Yves Sintomer · Carsten Herzberg · Anja Röcke Der Bürgerhaushalt in Europa – eine realistische Utopie?
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Yves Sintomer · Carsten Herzberg · Anja Röcke Der Bürgerhaushalt in Europa – eine realistische Utopie?
Bürgergesellschaft und Demokratie Band 33 Herausgegeben von Ansgar Klein Ralf Kleinfeld Frank Nullmeier Dieter Rucht Heike Walk Ulrich Willems Annette Zimmer Die Schriftenreihe wird unterstützt vom Verein Aktive Bürgerschaft e.V. (Berlin)
Yves Sintomer · Carsten Herzberg Anja Röcke
Der Bürgerhaushalt in Europa – eine realistische Utopie? Zwischen partizipativer Demokratie, Verwaltungsmodernisierung und sozialer Gerechtigkeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dieses Buch ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes am Berliner Centre Marc Bloch und der Humboldt-Universität zu Berlin, das von der Hans-Böckler-Stiftung unter dem folgenden Titel finanziert wurde: Der Bürgerhaushalt im europäischen Vergleich – Perspektiven und Chancen des kooperativen Staates auf kommunaler Ebene. Des Weiteren haben das französische Ministerium für Forschung (ACI „Délibération, démocratie participative et mouvements sociaux“), die Region Ile-de-France (PICRI „Vers une démocratie technique“), das Centre Marc Bloch Berlin sowie der CNRS und die Universität Paris 8 im Rahmen des UMR „Culture et Sociétés Urbaines“ zur Finanzierung des Projektes beigetragen.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Janssen Peters Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17083-1
Inhalt
Vorwort .......................................................................................................... 11 Einleitung: Unruhe in der Demokratie .......................................................... 15 1. 2. 3. 4.
Teil I
Das Unbehagen gegenüber der Demokratie ....................................... 15 Jenseits traditioneller Beteiligungsformen ......................................... 18 Das Forschungsprojekt ....................................................................... 21 Engagement und Distanzierung ......................................................... 23
Der Bürgerhaushalt in Europa
Kapitel 1
„Alles begann in Porto Alegre…“ ............................................. 31
1. Die Erfindung des Bürgerhaushalts .................................................... 31 2. Die Verbreitung des Bürgerhaushalts in Brasilien und Lateinamerika ..................................................................................... 36 3. Was ist ein Bürgerhaushalt? ............................................................... 39 4. Die Verbreitung des Bürgerhaushalts in Europa ................................ 43 Kapitel 2
Eine europäische Konvergenz? .................................................. 54
1. Eine schwache Konvergenz lokalpolitischer Strukturen .................... 54 2. Legitimationskrise und Veränderungen der repräsentativen Demokratie ......................................................................................... 59 3. Verwaltungsreform und Partizipation ................................................ 64 4. Histoire croisée .................................................................................. 69 5. Ein Paradox ........................................................................................ 77 Kapitel 3
Verschiedenheit der Verfahren .................................................. 80
1. Porto Alegre in Europa ....................................................................... 84 2. Bürgernahe Partizipation .................................................................... 87
6
Inhalt
3. 4. 5. 6.
Konsultation öffentlicher Finanzen .................................................... 89 Privat-/öffentlicher Verhandlungstisch .............................................. 91 Gemeinwesenfonds auf Quartiers- und Stadtebene ............................ 94 Partizipation organisierter Interessen ................................................. 96
Zusammenfassung: Eine ausgeprägte Verfahrenskreativität ...................... 101
Teil II
„Zwei, drei… viele Porto Alegre“?
Kapitel 1 1. 2. 3. 4. 5.
Partizipative Modernisierung (Deutschland, Finnland) .......... 112
Deutschland: Die fetten Jahre sind vorbei ........................................ 112 Konsultation öffentlicher Finanzen .................................................. 116 Neue Akteure beleben den Prozess .................................................. 127 Hämeenlinna (Finnland): Die kleine Demokratie ............................ 138 Voraussetzungen einer partizipativen Modernisierung .................... 146
Kapitel 2
Porto Alegre in Europa? .......................................................... 149
1. Spanien: Die Macht der Vereine ...................................................... 149 2. Italien: Die Politik nach Mani pulite .................................................161 3. Bleibt Porto Alegre die Ausnahme? ................................................. 170 Kapitel 3
Bürgernahe Demokratie im „Zeichen der Zeit“ (Frankreich) ............................................................................. 172
1. Die Erosion des Republikanismus .................................................... 174 2. Politischer Dialog, bürgernahe Verwaltung: Saint-Denis und Bobigny ............................................................................................ 177 3. Die Erwartungen an einen regionalen Bürgerhaushalt ..................... 186 4. Zwischen partizipativer Demokratie und bürgernaher Partizipation ................................................................. 193 Kapitel 4
Bürgernahe Demokratie: Sprungbrett oder Falle (Belgien, Portugal, Niederlande) ............................................. 196
1. Mons (Belgien): Stadterneuerungspolitik und Bürgerbeteiligung ........................................................................................ 197
Inhalt
7
2. Utrecht (Niederlande): Quartiersfonds und Quartiersmanagement ...................................................................... 202 3. Palmela (Portugal): Bürgernähe als Sprungbrett? ............................ 206 4. Die Herausforderung der bürgernahen Demokratie ....................................................................................... 211 Kapitel 5
Zwischen community development und Public Private Partnership (Großbritannien, Polen) ....................................... 213
