diagnose Asthma bronchiale schließt körperliche Belastung keinesfalls aus. Vielmehr wird der Verlauf der Erkrankung positiv beeinflusst, wenn Bewegung als Therapie eingesetzt wird. Durch sportliche Lebensführung und Selbstkontrolle verhindert der Asthmatiker eine Verschlechterung seiner Krankheit und betreibt damit sekundäre Prophylaxe. Sportliche, gut behandelte Asthmatiker haben auch noch nach Jahrzehnten eine gute Lungenleistungsfähigkeit.
COPD lässt sich vermeiden!
Die Entstehung der COPD, der chronischen Bronchitis und des Lungenemphysems, kann verhindert werden! Die Epidemie des Zigarettenrauchens, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm, muss endlich ihr Ende finden! In einzelnen Ländern (z. B. Kalifornien) gibt es durch eine aktive Gesundheitspolitik hervorragende Erfolge bei der Eindämmung des Zigarettenkonsums. Es ist mehrfach eindeutig nachgewiesen, dass mit der Zahl der verkauften Zigaretten sowohl die Zahl der Herz-Kreislauf-Kranken als auch der Bronchien- und Lungenkranken steigt bzw. fällt. Die Verhinderung, also die primäre Prophylaxe, der COPD ist möglich. Das ist jedoch überwiegend eine Aufgabe der Gesundheitspolitik. Über verschiedene Ge- und Verbote, einen hohen Zigarettenpreis, die Erschwernis des Zugangs zu Zigaretten und eine Veränderung des Raucher-Images ist viel zu erreichen. Derzeit beginnen Mädchen mit etwa 12 Jahren und Knaben mit etwa 14 Jahren zu rauchen. Meist tritt schon nach Monaten eine gewisse Abhängigkeit ein, die sich im Laufe der Jahre verstärkt. Die Nikotinabhängigkeit ist eine Sucht, was an sich schon eine Krankheit ist. Nach entsprechend langer Schädigung stört nicht nur der Raucherhusten sowie gelegentlich morgendlicher Auswurf. Zunehmend tritt Atemnot bei körperlicher Belastung auf, was schließlich zum Arzt führt. Dieser stellt oft schon beträchtliche Schädigungen von Bronchien und Lungengewebe fest. Die Lungenfunktionsanalyse lässt eine Einschränkung früh erkennen, doch Raucher nehmen diese Untersuchung selten rechtzeitig in Anspruch. Wie die Blutdruckkontrolle oder die Bestimmung der Blutfettwerte sollte auch die Kontrolle der Lungenfunktion zu den Selbstverständlichkeiten gehören.
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Was kann vorbeugend getan werden?
Die Lungenfunktion kontrollieren! Wer an anfallsweiser Atemnot leidet und allergische Symptome hat (z.B. Heuschnupfen), sollte sobald als möglich einen Arzt aufzusuchen. Dieser wird eine Lungenfunktionsanalyse und allergologische Tests durchführen. Danach kann er die Diagnose Asthma bronchiale stellen oder ausschließen. Ist die Diagnose einmal klar, muss entsprechend kontrolliert und therapiert werden. Eine gute Lungenfunktion gewährleistet uneingeschränkte körperliche Leistungsfähigkeit und keine wesentlichen Einschränkungen auch in der Zukunft. Wer an Asthma bronchiale leidet, sollte seine Lungenfunktion auch selbst kontrollieren, so wie das viele Patienten mit ihrem Blutdruck tun. Für die Eigenmessung der Lungenfunktion gibt es einfache Geräte. So kann Invalidisierung verhindert werden und die volle körperliche Leistungsfähigkeit erhalten bleiben. Bewegung ist für Asthmatiker ein Teil der Therapie. Raucherentwöhnung Ist oder war jemand Raucher und kommt es bei Belastung zu Husten, Auswurf und Atemnot, dann sollte raschest eine Lungenfunktionsanalyse gemacht werden. Sie wird zur Diagnose COPD führen. Was kann der Betroffene selbst tun? Am wichtigsten ist es, sich von der Zigarette endgültig zu verabschieden, um ein weiteres Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern. Viele Patienten sind vom Nikotin so abhängig, dass sie es alleine nicht schaffen, mit dem Rauchen aufzuhören. Das hat nichts mit Willensstärke zu tun. Die Abhängigkeit ist ein neurobiologisches Problem. Manchen gelingt es auch nach mehreren ernst gemeinten Versuchen nicht, das Rauchen aufzugeben. Dann ist es vernünftig, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es gibt ausgearbeitete Therapiekonzepte für nikotinabhängige Patienten. Die Erfolgswahrscheinlichkeit, sich endgültig von dieser Sucht zu befreien, ist groß. Daneben müssen nach Vorschlag des Arztes Medikamente, meist mittels Inhalation, genommen werden. Sie erweitern die Bronchien und verringern damit die Atemnot. Die besten Medikamente helfen aber nur, wenn sie entsprechend genommen werden. Eine primäre Prophylaxe bei COPD ist möglich. Wenn in unserer Bevölkerung nicht so viel geraucht würde, könnte COPD fast immer verhindert werden. Haben Jugendliche aber einmal begonnen, so gilt unser Augenmerk der Nikotinentwöhnung, der sekundären Prophylaxe. Wenn nach der Diagnose einer COPD weiterhin geraucht wird, schreitet
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der Funktionsverlust der Lunge fort. Die körperliche Leistungsfähigkeit wird eingeschränkt. Schließlich benötigen viele Patienten Sauerstoff und verlassen die Wohnung nicht mehr. In den schwersten Fällen kommen sie nicht einmal mehr aus dem Bett. All dieses Leid wird durch das Rauchen verursacht und lässt sich vermeiden. Treten erste Symptome auf, sollte man rechtzeitig zu rauchen aufhören. Die Zigarettenindustrie sowie die Verteiler dieser bei uns so gängigen Droge müssen zur Verantwortung gezogen werden. Rauchen führt in die Abhängigkeit, invalidisiert und tötet vorzeitig. Lungengewebserkrankungen Wer an einer Lungengewebserkrankung leidt, den trifft die Diagnose meist aus heiterem Himmel. Es gibt keine Chance der primären Prophylaxe. Bei vielen Erkrankungen dieser Art liegen die Ursachen noch im Dunkeln. Es müssen diffizile Therapiekonzepte entwickelt werden, um ein Fortschreiten zu verhindern. Jedenfalls ist Bewegung als Therapie angezeigt, wenn ein stabiler Zustand der Erkrankung eingetreten ist.
4. Bewegung als Therapie Die Beweglichkeit, also die Fähigkeit, sich ohne größere Anstrengungen oder Schmerzen in der Umwelt zu bewegen, ist ein zentrales Kriterium der Lebensqualität. Solange sie uns gegeben ist, wird uns das nicht bewusst. Sie ist selbstverständlich. Verringert sich die Leistungsfähigkeit, schränkt sich der Aktionsradius zusehends ein. Die gewünschte Lebensqualität geht verloren. Wer sich seine Beweglichkeit erhalten will, muss dazu aktiv beitragen – auch wenn dies anstrengend sein mag. In gesetzterem Lebensalter und bei chronischen Erkrankungen ist dies besonders wichtig. Bestimmte Aktivitäten verbessern die Funktion eines Organs oder Organsystems. Werden sie regelmäßig gezielt wiederholt, kann man sie als Training bezeichnen. Dies gilt sowohl für das Herz-Kreislauf-System, die Muskulatur als auch für das Gehirn. Unser Ziel ist die Erhaltung oder Steigerung der körperlichen und geistigen Mobilität. Eine Funktionsverbesserung ist allerdings nur in dem System zu erzielen, welches trainiert wird, und nur solange dieses Training anhält. Bewegung als Therapie bedeutet in unserem Zusammenhang therapeutisches Training von Patienten mit chronischen Bronchien- oder Lungenkrankheiten. Ziel ist es, die Einschränkung der körperlichen
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Mobilität zu verhindern oder so gering wie möglich zu halten. Frühzeitig begonnen, verbessert Bewegung als Therapie die Lebensqualität und verhindert Invalidisierung.
Möglichkeiten des Trainings Der erste Schritt zum Erfolg
Der eigene Wille, eine Bewegungstherapie durchzuführen, ist natürlich die wichtigste Voraussetzung Es kostet anfangs einige Überwindung, sich einem geregelten therapeutischen Training zu unterziehen. Besonders dann, wenn man viele Jahre lang körperlich nicht mehr als unbedingt nötig getan hat. Diejenigen, die einmal regelmäßig Sport betrieben haben und in den letzten Jahren nur durch die Belastungen des täglichen Lebens oder durch eine Krankheit davon abgehalten worden sind, tun sich etwas leichter. Alle spüren aber rasch die positiven Effekte des Trainings. Beweglichkeit wird mit zunehmendem Alter ein wesentliches Kriterium der Lebensqualität. Insbesondere Patienten mit Erkrankungen der Bronchien und der Lunge neigen dazu – oder werden sogar fälschlicherweise dazu aufgefordert – so wenig körperliche Belastung wie möglich auf sich zu nehmen. Dadurch schreitet nicht nur die Grunderkrankung fort, auch das Herz-Kreislauf-System und die Muskelfunktion leiden. Man kann sich schließlich aussuchen, wodurch man sich mehr eingeschränkt fühlt! Viele Patienten können wegen ihrer Krankheit keine Einkaufstasche mehr tragen. Sie gehen also bald überhaupt nicht mehr einkaufen. Der Kranke verlässt das Haus nicht mehr und wird immobil. Herz-Kreislauf-System und Muskulatur schalten auf Schongang, was zu weiterem Leistungsverlust bis hin zur Bettlägerigkeit führt. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, muss Bewegung als Therapie eingesetzt werden. Am Anfang steht der Wille. Wer nicht Invalide werden, also mobil bleiben und das Leben genießen will, muss selbst etwas tun. Man kann nicht alles Heil von pharmazeutischen Produkten erwarten, so wichtig diese auch sein mögen.
Zweiter Schritt: Beratung durch den Arzt
Wer sich einmal selbst darüber klar geworden ist, dass er ein therapeutisches Training auf sich nehmen will, sollte dies mit seinem Arzt
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besprechen. Fortschrittlich denkende Ärzte werden zustimmen, dazu ermuntern und die entsprechenden Voraussetzungen mit dem Betroffenen besprechen. Der Hausarzt oder der Lungenfacharzt berät über die durchzuführenden Tests, die Therapie und die Trainingsmöglichkeiten. Die Therapie umfasst folgende Schritte: ■ Entwöhnung vom Rauchen ■ Medikamentöse Therapie ■ 2- bis 3-maliges Training pro Woche
Dritter Schritt: Das Training
Was die Lungenerkrankungen, besonders das Asthma bronchiale und die COPD, aber auch die Lungengewebserkrankungen betrifft, ist festzuhalten, dass Bronchien und Lungengewebe selbst nicht wesentlich trainierbar sind. Nur im Wachstumsalter ist ein deutlicher Trainingseffekt auf die Lungenleistung zu erkennen. Bei Erwachsenen erweitern sich die Bronchien durch das Training nur gering und das Atemvolumen wird etwas größer. Das Lungengewebe verbessert sich dadurch aber nicht. Dort, wo Narben sind, kann kein funktionsfähiges Gewebe mehr entstehen. Dennoch sollten Lungenkranke trainieren. Muskulatur ist exzellent trainierbar, das gilt natürlich auch für die Atemmuskulatur. Spezielles Training verbessert Kraft und Ausdauer der Atemmuskeln. Nimmt deren Leistungsfähigkeit zu, benötigt man bei der täglichen körperlichen Belastung weniger Kraft. Die Leistung der Atemmuskeln erhöht sich, die gleiche Anstrengung wird leichter bewältigt. Dadurch wird die Atemnot geringer, die Angst vor körperlichem Versagen kleiner. Neben der Atemmuskulatur werden auch das Herz-Kreislauf-System und die Skelettmuskulatur trainiert. Ausdauer- und Krafttraining erhöhen die Ausschöpfung des Sauerstoffs in den Körpergeweben, die Sauerstoffaufnahme über die Lunge wird gesteigert. Dadurch ist es der Lunge möglich, mehr Sauerstoff an das Blut zu liefern, auch wenn sich die Funktion des Bronchien-Lungensystems nur wenig verbessert hat. Bei vielen Bronchial- und Lungenkranken ist der Sauerstoffgehalt im Blut in Körperruhe deutlich schlechter als während mäßig- bis mittelgradiger Belastung. Denn während der Belastung wird die Lunge gleichzeitig besser belüftet und durchblutet. Es gibt aber auch Krankheitszustände, bei denen der Sauerstoffgehalt des Blutes während körperlicher Anstrengung abfällt. Das muss durch Sauerstoffzufuhr von
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außen, z.B. mittels Nasensonde, ausgeglichen werden. Jedenfalls ist auch das kein Hindernis für Bewegung als Therapie. Bei diesen schweren Erkrankungen muss ein Spezialist die Belastungshöhe und die zugeführte Menge an Sauerstoff vorgeben. Durch Therapie und Training sind folgende Verbesserungen zu erwarten: ■ Ein größerer Aktionsradius ■ Abnahme der Atemnot bei körperlicher Belastung ■ Mehr Lebensfreude
Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass chronisch Kranke durch konsequentes Training das Leben wesentlich leichter bewältigen.
5. Trainingspläne Ob Asthma bronchiale, COPD oder eine Lungengewebserkrankung vorliegt, die Lungenfunktionsanalyse ist immer die Basis der medikamentösen Therapie. Ist die Erkrankung stabil, d. h. treten keine großen Schwankungen im Befinden auf, kann mit der Bewegung als Therapie begonnen werden. Die Basis jeder Bewegungstherapie ist – wie auch schon im Kapitel über die Herz-Kreislauferkrankungen beschrieben – das Ausdauertraining. Das trifft für Lungenkranke genauso zu wie für fast alle anderen stabilen internistischen Erkrankungen.
Was muss alles vor dem Training berücksichtigt werden?
Zunächst ist die Trainingsherzfrequenz und die Wochennettotrainingszeit (die Zeit, in der mit der Trainingsherzfrequenz geübt wird) zu bestimmen. Dazu wird eine symptomlimitierte Ergometrie, am besten eine spiroergometrische Untersuchung durchgeführt. Diese besteht in einer stufenweise ansteigenden ergometrischen Belastung meist auf dem Fahrrad. Währenddessen werden zumindest die Herzfrequenz und der Blutdruck gemessen sowie ein EKG geschrieben. Die Spiroergometrie bietet auch die Möglichkeit, den aufgenommenen Sauerstoff, das abgegebene Kohlendioxyd und andere Messwerte der Atmung zu bestimmen. So können die Atemfrequenz, das Atemzugvolumen und das Atemminutenvolumen erfasst werden. Daneben wird der Sauerstoff- und Säuregehalt des Blutes während der Untersuchung mehrfach gemessen. Mit
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Tabelle 1. Generalplan für die Entwicklung der Ausdauer im therapeutiscen Training für Rehabilitation, Gesundheits- und Freizeitsport (TE = Trainingseinheit) Stufe
LF%Ref
WNTZ, min
TE/Woche
1 2 3 4 5 6 7 8 9
<75 75–90 90–100 100–110 105–115 110–120 115–125 120–130 125–135
30 45 60 75 90 105 120 150 180
2–3 2–3 2–3 2–3 2–3 2–3 3–4 3–4 3–4
Quelle: P. Haber, Leitfaden zur medizinischen Trainingsberatung, Wien New York 2001, S. 146 LF%Ref = Leistungsfähigkeit in Prozent des Sollwerts WNTZ, min = Wochennettotrainingszeit in Minuten
dieser Methode ist es optimal möglich zu entscheiden, ob die körperliche Leistungsfähigkeit verringert ist. Ursache dieser Einschränkung ist entweder die bronchopulmonale Erkrankung oder der Herzkreislauf sowie die Muskulatur. Ist eine Spiroergometrie nicht möglich, müssen jedenfalls eine Lungenfunktionsanalyse und eine konventionelle Ergometrie durchgeführt werden. Abhängig von der Schwere der Erkrankung wird in jedem Fall exakt bestimmt, in welcher Herzfrequenz, also in welcher Belastungshöhe und mit welcher Belastungsdauer, trainiert werden soll. Ist die maximale körperliche Leistungsfähigkeit gemessen, kann daraus die Wochen-nettotrainingszeit abgeleitet werden (vgl. Tabelle 1). Je schlechter der Trainingszustand ist, desto geringer ist die Wochennettotrainingszeit. Desto größer ist aber auch die Chance, durch das Training einen Leistungsgewinn zu erzielen. Durch die symptomlimitierte Ergometrie wird auch die maximale Herzfrequenz gemessen. Symptomlimitiert bedeutet, dass die Belastung abgebrochen wird, wenn Symptome auftreten bzw. wenn die Leistungsgrenze erreicht ist. Wenn der Patient selbst seine Ruheherzfrequenz bestimmt, kann damit annäherungsweise seine Trainingsherzfrequenz ausgerechnet werden:
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HFTR = HFRUHE + (HFmax – HFRUHE) × X ± 5 Schläge/min X = 0,6 bei Leistungsfähigkeit von ≥ 70% Sollwert X = 0,5 bei Leistungsfähigkeit von < 70% Sollwert HFTR = Trainingsherzfrequenz HFRUHE = Ruheherzfrequenz HFmax = maximale Herzfrequenz Tabelle 2. Belastungsskala nach Borg Die Ruheherzfrequenz misst der Patient selbst morgens, bevor er das Die Belastung ist ................... Bett verlässt. Die Trainingsherzfrequenz be10 sehr, sehr schwer 9 stimmt in Zukunft die Höhe der Be8 lastung auf dem Fahrrad oder die 7 sehr schwer Geschwindigkeit beim Gehen und 6 Laufen. Wichtig ist, dass sich der 5 schwer Übende im Bereich der angegebe4 3 mässig nen Trainingsherzfrequenz befindet. 2 leicht Es geht nicht darum, wie rasch man 1 sehr leicht geht oder läuft oder wie hoch der 0.5 Widerstand am Ergometer einge0… stellt ist. Meist erscheint die Belastung während des Ausdauertrainings weder besonders leicht noch besonders schwer (vgl. Tabelle 2). Die meisten trainieren etwa in der Mitte der angeführten Skala bei 4 oder 5 und brechen die Belastung bei 7 oder 8 ab.
Ausdauertraining
Das Ausdauertraining folgt immer bestimmten Gesetzen. Dies gilt in gleicher Weise für Sportler wie für Patienten. Das Ausdauertrainingsprogramm in der vorgeschlagenen Herzfrequenz und Dauer lässt sich 2- bis 3-mal pro Woche oder auch öfter absolvieren. Um Rückschläge zu vermeiden, müssen die angegebenen Zeiten eingehalten werden. Übertriebener Ehrgeiz kann kontraproduktiv sein! Etwa alle sechs Wochen erhöht sich die Wochennettotrainingszeit um 5–10%, bis das Trainigsziel erreicht ist. Wie im Training mit sportlichen Zielen ist auch bei therapeutischem Training Buch zu führen. Mindestens zweimal pro Jahr ist eine einfache Leistungsüberprüfung durchzuführen.
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Hält sich der Übende an die Regeln der medizinischen Trainingslehre nach Paul Haber, wird die Ausdauerleistungsfähigkeit kontinuierlich steigen. Eifrigem Training steht nun nichts mehr im Wege! Je schlechter der ursprüngliche Trainingszustand, desto rascher wird sich der erfreuliche Trainingszuwachs bemerkbar machen.
Atemmuskeltraining
Die Atemmuskulatur pumpt ständig Luft von und zu den Lungenbläschen, um den Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Fällt die Pumparbeit durch Erkrankung schwerer, tritt Atemnot auf. Durch Training der Atemmuskulatur fällt die geforderte Arbeit leichter, was durch eine Verringerung der Atemnot deutlich spürbar wird. Atemmuskeltraining ist ein wichtiger Bestandteil der Bewegung als Therapie. Es wird unter Verwendung spezieller Geräte ermöglicht. Über ein Mundstück muss gegen Widerstand eingeatmet werden. Wie oft diese Anstrengungen unternommen werden, ist vorgegeben. Dabei ist etwa 70% des maximal möglichen Sogs zu erreichen. Diese Übungen werden exakt nach der Lehre für Krafttraining durchgeführt. Daneben ist an diesen Geräten (Respifit®) auch eine Art Kraft-Ausdauertraining möglich. Über ein Display wird kontinuierlich die aktuelle Leistung rückgemeldet. Trainingsprotokolle werden erstellt. Patienten mit bronchopulmonalen Erkrankungen profitieren nachweislich von konsequentem Atemmuskeltraining. Ihre Lebensqualität steigt. Kraft und Ausdauer dieser lebensnotwendigen Muskulatur erhöhen sich, wodurch die Atemnot bei körperlicher Belastung geringer wird.
Krafttraining
In der Vergangenheit wurde dem Krafttraining von Patienten insgesamt zu wenig Bedeutung zugemessen. Es wurde in die Ecke des Bodybuildings oder der reinen Kraftsportarten gedrängt. Man vergaß darauf, dass eine gewisse Muskelmasse Voraussetzung für ein Ausdauertraining ist. Üblicherweise werden Belastungen von Muskelgruppen mit etwa 70% der Maximalkraft durchgeführt. Die Maximalkraft entspricht jener Belastung, die nur ein einziges Mal bewältigt werden kann. Sind Geräte zur Messung der Maximalkraft vorhanden, ist die Einstellung einfach. Ansonsten muss der Arzt oder Trainer den Widerstand bzw. das Gewicht finden, welches dem Einmal-Wiederholungsmaximum, also der Maximalkraft, entspricht.
Erkrankungen der Bronchien
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Tabelle 3. Angemessenheit und systematische Streigerung der wöchentlichen Nettotrainingsbelastung in Sätzen/Muskelgruppe/Woche (S/MG/W) bei der Entwicklung der Maximalkraft im therapeutischen Training für Rehabilitation, Gesundheits- und Freizeitsport sowie für Ausdauersportarten Stufe
S/MG/W
Häufigkeit
1
1
1–2
2
2
2
3
3
2
4
4
2
5
6
2–3
6
8
2–3
7
10
2–3
Quelle: P. Haber, Leitfaden zur medizinischen Trainingsberatung, Wien New York 2001, S. 149
Es ist wichtig, sich über das Krafttraining genau zu informieren. Einfach drauflos zu trainieren kann schädlich sein. Genau dosiertes Krafttraining ist die Voraussetzung für effektives Ausdauertraining. Nach Messung der Maximalkraft kann das Training bei 50–70% der maximal möglichen Muskelkraft beginnen. Man fängt mit einem Satz pro Muskelgruppe an (vgl. Tabelle 3). 15–20 Wiederholungen pro Satz wären optimal, wobei das letzte Mal gerade noch zu schaffen sein sollte. Die gegebenen Möglichkeiten des Krafttrainings können variieren. Sie reichen von 3–4 unterschiedlichen Übungen der großen Muskelgruppen bis über 20 im Zirkeltraining, wenn einzelne Muskeln isoliert gekräftigt werden sollen. Dies ist aber im Sinne der Gesundheit und der globalen Leistungsfähigkeit nicht unbedingt nötig. Zur Erlangung der optimalen Fitness genügen drei Übungen: ■ Bankdrücken, ■ Bankziehen ■ und Beinstrecken.
Die Qualität der Trainingsbetreuung zeigt sich besonders darin, wie genau das Krafttraining eingestellt und wie auf die Zunahme der Leistungsfähigkeit mit einer Steigerung der Belastung reagiert wird.
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Bei Menschen mit Lungengewebserkrankungen, fällt unter Belastung der Sauerstoffgehalt des Blutes ab. Sie können trotzdem trainieren, wenn während des Trainings über eine Nasensonde Sauerstoff zugeführt wird. Das geschieht zum Vorteil dieser Patienten. Es handelt sich um einen sehr einfachen teilweisen Organersatz. Schwerkranke Patienten profitieren durch Bewegung als Therapie besonders, weil sie durch die Sauerstoffgabe höhere Trainingsbelastungen auf sich nehmen können. Ihre Lebensqualität nimmt dadurch stark zu. Die Pläne zum Krafttraining bronchopulmonal Kranker sind den für Herz-Kreislauf-Patienten vorgeschriebenen sehr ähnlich. Die Prinzipien der Trainingslehre sind allgemein anwendbar. Krafttraining ist zur Steigerung der Lebensqualität und häufig auch zur Schmerzbekämpfung ebenso wichtig wie Ausdauertraining. Es ist oft die Voraussetzung dafür.
Bewegung als Therapie muss Bestandteil des Lebensstils werden!
Wie bei jeder anderen Therapie lässt auch die Wirkung der Bewegungstherapie rasch nach, wenn man damit aufhört. Werden keine Blutdruckmedikamente mehr genommen, steigt der Blutdruck, wird keine Therapie zur Blutzuckersenkung durchgeführt, steigt der Blutzucker wieder. Dasselbe gilt für die Bewegungstherapie. Wird sie abgebrochen, kommt es wieder zu Leistungseinschränkungen. Bewegung als Therapie muss also ein wichtiger Bestandteil des Lebensstils werden. Es ist klar, dass mit zunehmendem Lebensalter mehr Eigeninitiative nötig wird. Positive Ergebnisse des Trainings sind jedoch nur zu erwarten, solange trainiert wird.
6. Risiken Bestand eine vorübergehenden Erkrankung der Bronchien oder des Lungengewebes, wie z.B. eine akute Bronchitis oder eine Lungenentzündung, die nach einiger Zeit folgenlos abgeheilt ist, steht dem Freizeit- oder Leistungssport nichts im Wege! Wer allerdings an einer lang dauernden chronischen Krankheit leidet, wie z.B. an Asthma bronchiale, COPD oder einer chronischen Lungengewebeerkrankung, darf nicht einfach drauflos trainieren. Hier sind einige Vorsichtsmaßnahmen zu beachten. Prinzipiell gilt, dass Patienten nur in einer stabilen Phase der bronchopulmonalen Krankheit trainieren sollen. Bewegung wird in das therapeutische Konzept eingebaut. Sie ist Voraussetzung zur Erlangung bzw.
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Erhaltung der Mobilität, welche für die Qualität unseres Lebens so wesentlich ist. Der Patient muss optimal medikamentös eingestellt und seine Krankheit muss stabil sein, bevor mit einer vernünftigen Bewegungstherapie begonnen wird. Arzt und Patient sind gleichermaßen gefordert. Je mehr der Betroffene von seiner Krankheit versteht, umso effektiver kann er seine Medikamente benutzen und das therapeutische Training gestalten. Patientenschulung ist bei chronischen Krankheiten ein unverzichtbarer Bestandteil des Managements. Der Lungenfacharzt gibt Auskunft über spezielle Asthmaschulungen und COPD-Schulungen. Dort erfährt der Patient, wie er sich auf Verschlimmerungen seiner Erkrankung während des Trainings einstellen kann. Atemnot zwingt zur Unterbrechung bzw. Reduktion des Trainings. Manchmal verspürt der Übende auch ein Druck- oder Engegefühl oder meint, nicht durchatmen zu können. Die Skala der Tabelle nach Borg (von 1–10) gibt die Möglichkeit, das Ausmaß der Atemnot zu beschreiben. Im Ausdauerbereich soll nicht über 5 trainiert werden. Die Intensität des Ausdauertrainings wird zwar über den Herzfrequenzmesser angezeigt, trotzdem sollte der Trainierende sein Gefühl für die Atmung nicht außer Acht lassen. Wird es sehr schwer, empfiehlt sich eine Verringerung der Belastung. Dann lässt die Atemnot rasch nach. Körperliche Belastung ist für entsprechend informierte bronchopulmonal Kranke praktisch nie gefährlich, wenn bei Auftreten von Atemnot rasch unterbrochen werden kann. Asthmatiker sollten nur Sportarten betreiben, bei deren Ausübung schnell innegehalten und eine Pause eingelegt werden kann. Sportarten, deren Durchführung nicht sofort beendet werden kann, z.B. Flaschentauchen oder Gleitschirmfliegen, sind ungeeignet. Während körperlicher Belastung, aber auch bei Aufregungen vertieft sich die Atmung. Dadurch kommt es zu einem verstärkten Flüssigkeits- und Wärmeverlust der Bronchien, dies besonders während der kalten Jahreszeit. Trockene und kalte Luft wird eingeatmet, warme und feuchte Luft wird ausgeatmet, die Bronchien verlieren also Wärme und Flüssigkeit. Das genügt bei besonders empfindlichen Personen, um einen Bronchialmuskelkrampf (Bronchospasmus) hervorzurufen. Dadurch werden die Bronchien enger, was bei jugendlichen Asthmatikern sehr häufig auftritt. Der durch die Anstrengung ausgelöste Bronchospasmus ist bei gut geschulten Patienten voraussehbar und mittels einfacher Geräte (Peakflowmeter) auch leicht zu messen. Die Patientenschulung ist dabei nicht zu unterschätzen, was übrigens auch für andere chronische Krankheiten, wie den Diabetes, in gleichem Maße gilt. Viele Leistungssportler im Ausdauerbereich leiden an belastungs-
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oder anstrengungsinduziertem Bronchospasmus (fälschlicherweise als anstrengungsinduziertes Asthma bezeichnet). Wenn der Patient medikamentös gut eingestellt ist, muss sich dadurch die Leistungsfähigkeit nicht verringern. Sowohl bei schweren bronchialen Erkrankungen als auch bei Lungengewebskrankheiten kann es während der körperlichen Belastung zu einem Sauerstoffmangel im Blut und in Folge auch in den verschiedenen Körpergeweben kommen. Dadurch muss mehr geatmet werden, es entsteht Atemnot. Auch diese Situation bessert sich sofort, wenn die Belastung beendet wird. Hat der Lungenfacharzt den Sauerstoffverlust gemessen, kann dieser während des Trainings durch Gabe von externem Sauerstoff über eine Nasensonde ausgeglichen werden. Es muss noch nachgemessen werdem, um genau zu eruieren, wie viel zusätzlicher Sauerstoff bei welcher Belastung benötigt wird. Viele Patienten verwenden auch für zu Hause oder unterwegs tragbare Flüssigsauerstoff-Behälter. Da sie gut geschult sind, wissen sie selbst, was zu tun ist. Entsprechend ausgerüstete Zentren stellen Sauerstoff während des Trainings zur Verfügung. Es muss immer wieder betont werden, dass Bewegung als Therapie umso wichtiger wird, je schwerer die Erkrankung ist. Schwerkranke Patienten leiden besonders an ihrer Bewegungseinschränkung. Wird mittels therapeutischen Trainings eingegriffen, stellen sich die Erfolge rasch und beeindruckend ein. Ein Kranker, der nur mehr langsam in der Ebene gehen kann, wird seine Leistungsfähigkeit durch exakt dosiertes Training sprunghaft verbessern. Wie bei jeder Therapie ist aber neben der Indikation vor allem die Dosis (Belastungsintensität) und die Dauer des Trainings zu beachten. Dann sind die Nebenwirkungen, also die Gefahren deutlich geringer als bei den meisten pharmazeutischen Medikamenten. Das Risiko ist im Training gleich hoch wie im Alltag. Voraussetzung ist, dass die Höhe und das Ausmaß des Ausdauer-, Kraft- und Atemmuskeltrainings exakt dosiert sind, der Patient eine entsprechende Schulung hinter sich hat und dass er die Bewegung bei Auftreten ungewöhnlicher Atemnot sofort unterbricht. Sollte der Sauerstoffdruck abfallen, wird dies durch Gabe aus einem Sauerstoffreservoir ausgeglichen. Das Ausdauertraining selbst zählt zu den sichersten Therapieformen bei bronchopulmonal Kranken. Lange Zeit war das Krafttraining von Patienten mit Bronchien- und Lungenerkrankungen verpönt. Die Ablehnung entstammt großteils mangelnden Kenntnissen der Trainingslehre und der Vorstellung, dass bei schweren Erkrankungen hohe Drucke im Brustkorb schädlich sind. Die
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richtige Atemtechnik während des Krafttrainings ist Voraussetzung. Die Übungen werden extrem langsam durchgeführt, die Synchronisation der Atmung mit der Bewegung wird besprochen. Der Atem wird nicht angehalten, es wird nicht gepresst, während der Anstrengung wird langsam aus- und eingeatmet. Auf dieser Basis ist ohne relevantes Risiko ein rascher Kraftzuwachs zu erzielen; dies umso schneller, je schlechter die Ausgangssituation war. Patienten, die unter einem ausgeprägten Schwund der Knochensubstanz (Osteoporose) leiden und dadurch Probleme mit ihrer Wirbelsäule haben, bedürfen einer besonderen Abklärung. In diesen Fällen zeigt sich die Expertise des Teams, welches das Training indiziert und durchführt. Natürlich gilt als oberstes Gebot, Verletzungen zu vermeiden. Daraus kann resultieren, dass bestimmte Muskelgruppen besonders schonend trainiert werden müssen. Manchmal ist der Einsatz externer Stimulationsgeräte (Compex‚) den üblichen Übungen vorzuziehen. Kraft- und Ausdauertraining ist wie auch das Atemmuskeltraining ungefährlich, wenn es nur in stabilen Phasen der bronchopulmonalen Erkrankung erfolgt. Die medizinische Trainingslehre muss beachtet werden. Voraussetzung für jede konsequente Therapie chronischer Krankheiten ist der durch Information und Schulung mündig gewordene Patient. Tritt ungewöhnliche Atemnot auf, wird die Belastung beendet. Es soll also keine Sportart ausgeübt werden, bei der dieser Abbruch nicht jederzeit möglich ist.
7. Training trotz oder wegen einer bronchopulmonalen Krankheit Egal, an welcher Erkrankung jemand leidet, es wäre jedenfalls ein Fehler, sich dem Schicksal zu beugen und einen fortschreitenden Leistungsverlust zu akzeptieren. Die Krankheit muss exakt diagnostiziert und quantifiziert werden, wofür Hausarzt und Lungenfacharzt zuständig sind. Nach der Diagnose und der Feststellung des Schweregrades folgt die genaue Einstellung der notwendigen medikamentösen Therapie. Diese wird umso genauer, je mehr der Betroffene über seine Erkrankung Bescheid weiß, je besser er also geschult ist. Die Absolvierung der Asthma-Schulung und COPD-Schulung hilft dabei sehr. Ist die optimale medikamentöse Einstellung gefunden, wird trotz der Krankheit und wegen der bestehenden oder drohenden Leistungseinschränkung konsequent trainiert. Leider kann die bronchopulmonale Krankheit selbst durch Training nur gering verbessert werden. Asthma
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und COPD werden also durch körperliches Training nicht geheilt, sondern mäßig verbessert. Aber die Folgen der Krankheit, nämlich die zunehmende Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit, können verhindert werden. Ein gut geschulter Asthmatiker, der seine Medikamente nimmt und konsequent trainiert, wird fast immer beschwerdefrei sein. Asthmatische Spitzensportler beweisen dies. Ein COPD-Patient, der die Nikotinsucht besiegt hat, geschult und medikamentös gut eingestellt ist, kann durch Training überraschende sportliche Leistungen erbringen. Wichtig ist es, die Erkrankung an sich zu akzeptieren, nicht aber den damit zusammenhängenden körperlichen Leistungsverlust. Training als Therapie heilt die bronchopulmonale Krankheit nicht, verbessert sie aber und verhindert Auswirkungen auf die Lebensqualität und Lebenserwartung. Patienten können damit ihre Erkrankung beherrschen und die fortschreitende körperliche Leistungseinschränkung bis hin zur Invalidisierung verhindern.
8. Fallbeispiele Beispiel 1
Frau S. M. ist eine sportliche Mittdreißigerin. Sie litt in ihrer Kindheit an Heuschnupfen, später auch an Asthma bronchiale. Seit dem 17./18. Lebensjahr verzichtete sie ohne wesentliche Beschwerden auf ihre Medikamente, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, ob das Asthma auch tatsächlich verschwunden sei. Vor zwei Jahren erlitt Frau S. M. einen schweren bronchialen Infekt, dadurch kam es zum Wiederaufflackern des Asthmas mit den bereits bekannten Atemnotanfällen während der Nacht und bei körperlicher Belastung. Sie trainierte aber unverdrossen 4–6 Stunden in der Woche auf Ausdauer, manchmal allerdings mit einer Herzfrequenz um 160/ Minute(!). Ihre Leistungsfähigkeit nahm trotz des Trainings kontinuierlich ab. Nach einer Lungenfunktionsanalyse, einer Allergieaustestung und einer entsprechend intensiven Asthmatherapie verschwanden zuerst die nächtlichen Beschwerden. Frau S. M. absolvierte eine Asthmaschule und konnte sich deshalb auch selbst kontrollieren. Unter ihrer aktiven Mitarbeit war eine deutliche Reduktion der Medikamente möglich.
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Um ihr Ausdauertraining auf eine solide Grundlage zu stellen, wurde sie im Lungenfunktionslabor einem spiroergometrischen Belastungstest unterzogen. Dabei zeigte sich trotz extensiven Trainings eine Leistungsfähigkeit, die nicht größer war als die von untrainierten Vergleichspersonen. Die Trainingsherzfrequenz wurde bestimmt (zwischen 130 und 140), die Wochennettotrainingszeit reduziert, um sie dann langsam wieder aufzubauen. Außerdem wurde der Patientin ein richtig dosiertes Krafttraining verordnet. Nach kurzer Zeit erlebten wir eine glückliche Frau S. M., die nach entsprechender Beratung und Schulung ihre Erkrankung in ihre eigenen Hände genommen hatte. Nun nimmt sie unter Selbstkontrolle an Medikamenten so wenig wie möglich, aber so viel wie nötig und trainiert richtig. Damit kann sie den nächsten wettkampfmäßigen Läufen beruhigt entgegen sehen.
Beispiel 2
Herr L. M. ist 53 Jahre alt und hat seit seinem 16. Lebensjahr viel geraucht. Schon seit mehreren Jahren weiß er, dass das Rauchen Gefahren birgt. Der Husten nahm zu, morgens war Herr L. M. immer stark verschleimt. Das von ihm so geliebte Bergwandern musste er schließlich wegen zunehmender Atemnot bei körperlicher Belastung aufgeben. Trotz mehrfacher ernst gemeinter Versuche war es ihm nicht möglich, sich von seinen Zigaretten zu befreien. Schließlich veranlasste ihn seine Frau dazu, einen Lungenfacharzt aufzusuchen. Die Durchführung einer Funktionsanalyse ergab, dass die Lungenleistungsfähigkeit von Herrn L. M. durch das jahrzehntelange Zigarettenrauchen auf etwa die Hälfte jener von vergleichbaren Gesunden geschrumpft war. In einem ernsten Gespräch konnte ihm vor Augen geführt werden, dass er bei Fortsetzung des Zigarettenkonsums – zur Freude der Zigarettenindustrie – in 5–10 Jahren Invalide sein würde. Er würde dauernd Sauerstoff benötigen – aller Wahrscheinlichkeit nach würde sich seine Lebensspanne deutlich verkürzen. Herr L. M. stellte sich einer Nikotinentwöhnungstherapie. Innerhalb von drei Wochen war eine wesentliche Grundlage für eine bessere Leistungsfähigkeit und damit auch Lebensqualität gegeben. Durch konsequente inhalative Therapie wurde seine Atemnot bei körperlicher Belastung gelindert.
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In einem weiteren Schritt wurde mit dem medizinischen Training begonnen. Durch einen entsprechenden Leistungstest (Spiroergometrie) konnte nachgewiesen werden, dass die globale körperliche Leistungsfähigkeit von Herrn L. M. nur mehr 56% gleichaltriger untrainierter Vergleichspersonen betrug. Auf dem Fahrradergometer wurde geichzeitig mit einem vorsichtig aufbauenden Krafttraining begonnen. Zweimal pro Woche wurde in der gemessenen Trainingsherzfrequenz trainiert. Die Wochennettotrainingszeit betrug anfangs nur eine halbe Stunde, bald aber wurde sie auf 40 Minuten angehoben. Durch das Zigarettenrauchen war eine schwere COPD entstanden, was zur Einschränkung der Lungenleistung geführt hatte. Diese konnte durch Medikamente zum Teil verbessert werden. Die Lebensqualität von Herrn L. M. besserte sich durch Medikamente, durch die erfolgreiche Nikotinentwöhnungstherapie und vor allem durch das konsequente Kraft- und Ausdauertraining. Herr L. M. wandert wieder, wenn auch nicht ganz so schnell wie früher.
9. Zusammenfassung Die häufigsten bronchopulmonalen Erkrankungen unserer Tage sind das Asthma bronchiale und die COPD. Asthma als großteils angeborene Erkrankung ist primär nicht zu verhindern. Nach Stellung der Diagnose und entsprechend vernünftiger Therapie können durch ausgiebige körperliche Bewegung Sekundärschäden verhindert werden. Asthmatiker sollen Sport betreiben, eine Vielzahl von Weltklassesportlern (vor allem im Ausdauerbereich) sind Asthmatiker. Die COPD wird durch das Zigarettenrauchen hervorgerufen, ist also primär zu verhindern. Wenn es nur gelänge, die Epidemie des Zigarettenrauchens endlich in den Griff zu bekommen! Wenn einmal Schäden aufgetreten sind, gilt es zuerst eine Nikotinentwöhnung – notfalls mit Hilfe des Arztes – durchzuführen. Dann kann versucht werden, mittels vernünftiger Therapie die eingeschränkte Lungenfunktion soweit wie möglich zu verbessern. Entscheidend für Patienten mit COPD ist aber Bewegung als Therapie. Damit wird die schleichende Einschränkung des Aktionsradius verhindert, eine Invalidisierung muss nicht eintreten. Durch indizierte, dosierte und kontrollierte Bewegungstherapie im Sinne eines konsequenten Ausdauer- und Krafttrainings verbessert sich die Lebensqualität der COPD-Patienten und die Lebensspanne verlängert sich.
Diabetes mellitus und Fettleibigkeit Dagmar Rabensteiner
1. Was versteht man unter Diabetes? Die Zuckerkrankheit kommt in zwei Erscheinungsformen als Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 vor. ■ Diabetes mellitus Typ 2 (Altersdiabetes): Der Altersdiabetiker ist meist
übergewichtig, insulinunempfindlich und hat anfangs zu viel eigenes Insulin. ■ Diabetes mellitus Typ 1 (juveniler Diabetes): Der jugendliche Diabetiker hat einen absoluten Insulinmangel und benötigt von Beginn an eine Insulinzufuhr. ■ Beim metabolischen Syndrom (Frühsyndrom) kommt es durch das bauchbetonte Übergewicht zu einer Reihe von Stoffwechselstörungen und Risikofaktoren, erhöhten Fettwerten und Bluthochdruck.
2. Wie entsteht Diabetes? Die Zeiten, in denen wir uns als Jäger und Sammler um unser leibliches Wohlergehen zu kümmern hatten, gehören der Vergangenheit an. Nahrung haben wir mittlerweile im Überfluss. Durch die zunehmende Technisierung (Fahrstühle, Motorisierung, sitzende Tätigkeit am Arbeitsplatz und in der Freizeit, vor dem Computer oder dem Fernsehapparat) wird körperliche Aktivität oft schon im Keim erstickt. In dem Maße aber, in dem uns der Wohlstand zu übermäßiger Kalorienaufnahme veranlasste und die Bewegungsarmut sich breit machte, entstand ein Missverhältnis aus Energiezufuhr und -verbrauch. Durch die positive Energiebilanz sind wir immer dicker geworden.
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D. Rabensteiner
Wie kommt es zum Diabetes Typ 2?
Die von ihrer Erbanlage Begünstigten tragen das überschüssige Fett um die Hüften. Es stört zwar die Optik, beeinträchtigt ihre Gesundheit jedoch kaum. Das so genannte abdominelle Fettgewebe hingegen, das sich um den Bauch herum ansammelt, ist sehr stoffwechselaktiv und steht meist am Beginn einer Reihe von Folgeerscheinungen, wie z.B. der Zuckerkrankheit. Das Risiko, zuckerkrank zu werden, steigt mit zunehmendem Körpergewicht auf das 5- bis 10fache an. Verantwortlich dafür ist die durch das Bauchfettgewebe ausgelöste Insulinunempfindlichkeit (Insulinresistenz). Abbildung 1 zeigt den Circulus vitiosus, der durch die Überernährung ausgelöst wird und über den Mechanismus der Insulinresistenz schließlich zu den Folgeerkrankungen führt. Diese Stoffwechselstörungen umfassen neben Diabetes mellitus Typ 2 auch erhöhte Blutfett- und Harnsäurewerte sowie Bluthochdruck und werden unter dem Krankheitsbild des metabolischen Syndroms zusammengefasst. Dieser Krankheitskomplex zählt zu den typischen Wohlstandserkrankung. Wenn man unsere Bevölkerung betrachtet, entdeckt
Abb. 1. Überernährung und ihre Folgeerkrankungen
Diabetes mellitus und Fettleibigkeit
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man bei fast jedem Zweiten die äußeren Merkmale dieser Erkrankung – allen voran den Bauchansatz. Das für den Altersdiabetes ursächliche Prinzip der Unempfindlichkeit gegenüber Insulin ist zum Verständnis des Verlaufs der Erkrankung und der Wirkung von Ausdauertraining wichtig. Der übergewichtige Altersdiabetiker hat nämlich zu Beginn seiner Erkrankung keinen Insulinmangel, sondern im Gegenteil einen Insulinüberschuss. Lediglich die Rezeptoren an der Oberfläche der Zielzellen, vornehmlich in Leber, Muskeln und Fettgewebe können nicht ausreichend auf das Insulin reagieren. Die meisten in der Diabetestherapie verwendeten Medikamente, die so genannten Sulfonylharnstoffe, regen die Insulinproduktion an. Training hat hingegen die Fähigkeit, die Insulinempfindlichkeit direkt zu verbessern. Damit hat Ausdauertraining beim Diabetiker Typ 2 das Potential, an der Ursache der Erkrankung anzusetzen.
Diabetes mellitus Typ 1
Der Diabetes mellitus Typ 1 tritt meist in jüngeren Lebensjahren in Erscheinung. Er ist durch einen absoluten Insulinmangel gekennzeichnet. Spätestens nach einer kurz dauernden Remissionsphase muss lebenslang Insulin substituiert werden. Beim Diabetiker Typ 1 kann Ausdauertraining nicht das Ziel haben, die Insulinempfindlichkeit zu steigern. Allgemeine Gesundheitsaspekte, die Beherrschung von Risikofaktoren, die Verbesserung der Lebensqualität und der emotionalen Stabilität stehen im Vordergrund. Es gilt, die Insulintherapie an das Training anzupassen, um dem Betroffenen ein komplikationsfreies Sporttreiben zu ermöglichen.
3. Was lässt sich vorbeugend tun? Gesundheitsfördernde Maßnahmen ■ Regelmäßiges, wohldosiertes Ausdauertraining kann die Manifes-
tation von Diabetes mellitus Typ 2 verhindern oder verzögern. ■ Der Nutzen einer Lebensstiländerung ist bei der Risikogruppe für Diabetes mellitus Typ 2 deutlicher als bei Menschen ohne entsprechende Anlage. ■ Eine aktive Lebensführung mit 30 Minuten moderater Bewegung pro Tag ist zu diesem Zwecke ausreichend.
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Der Diabetiker Typ 1 ist in der misslichen Lage, dass der Ausbruch seiner Erkrankung schicksalhaft ist, er kann ihn weder vorhersehen noch verhindern. Der Diabetiker Typ 2 hat hingegen das „Glück“, dass er sein Risiko sowohl kalkulieren als auch aktiv beeinflussen kann. Leider machen bislang die wenigsten davon Gebrauch.
Wann besteht ein erhöhtes Risiko für Diabetes mellitus?
Wer erkannt hat, dass er zum Risikokollektiv gehört, kann die entsprechenden Vorbeugungsmaßnahmen treffen. Die Wahrscheinlichkeit, an Diabetes mellitus zu erkranken, kann anhand der folgenden Charakteristika überprüft werden. Risikofaktoren für Diabetes mellitus ■ Bauchbetontes Übergewicht
Nicht so sehr das Ausmaß des Übergewichtes als vielmehr das Fettverteilungsmuster ist entscheidend. Es wird als Waist-hip-ratio (WHR), dem Verhältnis von Taillen- und Hüftumfang, ausgedrückt. Es ist das Bauchfettgewebe, das die Gefahr in sich birgt. Frauen mit einer WHR von über 0,85 oder Männer mit einer WHR über 1 sind gefährdet. Beurteilt man den Taillenumfang alleine, so deutet ein Umfang von über 90 cm auf eine androide Fettverteilung (bauchbetonter „Apfeltyp“) hin. ■ Veranlagung Der Diabetes mellitus Typ 2 wird zu einem hohen Prozentsatz vererbt. Das Auftreten von Diabetes in der Verwandtschaft ist somit als Risiko zu werten. Aber auch Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen, frühzeitige Gefäßverkalkung mit Schlaganfall oder Herzinfarkt in der Familiengeschichte deuten auf die Erbanlage für das „Insulinunempfindlichkeitssyndrom“ (metabolische Syndrom) hin. ■ Fettstoffwechselstörung Das bauchbetonte Fettgewebe beeinflusst nicht nur die Insulinempfindlichkeit, sondern auch das Muster der Blutfettwerte. Zu hohe Triglyzeride, Hypercholesterinämie (erhöhte Cholesterinkonzentration im Serum) mit hohem LDL (schlechtem) und niedrigem HDL (gutem) Cholesterin kann dem Diabetes mellitus vorausgehen und sollte hellhörig machen. ■ Schwangerschaftsdiabetes Eine reduzierte Insulinempfindlichkeit kennzeichnet jede Schwangerschaft. Führt jene jedoch zu einer gestörten Glukosetoleranz, gibt dies
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Anlass zur Sorge bezüglich einer späteren Entwicklung von Diabetes mellitus.
Primärprävention
Wer einen oder mehrere der angeführten Risikoparameter bei sich entdeckt, gehört zur Zielpopulation für die Primärprävention. Das heißt, es gilt den Ausbruch der Erkrankung, ihre Manifestation, durch einen aktiven Lebensstil zu verhindern. Das Bewegungsprogramm sollte in eine umfassende gesunde Lebensführung integriert werden. Eine entsprechende Ernährung muss berücksichtigt werden. Um einen dauerhaften Effekt auf die Diabetesprävention auszuüben, sollten diese Maßnahmen über viele Jahre aufrechterhalten werden. Allein der Wechsel von einem bewegungslosen zu einem aktiven Lebensstil reduziert das Risiko an Diabetes mellitus Typ 2 zu erkranken um 30–50%. Von besonderem Interesse ist naturgemäß die Frage, wie viel Training für dieses Ziel ausreicht. Die erfreuliche Botschaft für Bewegungsverweigerer lautet: Bereits 30 Minuten moderater Bewegung an den meisten Tagen der Woche oder 150 Minuten wöchentlicher Trainingszeit im wirksamen Bereich verringern das Diabetesrisiko deutlich. Auch Wandern und Radfahren verheißen Erfolg. Auf der sicheren Seite liegt man allerdings mit einem wohldosierten Bewegungsprogramm, das sich an den weiter unten angeführten Richtlinien orientiert.
Sekundärprävention
Bei bereits manifestem Diabetes mellitus Typ 2, der sich in einer pathologischen Zuckerbelastung oder in einer Erhöhung des Blutzuckerlangzeit-Wertes (HbA1c) gezeigt hat, ist regelmäßiges Ausdauertraining überaus nützlich. Es kann durchaus gelingen, diese Parameter wieder in den Normbereich zu bringen, wo der Diabetes nicht mehr nachweisbar ist. Viele Diabetiker sind dann der Meinung, geheilt zu sein, was jedoch keineswegs der Fall ist. Sobald die schlechten Lebensgewohnheiten wiederkehren, meldet sich auch der Diabetes mit Sicherheit zurück. Die Änderung der Lebensführung wird deshalb zur lebenslangen Aufgabe.
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4. Ausdauertraining als Therapie Die folgenden Punkte müssen beachtet werden, soll Ausdauertraining therapeutisch angewandt werden: ■ Ausdauertraining sollte bei größtmöglicher Sicherheit für den Dia-
betiker einen optimalen therapeutischen Effekt gewährleisten. Metabolische (stoffwechselbedingte) Komplikationen (Unterzuckerung, so genannte Hypoglykämie), Risiken durch diabetische Spätschäden (Augen, Niere, Nerven) und kardiovaskuläre Folgeerkrankungen des Diabetikers (Gefäßverkalkung mit KHK) sind zu bedenken. ■ Beim Diabetiker Typ 2 stellt Ausdauertraining ein ursächliches Therapieprinzip dar, sodass die medikamentöse Therapie oder Insulingabe hintangehalten werden kann. Bei bereits etablierter Therapie ist eine Dosisreduktion der Medikamente erreichbar. ■ Will man Ausdauertraining zum Zwecke der Therapie einsetzen, muss dieses nach genau definierten Richtlinien dosiert werden. ■ Bei Diabetikern, die unter Medikamenten- oder Insulintherapie Sport betreiben, ist zur Vermeidung von Unterzuckerungen eine entsprechende Dosisanpassung erforderlich.
Ziele und positive Effekte des Trainings
Am Beginn jeder Trainingsplanung wird ein konkreten Ziel definiert, das es zu erreichen gilt. Das Hauptziel der Diabetestherapie muss grundsätzlich darin bestehen, möglichst dauerhaft normale Blutzuckerwerte zu erreichen, um diabetische Spätkomplikationen zu verhindern. In Hinsicht auf eine Verbesserung der Blutzuckerwerte durch eine Bewegungstherapie ist der akute blutzuckersenkende Effekt von der langfristigen Verbesserung der diabetischen Stoffwechselsituation zu unterscheiden. Direkter Effekt: Senkung des erhöhten Blutzuckers
Durch Ausdauerbelastungen leichter bis mittlerer Intensität (50–70% der individuellen maximalen Leistungsfähigkeit) nimmt die arbeitende Skelettmuskulatur während der Aktivität und auch im Anschluss daran mehr Glukose auf. Therapeutisch lässt sich dieser Effekt einerseits akut zur Senkung leicht überhöhter (hyperglykämischer) Blutzuckerwerte nutzen, andererseits kann man durch den verzögerten Effekt nach Ende des Trainings starke Anstiege im Tagesverlauf kupieren. Unbefriedigende Blutzuckertagesprofile können so geglättet werden.
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Langfristige Verbesserung der diabetischen Stoffwechsellage
Durch Bewegung kommt es nicht nur zu einer Beeinflussung der aktuellen Blutzuckerwerte, sondern auch zu langfristigen Trainingsanpassungen. Glukosetoleranz und Insulinempfindlichkeit steigern sich. Sogar bei normalgewichtigen Nicht-Diabetikern konnte ein Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und der Glukoseverwertung bzw. Insulinsensitivität gezeigt werden. Erhöht sich die Zahl der Insulinrezeptoren an den Zellen bzw. kommt eine verstärkte Rezeptorbindung zustande, dann verbessert sich auch die Wirkung des vorhandenen Insulins. Diese Anpassungsvorgänge sind für den übergewichtigen, insulinresistenten Diabetiker Typ 2 entscheidend, packen sie doch das Problem an der Wurzel an. Betrachtet man die Auswirkungen eines dosierten Bewegungsprogrammes, ist der Stellenwert von Ausdauertraining in der Therapie des Diabetes Typ 1 und 2 unterschiedlich zu beurteilen.
Warum soll ein Diabetiker Typ 1 Ausdauertraining oder Sport betreiben?
Der Diabetiker Typ 1 ist durch seinen absoluten Insulinmangel immer auf eine externe Applikation des Insulins angewiesen. Bei ihm scheint im Gegensatz zum übergewichtigen Typ 2 der therapeutische Einsatz von körperlicher Aktivität zur planmäßigen Verbesserung der Blutzuckereinstellung kaum gerechtfertigt. Um den Effekt der Muskelarbeit für eine andauernde Verbesserung der Blutzuckereinstellung beim Typ 1 zu nutzen, das heißt um unbefriedigende Blutzuckertagesprofile zu glätten, müsste die körperliche Aktivität täglich zur gleichen Zeit, mit identischer Intensität und Dauer ausgeübt werden. Sportliche Betätigung ist somit für die Blutzuckereinstellung des Typ 1 nicht wesentlich. Bei ihm geht es vielmehr darum, durch Sport die psychosoziale Gesamtsituation zu verbessern, das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des eigenen Körpers aufzubauen und die emotionale Stabilität zu sichern. Das Training steigert die Leistungsfähigkeit und verbessert die Stresstoleranz! Die oft beklagte schnelle Ermüdbarkeit schwindet. Eigeninitiative und die Verantwortlichkeit für die persönlichen Zuckerwerte beim Training fördern das Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Bei regelmäßig durchgeführtem Training wird der Betroffene alsbald konditionell stärker als so mancher „gesunde“ Mitmensch sein. Dies vermindert sein Krankheitsgefühl, erhöht die gesellschaftliche Zugehörigkeit und gestaltet die Beziehung zur Umwelt harmonischer. Analog
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zum Typ 2 verbessert er darüber hinaus die Herz-Kreislauf-Funktion und die stoffwechselabhängigen Risikofaktoren (Übergewicht, erhöhte Cholesterinwerte, Bluthochdruck, etc) nehmen ab.
Stellenwert des Ausdauertrainings für die Gewichtsabnahme und Gewichtskontrolle
Körperliches Training und Bewegung stellen unverzichtbare Elemente in jedem modernen Programm zur Gewichtsreduktion dar. Der kombinierte Einsatz eines Trainingsprogrammes mit einer kalorienreduzierten Diät hat mehrfache Vorteile gegenüber isolierten diätetischen Maßnahmen. Die Gewichtskontrolle stellt sich vordergründig als Bilanzproblem dar, als das Resultat von Energiezufuhr und -verbrauch. Wer also Gewicht verlieren will, muss weniger Kalorien zuführen, aber mehr davon verbrauchen, um die Bilanz negativ zu halten. Die Bedeutung von körperlicher Aktivität ist in dieser Beziehung zwar unumstritten, wird jedoch allzu häufig in Frage gestellt. Es wird eingewandt, dass der Kalorienverbrauch durch körperliche Aktivität zu niedrig und daher unbedeutend sei. Außerdem sei die Leistungsfähigkeit eines Übergewichtigen so gering, dass er kaum in der Lage sei, durch mehr Bewegung eine nennenswerte Gewichtsabnahme zu erzielen. Beide Aussagen sind zwar bedingt richtig, verlieren jedoch gänzlich an Bedeutung, wenn man Langzeiteffekt und Begleitumstände berücksichtigt. Tatsächlich ist der Energieverbrauch bei einmaliger körperlicher Anstrengung zwar gering und Ausdauertraining zu rascher Gewichtsabnahme nicht geeignet. Wird Bewegung jedoch mit gewisser Regelmäßigkeit durchgeführt, ist die Summe der verbrauchten Kalorien beträchtlich. Wird das Trainingsprogramm noch durch entsprechende Reduktionskost ergänzt, können oft ein deutliches Energiedefizit und eine anhaltende Gewichtsabnahme erreicht werden. Körperliche Aktivität hat auch indirekte Effekte auf die Gewichtskontrolle. Sie beeinflusst die Körperzusammensetzung günstig, indem sie nicht nur die Körpermasse insgesamt vermindert, sondern bevorzugt Fett mobilisiert und verbrennt. Bei reinen Fastenkuren kommt es oft zu Katabolie, das heißt, es wird vorwiegend Muskeleiweiß abgebaut. Bei kalorienreduzierten Diäten ist die Gewichtsabnahme unvermeidlich zu einem Drittel durch den Verlust an Muskelmasse bedingt. Kombiniert man eine Kalorienrestriktion mit einem Bewegungsprogramm, kann dieser Verlust auf 15% beschränkt werden. Bei vergleichba-
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rer Gewichtsabnahme geht also entsprechend mehr Fettgewebe verloren. Darüber hinaus verringert sich durch Training bevorzugt das gefährliche Fettgewebe im Bauchbereich. Im Gegensatz zu isolierten kalorienreduzierten Diäten ist dieser Fettabbau von einer Steigerung des Grundumsatzes und der Thermogenese begleitet. Nicht nur die durch Bewegung verbrauchte Kalorienmenge, sondern auch die erhöhte Stoffwechselaktivität in der Phase nach der Belastung muss betrachtet werden. Besonders was die Erhaltung des reduzierten Körpergewichts anbelangt, führt die Kombination von Ausdauertraining und Diät zu langfristigem Erfolg. Diese erfreuliche Langzeitwirkung liegt auch am Absinken des Seruminsulinspiegels, weshalb der Appetit abnimmt. Übergewichtige argumentieren oft, dass durch Bewegung und Sport noch mehr Appetit entstehe. Vor dem oben beschriebenen Hintergrund verliert diese Meinung sicherlich an Stichhaltigkeit. Ganz im Gegenteil scheint ein gewisses Maß an Bewegung erforderlich, um den Appetit zu regulieren.
Ausdauertraining setzt an den Ursachen des Diabetes Typ 2 an!
Wird das Übergewicht beherrscht und das Bauchfettgewebe reduziert, kommt es zur Verbesserung der Insulinempfindlichkeit und der Glukoseverwertung. Dieser Effekt des Ausdauertrainings ist jedoch auch unabhängig von einer Gewichtsabnahme selbst bei normalgewichtigen Sporttreibenden nachweisbar. Körperliche Aktivität optimiert damit direkt die Stoffwechselsituation. Für den Diabetiker Typ 2 ist Ausdauertraining als der primäre Ansatzpunkt jeder ursächlichen Therapie anzusehen. Ausdauertraining vermag den auslösenden Mechanismus der Erkrankung zu korrigieren.
Nicht umsonst wird Bewegung neben einer Diät zur Gewichtsreduktion als die Grundsäule in der Diabetestherapie bezeichnet. Bewegung als Therapie sollte jedem Einsatz von Medikamenten vorausgehen. Oftmals ist es möglich, durch Training die Gabe von Sulfonylharnstoffen oder gar Insulin um Jahre hinauszuschieben. Nur Ausdauer zu trainieren, statt Insulin zu spritzen – ist das möglich? Im Bewusstsein dessen, dass Training unter bestimmten Bedingungen eine medikamentöse Therapie ersetzen kann, stellt sich die Frage, ob eine einmal etablierte Therapie wieder reduziert oder gar abgesetzt
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werden kann. Welcher Diabetiker möchte nicht auf seine Insulinspritze verzichten? Übergewichtige Diabetiker Typ 2 sprechen zumindest zu Beginn der Erkrankung auf Ausdauertraining meist so eindrucksvoll an, dass eine Reduktion oder gar ein Absetzen der Medikamente- oder der Insulingabe möglich wird. Im so genannten „Zuni-Diabetes-Projekt“ konnten z.B. jene Diabetiker, die tagsüber Tabletten und abends ein „Bedside“-Insulin bekamen, nach einem zweijährigen Ausdauertrainingsprogramm auf das Insulin verzichten. Ausdauertraining statt Insulin? Sicherlich eine sehr reizvolle Vorstellung, die unter gewissen Voraussetzungen in den ersten Jahren des Diabetes Typ 2 realisierbar ist. Der dadurch erreichte Gewinn an Lebensqualität ist das bedeutendste Argument.
Was kennzeichnet ein richtig dosiertes Ausdauertraining?
Ausdauertraining hat einen hohen Stellenwert in der Diabetestherapie, weil es kausal an der Insulinempfindlichkeit der Zellen ansetzt. Will man Ausdauertraining als Therapie einsetzen, muss man dieselben Richtlinien wie bei der Verschreibung von Medikamenten beachten. Man verordnet ja das Ausdauertraining mit dem Ziel, Organ- und Stoffwechselfunktionen zu verbessern. Dies ist nur möglich, wenn gewisse Gesetzmäßigkeiten berücksichtigt werden und das Training entsprechend gestaltet wird. Die allgemeine Empfehlung, mehr Bewegung zu machen, ist völlig unzureichend. Die meisten Menschen sind ohnehin der Meinung, sich im Alltag, bei Haus- und Gartenarbeit, ausreichend zu bewegen. Ausdauertraining als Therapie muss jedoch quantitativ exakt dosiert werden, denn nur bei einer genauen Verordnung der Dosis kann mit der erwünschten Wirkung gerechnet werden. Es verhält sich ganz analog zu medikamentösen Maßnahmen, bei denen eine Unterdosierung keinen Effekt zeigt, eine Überdosierung jedoch die Gefahr toxischer Nebenwirkungen birgt. Die exakte „Dosierung“ des Trainings ist also Voraussetzung für eine seriöse medizinische Anwendung. Die „Verschreibung“ erfolgt durch Angabe – – –
der Häufigkeit, der Dauer und der Intensität.
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Wie oft soll trainiert werden?
Bezüglich Trainingshäufigkeit ist ein mindestens zweimal wöchentlich durchgeführtes Training zu fordern, optimal trainiert man 3- bis 5mal pro Woche. Die Effekte eines einmal wöchentlich durchgeführten Trainings sind zu kurzfristig. Der Körper kann sich an den vorangegangenen Trainingsreiz nicht mehr „erinnern“, daher ist eine Anpassung nicht möglich. Andererseits kann täglich durchgeführtes Training ohne Regenerationstage – insbesondere bei Sportanfängern – zu Überforderung und Stressreaktionen führen und lässt dann den erhofften Trainingserfolg vermissen. Der Trainingserfolg, das heißt eine Verbesserung der Insulinempfindlichkeit und der Leistungsfähigkeit, lässt sich durch eine Erhöhung der Trainingshäufigkeit nicht unbegrenzt steigern. Verglichen mit einem fünfmaligen führt tägliches Training zu keinem weiteren Gewinn. Eine Ausnahme von dieser Regel machen Diabetiker unter Insulintherapie, die Schwierigkeiten haben, ihre Insulindosis und Ernährung an die täglich wechselnden Gegebenheiten anzupassen. Hier mag es sinnvoll sein, ein streng geregeltes Regime von Insulintherapie, Ernährung und Training täglich in gleicher Weise und zeitlicher Abfolge einzuhalten. Auch Übergewichtige, deren primäres Ziel in der Gewichtsabnahme liegt, mögen von täglich durchgeführtem Training profitieren. Sie müssen aber eine dem Leistungsvermögen adäquate Intensität und Regenerationszeit berücksichtigen.
Wie lange soll eine Trainingseinheit dauern?
Bezüglich der Trainingsdauer werden 20–60 Minuten empfohlen. Bei höherer Intensität wird die Zeit entsprechend verkürzt. Für einen langfristigen Trainingserfolg scheint es weniger von Bedeutung zu sein, ob das Training kontinuierlich durchgeführt oder von Pausen unterbrochen wird. Eine solche Trainingsunterbrechung kann mehrere Minuten betragen. Auch über den Tag verteilte kürzere Einheiten sind möglich. Ein Splitten der Gesamttrainingszeit in kürzere Phasen ist für viele Patienten eine mentale Hilfe. Das Training erscheint dadurch weniger fordernd. Das entscheidende Kriterium ist das kontinuierliche Halten der erforderlichen Intensität über eine Zeitspanne von mindestens 10 Minuten. Kontinuierlich heißt aber, dass Aufwärmzeiten nicht hinzugezählt werden dürfen. Viele Spielsportarten mit rasch wechselnden Intensi-
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täten und häufigem Abfall unter den Schwellenbereich führen nicht zwingend zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit.
Welche Sportarten eignen sich nun für das Ausdauertraining?
Geeignet sind alle dynamisch-isotonen Ausdauersportarten ohne größeren Kraftaufwand mit Einsatz von mindesten einem Sechstel der Körpermuskulatur. Folgende Sportarten zählen dazu: ■ Laufen ■ Radfahren ■ ■ ■ ■
Langlaufen Wandern Stiegensteigen Schwimmen
Sie können natürlich auch miteinander kombiniert werden. Bei vergleichbarem Energieverbrauch ist der gesundheitliche Nutzen von der Art des Trainingsmittels unabhängig. Jeder kann daher nach seinen persönlichen Vorlieben auswählen. Man sollte jedoch berücksichtigen, dass der Energieverbrauch und damit der Trainingseffekt pro Zeiteinheit größer wird, je mehr Muskelgruppen arbeiten. Langlaufen oder Nordic Walking z.B. aktivieren auch die Arm- und Rumpfmuskulatur, daher kann die Trainingszeit entsprechend kürzer gewählt werden als beim Radfahren, zu dem nur die Beinmuskulatur benötigt wird. Ein weiteres Kriterium, das die Wahl des Trainingsmittels beeinflussen sollte, ist die Beanspruchung des passiven Bewegungsapparates. Besonders bei Älteren und Übergewichtigen sind Sportarten, bei denen das Körpergewicht nicht getragen werden muss (z.B. Radfahren), so genannte Low-Impact-Aktivitäten, von Vorteil, sie führen seltener zu Überlastungserscheinungen und Verletzungen. Auch bei Diabetikern mit Spätschäden, wie dem „diabetischen Fuß“, einer Nierenschädigung oder fortgeschrittenen Augenschäden, haben sich schonendere Ausdauersportarten bewährt. Bei Sportarten ohne wesentlichen Krafteinsatz ist es für den Anfänger auch bedeutend leichter, die Intensität präzise zu kontrollieren und zu halten.
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Wie intensiv sollte trainiert werden?
Die Verschreibung der richtigen Intensität(en) ist die schwierigste Aufgabe beim Erstellen eines individuellen Trainingsprogramms. Damit sich ein Trainingseffekt einstellt, muss grundsätzlich eine bestimmte Reizschwelle überschritten werden. Im trainingswirksamen Bereich sind verschiedene Intensitätsstufen zu unterscheiden. Folgende Punkte sind bei der Wahl der adäquaten Belastungsbereiche zu berücksichtigen: ■ Aktuelle Leistungsfähigkeit ■ Persönliche Zielsetzung ■ Eckdaten der Erkrankung:
– – – –
Diabetes-Typ Therapieregime Diabetesdauer Folgeerkrankungen
Die Trainingswirksamkeit eines Reizes wird sehr wesentlich vom Fitnessgrad zu Trainingsbeginn beeinflusst. Besonders bei sehr schlechter Leistungsfähigkeit kann eine signifikante Verbesserung bereits mit geringen (unterschwelligen) Reizen erzielt werden. So reicht es anfangs bei stark Übergewichtigen aus, sie auf einen aktiveren Lebensstil aufmerksam zu machen. Wer darauf verzichtet, Aufzüge und Rolltreppen zu benützen, und wer kürzere Strecken zu Fuß statt mit dem Auto zurücklegt, verbraucht im Alltag signifikant mehr Kalorien. Er beeinflusst nicht nur das Körpergewicht, sondern auch die stoffwechselabhängigen Risikofaktoren positiv. Für Personen mit sehr niedrigem Leistungsniveau wird eine minimal wirksame Trainingsintensität von 55–64% der maximalen Herzfrequenz bzw. 40–49%der maximalen Herzfrequenzreserve angegeben. Diese errechnet sich aus der Differenz zwischen der Ruhe- und der maximalen Herzfrequenz nach der Karvonenformel. Nimmt die Leistungsfähigkeit zu, ist eine Optimierung der Trainingsintensität und schließlich auch der differenzierte Einsatz der diversen Intensitätsbereiche ratsam. Die Entwicklung der verschiedenen Ausdauerfähigkeiten vollzieht sich in mehreren Belastungs- oder Intensitätsbereichen. Diese sind im Wesentlichen durch die Energiebereitstellung und die Wirkung auf diverse Organsysteme gekennzeichnet. In sehr geringen Belastungsbereichen (Kompensations- oder Regenerationstraining) werden hauptsächlich Stoffwechselfunktionen (Fettstoffwechsel) angesprochen. Beim aeroben Grundlagen-Ausdauertraining kommt es hingegen auch zu Anpassungserscheinungen von Herz-Kreislauf-Funktionen und zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit.
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Abb. 2. Die Ausdauertrainingspyramide
In der Trainingspraxis unterscheidet man drei Trainingsbereiche unterschiedlicher Intensität: ■ den Kompensations-/Regenerationsbereich ■ das extensive Grundlagen-Ausdauertraining ■ das Training im aerob-anaeroben Übergangsbereich
Der Kompensations-/Regenerationsbereich
Dieser Trainingsbereich auf niedrigstem Intensitätsniveau ökonomisiert den Fettstoffwechsel und ist nicht nur für die Gewichtsabnahme und die „metabolische“ Fitness wichtig. Auch jeder Ausdauerathlet, selbst der Hochleistungssportler, absolviert seine langen, ruhigen Trainingseinheiten in diesem Bereich–bevorzugt mit Laktatwerten unter 1mmol/l. Auch das Aufwärmen mit dem Ziel der Erhöhung der Belastbarkeit für das nachfolgende Training erfolgt auf diesem Niveau. Ein ausgiebiges Aufwärmprogramm ist nicht nur für den Bewegungsapparat von Vorteil, es kommt dabei auch zur Anpassung des Stoffwechsels und hormoneller Systeme an den Belastungsreiz. Durch den recht langsamen Beginn, bei dem ausreichend Sauerstoff zur Verfügung steht, wird die Fettverbrennung angeregt. Bei nachfolgender Intensitätserhöhung fällt die initiale Stressreaktion weg, die Laktatproduktion ist geringer.
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Extensives Grundlagenausdauertraining
Das extensive Ausdauertraining (Grundlagenausdauer 1 und 2) liegt ebenso im aeroben Bereich, das heißt, die Belastung wird ohne Milchsäureanhäufung bewältigt. Das Laktat sollte nicht über 2 mmol Laktat (bei Untrainierten bis 3 mmol) ansteigen. Anpassungen des Herz-Kreislauf-Systems werden angeregt, die allgemeine Leistungsfähigkeit verbessert. Eine Differenzierung im aeroben Bereich (Grundlagenausdauer 1 und 2) ist für den Sportanfänger nicht erforderlich, für den Fortgeschrittenen jedoch eine abwechslungsreiche Herausforderung mit raschen Erfolgsaussichten. Im GAT 1-Bereich steigt die Laktatleistungskurve noch nicht wesentlich an, sie liegt meist bei 75–82,5% der Herzfrequenz an der 4 mmol-Schwelle. Hier werden Belastungen auch subjektiv noch als sehr leicht empfunden und mühelos über längere Zeit durchgehalten. Dort, wo die Laktatkurve signifikant anzusteigen beginnt, wird die Grundlagenausdauer 2 trainiert: Bei 82,5–90% der Herzfrequenz an der 4mmol-Schwelle werden prozentual etwas mehr Kohlenhydrate zur Energiebereitstellung herangezogen. Es kann daher bereits zu einem leichten Anstieg des Laktats über die Trainingszeit kommen. Trotz Laktatakkumulation sollte jedoch niemals ein Wert von 3 mmol überstiegen werden. Subjektiv wird die Belastung im GAT 2-Bereich durchaus als zügig und anspruchsvoller beschrieben, die Trainingsdauer sollte entsprechend kürzer gewählt werden als bei Einheiten im GAT 1-Bereich. Der Gesundheits- und Fitness-Sportler trainiert kaum vom GAT 1und GAT 2-Bereich abgesetzte intensivere Einheiten. Die Intensitätsstufen GAT 1 und 2 können als extensives Grundlagenausdauertraining zusammengefasst werden. Bei einer Differenzierung des Gesamttrainingsumfangs im aeroben Bereich sollte GAT 1 immer den prozentuell größten Anteil ausmachen. Belastungen oberhalb des aeroben Bereichs sind für den Gesundheitssport nicht relevant. Der Gesundheitssportler interessiert sich hauptsächlich für die Vorbeugung und für die Verbesserung seines Krankheitsbildes. Intensivere Belastungen und die Grundzüge der leistungsorientierten Trainingsgestaltung kommen bei ihm nur bedingt zur Anwendung. Es kann in diesem Zusammenhang dennoch nützlich sein, die Trainingssteuerung mit dem differenzierten Einsatz ihrer Bereiche zu verstehen. Spüren Gesundheitssportler und Sportanfänger die positive Lebenskraft, die die zunehmende Leistungsfähigkeit bringt, steht man als Betreuer nicht selten vor der Aufgabe, ehrgeizigere Ziele zu unterstützen.
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Training im aerob-anaeroben Übergangsbereich
Der ambitionierte Hobbysportler kann zusätzlich Trainingsreize im aerobanaeroben Übergangsbereich (GAT 3) setzen. Er kann versuchen, die Prozentanteile der Intensitäten sowie die Reihenfolge der Reize optimal einzuhalten. Dies garantiert eine bessere Verträglichkeit bei optimaler Leistungsentwicklung. Der Umfang im GAT 3-Bereich sollte jedoch maximal 5% des gesamten Trainingsumfanges betragen. Als Trainingsmethode eignen sich für den organisch gesunden Übergewichtigen oder Diabetiker z.B. Fahrtspiele, bei denen man für wenige Minuten die Intensität leicht ansteigen lässt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es nicht zum Überschreiten der Herzfrequenz an der 4 mmol-Laktatschwelle kommen darf. Diese Trainingseinheiten können bei Fortgeschrittenen mit Vorsicht und Bedacht empfohlen werden. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der prozentuell richtigen Verteilung des Trainingsumfangs auf die einzelnen Bereiche.
Trainingspläne Beispiel 1 Trainingswoche eines untrainierten, jedoch organisch gesunden Übergewichtigen oder Typ 2 Diabetikers ohne Spätschäden Montag
Ruhetag
Dienstag
20–30 min GAT 1-Training auf dem Ergometer, eventuell in 2- bis 3-mal 10 min mit Pause splitten
Mittwoch
Ruhetag
Donnerstag
10–15 min GAT 2-Training, Gehen auf dem Laufband (gut aufwärmen im Regenerationsbereich)
Freitag
Ruhetag
Samstag
Ruhetag
Sonntag
längere, sehr ruhige Trainingseinheit, bevorzugt auf dem Ergometer/Rad, im Übergangsbereich REG/GAT 1; am Beginn je nach Leistungsfähigkeit zirka 30 min; von Woche zu Woche um einige Minuten verlängern
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Beispiel 2 Trainingswoche eines Übergewichtigen mit bereits mehrwöchiger Trainingserfahrung Montag
Ruhetag
Dienstag
40 min GAT 1-Training auf dem Ergometer
Mittwoch
Ruhetag
Donnerstag
20 min GAT 2-Training auf dem Laufband (gut aufwärmen im Regenerationsbereich)
Freitag
Ruhetag
Samstag
Fahrtspiel beim Laufen im Freien: 10 min aufwärmen – 1 min – 3 min – 4 min – 2 min GAT 3, dazwischen 4 min ruhig traben oder schnell gehen (GAT 1), eventuell die Erhöhungen der Intensität an die Geländestruktur (hügeliges Terrain) anpassen
Sonntag
lange, ruhige Trainingseinheit, bevorzugt auf dem Ergometer/ Rad, im Übergangsbereich REG/GAT 1 über zirka 50–60 min
Messgrößen zur Steuerung der Belastung
Für die Steuerung der Belastung nimmt man verschiedene biologische Messgrößen zur Hilfe. Gleichgültig welches Kriterium man verwendet, wichtig ist, ein vernünftiges, Ausmaß anzustreben. Das Prinzip „je mehr, desto besser“, das in unserem Leistungsdenken tief verwurzelt ist, ist hier fehl am Platz. Gerade für den Anfänger ist die Wahl einer moderaten Intensität wichtig. Messgrößen, die zur Steuerung der Intensität herangezogen werden können: ■ ■ ■ ■
Herzfrequenz und Herzfrequenzvariabilität Laktat (Salz der Milchsäure) Sauerstoffaufnahme (VO2max) Subjektives Belastungsempfinden (Ratings of Perceived Exertion – RPE, Borg-Skala) ■ Energieverbrauch ■ Geschwindigkeit ■ Wattleistung
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Herzfrequenz, Laktat oder ganz einfach nach Gefühl – wie lässt sich die Belastung im Training am besten steuern? Herzfrequenz
Am weitesten verbreitet ist die Intensitätsgestaltung anhand der Herzfrequenz. Sie basiert auf dem linearen Anstieg der Herzfrequenz mit zunehmender Belastung. Bei der Wahl der individuellen Trainingsherzfrequenz entsprechen Angaben recht einfacher Natur, wie 130/min oder 180 minus Lebensalter, meist nicht den Anforderungen einer exakten Trainingsberatung. Auch anhand von Richtwerten, welche in Tabellenform zur Verfügung stehen, sind nur wenig praktikable Empfehlungen abzugeben. Eine genauere Angabe ermöglicht die Berechnung anhand der individuellen Herzfrequenzreserve nach der Karvonen-Formel: HFTraining = HFRuhe + (Hfmax – HFRuhe) × 0,5 bzw. 0,74
Man berechnet den angestrebten Herzfrequenzbereich für das Training, indem man die Differenz aus der Ruhe- und der maximalen Herzfrequenz mit dem Faktor 0,5 (unterer Bereich) bzw. Faktor 0,74 (oberer Bereich) multipliziert und diesen Wert zur Ruheherzfrequenz addiert. Die Ermittlung der maximalen Herzfrequenz erfolgt im Rahmen eines stufenförmigen Belastungstests auf dem Ergometer oder Laufband. Das Prinzip der standardisierten Ergometrie ist das stufenförmige Ansteigen bis zur maximalen Belastung. Gleichzeitige werden diverse Parameter aus innerer Medizin und Sportphysiologie bestimmt und beurteilt. Dazu zählen EKG-Verlauf, Blutdruckverhalten, Herzfrequenz, Laktat und Sauerstoffaufnahme. Sofern die technischen Möglichkeiten (Laktatanalyzer) zur Verfügung stehen, kann im Rahmen dieses Belastungstests ein zusätzlicher Intensitätsparameter, das Laktat, am Ende jeder Belastungsstufe ermittelt werden. Hat man zwei Kriterien der Intensitätssteuerung zur Verfügung, z.B. Laktat und Herzfrequenz, können die Trainingsempfehlungen noch weiter verfeinert werden.
Laktat
Das Salz der Milchsäure, ist ein wichtiger Parameter in der Leistungsdiagnostik. Im Gegensatz zur Herzfrequenz, die einen Hinweis auf die
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Belastung des Herz-Kreislauf-Systems liefert, ist Laktat das Korrelat des Stoffwechselsystems. Laktat wird unter Sauerstoffarmut, also bei intensiverer Belastung, aus Glukose gebildet und zeigt an, welche Substrate – Fette oder Kohlenhydrate – zur Energiebereitstellung für die Muskelarbeit herangezogen werden. Dieser sehr aussagekräftige Parameter, der aus dem Leistungssport schon lange bekannt ist, findet zunehmend in die Trainingssteuerung des Hobby- und Gesundheitssportlers Eingang. Er ist durch die Möglichkeit der gleichzeitigen Blutzuckerbestimmung zur Trainingssteuerung und -überwachung des Diabetikers sehr hilfreich. Abbildung 3 zeigt eine Leistungsanalyse bei steigender Geschwindigkeit (x-Achse) während eines Stufentests auf dem Laufband. Auf der y-Achse lassen sich Herzfrequenz- (blau) und Laktatverhalten (rot) ablesen. Die Trainingsbereiche werden anhand dieser beiden Intensitätsparameter ermittelt, im Kurvenverlauf graphisch dargestellt und auf Richtigkeit überprüft. Für den Grundlagenausdauer- und Gesundheitsbereich ist ein optimaler Trainingseffekt im nicht (GAT 1) und leicht (GAT 2) ansteigenden Teil der Laktatkurve bis 2 (max. 3) mmol gegeben. Diesen Bereich vergleicht man mit der Herzfrequenz und leitet daraus konkrete Trainingsempfehlungen ab.
Standardisieren oder Individualisieren – welcher Weg ist der richtige?
Die Belastung sollte zwar nach den allgemein gültigen Richtlinien der Trainingslehre wohl dosiert und kontrolliert verabreicht werden, gleichzeitig aber auch individuell angepasst sein. Es geht darum, ein auf die einzelne Person abgestimmtes Programm zu erstellen, welches die Voraussetzungen (Diabetestyp, Blutzuckereinstellung, Spätschäden) ebenso berücksichtigt wie die aktuelle Leistungsfähigkeit und definierte Zielsetzung. Nur ein Trainingsprogramm, das sowohl die Trainingslehre als auch die individuelle Situation berücksichtigt, erzielt bei minimalem Risiko den bestmögliche Fortschritt. Trainingsempfehlungen ■ Trainingstyp: aerobe Ausdauer ■ Häufigkeit: 3- bis 5-mal pro Woche ■ Dauer: 20–60 min kontinuierliches oder intermittierendes Training
(Minimum: 10 Minuten-Session) ■ Intensität: Sie wird nach der Herzfrequenz gesteuert und nach einem
Belastungstest (am besten mit Laktatbestimmung) ermittelt oder be-
Abb. 3. Leistungsanalyse bei einem Stufentest auf dem Laufband
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rechnet. Die Trainingsherzfrequenz liegt bei 50–74% der HRR (heart rate reserve). Das Laktat soll im nicht und leicht ansteigenden Teil der Laktatkurve bis max. 3 mmol liegen, die Trainingsherzfrequenz soll 75–90% der Herzfrequenz an der 4 mmol (anaeroben Schwelle) betragen. ■ Die Steuerung nach Energieverbrauch (700–2000 kcal pro Woche) ist zur Gewichtsreduktion und Beeinflussung der stoffwechselabhängigen Risikofaktoren möglich.
5. Gefahren und Kontraindikationen Bevor mit der Ausübung eines Sports begonnen werden kann, muss ein umfassendes Screening durchgeführt werden.
Screening vor der Sportausübung
Anamnese – – – –
Diabetes mellitus Typ 1 oder Typ 2 Blutzuckereinstellung (HbA1c) Medikamentöse Therapie (Tabletten, Insulin) Physikalische Untersuchung
Untersuchung auf – – –
mikrovaskuläre Spätschäden (Augen-, Nierenschädigung, Durchblutungsstörungen der Füße) neurologische Komplikationen (Empfindungsstörungen der Füße) makrovaskuläre Folgeschäden wie koronare Herzkrankheit Vorsicht: Eine schmerzlose Durchblutungsstörung des Herzmuskels, so genannte stille Ischämie, ist beim Diabetiker häufig!
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Ein Belastungs-EKG wird unter folgenden Bedingungen empfohlen: – – – – – – – –
Bekannte oder vermutete koronare Herzkrankheit Diabetesdauer: Diabetes Typ 1 > 15 Jahre Diabetes Typ 2 > 10 Jahre Alter über 35 Jahre Zusätzlicher Risikofaktor für KHK Mikrovaskuläre Spätschäden (proliferative Retinopathie oder Nephropathie, inklusive Mikroalbuminurie) Periphere Durchblutungsstörungen Autonome Neuropathie (Schädigung des Nervensystems der inneren Organe, vor allem des Herzens, des Magen-Darm-Traktes bzw. der Blutgefäße)
Bei aller Euphorie über die positiven Wirkungen des Ausdauertrainings für den Diabetiker darf man das mit dem Training verbundene Risiko nicht aus den Augen verlieren. Der Sicherheitsaspekt ist bei jeder Verordnung von Training oberstes Gebot. Die Vorteile für den Sport treibenden Diabetiker müssen immer die möglichen negativen Folgeerscheinungen übertreffen. Vorsicht ist aus mehrfachen Gründen geboten und sowohl der Trainingsbeginn als auch der Verlauf des Trainings sind genau zu überwachen. Gefahren können im Bereich des Stoffwechsels (metabolische Komplikationen) und im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems (mikro- und makrovaskuläre Komplikationen) auftreten.
Potentielle Gefahren des Trainings für den Diabetiker im Überblick
Metabolische Komplikationen: – –
Hypoglykämie bei Patienten unter Insulintherapie oder Tabletten (Sulfonylharnstoffpräparaten) Verschlechterung der Hyperglykämie (weiterer Blutzuckeranstieg) und ketotische Stoffwechselentgleisung
Mikrovaskuläre Spätschäden: – – –
Glaskörperblutung bei proliferativer Retinopathie Verschlechterung der Proteinurie (Eiweißausscheidung) bei Nierenschädigung periphere Durchblutungsstörungen (Füße)
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Kardiovaskuläre Risiken: –
Durchblutungsstörungen und Arrhythmien bei eingeschränkter Koronarreserve (koronare Herzkrankheit) Achtung: Der Diabetiker verspürt oft keine Schmerzen im Sinne einer Angina pectoris durch die autonome Neuropathie!
– –
überschießender Blutdruckanstieg unter Belastung orthostatische Hypotension nach Belastungsende
Weichteilläsionen und Verletzungsanfälligkeit: – –
Diabetische Fußulzera durch Sensibilitätsstörungen (Nervenläsionen) und dadurch bedingte Fehlbelastung orthopädische Probleme durch falsche Belastungen bei Störung der Tiefensensibilität
Metabolische Komplikationen
Die Blutzuckerentgleisung ist die am öftesten auftretende Komplikation. Der überschießende Blutzuckeranstieg (Hyperglykämie) ist von der Unterzuckerung (Hypoglykämie) zu unterscheiden.
Hypoglykämie
Die Unterzuckerung ist das bei weitem häufigere Ereignis, das bei Diabetikern unter Insulintherapie – selten auch bei Tablettengabe (Sulfonylharnstoffen) – auftreten kann. Die durch Muskelarbeit hervorgerufene Hypoglykämie hat folgende Ursache: Der mit Insulin oder auch Sulfonylharnstoffen behandelte Diabetiker ist nicht in der Lage, seine im Blut zirkulierende Insulinmenge zu reduzieren. Dadurch kommt es unter körperlicher Belastung zu einem gesteigerten peripheren Glukoseverbrauch bei gleichzeitig mangelhafter hepatischer Glukoseproduktion. Dieses Missverhältnis kann Hypoglykämien provozieren. Für die Prävention stehen prinzipiell zwei Möglichkeiten zur Verfügung: – –
die Zufuhr von zusätzlichen Broteinheiten und/oder die Verringerung der Insulin- respektive Tablettendosis.
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Für Art und Ausmaß der Therapieanpassung gibt es keine festen Angaben, sondern nur Richtlinien, die durch Selbstbeobachtung, Selbstkontrolle und Eigenerfahrung modifiziert werden müssen. Das praktische Vorgehen zur Vermeidung von Hypoglykämien im Training, ebenso wie Maßnahmen im Notfall werden in Abschnitt 7 auf S. 141 ausführlich behandelt.
Hyperglykämisch-ketoazidotische Stoffwechselentgleisung
Bei Diabetikern mit einem hohen Blutzuckerspiegel, die sich im Zustand des Insulinmangels befinden, kommt es unter Ausdauerbelastung zu einem weiteren Blutzuckeranstieg. Die Situation sieht folgendermaßen aus: Während die Leber ungehemmt Glukose produziert, wird gleichzeitig die Glukoseaufnahme in den sich kontrahierenden Muskel verhindert. Die Glukose benötigt Insulin, um in die Muskelzellen aufgenommen werden zu können. Bei Insulinmangel kommt es somit zu einer Glukoseverarmung der Muskelzelle bei parallelem, drastischem Blutzuckeranstieg. Die Gefahr eines starken Blutzuckeranstieges unter Belastung ist daher auch dann gegeben, wenn der Diabetiker aus Angst vor einer Unterzuckerung sein Insulin komplett weglässt. Die kritische Grenze, ab der körperliche Aktivität zu einer weiteren Stoffwechselverschlechterung führt, scheint bei einem Blutglukosespiegel von ca. 330 mg/dl und einem Blutketonkörperspiegel von zirka 2 mmol/l erreicht zu sein. Bei Blutzuckerwerten über 330 mg/dl und bei Nachweis von Azeton im Urin besteht absolutes Sportverbot! Bei Sportausübung Insulin zwar reduzieren, aber nicht ganz darauf verzichten!