1. Der Bürgerhaushalt zwischen Porto Alegre und New Labour (Großbritannien) ............................................................................... 214 2. Polen: Bürgerhaushalt als partizipativer Neoliberalismus? .............. 228 3. Eine widersprüchliche Situation ....................................................... 232 4. Ist die Erfahrung von Porto Alegre auf Europa übertragbar? .......... 234
Teil III
Herausforderungen und Ergebnisse der Bürgerbeteiligung
Kapitel 1 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Die sechs Modelle der Partizipation ........................................ 239
Partizipative Demokratie .................................................................. 248 Bürgernahe Demokratie ................................................................... 250 Partizipative Modernisierung ........................................................... 252 Partizipatives Public Private Partnership ........................................ 253 Community development .................................................................. 255 Neokorporatismus ............................................................................ 256 Die Ankunft und Abfahrt der Karavellen ........................................ 261
Kapitel 2
Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit? ......................................................................... 265
1. „Konkurrieren statt privatisieren“ .................................................... 267 2. Die Entstehung der ‚technischen Demokratie‘ ................................. 283 Kapitel 3
Ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit? ............................. 295
1. Eine Alternative zum Neoliberalismus? ........................................... 295 2. Weitere Entwicklungsperspektiven des Bürgerhaushalts ................. 302
8
Inhalt
Kapitel 4
Demokratisierung der Demokratie ........................................... 309
1. Auf dem Weg zu einer deliberativen Demokratie? .......................... 310 2. Ein governo largo? ........................................................................... 321 3. Stadtplanung, Architektur und Innenausstattung ............................. 327
Schluss: Eine realistische Utopie .................................................................. 331
Glossar ........................................................................................................... 341 Bibliographie .................................................................................................. 363
Abbildungen und Tabellen
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12:
Klassische Beteiligungsformen und Bürgerhaushalt ............... 19 Anzahl der Bürgerhaushalte und der betroffenen Einwohner in Europa ............................................................... 44 Einwohnerzahl der Städte/Bezirke mit Bürgerhaushalt in Europa 2005 ........................................................................ 45 Karten über die geographische Verbreitung von Bürgerhaushalten in Europa (2000-2005) ............................... 47 Gemeindehaushalt je Einwohner ............................................ 49 Kommunale Schulden/Gesamthaushalt .................................. 50 Parteizugehörigkeit des Bürgermeisters in Städten mit einem Bürgerhaushalt (1998-2005) ........................................ 52 Verfahrenstypologie der Bürgerhaushalte in Europa .............. 84 Dauer der Partizipation und Finanzlage der Kommunen in NRW (Stand 2007) ........................................................... 122 Rechenschaft: Vergleich der Ergebnisse in Emsdetten 2002 ...................................................................................... 125 Entwicklung der Zahl der Bürgerhaushalte in Deutschland .......................................................................... 137 Typologie der Bürgerbeteiligung in Europa (Beispiel: Bürgerhaushalt, 2005/2006) ................................. 248
Tabelle 1: Hauptmerkmale der idealtypischen Verfahren des Bürgerhaushalts in Europa ............................................................ 99 Tabelle 2: Verteilungskriterien des Bürgerhaushalts von Puente Genil ...... 160 Tabelle 3: Modelle der Bürgerbeteiligung in Europa .................................. 258 Tabelle 4: Rollen, Status-Positionen und Ebenen der Beteiligung .............. 273
Vorwort
Dieses Buch ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes am Berliner Centre Marc Bloch und der Humboldt-Universität, das von der Hans-Böckler-Stiftung unter dem folgenden Titel finanziert wurde: Der Bürgerhaushalt im europäischen Vergleich – Perspektiven und Chancen des kooperativen Staates auf kommunaler Ebene. Leiter der Forschung war Yves Sintomer; als wissenschaftliche Mitarbeiter waren Carsten Herzberg und Anja Röcke tätig. Die administrative Leitung hatten Hans-Peter-Müller von der Humboldt-Universität zu Berlin inne sowie bei der Hans-Böckler-Stiftung Volker Grünewald und Karsten Schneider. Folgende Personen waren Mitglied der internationalen Projektgruppe: Belgien: Ludivine Damay und Christine Schaut (Zentrum für Soziologie der Universität Saint-Louis, Brüssel); Spanien: Ernesto Ganuza Fernandez (Instituto de Estudios Sociales de Andalucía, Córdoba); Frankreich: Marion Ben-Hammo und Sandrine Geffroy (Universität Paris 8), Julien Talpin (Universität Paris 8); Großbritannien: Jeremy Hall (PB Unit); Italien: Giovanni Allegretti als Koordinator des italienischen Teams (Centro dos Estudos Sociais, Universität Coimbra), Pier Paolo Fanesi (Universität Macerata), Lucilla Pezzetta (Universität La Sapienza, Rom), Michelangelo Secchi (Staatliche Universität Mailand), Antonio Putini (Universität der Region Calabria), Paolo Filippi (Universität Venedig); Niederlande: Hugo Swinnen (Verwey-Jonker Institut, Utrecht); Polen: ElĪbieta Plaszczyk (School of Public Administration, Lodz), Dorota Dakowska (Universität Straßburg); Portugal: Luis Guerreiro (Stadtverwaltung Palmela), Giovanni Allegretti und Nelson Dias (Universität Algarve). Ein Band mit Fallstudien und statistischen Vergleichsdaten wurde bereits im November 2005 veröffentlicht (www.buergerhaushalt-europa.de). Leser, die über einzelne Beispiele mehr wissen wollen, können darin weitere Informationen finden. Im zweiten Teil des vorliegenden Buches haben folgende Kooperationspartner die Ko-Redaktion übernommen: Im zweiten Kapitel wurden die Unterkapitel 1 und 2 zusammen mit Enrnesto Ganuza (Spanien) und Giovanni Allegretti, Pier Paolo Fanesi, Michelangelo Secchi und Lucilla Pezzetta (Italien) verfasst. Im dritten Kapitel hat Julien Talpin am Unterkapitel 2 mitgearbeitet und Marion Ben-Hammo am Unterkapitel 3. Das vierte Kapitel wurde für das Unterkapitel 1 in Kooperation mit Ludivine Damay und Christine Schaut er-