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Praktisches Vorgehen zur Blutzuckerkontrolle bei Ausdauertraining
Vor dem Training: – – –
–
–
Intensität und Dauer der Trainingsbelastung und damit den Energieverbrauch abschätzen gegebenenfalls Kohlenhydratzufuhr 1–3 Stunden vor dem Training Insulingabe adäquat planen: – letzte Insulinapplikation möglichst länger als 1 Stunde vor Trainingsbeginn – Reduktion derjenigen Insulindosis, die ihr Aktivitätsmaximum während der Trainingsperiode hat Blutzuckerkontrolle: Blutzucker unter 90 mg/dl gegebenenfalls extra BE vor Trainingsbeginn – Blutzucker 90–270 mg/dl y keine zusätzlichen BE erforderlich – Blutzucker über 270 mg/dl y Trainingsbeginn verschieben und Harn-Keton messen: – Harn-Keton negativ y Training beginnen, sofern Blutzucker nicht über 330 mg/dl – Harn-Keton positiv y Insulin spritzen und Training verschieben bis Keton wieder negativ
Während des Trainings: – –
Blutzuckerkontrolle bei länger dauernder Belastung nötig Flüssigkeitsverluste ersetzen Falls erforderlich: zusätzliche Kohlenhydrataufnahme von 30–40 g (zirka 2–3 BE) alle 30 Minuten bei länger dauernden Trainingseinheiten
Nach dem Training: – –
–
Blutzucker häufig kontrollieren, auch über Nacht, bei ungewohntem Ausmaß der Belastung Insulindosis bei Bedarf auch nach Belastungsende reduzieren, akute und protrahierte Unterzuckerung (unter Umständen bis zu 24 Stunden nach Belastung) berücksichtigen! Gegebenenfalls Kohlenhydrataufnahme bis zu 12–24 Stunden nach Belastungsende erhöhen
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Mikrovaskuläre Spätschäden
Beim Diabetiker kommt es durch eine schlechte Blutzuckereinstellung mit wiederholt hohen Blutzuckerwerten nach mehrjähriger Diabetesdauer zu Folgeschäden. Diese Spätschäden betreffen die Augen, die Niere, die Füße und die Nerven und müssen bei der Sportausübung beachtet werden. Gelegentlich stellen sie sogar eine Kontraindikation für die Ausübung gewisser Sportarten dar.
Die Retinopathie
Bei der diabetischen Augenschädigung handelt es sich um eine Veränderung des Augenhintergrundes, insbesondere der Netzhaut. Dabei unterscheidet man die nicht-proliferative (milde, moderate oder schwere Form) von der proliferativen Retinopathie, die letztendlich zur Erblindung führen kann. Ein Augenarzt sollte den Schweregrad der Augenhintergrundschädigung bestimmen, bevor man mit einem Trainingsprogramm beginnt. Dies wird für Diabetiker Typ 1 mit einer Diabetesdauer von über 5 Jahren und Diabetiker Typ 2 bereits bei Diabetesmanifestation empfohlen.
Proliferative Retinopathie
Bei proliferativer Retinopathie birgt die belastungsbedingte Blutdruckerhöhung die Gefahr von Glaskörperblutungen. In diesem Fall dürfen nur dynamisch-isotone Ausdauersportarten betrieben werden, da hierbei Blutdruckspitzen vermieden werden und der arterielle Mitteldruck weitgehend unverändert bleibt. Dennoch sollte bei Vorliegen einer proliferativen Retinopathie auch bei Ausdauersportarten der systolische Blutdruck nicht über 170 mmHg ansteigen. Es gilt also einerseits die Intensität der Sportausübung dieser Forderung anzupassen, andererseits Kraftkomponenten, die zwangsweise Blutdruckspitzen hervorrufen, zu vermeiden.
Nicht-proliferative Retinopathie
Auch bei schwerer nicht-proliferativer Retinopathie ist ein regelmäßiges Blutdruckmonitoring und die Wahl entsprechender Trainingsformen
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ratsam. Wenig belastende Low-Impact-Sportarten wie Schwimmen, Wandern, Radfahren sind geeignet. Von Krafttraining, Bergauflaufen oder auch Spielsportarten ist eher abzuraten, ebenso muss Leistungssport und die Teilnahme an Wettkämpfen verboten werden. Bei schwerer nicht-proliferativer und proliferativer Retinopathie sind nur Low-Impact-Ausdauersportarten erlaubt. Der systolische Blutdruck sollte 170 mmHg nicht übersteigen.
Die Nephropathie
Bei der diabetischen Nierenschädigung unterscheidet man die inzipiente (beginnende) von der manifesten Nephropathie. Das erste Zeichen der beginnenden Nierenschädigung ist eine erhöhte Ausscheidung von Mikroalbuminen (kleinen Eiweißbestandteilen) im Urin. Bei vielen Diabetikern mit normaler Mikroalbumin-Ausscheidungsrate <20 1g/min provoziert auch moderat gehaltenes Ausdauertraining die Eiweißausscheidung. Dieser Effekt ist bei Diabetikern mit inzipienter Nephropathie (Mikroalbuminurie 20–200 1g/min) noch deutlicher. Hier steigt die Albuminausscheidung bereits bei milder sportlicher Betätigung deutlich an. Viele Diabetiker und deren Betreuer werden dadurch verunsichert und verzichten auf jegliche sportliche Betätigung. Es ist bislang jedoch nicht erwiesen, dass durch Sport ausgelöste, kurzzeitige Anstiege der Eiweißausscheidung das Fortschreiten der Nierenschädigung fördern. Hauptverantwortlich für die Progression der Nierenschädigung sind vielmehr eine schlechte Blutzuckereinstellung und erhöhte Blutdruckwerte. Eine gute Blutdruckkontrolle, auch medikamentöser Art, verhindert ebenfalls eine exzessive Zunahme der Eiweißausscheidung unter Belastung. Da ein regelmäßiges Bewegungsprogramm der Gesundheit im Allgemeinen nützt, sollten Diabetiker mit Nierenschädigung vielmehr zu einem moderaten Ausdauertraining motiviert als davon abgehalten werden. Die gleiche Empfehlung gilt auch für Diabetiker mit bereits fortgeschrittener Nierenschädigung, also mit Proteinurie, erhöhten Nierenfunktionsparametern, Dialyse oder nach Nierentransplantation. Das Trainingsprogramm sollte jedoch ganz bewusst im niedrig-intensiven aeroben Ausdauerbereich gehalten werden.
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Bei beginnender (Mikroalbuminurie) oder manifester (Proteinurie, Dialyse, Nierentransplantation) Nierenschädigung ist ein moderates aerobes Ausdauertraining erlaubt. Es sollte jedoch engmaschig, auch ärztlicherseits, überwacht werden.
Die Neuropathie und der diabetische Fuß
Viele Diabetiker leiden unter Durchblutungsstörungen und unter dem Verlust der Empfindung (Sensibilität) im Bereich der Fußsohle und Zehen. Die periphere Neuropathie (Nervenschädigung) mit Verlust der Schmerzwahrnehmung und der Tiefensensibilität birgt die Gefahr einer permanenten falschen Druckbelastung. Auf Dauer entwickeln sich, gerade im mangelhaft durchbluteten Gebiet, Fußulzera mit schlechter Heilungstendenz. Der Diabetiker sollte regelmäßig seine Füße inspizieren und besonders darauf achten, Verletzungen oder Überlastungen seiner Füße zu vermeiden. Ein adäquates Schuhwerk und individuell angefertigte Einlagen helfen, Druckstellen zu vermeiden. Der an diabetischer Polyneuropathie und unter Sensibilitätsverlust Leidende sollte nur Sportarten betreiben, bei denen er sein Körpergewicht nicht zu tragen hat, wie z.B. Schwimmen, Radfahren oder Rudern.
Makrovaskuläre Folgeerkrankungen, koronare Herzkrankheit
Beim Übergewichtigen und Diabetiker treffen meist mehrere Risikofaktoren für eine frühzeitige Gefäßverkalkung zusammen (siehe metabolisches Syndrom). Nicht selten leiden Diabetiker daher an koronarer Herzkrankheit. Die Gefahr für den Diabetiker besteht darin, dass er infolge der autonomen Neuropathie im Falle einer Durchblutungsstörung des Herzmuskels keinen entsprechenden Angina-pectorisSchmerz verspürt. Man spricht von stummer Ischämie. Gerade ältere Patienten sollten sich von einem erfahrenen Arzt auf ihre Sporttauglichkeit untersuchen lassen, bevor sie zu trainieren beginnen. Sie sollten fachlich angeleitet und überwacht werden. Die Indikation für eine Ergometrie sollte auch bei Beschwerdefreiheit großzügig gestellt werden. Die ergometrisch ermittelte individuelle Belastbarkeit bietet einen gute Voraussetzung für eine optimale Dosierung der Trainingsintensität und für die verantwortungsbewusste Erstellung eines gefahrlosen Bewegungsprogrammes. Es können bereits vor Erreichen der Ausbelastung pectanginöse Beschwerden oder ST-Streckenverän-
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derungen im EKG auftreten, die auf eine Einschränkung der Coronarreserve hinweisen. Ist dies der Fall, so darf die zumutbare Trainingsdosis maximal 70% der Herzfrequenz, bei der diese Veränderungen auftraten, betragen. Die Belastbarkeit, im amerikanischen Sprachgebrauch auch sehr treffend als das „klinische Maximum“ bezeichnet, stellt diejenige Leistung dar, die ohne gesundheitliche Gefährdung bewältigt werden kann. Diese Belastung stellt unter Umständen noch keinen trainingswirksamen Reiz dar.
6. Veränderung des Lebensstils und der Ernährung Eine erfolgreiche Trainingstherapie zeichnet sich durch ihre Langfristigkeit aus. Viele fassen mehrmals in ihrem Leben gute Vorsätze, manche täglich, einige schaffen es auch, diese in die Tat umzusetzen. Aber nur jedem Zweiten gelingt es, den aktiven Lebensstil länger als ein Jahr aufrechtzuerhalten, das gemütliche Leben holt ihn wieder ein. Eine so genannte Drop-out-Quote von 50% nach einem Jahr scheint die Regel zu sein. Eine umfassende Änderung der Lebensführung bezieht die mentale Einstellung und die Ernährungsgewohnheiten ein. Dann fällt es auch leichter, im sportlichen Bereich konsequent zu bleiben.
Ernährung
Die Ernährungsempfehlungen für Übergewichtige und Diabetes mellitus Typ 2 unterscheiden sich nicht wesentlich. Bei beiden steht die langfristige Gewichtsreduktion auf der Basis einer fettreduzierten, abwechslungsreichen Mischkost im Vordergrund. Obgleich eine negative Energiebilanz für eine Gewichtsabnahme grundsätzlich nötig ist, stellt das akribische Zählen der täglichen Kalorienmenge meist nicht den Schlüssel zum dauerhaften Erfolg dar. Zu allererst sollte die Fettzufuhr vermindert werden. Ein entsprechendes Wissen um den Fettgehalt der Nahrungsmittel ermöglicht es, fettreichere durch fettärmere zu ersetzen. Magerkäse anstelle des vollfetten, Vollkornbrot anstelle von Croissants zu essen verspricht anhaltenden Erfolg. Um Gewicht zu reduzieren gilt folgende Regel: Die Fettaufnahme sollte auf 60 g pro Tag beschränkt werden bzw. der Fettgehalt der Nahrung darf 30% der gesamten Energiezufuhr nicht überschreiten. Das Einsparen fettreicher Nahrungsmittel gelingt nur auf der Basis einer kohlenhydratreichen Ernährung, ergänzt durch viel Gemüse und
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Salat. Eine Verminderung des Fleischkonsums ist infolge des Gehaltes an versteckten Fetten ratsam. Auch bei nicht insulinpflichtigen Diabetikern ist man von der früher üblichen Broteinheitenberechnung (Berechnung nach der Kohlenhydratmenge) abgekommen. Denn diese Empfehlung förderte kohlenhydratarme, dafür aber fett- und eiweißreiche Ernährungsgewohnheiten.
7. Wie lässt sich der Gefahr einer Unterzuckerung beim Training begegnen? Training ist – wie bereits erwähnt–für den übergewichtigen Diabetiker Typ 2 ein fundamentales therapeutisches Prinzip, aber auch der Diabetiker Typ 1 profitiert mehrfach von einem regelmäßigen Bewegungsprogramm. Spätschäden und Folgeerkrankungen, aber auch Blutzuckerentgleisungen unter Belastung stellen jedoch Risiken dar.
Die Unterzuckerung (Hypoglykämie) kann bei mit Insulin oder Sulfonylharnstoffpräparaten behandelten Diabetikern auftreten. Bei nicht medikamentös, nur mit einer Diät oder mit Metformin (Glucophage, Diabetex) behandelten Diabetikern ist die Gefahr einer Unterzuckerung nicht gegeben!
Symptome einer Hypoglykämie
Der Sport treibende Diabetiker sollte eingehend geschult werden, Trainer und Betreuer sollten die Symptome kennen, um im Ernstfall unverzüglich Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Um die Gefahr einer Unterzuckerung von vorneherein zu minimieren und dem Diabetiker eine möglichst sichere Sportausübung zu gewährleisten, ist das therapeutische Regime an die aktuellen Trainingserfordernisse anzupassen. Daran ist Unterzuckerung zu erkennen: ■ ■ ■ ■ ■ ■
Zittern, zuerst der Finger Schweißausbruch Heißhunger Schwindel, Gleichgewichtsstörungen Blässe, Kälte Kopfschmerzen
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Verhaltensauffälligkeiten (Unruhe, Angst, Reizbarkeit) Konzentrationsschwäche unkoordinierte Bewegungen Bewusstseinstrübung, Krampfanfälle ■ Tachykardie
Sofortmaßnahmen
Vermutet man eine Unterzuckerung, sind vom Diabetiker selbst, sofern er dazu noch imstande ist, ansonsten vom betreuenden Personal Sofortmaßnahmen zu ergreifen. Diese bestehen in der Gabe von Glukose in jedweder zur Verfügung stehenden Form. Die meisten geschulten Diabetiker tragen stets einen Würfel Traubenzucker mit sich, aber auch andere schnell resorbierbare Kohlenhydrate, wie gezuckerte Fruchtsäfte, Würfelzucker und Kekse, sind in dieser Situation hilfreich. Ist das Ausmaß der Unterzuckerung so schwer, dass der Diabetiker nicht mehr kontaktierbar ist, so ist im Zweifelsfall auch ohne Blutzuckermessung Traubenzucker auf die Mundschleimhaut zu platzieren bzw. Glukose zu infundieren. Bei der Betreuung von Sport treibenden Diabetikern ist die sofortige Reaktion im Notfall entscheidend. Der schonendere Weg ist aber allemal, es gar nicht so weit kommen zu lassen. Daher gilt es, bereits im Vorfeld durch die Gabe von zusätzlichen Kohlenhydraten und eine Therapieanpassung Unterzuckerungen zu vermeiden.
Anpassung oraler Antidiabetika
Sulfonylharnstoff-Präparate stimulieren die Insulinausschüttung durch die Bauchspeicheldrüse. Das sonst nachweisbare Absinken des Insulinplasmaspiegels unter Bewegung wird damit unmöglich. Das ist der Grund, warum Sulfonylharnstoff-Präparate zu trainingsinduzierten Unterzuckerungen führen können. Andere orale Antidiabetika, wie Metformin, Acarbose oder Glitazone, haben einen anderen Wirkungsmechanismus und bergen diese Gefahr nicht. Bei länger dauernder (mehrstündiger) sportlicher Betätigung empfiehlt es sich, die Tablettendosis zu reduzieren oder auf die Einnahme zu verzichten. Bei Ausdauersport bis zu einer Stunde ist lediglich mit zusätzlichen Kohlenhydraten (Broteinheiten) dem Blutzuckerabfall gegenzusteuern. Zu bedenken ist auch die Verbesserung der Insulinempfindlichkeit z.B. bei mehrtägigen Wanderungen, wodurch gegebenenfalls die Tablettendosis sogar auf Dauer deutlich reduziert werden kann.
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Anpassung der Insulindosis
Die Insulin-Feineinstellung bei körperlicher Aktivität ist eine schwierige Aufgabe, die sehr individuell und situationsabhängig zu entscheiden ist. Viele Faktoren müssen in die Überlegungen zur Anpassung der Insulintherapie einfließen. Man wird ohne Selbsterfahrungen mit häufigen Blutzuckerkontrollen bei spezifischen Trainingseinheiten nicht auskommen. Nicht selten führen erst Versuch und Irrtum zum Erfolg.
Allgemeine Richtlinien zur Insulinanpassung
Die folgenden Richtlinien tragen zur Vermeidung einer trainingsbedingten Unterzuckerung beim mit Insulin behandelten Diabetiker bei: ■ Bei sportlicher Aktivität, die kürzer als 30 Minuten dauert, ist in
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der Regel die zusätzliche Gabe von Kohlenhydraten ausreichend. Die Insulindosis muss nicht zwingend reduziert werden. Bei ungeplanter sportlicher Aktivität ist eine Reduktion der Insulindosis meist nicht möglich. Hier müssen zusätzliche Kohlenhydratgaben das Zuviel an Insulin im Blut kompensieren. Bei nicht eingeplanter Trainingseinheit werden zusätzlich Kohlenhydrate zugeführt, und zwar 20–30 g (zirka 2 BE) je 30 Minuten Training. Gegebenenfalls sind auch während des Trainings leicht absorbierbare Kohlenhydrate vonnöten. Diese stehen auch in flüssiger Form zur Verfügung, besonders geeignet sind 6%ige Maltodextrinlösungen. Auch im Anschluss an das Training sind zusätzliche Broteinheiten zu berücksichtigen. Bei geplanter sportlicher Betätigung, die über 30 Minuten dauert, muss die Insulindosis reduziert werden. Dies erfolgt in Abhängigkeit von der Art der körperlichen Aktivität, der Intensität und Dauer der Trainingseinheit. Bei einer Insulinreduktion sind das Insulinregime (konventionellintensiviert) ebenso wie die Art, Dosis und Injektionszeit des Insulins zu berücksichtigen. Reduziert wird dasjenige Insulin, in dessen Wirkungsmaximum die körperliche Aktivität fällt. Es gilt also zu entscheiden, welches Insulin, in welcher Menge (wie viele Einheiten) und in welchem Abstand zur geplanten Belastung appliziert wird. Die Wirkung des Insulins soll die Länge des Trainings überdauern, auch gegen Ende des Wettkampfes soll noch Insulin verfügbar sein, da sonst keine Glukose in die Muskelzelle gelangen kann. Zu berück-
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sichtigen ist also einerseits die Wirkungsdauer des Insulins, andererseits auch die Tatsache, dass mehr Einheiten des gleichen Insulins länger ausreichen als weniger Einheiten. Es ist also der goldene Mittelweg zwischen zu viel und zu wenig an Insulin zu finden. Bei einem Zuviel besteht die Gefahr einer Hypoglykämie, bei einem Zuwenig die Möglichkeit eines Blutzuckeranstieges bei gleichzeitiger Glukoseverarmung der Skelettmuskelzelle. Eine schwierige Gratwanderung! Diese Reduktion kann (z.B. beim Marathonlauf) bis zu 50–90% der Insulintagesdosis betragen. Bei der Entscheidung sollte die Eigenerfahrung des Diabetikers mit einfließen. Das Insulin sollte zwar reduziert, aber nicht ganz weggelassen werden. Der permissive Effekt des Insulins zur Glukoseaufnahme in die Muskulatur steht sonst nicht zur Verfügung. Auch nach Ende der Belastung wird vermehrt Glukose in den Muskel aufgenommen, um die Glykogendepots aufzufüllen. Es ist daher ratsam, auch nach dem Sport die Insulindosis zu reduzieren, um z.B. nach abendlicher Sportausübung nächtliche Hypoglykämien zu vermeiden. Bei sehr lang dauernder Belastung kann eine Reduktion der Insulindosis auch am Folgetag nötig sein. Kurzzeitige, intensive Belastungen, wie Krafttraining oder intensive Spielsportarten, führen unter Umständen durch Ausschüttung kontrainsulinärer Hormone zu deutlichen Blutzuckeranstiegen. Insulin darf nicht in eine Extremität injiziert werden, die zur Sportausübung benötigt wird. Durch die verstärkte Durchblutung dieser Extremität wird das Insulin schneller resorbiert. Das Insulin in den Bauch zu injizieren wäre in diesem Fall die Lösung. Ein Hinweis für Diabetiker unter Betablockertherapie: Vor allem nichtkardioselektive Betablocker beeinflussen den Stoffwechsel. Bei Diabetikern, die mit Insulin behandelt werden, können sie eine Hypoglykämie verstärken und verlängern sowie die Symptome einer drohenden Hypoglykämie verändern. Im Zweifelsfall ist also eine großzügige Reduktion der Insulindosis angeraten!
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8. Fallbeispiele Beispiel 1 Ausdauertraining als Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2 und metabolischem Syndrom
Herr P.S. ist ein vielbeschäftigter Unternehmensberater. Über Jahre vernachlässigte er seinen Körper sträflich. Er aß unbedacht und fettreich, im stresserfüllten Alltag blieb keine Zeit für Bewegung. So nahm er fortlaufend an Gewicht zu, bis er schließlich im Dezember 2001 bei 109 kg (178 cm Körpergröße) angelangt war. Immer wieder dachte er für kurze Augenblicke daran, dass er mehr für seine Gesundheit tun sollte, so auch am 12. Oktober 2001, als er zur Gesundenuntersuchung ging. Dabei stellte man einen Blutzuckerwert von 450 mg/dl, erhöhte Cholesterin-, Harnsäure und Leberwerte fest. Unverzüglich wurde Herr P.S. in eine Klinik eingewiesen und mit Insulininjektionen behandelt. Trotz steigender Insulindosen blieb der Blutzuckerwert anfänglich konstant erhöht. Dies war durch die infolge des Übergewichts ausgeprägte Insulinunempfindlichkeit bedingt. Mit 66 Insulineinheiten täglich gelang es nach mehreren Tagen, den Blutzucker in den hochnormalen Bereich zu senken. Eine sehr sportlich ambitionierte Schwester konfrontiert ihn in dieser Situation mit dem Stellenwert des Ausdauertrainings. Sie setzte ihn auf ein Ergometer und demonstrierte ihm den Effekt. Durch Blutzuckermessungen vorher (279 mg/dl) und nachher (229 mg/dl) konnte er den deutlichen Blutzuckerabfall (18%!) bedingt durch lediglich 20 Minuten moderaten Radtrainings beobachten. Diese Botschaft verstand er bestens. Er setzte sich von nun an zweimal täglich auf das Rad – anfangs nach Gefühl, dann unter Herzfrequenzkontrolle in der therapeutisch wertvollen Intensität. Das Insulin konnte in der Folge rasch reduziert und schließlich am 15. Jänner 2002 völlig abgesetzt werden. Herr P.S. wog zu diesem Zeitpunkt nur mehr 101 kg, also 8 kg weniger als 5 Wochen zuvor. Zu diesem (fast zu raschen) Erfolg hatte – neben dem regelmäßigen Training – eine Umstellung auf eine deutlich fettreduzierte Ernährung beigetragen. Durch den merklichen Verlust an Körpergewicht und durch die Leistungssteigerung infolge des Ergometertrainings war es ihm bald möglich, einen Teil seiner Trainingseinheiten laufend zu absolvieren. Er entwickelte einen richtiggehend sportlichen Ehrgeiz. Dabei ließ er sich fundiert beraten und vergaß nie auf die empfohlenen Intensitäten beim Training zu achten. Die Kilos purzelten, die Blutzuckerwerte nor-
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malisierten sich ebenso wie die Cholesterinwerte und die restlichen Blutparameter. Im März konnten schließlich auch die Blutzucker-Tabletten abgesetzt werden. Noch im selben Jahr, am 25. August 2002 nahm er mit nur mehr 74 kg Körpergewicht am Wörthersee-Halbmarathon teil. Er absolvierte ihn in 2:06 h. Er freut sich über seine wiedergewonnene Lebensqualität und hat, nicht zuletzt um Leidensgenossen zu helfen und wachzurütteln, seine Erlebnisse in Buchform niedergelegt.
Beispiel 2 Insulinanpassung an die sportliche Aktivität bei Diabetes mellitus Typ 1
Herr A.W. ist Diabetiker Typ 1, was ihn nicht davon abhält, gelegentlich an Laufwettkämpfen teilzunehmen. Zur Vorbereitung absolviert er beinahe täglich am späten Nachmittag einen Dauerlauf von 45–60 Minuten. Er wählt dabei meist eine moderate Intensität zu Stabilisierung seiner Grundlagenausdauer (GAT 1), was bei ihm einer Herzfrequenz von 120–135 entspricht. Zweimal wöchentlich läuft er in etwas zügigerem Tempo (GAT 2, zirka 1,5–2,5 mmol Laktat) bei einer Herzfrequenz von 136–155. Er ist auf ein intensiviertes Insulinregime nach dem BasisBolus-Prinzip eingestellt, er spritzt 12 Insulineinheiten Basalinsulin morgens und abends, zusätzlich zu den Mahlzeiten einige Insulineinheiten Normalinsulin. An diesem Tag nimmt er die letzte Mahlzeit um 12 Uhr mittags ein, die Normalinsulindosis wird dabei nicht reduziert, da der Lauf erst für 17 Uhr geplant ist. Unmittelbar vor dem Training misst er den Blutzucker, er liegt bei 90 mg/dl, was ihn veranlasst, 2 zusätzliche Broteinheiten in Form eines Sportriegels zu sich zu nehmen. Dieser wird rasch verdaut und stört ihn bei der unmittelbar nachfolgenden Laufeinheit nicht. Zur Sicherheit steckt er noch ein Stück Traubenzucker in die Tasche seiner Sporthose, um für eine mögliche Unterzuckerung gerüstet zu sein. Während der Laufeinheit fühlt er sich kräftig, er verspürt keine Hypoglykämie-Symptome. Der Blutzucker liegt nach der Belastung um 18 Uhr bei 75 mg/dl, er isst eine Banane und beschließt, zusätzlich beim Abendessen um 19 Uhr die Normalinsulinmenge um 2 Insulineinheiten zu reduzieren. Herr A.W. hat sein Blutzuckerverhalten bei den Laufeinheiten bestens im Griff, bei den GAT 2 Einheiten nimmt er eine Broteinheit mehr als bei GAT 1, weil die Intensität etwas höher ist. Dabei achtet er jedoch immer auf die Herzfrequenz, denn er hat mehrmals beobachtet, dass ein
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Überschreiten des oberen Bereiches infolge der Streßreaktion zu Blutzuckeranstiegen führt, die gelegentlich eine längere Unruhe in seine Einstellung bringen.
9. Zusammenfassung Der Diabetes mellitus kommt in zwei Erscheinungsformen vor, als Typ 1 und als Typ 2. Während es beim in Jugendjahren auftretenden Diabetes Typ 1 um die Anpassung des Insulins an die Sportausübung geht, stellt für den meist übergewichtigen Diabetiker Typ 2 Ausdauertraining ein ursächliches Therapieprinzip dar. Bei ihm verbessert ein richtig dosiertes Bewegungsprogramm die Insulinempfindlichkeit und ermöglicht oft eine Reduktion der Tabletten- oder Insulindosis. Beim übergewichtigen Diabetiker mit metabolischem Syndrom werden auch die Fettwerte und weiteren Risikofaktoren durch das Bewegungsprogramm positiv beeinflusst. Ein therapeutisch orientiertes Bewegungsprogramm muss wie ein Medikament nach den Richtlinien der Trainingslehre dosiert werden. Häufigkeit, Dauer und Intensität des Ausdauertrainings müssen individuell festgelegt werden, damit die entsprechende Wirkung eintritt. Trotz der therapeutischen Vorteile regelmäßigen Ausdauertrainings für den Diabetiker ist Vorsicht geboten. Unmittelbare Gefahren drohen in erster Linie von Stoffwechselentgleisungen, bei denen man die häufig auftretende Hypoglykämie von der Hyperglykämie unterscheiden muss. Erstere geht mit klassischen Symptomen wie Heißhunger, Schwindel, Zittern und Koordinationsverlust einher und ist durch Glukosegabe (Traubenzucker!) meist rasch zu beheben. Durch richtige Anpassung der Insulindosis oder Kohlenhydratgabe sollte vorgebeugt werden. Eine Hyperglykämie lässt sich meist durch Blutzuckerkontrolle vor dem Sport vermeiden. Bei Blutzuckerwerten über 330 mg/dl besteht absolutes Sportverbot, ebenso bei Blutzucker über 270 mg/dl und positivem Harnstreifen für Azeton.
Für den Diabetiker bedeutet eine sportliche Betätigung neben dem therapeutischen Aspekt immer einen Gewinn an Selbstvertrauen und emotionaler Stabilität.
Periphere Durchblutungsstörungen – die periphere arterielle Verschlusskrankheit Martin Schillinger
Man spricht im Zusammenhang mit Durchblutungsstörungen der arteriellen Gefäße der Beine auch von peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen und grenzt diese so von Durchblutungsstörungen des Herzens oder des Gehirns ab.
1. Wer versorgt unsere Beine mit Blut? Die Versorgung der Gewebe mit Sauerstoff und Nährstoffen sowie der Abtransport von Stoffwechselendprodukten erfolgt im menschlichen Körper über drei Systeme: Arterien, Venen und Lymphbahnen.
Arterien
Die Arterien (Schlagadern) sind die zuführenden Gefäße, sie transportieren sauerstoffreiches Blut vom Herzen ins Gewebe. Die großen Arterien zur Versorgung der Beine sind die rechte und linke Beckenschlagader (Arteria iliaca), die Oberschenkelschlagadern (Arteria femoralis) und die jeweils 3 Unterschenkelschlagadern (Arteria tibialis anterior, Arteria interossea und Arteria tibialis posterior). Unter Durchblutungsstörungen der Beine im engeren Sinn versteht man Erkrankungen mit Verengungen oder Verschlüssen eben dieser arteriellen Gefäße.
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Venen und Lymphbahnen
Die Venen sind Teil des abführenden Gefäßsystems. Sie transportieren das sauerstoffarme Blut und somit etwa 90% der Flüssigkeit zurück zum Herzen, während die Lymphbahnen den Rücktransport der restlichen zirka 10% Flüssigkeit in Form von Lymphe übernehmen. Erkrankungen der Venen und Lymphgefäße sind ebenfalls sehr häufig, jedoch Symptomatik und Therapie betreffend nicht mit arteriellen Durchblutungsstörungen vergleichbar.
2. Periphere Durchblutungsstörungen und ihre Ursachen Die folgende Übersicht über periphere Durchblutungsblutungsstörungen bezieht sich auf Erkrankungen des arteriellen Systems, also jener Gefäße, die Gewebe und Organe mit sauerstoffreichem Blut versorgen. Die Erkrankung an peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen wird als periphere arterielle Verschlusskrankheit bezeichnet.
Atherosklerose
Die bei weitem häufigste Ursache von arteriellen Durchblutungsstörungen der Beine ist die Atherosklerose (Gefäßverkalkung). Das ist eine Erkrankung mit einer Vielzahl von Ursachen. Hierbei spielen angeborene wie auch erworbene Risikofaktoren eine Rolle, die genauen Ursachen der Krankheitsentstehung sind jedoch nicht endgültig geklärt. Als Folge der Atherosklerose kommt es zu einer Wandverhärtung der Arterien (Verkalkung) und im weiteren Verlauf zu einer Verengung bzw. einem Verschluss der Gefäße. Dies führt zu einer Durchblutungsstörung und somit zu einer Leistungsminderung oder sogar Funktionsunfähigkeit der von diesen Gefäßen versorgten Organe. Atherosklerose kann in praktisch allen arteriellen Gefäßgebieten vorkommen. Sie äußert sich klinisch mit unterschiedlichen Beschwerden: Ein Befall der Herzkranzgefäße führt zum Herzinfarkt, bei Erkrankung der Gehirngefäße kann es zum Schlaganfall kommen und bei Befall der Schlagadern des Beines können sich Schaufensterkrankheit oder sogar ein Raucherbein entwickeln. Die Ursache von Schaufensterkrankheit und Raucherbein ist also meist eine Durchblutungsstörung der Beine, die im Fachjargon als periphere arterielle Verschlusskrankheit bezeichnet wird. Dies ist eine Erkrankung der Beinschlagadern mit Gefäßengstellen oder Gefäßverschlüssen
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durch Verkalkungen. Alle arteriellen Gefäßabschnitte der Beine (Beckenstrombahn, Oberschenkelgefäße und Unterschenkelgefäße) können einzeln oder in Kombination betroffen sein.
Claudicatio intermittens
Je nach Ausprägung und Schnelligkeit der Entstehung verursacht die Erkrankung zwei wesentliche Symptome: Bei schleichendem Krankheitsverlauf treten zuerst belastungsabhängige Beschwerden auf, während die Patienten in Ruhe noch beschwerdefrei sind. Diese Beschwerden äußern sich als Muskelschmerzen und Muskelschwäche bei Belastung und treten meist in der Waden- oder Oberschenkelmuskulatur auf. Die Probleme verschwinden nach Beendigung der Belastung im Ruhezustand rasch, treten jedoch bei neuerlicher Beanspruchung wieder auf. In der Praxis bedeutet dies, dass der Patient eine gewisse Gehstrecke schmerzfrei bewältigt (maximal schmerzfreie Gehstrecke). Dann treten jedoch Muskelschmerzen auf. Der Patient kann noch kurz weitergehen, muss aber schließlich stehen bleiben (maximal mögliche Gehstrecke). Dieses Krankheitsbild nennt man Claudicatio intermittens oder im Volksmund Schaufensterkrankheit, da viele Patienten während der schmerzbedingten Gehpausen vor Geschäften stehen bleiben und die Auslagen betrachten, bis die Schmerzen nachgelassen haben.
Kritische Ischämie
Schreitet die Erkrankung fort und nehmen die Gefäßengstellen zu oder kommt es plötzlich zu einem Gefäßverschluss, kann dies zu einer gefährlichen Durchblutungsstörung, der kritischen Ischämie, führen. Diese kritische Ischämie äußert sich bereits im Ruhezustand durch Schmerzen. Die Schmerzen beginnen in den Zehen oder im Vorfußbereich meist nachts und bessern sich oft beim Aufstehen oder Herabhängenlassen des Beines. In der Folge können offene Wunden an den Füßen entstehen (meist ebenfalls im Zehen- oder Vorfußbereich). Die Wunden können schließlich zum Verlust der Zehen, des Fuß oder sogar des Beines führen. Diese Erkrankung wird volkstümlich als „Raucherbein“ bezeichnet. Die Unterscheidung zwischen Claudicatio intermittens und kritischer Ischämie ist die wesentlichste Grundlage zur Entscheidung, ob ein Gefäßtraining durchgeführt werden darf.
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Tabelle 1. Beschwerden bei der Schaufensterkrankheit Typische Beschwerden sprechen für Claudicatio intermittens als Ursache
Atypische Beschwerden sprechen gegen Claudicatio intermittens als Ursache
Lokalisation
Waden-, Oberschenkeloder Gesäßmuskulatur
Gelenke
Auftreten
belastungsabhängig, verschwinden in Ruhe
Ruheschmerzen in der Muskulatur ohne Anstrengung
Schmerzcharakter
Ziehen, Brennen, muskelkaterartig, Ermüdung, Kraftlosigkeit
Stechen, nächtliche Wadenkrämpfe
Während bei Claudicatio intermittens (Schaufensterkrankheit) Gefäßtraining eine Behandlungsmethode der ersten Wahl ist, darf bei Patienten mit kritischer Ischämie (mit Ruheschmerzen oder offenen Wunden) kein Training durchgeführt werden.
Bereits aus der Lokalisation der Beschwerden bei Patienten mit einer Schaufensterkrankheit kann der Arzt abschätzen, welcher Gefäßabschnitt vornehmlich betroffen ist. Typischerweise treten die Beschwerden unterhalb des ursächlichen Gefäßverschlusses auf: So haben Patienten mit Verengungen der Beckenschlagadern meist Beschwerden in der Oberschenkelmuskulatur. Patienten mit Verengungen der Oberschenkelschlagader klagen über belastungsabhängige Schmerzen der Wadenmuskulatur. Einige typische und atypische Beschwerden bei Patienten mit Schaufensterkrankheit sind in Tabelle 1 angeführt.
Endangiitis und entzündliche Gefäßerkrankungen
Seltener findet man eine Endangiitis (Morbus Winiwarter-Buerger) oder entzündliche Gefäßerkrankungen als Ursache von peripheren arteriellen Durchblutungsstörungen. Bei diesen Erkrankungen hat systematisches Training ebenfalls seine Berechtigung, jedoch stehen hier spezifische medikamentöse Therapieansätze im Vordergrund. Vor Beginn eines Trainingsprogrammes bei Patienten mit diesen Erkrankungen sollte daher immer ein Gefäßspezialist konsultiert werden.
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3. Häufigkeit und Bedeutung der peripheren Durchblutungsstörungen Über das Auftreten von schweren peripheren Durchblutungsstörungen wurde schon im Altertum berichtet. Epidemiologische Studien (Studien in größeren Volksgruppen) wurden aber erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts durchgeführt. Die Häufigkeit der Erkrankung in der Bevölkerung hat besonders in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Dies lässt sich auf die Überalterung unserer Gesellschaft sowie auf die stärkere Einwirkung von verschiedenen Risikofaktoren zurückführen. Man schätzt heute, dass die Fünfjahreswahrscheinlichkeit, eine periphere arterielle Durchblutungsstörung zu bekommen, altersabhängig schwankt. Sie liegt zwischen 1–5% bei 40-Jährigen und zwischen 5–18% bei 70-Jährigen, je nachdem, ob eine symptomatische oder asymptomatische Erkrankung vorliegt. Die Bedeutung der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit liegt für den Einzelnen wie auch volksgesundheitlich in den häufigen Begleiterkrankungen: Periphere Durchblutungsstörungen sind oft mit Gefäßverkalkungen des Herzens und der Gehirngefäße vergesellschaftet, sodass man hier von einer generalisierten arteriellen Verschlusskrankheit spricht. Viele dieser Patienten mit Beteiligung der Herz- oder Gehirngefäße haben daher ein deutlich erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Bei Patienten mit einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit müssen deshalb Herz- und Gehirngefäße unbedingt hinsichtlich Durchblutungsstörungen und Gefäßverkalkungen untersucht werden. Diese Untersuchung muss vor einem geplanten Trainingsbeginn stattfinden, um etwaige Risiken durch begleitende Herz- und Gefäßerkrankungen auszuschließen.
4. Risikofaktoren, Prophylaxe und Verlauf arterieller Verschlusskrankheiten Risikofaktoren
Die wichtigsten schädlichen Einflussfaktoren, sind diejenigen, die zu Gefäßverkalkungen der Schlagadern führen. Diese Faktoren nennt man daher auch Gefäß-Risikofaktoren.
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Die Gefäß-Risikofaktoren sind: ■ erhöhte Blutfettwerte (Hyperlipidämie) ■ erhöhter Blutdruck (Hypertonie) ■ Zigarettenrauchen (Nikotinabusus) ■ Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)
Neben diesen klassischen Risikofaktoren gibt es eine Reihe anderer Faktoren, die jedoch wesentlich schlechter beeinflussbar sind und zum Teil als angeboren gelten. Liegt einer dieser Risikofaktoren vor, ist die Wahrscheinlichkeit an einer peripheren Durchblutungsstörung zu erkranken 2- bis 3-mal höher. Zuckerkrankheit und Zigarettenrauchen spielen dabei die größte Rolle und sind am gefährlichsten. Bei gleichzeitigem Vorliegen mehrerer Faktoren steigt das Risiko überproportional an. Patienten mit 2 Risikofaktoren (z.B. Zuckerkrankheit und Bluthochdruck) tragen mehr als das 4-fache Risiko!
Vorbeugung
Die wichtigste Vorbeugung gegen die Entstehung einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit ist die Verminderung bzw. Vermeidung der Risikofaktoren bzw. deren optimale Behandlung.
Neben der medikamentösen Behandlung der Risikofaktoren spielen regelmäßiges Training und so genannte „life-style-modifications“ eine wichtige Rolle. Dazu zählen – – – – –
die Umstellung der Lebensgewohnheiten durch Diät und Training zur Verminderung der Blutfettwerte, Senkung des Blutdruckes, des Blutzuckers, eine Verminderung des Körpergewichtes sowie die Beendigung des Zigarettenkonsums.
Übergewichtigen Patienten mit peripheren Durchblutungsstörungen kommt eine Senkung des Körpergewichtes rasch und direkt zu Gute. Die Gewichtsabnahme entlastet die Muskulatur und die Gehstrecke wird verlängert. Übergewicht ist einem schweren Rucksack vergleichbar, der den Patienten unnötig behindert und seine Leistungsfähigkeit herabsetzt.
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Verlauf der Erkrankung
Der natürliche Verlauf von peripheren Durchblutungsstörungen kann im Einzelfall nicht vorhergesagt werden. Beschwerdesituation und Begleiterkrankungen beeinflussen den Krankheitsverlauf.
Beschwerdesituation der Beine
Was die Beschwerdesituation der Beine betrifft, kann man bei Patienten mit symptomatischer Schaufensterkrankheit grob von einer Drittelverteilung ausgehen: Bei einem Drittel der Patienten bessert sich die Symptomatik, bei einem weiteren Drittel bleibt die Symptomatik stabil und beim verbleibenden Drittel schreitet die Erkrankung fort und kann unbehandelt sogar zur Notwendigkeit der Amputation führen. Die Symptomatik entwickelt sich unterschiedlich, je nachdem, ob Umgehungsgefäße (Kollateralgefäße) rund um die verengten und verschlossenen Partien gebildet werden. Gezieltes Training beeinflusst die Entstehung von Umgehungsgefäßen nachhaltig und die Beschwerden in den Beinen bessern sich.
Begleiterkrankungen
Begleiterkrankungen der Herzkranz- und Gehirngefäße (generalisierte arterielle Verschlusskrankheit) stellen den zweiten Faktor dar. Die Sterblichkeit der Patienten hängt maßgeblich von diesen Begleitererkrankungen ab. Ohne Behandlung und bei fortgeschrittener Krankheit liegt sie bei zirka 10% pro Jahr. Die Verminderung der Gefäßrisikofaktoren ist daher wesentlich für die Entwicklung bzw. Vermeidung von Komplikationen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall. Dies kann durch Training und Diät und verschiedene zusätzliche Medikamente erreicht werden. Die Kombination dieser Maßnahmen hilft, die Lebenserwartung und -qualität deutlich zu verbessern.
Maßnahmen
Die wichtigste Maßnahme zur Beeinflussung des Verlaufes einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit ist daher die Verminderung und optimale Behandlung der Gefäßrisikofaktoren sowie ein gezieltes Gefäßtraining zur Verbesserung der Lebensqualität.
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5. Bewegung als Therapie Die Erkenntnis, dass eine verlegte Arterie durch Umgehungsgefäße so überbrückt werden kann, dass ein Absterben von Gewebe ausbleibt, hat sich erst im 18. Jahrhundert durchgesetzt. Zuvor hatte man nach Verletzungen einer Arterie primär eine Amputation des betroffenen Gliedes durchgeführt. Seit dieser Erkenntnis versuchte man, den betroffenen Körperteil durch Abbinden des Gefäßes (Arterienligatur) zu erhalten.
Rechtzeitiger Aufbau wirksamer Umgehungskreisläufe
Für die Entstehung von wirksamen Ungehungskreisläufen sind zwei wichtige Prozesse ausschlaggebend: Arteriogenese und Neoangiogenese. Zum einen gibt es in den meisten arteriellen Stromgebieten vorbestehende Reservebahnen und Verbindungen zwischen den verschiedenen Arterien. Sie sind als Reste der ursprünglichen netzartigen Struktur des embryonalen Gefäßsystems anzusehen. Durch intensives Training können diese vorbestehenden Reservebahnen in wirksame Umgehungsgefäße umgewandelt werden. Man spricht von Arteriogenese. Zum anderen können verschiedene Reize (Stimuli) im minderdurchbluteten Gewebe eine Neuentstehung von Gefäßen, die Neoangiogenese, fördern. Sie führt ebenfalls zur Ausbildung von Umgehungskreisläufen. Entscheidend für beide Prozesse ist die langsame zeitliche Entwicklung der Durchblutungsstörung einerseits und die entsprechende Stimulation des Gefäßwachstums andererseits. Nur bei langsamer Entstehung von Gefäßverengungen oder -verschlüssen und gleichzeitig ausgeprägten Reizen für das Gefäßwachstum können sich wirksame Umgehungskreisläufe neu bilden. Gefäßtraining ist eine effektive Möglichkeit, den Prozess des Gefäßwachstums zu fördern. Durch regelmäßiges Gefäßtraining können Umgehungskreisläufe in unterversorgte Gefäßgebiete entstehen bzw. vorbestehende Umgehungskreisläufe gekräftigt werden. Dadurch kann eine ausreichende, anhaltende Durchblutung und Besserung der Beschwerden erreicht werden.
Bei schlagartig auftretenden Gefäßverschlüssen können anfangs nur vorbestehende Umgehungskreisläufe aktiviert werden. Sie reichen oft nicht für die Versorgung der dahinter liegenden Gewebe aus und eine gefährliche Durchblutungsstörung, eine kritische Ischämie, droht. Bei
Periphere Durchblutungsstörungen
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vielen Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit spielen diese schlagartig auftretenden Gefäßverschlüsse eine wichtige Rolle: Häufig sind Patienten jahrelang beschwerdefrei oder klagen nur über geringe Probleme. Ihre Gefäße sind zwar langstreckig, aber nur mäßig verengt, sodass bei geringer Belastung eine ausreichende Durchblutung gegeben ist. Vorgeschädigte Gefäße mit Engstellen neigen jedoch dazu, sich schlagartig (thrombotisch) zu verschließen. Liegen in einem solchen Fall keine kräftigen Umgehungsgefäße vor, ist eine kritische Ischämie sehr wahrscheinlich. Daher ist es für Patienten mit peripheren Durchblutungsstörungen sehr wichtig, bereits frühzeitig mit dem Gefäßtraining anzufangen, um entsprechend wirksame Umgehungskreisläufe rechtzeitig aufzubauen. Dies bezeichnet man im Fachjargon als vaskuläre Reserve. Entscheidend für Patienten mit peripheren Durchblutungsstörungen ist der frühzeitige Beginn mit regelmäßigem Gefäßtraining, um wirksame Umgehungskreisläufe und eine Durchblutungsreserve für das erkrankte Bein aufbauen zu können.