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Vorwort
stellt; am Unterkapitel 3 haben Luis Guerreiro und Giovanni Allegretti mitgewirkt. Im fünften Kapitel wurde das Unterkapitel 1 zusammen mit Jez Hall geschrieben; das Unterkapitel 2 entstand unter Mitwirkung von ElĪbieta Plaszczyk und Dorota Dakowska. Auch wenn weite Teile des Textes zunächst auf Französisch geschrieben wurden, hat die gleichzeitige Übersetzung ins Deutsche uns erlaubt, Abstand zu unseren Kategorien und Klassifizierungen zu gewinnen, sie neu zu diskutieren und zu überarbeiten. Vincent Wroblewsky hat die Einleitung in das Buch und im Teil II die Einleitung, Kapitel 3 und 4 übersetzt. Dirk Hofmann hat den Teil I übersetzt sowie die Einleitung, Kapitel 1 und 2 des III. Teils. Sonja Hauschild war ebenso für den III. Teil als Übersetzerin tätig und hat die Bearbeitung der Kapitel 3, 4 und des Schlusswortes übernommen. Außerdem hat sie den Glossar ins Deutsche übertragen. Carsten Herzberg und Anja Röcke haben alle Übersetzungen nochmals überarbeitet; dabei geholfen haben ihnen insbesondere Katrin Maliers und Fabian Lemmes. Sabine Meurer hat das gesamte deutsche Manuskript Korrektur gelesen und damit einen wichtigen Beitrag zur Vereinheitlichung der verschiedenen Textteile geleistet. Die Graphiken wurden unter Mithilfe von Ilaria Scatarzi und Ana Medeira erstellt. Inzwischen ist das vorliegende Buch bereits auf Französisch bei La Découverte und auf Italienisch bei Ediesse erschienen, weitere Übersetzungen ins Englische, Portugiesische und Spanische werden derzeit vorgenommen. Die von uns vorgestellten Hypothesen und Typologien wurden auf zahlreichen Konferenzen und Veranstaltungen präsentiert, was uns erlaubt hat, sie mit vielen Wissenschaftlern und Praktikern aus Europa, Brasilien und anderen Teilen der Welt zu diskutieren. Die Kommentare haben uns geholfen, auf Fehler aufmerksam zu werden und sie zu korrigieren. Wir können auf einen sehr konstruktiven Austausch zurückblicken, für den wir uns bei unseren Gesprächspartnern bedanken möchten. Ohne die internationale Forschergruppe wäre es nicht gelungen, über die Jahre ein so umfassendes Projekt durchzuführen. Wir möchten ausdrücklich Giovanni Allegretti unseren Dank für seine Kommentare und Berichte aussprechen. Ein Teil der hier präsentierten Ergebnisse knüpft an gemeinsame Projekte mit Marie-Hélène Bacqué an. Loïc Blondiaux hat uns mit seinen regemäßigen Kommentaren ebenfalls sehr geholfen, unsere Überlegungen und Hypothesen zu präzisieren. Darüber hinaus möchten wir uns bei vielen weiteren Kollegen für Ihre Unterstützung bedanken: Leonardo Avritzer, Sergio Baierle, Ismael Blanco, Luigi Bobbio, Sophie Bouchet-Petersen, Yves Cabannes, Geraldo Campos, Catherine Colliot-Thélène, Cécile Cuny, Donatella della Porta, Luciano Fedozzi, Joan Font, Véronique Giraud, François Hannoyer, Hans-Peter Müller, Hugues Jallon, Heinz Kleger, Pascale Laborier, Aldamir Marquetti, Catherine Neveu, Muriel Pic, Jacques Picard, Franklin Ramirez,
Vorwort
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Henri Rey, Pierre Rosanvallon, Felix Sanchez, Eloisa Santos, Boaventura de Sousa Santos, Joan Subirats, Alexander Wegener und Michael Werner. Nicht zu letzt wäre die Erstellung dieses Buches nicht möglich gewesen, wenn nicht Bürgermeister, Mitarbeiter von Stadtverwaltungen, Vertreter von Parteien und Bürger uns bereitwillig Auskunft gegeben hätten. Auch Ihnen gegenüber möchten wir unseren Dank für die Kooperationsbereitschaft ausdrücken.
Teil I
Der Bürgerhaushalt in Europa
Bürgerhaushalte haben eine noch junge, aber dennoch erstaunliche Geschichte. Entwickelt wurde dieses Partizipationsverfahren Ende der 1980er Jahre in der brasilianischen Stadt Porto Alegre. Innerhalb von 15 Jahren breitete es sich auf hunderte lateinamerikanische Städte aus und war im Jahr 2009 auch in über 200 Kommunen Europas anzutreffen. Traditionell wurden moderne Erfindungen wie demokratische Verfassungen oder Massenparteien in Europa oder in Nordamerika geschaffen, bevor sie in den Rest der Welt exportiert wurden. Vielleicht hat sich nun zum ersten Mal der Weg der institutionellen Erneuerung von Norden nach Süden umgekehrt, da ein in Lateinamerika erfundenes demokratisches Verfahren nun auch im alten Kontinent praktiziert wird. Man kann daher in einem gewissen Sinne von einer ‚Heimkehr der Karavellen‘ sprechen: Die Schiffe, die die Europäer zu Beginn der Neuzeit in die Neue Welt gebracht haben, kommen zurück. Fünfhundert Jahre nach der Entdeckung Amerikas sind es nun die Einwohner des Südens, die uns von einer Erneuerung der Demokratie berichten. Was aber genau haben die Karavellen an Bord? Können die europäischen Bürgerhaushalte trotz der so unterschiedlichen nationalen und kontinentalen Kontexte dieselbe Bedeutung erlangen wie die auf der anderen Seite des Atlantiks? Handelt es sich überhaupt um ein einheitliches Phänomen, oder um sehr unterschiedliche Realitäten? Sind Bürgerhaushalte vielleicht nur ein Modewort, ein rhetorischer Slogan einiger politischer Akteure, oder gar ein reines Artefakt, das nur in den Köpfen der Wissenschaftler existiert? Um diese Fragen zu beantworten und das Phänomen des Bürgerhaushalts in seinem Ausmaß, seinen Erscheinungsformen und seinen Ursachen klarer fassen zu können, werden wir in diesem ersten Teil eine systematische Zustandsbeschreibung vornehmen, die dazu dient, Bedeutung, Ausprägungen und Ursachen des Phänomens zu verstehen. Es geht um eine erste Diagnose, um den Beginn der Geschichte des Bürgerhaushalts. Es handelt sich um eine bemerkenswerte Geschichte: Wie lässt sich erklären, dass in Europa gerade Bürgerhaushalte eine sehr große Verbreitung finden? Im ersten Kapitel wird nicht nur die Entwicklung des Beispiels Porto Alegre bis hin zu seiner ab dem Jahr 2000 beginnenden Rezeption in Europa nachgezeichnet, sondern auch eine Definition für das Verfahren Bürgerhaushalt geliefert. Im zweiten Kapitel geht es um die Faktoren, die die Funktionsweise und Auswirkung des Bürgerhaushalts in Europa erklären.
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Teil I Der Bürgerhaushalt in Europa in Porto Alegre
Dabei wird die Frage nach der europäischen Konvergenz dieser so verschiedenen Entwicklungen und darüber hinaus der lokalen und partizipativen Demokratie in Europa gestellt; hierzu muss man auch auf die Problematik der vergleichenden Forschung näher eingehen. Im dritten Kapitel wird auf der Grundlage einer konzeptuellen Karte die Verfahrensvielfalt der europäischen Bürgerhaushalte untersucht. Erst wenn wir an diesem Punkt angelangt sind, wird es möglich sein, die zahlreichen Experimente näher zu untersuchen, ohne in der fast unendlichen Vielfalt der Wirklichkeit den Überblick zu verlieren.
Einleitung: Unruhe in der Demokratie
Fast 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer sind sich die Staaten und Völker Europas so nah wie nie zuvor. Der Kalte Krieg ist nur noch eine fernliegende Erinnerung und die mitunter gewalttätigen Konflikte, die dem Fall der kommunistischen Regime folgten, scheinen heute der Vergangenheit anzugehören. Zum ersten Mal in der Geschichte ist der größte Teil des Kontinents durch gemeinsame Institutionen vereint, die auf repräsentativer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegründet sind. Eine von allen geteilte demokratische Kultur beginnt sich zu festigen. Wie der Soziologe Klaus Eder bemerkte, findet der direkte politische Austausch zwischen Akteuren verschiedener Länder zwar im Wesentlichen innerhalb der institutionellen Sphäre (Parteien, Parlamente, etc.) statt, jedoch werden in der europäischen Öffentlichkeit immer häufiger die gleichen Themen diskutiert – und dies in immer ähnlicheren Begriffen, wie es die Lektüre der großen Zeitungen belegt. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts spielt das europäische Parlament eine wachsende Rolle, Parteien und Gewerkschaften koordinieren sich mehr und mehr auch auf europäischer Ebene, und die Sozialforen der globalisierungskritischen Bewegung ermöglichen eine unmittelbare Kommunikation zwischen den Akteuren der Zivilgesellschaft. In Bezug auf diese Entwicklung stellte der zweite Golfkrieg eine entscheidende Wende dar: ohne Zweifel bildete sich zum ersten Mal eine aktive europäische öffentliche Meinung heraus und die Bürger jener Staaten, die auf Seiten der Vereinigten Staaten standen, konnten sich zumindest teilweise durch das Regierungsoberhaupt eines anderen Lands vertreten fühlen.
1.
Das Unbehagen gegenüber der Demokratie
Die Ablehnung der europäischen Verfassung während der französischen und niederländischen Referenden sowie das Nein der irischen Bevölkerung zum Vertrag von Lissabon sind allerdings ein Symptom für die Zurückweisung der Politik, wie sie heute von den Eliten des Kontinents praktiziert wird. Die europäische Dynamik scheint gefährdet – hin- und hergerissen zwischen divergierenden Auffassungen und nationalen, wenn nicht gar nationalistischen Tendenzen. Die Schwierigkeiten der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, eine
16
Einleitung: Unruhe in der Demokratie
gemeinsame Handlungsstrategie zur Bekämpfung der weltweiten Wirtschaftskrise zu entwickeln, hat diese Situation noch verschärft. In fast allen Ländern sehen sich die politischen Systeme mit einer desillusionierten Bürgerschaft und einer damit einhergehenden Legitimitätskrise konfrontiert. Die klassische repräsentative Demokratie scheint nicht mehr in der Lage zu sein, den neuen Anforderungen zu genügen und die Energien und das Vertrauen der Bürger zu mobilisieren. Die Wahlbeteiligung und das Vertrauen der Bürger in die Institutionen und in die politische Klasse sinken und das parteipolitische Engagement geht zurück. Parallel zu diesen Entwicklungen haben sich seit den neunziger Jahren Verfahren der Bürgerbeteiligung vervielfacht. Diese Entwicklung scheint nicht konjunkturbedingt zu sein, sondern kennzeichnet wahrscheinlich eine langfristige Tendenz. Die Gründe dafür sind nicht leicht zu entschlüsseln. Einerseits begünstigen tiefe soziokulturelle Wandlungen die Hinwendung zu einer Demokratisierung des politischen Systems. Dazu gehören so verschiedene Phänomene wie die umfassende Entwicklung der Bildungssysteme, die Krise autoritärer Strukturen (von der patriarchalischen Familie bis zur Schule, von Parteien bis zu Forschungseinrichtungen) und die fortschreitende Emanzipation der Frauen. Des Weiteren fallen darunter die Verbreitung öffentlicher Debatten über Wissenschaft und Technik und das Aufkommen eines Kommunikationsmodells, das nicht auf vertikaler Integration, sondern auf horizontalen Netzwerken beruht. Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang das Zurückgehen tayloristischer Formen der Arbeitsorganisation wie auch das Zusammenbrechen planwirtschaftlich organisierter Ökonomien. Allerdings sind die sozio-politischen Entwicklungen nicht einseitig in Richtung auf mehr Demokratie ausgerichtet. Es gibt auch autoritäre Tendenzen, wie die Hinterfragung der Mitbestimmung in Unternehmen, der allgemeine Ruf nach einer Einschränkung von Bürgerrechten im Rahmen der Sicherheitspolitik oder die wachsende Präsenz fremdenfeindlicher Gruppen und Parteien. Zahlreiche Gründe lassen sich für diese Entwicklung festmachen. Dazu gehören das Unbehagen angesichts des Fortbestehens der ‚sozialen Frage‘, die die Lohn- und Gehaltsempfänger verunsichert und prekarisiert; die offensichtliche Ohnmacht der Politik gegenüber der wirtschaftlichen Globalisierung – einschließlich der gegenwärtigen Finanzkrise; der Verlust der traditionellen, identitätsstiftenden Orientierungen und die ambivalenten Wirkungen des erschütterten Glaubens in den Fortschritt. Überall greifen politische Akteure diese Themen auf, um sich damit im politischen Wettbewerb zu profilieren, und sie tun dies immer häufiger mit reaktionären Antworten. Die Ursachen des Glaubwürdigkeitsverlusts sind aber auch in der politischen Sphäre selbst zu finden. Die 68er-Bewegung, die Revolutionen in Südeuropa während der siebziger Jahre sowie der Zusammenbruch der kommunisti-
1. Das Unbehagen gegenüber der Demokratie
17
schen Regime Ende der achtziger Jahre haben die autoritären und paternalistischen Strukturen in Frage gestellt. Die Entstehung von selbstverwalteten Wohnund Arbeitsprojekten sowie das Auftauchen der neuen sozialen Bewegungen, der grünen oder alternativen Listen und später der globalisierungskritischen Bewegung haben die Losung „eine andere Politik ist möglich!“ auf die Tagesordnung gesetzt – selbst, wenn die konkreten politischen Praktiken dieser Organisationen oft weit vom Diskurs entfernt sind. Des Weiteren gerät das traditionelle bürokratische Handeln nach dem Scheitern des ‚real existierenden Sozialismus‘ sowie in Folge der neoliberalen Globalisierung zunehmend in Misskredit. Und so lässt sich auf der einen Seite eine wachsende Unzufriedenheit der Verbraucher gegenüber der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen beobachten, auf der anderen Seite die wachsende Tendenz der Bürger, selbst in Vereinen und Betroffenen-Initiativen aktiv zu werden. Gewiss sind die auf einen Reformstau abzielenden Begründungen oft nur Euphemismen, um die Vorteile eines Minimalstaates zu loben und die sozialen Errungenschaften anzugreifen. Dennoch scheint das verkrampfte Beharren auf traditionellen Formen der Verwaltung und Politik immer unhaltbarer. Seit ein oder zwei Jahrzehnten zeichnet sich eine anhaltende Tendenz ab: Die Aufrufe zur Beteiligung der Bürger an der Politik nehmen zu, es werden eine bürgernahe Verwaltung und ein engerer Dialog zwischen institutionellem, politischen System und Bevölkerung gefordert. Diese Forderungen kommen sowohl von sozialen Bewegungen als auch aus dem Inneren des politischen Systems, von internationalen Organisationen wie ihren Kritikern. Es handelt sich hierbei nicht nur um Diskurse ohne praktische Konsequenzen: In wachsendem Maße breiten sich neue Arbeitsmethoden in der öffentlichen Verwaltung aus, die Beteiligung der Bürger wird gesucht und immer häufiger entstehen neue Regelungen oder gar Gesetze zur Einführung von Partizipation. Als Folge lässt sich im Bereich der öffentlichen Verwaltungen das Entstehen eines „deliberativen Imperativs“1 beobachten [Blondiaux/Sintomer, 2002], der jedoch je nach Land unterschiedlich stark ausgeprägt ist.
1
Damit ist gemeint, dass es einen zunehmenden gesellschaftlichen und institutionellen Druck gibt, Beteiligungsprozesse oder zumindest Informationsveranstaltungen für die Bürger einzuführen. Die Konsultation der Bürger wird damit zunehmend als notwendige Voraussetzung dafür angesehen, dass politische und verwaltungstechnische Entscheidungen als legitim anerkannt werden.
18
2.