Gefäßtraining – eine ausgezeichnete Alternative zur Operation
Sind wirksame Umgehungskreisläufe entstanden, so handelt es sich hier um „junge“ Gefäße, die nicht oder nur wenig durch bestehende Gefäßrisikofaktoren vorgeschädigt sind. Man kann davon ausgehen, dass diese Umgehungsgefäße daher langlebig sind und eine dauerhafte Verbesserung der Durchblutungssituation gewährleisten. Die Förderung der Umgehungsgefäße durch Gefäßtraining stellt eine ausgezeichnete Möglichkeit der Durchblutungsverbesserung dar. Die Behandlung der ursprünglichen Gefäße mittels chirurgischer oder endovaskulärer (minimal invasiver, interventioneller) Techniken ist weniger nachhaltig. Stark geschädigte Gefäße neigen nämlich häufig zu einem Wiederverschluss nach anfangs erfolgreicher Behandlung. Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Beindurchblutung bei Patienten mit Gehtraining im Vergleich zu interventionell behandelten Patienten: In den ersten beiden Jahren haben Patienten nach Interventionen/Operationen in der Regel eine deutlich bessere Beindurchblutung als Patienten mit Gehtraining. Im Langzeitverlauf schneiden aber Patienten mit Gehtraining besser ab, ohne das Risiko eines Eingriffes auf sich nehmen zu müssen. Voraussetzung dafür ist aber ein konsequentes, lebenslanges Trainingsprogramm.
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Abb. 1
Durch Gefäßtraining entstandene Umgehungskreisläufe stellen eine dauerhafte Verbesserung der Durchblutungssituation dar.
Kontraindikationen
Anders ist die Situation bei Patienten mit kritischer Ischämie, also Durchblutungsstörungen mit Ruheschmerzen oder bereits offenen Wunden. Hier würde ein Gehtraining zu einer Umverteilung des Blutes aus dem ohnehin mangelversorgten Fuß- und Unterschenkelbereich in die Muskulatur der Wade und des Oberschenkels führen und so eine akute Verschlechterung der Durchblutungssituation bewirken. Daher muss bei diesen Patienten auf ein Gefäßtraining unbedingt verzichtet werden!
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Bei Patienten mit kritischer Durchblutungsstörung darf ein Gefäßtraining nicht durchgeführt werden, dies würde zu einer weiteren Verschlechterung der Situation beitragen.
6. Training bei Durchblutungsstörungen Die aktive Bewegungstherapie wurde erstmals 1898 von Erb als Mittel gegen Hinken empfohlen. Bei Patienten mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit wurde diese Therapieform erst in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aufgegriffen und gefördert. Man hatte erkannt, dass Training als biologischer Anpassungsprozess bei minderdurchblutetem Gewebe prinzipiell den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt wie Training bei normal durchblutetem Gewebe. Im Vergleich zu Spitzensportlern ist bei Patienten mit peripheren Durchblutungsstörungen lediglich die angestrebte Leistungsgrenze nach unten zu korrigieren. Das heißt, dass Gefäßpatienten ähnlich wie Spitzensportler durch regelmäßiges, angepasstes Training ihre Leistung stark verbessern können.
Ziele und Auswirkungen des Gehtrainings
Ein wesentliches Ziel des Gehtrainings bei Patienten mit peripheren Durchblutungsstörungen ist die Steigerung der maximalen Gehstrecke. Positive Effekte des Gefäßtrainings sind: ■ ■ ■ ■ ■
Entwicklung von Umgehungskreisläufen Umverteilung des Blutflusses Verbesserung der lokalen Stoffwechselsituation Verbesserung der Gehtechnik Erhöhte Schmerztoleranz
Umverteilung des Blutflusses bedeutet in diesem Zusammenhang, dass bei gleicher Belastung effektiv weniger Blut zur Versorgung benötigt wird. Umgekehrt ausgedrückt, kann bei gleicher Durchblutung mehr Belastung bewältigt werden. Das Üben zielt auf eine Verbesserung der Koordination von zusammenspielenden Muskelgruppen (Agonisten und Antagonisten) und auf deren ökonomischen, das heißt „durchblutungssparenden“ Einsatz ab. Man vermutet weiters, dass die Anhebung der subjektiven Schmerzschwelle die Gehstrecke verlängert. Patienten, die häufig mit leichten,
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muskelkaterartigen Schmerzen Gefäßtraining machen, gewöhnen sich an diese leichten Beschwerden und nehmen sie dann oft nicht mehr wahr. Letztlich spielt eine verbesserte Sauerstoffnutzung auf zellulärer Ebene und somit eine Verbesserung der Energiebereitstellung und -ausnutzung eine wichtige Rolle. Durch diese Mechanismen kann es gelingen, die Durchblutungssituation zu verbessern und mit dem vorhandenen Blutfluss besser auszukommen. Das Gefäßtraining bei Patienten mit peripheren Durchblutungsstörungen soll die körpereigenen Umgehungskreisläufe verbessern und so die Funktionstüchtigkeit der unteren Extremität wiederherstellen. Inaktivitätsschäden am Bewegungsapparat sollen verhindert und die Patienten motiviert und mobilisiert werden. Dies hat günstige Folgen für Herz-, Kreislauf- und Lungenfunktion.
Die Steigerung der Gehstrecke durch Training ist individuell sehr unterschiedlich. Sie wird mit 50–250% nach 4–8 Wochen angegeben. Zwei Drittel der Patienten sprechen in relativ kurzer Zeit auf die Therapie an, das heißt, sie verbessern ihre Gehstrecke um 50–60%. Bei konsequenter Fortführung der Therapie kann nach 4–6 Monaten bei fast 90% der Patienten eine Verdreifachung der Gehstrecke registriert werden. Etwa 10% der anfangs gut motivierten Patienten brechen die Therapie allerdings frühzeitig ab. Nach 3–4 Jahren täglichen Trainings waren bis zu 70% der Patienten beschwerdefrei. Eine Verbesserung der Gehstrecke um über 500% konnte erreicht werden. Entscheidend ist die konsequente und dauerhafte Durchführung des Gehtrainings, welche ein hohes Maß an Motivation und Patientenmitarbeit erfordert. Mit Intervalltraining, z.B. alle 6 Monate 3 Wochen Gefäßtraining im Rahmen einer Kur, kann lediglich eine Stabilisierung der Situation erreicht werden. Der positive Effekt klingt jedoch nach Beendigung des Trainings rasch wieder ab. Durch regelmäßiges und langdauerndes Gehtraining kann die Mehrheit der Patienten mit peripheren Durchblutungsstörungen und Schaufensterkrankheit innerhalb von 3–4 Jahren beschwerdefrei werden. Die maximale Gehstrecke steigt, die Lebensqualität der Patienten erhöht sich. Intervalltraining alle 6 Monate hilft lediglich die Situation zu stabilisieren.
Ein intensives körperliches Training bietet jedoch keinen absoluten Schutz vor neuen oder fortschreitenden Engstellen oder Verschlüs-
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sen in den Schlagadern. Neu aufgetretene Engstellen werden jedoch durch Training besser toleriert und entwickeln weniger Komplikationen als bei Patienten ohne Training. Die Wertigkeit des Trainings im Vergleich zur chirurgischen und interventionellen (minimal-invasiven) Behandlung ist jedoch nicht unumstritten. Langzeitergebnisse sprechen allerdings vor allem bei Patienten mit Engstellen im Oberschenkelbereich für Training als Therapie der ersten Wahl.
Nötige Untersuchungen vor Trainingsbeginn
Eine fachärztliche, internistische Untersuchung vor dem Trainingsbeginn ist Voraussetzung zur Klärung von Indikation und möglichen Kontraindikationen für ein systematisches Gefäßtraining. Dieser Untersuchung sollte sich jeder Patient unbedingt unterziehen, vor allem um die Risiken und Komplikationen einer falsch angewandten Bewegungstherapie zu minimieren. Zu den Hauptrisikofaktoren zählen unerkannte HerzKreislauf-Erkrankungen, die bei diesen Patienten aber häufig zu finden sind. Neben einem Anamnesegespräch (Erhebung der Erkrankungsgeschichte) und einer körperlichen Untersuchung ist die Durchführung einer Ergometrie hilfreich. Der Vorhersagewert einer Ergometrie in Bezug auf begleitende Durchblutungsstörungen des Herzens ist limitiert. Auch eine unauffällige Ergometrie schließt eine Herzerkrankung nicht sicher aus. Im Rahmen der Ergometrie kann aber die Belastbarkeit des Patienten und sein Blutdruckverhalten unter maximaler Belastung überprüft werden. Eine unauffällige Ergometrie gibt Sicherheit in Bezug auf die Belastbarkeit in Bereichen unterhalb der maximalen Belastungsfähigkeit, wie sie beim Gehtraining erreicht wird. Weitere Untersuchungen (Lungenfunktion, Herzultraschall, Blutwerte) werden vom betreuenden Arzt je nach Erkrankungsgeschichte vorgenommen.
Indikationen – Kontraindikationen Gezieltes Gefäßtraining ist indiziert bei ■ Schaufensterkrankheit (Claudicatio intermittens) ■ und bekannter asymptomatischer peripherer Durchblutungsstörung.
Eine akzeptable allgemeine Belastbarkeit, eine normale oder zumindest stabile Herz- und Lungenfunktion und ein Bewegungsapparat, der ein regelmäßiges Training zulässt, sind Voraussetzungen.
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Gefäßtraining ist kontraindiziert bei ■ ■ ■ ■ ■
kritischer Beinischämie Herz- und Lungenversagen bzw. instabilen Herz- und Lungenerkrankungen schwerwiegenden Herzrhythmusstörungen und bei stark erhöhtem Blutdruck.
Wie soll das Training geplant werden?
Das Gefäßtraining lässt sich als stationäre Trainingsbehandlung, als ambulante Therapiebehandlung und als Heimtherapie organisieren. Mit den verschiedenen Optionen sind unterschiedliche Kosten verbunden. Am teuersten ist die stationäre Therapie, die Heimtherapie ist am günstigsten. Da die Effektivität aber mit abnehmender Anleitung und Überwachung sinkt, stellt sich primär die Frage, welche Therapie für welchen Patienten am besten geeignet ist. Zuerst wird die Durchblutungssituation der Beine abgeklärt und eine Untersuchung bezüglich begleitender Herz- und Gefäßerkrankungen durchgeführt. Dann erfolgt eine Kapazitätsanalyse: Was kann der Patient bewältigen, welche Aussichten hat das Training? Bei Patienten mit extremer Reduktion der Gehstrecke auf wenige Meter (unter 100 Meter) und starkem Leidensdruck kann ein gute und motivierte Mitarbeit beim Gefäßtraining kaum erwartet werden. Daher ist eine frühzeitige Behandlung mittels chirurgischer oder endovaskulärer Techniken jedenfalls zu diskutieren. Ist die Gehstrecke zwar eingeschränkt, aber nicht extrem kurz (100–200 Meter), so kann durch Training relativ rasch eine Verbesserung erreicht werden. Das Training wird bei gutem Erfolg dem Patienten auch bald Spaß machen und ihn motivieren weiterzumachen.
Stationäre Trainingsbehandlung
Sie sollte bei folgenden Patienten initial erwogen werden: –
–
Patienten mit weit fortgeschrittener peripher-arterieller Durchblutungsstörung und stärkster Reduktion der Gehstrecke, wenn eine Wiedereröffnung der Gefäße nicht möglich ist. Patienten nach gefäßrekonstruktiven Eingriffen, wenn eine Restsymptomatik vorhanden ist oder ein Lokalbefund therapiebedürftig ist.
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Hochrisikopatienten mit schweren begleitenden Herzerkrankungen, die eine Überwachung auch nach dem Training notwendig machen. – Bei Therapieversagern nach ambulantem Trainingsprogramm. –
Ambulante Trainingsbehandlung
Diese Form sollte bei allen Patienten zur Therapieanleitung und Erläuterung von Trainingstechniken und Zielen angewandt werden. Je nach individuellem Fortschritt und persönlichem Bedarf kann dann früher oder später auf eine Heimtherapie mit lediglich viertel- bis halbjährlichen Kontrollen umgestellt werden.
Heimtherapie
Jeder Patient mit peripheren Durchblutungsstörungen sollte sie letztlich selbständig und konsequent durchführen. Nur ein dauerhaftes und konsequentes Gefäßtraining verspricht nachhaltigen Erfolg. Jeder Patient sollte nach entsprechender Anleitung in der Heimtherapie richtig trainieren.
7. Wie soll trainiert werden – und vor allem wie lange? Trainingstechniken
Das progressive dynamische (aerobe) Ausdauertraining im Intervallstil oder in Dauerform ist die wesentlichste Trainingstechnik. Folgende Methoden können in der Gruppen- oder Einzelbehandlung angewandt werden:
Gehtraining im freien Gelände
Dauer Ein täglicher Zeitaufwand von mindestens zweimal 30 Minuten oder einmal 60 Minuten Gehtraining sollte angestrebt werden. Eine vorgeplante, den Möglichkeiten des Patienten entsprechende Gehstrecke
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sollte dabei bewältigt werden. Das Vorplanen der Strecke hilft, den Patienten zur Leistungssteigerung zu motivieren. Gehstrecke Daumenregel: Als anfängliche Gesamtgehstrecke kann das 8- bis 10fache der maximal schmerzfreien Gehstrecke pro Trainingsintervall geplant werden. In regelmäßigen Abständen (z.B. einmal wöchentlich) sollte eine patientenbezogene „Messstrecke“ gegangen werden. Als Messstrecke gilt immer der gleiche Weg mit regelmäßigen Markierungspunkten (Parkbänke, Laternen, Häuserblöcke, etc.). Anhand dieser Distanz lässt sich im Wochen- bzw. Monatsverlauf die Entwicklung der maximal schmerzfreien Gehstrecke sowie der maximal möglichen Gehstrecke ausloten und der Trainingserfolg abschätzen. Dokumentation des Trainings Eine schriftliche Dokumentation der täglichen Trainingszeit und Gehstrecken durch den Patienten erwies sich für die Heimtherapie als günstig. Ungenutzte Kapazitäten lassen sich bei Kontrollen leicht erkennen und bei refraktären Beschwerden kann rechtzeitig eine Therapieumstellung vorgenommen werden. Geschwindigkeit Die Belastung beim Gehen sollte in submaximaler Geschwindigkeit erfolgen. Sie kann bis zur Provokation von durchblutungsbedingten Schmerzen leichter bis mittlerer Intensität (im Waden- oder Oberschenkelbereich) durchgeführt werden. Eine Belastung bis zu starken Ischämieschmerzen erscheint nicht notwendig und ist darüber hinaus mit längeren Erholungsphasen und sinkender Motivation des Patienten verbunden. Pausen Auf Belastungsphasen folgen Ruhephasen (Stehen oder Sitzen). Beide sollen anfangs gleich lang sein, das heißt gleiche Zeitdauer für Gehen und Ruhen. Bei zunehmender Gehstrecke nimmt die Länge der Ruhephasen ab, sodass schließlich immer kürzere Pausen für immer längere Gehstrecken gebraucht werden. Die Ruhephase sollte jedoch jedenfalls bis zum Abklingen der Beschwerden andauern. Wenn der Patient in der Ruhephase sitzt, tritt eine neuerliche Beschwerdefreiheit in der Regel
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rascher als beim Stehen ein. Patienten mit stark limitierter Gehstrecke verbringen die Pausen lieber sitzend. Stehen in der Erholungsphase bringt leistungsfähigeren Patienten einen zusätzlichen Trainingseffekt durch das Anspannen (Tonisieren) der Haltemuskulatur.
Gehtraining kräftigt vor allem die Unterschenkelmuskulatur und ist daher bei Patienten mit durchblutungsbedingten Wadenschmerzen (Wadenclaudicatio) die Trainingsmethode der ersten Wahl.
Was fällt nicht unter „Gehtraining“ in freiem Gelände? Unsystematisches Gehen mit Pausen weit vor der Belastungsgrenze trägt erfahrungsgemäß nicht zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit bei. Arbeiten im Garten, Einkaufsbummel und auch Spaziergänge mit Hunden führen nur dann zum Ziel, wenn die Gehstrecken an die Leistungsgrenzen herangeführt werden.
Gehtraining auf dem Laufband
Für das Gehtraining auf dem Laufband gelten im Wesentlichen die gleichen Prinzipien wie für das Training im Freien. Auf dem Laufband kann allerdings systematischer trainiert werden. Das Training lässt sich besser kontrollieren, mittels Laufbandgeschwindigkeit und Laufbandsteigung kann die Belastung geregelt werden. Hier ist vor allem eine übermäßige Belastung in zu kurzer Zeit zu vermeiden. Zielzeit sind auch hier zweimal 30 Minuten oder einmal 60 Minuten pro Tag. Die Teilbelastung während der Belastungsintervalle ist so zu wählen, dass der Patient die gesamte Trainingseinheit ohne Erschöpfung bewältigt. Das Training sollte ebenfalls nur bis zu leichten bzw. mittleren Beschwerden durchgeführt werden. Belastungs- und Erholungsphasen sollten wie beim Outdoor-Training im Verhältnis 1:1 stehen. Wenn eine gewisse Grundgehstrecke von zirka 150 bis 200 Metern erreicht ist, wird – je nach allgemeiner Kondition – bei ansonsten fitten Patienten zunächst die Steigung erhöht. Die Gehstrecke wird beibehalten. Bei Patienten mit begleitenden Herz- oder Lungenerkrankungen wird hingegen eine Verlängerung der Gehstrecke angestrebt, die Steigung bleibt gering.
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Entscheidend bei jeder Trainingsform ist ein rechtzeitiger Abbruch des Belastungsintervalls vor der maximal möglichen Gehstrecke, um die Verletzungsgefahr durch einen Sturz aus Erschöpfung auszuschalten. Ein entsprechender „Not-Stop“-Schalter sollte leicht erreichbar auf dem Laufbandergometer angebracht sein. Auch für das Training auf dem Laufband gilt ein Trainingseffekt vor allem in der Wadenregion, allerdings wird mit größerer Steigung auch die Oberschenkelmuskulatur zunehmend gefordert. Dies ist vermutlich die effektivste Trainingsform für Patienten mit Schaufensterkrankheit.
Gehtraining an der Step-Machine
Bei Step-Machines (Stufen-Maschinen) handelt es sich um Trainingsgerät, bei denen das Stufensteigen simuliert wird (Abb. 2). Dies ist eine sehr effektive Art des Trainings für Waden- wie auch Oberschenkelmuskulatur, erfordert jedoch eine gewisse Grundausdauer und -kraft. Diese Methode kann daher bei Patienten mit sonst guter Leistungsfähigkeit von Herz und Lunge eingesetzt werden. Beim Training ist vor allem wieder auf den Ausdauereffekt zu achten. Dieses Trainingsgerät verleitet zu einer hohen Belastung, die aber nur kurz durchgehalten werden kann. Platzsparende Heimgeräte in einfacher Ausführung kommen wesentlich billiger als Fahrradergometer oder Laufbänder. Wird der Stepper richtig benützt, kann damit konventionelles Gehtraining zumindest teilweise (z.B. bei widrigen Wetterverhältnissen) ersetzt werden. Beim Stepper kann die Trainingsintensität über die Trittfrequenz sowie über den Tretwiderstand geregelt werden. Je höher die Trittfrequenz, desto höher die Belastung für Herz und Lunge. Hohe Trittfrequenzen sollten daher nur bei Herz- und Lungengesunden eingesetzt werden.
Training auf dem Fahrradergometer oder Fahrradfahren im freien Gelände
Auch bei diesen Methoden gelten die bereits besprochenen Prinzipien bezüglich Belastungsintensität und -dauer. Sollen bestimmte Muskelgruppen gezielt angesprochen werden, ist auf eine korrekte Trainingstechnik zu achten.
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Abb. 2
Patienten mit Durchblutungsschmerzen im Oberschenkelbereich (Oberschenkelclaudicatio) können oft beschwerdefrei gehen und bekommen erst beim Stiegensteigen oder Fahrradfahren Schmerzen. Patienten mit Beschwerden im Unterschenkelbereich (Unterschenkelclaudicatio) sprechen hingegen häufig auf Fahrradtraining nicht oder nur minimal an. Sie können oft unbehindert stundenlang Fahrrad fahren, aber nur wenige Meter gehen. Grund dafür ist die ausgleichende Wirkung der Oberschenkelmuskulatur bei der Fahrrad-Tretbewegung zur Schonung der Wadenmuskulatur. Vor allem der Stellung des Fußes auf dem Pedal kommt hier eine besondere Bedeutung zu (Abb. 3): Wird der Zehenballen auf dem Pedal aufgesetzt und so getreten, ist auch die Wadenmuskulatur voll beansprucht. Liegt jedoch der Mittelfuß auf dem Pedal auf, kann die Oberschenkelmuskulatur ohne wesentliche Beanspruchung der Wadenmuskeln die Tretbewegung übernehmen. In diesem Fall fehlt natürlich jeglicher Trainingseffekt für die Muskelgruppen des Unterschenkels.
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Abb. 3
Die Trainingsmethode mit dem Fahrrad(ergometer) eignet sich daher vor allem zur Behandlung von Patienten mit Durchblutungsbeschwerden im Oberschenkelbereich (Oberschenkelclaudicatio).
Zur Verbesserung des Koordinationsvermögens im täglichen Gebrauch eignet sich das Gehtraining jedoch besser als das Fahrradergometertraining. Während beim Gehtraining ein täglich notwendiges Bewegungsmuster geübt und optimiert wird, ist ein motorisches Training der Tretbewegung durch Fahrradfahren für den täglichen Gebrauch weniger hilfreich. Das Training auf dem Fahrrad ist eine sinnvolle Ergänzung des Gehtrainings, sollte dieses jedoch nicht ersetzen.
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Abb. 4
Muskelübungen
Muskelübungen unterstützen das Ausdauertraining, sie kräftigen die Muskulatur, Bewegungsmuster werden trainiert. Allerdings sind Muskelübungen in Bezug auf die Verbesserung der Gehstrecke wesentlich weniger effektiv als Ausdauertrainingsmethoden. Jene können das Ausdauertraining daher nicht ersetzen. Zehenstandsübungen (bei Wadenclaudicatio, Abb. 4) und Kniebeugen (bei Oberschenkelclaudicatio, Abb. 5) trainieren direkt die minderdurchbluteten Muskelgruppen und sollten dreimal täglich mit 20–40 Wiederholungen durchgeführt werden. Balanceübungen wie Einbeinstand, Gehen auf der Linie und isometrische Übungen im Beckenbereich helfen die koordinatorischen Fähigkeiten der Patienten zu verbessern und Bewegungsabläufe zu optimieren. Ergotherapie
Diese von Ergotherapeuten betreute Bewegungstherapie bekommt bei zunehmender Immobilität des Patienten eine wachsende Bedeutung. Neben einer allgemeinen Mobilisation spielt hier die Prophylaxe von Immobilisationsschäden und der Erhalt der Restbewegungsfunktion eine große Rolle.
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Abb. 5
Trainingsdauer
Aus dem oben Gesagten lässt sich ableiten, dass nur ein kontinuierliches Gefäßtraining zu einem dauerhaft guten Erfolg führen kann. Zwei Drittel der Patienten erreichen durch Langzeittraining Beschwerdefreiheit oder werden zumindest sehr gut belastbar. Ein 4-wöchiges Training alle 6 Monate hat lediglich stabilisierende Wirkung. Nur ein langfristiges Gehtraining kann auch eine nachhaltige Reduktion der Risikofaktoren für Herz und Gefäße bewirken und so die hohe Sterblichkeits- und Ereignisrate bei diesen Patienten senken. Daher gilt: Regelmäßiges Gehtraining bei peripherer arterieller Verschlusskrankheit ist eine Lebensaufgabe.
8. Nebenwirkungen versus positive Effekte Bei Gefahren im Training unterscheidet man zwischen allgemeinen und lokalen Gefahren bzw. Nebenwirkungen.
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Allgemeine Gefahren
Sie resultieren aus begleitenden Herz- und Gefäßerkrankungen. Im Rahmen des Trainings kann es bei nicht erkannten Herzerkrankungen zu Herzversagen, Herzinfarkt, Herzrhythmusstörungen oder starkem, krisenhaftem Blutdruckanstieg kommen. Nebenwirkung und Beschwerden im Bereich des Herzens, des Kreislaufs oder der Lunge während oder nach dem Training müssen unbedingt ernst genommen werden. Sie sollten mit dem betreuenden Arzt besprochen werden.
Bei Beschwerden wie Atemnot, Druck auf der Brust, Herzrasen, Schwindel oder Übelkeit muss das Training sofort abgebrochen und ein Arzt aufgesucht werden.
Ähnliche Beschwerden können durch das Training auch im trainingsfreien Intervall provoziert werden und sollten ebenfalls Anlass zu weiterer Abklärung sein.
Lokale Nebenwirkungen
Lokale Nebenwirkungen können vielfältig sein: Trainingsbedingte, ischämische Schmerzen (von der Minderdurchblutung während der Belastung) in der Muskulatur der Beine gelten nicht als gefährlich. Die Neigung zu Sehnenentzündungen, Muskelkrämpfen und -verspannungen fordert jedoch eine Anpassung der Trainingsintensität, um Überlastungen vorzubeugen. Bei Erschöpfung oder Übertraining besteht eine erhebliche Verletzungsgefahr, die erreichte Trainingserfolge durch Immobilisation (z.B. Gips) zunichte machen kann.
Durchblutungsbedingter Muskelschmerz während des Trainings ist nicht gefährlich, eine Überlastung des Bewegungsapparates durch Übertraining soll jedoch vermieden werden.
Training trotz oder wegen peripherer Durchblutungsstörungen?
Regelmäßiges Training hat also zahlreiche positive Einflüsse sowohl auf die Durchblutungsstörung der Beine selbst als auch auf die GefäßRisikofaktoren. Neben einer Verbesserung der Gehleistung sollte man
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sich vor allem den Nutzen für das gesamte Herz-Kreislauf-System vor Augen halten. Herzinfarkt und Schlaganfall stellen für den Gefäßpatienten bedrohliche Komplikationen dar, deren Risiko durch entsprechendes Training deutlich gesenkt werden kann. Senkung des Blutdruckes, der Blutfettwerte, des Blutzuckers und des Körpergewichtes können außerdem zu einer Verminderung der täglich notwendigen Medikamentenmenge führen und so die Lebensqualität verbessern. Eine Verbesserung der allgemeinen Leistungsfähigkeit durch das Gefäßtraining steigert das Wohlbefinden. Für alle Patienten mit peripheren Durchblutungsstörungen muss es daher heißen: Training sowohl trotz als auch wegen meiner Krankheit
9. Fallbeispiele Beispiel 1
Herr Claudius Intermittens, 56 Jahre alt, hat seit langem Beinschmerzen. Da sie sich anfangs wie ein Muskelkater anfühlten und nur beim schnellen Gehen auftraten, ignorierte er diese Beschwerden zuerst. Er führte sie auf einen Trainingsmangel zurück. Als sie dann stärker wurden, versuchte sein betreuender Arzt 3 Jahre lang, die Beinschmerzen durch Infiltrationen der Wirbelsäule und mit immer stärkeren Schmerzmedikamenten in den Griff zu bekommen. Doch die Beschwerden verschlimmerten sich weiter. In Ruhe oder nachts war Herr Intermittens immer beschwerdefrei. Sobald er aber schneller gehen, laufen oder Stiegen steigen wollte, quälten ihn ziehende Schmerzen in beiden Waden. Anfangs konnte er den Schmerz noch ignorieren, beim weiteren Gehen wurden die Beschwerden dann auch besser. In den letzten Monaten waren die Wadenschmerzen rechts jedoch bereits nach wenigen Schritten zu spüren, und nach einer Gehstrecke von einem Häuserblock musste Herr Intermittens rasten, bis der Schmerz verging. Nach einer kurzen Pause, meist betrachtete er in der Zwischenzeit die Auslagen eines Geschäftes oder einfach nur die vorüberlaufenden Menschen, konnte er wieder weitergehen, bis die Schmerzen rasch und stärker wiederkamen. Unglücklich über diese Situation, suchte er nun einen Facharzt für Orthopädie auf, um seine Wirbelsäule einmal genauer unter die Lupe nehmen zu lassen. Der Orthopäde fand zwar einige Veränderungen der
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Wirbelsäule, doch diese degenerativen Erscheinungen waren altersentsprechend und konnten die Beschwerden nicht erklären. Aufgefallen war dem Orthopäden jedoch, dass die Pulsationen der Fußarterien bei Herrn Intermittens nicht wie bei Gesunden kräftig zu tasten waren. Er empfahl ihm daher, eine Gefäßambulanz aufzusuchen. Nachdem Herr Claudius Intermittens in der Ambulanz seine Beschwerden geschildert hatte, erschien dem Gefäßspezialisten die Vermutung periphere Durchblutungsstörung sehr naheliegend. Die Untersuchung des Patienten mittels Arteriendruckmessung und Ultraschall bestätigte dann rasch die Diagnose. Herr Claudius Intermittens hatte Gefäßverschlüsse in beiden Oberschenkelgefäßen. Nach weiterer Befragung zeigte sich, dass Herr Intermittens mit jahrelangem Zigarettenrauchen, hohem Blutdruck und zu hohen Blutfettwerten einige Risikofaktoren für eine Gefäßkrankheit aufwies. Die Diagnose war nun gestellt, doch was nun? Herr Claudius Intermittens war bereit, für seine Gesundheit zu kämpfen, eine Operation oder Dehnungsbehandlung wollte er jedoch auf alle Fälle vermeiden. Er erfuhr, dass er durch regelmäßiges Training und Reduktion der Risikofaktoren seine Krankheit in den Griff bekommen könnte. Herr Intermittens ist heute 62 Jahre alt. Sein Blutdruck ist mit Medikamenten gut eingestellt, die letzte Zigarette hat er vor 6 Jahren geraucht und die Blutfette bewegen sich durch Diät, 7 kg Gewichtsabnahme, Training und Medikamente im Normalbereich. Herr Intermittens trainiert heute jeden Tag 60 Minuten – und das bei jedem Wetter. Er spürt zwar weiter ein leichtes Ziehen in den Unterschenkeln, wenn er schneller geht. Im Alltag stört ihn das jedoch kaum, denn spazieren gehen kann er jetzt stundenlang.
Beispiel 2
Frau Rosa Ischemia ist zuckerkrank. Die Krankheit der heute 68-Jährigen wurde durch Zufall vor 5 Jahren entdeckt. Seit 2 Jahren muss Frau Ischemia Insulin spritzen. Obwohl sie damit ganz gut zurecht kommt, zeigt ihr Langzeit-Zuckerwert doch meist zu hohe Werte an. In den letzten Wochen ist sie verzweifelt: Nachts hat sie starke Schmerzen in den Zehen des linken Fußes, diese sind kalt, blass und fast gefühllos. Sie muss dann aufstehen und langsam im Zimmer von einem Fuß auf den anderen steigen, dann werden die Beschwerden besser. Sie verschwinden aber erst nach Einnahme der Schmerzmittel, die sie eigentlich gegen ihre Kreuzschmerzen nehmen soll.
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Schließlich stellt sie beim täglichen Fußbad erschrocken fest, dass sie eine kleine Wunde an der Spitze der linken großen Zehe bekommen hat. Von ihrem Hausarzt weiß sie, dass sie als Diabetikerin besonders auf ihre Füße aufpassen muss und selbst bei kleinen Verletzungen einen Arzt aufsuchen soll. Am gleichen Vormittag besucht sie ihren Hausarzt in der Ordination. Beim Anblick des blassen Fußes mit der kleinen Verletzung an der Zehe läuten bei dem Mediziner die Alarmglocken und er lässt sie umgehend in die Gefäßambulanz des nahe gelegenen Spitals bringen. Für die Gefäßspezialisten ist Frau Rosa Ischemia ein dringlicher Fall: Wird ihre Durchblutungstörung nicht bald behandelt, läuft sie Gefahr, eine Zehe oder sogar den ganzen linken Vorfuß zu verlieren. Mittels Ultraschall und Röntgen-Gefäßuntersuchung wird die Diagnose bestätigt: Zahlreiche Gefäßengstellen am Oberschenkel und den Unterschenkelgefäßen haben zu einer bedrohlichen Durchblutungsstörung (kritischen Ischämie) der Zehengefäße geführt. Frau Rosa Ischemia wird schon am nächsten Tag operiert und mit einer Bypass-Operation am Bein versorgt. Die kritische Durchblutungsstörung ist nun behoben, die Krankheit jedoch nicht geheilt. Frau Ischemia lernt nun in der Rehabilitation durch vorsichtig dosiertes Gehtraining die Durchblutung ihrer Beine zu verbessern, ohne jedoch die Füße zu überlasten und so Verletzungen zu riskieren.
10. Zusammenfassung Die periphere arterielle Verschlusskrankheit (periphere Durchblutungsstörung) ist eine häufige Erkrankung, deren Bedeutung nicht nur in einer Einschränkung der Gehleistung liegt, sondern auch in den Risiken, die von begleitenden Herz- und Gehirndurchblutungsstörungen ausgehen. Durch gezieltes und regelmäßiges Gefäßtraining kann der Krankheitsverlauf günstig beeinflusst werden: Eine Verbesserung der Belastbarkeit und Gehleistung bis zur Beschwerdefreiheit können erreicht werden, eine günstige Beeinflussung der Gefäßrisikofaktoren hilft Herzinfarkt und Schlaganfall vorzubeugen.
Eine Verbesserung der allgemeinen Leistungsfähigkeit trägt zu einer Steigerung des Wohlbefindens bei. Viel Freude und Erfolg beim Training!
Häufige orthopädische Probleme Dieter Gehmacher
1. Auswirkungen der Durchblutungsstörungen auf den Bewegungsapparat Schäden im Bereich des Bewegungsapparates sind im Zusammenhang mit peripheren Durchblutungsstörungen zu sehen. Durch die Verengung der Blut zuführenden Gefäße herrscht in allen Gewebsregionen und funktionellen Abschnitten des Bewegungsapparates Sauerstoffmangel. Die Muskulatur als „Motor“ verbraucht derart viel Sauerstoff, dass bei bereits vermindertem Angebot für die restlichen Gewebsstrukturen keine ausreichende Durchblutung mehr zur Verfügung steht. Dies führt zu schleichenden Schäden in allen Bereichen des passiven Bewegungsapparates. Zum passiven Bewegungsapparat gehören: – – – – – –
Bänder Gelenke Sehnen Sehnenscheiden Schleimbeutel Knochen etc.
Wie im vorigen Kapitel beschrieben, geht es bei Vorliegen von peripheren Durchblutungsstörungen darum, die Lebensqualität der Patienten zu verbessern, die durchblutungsbedingten Ischämieschmerzen zu beseitigen und die Leistungsfähigkeit zu erhöhen.
Sehnen
Die Muskulatur ist über Sehnen mit den Knochen verbunden, damit wird eine Bewegung des Gelenkes ermöglicht. Die Sehnen selbst sind
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bradytrophes Gewebe, das heißt, sie sind sehr stoffwechselinaktiv und benötigen nur wenig Sauerstoff. Die umgebenden Sehnenscheiden sind allerdings stark vom Sauerstoffgehalt des Blutes abhängig, um ihre Aufgabe wahrnehmen zu können. Sie müssen eine geeignete Gleitflüssigkeit erzeugen und eventuelle Regenerations- und Reparaturmaßnahmen durchführen. Ist die Durchblutung vermindert, kommt es zu einem Austrocknen und Störungen können nicht mehr in ausreichendem Maße behoben werden. Es entstehen schleichende Schäden mit der Gefahr von Entzündungen, Degenerationen der Sehnen und sogar eventuellen Rissbildungen.
Gelenke
Hier verhält es sich ähnlich wie bei den Sehnenstrukturen: Durch eine Minderdurchblutung wird zu wenig Gelenksflüssigkeit gebildet. Sie hat aber eine sehr wesentliche Aufgabe im Gelenk: Sie ernährt den Knorpel und baut schädliche Stoffwechselprodukte ab. Sind diese Funktionen gestört, entstehen Schäden an allen Gelenksstrukturen und eine Arthrose ist unausweichlich.
Knochen
Das Knochengewebe unterliegt einem ständigen Umbau: Ältere Knochenanteile werden durch Osteoklasten (knochenabbauende Zellen) ersetzt und von Osteoblasten (knochenaufbauenden Zellen) wieder neu gebildet. Auch diese Funktion hängt vom vorhandenen Sauerstoff ab. Bei schweren Durchblutungsstörungen tritt ein Defizit auf. Die Umbauvorgänge an den Knochen, die zur Erhaltung der Funktion nötig sind, werden nur in ungenügendem Maß durchgeführt. In der Praxis spielt dies eine untergeordnete Rolle, da bei diesen Patienten die Belastung des Knochenapparates wesentlich vermindert ist. Für einen Trainingsaufbau hingegen ist dieser Aspekt von Bedeutung. Alle Bereiche des passiven Bewegungsapparates leiden unter dem Sauerstoffmangel! Dies ist hier aber nicht wie beim Muskel sofort durch Auftreten von Schmerzen erkennbar. Die Beschwerden machen sich erst bemerkbar, wenn bereits Schäden vorliegen. Dieser Aspekt erfordert besondere Aufmerksamkeit bei der Erstellung des Trainingsplanes.
Häufige orthopädische Probleme
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2. Wie lassen sich Schäden vermeiden? Beim Training keine Übersäuerung auslösen
Muskelarbeit ohne ausreichenden Sauerstoff führt zur Entstehung von Milchsäure. Diese bewirkt ihrerseits eine Senkung des pH-Wertes in den regionalen Gewebsanteilen. Daraus resultiert eine Gewebsschädigung. Dies sollte beim Trainingsaufbau unbedingt verhindert werden. Daher müssen alle leistungsmindernden Faktoren wie – – – –
Vorliegen von Ödemen, erhöhter Blutfettgehalt, Vorliegen erhöhter Harnsäurewerte, erhöhter Blutzucker etc.
in einer ersten Behandlungsphase beseitigt werden. Anschließend geht es darum, die für die Leistung zur Verfügung stehende Blut- und Sauerstoffmenge zu erhöhen.
Neuromuskuläre Stabilität
Durch gezieltes Koordinationstraining kann sowohl die Muskelkettenfunktion als auch die intramuskuläre Muskelsteuerung deutlich verbessert werden. Das wesentliche Ziel des Trainings bei Vorliegen von Durchblutungsstörungen besteht darin, Dauerspannungen zu verhindern und damit eine verbesserte Durchblutung zu ermöglichen. Ein dauerhaft angespannter Muskel ist derartig kontrahiert, dass auch eventuell offene Gefäße komprimiert werden und damit eine funktionelle Durchblutungsstörung erzeugt wird. Da die physiologische Muskelkoordination bei Patienten mit arterieller Durchblutungsstörung (AD-Patienten) deutlich beeinträchtigt ist, mindert dieser Faktor die Leistung zusätzlich. Das ist nicht zu unterschätzen!
Intramuskuläres Koordinationstraining
Ein einzelner Muskel besteht aus zahlreichen Muskelfasern, die je nach Gelenksstellung – seitlich und räumlich unterschiedlich – in Spannung versetzt werden. Durch Slow-Motion-Training kann diese Koordination wesentlich verbessert werden.
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Durchführung des Trainings
Zuerst wird entsprechend allgemein und regional aufgewärmt sowie zielorientiert gestretcht. Dann wird ein Einzelmuskel möglichst langsam gegen moderaten Widerstand von seiner Dehnstellung in die maximale Kontraktionsstellung gebracht – dies mit minimalem Widerstand. Einzelne Segmente der Bewegung dürfen nicht übersprungen werden.
Beispiel: Training des Quadrizeps (Oberschenkelvorderseite)
Im Sitzen wird der Unterschenkel an der Extensionsmaschine oder über ein flexibles Trainingsband (Theraband, Gummischnur) Winkelgrad für Winkelgrad langsam bis in die vollständige Streckung gebracht. Für eine Gesamtbewegung sind etwa 30 Sekunden vorzusehen. Bei Auftreten von schweren Durchblutungsstörungen kann es bereits hier zu einem Ischämieschmerz kommen, sodass eine Erholungsphase eingelegt werden muss. Fehlt dieser Ischämieschmerz, so kann von dieser konzentrischen Bewegung unter gleicher Belastung in die exzentrische Phase übergegangen werden: Das Bein wird von der Streckung wieder bis zur maximal erreichbaren Beugung, ebenfalls 30 Sekunden lang, bewegt. Sollten die Muskeln dabei zittern (Muskelfaszikulationen), so sollte dies nicht unterdrückt werden. Diese Faszikulationen wirken sich positiv auf die intramuskuläre Koordinationsfähigkeit aus. Je nach Trainingsfortschritt kann sowohl die Belastung als auch die Erholungszeit langsam erhöht werden. Eine Gelenksbelastung oder eine Schädigung im passiven Bewegungsapparat ist bei dieser Trainingsform nicht zu erwarten! Das Training mehrerer Einzelmuskeln dauert zwar sehr lang, der Zeitaufwand rechtfertigt sich aber durch den Erfolg.
Training der muskulären Kettenfunktionen
Nachdem 10 über 3–4 Wochen verteilte Übungseinheiten plus einem zusätzlichen allgemeinen Ausdauertraining (Gehtraining etc.) absolviert wurden, kann ein gezieltes Training der muskulären Kettenfunktionen angeschlossen werden. Die neuromuskuläre Koordination von Muskelketten kann durch spezifische physiotherapeutische Methoden, wie PNF (propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation), wesentlich verbessert werden, ohne zusätzlichen Sauerstoffbedarf zu erzeugen. Grundsätzlich geht es
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darum, die einzelnen synergistischen Muskeleffekte gezielt aufeinander abzustimmen. Auch dies dient einer besseren Leistungsfähigkeit bei Minimierung des Sauerstoffbedarfes.
Stretching
Grundsätzlich ist in der Trainingsphysiologie ein gedehnter Muskel wesentlich leistungsfähiger als ein ungedehnter. Bei Durchblutungsstörungen ist ein lockerer Muskel besonders wichtig, um funktionelle Durchblutungsverminderungen zu vermeiden. Besonders empfiehlt sich die postisometrische Relaxation. Die postisometrische Relaxation: – – – – – – –
Vordehnung des Muskels Anspannung gegen leichten Widerstand, etwa 3–5 Sekunden lang Entspannungsphase, ebenfalls 3–5 Sekunden stärkere Dehnung des Muskels, diese Stellung etwa 10 Sekunden halten anschließend Kontraktion des Muskels über 3–5 Sekunden danach weitere Beugung des Gelenkes mit Erhöhung des Dehnungsreizes Nach etwa 3- bis 4-maligem gleichem Vorgehen erfolgt eine Pause mit leichten Lockerungen.
Insgesamt kommt es zu 3–4 Wiederholungen. Diese Methode sollte nicht im ermüdeten Zustand angewandt werden, nach Durchführen von Muskelbelastungen darf nur leicht gedehnt werden. Ziel dieser Übungen ist es, die muskuläre Spannung zu senken, die Ökonomie des Sauerstoffverbrauches zu erhöhen und die unterschiedlichen muskulären Leistungsmerkmale zu verbessern.
Vermeidung von Schäden am passiven Bewegungsapparat
Durch geeignete Muskelübungen können die Gefahren von Schädigungen des passiven Bewegungsapparates deutlich reduziert werden. Ziel muss es sein, unabhängig von der bestehenden AD, vorliegende Fehlfunktionen im Bewegungsablauf zu beseitigen. Neuro-
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muskuläre Fehlsteuerungen werden beseitigt, Muskelschwächen durch entsprechende Kraftübungen ausgeglichen, verkürzte Muskelgruppen gedehnt, eine physiologische Synergie des Muskelapparates wieder hergestellt. Ausgiebige Aufwärmübungen vermindern eventuelle Schädigungen des passiven Bewegungsapparates. Durch die erreichte Muskelstabilisierung werden Achsenfehlstellungen oder Überlastungen einzelner Gelenksanteile vermindert. Das Grundprinzip lautet: z Vom Liegen zum Sitzen, z vom Sitzen zum Stehen, z vom Stehen zum Gehen, z vom Gehen zum Laufen. Vielseitige Übungswechsel sind diesem Ziel sehr förderlich. Folgende Varianten sind möglich: – – – – – –
Ergometer Steppgeräte Rudergerät Laufband unterschiedliche Kraftgeräte Slyding etc.
Je variantenreicher trainiert wird, desto ökonomischer wird die Muskelarbeit! Bei allen Übungsausführungen ist die richtige Körperhaltung einzunehmen. Daraus folgt, dass nicht nur die „Arbeitsmuskulatur“ trainiert werden muss, sondern auch die so genannte stabilisatorische Muskulatur. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass die Muskulatur bis zur Erlangung ihrer vollen Funktionsfähigkeit eine Aufwärmzeit von 10– 15 Minuten benötigt, die passiven Anteile des Bewegungsapparates aber erst in etwa 20 Minuten so weit durchblutet sind, dass eine Vollbelastung möglich ist!
3. Sport bei Arthrose Die Arthrose ist eine Erkrankung, die jeden Menschen betrifft. Je nach körperlicher Aktivität können bereits ab dem 30. Lebensjahr
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degenerative (arthrotische) Veränderungen im Bereich der Gelenke festgestellt werden. Somit ist die Belastbarkeit insbesondere bei der Arbeit und im Sport eingeschränkt, die Lebensqualität wird dadurch unter Umständen massiv beeinträchtigt.
Was sind die Ursachen der Erkrankung, wie verläuft sie?
Es gibt mehrere Ursachen, die zu dieser Erkrankung führen können. Faktoren, die bei der Entstehung einer Arthrose eine Rolle spielen: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■
Hormonstatus genetische Faktoren Qualität des Gelenksknorpels Gelenksmechanik akute Gelenksverletzungen muskuläre Schwächen oder Dysbalancen Achsenfehlstellungen
Aufgrund dieser Einflüsse, aber auch durch Inaktivität, kommt es zu einem Arthrosevorgang mit verschiedenen Komponenten: Es bilden sich aufgrund des Knorpelabriebs Einlagerungen in die Gelenkskapsel und die Gelenksflüssigkeit weist in weiterer Folge eine fehlerhafte Zusammensetzung auf. Sie kann den Knorpel nicht mehr ausreichend ernähren. Es entsteht aber auch durch Beimengung von Entzündungszellen eine Art „Selbstverdauung“ des Knorpels. Dies wirkt sich auf die Dehnbarkeit der umgebenden Strukturen, insbesondere der Gelenkskapsel, und auf die Beweglichkeit aus. Ein Circulus vitiosus beginnt. Die geschilderten Vorgänge lösen Schmerz aus, dadurch wird reflektorisch die bewegende Muskulatur des jeweiligen Gelenkes mit in die weitere Verschlechterung einbezogen. 1. Phase der Verschlechterung: ■ Muskelgruppen, die Schmerz auslösen, werden abgeschwächt und
verkürzen. ■ Sie werden in ihrer Bewegungsqualität eingeschränkt. ■ Muskelgruppen, die Schmerz verhindern, erhöhen ihren Muskel-
tonus und verschieben ihren Einsatzwinkel. Das heißt, sie werden als Schutz innerviert, bevor ein Gelenkswinkel erreicht wird, der Schmerz hervorruft.
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2. Arthroseverstärkender Kreislauf: ■ Durch die daraus resultierenden fehlerhaften Bewegungsmuster
■ ■
■ ■ ■
und die zunehmende Bewegungseinschränkung schlagen die Schmerzen immer wieder durch. Die Lust, sich zu bewegen, das heißt, sich selbst Schmerzen zuzufügen, wird immer geringer. Durch diese verminderte körperliche Betätigung kommt es zu weiteren Abschwächungen der Muskulatur und zu Bewegungseinschränkungen. Die kardiale Leistungsfähigkeit wird schwächer. Die periphere Durchblutungsregulation verschlechtert sich. Die Leistungsfähigkeit fällt ab.
Somit kann ohne effiziente Hilfe die Arthrose eines Gelenkes zu einer Systemerkrankung mit mehreren Komponenten führen.
Bewegung als Therapie
Durch zahlreiche Fachpublikationen ist die Erkenntnis belegt, dass Sport auch in hoher Intensität nicht zur Arthrose führt, sofern keine prädisponierenden Faktoren wie – – –
Achsenfehlstellungen Bandinstabilitäten Verletzungen des Gelenksknorpels
vorliegen. Weiters ist gesichert, dass körperliche Inaktivität, eine schlechte neuromuskuläre Funktion und Leistungsfähigkeit sogar als Risikofaktoren für das Entstehen einer Arthrose gewertet werden müssen. Daraus ergibt sich zwingend, dass Bewegung als Therapie das Mittel der Wahl darstellt.
Was kann mit Bewegungstherapie erreicht werden?
Bei Vorliegen einer Arthrose in einem Gelenk ist der erste Schritt, im Gelenk befindliche mechanische Hindernisse, die immer wieder zu einer Irritation führen, zu beseitigen. Dazu ist oft ein operativer Ein-
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griff (im Kniegelenk meist arthroskopisch) notwendig. Dies ist speziell dann sinnvoll, wenn durch das Trainingsprogramm Gelenksreizungen mit Ergussbildung auftreten. In der Folge müssen dann prädisponierende, schädigende Faktoren wie Bandinstabilitäten oder fehlerhaft vorliegende Achsenverhältnisse korrigiert werden. Dies kann entweder konservativ durch muskuläre Trainingsprogramme oder auch durch operative Maßnahmen geschehen. Anschließend gilt es, durch ein gezieltes Trainingsprogramm die muskuläre Leistungsfähigkeit so zu erhöhen, dass das betroffene Gelenk möglichst physiologisch belastet wird. Ziel ist es, sich wieder schmerzfrei bewegen zu können, den Arthroseverlauf zu verlangsamen bzw. zum Stillstand zu bringen. Liegen nur geringe arthrotische Veränderungen vor, ist mit einer Verbesserung zu rechnen!
Medizinische Bewegungstherapie
Bei der medizinischen Bewegungstherapie ist von Gelenk zu Gelenk ein unterschiedliches Vorgehen zu wählen.
Coxarthrose
Die Coxarthrose betrifft mit ihren Auswirkungen das gesamte Bein, sodass diesem Aspekt hier besonderes Augenmerk zukommt. Die Behandlung mittels medizinischer Bewegungstherapie erfolgt in drei Bereichen: – – –
Dehnung der verkürzten Muskelgruppen und Kräftigung der abgeschwächten gelenksführenden Muskeln koordinativer intramuskulärer Aufbau ein neues sportorientiertes Bewegungsmuster wird aufgebaut, das sich immer am jeweils zuletzt erreichten Zustand orientiert.
Die Situation bei Vorliegen einer Coxarthrose geht aus der folgenden Übersicht hervor: Vorliegen einer Coxarthrose: ■ Schwäche und Verkürzung der Adduktoren ■ Schwäche der Glutealmuskulatur ■ Kapselverschrumpfung mit Einschränkungen der Innenrotation
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■ ■ ■ ■
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Verkürzung des Tractus iliotibialis und des Musculus piriformis sehr häufig Ansatztendinosen im Trochanterbereich mit Bursitis eingeschränkte Extensionsfähigkeit des Beines typisches Coxarthrose-Hinken: Das betroffene Bein wird in der Stützphase frühzeitig abgehoben, und die fehlende Beweglichkeit der Hüfte muss durch die Wirbelsäule kompensiert werden.
Bei einer Coxarthrose treten rezidivierend Reizungen des Gelenks auf. Besonders nach vermehrten Belastungen kommt es zu Schmerzen, die sich aber in relativ kurzer Zeit (Stunden bis Tage) anfänglich wieder legen.
Physikalische Therapie
Eine grundlegende physikalische Therapie besteht – – –
in einer Stabilisation der Lenden-Becken-Hüftregion, einer entsprechenden Dehnung und Kräftigung der betroffenen Muskelgruppen, und primär – falls nötig – in einer Schmerzausschaltung durch physikalische Maßnahmen (Stromgeräte, Massagen, Schmerzinfiltrationen, Stosswellenbehandlung) oder Einnahme von Antirheumatika.
Für den Alltagsbereich spielen eventuell Winkelkorrekturen am Schuh oder eine Stoßminderung durch weiche Sohlen eine gewisse Rolle.
Krafttraining
Der nächste Schritt muss die Basis für eine weitere sportliche Belastbarkeit legen. Dies gelingt mit medizinischem Krafttraining. Hier ist das Ziel, die Beinachsenmuskulatur in allen Ebenen (siehe Abschnitt 5) so weit zu stabilisieren, dass wieder ein physiologischer Bewegungsablauf erfolgen kann. Das nächste Ziel nach der ersten Stabilisationsphase ist es, die bestehende Muskulatur so weit durch Krafttrainingsmaßnahmen zu stärken, dass eine Sportausübung wieder möglich wird, ohne in Grenzwertbelastungen zu gelangen. Dies gelingt nach entsprechenden muskulären Tests, wobei je nach Sportausübung mehr auf Maximalkraft oder auf Kraftausdauer Wert
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gelegt wird. Bevor wieder mit einem Training begonnen wird, muss ein dem gewählten Sport angepasstes neues Bewegungsmuster aufgebaut werden, das sich am jeweils zuletzt erreichten Zustand reorientiert.
Fallbeispiel: Beginnende Coxarthrose eines Marathonläufers
Bei dem Läufer handelte es sich um einen 53-jährigen Mann, der eine Coxarthrose rechts aufwies. In der Fachliteratur ist mehrfach belegt, dass das Laufen nicht zur Coxarthrose führt. Die Coxarthrose war bereits aufgrund anderer Ursachen vor Beginn des Lauftrainings aufgetreten und nicht durch das Laufen ausgelöst worden. Bereits während der oben geschilderten Rehabilitationsmaßnahmen wurde ein so genanntes Umgehungsverfahren gewählt. Ein stabiles neuromuskuläres Koordinationsmuster sollte aufgebaut werden. Die bestehende fehlerhafte Lauftechnik musste so modifiziert werden, dass die Hüfte auch im Marathonlauf belastbar wurde.
Dies wurde in drei Stufen geplant:
Stufe 1: Alle Bewegungen, die dem bestehenden Bewegungsmuster ähnlich waren, wurden vermieden. Ein völlig anderes Bewegungsmusters wurde aufgebaut. Stufe 2: Das neue Bewegungsmuster wurde gefestigt. Stufe 3: Die neue Situation wurde in die Sportausübung, in diesem Fall in das Laufen, eingebaut. Stufe 1 Vorgabe war die unbedingte Vermeidung aller Laufbewegungen. Es wurde ein koordinatives Grundlagentraining durch – – – – – –
Unterwassertherapie, gymnastische Übungen mit dem Ziel der Verbesserung der Mobilität des Hüftgelenkes, die intramuskuläre Koordinationsarbeit, ein Muskelkettentraining, PNF und eine Beinkoordination im Grob- und Feinbereich (Steppübungen, Geschicklichkeitsschulungen, Parfetti, Trampolin) gewählt.
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Parallel dazu wurde der Patient im medizinischen Krafttraining im Einzelmuskelbereich eingeschult. Es erfolgte ein Stabilisatorentraining und Aufbau der schwächsten Glieder. Stufe 2 Die Grundlagen für das neue Hüftbewegungsmuster waren geschaffen: – – – –
höhere Beweglichkeit der Gelenkskapsel bessere Durchblutung durch Abbau des intraartikulären Druckes (des Druckes im Inneren des Gelenkes) Optimierung der Muskelkettenfunktion Schmerzfreiheit
Nun wurde mit Hilfe von Gleittechniken, Langschritttechnik, Riesenschritttechnik, kurzen Steppbewegungen das alte Laufmuster neuromuskulär überlagert. Das gewählte Bewegungsmuster wurde der Zielvorgabe (Laufen) immer mehr angepasst. Im Kraftbereich wurde ein Muskelkettentraining unter besonderer Berücksichtigung der Kraftausdauer durchgeführt. Stufe 3 Diese neu erlernten koordinativen Fähigkeiten und die verbesserte Muskelkettenfunktion versetzten den Läufer nun in die Lage, variabel zu laufen. Er konnte die gewählte Lauftechnik seinem Ermüdungszustand anpassen und auf Übermüdung mit einer Laufstilkorrektur reagieren. Wesentlich für den Langzeiterfolg war die häufige Auffrischung der koordinativen Schulung: – – –
Laufen im wechselnden Gelände mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Neigungen, mit variabler Schrittlänge und Frequenz und auf unterschiedlich dämpfendem Untergrund.
Somit konnte ein Rückfall in die ursprünglich fehlerhafte, monotone Lauftechnik verhindert werden, die sonst in kurzer Zeit wieder ein Arthrose förderndes Bewegungsmuster erzeugt hätte. Die vor Trainingsbeginn bestehenden Schmerzen konnten beseitigt werden, die Freude am Laufsport war wieder vorhanden, die Arthrose konnte röntgenologisch stabil gehalten werden. Als Nebeneffekt erhöhte sich die Bestleistung im Marathonlauf um über 10 Minuten.
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Grundsätzliche Vorsichtsmaßnahmen bei Kraft- und Ausdauertraining
Bei Vorliegen einer Hüftarthrose müssen zusätzlich eine Hüftkopfnekrose ausgeschlossen, Winkelfehlstellungen beurteilt, Beinlängendifferenzen behoben und Wirbelsäulenerkrankungen mitbehandelt werden. Während des muskulären Aufbauprogrammes erfolgt grundsätzlich zuerst eine Dehnung der verkürzten Muskulatur und im Regelfall erst anschließend eine Kräftigung der abgeschwächten Muskulatur. Dies ist schwierig, da schmerzauslösende Bewegungen vermieden werden sollten, um nicht wieder neue reflektorische Hemmmechanismen in Gang zu setzen. Schon eine relative Verkürzung oder Schwäche innerhalb einer Muskelkette genügt, um ein fehlerhaftes Bewegungsmuster zu erzeugen.
Erstellen eines effizienten Muskelaufbauprogramms
Aber auch nach dem Check aller Muskeleinzel- und Kettenfunktionen wartet eine weitere Hürde: die Erstellung eines effizienten Muskelaufbauprogrammes.
Vom System her geht es um Folgendes:
Alle Einzelmuskeln der im vorliegenden Fall gebrauchten Muskelketten sollen in einem auf die Belastung abgestimmten Längen-Kraft-Funktionsverhältnis stehen. Einzelmuskeln oder Gruppen müssen herausgegriffen werden. Je nach Erfordernis werden sie einem speziellen Training unterworfen, das dazu führt, dass diese Muskelgruppe ihre Funktion innerhalb der Kette wieder voll erfüllen kann. Da die ganze Muskelkette meist ebenfalls nicht in optimaler Verfassung ist, muss sie auch als Gesamtheit verbessert werden.
Stufenweise Neuorientierung am jeweiligen Ist-Zustand
Während des Krafttrainings ist gleichzeitig der Aufbau eines jeweils neuen Bewegungsmusters zu beachten, das sich immer am erreichten Momentanzustand orientiert. Wie das funktioniert, lässt sich am einfachsten am Beispiel eines jugendlichen Sportlers erklären: Auf die Schulung der koordinativen Fähigkeiten ist bei jungen Sportlern, die sich in der Pubertät befinden, besonderes Augenmerk
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zu richten. Gerade im Alter von 11–13 Jahren ist eine rasante Wachstumsbeschleunigung zu registrieren. Manche Jugendliche wachsen in einem Jahr bis zu 16 cm. Für den Sport heißt das: Der Jugendliche muss gewaltige koordinative Anstrengungen erbringen, um die messbare sportliche Leistung auch nur annähernd halten zu können. Er muss mit Beinen umgehen können, die plötzlich 10 cm länger sind als im Jahr zuvor, und trotzdem den Ball mit Präzision treffen. Er muss, z.B. im Schisport, Fliehkräfte auffangen, die bei einer Gewichtszunahme von 8 kg und einem Längenzuwachs von 14 cm etwa um 30–50% ansteigen können. In der Praxis werden immer wieder Trainingsblöcke eingebaut, die die Koordination schulen und die Technik der veränderten körperlichen Situation anpassen. Ähnlich verhält es sich bei Erkrankungen am Bewegungsapparat: Die sportbezogene Technik muss immer der jeweils erreichten Rehabilitationssituation angepasst werden. Bereits beherrschte Bewegungsabläufe müssen bei geänderten muskulären Verhältnissen wieder neu automatisiert werden. Und dies nicht nur 1- oder 2-mal, sondern laufend und in regelmäßigen Abständen bis zum Abschluss der Behandlung und darüber hinaus! Am Ende der medizinischen Bewegungstherapie sollte ein Zustand erreicht sein, der in diesem Stadium der Arthrose nicht nur Schmerzfreiheit garantiert, sondern auch eine weitere Verbesserung in Aussicht stellt. Positive Veränderungen durch das Training – – – –
Funktionsverbesserung geringere intraartikuläre Druckverhältnisse verbesserte Durchblutung der Gewebe verbesserte Ernährung des Knorpels, durch Be- und Entlastung im erforderlichen Maße
Eine Verlangsamung des weiteren Arthroseverlaufes ist damit absolut zu erwarten, in vielen Fällen sogar eine Verbesserung der Knorpelsituation.
Geringe Risiken bei wohl dosiertem Training
Bei gut gewähltem Aufbau des Rehabilitationsprogrammes und einer langsamen Hinführung zum gesteckten Ziel gibt es bei der Arthrose relativ geringe Risiken.
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Es können allerdings auch Fehler auftreten: ■ zu hoch gewählte Belastungen ■ übertriebene Zielvorstellungen ■ fehlende – an sich primär notwendige – operative Maßnahmen
Wenn während der Absolvierung des Trainingsprogrammes Beschwerden oder Schwellungen des betroffenen Gelenkes auftreten, so muss eine Neuorientierung des Behandlungsplanes erfolgen!
Begleitende Maßnahmen
Besonders bei der Coxarthrose sollte man langes Stehen auf einem Bein und Schlendern auf Asphalt (Schaufensterbummel) möglichst vermeiden. Bei diesem Bewegungsmuster kommt es wegen der langen Belastungsphasen im gleichen Winkel zu geringeren Durchblutungen und zu mangelnder Ernährung des Knorpels. Damit ist eine Verschlechterung vorprogrammiert. Weiters müssen hohe Stoßbelastungen oder Überlastungen während des Alltags möglichst vermieden werden. Tägliche Dehnungsübungen sind vernünftig. Eine ausgewogene Ernährung ist sinnvoll, eine spezielle „Arthrosediät“ gibt es aber nicht. Die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln ist im Einzelfall zu überlegen, aber nicht generell zu befürworten. Verschiedene medizinische Arthrosepräparate, wie Hyaluronsäure, zeigen oft gute Wirkung. Vor ihrer Verabreichung sollte immer mit dem betreuenden Arzt Rücksprache gehalten werden. Sport bei Arthrose des Kniegelenkes
Sind die Gelenke der unteren Extremität von einer Arthrose betroffen, ist – wie oben erwähnt – die Ausübung der gewünschten Sportart in vielen Fällen möglich. Grundsätzlich gelten beim Kniegelenk die gleichen therapeutischen Maßnahmen wie bei der Arthrose des Hüftgelenkes oder des Sprunggelenkes. Besonderheiten beim Kniegelenk
Beim Kniegelenk ist allerdings auf eine Besonderheit zu achten: Trotz röntgenologischer Arthrosezeichen können die Beschwerden auch andere
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Ursachen haben. Es können ein zerrissener Meniskus, Bandinstabilitäten und Fehlkoordinationen vorliegen. Sind zusätzliche Meniskusverletzungen vorhanden, ist es sehr vorteilhaft, vor Beginn eines Trainingsprogrammes eine arthroskopische Säuberung des Gelenkes durchzuführen. Durch die vermehrte Belastung bestünde sonst die Gefahr, die vorliegenden Schäden zu vergrößern. Belastbarkeit und Schädigung des Gelenksknorpels
Auch die Beurteilung der Belastbarkeit des Gelenksknorpels ist eine heikle Sache, da es sehr unterschiedliche Schädigungsformen gibt. Oberflächliche, flächenhafte Degenerationen mit Erweichung oder leichten Fransenbildungen bedürfen meist keines operativen Eingriffs. Liegen aber tiefe Einbrüche im Belastungsbereich vor, so kann die Belastungserhöhung schädigend wirken. Besonders gefährlich sind Knorpelablösungen, die durch Training immer größere Areale betreffen können. Die exakte Feststellung des Ausmaßes der Knorpelschädigung ist auch im Zeitalter der Kernspintomographie de facto nur durch eine Arthroskopie möglich. Bei Kniebeschwerden muss ein operativ ausgerichteter Spezialist die Situation genau beurteilen und eventuell notwendige operative Maßnahmen durchführen. Nur unter diesen Voraussetzungen kann die Ausübung von Sport, der Beginn eines Rehabilitationstrainings oder eines medizinischen Krafttrainings als sinnvoll erachtet und ins Auge gefasst werden. Folgende Möglichkeiten bestehen: – – – –
Teilresektion des Meniskus Glätten der degenerativ veränderten Knorpeloberflächen Maßnahmen, die das Knorpelwachstum anregen Knorpeltransplantation Achsenfehlstellungen
Auch vorliegende – ein gewisses Maß überschreitende – Achsenfehlstellungen sollten vor Zunahme der Kniebelastungen korrigiert werden. Seitenbandinstabilitäten
Bei bestehenden Seitenbandinstabilitäten ist abzuwägen, ob ein spezielles Training ausreicht oder ob operative Maßnahmen gesetzt werden müssen.
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Das Problem des gerissenen vorderen Kreuzbandes wird sehr unterschiedlich beurteilt. Je nach Zielsetzung kann eine muskuläre Stabilisierung ausreichen. Abhängig vom Alter, dem Ausmaß der bestehenden Arthrose und der biomechanischen Parameter der gewünschten Sportart ist aber häufig die Bandersatzoperation anzuraten. Die Operationsmethoden haben sich in diesem Bereich wesentlich verbessert. Die Durchführung erfolgt arthroskopisch und die Verankerungen, die eine primäre Festigkeit bieten, sind resorbierbar. Es ist keine Ruhigstellung mehr nötig und fast normales Gehen in wenigen Tagen möglich. Die Entscheidung für oder gegen eine Operation sollte nicht altersbezogen gefällt werden, sondern sich an der Funktion und der Zielsetzung orientieren! Sie muss nicht sofort erfolgen, sondern kann sich nach der Reaktion auf die gesetzten Trainingsreize richten. Treten Gelenksreizungen, wie Schwellung oder Schmerzen, beim Training auf, so ist ein operativer Eingriff anzuraten. Sonst kann es durch die geschilderten Trainingsmaßnahmen oder die Wiederausübung des Sports sehr wohl zu Schäden kommen.
Sport und Training bei Arthrose des Sprunggelenkes
Das Hauptproblem ist hier die verminderte Beweglichkeit, sodass eine physiologische Abrollbewegung nicht möglich ist. Die Dorsalflexion des Fußes ist eingeschränkt, die Ferse wird beim Gehen und Laufen zu früh vom Boden abgehoben. Die Belastung liegt vermehrt im vorderen Bereich des Sprunggelenkes und am Vorfuß, hier treten auch die meisten Schmerzen auf. Die folgende Überlastung der Achillessehne führt zu einer Verkürzung der hinteren Wadenmuskulatur. Weiters folgt eine Fehlbelastung des Kniegelenkes und der gesamten Beinachse. Sofern nicht zusätzlich massive Bandinstabilitäten vorliegen, besteht die primäre Behandlung in dem Versuch, die fehlende Beweglichkeit wiederzuerlangen. Sie umfasst Dehnungs- und Mobilisationsübungen, eventuell kann kurzfristig der Schuhabsatz erhöht und eine Schmerzbehandlung durchgeführt werden. Ist keine ausreichende Verbesserung möglich bzw. sind die geplanten Trainingsmaßnahmen nicht umsetzbar, bietet sich auch hier ein operativer Eingriff an. Die einklemmenden Gelenksstrukturen werden beseitigt. Exostosen (Knochenvorsprünge) am Schienbein und am Sprungbein können entfernt, die Knorpeloberfläche geglättet und hypertrophierte und entzündete Gelenkskapselanteile beseitigt werden. Damit lässt sich häufig ein ausreichendes Bewegungsausmaß erzielen und eine weitere Schädigung verhindern.
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Zusammenfassung
Es gibt kaum Hinweise, dass Sport die Arthroseentstehung fördert. Sport kann aber bei bestehender Arthrose ohne medizinische Maßnahmen schädlich sein!
Bei Arthrosen der belasteten unteren Extremitäten (des Hüft-, Knieoder Sprunggelenks) müssen folgende Aspekte berücksichtigt werden: – –
– –
zuerst genaue Statuserhebung im Gelenksbereich durch einen entsprechend geschulten Spezialisten anschließend gemeinsam mit diesem eine Programmgestaltung zur neuromuskulären Koordination und Wiederherstellung der Muskelkettenfunktionen Kräftigung durch medizinisches Training Wiedereinbau der erlangten neuen Bewegungsqualität in den gewählten Sport
Eine vollständige Betreuung muss alle Aspekte umfassen: Einzelerkrankungen dürfen nicht blind machen. Der Patient muss als Ganzes gesehen und das Für und Wider einzelner Maßnahmen genau abgewogen werden.
4. Training bei Osteoporose Die Osteoporose ist eine Erkrankung, die häufiger ist als angenommen. Seit 1900 hat sich die Zahl der Erkrankten versechsfacht, sie betrifft hauptsächlich Frauen. Die Wirbelsäule ist am meisten befallen. Diese Erkrankung hat nämlich zuerst die Verminderung der innen liegenden Knochenbälkchen zur Folge und die Wirbelkörper bestehen hauptsächlich aus spongiosen Bälkchen. Es geht um die Bilanz zwischen auf- und abgebautem Knochenmaterial: Bei gesundem Organismus wird annähernd gleich viel altes Knochenmaterial abgebaut wie neues geschaffen. Somit ist die ständige Erneuerung des Knochens gewährleistet und die Qualität bleibt erhalten. Bei Inaktivität wird weniger neues Knochenmaterial gebildet, bei Training erhöht sich die Anbaurate. Etwa ab dem 50. Lebensjahr kann die Bilanz erheblich gestört werden. Allein durch die physiologische Altersathrophie geht jährlich etwa
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1% der Knochensubstanz verloren. Bei der Postmenopause-Osteoporose beträgt der Verlust bereits 2–4% pro Jahr. Gesellt sich noch eine Inaktivitätsathrophie dazu, so kann der Verlust auf bis zu 6% pro Jahr steigen. Nach dem 75. Lebensjahr steigt dann auch die Wahrscheinlichkeit von Oberschenkelhalsfrakturen dramatisch an. Bereits vorher zeigen sich sehr häufig Wirbelkörpereinbrüche. Die Erkrankung betrifft beide Geschlechter, wobei Frauen im Verhältnis von etwa 4:1 deutlich häufiger betroffen sind als Männer. Die Krankheit wird weltweit massiv unterschätzt. In Österreich etwa wird angenommen, dass nur 10–15% aller therapiepflichtigen Osteoporosen auch wirklich kausal behandelt werden!
Ursachen und Verlauf der Osteoporose
Die Entstehung der Osteoporose hängt von mehreren Faktoren ab: ■ ■ ■ ■ ■ ■ ■
Lebensalter Bewegung Sport Sexualität Sonnenexposition Art der Ernährung Grad der Belastung des Skelettes im Jugend- und Entwicklungsalter Heute stehen zahlreiche Behandlungskonzepte zur Verfügung:
– – – – – –
Hormontherapie Aktivierung der Knochen-anbauenden Zellen (Osteoblasten) Hemmung der Knochen-abbauenden Zellen (Osteoklasten) Änderung der Ernährung Erhöhung der körperlichen Aktivität Vergrößerung des Kalziumangebotes
Bewegung als Therapie der Osteoporose?
Die Osteoporose ist eine der Erkrankungen, die durch Erhöhung der körperlichen Aktivität ganz wesentlich beeinflusst werden kann. Die Bewegungstherapie stellt eine der tragenden Säulen dieser Therapie dar! Voraussetzung für den Beginn einer Bewegungstherapie ist allerdings eine vollständige Abklärung. Insbesondere müssen so genannte sekundäre Osteoporosen, die aufgrund anderweitiger Erkrankungen (z.B. Tumor, Cortisontherapie) auftreten, ausgeschlossen werden.
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Weiters muss der Knochenstoffwechsel durch Laborparameter dargestellt und die Knochendichte mit Hilfe der DEXA-Methode (Dual Energie X-Ray Absorptiometrie) untersucht werden. Danach kann die vorliegende Erkrankung in 4 Schweregrade eingeteilt werden. Stadien der Osteoporose: Schweregrad 0 (Osteopenie): Hier handelt es sich um eine Minderung der Knochendichte (keine Frakturen) im Vergleich zur maximalen Knochenmasse im jungen Erwachsenenalter. Schweregrad 1 (präklinische Osteoporose): Der Knochenmineralgehalt ist deutlich erniedrigt, Frakturen liegen noch nicht vor. Dies entspricht einer höhergradigen Osteopenie, die bereits mit einem erhöhten Frakturrisiko einhergeht. Schweregrad 2 (manifeste Osteoporose mit ersten Frakturen): Der Knochenmineralgehalt ist deutlich erniedrigt, es bestehen bereits erste Wirbelkörperfrakturen, meist im Bereich der Brust- oder Lendenwirbelsäule. Schweregrad 3 (manifeste Osteoporose mit multiplen Frakturen): Einbrüche liegen auch bereits außerhalb der Wirbelsäule vor. Anhand der Osteoporose-Stadieneinteilung kann anschließend ein spezifisches therapeutisches Bewegungsprogramm individuell entwickelt werden. Dabei ist nicht nur die Knochendichte zu beurteilen, sondern auch das Körpergewicht, die bisherige Aktivität, Zusatzerkrankungen, der Ernährungszustand etc.
Signifikante Verbesserungen durch Bewegung
Durch vermehrte Bewegung und Sport kann eindeutig eine signifikante Besserung der Knochensubstanz und eine Erhöhung der Knochendichte erreicht werden. Die Dichte nimmt an bestimmten Stellen des Skelettes bei körperlicher Aktivität um bis zu 26% zu. Allein durch Ausdauertraining scheint eine Erhöhung des Knochenmineralgehaltes von etwa 1% pro Jahr erreichbar zu sein. Es wurde nachgewiesen, dass umgekehrt bei fehlender Belastung bzw. Immobilisation die Knochenmasse in einem Zeitraum von 27 Tagen um etwa 0,9% pro Woche abgebaut wird! Weiter gibt es auch sehr deutliche Hinweise dafür, dass eine hohe Intensität an Sport sich besonders positiv auf den Knochen auswirkt. Leichte bis mittlere sportliche Aktivitäten hingegen zeigen nur relativ schwache Wirkung.
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Regelmäßiges körperliches Training verlangsamt zumindest den Krankheitsverlauf. Während der Jahre der Trainingsausübung ist auch eine Verbesserung möglich! Durch Training werden – – – – –
die Muskelkraft verbessert, die Koordination geschult, das Sturzrisiko minimiert, bei Vorliegen von Wirbelkörperfrakturen ein weiteres Absinken der Wirbelkörper verlangsamt bzw. weitere Frakturen verhindert.
Wie sollte das Training aufgebaut sein?
In den allgemeinen Empfehlungen des American College of Sports Medicine werden einige Hinweise sowohl zur Prävention als auch zur Therapie von Osteoporose gegeben. Im Wesentlichen sollten die Ausdauer, die Kraft, die Koordination und die Flexibilität trainiert werden.
Ausdauertraining
Besonders bei Frauen, die viel sitzen, verringert sich bereits durch Vermehrung der Alltagsaktivitäten (mit dem Rad statt mit dem Auto fahren, Treppen statt den Lift benützen) das Erkrankungsrisiko. Ausdauersportarten sind äußerst effizient. Hier werden etwa 30–60 Minuten kontinuierlichen Ausdauertrainings 3- bis 6-mal pro Woche mit Erreichen von etwa 65–90% der maximalen Herzfrequenz empfohlen. Je nach Trainingszustand muss eine Adaptationsphase vorgeschaltet werden, in der nur mit 35–54% der maximalen Herzfrequenz trainiert wird. Geeignete Ausdauersportarten sind: – – – – – – –
Laufen Radfahren Wandern Schilanglauf Tanzen Aquajogging Stickwalking
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Krafttraining
Hier wird ein 2- bis 3-maliges Krafttraining pro Woche mit 8 bis 10 unterschiedlichen Übungen, die die großen Muskelgruppen beanspruchen, empfohlen.
Koordinations- und Flexibilitätstraining
Die großen Muskelgruppen sollten 2- bis 3-mal pro Woche gedehnt, die Koordination geschult werden. Je nach Stadium der vorliegenden Erkrankung sind unterschiedliche Belastungsintensitäten vertretbar. Die vorgeschlagenen Trainingsmaßnahmen können auf keinen Fall eine medikamentöse Therapie und eine ständige Überwachung ersetzen!
Prävention der Osteoporose
Der Intensitätsgrad der gewünschten körperlichen Belastung muss in diesem Fall nicht eingeschränkt werden. Sämtliche Trainingsformen – auch im Intensivbereich und Sportarten mit sehr hohen punktuellen Belastungsspitzen – sind nach entsprechender Vorbereitung ohne weiteres durchführbar. Wesentlich dabei erscheint die Regelmäßigkeit der Anwendung und die Vermeidung von periodischen Überlastungen. Je nach Stadium der Erkrankung sind unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen.
Schweregrad 0 (Osteopenie ohne Frakturen)
Hier sollte sich der Schwerpunkt von der Sportausübung in Richtung Aufbaumaßnahmen wie Krafttraining, Koordination und Aufbautraining verschieben.
Schweregrad 1 (präklinische Osteoporose ohne Frakturen)
Hier liegt bereits ein erhöhtes Frakturrisiko vor allem im Bereich der Wirbelsäule vor, sodass Sportarten mit hohen Belastungsspitzen gemie-
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den werden sollten. Zu diesen Sportarten zählen sämtliche Schnellkraftsportarten (Zweikampf- oder Ballsportarten wie Basketball, Handball), aber auch hohe Belastungen im Rahmen des intensiven Joggens. Somit sollte hier auf weiche Sportarten wie Schilanglauf, Nordic Walking, Radfahren und Schwimmen ausgewichen werden. Schweregrad 2 und 3 (manifeste Osteoporose mit bereits vorliegenden Knocheneinbrüchen)
Eine Wiederherstellung der Koordination insbesondere der Wirbelsäule, eine Haltungsschulung mit Verstärkung der Muskelkraft des Rumpfes und eine gezielte Bewegungskoordination der unteren Extremitäten erscheinen sinnvoll. Nach einem länger dauernden Adaptationsprogramm (etwa 2–3 Monate!) kann eine zunehmende Gewichtserhöhung stattfinden. Direkte Druckbelastungen der Wirbelsäule sollen durch die entsprechende Übungsauswahl möglichst reduziert werden. Im Ausdauerbereich empfiehlt sich besonders Radfahren. Ein individueller Trainingsplan muss sich nach Form und Größe der einzelnen Wirbelkörpereinbrüche bzw. nach der Knochendichte im Schenkelhals richten. Das Ziel muss aber sein, die körperlichen Aktivitäten wieder auf ein Normalmaß zu erhöhen, um ein weiteres Fortschreiten der Osteoporose zumindest verlangsamen zu können. In der Anfangsphase eignet sich besonders Training im Wasser (spezifische Unterwasserkoordinationsübungen, Aquajoggen etc.), da hier eine muskuläre Aktivitätserhöhung mit gleichzeitiger Verringerung der Belastung des tragenden Skelettes durchführbar ist.
Risiken beim Trainingsaufbau
Die größte Gefahr liegt in der Überlastung des Patienten, einerseits durch Unterschätzung des vorliegenden Frakturrisikos, andererseits aber auch durch den Ehrgeiz des Patienten selbst. Eine der wichtigsten Maßnahmen ist es daher, Geduld zu zeigen. Je nach Schweregrad der Osteoporose ist mit einem Basistrainingsaufbau von etwa einem halben Jahr zu rechnen, bei dem nur geringe Belastungen erfolgen dürfen. Im nächsten halben Jahr wird die Belastung dann langsam dahingehend gesteigert, dass eine leichte Sportausübung wieder möglich ist.
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Liegen bereits mehrere Frakturen im Wirbelbereich vor, so muss die Zielsetzung klar festgelegt werden: Belastende, so genannte harte Sportarten dürfen nie wieder ausgeübt werden!
Beim Krafttraining ist auf eine exakte Übungsausführung zu achten. Insbesondere die Wirbelsäule darf nur so belastet werden, dass eine gleichmäßige Flächenbelastung auf die Wirbelkörperdeckplatten trifft. Es dürfen nie Übungsformen gewählt werden, bei denen die Wirbelkörper in einem größeren Winkel zueinander stehen!
Dies würde zwangsläufig zu einer punktuellen Druckerhöhung an den Wirbelkanten und damit zu einem frühzeitigen Einbrechen führen.
Life-Style-Maßnahmen
Als begleitende Maßnahme ist eine Änderung der Lebensführung notwendig. Insbesondere sind hier zu nennen: – – – – –
Stressabbau Ernährungsumstellung Gewichtsabnahme regelmäßige Schlafphasen (Entlastungshaltung der Wirbelsäule) Erhöhung der allgemeinen körperlichen Aktivität
Diese Maßnahmen beeinflussen nicht nur per se bereits die Osteoporose, sondern tragen auch dazu bei, dass das begonnene Training intensiver durchgeführt werden kann. Überbelastungen sind dann nicht zu befürchten.
Sport trotz Osteoporose?
Jeder Patient hofft, die von ihm gewünschten Sportarten wieder ausüben zu können. In sehr vielen Fällen ist dieses Ziel auch erreichbar, wenn die Sportarten entweder weniger intensiv durchgeführt oder aber verschiedene Aspekte verändert werden.
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Schifahren
Schifahren ist auch in den Osteoporosestadien 2 und 3 möglich, wenn die muskulären Haltevoraussetzungen aufgebaut worden sind. Allerdings sollten einige Zusatzmaßnahmen beachtet werden: Weiche Schischuhe ermöglichen eine gute Beweglichkeit und vermeiden, dass direkte Stöße auf den Bewegungsapparat übertragen werden. Auch bei der Auswahl des Schimaterials kann vieles der Situation angepasst werden. So sollten z.B. keine extremen Carvingschi gefahren werden, da die Druckbelastungen bei dieser Schitechnik zu hoch sind! Es sollte ein relativ kurzer, weicher und drehfreudiger Schi gewählt werden. Bei vereisten Pisten oder bei schweren Schneeverhältnissen sollte lieber auf das Schifahren verzichtet werden. Zu schnelles Fahren birgt durch die Sturzgefahr ein sehr hohes Risiko in sich, sodass immer ein kontrolliertes Tempo eingehalten werden muss. Bei Fahrten in offenen Aufstiegshilfen kühlt der Körper ab, die Leistungsfähigkeit wird herabgesetzt und muss durch Aufwärmübungen wiederhergestellt werden.
Joggen
Nicht nur einmalige hohe Belastungen, sondern auch regelmäßig wiederkehrende Belastungen, die die Schwachstellen im Skelettbereich immer wieder im gleichen Belastungswinkel treffen, können letztlich Schäden (Ermüdungsbrüche) verursachen. Dem kann durch weiches Schuhwerk, noch besser durch Laufen in abwechslungsreichem unebenem Gelände entgegengewirkt werden. Durch unterschiedliche Schrittlänge und Winkelverhältnisse variiert auch die Belastung.
Volleyball
Volleyball kann nach entsprechendem Vorbereitungstraining gespielt werden. Je nach Schweregrad der Osteoporose müssen besonders schädigende Teilaspekte (Springen beim Angriff oder beim Block, Hecht-Bagger, Versuch, schwere Bälle zu erreichen) vermieden werden. Dann können Volleyball und andere Sportarten, wie z.B. Tennis, alters- und krankheitsangepasst betrieben werden.
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5. Sport mit künstlichem Gelenksersatz In Österreich wurden im letzten Jahr zirka 13.000 Hüftgelenke und 6.500 Kniegelenke implantiert. Der jährliche Anstieg der Operationszahlen beträgt bei den Hüften etwa 0,5–1% und im Bereich der Kniegelenke sogar 2–4%. In den USA wurden in den letzten 20 Jahren grob geschätzt 2,5 Millionen Hüftprothesen implantiert. Zahlreiche Patienten möchten trotz eines implantierten Kunstgelenkes ihren Sport weiterhin betreiben bzw. sollten aufgrund anderer Erkrankungen (Herzkreislauf, Adipositas, Diabetes etc.) ein Rehabilitationstraining durchführen. Es besteht in diesem Zusammenhang allerdings eine große Unsicherheit, welche Sportarten in welchem Ausmaß noch möglich sind und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen.
Wann muss ein künstliches Gelenk implantiert werden?
Meist besteht eine massive Arthrose mit Bewegungsschmerzen, was letztlich dazu führt, dass ein künstliches Gelenk implantiert wird, um einen normalen Tagesablauf zu gewährleisten. Meist ist nicht nur ein Gelenk betroffen, sondern es liegen auch zahlreiche andere degenerative Veränderungen im Bewegungsapparat vor, insbesondere an der Wirbelsäule. Daraus resultiert, dass in einem Großteil des Bewegungsapparates keine physiologischen Bewegungsmuster mehr bestehen und bei der Rehabilitation nicht nur das eine Gelenk isoliert betrachtet werden kann. Verschiedene Ängste von Patienten führen dazu, dass Implantationen von Prothesen erst zu einem Zeitpunkt erfolgen, der eigentlich schon als zu spät bezeichnet werden muss. Die Muskulatur hat bereits stark abgenommen, das Bewegungsausmaß ist deutlich zurückgegangen, sekundäre Bewegungsschäden an der Wirbelsäule und am Kniegelenk sind bereits aufgetreten. Ist eine Muskelgruppe einmal über ein bestimmtes Maß degeneriert, so gestaltet sich der postoperative Aufbau sehr problematisch und langwierig. Manchmal würde der Röntgenbefund ein Zuwarten bei einer Hüftarthrose erlauben. Wenn aber aufgrund des Bewegungsausmaßes und der Muskelstruktur ein deutliches Defizit eingetreten und der Fortschritt der Arthrose klar ersichtlich ist, muss früher oder später eine Prothese implantiert werden. In diesem Fall sollte lieber früher als zu spät operiert werden.
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Nutzen und Ziele der Implantation eines künstlichen Gelenkes sind vielfältig. Dazu gehören: – – – –
Schmerzfreiheit des Patienten erhöhte Beweglichkeit des Gelenkes Wiederherstellung eines normalen Bewegungsmusters Möglichkeit sportlicher Aktivitäten und medizinischer Rehabilitationsmaßnahmen
Welche Ziele hat der Patient und wie kann er diese erreichen?
Die einzelnen Patienten streben sehr unterschiedliche Ziele an. Viele sind bereits zufrieden, wenn sie die ersten beiden Punkte (Schmerzfreiheit und ein normales Bewegungsmuster) erreicht haben, andere wiederum möchten gerne Schi fahren, schwimmen und ihre Lieblingssportarten ausüben. Für die erste Gruppe der Patienten genügt in der Regel ein Nachbehandlungsschema, das erstens die Stabilität der Hüfte wiederherstellt, zweitens ein normales Bewegungsmuster erreicht und drittens Schmerzfreiheit bewirkt. Dies ist mit den üblichen heilgymnastischen Maßnahmen erreichbar, wobei Stützkrücken 6–12 Wochen nach Operation das Hüftgelenk entlasten müssen. Während dieser Zeit wird bereits eine passive Bewegungstherapie sowie eine Wassertherapie durchgeführt. Nach der Entlastungszeit wird dann zunehmend ein aktives Programm zur Muskelrehabilitation durchgeführt. Für die zweite Gruppe der Patienten sind diese Maßnahmen jedoch unzureichend. Um die notwendigen Trainingsprogramme erstellen zu können, müssen zuerst die weiteren Ziele und Voraussetzungen geklärt werden: – – – –
Welchen Sport will der Patient ausüben? Welche Intensität ist möglich? Welche muskulären Voraussetzungen liegen vor? Wie ist der grundsätzliche Erfolg der Prothesenimplantation? – Besteht eine absolute Festigkeit, sind Luxationen zu erwarten, wie ist die Beweglichkeit der Hüfte? – Welche zusätzlichen Erkrankungen und Schäden an der Wirbelsäule oder an anderen Gelenken liegen vor?
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Dann muss festgestellt werden, welche Spitzenbelastungen bei der gewünschten Sportausübung auftreten und ob diese dem implantierten Gelenk zumutbar sind. Darin besteht an sich die größte Schwierigkeit. Biomechanische Messungen im Labor sind diesbezüglich nicht sehr aufschlussreich. Die jeweiligen Krafteinwirkungen auf das künstliche Gelenk sind sehr individuell vom Bewegungsmuster, von der muskulären Situation sowie von der Art der Durchführung abhängig! Ganz grundsätzlich sollten aber folgende Aspekte beachtet werden: ■ Bewegungen der Hüfte mit maximaler Außenrotation und gleich-
zeitiger Adduktion sollten vermieden werden. Es besteht Luxationsgefahr oder das Risiko einer Dehnung der vorderen Gelenkskapsel. ■ Häufige Stoß- bzw. Spitzenbelastungen schaden sowohl dem Gleitlager der Prothese (meist Polyäthylen) als auch dem Übergang der metallenen Prothesenschale zum Knochen (sie haben unterschiedliche Biegeverhalten). Dadurch kann es entweder zur frühzeitigen Abnützung der Gelenkspfanne oder aber zu Lockerungen am KnochenProthesen-Übergang kommen. Der Knochen beginnt sich nämlich bei zu hohen Belastungsspitzen zurückzuziehen. ■ Starke muskuläre Ermüdungen müssen generell vermieden werden. Die künstlichen Gelenke sind darauf angewiesen, dass die Muskulatur funktionsfähig ist. Je besser die Muskulatur, desto geringer ist die Belastung der Gelenke. Tritt starke Ermüdung ein, so fehlt dieser Muskelschutz und es können Schäden am Gelenk auftreten. Dies passiert z.B. bei Bergtouren, wenn die Streckenführung schlecht gewählt ist. Wenn die Muskulatur bereits vor dem Abstieg erschöpft ist, werden die Gelenke beim Bergabgehen sehr belastet. Wo liegen weitere Risiken?
Grundsätzlich besteht natürlich bei übermäßiger Belastung eines künstlichen Gelenkes das Risiko einer vorzeitigen Abnützung oder Lockerung! Der Bewegungs- und Belastungsumfang muss für jeden Patienten individuell bestimmt werden. Das Ausmaß der Belastbarkeit ist nur nach vorhergehender exakter Statuserhebung annähernd festzulegen: Was muss bei der Statuserhebung erfasst werden? –
Der Operateur muss die Festigkeit der Prothese einschätzen und das vorliegende Knochengewebe beurteilen. Es muss besprochen werden, welche eventuelle Luxationsgefahr bestehen könnte, wie weit die Hüftmuskulatur abgelöst werden musste und belastbar ist.