Einleitung: Unruhe in der Demokratie
Jenseits traditioneller Beteiligungsformen
Unter den neuen partizipativen Instrumenten hebt sich der Bürgerhaushalt besonders hervor, und zwar sowohl durch seine außerordentlich schnelle Verbreitung als auch durch das von ihm hervorgerufene politische Echo. In Porto Alegre/Brasilien erfunden, verbreitete sich dieses Verfahren außerordentlich schnell – zuerst über Rest des Landes und den Kontinent Lateinamerika und dann, mit einigen Jahren Verspätung, in der übrigen Welt. Der Grundgedanke dieses Verfahrens beruht darauf, ‚einfache‘, nicht über ein politisches Mandat verfügende Bürger an der Bestimmung oder Zuwendung öffentlicher Finanzen teilhaben zu lassen. Es wird auf der einen Seite von der globalisierungskritischen Bewegung, Nichtregierungsorganisationen (NROs), Vereinen und Parteien der sozialdemokratischen und post-kommunistischen Linken, wie auf der anderen Seite von der Weltbank, der UNO, überparteilichen Stiftungen und Verwaltungsfachleuten empfohlen. Handelt es sich beim Bürgerhaushalt um eine vorübergehende Mode oder um eine Bewegung, die die administrativen und politischen Praktiken grundlegend verändern könnte? Auf den ersten Blick lassen sich zahlreiche Gründe für den Erfolg der Bürgerhaushalte nennen: Ausgehend von der Erfahrung in Porto Alegre sehen viele in ihm einen besonders geeigneten Weg, die demokratischen Institutionen zu erneuern. Zweitens stellt es eine politisch sehr weit reichende Entscheidung dar, Bürger an der Erarbeitung des kommunalen Haushalts zu beteiligen – Geld ist der ‚Nerv des Krieges‘, insbesondere in Zeiten knapper Kassen. Drittens reicht dieses Instrument über den beschränkten Kirchturmhorizont der meisten bestehenden Beteiligungsverfahren hinaus, da es nicht nur um Angelegenheiten in einem Quartier oder für einen begrenzten Bereich geht, sondern um Fragen größerer Reichweite. Folgendes Beispiel aus der französischen Stadt La Rochelle verdeutlicht einen weit verbreiteten Umgang mit der Beteiligung von Bürgern. In dieser Stadt mobilisierten sich die Bewohner eines Quartiers dafür, dass eine Straße, die Rue Jourdain, zur Einbahnstraße erklärt wird, um den starken Verkehr zu mindern. Die Stadtverwaltung überprüfte die Forderung und beurteilte sie positiv, woraufhin sie das gewünschte Einbahnstraßenschild aufstellte. Nach dieser Maßnahme verlagerte sich jedoch ein Teil des Verkehrs auf das benachbarte Viertel, woraufhin der dortige Quartiersrat ebenfalls das Aufstellen eines Einbahnstraßenschildes forderte – dieses Mal jedoch am anderen Ende der Straße. Nach entsprechender Abstimmung beschloss die Stadtverwaltung in Absprache mit dem Stadtrat, auch dieser Forderung nachzukommen, schließlich handelte es sich nicht um eine zentrale Verkehrsachse. Als Ergebnis war die Rue Jourdain nun für den Verkehr völlig gesperrt und stellte zudem für manch einen Politiker einen willkommenen Anlass dar, um den Bürgern ihre Beschränktheit vor Au-
2. Jenseits traditioneller Beteiligungsformen
19
gen zu führen; so hörte man oft Aussagen wie: „Die Bürger an der Politik zu beteiligen ist gewiss wichtig, doch darf man es nicht übertreiben. Es geht nicht darum, die Rollen zu vertauschen: den Bürgern obliegt es, ihre besonderen Interessen zu verfolgen, den gewählten Mandatsträgern, das allgemeine Interesse zu wahren und folglich das Entscheidungsmonopol in der Hand zu behalten – sonst sinkt das Gemeinwohl zu einer irrationalen Addition von Sonderinteressen herab.“ Bürgerhaushalte scheinen sich genau von diesem Paradigma der Rue Jourdain, das gemeinhin auch als NIMBY-Effekt (not in my backyard, ‚nicht in meinem Hinterhof‘) bezeichnet wird, abzuwenden. Liegt im Beispiel von La Rochelle das Problem wirklich bei der Kurzsichtigkeit der Bürger oder nicht vielmehr in der Organisation des Partizipationsverfahrens? Wenn die Beteiligung nur aus Diskussionen zwischen Entscheidungsträgern und Einwohnern besteht, ohne dass die Bürger beider Quartiere sich miteinander austauschen können, ist es dann nicht unvermeidlich, dass sie einige Schwierigkeiten haben, eine Gesamtsicht auf das zur Diskussion stehende Problem zu entwickeln? Wenn man im Gegensatz dazu die Bürger auffordert, sich mit dem Gesamthaushalt zu beschäftigen und ihre Forderungen untereinander zu diskutieren, dann kann der Bürgerhaushalt vielleicht zu einer Überwindung des NIMBY-Effekts führen.
Abbildung 1:
Klassische Beteiligungsformen und Bürgerhaushalt
Klassische Beteiligungsformen
Bürgerhaushalt
(Quartiersbeiräte, thematische Beiräte etc.)
Mandatsträger
Bürger
Bürger
Verwaltung
Bürger
Mandatsträger
Bürger
Bürger
Verwaltung
Bürger
Dies ist auch ein Grund dafür, dass insbesondere der Bürgerhaushalt zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Modernisierung der öffentlichen Verwaltung beitragen könnte: Die teilnehmenden Bürger werden dazu angehalten, die Relevanz und Dringlichkeit ihrer Forderungen miteinander zu vergleichen, sich für die
20
Einleitung: Unruhe in der Demokratie