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Beurteilung der Röntgenbilder: Hier kann die Festigkeit der Prothese im Laufe der Jahre erkannt werden. Erste Lockerungszeichen zeigen sich als Saumbildungen um die Prothese oder den Zementmantel. Bereits vorher können eventuell feine Strukturveränderungen im Grenzgebiet zwischen Prothese und Knochen erkennbar sein. Im weiteren Verlauf kann die Pfanne nach innen oder oben wandern oder der Prothesenschaft absinken. Die letzten beiden Kriterien können nur im direkten Vergleich mehrerer Röntgenbilder festgestellt werden. Eventuell auftretende Bewegungsschmerzen müssen sehr ernst genommen werden. Es muss immer abgeklärt werden, ob diese Beschwerden nicht eine beginnende Lockerung eines Prothesenteils darstellen. Dichtemessungen der Knochenstruktur können oft sehr hilfreich sein. Das genaue passive und aktive Bewegungsausmaß im betroffenen Gelenk muss dokumentiert, weiterverfolgt und kontrolliert werden. Laufende Muskelfunktionstests und Belastungstests sind erforderlich. Achtung: Tritt im Training statt einer erwarteten Steigerung eine plötzliche Leistungsabnahme auf, weist dies auf eine Störung im Gelenk hin!
–
Regelmäßige Gang- bzw. Bewegungsanalysen können ebenfalls schon frühzeitig Schäden erkennen lassen bzw. den Erfolg des Trainings bestätigen.
Normales Gehen oder Treppensteigen belastet künstliche Gelenke bei sportlicher Aktivität und guter Muskulatur weit weniger als bei schlechter Muskulatur. Dies ist durch biomechanische Messungen belegt. Wie bereits aus dem Verlauf der Gelenksarthrosen zu erkennen war, besteht folgender Zusammenhang: Reizungen oder Schäden eines Gelenkes führen reflektorisch zu einer Muskelabschwächung. Die Muskelabschwächung belastet das Gelenk in unphysiologischer Weise, worauf pathologische Belastungen zunehmen. Sie bewirken eine weitere Verschlechterung des Gelenkszustandes. Diese Zusammenhänge gelten grundsätzlich auch für frühzeitige Abnützungen oder Lockerungen von künstlich implantierten Gelenken. Bei der Ausübung der einzelnen Sportarten kommt es zu unterschiedlichen Belastungen. Die Muskelkraft bzw. die Koordination der Muskelketten und die neuromuskuläre Innervation müssen dem Sport angepasst und die Voraussetzungen für gesteigerte Belastungen geschaffen werden.
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Welche weiteren Faktoren sind zu beachten?
Das grundsätzliche Ziel besteht darin, bei Belastung des operierten Beines fehlerhafte Abweichungen aus der Bewegungsachse (sowohl als Knick- oder Fehlrotationsabweichung) zu vermeiden. Dies gilt sowohl für Hüft- als auch für Knie- und Sprunggelenksprothesen. Daraus resultiert, dass speziell durch Krafttraining die Muskulatur so weit gestärkt werden muss, dass eine Achsenstabilität vorliegt. Um ein Bein zu stabilisieren, sind folgende Überlegungen zu berücksichtigen: –
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Abweichungen vom physiologischen Bewegungsmuster können durch Insuffizienzen im Bereich des Fußgewölbes, des Sprunggelenkes, des Kniegelenkes und der Lenden-Becken-Hüft-Region entstehen. Alleine das fehlerhafte Abknicken im Fußgewölbe nach innen bewirkt vermehrte Belastungsspitzen im Bereich des Knies oder des Hüftgelenkes durch Rotationsfehler bzw. Valgusstress. Da im Bereich des Fußes sämtliche Kräfte zusammentreffen und auf den Untergrund übertragen werden, ist dies ein wesentlicher Aspekt. Er wird aber sehr häufig übersehen! Weiters summieren sich im unteren Beinbereich sämtliche von oben kommenden Fehler. Im Bereich des Kniegelenkes können muskuläre Instabilitäten ebenfalls zu Fehlrotationen und Knickbildungen führen. Das Hüftgelenk ist als Kugelgelenk sehr anfällig für Fehlsteuerungen, sodass besonders die Hüftrotatoren-Muskulatur im Training beachtet werden muss. Jede fehlerhafte Beckenkippung führt zu weiteren Verkettungen im Bereich des Beines. Daher muss eine gezielte Stabilisierung der Rumpfmuskulatur und des Halteapparates der unteren Wirbelsäule erreicht werden. Beim Trainingsaufbau gilt das Prinzip: z von proximal nach distal!
Das bedeutet, dass das Training bei der Stabilisierung der Lendenwirbelsäule und des Beckens beginnt. Dies kann bereits während der Rekonvaleszenzphase durchgeführt werden, da das Hüft- oder Kniegelenk hier kaum belastet wird. Ist nun durch entsprechendes Training der Bauch- und Rückenmuskeln eine diesbezügliche Stabilität erreicht, so wird der weitere Schwerpunkt auf die Glutealmuskulatur gelegt. Der Musculus glutaeus
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medius (Hüftabduktor) und die Hüftinnenrotationsmuskeln sind zu trainieren. Die Hüftaußenrotationsmuskeln sollten in dieser Phase primär gedehnt und dann erst gekräftigt werden! Um die gesamte Beinachse zu stabilisieren, ist nicht nur eine Kräftigung der Oberschenkelrück- und -vorderseite erforderlich. Sehr wesentlich ist auch ein Ab- und Adduktorentraining, um die seitliche Stabilität zu gewährleisten. Im Bereich des Unterschenkels muss dann für die Fußstabilisierung und einen physiologischen Bewegungsablauf gesorgt werden. Nicht nur die Wadenstreckmuskulatur, sondern auch die Pro- und Supinationsmuskulatur (Peronaeusgruppe bzw. Tibialis posterior und anterior) müssen berücksichtigt werden. Insbesondere der Musculus tibialis anterior sollte einem speziellen Training unterzogen werden, weil durch ihn eine dynamische Fußaufsetz- und Stützphase erreicht werden kann. Die eintretenden Kräfte ins Knie und ins Hüftgelenk werden dadurch in ihrem Verlauf abgeflacht und eine dynamische Muskelketteninnervation wird erreicht. Ist nun die Stabilität des operierten Beines erreicht, wird von einem primär beidbeinig durchgeführten Training auf Formen übergegangen, die eine vermehrte Einbeinbelastung beinhalten: – – –
Powerwalking Stepp Laufbandtrainingseinheiten
Der Übergang zu den einbeinigen Trainingsformen sollte aber sehr vorsichtig und dosiert erfolgen! Das Ausdauertraining kann bis zu dieser Phase wesentlich leichter auf dem Fahrradergometer, dem Rudergerät, durch freies Radfahren oder durch Ganzkörperbelastungen im Wasser durchgeführt werden.
Auswahl der Sportarten bei Hüft- oder Knieprothesen
Aufgrund des Alters der Patienten werden bestimmte Sportarten bevorzugt gewählt, rein schnellkräftige Sportarten werden kaum noch durchgeführt. Bevorzugte Sportarten: – – –
Radfahren Joggen Bergwandern
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Schwimmen Volleyball Schilanglauf Eislaufen Kegeln, Bowling Golf Tennis
Grundsätzlich ist dazu folgende Überlegung für die Steuerung der sportlichen Aktivität maßgeblich: Je aktiver und technisch ausgereifter jemand die gewünschte Sportart vor der Gelenkserkrankung durchgeführt hat, desto eher kann er diese Sportart wieder beginnen.
Schifahren
Ein guter Schifahrer geht ein geringeres Risiko ein und wird sein implantiertes Hüftgelenk oder Kniegelenk auch weniger stark belasten als ein technisch nicht versierter Sportler. Unter besseren technischen Voraussetzungen und aufgrund größerer Erfahrung wird die Bewegungsausführung wesentlich physiologischer ablaufen. Dies gilt auch für alle anderen Sportarten.
Volleyball
Auch Volleyball kann von einem ehemaligen Vereinsspieler ohne weiteres gespielt werden, da dieser das Risiko sehr genau abschätzen kann und die Bewegungserfahrung in ausreichendem Maße vorliegt.
Schwimmen
Beim Schwimmen sind allerdings einige Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen: Man muss immer daran denken, dass unvorhersehbare Ereignisse (z.B. Trochanterabbruch oder Luxation des Hüftgelenkes) eine plötzliche Notsituation hervorrufen können. Daher sollte sich ein Patient mit implantiertem Hüft- oder Kniegelenk nie zu weit vom Ufer wegbewegen bzw. immer in Begleitung schwimmen. Das Verhalten in eventuellen
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Notfällen (Zurückschwimmen nur mit Handbewegungen in Rückenlage) sollte geübt werden.
Bergwandern
In Österreich ist das Bergwandern ein beliebter Sport. Das Bergaufgehen in nicht zu steilem Gelände schädigt bei entsprechend vorbereiteter Muskulatur weder das Hüft- noch das Kniegelenk. Lediglich bei Implantation eines Sprunggelenkes ist das Bewegungsmaß in die Dorsalflexion häufig zu gering. Durch geeignetes Schuhwerk (mit vorne gebogener Abrollsohle und Erhöhung des Absatzes durch einen Fersenkeil) kann Abhilfe geschaffen werden. Trittsicherheit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um Schäden zu vermeiden und das Unfallrisiko zu verringern. Auf diesen Aspekt muss hier ebenfalls geachtet werden. Bergabgehen kann aber Schäden hervorrufen. Steiles Bergabgehen über größere Strecken muss unbedingt vermieden werden. Die Streckenwahl darf nicht zu einer zu starken Ermüdung der Muskulatur führen, da sich damit die Belastungsspitzen in den Gelenken erhöhen. Exponiertes Gelände ist ebenfalls möglichst zu vermeiden. Es wäre ideal, bergauf zu gehen und bergab einen Lift oder eine Gondelbahn zu benützen.
Eine mittlere Steigung sollte mit wechselnden Schrittlängen und Steigehöhen überwunden werden.
Radfahren
Beim Radfahren sollte ebenfalls leicht wechselndes Gelände mit mäßigen Steigungen gewählt werden, da z.B. beim Mountainbiken bei stärkeren Anstiegen und Hangneigungen zu große Scherkräfte auf das Hüft- oder Kniegelenk auftreten können! Besonders bei Kniegelenksprothesen muss die Sitzposition so gewählt werden, dass die maximale Flexionsfähigkeit des Kniegelenkes nie erreicht wird. Das Kniegelenk muss sich so über den Pedalen befinden, dass kein Schubeffekt des Unterschenkels gegenüber dem Oberschenkel auftritt.
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Für alle Sportarten gilt, dass das Training Freude machen sollte! Überbelastungen und Wettkampfsituationen sollten dringendst vermieden werden! Ein ständiges Kraft- und Koordinationstraining muss die Sportausübung begleiten!
6. Medizinisches Krafttraining Traditionelles Krafttraining
Vor nicht allzu langer Zeit diente Krafttraining fast ausschließlich dazu, die sportliche Leistungsfähigkeit zu maximieren. Bezogen auf eine Sportart sollten die leistungsbestimmenden Faktoren trainiert werden, die der Erreichung der individuellen Höchstleistung dienten. Je nach Sportart waren dies unterschiedliche Faktoren wie – – –
Maximalkraft Kraftausdauer Schnellkraft
Man unterscheidet im Krafttraining zwischen: – – – – –
Reizintensität (Stärke des einzelnen Reizes) Reizdichte (zeitliches Verhältnis von Belastungs- und Erholungsphasen) Reizdauer (Einwirkungsdauer eines einzelnen Reizes bzw. einer Reizserie) Reizumfang (Dauer und Zahl der Reize pro Trainingseinheit) Trainingshäufigkeit (Zahl der Trainingseinheiten pro Tag bzw. Woche)
Je nach Zielsetzung können diese Parameter verschieden gewichtet und eingesetzt werden. Ein Gewichtheber trainiert mit hoher Reizintensität mit dem Ziel der Erhöhung der Maximalkraft. Ein Ringer trainiert hingegen mit hoher Reizdauer, um damit seine Kraftausdauer zu verbessern.
Medizinisches Krafttraining
Beim medizinischen Krafttraining stehen allerdings ganz andere Aspekte im Vordergrund. Es geht nicht darum, die sportliche Leistungsfähigkeit zu verbessern, sondern – z.B. trotz Erkrankungen des Bewegungsapparates oder des Herz-Kreislauf-Systems – eine bessere Lebensqualität
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zu erreichen und das Fortschreiten von Erkrankungen zumindest zu verlangsamen. Wie Prof. Haber in diesem Buch ausführt, ist der Alterungsprozess vorwiegend genetisch bedingt. Es ist keine Methode bekannt, unsere artspezifische Lebenserwartung über ihre Maximaldauer von 90–110 Jahren hinaus zu verlängern! Es stellt sich aber vehement die Frage der Lebensqualität! Hier gibt es eine völlig logische Schlussfolgerung, die daraus resultiert, welches Ziel man sich gesteckt hat. Wer sein Alter körperlich gesund und aktiv verbringen will, muss die entsprechenden Voraussetzungen dafür schaffen! Wer eine Linderung seiner Krankheit anstrebt, muss bereit sein, dafür etwas zu leisten. Er darf nicht erwarten, dass dies die Medizin für ihn übernimmt!
Praktisch jede Erkrankung wirkt sich leistungsmindernd auf den gesamten Organismus aus. In unserer Gesellschaft sind dies speziell die im vorliegenden Buch angesprochenen Krankheitsbilder. Alle Krankheiten haben eine direkte oder indirekte Auswirkung auf den Bewegungsapparat sowie auf die kardio-pulmonale Leistungsfähigkeit. Es gilt heutzutage als gesichert, dass sowohl Ausdauertraining als auch Krafttraining eine wesentliche Verbesserung der Lebensqualität und des Krankheitsverlaufes mit sich bringen. Wenn nicht durch Training gegengesteuert wird, verschlechtern sich Krankheitssituation und Lebensqualität. Und hier setzt das medizinische Krafttraining an. Wie alle anderen Trainingsformen muss auch das Krafttraining individuell zugeschnitten sein. Die gesamte Leistungsfähigkeit, muskuläre, senso-motorische und psychische Komponenten müssen berücksichtigt werden. Das Ziel hängt davon ab, was im Einzelfall machbar ist. Sollte die Kluft zwischen Können und Wollen zu groß sein, ist Kompromissfähigkeit gefragt. Eines muss aber ganz im Vordergrund stehen: Sobald Erkrankungen vorliegen, darf nur im so genannte One-to-One-Training, das heißt unter ständiger Aufsicht, Kontrolle und Adaptierung der Trainingsprogramme gearbeitet werden.
Ein unbeaufsichtigtes „Fitnesstraining“ ist zu risikoreich und kann je nach Schwere der Erkrankung zu bedenklichen Zwischenfällen führen!
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Krafttraining bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Das Krafttraining hat allgemein günstige Auswirkungen auf das HerzKreislauf-System. Normalerweise sind in Ruhe nur 3–5% der vorhandenen Kapillaren geöffnet, die meisten sind über Sphinktermuskeln am Kapillareingang verschlossen. Daraus ergibt sich, dass durch hohe körperliche Belastungen die lokale Durchblutung um das 30–40-fache erhöht werden kann. Dafür wird ein höheres Herzminutenvolumen benötigt, das durch entsprechendes Training der Ausdauer, aber auch der Kraft erreicht werden kann. Durch das medizinische Krafttraining kommt es zu vielfältigen Anpassungsvorgängen mit jeweils unterschiedlichen Auswirkungen auf das geschädigte Herz-Kreislauf-System. Positive Auswirkungen des Krafttrainings auf das Herz-Kreislauf-System: – –
– –
–
Absenkung des Ruhepulses: Ein niedrigerer Ruhepuls erhöht die Ruhezeiten und Erholungsphasen des Herzens. Normalisierungen des Ruheblutdruckes: Es wird sowohl eine Blutdruckreduktion bei Hypertonikern beschrieben als auch eine Steigerung des Blutdruckes bei Hypotonikern. Die Anstiegssteilheit ist bei allen Blutdruckslagen geringer. Damit wird die Druckbelastung des Herzens reduziert. Die Herzwanddicke und die Muskelmasse des linken Ventrikels nehmen zu. Verringerung der myokardialen Arbeitsleistung in Ruhe: Durch Ökonomisierung der Muskelarbeit des Herzmuskels wird die Sauerstoffausnützung verbessert und der gesamte Sauerstoffverbrauch des Herzens vermindert. Verbesserte muskuläre Leistungsfähigkeit und die damit verbundene Ökonomisierung der kardiovaskulären Regulationsmechanismen: Kurzfristige, besonders schädigende Belastungsspitzen – wie sie z.B. beim Treppensteigen auftreten – werden deutlich abgeflacht. Dadurch wird das Risiko unbeabsichtigter kardialer Schädigungen vermindert. Insbesondere wird der Preload vermindert. Der Preload ist das Blutvolumen, das bei kurzfristigen Belastungen zum Herzen anflutet. Vor Trainingsbeginn
Vor Beginn eines Trainings stehen eine genaue Anamnese und die Rücksprache mit den behandelnden Ärzten, um generell die Höhe der Belastungsfähigkeit festzustellen.
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Anschließend müssen weitere Parameter berücksichtigt werden: –
– – – – –
–
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Individuelle Zielsetzung unter Bedachtnahme auf das persönliche Zeitaufwandsmaximum und der jeweiligen Interessen: Der beste Trainingsplan bringt keinen Erfolg, wenn der Patient die dafür geplante Zeit nicht hat oder diese nicht zur Verfügung stellen will. Individuelle funktionelle Fähigkeiten des Einzelnen. Erfassung zusätzlicher Erkrankungen oder Beschwerden. Sportliche Vergangenheit. Je schwerer die Erkrankung, desto länger dauern die Auf- und Abwärmphasen und desto geringere Intensitäten werden gewählt. Maschinentraining (koordinatives Lernen, Eigenstabilisierung, Messbarkeit) steht am Anfang. Erst nach Verbesserung der Eigenstabilisierung und des Einschätzungsvermögens sind freie Hanteln oder Zugübungen zu verwenden. Im Vergleich zu gesunden Personen sind längere Regenerationszeiten bei der Trainingsplanung zu berücksichtigen. Die Trainingspläne dürfen nicht zu komplex sein. Sie müssen mit den Patienten abgesprochen werden, um das Selbstvertrauen zu stärken und die Motivation zu erhöhen. Kraft- und Ausdauertraining sind sinnvoll miteinander zu kombinieren. Grundsätzlich gilt: Krafttraining immer vor dem Ausdauertraining!
Grundsätzlicher Aufbau eines medizinischen Kraftprogrammes 1 Globales Warm-up mit Pulsvorgabe
Bei Herz-Kreislauf-Patienten sollte das Aufwärmprogramm mindestens 20 Minuten betragen. Dies deshalb, da die Adaptationsvorgänge sehr vorsichtig gesteuert werden müssen, um schnell ansteigende Laktatwerte oder Spitzenbelastungen durch hohe Blutrückflussmengen zu verhindern. Die Gefäßöffnungszeiten sind verlangsamt, am Beginn des Trainings besteht ein hoher Widerstand im arteriellen Anteil des Kreislaufs. 2 Dynamische Krafttrainingsmethoden
Es sollten im Normalfall nur dynamische Krafttrainingsmethoden verwendet werden. Isometrische Krafttrainingsprogramme haben bis auf wenige Ausnahmen überwiegend negative Einflüsse auf das Herz-Kreislauf-System bei Vorliegen von Erkrankungen!
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3 Übungsspezifisches Warm-up 4 Differenziertes Krafttraining (30–50 Minuten)
Das differenzierte Krafttraining sollte in 3 Phasen unterteilt werden: Phase 1: Koordinierte Lernphase mit Schwerpunkt Atemtechnik
Regeln für die Ausführung in dieser Phase: – – –
Pressatmung vermeiden gleichmäßiges Atmen gewährleisten möglichst während der Kraftanstrengungsphase ausatmen
Daher dürfen während dieser Phase, die weiters der Erreichung der Eigenstabilität unter Verbesserung der inter- und auch intramuskulären Koordination dient, keine komplexen Bewegungsmuster verlangt werden. Alle geforderten Ziele müssen mit Leichtigkeit erreicht werden. Die Steuerung dieser Phase richtet sich vorwiegend nach dem subjektiven Empfinden!
Phase 2: Einbau komplexerer Bewegungsmuster
Zur besseren Muskelkettenfunktion werden in der darauf folgenden Phase, die etwa 4–6 Wochen dauert, komplexere Bewegungsmuster eingebaut. Diese richten sich nach der individuell festgelegten Zielsetzung. Phase 3: Konsolidierung
Es ist nun ein Zustand erreicht, in dem die individuelle Leistungsfähigkeit während des Trainings abgeschätzt werden kann, koordinative Eigenschaften wurden verbessert, zum Teil beträchtliche muskuläre Kraftzuwächse konnten verzeichnet werden. Nun gilt es, auftretende Schwachstellen im Bereich der auftrainierten Muskelketten zu beseitigen und je nach Annäherung an die Zielvorgaben zu einem Erhaltungstraining überzugehen.
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Es ist sehr wichtig, einen Konsolidierungszeitraum von mehreren Wochen bis Monaten an dieser Stelle einzuplanen, um mit den verbesserten muskulären Fähigkeiten das Ausdauertraining intensivieren zu können. Erst nach dieser Phase sollte eine neuerliche Zielorientierung in Bezug auf das Krafttraining erfolgen.
Worauf ist bei der Setzung der Reize zu achten?
Generell müssen bei Vorliegen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen folgende Grundsätze beachtet werden: –
–
–
Reizintensität: Sie muss vorsichtig erhöht werden, um z.B. Pressatmung zu vermeiden. Ein guter Parameter dafür ist die kurzfristig auf den Reiz folgende Herzfrequenzerhöhung als Antwort der Leistungsfähigkeit des Herz-Kreislauf-Systems. Reizdichte: Sie ist so zu wählen, dass immer eine vollständige Erholung vorliegt, das heißt, dass der Puls wieder auf den Ausgangswert zurücksinkt. Reizdauer: Sie darf nicht zu hoch angesetzt werden. Ein Anhaltspunkt sind etwa 10 Wiederholungen pro Serie.
Trainingshäufigkeit
Je mehr Trainingseinheiten pro Woche desto günstiger. Lieber 6 kleine Einheiten mit Schwerpunktsetzung pro Woche als 2 mit zwangsläufig sehr hohem Umfang!
Krafttraining bei Hypertonie Vor Trainingsbeginn
Wie bereits gesagt, ist Hypertonie durch Krafttraining positiv beeinflussbar. Dies ist über verschiedene Mechanismen, unter anderem den Abbau von Stresshormonen oder die Öffnung der Kapillarsphinkter, zu erklären. Allerdings ist bei diastolischen Werten über 100 mmHg ein Krafttraining nur in minimalen Intensitäten zulässig. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass durch ein sorgfältig gesteuertes extensives Warm-up der Ausgangswert oft um mehr als 20 mmHg sinken kann.
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Damit sind die Voraussetzungen für das anschließende Krafttraining gegeben. Kopfüber-Übungen, hastige Übungsdurchführung oder kurze Erholungsphasen müssen vermieden werden.
Trainingsumfang
Der Umfang sollte sich zu Beginn auf maximal 7 Übungen mit einer Gesamtserienzahl von 20 beschränken. Je nach Kreislaufreaktion kann aber der Trainingsumfang oft schon nach 4 Wochen auf 30 Serien erhöht werden. Die Intensität sollte im unteren Kraftausdauerbereich angesiedelt sein (zirka 10 Wiederholungen). Es sollte jedoch eine Wiederholungsreserve von zirka 5 gewährleistet werden. Damit wird sichergestellt, dass immer genügend Abstand zur persönlichen Leistungsgrenze vorliegt und der Arbeitsblutdruck keine pathologischen Spitzen aufweist. Die Trainingsgewichte werden vom Trainer zwischen 60–70% der maximal möglichen Wiederholungsanzahl festgelegt. Die Gewichtsadaptationen erfolgen von unten nach oben. Eine Ausbelastung – um die 100%ige Maximalkraftgrenze zu finden – wäre hierbei äußerst risikoreich und koordinativ zu wenig aussagekräftig. Sie ist daher abzulehnen. Vor allem zu Beginn (Phase 1 und 2) kann das Training zusätzlich an den Patienten angepasst werden: Gewicht und Bewegungstempo können stufenweise von Serie zu Serie bei gleich bleibender Wiederholungszahl reduziert werden. Parallel dazu kann der Umfang der Serien erhöht werden. Beispiel Ruderübung: – –
Startumfang: 3 Serien, je 10 Wiederholungen, mit 20 Kilogramm Anpassungsmethode: 4–5 Serien, mit 10 Wiederholungen: – Serie 1 mit 20 kg – Serie 2 mit 17,5 kg – Serie 3 mit 15 kg – Serie 4 und 5 mit 12,5 kg
Damit ist eine ausreichende muskuläre Innervation gewährleistet. Ein Übungsabbruch aufgrund mangelnder Leistungsfähigkeit und damit proportional steigender Herz-Kreislauf-Belastung kann somit umgangen werden. Die Motivation des Übenden bleibt erhalten.
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Bewegungstempo
Achtung: Das Tempo der Ausführung ist ein Teil der Reizintensität! Es muss so zügig sein, dass eine Art Zahnradeffekt mit kleinen Ruckbewegungen vermieden wird. Es darf aber nicht so schnell erfolgen, dass einzelne Muskelbereiche quasi durch Schwung übergangen werden.
Pausen zwischen den Serien
Je nach Puls- und Blutdruckverhalten dauern die Pausen bis zu 2 Minuten. Als Anhaltspunkt gilt mindestens die doppelte Zeit der Seriendauer. Bei Ansteigen des Blutdrucks während der Übungen ist mit einer Intensitätssenkung zu reagieren; falls gewünscht, auch mit einer weiteren Pausenerhöhung.
Allgemeiner Trainingsaufbau Phase 1: Zirkulierendes Training
Trainiert wird an maximal 7 Stationen bei laufendem Wechsel der beanspruchten Muskelgruppen nach der Wiederholungsmethode mit 2–3 Durchgängen. Dadurch ist eine höhere Pausendauer für die jeweils belastenden Muskelgruppen gewährleistet. Vorsicht: Die Übungspausen sind je nach Station individuell festzulegen, da je nach Ausführung unterschiedliche Belastungen gegeben sind. Puls und Blutdruck sind laufend zu kontrollieren.
Phase 2: Wechsel zu stationären Trainingsformen
Eine Übung wird stationär verbleibend, z.B. dreimal mit jeweils 15 Wiederholungen ohne Steigerung des Gewichtes, durchgeführt. Dadurch wird die jeweilige Muskelgruppe intensiver belastet und eine Adaptierung auf Phase 3 erreicht. Phase 3: Übergang zum Hypertrophietraining
Je nach individueller Belastbarkeit kann nun durch Änderung der Übungsumfänge, der Wiederholungszahlen oder Erhöhung der Trai-
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ningsgewichte langsam zu einem Hypertrophietraining übergegangen werden, das heißt Steuerung der einzelnen Belastungskomponenten je nach Zielsetzung. Häufigkeit:
Es wird maximal 2- bis 3-mal pro Woche in Phase 1 und 3- bis 4-mal pro Woche in Phase 2 und 3 trainiert. Mindestens 1 Tag Krafttrainingspause ist einzulegen. Je nach Motivationslage, Schwere der Erkrankung und der individuellen Zielsetzung sind entsprechende Adaptierungen des Trainingsplans notwendig. Durch Weglassen einzelner Muskelgruppen lassen sich Trainingseinheiten verkürzen. Schwerpunkte, wie z.B. Oberkörper, Rumpf oder Beine, können gewählt oder andere Maßnahmen gesetzt werden. Als Zusatzprogramme sind regelmäßige Dehnübungen und Ausdauertraining mit einzuplanen.
Krafttraining bei koronarer Herzerkrankung, Myokardinfarkt, Herzklappenfehler und chronischer Herzinsuffizienz
Der Trainingsaufbau ist dem im vorigen Abschnitt erklärten ähnlich. Durch eine sportmedizinische Untersuchung und die Rücksprache mit dem Kardiologen werden grundsätzlich die Belastungsgrenzen ermittelt. Folgende Punkte sind besonders zu beachten: – – – –
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Die Adaptionsphasen werden länger und noch vorsichtiger durchgeführt! Der Grad der Anstrengung wird in allen Bereichen – speziell zu Beginn – auf ein Minimum reduziert und permanent kontrolliert. Am Anfang müssen die Wiederholungszahlen unter Umständen auf 5 Wiederholungen reduziert werden. Der darauf folgende Schritt ist eine progressive Steigerung der Wiederholungszahlen auf bis zu 10 Wiederholungen, bei umgekehrt proportional geführter Reduktion des Trainingsgewichtes. Besondere Vorsicht verdient der Aspekt, dass nach dem Krafttraining die Pulswerte deutlich erhöht sein können. Dies ist bei der Steuerung des anschließenden Ausdauertrainings zu beachten. Beim Festlegen der Regenerationszeiten und Trainingshäufigkeiten müssen eventuelle Zusatzbelastungen durch andere Aktivitäten beachtet werden (Radfahren, Bergtour, Schwimmen, Berufsbelastung etc.).
Häufige orthopädische Probleme –
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Nach ausreichender Grundstabilisierung und Verbesserung der Gesamtleistungsfähigkeit stünde einem gezielten, auf eine Sportart oder Freizeitbeschäftigung ausgerichteten Krafttraining nichts mehr im Weg. Da die anfänglich erreichbaren inter- wie auch intramuskulären Kraftzuwächse speziell in den ersten 4 Wochen bis zu 200% betragen können, besteht die Gefahr, dass das muskuläre Leistungsvermögen das kardiovaskuläre Potential überfordert! Es kann zum Problem der Übermotivation und der unkritischen Überbelastung führen. Eine sehr engmaschige, aufklärende Betreuung von Arzt, Trainer und Therapeutenseite her ist absolut notwendig!
Medizinisches Krafttraining bei funktionellen Herzbeschwerden
Auch hier gleicht der Trainingsaufbau dem bei den übrigen HerzKreislauf-Erkrankungen. Am wichtigsten ist hier aber, diese Patienten ernst zu nehmen und sie über sehr niedrige Intensitäten, wohl aber mit stetig steigenden Umfängen, davon zu überzeugen, dass sie belastbar sind und stets belastbarer werden. Es hat sich auch bewährt, regelmäßig mit Pulsmessgeräten trainieren zu lassen, um das Selbstvertrauen in die eigene Leistung zu stärken. In weiterer Folge sollten jedoch vermehrte Trainingseinheiten ohne Pulsmessung durchgeführt werden. Die Patienten sollen für sich selbst ein gutes Einschätzungsgefühl entwickeln können. Der Patient kann mit einfachen taktischen Maßnahmen von seiner Belastbarkeit überzeugt werden. Es ist möglich, das Trainingsgewicht während einer Übung kurzfristig zu steigern, die Wiederholungszahlen können dabei aber gesenkt werden. Der Trainer kann auch die wahre Höhe des Gewichtes kurzfristig verschweigen und diese erst nach Durchführung der Übung dem Patienten bekannt geben. Diese Maßnahme fördert die Motivation besonders.
Medizinisches Krafttraining bei Erkrankungen der Bronchien und der Lunge
Die Verbesserung der Atemfunktionen wurde in diesem Buch eingehend dargestellt.
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D. Gehmacher
Von Seiten des Krafttrainings ergeben sich einige Aspekte, die ergänzend beachtet werden sollten. Unabhängig von der bestehenden Funktionsfähigkeit des Lungengewebes ist es in vielen Fällen möglich, die Atemleistung durch Maßnahmen am passiven und aktiven Bewegungsapparat zu verbessern. Im Bereich der Brustwirbelsäule besteht häufig eine beträchtliche Bewegungseinschränkung der Wirbel- und der Rippengelenke. Durch mobilisierende Maßnahmen können die Bewegungen bei der Ein- und Ausatmung verbessert werden. Dazu dienen Übungen, die eine Aufrichtung des Rippenthorax erreichen (Mobilisation im Bereich der Rippengelenke, Dehnung der Interkostalmuskulatur, Stellungsveränderung des Schultergürtels nach dorsal). Bei Vorliegen einer gesunden Lungenfunktion ergibt sich das maximale Atemvolumen aus der Erreichbarkeit der maximalen Exspirations- und Inspirationsstellung des Brustkorbes. Bei der Inspiration kommt es zu einer Erweiterung des Brustkorbes sowohl in ventro-dorsaler als auch in lateraler Richtung. Bei der Exspiration senken sich die Rippen, dadurch entsteht eine Verkleinerung in ventro-dorsaler wie auch in lateraler Richtung. Das Training hat die Aufgabe, diese Endstellungen möglichst zu verbessern. Die Atemmuskeln müssen speziell auftrainiert werden. Einerseits ist es nötig, die gesamte Muskulatur, die eine Rückführung des Schultergürtels fördert, zu kräftigen, andererseits müssen verkürzte Muskeln, die dem entgegenstehen, gedehnt werden. Gleiches gilt für die Interkostalmuskulatur, das Zwerchfell und die Bauchmuskulatur. Spezifische Übungen, die ausschließlich die Atemmuskulatur trainieren, gibt es jedoch nicht. Vielmehr erfolgt durch die Verbesserung der Haltung, durch Kräftigung der den Rumpf stabilisierenden Muskulatur eine automatische Anpassung und Stärkung der Atem- und Hilfsmuskulatur. Gleichzeitig erhöht sich die Beweglichkeit der Brustwirbelsäule und des Rippenthorax. Durch Optimierung der Atemkoordination ist allerdings sehr wohl eine gesteigerte Innervation der Atem- und Hilfsmuskulatur zu erreichen. Dazu gehört auch das Erlernen der richtigen Atemtechnik unter Belastung, was wiederum zu einer Verbesserung der Atmungsökologie führt. Gezielte Dehnübungen für Brust-, Bauch- und Rückenmuskulatur müssen in die Programme eingebaut werden.
Häufige orthopädische Probleme
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Trainingsaufbau Phase 1: Einstieg mit niedriger Intensität
Je nach Schweregrad der Erkrankung erfolgt ein vorsichtig dosierter Einstieg mit niedrigster Intensität sowohl im Ausdauerbereich als auch im Krafttraining – zu Beginn mit kleinen Umfängen! Da mit sehr geringen Intensitäten und Umfängen begonnen wird, ist kein zirkelartiger Aufbau notwendig. Die stationäre Trainingsform ist hierbei Methode der Wahl, die Dauer beträgt zirka 4 Wochen. Phase 2: Steigerung
Es erfolgt eine Erhöhung der Umfänge und Intensitäten. Auch das Ausdauertraining kann jetzt Steigerungen im Umfang, jedoch noch nicht in der Intensität erfahren (Dauer zirka 6 Wochen). Phase 3: Ausweitung der Trainingspläne
Die Trainingspläne werden ausgeweitet, weitere Zielmuskeln und Zielmuskelgruppen (Arm- und Beinmuskulatur) werden einbezogen. Speziell zu beachten ist eine parallel verlaufende Stärkung der Ausdauerfähigkeit! Spezifische Dehnübungen für den Rumpf sollten vor und nach dem Training durchgeführt werden.
7. Zusammenfassung Medizinisches Krafttraining ist aus der Behandlung von zahlreichen Erkrankungen in der heutigen Zeit nicht mehr wegzudenken. Bei der Erstellung der Trainingsprogramme müssen die jeweils spezifischen Aspekte der Erkrankung aufs Genaueste berücksichtigt werden. Fehleinschätzungen und Überlastungen können Schäden hervorrufen!
Andererseits kann durch das Krafttraining eine bestehende Erkrankung gelindert werden. Es ist in der Effektivität mit dem Ausdauertraining vergleichbar. Nur die Zielsetzung ist eine andere. Die Fähigkeiten der Muskeln verbessern sich im koordinativen, im Kraftausdauer- und Maximalkraftbereich. Dies schafft die Voraussetzungen für intensivere Belastungen des Bewegungsapparates, die
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D. Gehmacher
nun schmerzfrei und schonend durchgeführt werden können. Auch vermehrtes Ausdauertraining gehört dazu. Es wird eine bessere Lebensqualität für den Patienten geschaffen, Überlastungssyndrome am Bewegungsapparat, insbesondere der Wirbelsäule, werden beseitigt. Ein aktives Freizeitverhalten ist wieder möglich, die berufliche Belastbarkeit steigt. Damit ist das medizinische Krafttraining ein wichtiger Baustein der modernen Heilbehandlung. Voraussetzung dafür ist allerdings eine gute Zusammenarbeit der behandelnden Ärzte mit den Trainern. Eine klare Zieldefinition mit Vorgabe der Belastungsgrenze, ausreichendes Equipment, laufende Kontrollen und Aktualisierungen des Trainingsprogrammes sowie ständige Überprüfungen patientenspezifischer Parameter sind unerlässlich. Zu diesen zählen z.B. Herzfrequenz, Blutdruckverhalten, kardiale oder pulmonale Leistungsparameter und – je nach Erkrankung – auch eine serologische Überwachung, wie Blutzuckertests, Laktattests, CK-Bestimmung und LDH. Nur bei einer derartigen Qualitätssicherung ist ein Krafttraining, welches in intensivere Bereiche vorstößt, zu empfehlen.
Bewegungstherapie aus psychiatrischer Sicht Otto M. Lesch, Gabriele Hofmann und Henriette Walter
1. Hinweise für Bewegungstherapie für Patienten der Allgemeinmedizin aus psychiatrischer Sicht Geschichtliche Aspekte
Seit Menschengedenken werden Wohlbefinden und körperliche Bewegung empfohlen. Es gab keine Kultur, in der nicht in spielerischer Weise geübt wurde, Krieg zu führen, sondern in all diesen Kulturen wurden auch körperliche Bewegung und Spiele zur Freizeitgestaltung gepflegt. In der ägyptischen und griechischen Geschichte waren Laufund Wurfbewerbe gern durchgeführte Freizeitvergnügen. In der mexikanischen Kultur waren Ballspiele und in der indianischen Kultur Reitbewerbe bevorzugte Freizeittätigkeiten. Seit etwa 100 Jahren und mit Beginn der Industrialisierung hat der tägliche Arbeitsaufwand so zugenommen, dass es der Bevölkerung oft nicht mehr möglich war, in der Freizeit körperliche Bewegung durchzuführen, außerdem wurde die körperliche Tätigkeit in der Arbeit zum Teil durch Maschinen ersetzt. Die neuen Kommunikationssysteme und die Zunahme der Fernsehzeiten haben die Verarmung körperlicher Tätigkeiten noch deutlich verstärkt. Diese Veränderung der Lebensgewohnheiten wurde dann von verschiedenen Ideologien aufgenommen und in Schlagwortform wurde dann körperliche Tätigkeit empfohlen. Schlagworte wie „ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“ oder Lieder wie „Das Wandern ist des Müllers Lust“ sind Versuche, auf diese veränderten Lebensstile zu antworten. Natürlich wurde die Zunahme der erwarteten Leistungen unserer Gesellschaft (Schulerfolg, viel Geld verdienen usw.) auch in die körperliche Bewegung übertragen und seit dem 2. Weltkrieg ist körperli-
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che Tätigkeit vor allem damit verknüpft, sehr gute Leistungen zu bringen. Wer springt am weitesten oder am höchsten? Wer gewinnt in einem Spiel? Körperliche Tätigkeit zur Steigerung des Wohlbefindens und dazu, seinen Körper angenehm zu spüren, ist immer mehr verloren gegangen. Die Menschen bewegen zwar ihre „Hirnzellen“, aber der restliche andere Körper hat zu funktionieren und das Leben nicht zu stören. Wir wissen heute aus der Medizin, dass diese Lebensstile Fehlschaltungen in vielen körperlichen Systemen (Herz–Kreislauf, Magen–Darm, Veränderungen der Schmerzschwelle, Biorhythmen und vieles mehr) bewirken. Diese Tatsachen werden zwar immer wieder erwähnt und das vorliegende Buch ist auch ein Versuch, diesen Bereich zu fördern, aber in der täglichen Praxis wird noch häufig die körperliche Leistung gefördert, aber zu wenig auf das Wohlbefinden des Patienten geachtet. Der Mensch lebt in einem psycho-sozio-biologischen Gleichgewicht und er fühlt sich umso besser, je stabiler dieses Gleichgewicht ist, und wenn alle diese einzelnen Bereiche immer wieder angenehm erlebt werden. Das „tägliche Lachen“, die Reduktion der täglichen Ärgernisse, die Förderung sozialer Sicherheit mit Zukunftsperspektiven sind für dieses Gleichgewicht genauso wichtig wie die Bewegung und die Möglichkeit sich in seinem Körper angenehm zu spüren. Die Reduktion auf sexuelle Empfindungen ist sicher für dieses Gleichgewicht nicht ausreichend. Bewegungstherapie stärkt den biologischen Aspekt und hat sekundär sowohl auf psychischer wie auch sozialer Ebene einen wesentlichen Beitrag (Schlagworte wie Glückshormone durch Laufen oder Anerkennung durch sportliche Leistungen spielen eine große Rolle).
Das Menschenbild aus psychiatrischer Sicht
Wie bereits betont, kann man den Menschen nur als Ganzes sehen, wobei sein Wohlbefinden von seiner Einbettung in ein soziales System abhängt. Auch kranke Menschen fühlen sich in einem sozialen System, in dem sie sich sicher und geborgen fühlen, in dem sie trotzdem ihre Freiheiten genießen können, wohler als in einem schlechten sozialen Setting. Beispiel dafür wäre die Pflege eines Kranken* in einer funktionierenden Familie gegen die Pflege in einem unpersönlichen Spital. * Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden im Text die männlichen Formen der Hauptwörter verwendet. Der Inhalt gilt jedoch gleichwertig für Frauen und Männer.
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Auch körperlich gesunde Menschen sind von ihrem sozialen Setting abhängig, und man weiß heute, dass schwierige soziale Bedingungen, die nicht lösbar scheinen oder es auch wirklich nicht sind, krank machen. Aus entwicklungspsychologischer Sicht kommt der Mensch mit genetisch bedingten Eigenschaften zur Welt, und bereits im Mutterleib nimmt sich das Neugeborene alles, was ihm gut tut. Vom Blut über die Plazenta zur Milch über die Brust bis zum Füttern und Stützen im Kindesalter. Jedes Kind ist neugierig und möchte sowohl geistig lernen wie auch sich körperlich bewegen und nicht zuletzt legt es auf die eigene Triebbefriedigung großen Wert. In der Erziehung wird durch das Modell der geliebten Erwachsenen und durch Ver- und Gebote versucht, diese Jugendlichen unserer Leistungsgesellschaft und unseren Wertvorstellungen einzugliedern. Alice Miller hat in ihrem Buch „Du sollst nicht merken“ sehr schön beschrieben, welche Mechanismen dazu führen, dass Kinder, ohne es bewusst zu merken, die Wertvorstellungen der Gesellschaft, aber insbesondere die Wertvorstellungen der für das Kind wichtigen Erziehungspersonen übernehmen. Körperlich faule Eltern oder sehr stark leistungsbezogene Eltern produzieren körperlich faule oder sehr stark leistungsbezogene Kinder. Diese starre und einseitige Erziehung bewirkt jedoch auch manchmal das komplette Gegenteil (sehr sportliche Eltern und völlig unsportliche Kinder), aber eine gesunde und befriedigende Einstellung zum Körper kann damit nicht erreicht werden. Diese Eigenschaften können von außen beeinflusst werden, wobei die Einflussnahme umso stärker zum Tragen kommt, je mehr die Person oder die Gruppe, die neue Lebensstile einführt, geliebt wird. Ein körperlich faules Kind wird 15 Jahre, verliebt sich und plötzlich wird es mit dem Partner zum Bewegungstalent. Ein Kind akzeptiert und schätzt den Turnlehrer oder den Trainer und macht plötzlich gerne Sport. Als Grundregel ist zu akzeptieren, dass diese Hilfe von außen zwar in jedem Alter angenommen werden kann, aber dass in jungen Jahren und in manchen Vulnerabilitätsphasen des Lebens es für Betroffene leichter oder auch schwerer fällt, den Lebensstil zu ändern und Bewegung zu einem Teil ihres Lebens zu machen. Es ist wichtig, dass die von den Jugendlichen akzeptierten und/oder geliebten Erwachsenen für die Jugendlichen vor allem dann erreichbar sind, wenn Jugendliche das Bedürfnis haben, mit den Erwachsenen zu kommunizieren (Kommunikationsfenster).
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Grundregeln der Bewegungstherapie aus psychiatrischer Sicht
1. Jede Person, die eine zusätzliche Bewegung anstrebt, sollte in dieser Lebensstiländerung unterstützt werden, und sie sollte weder übernoch unterfordert werden. Beispiele dafür sind die Langsamlaufgruppen oder die Wassergymnastik für Personen ab dem 40. Lebensjahr oder für kranke Menschen. 2. In den ersten Stunden einer Bewegungstherapie sollten die Grundregeln einer guten Kommunikation eingehalten werden. Der Therapeut sollte Interesse zeigen, aber keine Neugierde. Er sollte sich genügend Zeit für Instruktionen lassen. Er sollte auch kleine Erfolge verstärken. Loben, loben und wieder loben ist der beste Zugang zur Motivationsbildung. 3. Jeder neue Klient hat ein Recht auf seine Ich-Grenzen. Gerade wenn man mit anderen Menschen körperlich arbeitet, ist die Intimsphäre des anderen nicht nur zu akzeptieren, sondern ganz bewusst zu achten. Insbesondere bei Personen, die in ihrer Kindheit psychische Traumatisierungen durchgemacht haben, sind Empfindlichkeiten dieser Intimsphäre anzunehmen. Auch beim Bewegungstherapeuten sind die Machtverhältnisse zwischen Klient und Therapeut so verschoben, dass der Therapeut in der Macht ist und der Klient sich unterlegen fühlt. Dieses Machtverhältnis darf nicht nur nicht ausgenützt werden, sondern man muss den Klienten als gleichwertigen Partner akzeptieren. In diesem Aspekt empfiehlt sich eine Frage an die Patienten zu richten, die um Erlaubnis zur Berührung nachfragt, wie „Ist es für Sie in Ordnung, wenn ich Sie z.B. an der Schulter berühre.“ Es gibt verschiedene Krankheitsbilder in der Psychiatrie, bei denen man körperliche Therapie nie allein mit einem Patienten durchführen soll. Diese Patienten brauchen entweder eine Gruppe oder mehrere Therapeuten. Körperliche Stellungen, in denen sich Klienten verletzlich fühlen, sollten vermieden werden oder erst dann durchgeführt werden, wenn ein großes Vertrauensverhältnis besteht. 4. Jeder auch völlig normale Mensch hat Bereiche, in denen er sehr empfindlich ist. Und Menschen, die den Körper sehr lange nicht gespürt haben und die sich nur sehr wenig bewegt haben, spüren dann in der Bewegung oft sehr starke Emotionen. Diese können von Traurigkeit bis zum Hochgefühl reichen. Patienten mit psychischen Beschwerden, auch wenn sie noch keine Diagnose einer psychiatrischen Krankheit erreichen, spüren noch deutlich stärkere Emotionen, wobei manche von ihnen von diesen Emotionen überrascht sind und sich manchmal sogar davor fürchten. Angstzustände und Interpretati-
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onen normaler Wahrnehmungen sind bei dieser Personengruppe nicht selten. Patienten interpretieren das Verhalten des Therapeuten dann oft in verschiedenster Form, z.B. „der Trainer hat etwas gegen mich“ oder anders „ich glaube, der Trainer mag mich“. Wenn der Verdacht besteht, dass wirklich eine psychiatrische Krankheit vorliegt, ist die Bewegungstherapie eine wirksame Therapiemethode mit allen Vor- und Nachteilen. Wie für jede Therapie sind die positiven Wirkungen mit den zu erwartenden Nebenwirkungen abzuschätzen (Dosierung und Häufigkeit der Bewegungstherapie, Beeinflussung der Zeitplanung der Patienten, körperliche Möglichkeiten und körperliche Grenzen). Beschwerden der Patienten können besser, aber auch deutlich schlechter werden. Eine persönliche Rücksprache mit dem behandelnden Psychiater oder Psychotherapeuten ist unbedingt notwendig, bevor eine Therapie begonnen wird, und auch im Verlauf sollten immer wieder Rückmeldungen zwischen Bewegungstherapeuten und Psychiatern stattfinden.
2. Bewegungstherapie in der Psychiatrie Allgemeiner Teil
Seelisches und körperliches Befinden sind in Gesundheit wie Krankheit untrennbar verbunden. Im Zuge vieler psychiatrischer Erkrankungen geht der subjektive Kontakt zum eigenen Körper verloren. In der Physiotherapie werden Patienten dazu ermutigt, den Kontakt zu ihrem Körper und zu Mitmenschen schrittweise wieder aufzunehmen. Über spezielle Übungen werden Wahrnehmung, Ich-Erfahrung, Auseinandersetzung, Vertrauen und Zugang zur eigenen Emotionalität gefördert. Bei schweren und chronischen Störungen wird dazu oft auch eine neue Orientierung in den grundmotorischen Fähigkeiten und in der Körperwahrnehmung wichtig sein (z.B. bei Wahnpatienten mit dem subjektiven Gefühl, fremdgesteuert und gelenkt zu werden, die wieder lernen „selbständig“ zu gehen). Entspannungsübungen in Gruppen werden für viele Störungen hilfreich sein, können aber bei halluzinierenden Patienten die damit verbundenen Ängste verstärken. Sport- und Fitnessangebote sind in der Psychiatrie bei allen mobilen Patienten sinnvoll, und Wirbelsäulengymnastik mit Kräftigungsübungen ist vor allem bei depressiven Patienten von Vorteil, aber auch bei jenen, die ansonst wenig bewegungsaktiv sind.
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Unter Physiotherapie im engeren Sinne versteht man eine Vorgehensweise, die auf den Körper bezogen ist, die Körperfunktionen (z.B. Atmen) verwendet und die grundsätzlich mit dem Körper therapeutisch arbeitet. Zu den Methoden der Körperarbeit gehören Anleitung zum aufmerksamen Spüren und Wahrnehmen des Körpers, Übungen für Atmung, Körperhaltung und Massagen. Im Gegensatz dazu wird oft die physikalische Therapie gesehen, die im Prinzip ein Anwenden von bestimmten Techniken ohne therapeutischen Überbau darstellt. Auch Maßnahmen der physikalischen Therapie, die Wärme-, Kälteund Elektrotherapie umfassen, sind in der Psychiatrie hilfreich und oft notwendig. Bei der Wärmetherapie kommen Bäder, Wärmepackungen und Stromanwendungen vom Rotlicht bis zur Hochfrequenz-Therapie in Betracht. Zur Schmerzlinderung und Ödemhemmung kommt die Kältetherapie mit Eis (Packungen, Gel-Beutel) zum Einsatz. Auch Darmmassagen bei medikamentös induzierter Obstipation zählen zu diesen Maßnahmen. In der heutigen Psychiatrie sind Kenntnisse der physikalischen Therapie wie auch der Physiotherapie notwendig, und je unprätentiöser Therapeuten beides – je nach Bedarf – anwenden können, umso erfolgreicher werden sie sein.
Akutbehandlungen bei stationären Patienten
Akut stationär behandelte Patienten sind mitunter auf Grund der Sedierung im Herz-Kreislauf-System instabil oder haben niedrigen Blutdruck. Häufig sind diese Funktionsveränderungen passager, bedürfen jedoch einer sanften Mobilisation im Bett (Thromboseprophylaxe und Herz-Kreislauf-Training). Bei akuten Episoden von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis ist die Physiotherapie vor allem in der Wahrnehmungsförderung von hoher Bedeutung. So können z.B. Patienten, die nicht mehr sicher sind, ob ein Körperteil zum eigenen Körper gehört, langsam wieder ein Spüren, ein Wahrnehmen dieses Körperteils aufbauen lernen und üben. Hierfür eignen sich vor allem passive Methoden, wie Muskelentspannungstechniken, Berührungs- und Massagetechniken, Lageveränderungen und Gelenksmobilisationen. Aus psychotherapeutischer Sicht gilt dies vor allem für so genannte frühe Störungen, zu denen auch Wahrnehmungsstörungen aus dem schizophrenen Spektrum zählen.
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Mittelfristige Behandlungen bei stationären Patienten
Patienten, die wegen chronifizierter oder therapieresistenter Störungen längere stationäre Aufenthalte brauchen, können von Physiotherapie in besonderem Maße profitieren. Wenn es gelingt, in dieser Zeit ein aktives Körper- und Bewegungsbewusstsein aufzubauen, und die Patienten nach einiger Zeit ein gewisses Maß an Freude an Bewegung erleben können, so wurde etwas erreicht, was vermutlich sonst nie eine Chance gehabt hätte, erlebbar zu werden. Wenn Patienten nach der Entlassung erleben, dass ihnen die (mittlerweile gewohnte) Bewegung fehlt, werden sie vielleicht körperliche Bewegung selbständig in ihren Wochenplan aufnehmen. Dies gilt insbesonders für chronisch depressive Patienten. Bei chronischen Psychosen und bei Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis ist mit Störungen der Beziehung zum eigenen Körper zu rechnen. Die Konzepte der physiotherapeutischen Behandlungen basieren z.B. auf der Grundlage der Konzentrativen Bewegungstherapie und der Funktionellen Entspannung und beruhen auf Bewusstmachen der eigenen und interaktiven Körperwahrnehmungen und Berührungen. Bei den Abhängigkeitserkrankungen findet man Patienten, die chronisch vergiftet sind, Patienten im Entzug, aber auch Patienten, die längerfristig abstinent sind. Im Prozess der Abhängigkeitserkrankungen geht die Körperwahrnehmung verloren, der Körper wird nur mehr als schmerzend, zitternd oder mit Krämpfen erlebt. Die darauf folgende Sedierung dämpft die Patienten so stark, dass sie den Körper oft nicht mehr wahrnehmen. Eine adäquate Bewegungstherapie, wobei der Körper wieder bewusst wahrgenommen wird, hat sich weltweit bewährt. Dementielle Patienten mit Funktionsstörungen, manchmal auch mit neurologischen Ausfällen, müssen zur Kenntnis nehmen, dass der früher funktionierende Körper nicht mehr in der gewohnten Form zur Verfügung steht. Diese Tatsache führt dann dazu, dass dementielle Patienten psychisch und auch körperlich völlig inaktiv werden und sich praktisch nicht mehr bewegen. Die langsame Aktivierung in einer Bewegungstherapie, wobei man auf die Herz-Kreislaul-Situation besonders Rücksicht nehmen muss, ist eine wirksame Methode der Aktivierung.
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Ambulante Langzeitbehandlung
Bei längerem Liegen oder auf Grund anderer Leiden mit Leistungseinschränkungen kann es auch oft zu Schmerzen und auch Körperformveränderungen kommen, die ihrerseits die vorhandenen Schmerzen noch verstärken. Häufig gehören zu diesem Spektrum auch Kraftverlust und eventuell auch Mobilitätseinschränkungen sowie Probleme in der Koordination. Bei mobilen Patienten, die aber an einer chronischen psychiatrischen Erkrankung leiden, bindet die Physiotherapie die Patienten an ein Erleben in der Gegenwart. Allein dadurch können die Patienten besser an ein Zentrum angebunden werden, und die Physiotherapie ist dann ein wichtiger Mosaikstein in der Gesamtbehandlung. Im ambulanten Bereich ist in Österreich das Angebot z.B. in psychosozialen Diensten noch zu wenig verfügbar.
Spezifische Aspekte Wahrnehmungsschulung
Im Rahmen von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, aber genauso auch bei Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen ist eines der Hauptprobleme, dass der Zugang zum eigenen Ich versperrt ist. Erst durch die psychotische Symptomatik im einen Fall oder durch z.B. Trinken von Alkohol im zweiteren, wird ein Weg dahin, „sich zu spüren“, „etwas zu empfinden“, geöffnet. Hier kann über den kinästhetischen Sinneskanal „Spüren“ ein besserer Weg gefunden werden. Oft ist die Physiotherapie ein erster Schritt zur Einsicht, dass eine Psychotherapie notwendig ist. Diese therapeutischen Maßnahmen sind vor allem für Typ II und Typ III nach Lesch zu empfehlen. Man weiß heute, dass jeder Mensch nicht alle fünf Sinne gleichmäßig nützt, sondern über bevorzugte Sinneskanäle die Umwelt wahrnimmt. So nimmt das NLP (Neurolinguistisches Programmieren) an, dass es hauptsächlich kinästhetische und visuelle Typen und daneben auch akustische, olfaktorische und gustatorische Typen gibt. Wenn jemand z.B. ein rein visueller Typ ist, wird Physiotherapie nicht der Königsweg zur Seele sein. Für kinästhetische Menschen wird Physiotherapie das Mittel der Wahl sein, um Erleben zu fördern und zu formen.
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Altersgerechte Physiotherapie
Störungen im Bewegungsverhalten können in jedem Lebensabschnitt auftreten, und je älter die Gesellschaft wird, umso mehr Menschen sind davon betroffen. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von ganz normalen Alterungsprozessen bis zu Folgen von Verletzungen und Stürzen. Eine der Ursachen ist die im Alter typische mangelhafte Koordinationsfähigkeit. Häufig sind diese Funktionsveränderungen mit Schmerzen und Mobilitätseinschränkungen verbunden. Gerade bei dementiellen Erkrankungen ist für Physiotherapeuten oft viel Geduld erforderlich. Doch gerade auch bei dieser Patientengruppe gilt es, die Mobilität so gut wie möglich zu erhalten. Anders bei Jugendlichen, die mit Spiel und Sport motiviert werden können und sich eine „Aus-Zeit“ aus den Problemen nehmen können. Bei ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder) sind vor allem bei männlichen Jugendlichen die Hyperaktivitätszeichen hoch, während bei Mädchen oft in erster Linie die Aufmerksamkeitsstörung steht. Bei jugendlichen wie auch älteren Patienten mit Abweichungen vom Idealkörperbau oder Störungen des neuromuskulären Systems verändert sich das Bewegungsverhalten. Dieses führt zu Überlastungen von aktiven und passiven Strukturen und somit zu Schmerzen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Ballgymnastik mit dem großen Therapieball. Durch das labile Übungsgerät entstehen Gleichgewichtsreaktionen, die dem Training der Koordination, Mobilisation und Kräftigung dienen.
Einzel- und Gruppentherapie
Physiotherapeutische Behandlung erfolgt in Einzel- und Gruppentherapien, die krankheitsbildspezifisch, gruppenspezifisch oder auch methodenspezifisch ausgerichtet sind. So kann z.B. das autogene Training sehr gut in Gruppen angeboten werden, wie auch die progressive Muskelentspannung nach Edmund Jacobson. Beide beruhen auf der Wechselbeziehung zwischen psychischer und muskulärer Spannung. Jacobson hatte beobachtet, dass nach einer kurzen maximalen Anspannung einer Muskelgruppe eine vertiefte Entspannung eintritt. Beide Methoden werden erst durch Wiederholen der Übungen wirksam. Daher ist die Gruppe das geeignete Mittel, dieses Wiederholen auch möglichst vielen Patienten zu ermöglichen. Ziel beider Methoden ist es, dass die Patienten mit dieser Hilfe lernen, Stresssituationen im Alltags-
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leben besser und im wahrsten Sinne des Wortes „lockerer“ zu bewältigen. Auch Atemschulungen sind in dieser Richtung gut wirksam.
3. Störungen auf funktionell-organischer, sensomotorischer und sozioemotionaler Ebene Psychische Erkrankungen haben fast immer Auswirkungen auf der körperlichen Ebene. Der Schwerpunkt in der bewegungstherapeutischen Arbeit mit psychiatrischen Patienten liegt auf der funktionellorganischen Ebene, auf der sensomotorischen und der sozioemotionalen Ebene. Störungen auf der funktionell-organischen Ebene
Die Psychomotorik umfasst Mimik, Gestik, Einzelbewegungen und kombinierte Bewegungsabläufe. Es stellt sich die Stimmung, die Wachheit, die Intelligenz etc. dar. Sie ist der körperliche Ausdruck des Seelenlebens. Beeinträchtigungen der Psychomotorik zeigen sich in der Koordination, in Balance- und Gleichgewichtsproblemen, in der Körperhaltung, im Gangbild und in der Atmung. Oft sind vorhandene Bewegungsfertigkeiten in ihrer Verfügbarkeit verhindert, das heißt, dass alltägliche Handlungen erschwert, verlangsamt, stockend oder zäh sein können. Gesteigerte Psychomotorik Man spricht hier von Bewegungsunruhe, wie vermehrtes Gestikulieren mit den Armen oder ein Treten von einem Fuß auf den anderen. Diese Unruhe kann sich steigern zu enthemmtem, aggressivem Verhalten bis hin zu unkontrolliertem Toben. Man beobachtet eine gesteigerte Psychomotorik als ein Zeichen für die Manie, aber auch bei anderen psychischen Störungen wie z.B. bei deliranten Bildern oder Erkrankungen aus dem schizophrenen Spektrum. Verminderte Psychomotorik Hier sind verlangsamte, statische oder starre Bewegungsabläufe zu beobachten. Liegt eine völlige Erstarrung, die auch mit einem Verlust des Sprechens einhergeht, vor, spricht man von Stupor. Stupor kann als Symptom bei einer schweren Depression oder auch im Rahmen einer akuten Schizophrenie vorkommen.
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Stereotypien Es handelt sich hierbei um Bewegungsabläufe, die für den Beobachter keinen Sinn ergeben und nicht zielgerichtet sind und immer wieder stereotyp wiederholt werden. Manieriertheiten Manieriertheiten sind gezielte Bewegungsabläufe, die aber sehr übertrieben und umständlich ausgeführt werden, z.B. staksiges Gehen, Storchengang. Flexibilitas cerea Die Flexibilitas cerea (wächserne Biegsamkeit) beschreibt ein Phänomen, das bei der Schizophrenie auftreten kann. Dabei verharren Extremitäten in einer von außen vorgegebenen Position wie bei einer Gliederpuppe, die man in eine beliebige Position bringen kann. Therapeutisches Vorgehen auf der funktionell-organischen Ebene – Verbesserung von Atmung, Kreislauf, Verdauung – Steigerung von Kondition und Ausdauer – Schulung von Koordination und Geschicklichkeit – Aufrichtung und Stabilisation der Wirbelsäule – Gangschulung
Störungen auf der sensomotorischen Ebene Wahrnehmungen
Halluzinationen Die schwerste Störung der Wahrnehmung sind Halluzinationen. Halluzinationen entsprechen für den Betroffenen einer realen, echten Wahrnehmung. Man unterscheidet optische, akustische, olfaktorische, gustatorische und coenästhetische Halluzinationen. Es handelt sich hierbei um Sinneswahrnehmungen ohne äußere Stimulation des betreffenden Sinnesorgans. Akustische Halluzinationen (das Hören von Stimmen) und coenästhetische Halluzinationen (Körperhalluzinationen – der Patient spürt in seinem Körper Sensationen wie z. B. ein inneres Ausgehöltsein) sind Symptome einer Schizophrenie oder organischer Psychosen (z.B. Leukenzephalitis).
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Beeinträchtigung der Körperwahrnehmung Das „Körpererleben“ eines psychiatrischen Patienten, das heißt die Fähigkeit den eigenen Körper zu fühlen und wahrzunehmen, ist meistens eingeschränkt oder verändert. Dafür kennen wir einige Redewendungen: z.B. „ich habe keinen Boden mehr unter den Füßen“, „sie steht nicht auf eigenen Beinen“, „er schwebt in den Wolken“. Im Strukturmodell von Bielefeld werden die drei Begriffe, nämlich Körpererfahrung, Körperschema und Körperbild, die für unser Körpererleben maßgeblich sind, beschrieben. Strukturmodell von Bielefeld Körpererfahrung Gesamtheit aller im Laufe der individuellen wie gesellschaftlichen Entwicklungen erworbenen Erfahrungen mit dem eigenen Körper, die sowohl kognitiv wie affektiv, bewusst wie unbewusst sein können Körperschema Der neurophysiologische Teilbereich der Körpererfahrung; das Körperschema umfasst alle perzeptivkognitiven Leistungen des Individuums bezüglich des eigenen Körpers
Körperbild Der psychologisch-phänomenologische Teilbereich der Körpererfahrung; das Körperbild umfasst alle emotional-affektiven Leistungen des Individuums bezüglich des eigenen Körpers
Körperorientierung Orientierung am und im eigenen Körper mithilfe der Extero- und Interozeptoren, d.h. der Oberflächen- und Tiefensensibilität, insbesondere der kinästhetischen Wahrnehmung (Körperschema im engeren Sinn)
Körperbewusstsein Psychologische Repräsentation des eigenen Körpers oder seiner Teile im Bewusstsein des Individuums, beziehungsweise die auf den eigenen Körper gerichtete Aufmerksamkeit
Körperausdehnung Das Einschätzen von Größenverhältnissen sowie der räumlichen Ausdehnung des eigenen Körpers
Körperausgrenzung Das Erleben der Körpergrenzen, das heißt, den eigenen Körper als deutlich von der Umwelt abgegrenzt zu erleben
Körperkenntnis Faktische Kenntnis von Bau und Funktion des eigenen Körpers und seiner Teile einschließlich der Rechts-links-Unterscheidung
Körpereinstellung Gesamtheit der auf den eigenen Körper, insbesondere auf sein Aussehen gerichteten Einstellung, speziell die (Un-)Zufriedenheit mit dem eigenen Körper.
Bewegungstherapie aus psychiatrischer Sicht
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Daraus wird ersichtlich, dass das Körperbild nicht mit dem tatsächlichen Körper übereinstimmen muss. Im Körperbild spiegeln sich Gefühle, Gedanken und Einstellungen den Körper betreffend, bewusst oder unbewusst, wider. Das Körperbild ist ein Abbild der Seele. Es verändert sich immer wieder und wird von Situationen und Einflüssen von außen geprägt. Dadurch kommt es zu einem „belebten, beseelten Körper“, den man als Leib bezeichnet. Im Laufe unseres Lebens setzen sich sowohl positive als auch negative Einflüsse, Erlebnisse und Erfahrungen in unserem so genannten Leibgedächtnis fest. Bei sehr schmerzlich Erlebtem kann sich der Betroffene oft nicht auf der verbalen oder emotionalen Ebene äußern und versucht, über den Körper einen Ausdruck zu finden, was zu organischen Erkrankungen bis hin zu schweren Psychosen führen kann. Somatoforme Störungen Die Patienten leiden an verschiedenen physischen Symptomen, die aber organisch nicht erklärbar sind und durch klassische, somatische Behandlungsmethoden nicht zu beeinflussen sind. Konversionsstörungen Bei Konversionsstörungen handelt es sich um psychogene Störungen, deren Ursachen nicht körperlich zu suchen sind, sondern es liegen psychische Faktoren als Auslöser zu Grunde. Ein seelischer Konflikt wird in körperliche Symptome umgewandelt, was zu einer Entlastung der Psyche beiträgt. Diese Entlastung (der Betroffene kann schwierigen Situationen aus dem Weg gehen) ist durch diese Scheinlösung größer als die körperliche Behinderung. Das stellt für den Patienten einen primären Krankheitsgewinn dar. Einen sekundären Krankheitsgewinn erhält der Patient durch vermehrte Zuwendung und Rücksichtnahme anderer. Weitere Wahrnehmungsstörungen Die Depersonalisation ist eine Störung des einheitlichen Erlebens. Der eigene Körper fühlt sich fremd, unwirklich und verändert an. Der Betroffene kann sich sogar als andere Person erleben. In der Derealisation empfindet der Betroffene die Umwelt als bedrohlich, Gegenstände und Personen wirken für ihn fremdartig und unwirklich. Derealisation und Depersonalisation können gleichzeitig auftreten und verursachen beim Patienten große Angst.
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Störungen der Bewusstseinslage und Orientierung
Leidet ein Patient an einer Bewusstseinsstörung, ist er schläfrig, und seine Bewegungen und seine Sprache sind verlangsamt (Somnolenz). Nimmt die Reaktion auf äußere Reize (wie Ansprache oder Schmerzreize) immer mehr ab, bis der Patient nicht mehr weckbar ist, spricht man von einem komatösen Zustandsbild. Eine Störung der Orientierung liegt dann vor, wenn der Patient bezüglich Ort, Zeit und Personen fehl- oder desorientiert ist. Fragen nach dem Namen des Patienten, nach dem Monat oder dem Aufenthaltsort geben Aufschluss über die Orientierung des Patienten.
Denkstörungen
Es werden formale Denkstörungen und inhaltliche Denkstörungen unterschieden. Bei formalen Denkstörungen ist die Art und Weise des Gedankenflusses ausschlaggebend. Meist ist der Inhalt nicht logisch und weist keinen Zusammenhang auf. Als Rededrang bezeichnet man ein schnelles, beschleunigendes Sprechen, das schwer zu unterbrechen ist. Der Betroffene spricht sehr laut und auch dann weiter, wenn niemand zuhört. Von einer Ideenflucht spricht man, wenn der Betroffene abrupt von einem Thema zum anderen wechselt, sich von Kleinigkeiten ablenken lässt und sofort darauf reagiert. Das ursprüngliche Ziel des Denkens bzw. seiner Aussage geht damit verloren. Diese Art der Denkstörung ist oft in manischen Episoden, aber auch bei organisch bedingten psychischen Störungen, bei der Schizophrenie und manchmal bei akuten Belastungsreaktionen zu finden. Als Wahn bezeichnet man die wichtigste inhaltliche Denkstörung. Der Wahnkranke ist von der Richtigkeit seines Denkens überzeugt, und er lässt sich durch keine Korrektur oder durch Beweise des Gegenteils von seinem Wahninhalt abbringen. Auch wenn der Betroffene noch teilweise an der Realität teilnehmen kann, so ist doch der Wahn der wichtigste Teil seines Lebens geworden. Die häufigsten Wahninhalte beziehen sich auf Verfolgung (der Betroffene fühlt sich verfolgt und beobachtet – Schizophrenie), Größe (der Betroffene leidet unter einer krankhaften Selbstüberschätzung bezüglich seines Wissens oder seiner Macht – Manie), Verarmung oder Krankheit (der Betroffene glaubt an seinen finanziellen Ruin oder unheilbar krank zu sein – Depression) und Eifersucht (der Betroffene ist überzeugt, von seinem Partner betrogen zu werden – Alkoholkrankheit).
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Psychotherapeutisches Arbeiten auf der sensomotorischen Ebene – Erspüren und Wahrnehmen des eigenen Körpers – Wahrnehmen der eigenen Körperempfindungen – Bewusstes Spüren von Spannung und Entspannung – Erspüren und Erleben von eigenen körperlichen Fähigkeiten
Störungen auf der sozioemotionalen Ebene
Der Kontakt zu anderen ist für psychisch Kranke oft problematisch. Die Betroffenen reagieren verängstigt und scheu und fühlen sich oft durch andere bedroht. Zwischenmenschliche Beziehungen sind eingeschränkt. Einerseits kann der Betroffene übermäßig distanziert sein und somit die Kontaktaufnahme erschwert sein, andererseits kann es auch zu einem grenzüberschreitenden, distanzgeminderten Verhalten kommen. Leidet der Patient an einer Affektverflachung, sodass er nicht mehr gefühlsmäßig adäquat auf bestimmte Ereignisse reagiert, wirkt er auf seine Umwelt unbeteiligt und ungerührt. All das führt häufig zu sozialem Rückzug bis hin zur vollkommenen Isolierung.
Basale Dimensionen des Ich-Bewusstseins
„Im ICH liegt die Gewissheit der Selbsterfahrung des Menschen“. Nach Christian Scharfetter strukturiert sich das Ich-Bewusstsein aus fünf Dimensionen: „Eine solche Ich-Bewusstseinspathologie ist eine Ordnungshilfe zur Überschau und zum Verstehen der als ,Symptome‘ aus dem gewöhnlich Alltäglichen herausragenden, wegen ihrer Lebensbeeinträchtigung füglich als krankhaft bezeichneten Erlebnis- und Verhaltensweisen. Diese Ich-Psychopathologie ist weiter eine Verstehenshilfe für eine funktionalfinale Interpretation von ,Symptomen‘ und ein wesentlicher Weg zu einem umfassenden Behandlungskonzept.“ Die fünf basalen Dimensionen des physiologischen Ich-Bewusstseins Ich-Vitalität Gewissheit der eigenen Lebendigkeit Ich-Aktivität Gewissheit der Eigenbestimmung des Erlebens, Denkens, Handelns Ich-Konsistenz Gewissheit eines kohärenten Lebensverbandes Ich-Demarkation Abgrenzung des Eigenbereiches Ich-Identität Gewissheit der eigenen personellen, physiognomischen, sexuellen, biografischen Identität
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Ich-Psychopathologie Ich-Vitalität Angst vor oder Erleben von dem eigenen Absterben, Tod, Untergang, Nicht-mehr-Sein, Weltuntergang, Untergang anderer Menschen Ich-Aktiviät Fehlen der Eigenmächtigkeit im Handeln und Denken, Fremdsteuerung, -beeinflussung; Kontrolle im Handeln, Erleben, Fühlen und Denken; Lahmgelegt-Sein, Besessen-Sein Ich-Konsistenz Änderung der Beschaffenheit des Leibes, Aufhebung des Zusammenhangs des Leibes oder seiner Teile, der Gedanken-Gefühls-Verbindungen, der Gedankenketten, der Willens- und Handlungsimpulse, der Seele, der Welt, des Universums Ich-Demarkation Unsicherheit, Schwäche oder Aufhebung der Abgrenzung von Ich zum Nicht-Ich, Fehlen eines Eigenbereichs im Leiblichen, im Denken und im Fühlen; Störung der Innen-, Außen- und Eigen-, Fremd-Unterscheidung. Ich-Identität Unsicherheit über die eigene Identität, Angst vor Verlust der eigenen Identität, Verlust der eigenen Identität; physiognomische und Gestaltänderung, Geschlechtsänderung, Verwandlung in ein anderes Wesen, Änderung der Herkunftsidentität „Wer in seinem Ich-Bewusstsein so zentral betroffen ist, erlebt sich in seiner Welt anders als vorher und als die anderen Menschen seines Lebensbereiches“ (Scharfetter). Scharfetter bezeichnet die Schizophrenie als äthiologisch ungeklärte, wahrscheinlich heterogene IchKrankheit. Das Ich-Bewusstsein ist dabei in seinen fünf grundlegenden Schichten gestört. Die Störung kann mehr oder weniger schwer, intermittierend oder chronisch verlaufen. Störung der Ich-Vitalität: „Lebe ich noch?“ Bei einer scheinbar akuten Lebensbedrohung erstarrt der Betroffene in Sprach- und Regungslosigkeit, die sich als Bild des katatonen Stupors manifestiert. Durch Selbstverletzungen versucht der Betroffene sich immer wieder selbst zu vergewissern, noch am Leben zu sein(„Ich muss mein Blut sehen, damit ich weiß, dass ich noch lebe“). Liegt die Störung der Ich-Vitalität vorwiegend im Bereich der Körpererfahrung, kommt es
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zu einem so genannten hypochondrischen Wahn, in dem der Betroffene glaubt, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden oder innerlich zu verfaulen. Oft wird sogar der Verwesungsgeruch wahrgenommen (Geruchshalluzinationen). Häufig leiden die Betroffenen an einem Verfolgungswahn und glauben, vernichtet, gequält, vergiftet oder ermordet zu werden. Manchmal schaffen die Betroffenen den Sprung in die Überkompensation, wobei der Krankheitswahn in einen Heilswahn oder der Weltuntergangswahn in einen Welterneuerungswahn umgewandelt wird. Störung der Ich-Aktivität: „Ich bin nicht mehr Herr meiner selbst“ Bei leichteren Störungen der Ich-Aktivität ist die Ausführung von alltäglichen Handlungen erschwert oder verlangsamt oder sie können nicht zu Ende gebracht werden. Durch das Wiederholen von Bewegungen (Stereotypien) versucht der Betroffene sich zu vergewissern, dass ihm noch eigene Handlungsmöglichkeiten offen stehen. In schweren Fällen glaubt der Kranke, nicht mehr eigenständig denken, fühlen oder etwas wahrnehmen zu können und von anderen fremdbestimmt oder ferngesteuert zu sein (Verfolgungswahn). Wenn der Patient die Beziehung zu seinem Körper verliert und die eigene Aktivität im motorischen Bereich fehlt, kann es zur echoartigen Nachahmung von Bewegungen (Echopraxie) oder zu starrem Verbleiben in einer vorgegebenen Haltung (Flexibilitas cerea) kommen. Eine akute Bedrohung der Ich-Aktivität führt zum katatonen Stupor, zu Echopraxie und Echolalie. Störung der Ich-Konsistenz: „Mein Gehirn ist durchlöchert“, „Mein Körper läuft aus“ Bei der Störung der Ich-Konsistenz fühlt sich der Kranke in seinem Körper nicht mehr zu Hause, er fühlt sich zerrissen und gespalten. Die Gewissheit, dass sein Körper ein kohärentes Ganzes ist und von einer bestimmten Konsistenz ist, ist verloren gegangen. Er ist z.B. überzeugt, dass sein Skelett verbogen ist oder sein Gehirn ausrinnt. Wenn das Gefühl, ein zusammenhängendes Ganzes zu sein, gestört ist, stimmen Affekt, Gefühl, Stimmung und Gedanken nicht mehr zusammen (Parathymie und Paramimie).
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Störung der Ich-Demarkation: „Mein Hirn ist außer mir“ Das Ich kann gegenüber dem Du nicht mehr ganz oder gar nicht abgegrenzt werden. Der Betroffene ist jedem Außeneinfluss zugänglich und fühlt sich dadurch beeinflusst, gesteuert und ausgeliefert. Unendlich viele Sinneseindrücke prasseln auf den Patienten ein, und können nicht mehr in wichtig oder unwichtig, gefährlich oder ungefährlich usw. unterschieden werden (Filterstörung). Der Kranke versucht sich durch räumliche Distanz, Verschlossenheit, Vermeiden des Blickkontaktes oder durch abwehrende stereotype Bewegungsmuster zu schützen. Störung der Ich-Identität: „ Wer bin ich?“ Die Störung der Ich-Identität bedeutet den Verlust der Sicherheit über die Einmaligkeit der eigenen Person in Bezug auf Physiognomie und sexuelle Rolle. Im Spiegel kontrolliert der Patient immer wieder seinen Körper und besonders sein Gesicht, da er glaubt, sein Körper verändert sich, oder Angst hat, anderer Abstammung zu sein. In der Akutphase der Ich-Identitätskrise besteht die Gefahr, in Angst und Ratlosigkeit zu erstarren (katatoner Stupor) oder auch für katatone motorische Auffälligkeiten (Parakinesen, Paramimik). Bewegungstherapeutisches Arbeiten auf der sozioemotionalen Ebene – Emotionaler Ausgleich über die Bewegung – Kommunikation und Interaktion – Das Sicherfahren in Bezug zu anderen – Umgang mit anderen Personen in Verbindung mit Bewegung und im Spiel
4. Bewegungstherapie bei spezifischen psychiatrischen Krankheitsbildern Das schizophrene Spektrum
Die Kontaktaufnahme zu schizophrenen Patienten ist oft schwierig. Man sollte dem Patienten ruhig und sicher gegenübertreten und sehr klar in seinem Auftreten und in seinen Formulierungen sein. Es ist wichtig, dem Betroffenen das Gefühl zu vermitteln, bei ihm und mit ihm zu sein. In der Bewegungstherapie ist es notwendig, eine vertrau-
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ensvolle, stabile Beziehung zwischen Therapeut und Patient aufzubauen. „Zur Lebendigkeit gehört der Atem, die Bewegung und das Erleben von Wärme.“ Scharfetter betont, dass ein Schizophrener bis tief in die Schichten des körperlichen Erlebens erkrankt ist. Bewegungstherapie bei Störungen der Ich-Vitalität Im Vordergrund steht das Spüren des eigenen Leibes durch Bewegungen oder festes Anfassen. Man beginnt mit Bewegungen der Finger und Hände (z.B. Finger tippen aneinander, Hände reiben, Hände klatschen), geht weiter zu den Füßen (am Boden aufstampfen, hüpfen) und zu Arm- und Beinübungen (z.B. ASTE Rückenlage: 1. Hände verschränken – Hände zeigen zur Decke, Ellbögen sind gestreckt; Bewegungsauftrag: Bewegen Sie die Arme von der rechten zur linken Seite, variieren Sie im Bewegungsausmaß und im Tempo. 2. Beine aufstellen – Beine überkreuzen; Bewegungsauftrag: wie oben). Wichtig ist es, die Leibmitte als lebendig und bewegt zu betonen. Dazu wird der Patient aufgefordert, sich selbst abzuklopfen oder sich, zum besseren Spüren der Körperwärme, abzureiben. Auch über die Atmung kann dem Patienten geholfen werden, seine Lebendigkeit zu spüren (Bauchatmung, auf einen Ton ausatmen, Atmen in verschiedenen Dehnlagen …). Bewegungstherapie bei Störungen der Ich-Aktivität Hier soll durch verbale Betonung seitens des Therapeuten die Eigenmächtigkeit der Bewegungsausführung des Patienten hervorgehoben werden. Dem Patienten soll häufig die Gelegenheit ermöglicht werden, eigenständig und bestimmend die Therapie zu gestalten (z.B. Wahl der Gegenstände). Weiters ist es notwendig gezielte Bewegungen mit den Händen (Handeln) anzuleiten. Beispiel Der Patient soll mit geschlossenen Augen die Beschaffenheit mehrerer Gegenstände mit seinen Händen wahrnehmen („die Gegenstände mit geschlossenen Augen anschauen“). Dabei beobachtet der Patient sein Tun und reflektiert im Anschluss sein Handeln: z.B. mit welchem Tempo wurde vorgegangen, wieviel Kraft wurde eingesetzt.
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Beispiel Der Patient geht durch den Raum. Er wird aufgefordert, seine Aufmerksamkeit auf das Gehen zu lenken: Konzentration auf die Schrittlänge, die Spurbreite, die Abrollbewegung der Füße und auf das Tempo. Dann soll der Patient das Gangtempo bis zum maximalen Tempo steigern und wieder bis zum Zeitlupentempo reduzieren. Dies wird einige Male wiederholt. Am Schluss wird der Patient aufgefordert, sein eigenes Gangtempo zu finden. Bewegungstherapie bei Störungen der Ich-Konsistenz Der Patient erlebt seinen Leib als nicht zusammengehörig und in seiner Beschaffenheit verändert. In der Therapie soll dem Patienten das Gefühl des Getragenseins auf dem Boden oder an der Wand lehnend vermittelt werden. Der Therapeut spricht immer wieder den Kontakt des Körpers zum Untergrund und die einzelnen Gelenke als Verbindung des Körpers an. Durch das Zudecken mit Sandsäcken oder einer Decke kann der Patient sich leichter ganzflächig wahrnehmen. Um die Verbindung vom Kopf bis zum Becken deutlicher zu spüren, legt sich der Patient auf zwei Stäbe rechts und links von der Wirbelsäule. Anschließend werden die Stäbe weggenommen und der Patient versucht, seine Wirbelsäule ohne Hilfe der Stäbe wahrzunehmen. Dieser Vorgang wird einige Male wiederholt. Der direkte Körperkontakt (auch mit Gegenständen, z.B. mit Igelbällchen abrollen) sollte klar und eher kräftig sein und unbedingt vorher mit dem Patienten abgesprochen werden. Beispiel Ausgangsstellung: Rückenlage, Beine sind aufgestellt. Bewegungsauftrag: Beine und Becken rollen von rechter zu linker Seite. Dabei soll der Patient beobachten, wohin sich das Gewicht der linken Fußsohle verlagert, wenn das Becken und die Beine sich nach rechts bewegen und umgekehrt. Im Anschluss daran soll der Patient versuchen, gedanklich eine Verbindung zwischen den Fußsohlen und seinem Becken herzustellen. In weiterer Folge soll der Patient beim Durchführen der oben genannten Übung beobachten, ob diese Bewegung eine Auswirkung auf die Lage des Kopfes hat und ob die Nase ihre Stellung im Raum verändert, um dann eine gedankliche Verbindung zwischen Kopf und Becken herzustellen. Zuletzt kann man die Atmung mit einbeziehen:
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Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Atem- und Bewegungsrhythmus oder laufen diese beiden Rhythmen unabhängig voneinander ab? Bewegungstherapie bei Störungen der Ich-Demarkation Im Mittelpunkt stehen die Erfahrung der konkreten Körpergrenzen und die Auseinandersetzung von Nähe und Distanz. Durch das Sichabrollen mit einem Ball, Sichabklopfen oder -abreiben sollen dem Patienten seine Körpergrenzen erfahrbar gemacht werden. Der Patient wird aufgefordert, auch räumlich seinen Platz zu finden und mit Gegenständen seinen Raum abzugrenzen. Mit einem Seil, das mit unterschiedlicher Länge jeweils an einem Ende vom Patienten und Therapeuten gehalten wird, können Nähe und Distanz erprobt werden. Der Patient wird aufgefordert, die Signale des Leibes und Gefühle wahrzunehmen und sie gegebenenfalls auch als Warnsignale zu verstehen. Bewegungstherapie bei Störungen der Ich-Identität Hier ist das Arbeiten an Gesicht und Händen hervorzuheben. Der Patient soll sein Gesicht mit seinen Händen erspüren und ertasten, er soll mit seinen Händen verschiedene Gegenstände ertasten und dabei unterschiedliche Sensibilitätserfahrungen mit verschiedenen Materialien machen. Um seine Ich-Identität zu stärken, kann dem Patienten die Aufgabe gestellt werden, Gegenstände im Raum mit seiner Person in Beziehung zu setzen. Hervorzuheben ist, dass jede Behandlung individuell auf den Patienten abgestimmt sein muss, da diese Störungen des Ichs in unterschiedlichen Kombinationen auftreten und auf Defizite des Patienten spezifisch eingegangen werden muss. Fallbeispiel 25-jähriger Patient mit Denkstörungen wie Gedankenabreißen und einer deutlichen Wahnentwicklung wird stationär wegen Selbstmordgedanken aufgenommen. In der Vorgeschichte findet man eine frühkindliche Verhaltensstörung und einen deutlichen Leistungsknick im 15. Lebensjahr. Der Patient beschreibt, dass er immer alles lernen muss, nichts weglassen kann (Filterstörung), und nachdem sich die Leistung deutlich verschlechterte, begann er sich massiv zurückzuziehen, und er fühlte sich am wohlsten, wenn er allein im Zimmer war. Er beschrieb starke Körperveränderungsgefühle, z.B. glaubte er, wie
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eine Leiche zu riechen, er meinte, dass er unterhalb des Nabels tot sei und dass die Beine nicht zu ihm gehören. Er hätte daraufhin solche Angst entwickelt, dass er meinte, das beste sei zu sterben. Eine Therapie lehnte er trotz des ständigen Zuredens seiner Familie ab, weil er glaubte, dass ihm sowieso nicht geholfen werden kann. Bei der Aufnahme wurde versucht, ihn als Person zu erreichen, die Denkstörung wurde nieder dosiert mit atypischen Neuroleptika behandelt, und der Patient zeigt sehr rasch, dass die Körperveränderungsgefühle und die Fremdheitsgefühle seines Körpers sein Hauptproblem waren. Primär lehnte er jedes Berührtwerden ab, aber nach einer Woche neuroleptischer Therapie war es möglich, mit einer Bewegungstherapie zu beginnen. Es wurden Jacobson’sche Entspannungselemente verwendet, und dann wurde gezielt mit einer konzentrativen Bewegungstherapie primär mit den gespürten Körperteilen und später mit den toten Körperteilen zu arbeiten begonnen. Die Grenze des nicht gespürten Körpers verschob sich langsam nach unten und nach 6 Wochen konnte der Patient in eine ambulante Therapie entlassen werden.
Affektive Störungen
Bei affektiven Störungen kommt es zu einer Entgleisung von Emotionen und Stimmungen. Man unterscheidet die unipolare, das heißt, es tritt nur die Depression oder sehr selten nur die Manie als Krankheitsbild in Erscheinung, und die bipolare Störung, wobei es hierbei abwechselnd zu manischen und depressiven Phasen kommt. Zwischen diesen Phasen, die im Laufe des Lebens immer wieder auftreten können, ist die Stimmungslage normal. Im Rahmen einer Depression (vorwiegend bei bipolaren Störungen) kann es auch zu psychotischen Symptomen, wie Halluzinationen und Wahngedanken, kommen. Die Wahngedanken eines Depressiven sind nachvollziehbar, stimmungskongruent und im Unterschied zu schizophrenen Patienten gegen die eigene Person gerichtet: Schuldund Versündigungswahn, Verarmungswahn, Krankheitswahn sind am häufigsten zu beobachten.
Depression
Die Stimmung eines depressiven Patienten kann als gedrückt, schwermütig, lustlos, ängstlich, hoffnungslos und leer beschrieben
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werden. Der Antrieb ist gehemmt oder stark herabgesetzt. In ihrer Körperhaltung sind Depressive meist in sich zusammengesunken, das Gehen und alltägliche Bewegungsabläufe sind verlangsamt und erscheinen kraftlos. Die Patienten fühlen sich kraft- und energielos und sind in vielen Fällen nicht mehr in der Lage sich zu waschen oder anzuziehen. Diese psychomotorische Hemmung kann sehr stark ausgeprägt zu einem depressiven Stupor, bei dem der Patient zwar wach ist, aber auf keine Außenreize mehr reagiert, führen. In manchen Fällen leiden die Patienten unter starker Unruhe und sind agitiert. Die Patienten verlieren jegliches Interesse und Freude an sonst angenehmen Aktivitäten und die Fähigkeit, auf positive Geschehnisse emotional zu reagieren. Dadurch ist es auch schwierig, in Gesprächen positiv auf die Befindlichkeit des Patienten einzuwirken (herabgesetzte Affizierbarkeit). Als weitere Symptome sind Appetitlosigkeit, die mit einem deutlichen Gewichtsverlust einhergeht, und Schlafstörungen typisch (Einund Durchschlafstörungen). Das Zustandsbild einer depressiven Verstimmung unterliegt sehr häufig einer Schwankung im Tagesverlauf. Am Morgen tritt die Symptomatik oft mehr in Erscheinung (Patienten fühlen sich nicht in der Lage aufzustehen), in den Nachmittagsstunden hellt sich die Stimmung etwas auf. In der Depression leiden die Patienten oft unter vegetativen Begleitsymptomen, wie Obstipation, Mundtrockenheit, Versiegen der Tränenflüssigkeit, und unter somatischen Missempfindungen, wie Druckgefühl auf der Brust, diffusen Oberbauchschmerzen oder Schwindel. Bewegungstherapie mit depressiven Patienten In der bewegungstherapeutischen Arbeit mit depressiven Patienten geht es in erster Linie darum, den Patienten von der Passivität in die Aktivität zu führen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Passivität und Antriebslosigkeit ein Symptom der depressiven Erkrankung ist und der Patient nicht im Stande ist, von sich aus Eigeninitiative zu zeigen. Dies erfordert sehr viel Geduld und Akzeptanz seitens des Therapeuten, der dem Patienten mit Wertschätzung und Zuversicht gegenübertreten sollte. Auch wenn der Patient dem Angebot einer aktiven Bewegungstherapie anfangs ablehnend gegenüber steht, muss der Therapeut den Patienten immer wieder dazu motivieren und ihn langsam Schritt für Schritt, ohne den Patienten zu überfordern, zu mehr Aktivität, Kraft und Lebendigkeit führen.