aktuelle politische Situation in der Kommune sowie die Funktionsweise der Verwaltung zu interessieren. Der Bürgerhaushalt scheint eine Modernisierung zugleich von unten wie von oben zu ermöglichen, was insbesondere in Zeiten des Infragestellens reiner Managementmodelle wichtig ist, wie sie ursprünglich von den großen internationalen Organisationen bevorzugt wurden. Der Bürgerhaushalt kann ebenso für Verwaltungsberater reizvoll sein, denen es um eine effiziente Ressourcennutzung geht, wie auch für politische Aktivisten, die sich für eine ‚andere‘ Welt engagieren. Diese unerwartete Konvergenz so verschiedener Akteure ist zweifellos einer der Schlüssel des Erfolges dieses Beteiligungsinstrumentes. Kann aber ein Verfahren, das das Ergebnis derart verschiedener Erwartungen ist, überhaupt funktionieren? Muss man angesichts der Vielfalt der Rahmenbedingungen, in denen die Bürgerhaushalte erprobt wurden, und der unterschiedlichen Verfahrensformen, die dieser annimmt, nicht damit rechnen, dass es sich gar nicht um einen einheitlichen Gegenstand handelt? Ist es überhaupt möglich, ‚den‘ Bürgerhaushalt in Europa systematisch zu untersuchen? Zur Beantwortung dieser Fragen haben wir uns insbesondere auf die folgenden Bereiche konzentriert: die konkreten Verfahren der Bürgerhaushalte in Europa; die Akteure, die zu seiner Verbreitung beitragen, sowie ihre ideologischen und theoretischen Ziele und Vorstellungen; schließlich die tatsächlichen Ergebnisse – jenseits der angekündigten Effekte. In den Debatten zum Bürgerhaushalt bestehen zu diesen Aspekten sehr unterschiedliche Ansichten. In den globalisierungskritischen Milieus wird oft behauptet, dass Bürgerbeteiligung am Haushalt eine Alternative zum Neoliberalismus darstellt. Manche Stiftungen in Deutschland hingegen stellen Bürgerhaushalte eher als ein politisch neutrales Instrument zur Modernisierung der Verwaltung dar. Kritische Wissenschaftler und ‚linksextreme‘ Gruppierungen erklären, Bürgerhaushalte würden aktive Bürgergruppen lediglich von den wahren Problemen ablenken, ihre Anführer ins System integrieren und ausschließlich zur Legitimierung des Bestehenden dienen. Wie verhält es sich wirklich? Und: Können die Bürgerhaushalte als eines der Hauptsymbole eines neuen Geistes der öffentlichen Verwaltung betrachtet werden [Bacqué/Rey/Sintomer, 2005]? Auf diese Fragen will das vorliegende Buch Antworten geben. Wir sind der Ansicht, dass diese Untersuchung über den Ursprung, die Ausbreitung und Funktionsweise von Bürgerhaushalten dazu beitragen kann, eine sowohl globale als auch detaillierte Sicht auf die politischen Kulturen, gesetzlichen Rahmenbedingungen und institutionellen Kontexte in verschiedenen Ländern Europas herauszuarbeiten. Der Vergleich der Bürgerhaushalte ist daher ein Prisma, das es erlaubt, die teilweise widersprüchlichen Entwicklungen des politischen Systems, der öffentlichen Verwaltung und der Demokratie zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Wohin geht die Entwicklung? Ist die Ausbreitung
3. Das Forschungsprojekt
21
von Verfahren der Bürgerbeteiligung lediglich eine Facette der „Meinungsdemokratie“ [Manin, 2007], die von Demagogie, Medienmanipulationen, charismatischen Führungspersonen und einer Entpolitisierung der Bevölkerung beherrscht wird? Ist sie umgekehrt das bescheidene Zeichen für eine „Demokratisierung der Demokratie“ [Genro/Souza, 1997], da Entscheidungen auf einer breiteren Grundlage und nicht mehr nur allein von Experten (Politikern und Mitgliedern der öffentlichen Verwaltung) gefällt werden? Gibt es in dieser Hinsicht einen gemeinsamen Horizont zwischen dem ‚alten‘ und dem ‚neuen‘ Europa, zwischen den romanischen und den nordischen Ländern, zwischen den von der republikanischen Tradition à la française gekennzeichneten Ländern und denen angelsächsischer Tradition? Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten und um über die proklamierten Diskurse und guten Absichten hinausgehen zu können, musste man die Situation genau untersuchen: in allen betroffenen Ländern Europas und auf Grundlage geeigneter Methoden.
3.
Das Forschungsprojekt
Die hier vorliegende Untersuchung ist Teil eines stetig wachsenden Forschungsfeldes. Seit einem Jahrzehnt nehmen die Studien zur partizipativen Demokratie (bzw. partizipativen governance) in Deutschland, Europa sowie weltweit stark zu. Sie zeichnen sich durch sehr verschiedene Fragestellungen, disziplinäre Herangehensweisen und Untersuchungsgegenstände aus. Während einer ersten Phase handelte es sich im Wesentlichen um Monographien oder Vergleiche, die nur zwei oder drei Verfahren betrafen. Eine zweite, vor einigen Jahren begonnene Phase machte es möglich, die gewonnen Ergebnisse miteinander zu vergleichen [Font, 2001; Fung/Wright, 2003; Bacqué/Rey/Sintomer, 2005]. Allerdings stieß diese Form des Vergleichs schnell an seine Grenzen, da die Untersuchungen unabhängig voneinander geführt worden waren und sich weder auf die gleichen Methoden noch auf die gleichen Begriffe und Kategorien stützten. Sie waren zu heterogen, um kumulative Ergebnisse hervorzubringen und einen weitergehenden und gleichzeitig präzisen Vergleich zu ermöglichen. Dieses Buch möchte eine dritte Phase in diesem Forschungsfeld eröffnen, indem die Standorteffekte und nationalen Scheuklappen überwunden werden. In dieser Neuorientierung konnten wir uns auf die Ergebnisse der vorangegangenen Phase sowie auf Bemühungen, die in Bezug auf Brasilien und Lateinamerika in die gleiche Richtung gehen, stützen [Avritzer, 2005; Cabannes, 2003, 2006]. Am Beginn der Untersuchung stand jedoch ein Mangel an empirischem Material: Wir konnten nicht wie bei anderen Themen (z.B. beim Sozialstaat oder dem Bildungswesen) auf ein bestehendes Set von Daten zurückgreifen, sondern waren gezwungen, gleichzeitig Daten zu erheben und zu interpretieren. Hinzu kam
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Einleitung: Unruhe in der Demokratie