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Besonderes Augenmerk in der Therapie soll auf die „Leibmitte“ als Zentrum des Gleichgewichtes, der Vitalität und Sexualität gelegt werden. In einer depressiven Phase ist der Patient aus seinem inneren Gleichgewicht gebracht worden und ruht nicht in seiner Mitte. Die Atmung kann nicht frei hineinströmen und ist eingeschränkt. Durch die Atemtherapie werden sowohl durch den direkten Weg, das bedeutet, das Atemmuster wird willentlich verändert, als auch durch den indirekten Weg, wobei der Patient seine Atmung nur beobachtet, ohne aktiv einzugreifen, neue Atemräume geöffnet und Spannungen gelöst. Bevor man beginnt, an der Körperaufrichtung zu arbeiten und mit tonisierenden Übungen Spannung aufzubauen, sollte an der Standfestigkeit und einem guten Bodenkontakt (Grounding) gearbeitet werden. Depressive klagen sehr oft über kraftlose Beine, Schwindelgefühle und Gleichgewichtsstörungen. Durch einen guten Bodenkontakt und eine bessere Standfestigkeit ergibt sich manchmal automatisch eine bessere Aufrichtung der Wirbelsäule. Übungsanleitung für Grounding Füße massieren, abklopfen, abreiben – über verschiedene Gegenstände gehen (Seile, Taue, Murmeln, Steine) – Konzentration auf den Kontakt der Füße zum Boden sowohl im Stand als auch im Gehen – verschiedene Gangarten ausprobieren –
Ziel des Grounding-Übungen ist es, für die Patienten den Boden als festen und tragfähigen Untergrund erlebbar zu machen. Redewendungen wie „Boden unter den Füßen haben“ oder „auf dem Boden der Tatsachen stehen“ weisen darauf hin, dass die untere Extremität und die Füße für die Sicherheit und den Realitätsbezug bedeutend sind. Fallbeispiel 45-jähriger Patient leidet an einer episodischen, stark antriebsgestörten, depressiven Erkrankung, wobei in der Vorgeschichte auch zwei manische Episoden zu beobachten waren. Zum Zeitpunkt der Aufnahme zeigte er das Vollbild einer schweren endogenen Depression mit einem Schuldwahn, starken Versündigungsideen und einer deutlichen suizidalen Einengung. Auf der Körperebene hatte er stark abgenommen und litt unter massiven Schlafstörungen. Er lag einige
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Wochen nur im Bett, und als einzige Tätigkeit trank er etwas Wasser. Er litt unter massiven Körperverspannungen und der gesamte Körper schmerzte ihn. Es wurde gleichzeitig mit der medikamentösen Therapie mit Atemübungen, Wirbelsäulengymnastik und mit einem Spüren von Spannung und Entspannung begonnen. Wärme und Kälte wurden bewusst angeboten und der Patient musste die Zuordnungen angeben. Da er von seiner Persönlichkeit her sehr leistungsbezogen war und er alles perfekt machen wollte, wurde die Bewegungstherapie immer so durchgeführt, dass sie nicht als Leistung interpretiert werden konnte. Spüren und mit dem Körper Friedenschließen war das therapeutische Konzept. Die Bewegungstherapie hat den Heilungsprozess massiv beschleunigt, und bereits nach 3 Wochen konnte der Patient in ein ambulantes Setting übergeben werden.
Manie
Die Stimmung des Patienten in einer manischen Phase ist anhaltend gehoben, euphorisch und ausgelassen, aber auch zeitweise gereizt und aggressiv. Der Antrieb ist gesteigert und beschleunigt, sodass alle körperlichen, seelischen und sozialen Aktivitäten in einem sehr hohen Tempo ablaufen. Ein Handlungsimpuls jagt den anderen. Die Betroffenen leiden unter Konzentrationsschwierigkeiten und können, da sie durch jegliche Außenreize abgelenkt werden, begonnene Handlungen nicht zu Ende führen. Auch der Gedankengang ist deutlich beschleunigt, oft resultierend in einem Rededrang oder in schweren Fällen in einer Ideenflucht (zusammenhanglose Wort- und Sinnassoziationen). Wie bei der Depression kommt es auch bei der Manie zu Schlaf- und Appetitstörungen, die aber vom Patienten nicht als unangenehm empfunden werden. Eine überhöhte Selbsteinschätzung und Größenideen können in schweren Fällen auch wahnhaft werden. Wahnvorstellungen, oft religiöser Art, oder Halluzinationen prägen dann das manische Zustandsbild. Aggressives Verhalten und hohe finanzielle Ausgaben (Patienten geben sehr leichtsinnig große Geldsummen aus) ziehen sehr oft negative Konsequenzen für den Betroffenen nach sich.
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Bewegungstherapie bei manischen Patienten Die Patienten stehen sehr oft unter Druck, sind angespannt, verkrampft und oft gereizt. In der Therapie wird versucht, diese Spannungen und Verkrampfungen zu kanalisieren und die Angetriebenheit und innere Unruhe in gerichtete Aktivitäten und Bewegungen zu lenken, z.B. Walken oder Laufen mit einem anschließenden Cool-down und Stretchingübungen. Wenn die innere Unruhe nicht mehr so groß ist, kann man mit Gleichgewichtsübungen beginnen (z.B. Übungen mit dem Pezziball oder Kreisel), damit die Patienten lernen, sich zu zentrieren. Kontraindikation bei manischen Patienten Bei sehr angetriebenen, manischen Patienten eine klassische Entspannungstherapie (wie z.B. Jacobson) durchzuführen, ist auf Grund der meist herabgesetzten Konzentrationsfähigkeit nicht möglich. Das Herauslassen von überschüssiger Energie, Spannung und Aggression muss zielgerichtet und sinnvoll sein. Fallbeispiel 35-jährige Patientin ist seit Jahren als manisch-depressiv krank bekannt. Sie lernte einen Mann kennen, und sie versuchten beide, die Medikamente wegzulassen, und sie bereiteten sich verschiedenste Tees zu, um die Seele zu reinigen. Dies führte zu einer völligen Schlaflosigkeit, zu einer stark gesteigerten Sexualität und zu finanziellen Ausgaben, die von ihr nie bezahlt werden können. Die Familie brachte sie zur stationären Aufnahme, und die Bewegungstherapie war neben der Medikation die wichtigste akute Therapiemaßnahme. Die Hyperaktivität wurde in körperliche Bewegung umgeleitet, und die durch die Bewegungstherapie erreichte Beruhigung wurde für psychotherapeutisches Arbeiten benützt. Sie konnte schon bald in ein ambulantes Setting übergeben werden.
Essstörungen: Anorexie (Magersucht), Bulimie(Ess-/Brechsucht)
Als eine Ursache bei Essstörungen werden Probleme der Identitätsfindung in der Pubertät angenommen. Daraus resultiert ein starkes Gefühl der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit die eigene Person betreffend. Die genaue Kontrolle des Körpergewichtes bedeutet hingegen ein Gefühl der Sicherheit und eine Steigerung des Selbstwertgefühls. Auch durch gesellschaftliche Einflüsse wird das Bild vermittelt, dass nur schlanke Frauen schön, erfolgreich und beliebt sind.
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Anorexia nervosa
Es erkranken ca. 1% der Frauen im Alter von 15–25 Jahren an Anorexie. 5% der Erkrankten sind Männer. Das Leitsymptom der Anorexie ist das absichtliche Reduzieren des Körpergewichts auf 15% und mehr des zu erwartenden Gewichtes durch Vermeidung von hochkalorischen Nahrungsmitteln, durch die Einnahme von Appetitzüglern oder Diuretika (entwässernde Medikamente) und eine übertriebene körperliche Aktivität. Das Körpergewicht und das Essen ist das zentrale Thema im Leben der Betroffenen. Trotz deutlichem Untergewicht fühlen sich die Patienten zu dick und unförmig (Störung der Körperwahrnehmung). Nach dem Essen werden die Betroffenen von Angst- und Schuldgefühlen überkommen, und in weiterer Folge treten Verzweiflung und depressive Symptome auf. Durch das extreme Untergewicht kommt es zu einer Reihe von körperlichen Beeinträchtigungen und Risiken: – – – –
hormonelle Störungen, Ausbleiben der Menstruation niedriger Blutdruck Hautprobleme Störung des Mineralstoffwechsels (Na, K, Ca usw.) kann zu lebensbedrohlichen Zuständen wie Nierenversagen oder Herzrhythmusstörungen führen.
Bewegungstherapie bei Anorexia nervosa Liegt das Körpergewicht unter 75% des Normalgewichts und besteht daher ein lebensbedrohliches Zustandsbild, müssen die Patienten stationär behandelt werden. Das vorrangige Ziel ist die Gewichtszunahme. Am Beginn ist oft eine Zufuhr der Nahrungsmittel durch Infusionen oder eine Magensonde notwendig. Im Laufe der Zeit sollen die Patienten aber lernen, selbständig für ihre Gewichtszunahme die Verantwortung zu tragen. In der Leibtherapie wird mit den Betroffenen an einer besseren Körperwahrnehmung gearbeitet, um ein reales Bild ihres Körpers zu bekommen. Weiters müssen die Patienten lernen, auf die Signale ihres Körpers zu achten (z.B. Hunger), um diese Bedürfnisse befriedigen zu können. Therapeutische Maßnahmen – Entspannungsübungen – Atemtherapie
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Grounding Übungen zur Bewusstmachung der Leibmitte Übungen, die den Zusammenhang von Kopf, Becken und Bauch betonen
Ausdauersportarten und extremes Krafttraining gelten als absolute Kontraindikation! Die Patienten dürfen sich körperlich nicht verausgaben!
Bulimie
Bei der Bulimie, an der fast ausschließlich Frauen erkranken, kommt es zu Heißhungerattacken mit einer unmäßigen und unkontrollierten Nahrungsaufnahme und darauf folgendem Erbrechen. Diese Anfälle wiederholen sich mehrmals in der Woche oder bei manchen bulimischen Patienten sogar mehrmals täglich. Das Erbrechen, das ein kurzzeitiges Gefühl der Erleichterung bringt, stellt oft eine suchtartige Wirkung dar. Anschließend fühlen sich die Betroffenen meist schuldig, enthemmt und widerwärtig, was zu einer ausgeprägten depressiven Symptomatik führt. Obwohl die Patienten nicht an Untergewicht leiden, steht für sie die Kontrolle ihres Körpergewichtes an erster Stelle. Therapie An erster Stelle steht die Normalisierung des Essverhaltens. Die Patienten müssen Struktur in ihr Essverhalten bringen, sowohl was die Menge als auch was die Zusammensetzung der Nahrungsmittel betrifft. Fallbeispiel 19-jährige Patientin hat seit Jahren Probleme, mit ihrem Körper und mit ihrer Umgebung zu kommunizieren. Im Essverhalten hatte sie bulimische Episoden, zum Zeitpunkt der Aufnahme stand jedoch ein anorektisches Syndrom im Vordergrund (BMI von 14,2). Sie entwickelte außerdem eine Angststörung, eine produktive Symptomatik war nicht zu explorieren. Wir begannen mit Atemtherapie und Entspannungsübungen. Wir versuchten dann, eine bessere Körperwahrnehmung zu erarbeiten, und sie sollte früh auf Signale ihres Körpers achten, um die Zeichen ihres Körpers auch zeitgerecht befriedigen zu können. Ruhephasen und niederes Aktionspotenzial waren Ziele. Der von der Patientin immer wieder geforderten Erhöhung des Trai-
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ningsaufwandes wurde nicht stattgegeben, sondern es wurde ihr immer wieder erklärt, dass Bewegungstherapie nicht mit Leistung gekoppelt ist. Diese Bewegungstherapie konnte gemeinsam mit psychotherapeutischen Sitzungen genützt werden, um mit ihr in einem psychotherapeutischen Prozess traumatische Ereignisse zu erkennen, zu akzeptieren und sogar dazu zu benützen, um im jetzigen Leben wieder genussfähig zu werden. Medikamentöse Therapien waren bei dieser Patientin nicht notwendig, ein ambulantes Setting über 3 Jahre wurde angestrebt.
Organische Abbauprozesse
Organische Abbauprozesse können sich zurückbilden, dann werden sie organische Psychosyndrome genannt. Je nachdem welche Areale betroffen sind, handelt es sich dann um diffuse organische Psychosyndrome (das gesamte Gehirn ist betroffen) oder um lokale organische Psychosyndrome (frontale, temporale, endokrine usw.). Wenn die Abbauzeichen nicht reversibel sind, nennt man diese Syndrome Demenz. Gemeinsam ist all diesen Abbauprozessen eine Leistungsreduktion und eine deutliche Verschlechterung der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses. Vor allem bei älteren Patienten mit Abbauzeichen sind auch oft Werkzeugleistungen betroffen (schlecht sehen, schlecht hören usw.). Die Folge dieser Leistungsreduktionen sind manchmal Enthemmungen, viel häufiger aber sekundäre depressive Syndrome. Die schlechten Leistungen und die depressiven Syndrome führen dann oft zu massivem Aktivitätsverlust. Bewegungstherapie bei organischen Abbauprozessen Die Hauptaufgabe in der Physiotherapie bei Patienten mit Demenz, die an Antriebslosigkeit und Bewegungsunlust leiden, ist die Aktivierung und das Üben von Alltagsbewegungen. Dabei greift man auf die im implizierten Gedächtnis gespeicherten Bewegungsabläufe, die auch bei dementiellen Prozessen am längsten erhalten bleiben, zurück. Diese Ressourcen an gespeicherten automatischen Bewegungsabläufen, vorwiegend Alltagsbewegungen, gilt es in der Therapie zu aktivieren und zu fördern. Wichtig ist eine klare und einfache Formulierung bei der Anleitung der einzelnen Übungen, die immer wieder wiederholt werden müssen, um für den Betroffenen im Alltag wieder verfügbar zu sein. Wenn eine verbale Instruktion für die
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Durchführung des Bewegungsauftrages nicht ausreicht, ist das Vorzeigen der Bewegungsabläufe seitens des Therapeuten für die Patienten sehr hilfreich, wobei aber Vorsicht geboten ist, da dem Betroffenen seine Unzulänglichkeiten vor Augen geführt werden und er sich in seinem Selbstwert gemindert fühlen könnte. Durch passiv assistives Bewegen wird dem Patienten eine weitere Hilfestellung gegeben, falls eine verbale Anleitung oder das Vorzeigen der Übungen vom Patienten nicht umgesetzt werden kann. Ein Wechsel der einzelnen übenden Körperabschnitte ist meist notwendig, da die Patienten oft sehr rasch ermüden. Die Therapie sollte möglichst immer im gleichen Raum abgehalten werden, und ein Therapeutenwechsel sollte vermieden werden, da dem Patienten durch eine vertraute Person und gewohnte Umgebung Sicherheit gegeben wird. Auch die Schulung von Orientierung, Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit sollte berücksichtigt werden und in der Therapie positiv beeinflusst werden. Hier können Spiele (z.B. Ballspiele: beim Fangen des roten Balls in die Hocke gehen – beim Fangen des blauen Balls die Arme nach oben strecken) zum Einsatz kommen. Das Training für Gedächtnis und für die Merkfähigkeit ist oft effizienter, wenn es mit Bewegungsabläufen gekoppelt ist. Insgesamt ist das Ziel der Bewegungstherapie die größtmögliche Selbständigkeit im Alltagsleben zu erhalten oder wieder herzustellen. Fallbeispiel 65-jähriger Patient erlitt in seinem 59. Lebensjahr eine zerebrale Durchblutungsstörung, die zu einer Halbseitenlähmung der rechten oberen Extremität und zu einer deutlichen Sprachstörung führte. Der Patient war vorher Musiker und da er aufgrund seiner neurologischen Symptomatik seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, zog er sich massiv zurück. In einer Studie wurde nachgewiesen, dass deutliche Leistungsstörungen und Gedächtnisstörungen unverändert über 2 Jahre bestanden, die auch medikamentös nicht zu bessern waren. In einem bewegungstherapeutischen Ansatz wurde begonnen, die Bewegungsabläufe und die Alltagsbewegungen zu üben. Die Therapeuten gingen auch mit ihm ins Konzert und aktivierten ihn, sich spielend mit Musik auseinanderzusetzen. Die regelmäßige Bewegungstherapie führte zu einer Verbesserung der Leistungsparameter, die auch wissenschaftlich objektiviert werden konnten.
Bewegungstherapie aus psychiatrischer Sicht
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Abhängigkeitserkrankungen
Abhängigkeitserkrankungen werden heute als Prozess gesehen, wobei ganz unterschiedliche Bedingungen dazu führen, dass ein Suchtmittel als angenehm erlebt wird. Patienten pendeln dann zwischen chronischer Vergiftung und täglichem Entzug (während des Schlafes fällt die Konzentration des Suchtmittels). Sie entwickeln Leistungsreduktionen und rutschen in den „Suchttrichter“, sodass sie die Umgebung nicht mehr adäquat wahrnehmen können. Dies führt zur sozialen Isolation. Einige von ihnen entwickeln Entzugssyndrome. Je länger der Prozess dauert, umso mehr treten biologische Störungen in den Vordergrund und umso schwieriger wird es, diese Personen zu erreichen. Die Definition von Untergruppen Abhängigkeitskranker ist unbedingt notwendig, um eine individuelle optimale Therapie in Gang zu setzen. Störungen der Persönlichkeit oder eine andere komorbide psychiatrische Störung müssen erkannt werden, um eine optimale Therapie durchzuführen. Allgemeine Regeln der Bewegungstherapie bei Abhängigkeitserkrankungen Das Hauptziel in der Arbeit mit Suchtkranken aus physiotherapeutischer Sicht ist die Wahrnehmung und das Spüren des eigenen Körpers, sowie den Körper mit auftretenden Gefühlen im Zusammenhang bewusst zu erleben. Weiters stehen sowohl die Aktivierung und Kräftigung als auch die Förderung von Kondition und Koordination nach oftmals langer Inaktivität und Vernachlässigung des eigenen Körpers im Vordergrund. In Bewegungstherapiegruppen wird versucht dem Ich-gerichteten Rückzug aus der Gesellschaft entgegenzuwirken. Die Patienten sollen lernen, körperliche Aktivität einzusetzen, um Spannungszustände (wie Angst, Wut, Frustrationen) leichter zu bewältigen. Am Beginn der Therapie müssen körperliche Begleiterscheinungen berücksichtigt und oft in Einzeltherapie behandelt werden, z.B. erhöhter Blutdruck, Polyneuropathien, Koordinationsstörungen, Störungen der Feinmotorik, Krampfanfälle, Hauterkrankungen und nicht zuletzt Gelenks- und Wirbelsäulenschmerzen, die oft erst nach dem Entzug für den Patienten spürbar werden. Häufig ist bei Suchtkranken die Rumpfmuskulatur sehr schwach ausgeprägt. Sie „hängen“ förmlich in ihren passiven Strukturen. Hier ist ein Kräftigungsprogramm für Bauch- und Rückenmuskulatur indiziert (z.B. mit Theraband),
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sowohl um eine Aufrichtung der Wirbelsäule auf der körperlichen Ebene zu erzielen als auch um in Bezug auf die Ich-Stärkung positiv einzuwirken. Um dem Patienten das Spüren seiner Wirbelsäule zu verdeutlichen, kann man den Rücken entlang der Wirbelsäule mit einem Igelball abrollen. Zum Training des Gleichgewichts können labile Geräte wie ein Pezziball, ein Schaukelbrett oder Kreisel verwendet werden. Bei schwereren Zustandsbildern ist aber schon das Gehen in unebenem Gelände (Gras oder Kiesweg) von großer Schwierigkeit und muss geübt werden. Als Konditionstraining kann ein Ergometertraining oder die Teilnahme an Walking- oder Laufgruppen verordnet werden, die mit geringer Intensität und sehr langsamen Steigerungen aufgebaut werden sollten. Die Patienten sollten auch Freude an der körperlichen Aktivität haben, weil dann eher die Chance besteht, dass sie eine sportliche Betätigung in ihr Alltagsleben integrieren. Weiters haben Ausdauersportarten auch den Aspekt, ein gewisses Durchhaltevermögen zu fördern. Spezifische Bewegungstherapie bei Alkoholkranken nach der Typologie von Lesch Typ I: „Allergiemodell“, intaktes Ich
Beim Typ I liegt keine Persönlichkeitsstörung zu Grunde, sondern in erster Linie ein Alkoholproblem vor. Es besteht eine biologische Vulnerabilität, das heißt eine bedingte Sensibilität gegenüber Alkohol. Die Patienten haben phasenweise ein sehr starkes Verlangen nach Alkohol und leiden unter starken Entzugserscheinungen, die epileptische Anfälle und Delirium tremens einschließen können. Die Entzugssymptomatik ist bei Typ-I-Patienten sehr schwer ausgeprägt und muss am Beginn der Bewegungstherapie berücksichtigt werden. Die Patienten leiden an einem dreidimensionalen Tremor, an einem schwankenden Blutdruck, unter starkem Schwitzen, unter großer innerer Unruhe und oft sogar unter einer Entzugsepilepsie bis zu einem Delirium tremens. Unter der Berücksichtigung dieser Symptomatik muss mit einer gering dosierten Aktivierung und mit leichter Bewegungstherapie begonnen werden. Der Typ-I-Patient ist ein so genannter Reward-Trinker, das bedeutet, dass dieser Patient positive Erfahrungen und eine so genannte Belohnung durch den Einfluss von Alkohol gewinnt. In weiterer Folge müssen daher Strategien an Stelle des Einsatzes von Alkoholkonsum ausgearbeitet werden. Eine Möglichkeit
Bewegungstherapie aus psychiatrischer Sicht
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wäre, die Patienten zu sportlichen Aktivitäten zu motivieren und in diesem Rahmen ihre Sozialkontakte zu pflegen, um so genannten sozialen Trinkauslösern (Lokalbesuche mit Freunden) auszuweichen. Der Patient sollte lernen, durch körperliche Aktivität, aber auch z.B. mit einer Massage sich zu „belohnen“. Typ II: „Konfliktlösungsmodell, Angst“, strukturschwaches Ich
Alkoholkranke des Typs II greifen zu Alkohol, um Spannungszustände, Angst, emotionale Schwankungen und eher leichte depressive Zustände in den Griff zu bekommen. Dabei können enthemmte Persönlichkeitszüge, wie latente Aggressivität, auftreten. Ohne Alkoholeinwirkung leben die Patienten sehr zurückgezogen, passiv und sozial angepasst. Im Gegensatz zum Typ-I-Patienten kommt es beim Typ-II-Patienten zu einer leichteren Entzugssymptomatik, nämlich einem leichten Tremor, Schwitzen und Einschlafstörungen. In der Bewegungstherapie muss in erster Linie auf die Ich-Stärkung eingegangen werden, durch z.B. Übungen zur Aufrichtung der Wirbelsäule. Dem Patienten sollte bewusst gemacht werden, wie es sich anfühlt, in sich zusammengesunken zu sitzen, und im Gegenteil dazu mit einer gut aufgerichteten Wirbelsäule. Weiters kann in Gruppentherapien das Erkennen und Wahren der eigenen Grenzen, das Abgrenzen und Neinsagen geübt werden. Zum Abbau von Spannungszuständen ist das Erlernen von Entspannungstherapien, z.B. Jacobson, von großer Wichtigkeit. Typ III: „Alkohol als Antidepressivum“, überstrukturiertes rigides Ich
Dem Alkoholtyp III liegen affektive Störungen zu Grunde. Diese Patienten sind im Antrieb, in der Stimmung und in ihrem Schlafrhythmus stark beeinträchtigt. Auffallend ist, dass in dieser Gruppe anamnestisch sehr oft Haftstrafen zu finden sind, was natürlich negative Auswirkungen auf das soziale Leben (Familie, Beruf usw.) hat. Beim Typ III wird Alkohol als Behandlung von Schlafstörungen, Antriebsschwäche, gegen negative Gedanken und innere Unruhe herangezogen. Bei Alkoholabhängigen vom Typ III liegt eine erhöhte Suizidalität vor. In der Bewegungstherapie soll der Patient einen neuen Zugang zu seinem Körper erfahren. Diese Patienten sind sehr starr, krampfhaft („rigides Ich“), leistungsorientiert und kognitiv gesteuert. Das Spüren, Erleben und Wahrnehmen des eigenen Körpers wird hintangestellt. Die bewegungstherapeutische Aufgabe besteht vorwiegend darin, die Verkrampfung und Starre auch auf körperlicher Ebene zu lockern,
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den Körper für den Patienten wieder spürbar und entspannter erlebbar zu machen. Wichtig ist, dass der Patient ohne Leistungsdruck Freude an körperlicher Betätigung hat. Typ IV: „Alkohol als Gewöhnung“, reduziertes Ich
Bei Typ-IV-Patienten sind eine zerebrale Vorschädigung (vor dem 14. Lebensjahr) und soziale Belastungssituationen in der frühen Kindheit beginnend bis in die Gegenwart zu finden. In der Anamnese dieser Patienten ist eine problematische Beziehung zu den Eltern, Gewalt und oft Missbrauch zu finden. Dadurch kommt es zu Entwicklungsstörungen, Funktionsstörungen (Bettnässen, Essstörungen, Schlafstörungen), zu Störungen im Leistungsbereich, zu Störungen der Grundstörung (z.B. erhöhte Ängstlichkeit) und sozialen Störungen (erhöhte Aggressivität). Die Rückfallquote ist bei dieser Gruppe von Alkoholkranken am höchsten. In der Bewegungstherapie wird versucht in der Gruppe zu lernen, wie man sich bei Interaktionen fühlt, welche Reaktionen das eigene Verhalten bei anderen Gruppenmitgliedern auslöst. Man kann dabei auch ähnlich vorgehen wie bei zerebralen Abbauprozessen. Die Abgrenzung dieses Erlebens von dem Verhalten in einer trinkenden Gruppe kann bewusster gemacht werden. Ballspiele, wobei man sich Bälle zuwirft, auf denen verschiedene Fragen aufgedruckt sind und die dann vom Fangenden beantwortet werden sollen, haben sich bewährt. Modelle, die zeigen, dass auch gefährliches Verhalten einen guten Ausgang haben kann, werden weltweit angewandt, z.B. kann man aus Glassplittern, die selbst spitz sind und leicht zu Verletzungen führen können, gemeinsam Bilder machen oder einen Boden verbessern und so zeigen, dass auch Glassplitter etwas Nützliches sein können. Fallbeispiel eines Typ-II-Alkoholkranken 45-jähriger Patient wird in einem leistungsbezogenen Milieu erzogen. Lob für gute Leistungen ist ihm völlig unbekannt. Er kann nicht nein sagen und es ist für ihn lebensnotwendig, dass ihn seine Umgebung akzeptiert und positiv erlebt. Sein Selbstwertgefühl ist äußerst niedrig, und die Freundschaften, auf die er sich einlässt, sind immer dadurch geprägt, dass die Partner als viel mächtiger erlebt werden. Er lernte, dass er eigentlich nur unter der Einwirkung von Alkohol im Stande war, Partner kennen zu lernen. Unter Alkoholvergiftungen revoltierte er gegen seine Umgebung, und es kam auch zu körperli-
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chen Attacken gegen die Mutter und die Freundin. Er wurde deshalb in die Psychiatrie aufgenommen, um eine Alkoholentwöhnung durchzuführen und um einen Motivationsprozess in Gang zu setzen, der zu einer längerfristigen psychotherapeutischen Behandlung führen soll. Zur Unterstützung dieses Prozesses wurde in der Bewegungstherapie vor allem versucht, dass er den Körper besser spüren lernt und dass er in Gruppenspielen lernt, in der Gruppe auch nüchtern nein zu sagen, und jeder Fortschritt wurde durch Lob verstärkt. Er ist jetzt 2 Jahre abstinent, deutlich selbstsicherer und sagt, dass er keinen Alkohol mehr braucht.
5. Spezifische Techniken in Bewegungstherapien Entspannungstherapie, die progressive Muskelrelaxation von Edmund Jacobson, das autogene Training und Biofeedbackmethoden haben in der Bewegungstherapie psychiatrischer Patienten einen hohen Stellenwert. Da diese Methoden mit psychotherapeutischen Ansätzen überlappen, ist es notwendig, im therapeutischen Team zu klären, wer für welche Aktivität zuständig ist.
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Glossar Acarbose Medikament zur Behandlung von Diabetes mellitus. Adduktion Bewegung von Körperteilen zur Körperachse hin. Die Muskeln, die diese Bewegung durchführen, heißen Adduktoren. Im Gegensatz dazu bedeutet Abduktion das Seitwärtswegführen eines Körperteils von der Körper- bzw. von der Gliedmaßenlängsachse in der Frontalebene. Die Muskeln heißen demnach Abduktoren. ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder) Aufmerksamkeitsstörung kombiniert mit Hyperaktivität. Patienten haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und haben einen enormen Bewegungsdrang. Adipositas Fettleibigkeit, krankhaftes Übergewicht. Adrenalin Stresshormon, das im Nebennierenmark produziert wird. affektive Störungen Störungen, bei denen es zu einer Entgleisung von Emotionen und Stimmungen kommt. Man unter-
scheidet zwischen unipolaren Störung – es treten entweder nur depressive Zustandsbilder oder seltener nur manische Zustandsbilder auf – und bipolarer Störung (auch bekannt unter „manisch-depressive Erkrankung“) – Patienten schwanken zwischen extremen „Hochund Tiefphasen“. Affektverflachung Patienten reagieren nicht mehr entsprechend auf bestimmte Ereignisse, die Person wirkt auf die Umwelt unbeteiligt und ungerührt. Affizierbarkeit Gefühlsmäßiges Ansprechen auf Außenreize. Agonisten und Antagonisten Das Zusammenwirken der Muskeln. Der Muskel selbst kann sich nur zusammenziehen. Für die Gegenbewegung ist ein weiterer Muskel notwendig. Verkürzt sich der Beugemuskel, wird der erschlaffte Streckmuskel gedehnt (und umgekehrt); z.B. wenn der Bizeps den Unterarm im Ellbogengelenk beugt, muss der Trizeps gedehnt werden. Alkoholkranken-Typologie nach Lesch Typ I, „Allergie-
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Glossar
modell“, Patienten haben ein Alkoholproblem ohne dahinter stehende Persönlichkeitsstörung; Typ II, „Alkohol als Konfliktlöser“, Patienten trinken auf Grund eines psychologischen Verlangens, Alkohol wird verwendet, um Spannungen und Konfliktzustände abzubauen; Typ III, „Alkohol als Antidepressivum“, Patienten leiden unter einer Störung der Chronobiologie sowie meist unter affektiven Störungen, die Suizidalität ist erhöht; Typ IV, „Alkohol als Gewöhnung“, Patienten haben organische Schäden, v. a. zerebrale Vorschädigungen und leiden unter sozialen Belastungssituationen. Alveolitiden Entzündungen der Lungenbläschen. Aerob Wenn die Energiebereitstellung für die Muskelarbeit durch Sauerstoff abgedeckt ist, spricht man von aerober Stoffwechselarbeit. Anaerob bedeutet hingegen, dass die Energiebereitstellung ohne Sauerstoff erfolgt. Arrhythmie Unregelmäßiger Rhythmus der Herztätigkeit, Herzrhythmusstörungen. Arthroskopie Die Arthroskopie ist eine spezielle endoskopische Untersuchung von Gelenken. Ein Arthroskop (ähnlich einer kleinen Kamera) wird durch einen kleinen Hautschnitt in einen Gelenk-
raum eingebracht. Der Arzt kann dabei direkt die Gelenkstrukturen betrachten. Die Arthroskopie wird vor allem bei der Untersuchung und Behandlung von Knie-, Sprung- und Schultergelenk angewendet. assistives Bewegen Unterstütztes Bewegen, Abnahme der Eigenschwere durch Therapeut. Aszites Flüssigkeitsansammlung im Bauchraum. autogenes Training Entspannungstechnik. Bedside-Insulin Insulinspritze, die vor dem Schlafengehen verabreicht wird. Borg-Skala Die Erfassung des Leistungsempfindens nach Borg stellt eine Möglichkeit dar, wo ohne Messinstrumente eine einordnende Aussage über die eigene subjektiv empfundene Leistung gemacht werden kann. Es existieren eine alte Skala, welche von 6 bis 20 läuft, sowie eine neue Skala, welche von 1 bis 10 geht. bradythroph Stark verlangsamter Stoffwechsel. bronchopulmonal Die Bronchien und Lunge betreffend. Bronchospasmus Krampfzustand der Atemwegsmuskulatur, der zu einer Verengung der Atemwege und damit zu einer Erhöhung des Atemwegswiderstandes führt. Coronarreserve Durchblutungsreserve des Herzmuskels.
Glossar
dementielle Patienten Patienten, die unter einer eingeschränkten geistigen Leistungsfähigkeit leiden, die nicht reversibel ist (Demenz). Depersonalisation Störung des einheitlichen Erlebens, eigener Körper fühlt sich fremd, unwirklich und verändert an. Depression Psychische Störung, die durch gedrückte Stimmung, gehemmten Antrieb, Interesselosigkeit, Freudlosigkeit und Schlafstörungen sowie ein gestörtes Selbstwertgefühl gekennzeichnet ist. depressiver Stupor Starrezustand des ganzen Körpers bei wachem Bewusstsein, Bewegungen werden nicht oder nur sehr langsam ausgeführt. Derealisation Betroffene empfindet die Umwelt bedrohlich, Gegenstände und Personen wirken für sie fremdartig und unwirklich. dilatative oder hypertrophe Kardiomyopathie Erkrankungen des Herzmuskels, die durch Vergrößerung der Herzhöhlen (= dilatativ) oder Verdickung des Herzmuskels (hypertroph) gekennzeichnet sind. distal Weiter vom Rumpf, von der Körpermitte bzw. vom Herzen (Gegensatz: proximal) entfernte Teile. dorsal Rückseitig, nach dem Rücken hin liegend. dynamisch-isoton Begriff bezieht sich auf das Krafttraining,
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dynamisch – Muskelarbeit mit Verkürzung oder Verlängerung, isoton – unter gleichbleibender Spannung der Muskulatur. Echolalie Krankhafter Zwang, Sätze und Wörter von Gesprächspartnern selbst zu wiederholen; häufig bei Schizophrenie. Echopraxie Nachahmung einer Bewegung. Endangiitis (Morbus WiniwarterBuerger) Eine Gefäßerkrankung, die v.a. bei männlichen Rauchern auftritt. Endokard Innerste Herzwandschicht. Endoprothese Künstlicher Gelenksersatz. endovaskulär Im Inneren der Gefäße. Entspannungsmethode nach Jacobson Methode, bei der durch Muskelan- und -entspannung das Gefühl für den Körper neu erlernt werden soll und dadurch Stress und Angst abgebaut werden kann. Erkrankungen aus schizophrenem Formenkreis Psychosen, die zu Störungen und Veränderungen des Denkens, Fühlens, Handelns und des Ich-Erlebens führen. Exostosen Überbein. Extero- und Interozeptoren Andockstellen für äußere Reize oder innere Reize. Extrapolation Statistischer Wert, der eine Schätzung an
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Glossar
Hand der beobachteten Werte ermöglicht. Flexibilitas cerea (wächserne Biegsamkeit) Phänomen, das bei Schizophrenie auftreten kann, die Extremitäten verharren dabei in einer von außen vorgegebenen Position. Glitazone Medikamente zur Verbesserung der Insulinempfindlichkeit. Grounding Diagnostische Prinzip, in dem es um die Qualität des Kontakts einer Person zu ihrem Körper geht. Halluzination Wahrnehmungsstörungen; sie entsprechen für den Betroffenen einer realen, echten Wahrnehmung. HRR Herzfrequenzreserve. Die Herzfrequenzreserve errechnet sich aus der Maximalen Herz-Frequenz minus Ruheherzfrequenz puls. Die Faustformel zur Berechnung der MHF ist: MHF = 226 – Alter (bei Frauen) MHF = 220 – Alter (bei Männern) Die RHF wird direkt nach dem Wachwerden, vor dem Aufstehen gemessen. Hyaluronsäure Wichtiger Bestandteil des Knorpels. hyperglykämisch Hohe Blutzuckerwerte. Eine Überzuckerung oder Hyperglykämie ist für jeden Diabetiker eine gefährliche Situation. Dabei wird die Nierenschwelle von 180 mg/dl überschritten, und es tritt Glucose in den Harn
über. Typische Symptome: Durst, häufiges Wasserlassen. Hyperinsulinämie Der Insulinspiegel im Blut steigt immer weiter an. Befindet sich immer zuviel Insulin im Blut, werden die Zellen immer unempfindlicher (resistenter). Daraufhin produziert die Bauchspeicheldrüse immer mehr Insulin, um den Blutzuckerspiegel auf einem normalen Niveau zu halten. Schließlich sind eines Tages, durch die fortdauernde Überproduktion, die Zellen der Bauchspeicheldrüse erschöpft. Hyperlipidämie Erhöhung der Blutfettwerte über dem Normbereich. Sie verursachen meist keine Beschwerden. Es kommt jedoch in einem schleichenden Prozess zu einer Arterienverkalkung durch Fetteinlagerung. Für die Betroffenen steigt das Risiko der Arteriosklerose (Ablagerungen in den Arterienwänden) und Folgeerkrankungen wie koronare Herzkrankheit, Herzinfarkt und Schlaganfall. implizites Gedächtnis Die Darbietung eines Reizes hat Auswirkung auf späteres Verhalten, ohne dass eine bewusste Erinnerung an diesen Reiz erforderlich ist. Insulinrezeptoren Bindungsstellen an den Zellen für das Insulin, hier entfaltet das Insulin seine Wirkung.
Glossar
interstitielle Lungenerkrankungen Erkrankungen, das Lungengewebe betreffend; häufige Symptome sind Atemnot, Husten und Gewichtsabnahme. intraartikuläre Druckverhältnisse Druckverhältnisse im Gelenk. kardioselektive Betablocker Betablocker (= Medikamente), die ihre Wirkung vor allem am Herz und weniger an den Gefäßen ausüben. kardiovaskulär Herz und Kreislauf betreffend. Katabolie Abbau von Körperund/oder Muskelsubstanz. katatoner Stupor Erstarrung in einer eingenommenen Haltung, tritt häufig bei psychischen Erkrankungen auf; Störung der Willkürmotorik. Keton Stoffwechselendprodukt im Hungerzustand oder unter Insulinmangel. Konversionsstörungen Psychogene Reaktionsbildungen, deren Ursachen nicht körperlichen Ursprungs sind, sondern aufgrund von psychischen Faktoren entstehen. konzentrative Bewegungstherapie Psychotherapeutisches Verfahren, das auf der Theorie fußt, dass Wahrnehmungen sich aus Sinnensempfindungen und Erfahrungen zusammensetzen Manie Affektive Störung, die gemeinsam mit Depressionen auftreten kann (s. Affektive
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Störungen); gekennzeichnet durch rastlose Aktivität, Unruhe, Verlust von Hemmschwellen, innere Getriebenheit, gehobene heitere Stimmung. Metabolisch Mit dem Stoffwechsel verbunden. Metformin Medikament zur Blutzuckersenkung. Mikroalbuminurie Ausscheidung von kleinen Mengen von Albumin (wichtiges Eiweiß) durch den Harn. mikrovaskulär Die kleinsten Blutgefäße betreffend. Mitochondrien Wichtiger Bestandteil der Zelle, der für die Energiegewinnung sehr wichtig ist („Kraftwerk der Zelle“). Mitralklappe Herzklappe zwischen linkem Vorhof und linker Herzkammer. mmol/l Chemische Maßeinheit. Nephropathie Schädigung der Niere. Neurolinguistisches Programmieren (NLP) Psychotherapiemethode, die versucht, die Kommunikation und das Verhalten in Alltagssituationen effektiver zu gestalten. neuromuskulär Nerven und Muskel betreffend. Noradrenalin Stresshormon, das im Nebennierenmark produziert wird. Normalinsulin Kurz wirksames Insulinpräparat. NYHA-Stadien Stadien der Herzinsuffizienz. Bei der Einteilung der Schweregrade der
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Glossar
Herzinsuffizienz hat sich das Schema der New-York-HeartAssociation (NYHA) bewährt. Die Schweregrade werden hier anhand des Leitsymptoms Luftnot in vier Stadien eingeteilt und spiegeln den Grad der funktionellen Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit wider. Obstipation Verstopfung. Ödem Wasseransammlung in Geweben. orthostatisch Lagewechsel vom Liegen zum Stehen, typische orthostatische Beschwerden sind etwa Schwindelgefühle oder Schwarzwerden vor den Augen beim schnellen Aufstehen. Oxygenierungsstörung Störung der Sauerstoffaufnahme. Parakinesen Störung des normalen Bewegungsablaufs. Paramimik Störung in der normalen Mimik. Parfetti Therapiemethode zur neuromuskulären Koordination. Peakflowmeter Einfaches Lungenfunktionsmessgerät. Pendelvolumen Blutvolumen, das durch eine geschädigte und nicht mehr komplett schließende Herzklappe zurückströmt. Peronaeus Strukturen, die sich an der Außenseite der Wade befinden (Muskel, Nerv). PNF Die Abkürzung PNF steht für „Propriozeptive neuromus-
kuläre Fazilitation“ und bedeutet das Zusammenspiel von Nerven und Muskulatur. Sie basiert auf neurophysiologischen Grundprinzipien und definierten Bewegungsmustern. Mit PNF kann man Muskelspannung normalisieren (z.B. Spastizität herabsetzen oder schwache bzw. gelähmte Muskeln aktivieren), d.h. fazilitieren und motorische Kontrolle, Mobilität, Geschicklichkeit und Koordination fördern. Polyneuropathie Systemische Erkrankung mehrerer Nerven. Preload Vordehnung, Vorlast. primäre Prävention Verhütung von Krankheiten bei Gesunden z.B. durch einen gesundheitsförderlichen Lebensstil (gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung). proliferativ Wachsend, vermehrend. Pronationsmuskulatur Muskulatur, die einwärts dreht, z.B. bei Füßen – Senkung des inneren Fußrandes. Proximal Näher rumpfwärts gelegene Teile bei Gliedmaßen, das Gegenteil davon ist distal. Psychomotorik Körperlicher Ausdruck des Seelenlebens, umfasst Mimik, Gestik und kombinierte Bewegungsabläufe. Psychosen Psychische Symptome, die autonom verlaufen und über längere Zeit bestehen (Beharrungstendenz), Aus-
Glossar
druck für den Schweregrad einer psychischen Störung. Ratings of Perceived Exertion (RPE) Belastungsempfinden, wie es jeder selbst wahrnimmt. Retinopathie Nicht entzündlich bedingte Erkrankung der Netzhaut. Sarkoidose Die Sarkoidose ist eine entzündliche Autoimmunerkrankung, die v.a. die Lunge betrifft, letztlich aber alle Organe einbeziehen kann, und deren Ursache bislang unbekannt ist. Sedierung Medikamentöse Beruhigung eines Patienten. somatoforme Störungen Physische Symptome, die organisch nicht erklärbar sind und durch klassische, somatische Behandlungsmethoden nicht beeinflussbar sind. Somnolenz Leichtester Grad der Bewusstseinstrübung mit Einschlafreaktionen und verlangsamter Bewegung und Sprache. Sphinktermuskeln Ringförmig angelegte Schließmuskeln, die etwa die Körperöffnungen an Po und Harnröhre verschließen. Spiroergometrie Belastungstest des Herz-Kreislauf-Systems unter Einbeziehung der Messung der Lungenfunktion. Spongiosa Kleine vernetzte Knochenbälkchen im Inneren eines Knochens. Stenokardien Schmerzen, die durch kurzzeitige Minder-
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durchblutung des Herzens hervorgerufen werden. Stenose Engstelle, z.B. Auftreten von Verengungen und Verschlüssen in den Beinarterien. Stereotypien Wiederholung von bestimmten Bewegungen. Sulfonylharnstoffe Eine Medikamentengruppe zur Behandlung der Zuckerkrankheit. Supinationsmuskulatur Muskulatur, die auswärts dreht, z.B. Hebung des inneren Fußrandes. Tachykardie Hoher Puls, rasche Herzaktion. Tibialis posterior und anterior Muskel, Nerv im Bereich vor und hinter dem Schienbein. Trochanterabbruch Abbruch eines Knochenteils am Oberschenkel im Bereich der Hüfte. Ulzera Geschwüre. Ventrikel Herzkammer. viszeral Eingeweide betreffend. Vulnerabilitätsphasen Zeiträume, in denen die Anfälligkeit und Verletzbarkeit besonders hoch ist. Wahn Reaktionsbildung, die durch die Interpretation von normalen und abnormalen Wahrnehmungen, wie z.B. Halluzinationen, entsteht; diese Interpretationen werden häufig in ein System eingegossen und je nach Alter, Geschlecht und Grundstörungen treten unterschiedliche Wahninhalte auf (Verfolgung, Schuld, Eifersucht usw.); die
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subjektive Gewissheit und die Unkorrigierbarkeit sind ein Diagnosekriterium des Wahnes. Waist-hip-ratio (WHR) Der Taille-Hüft-Quotient gibt das Verhältnis des Körperumfanges in Taillenhöhe zum Körperumfang in Hüfthöhe an. So lässt sich feststellen, ob die Fettverteilung mehr dem Apfel-Typ entspricht (um den Bauch herum) oder eher dem Birnen-Typ
(an der Hüfte). Die Fettverteilung beim Typ Apfel gilt dabei als gesundheitsschädlicher. Ergibt sich bei Männern ein Quotient von über 1,0 (Fettspeicherung am Bauch), besteht bereits ein erhöhtes Gesundheitsrisiko (Herz-Kreislauf-Erkrankungen). Bei Frauen wird dieser Wert bei 0,8 angesetzt. Zuni-Diabetes-Projekt Studie zur Auswirkung von Training auf die Diabetesmedikation.
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SpringerMedizin Norbert Bachl, Werner Schwarz, Johannes Zeibig Fit ins Alter 5Q\ZQKP\QOMZ*M_MO]VOR]VOJTMQJMV
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