die Tatsache, dass die vorliegenden Verfahren oftmals sehr jungen Datums sind und es somit kaum Forschung darüber gibt. Daraus resultierte die Notwendigkeit, einen Teil unserer Argumente als Hypothesen zu formulieren. In diesem ersten, komparativen Forschungsvorhaben über die partizipative Demokratie in Europa haben wir uns auf den Bürgerhaushalt konzentriert, der heute zu den innovativsten Verfahren der Bürgerbeteiligung gehört. Er bot uns einen gezielten Zugang und gleichzeitig einen geeigneten Fokus, um den Zustand der lokalen Demokratie und der Demokratie im weiteren Sinne besser zu erfassen. Gleichzeitig hat sich dadurch eine neue Perspektive auf den europäischen Einigungsprozess eröffnet, insbesondere auf die Divergenzen und Konvergenzen zwischen den untersuchten Ländern (in Bezug auf Fragen der Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft, zwischen Politik und Verwaltung sowie zwischen dem institutionalisierten, politischen System und der Zivilgesellschaft). Das Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse im Folgenden dargelegt werden, umfasst gut zweihundert Bürgerhaushalte aus verschiedenen europäischen Ländern (2009), sowie einige verwandte Beteiligungsverfahren. An ihm waren siebzehn Forscher acht verschiedener Nationalitäten direkt beteiligt, und indirekt viele andere Kollegen, die bereit waren, uns bei unseren Untersuchungen zu unterstützen. Die dem Projekt zugrunde liegende Datenerhebung lässt sich anhand vier konzentrischer Kreise veranschaulichen. Der erste Kreis, das Herzstück, impliziert eine Forschung ethnographischen Typs verbunden mit längeren Aufenthalten an Ort und Stelle, der Beobachtung der Veranstaltungen der Bürgerhaushalte und einer sehr guten Kenntnis des lokalen wie nationalen, institutionellen und kulturellen Kontextes. Dieser Kreis umfasst zwölf Fälle in fünf verschiedenen Ländern. Der zweite Kreis beinhaltet eine vertiefte Untersuchung, die auf mindestens zwei Aufenthalten vor Ort basiert. Wie im ersten Fall geht es auch hier um die Beobachtung der Versammlungen sowie um das Führen semi-struktureller Leitfadeninterviews mit politischen, administrativen, zivilgesellschaftlichen und z.T. externen Akteuren (Stiftungen, NROs etc.). Auch sind per Fragebogen quantitative und qualitative Daten über die politische, finanzielle, ökonomische und stadtplanerische Situation der betroffenen Kommune sowie über den Partizipationsprozess erhoben worden. Dieser zweite Kreis betrifft dreizehn Städte in acht Ländern. Der dritte Kreis beruht auf einem exemplarischen Vergleichsfall, mittels dessen sich der Forschungsgegenstand umfassender beleuchten lässt, der jedoch weniger systematisch untersucht wurde. Der letzte, vierte Kreis schließlich umfasst Erkenntnisse, die wir lediglich mittels Sekundärliteratur, Internetquellen und Telefongesprächen, jedoch ohne
4. Engagement und Distanzierung
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eigene Feldforschung, analysiert haben.2 In der vergleichenden Herangehensweise haben wir eine an Max Weber orientierte Methodologie angewandt, die auf der Bildung von Idealtypen besteht. Dadurch kann die Vielfalt der gewonnen Ergebnisse auf einer Art konzeptionellen Karte verortet werden. Dieser Ansatz ist vom Forschungsprogramm der histoire croisée inspiriert [WernerZimmermann, 2004].
4.
Engagement und Distanzierung
Im Laufe der Arbeit waren wir mit einem Umstand konfrontiert, der uns für die Analyse gleichzeitig begünstigend und als eine ernst zu nehmende Herausforderung erschien. Einige Mitglieder des internationalen Teams waren zugleich an der Analyse und an der Einrichtung von Bürgerhaushalten beteiligt. Andere waren zwar nicht direkt mit der Implementierung beauftragt, übernahmen jedoch für die Organisatoren der Verfahren eine Berater- und Expertenrolle. Des Weiteren wurden die Ergebnisse unserer akademischen Forschung von Reaktionen, Anregungen und Kritik der Praktiker vor Ort beeinflusst. Schließlich trugen die Ergebnisse auch zur Schaffung der sozialen Realität bei, indem sie den Akteuren potentiell Vorlagen für die Klassifizierung und Beurteilung ihrer Verfahren an die Hand gaben: So beschloss zum Beispiel ein Bürgermeister in letzter Sekunde sein Verfahren zu ändern, nachdem er erfuhr, dass der von ihm initiierte Prozess ansonsten nicht das als positiv erachtete Label Bürgerhaushalt erhalten würde, während sich ein anderer unter ähnlichen Umständen regelmäßig per SMS über den Stand der Diskussion eines internen Seminars des Forschungsteams erkundigte. Insbesondere in Deutschland, Italien, Frankreich und Portugal gibt es mittlerweile einige Beispiele, die von den Ergebnissen des Forschungsprojektes „Europäische Bürgerhaushalte“ beeinflusst sind.
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Der erste Kreis umfasst Saint-Denis, Morsang-sur-Orge und Poitou-Charentes in Frankreich; Rheinstetten und Berlin-Lichtenberg in Deutschland; Salford in Großbritannien; Cordoba und Puente Genil in Spanien; Grottammare, Pieve Emanuele, Rom XI und Venedig in Italien. Der zweite Kreis schließt Bobigny, Pont-de-Claix und den XX. Bezirk von Paris in Frankreich ein; ferner Emsdetten, Esslingen und Hilden in Deutschland, Mons in Belgien, Hämeenlinna in Finnland, Bradford in Großbritannien, Utrecht in den Niederlanden, Albacete und Sevilla in Spanien und Płock in Polen. Der dritte Kreis betrifft Palmela in Portugal. Der letzte Kreis beinhaltet alle anderen Ansätze von Bürgerhaushaltsverfahren, die wir in Europa erfassen konnten, sowie eine gewisse Zahl von Grenzfällen, bei denen sich die Frage stellt, ob sie als Bürgerhaushalte zu bezeichnen sind. Eine Synthese der wesentlichen monographischen Ergebnisse, die an den jeweiligen Orten gewonnen wurden sowie eine erste Reihe von transversalen Analysen sind verfügbar in [Sintomer/Herzberg/Röcke, 2005; online: www.buergerhaushalteuropa.de]. Leser, die weitere Informationen suchen, seien auf diese Quelle verwiesen.
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Einleitung: Unruhe in der Demokratie
Diese besondere Situation muss explizit erörtert werden und es scheint uns in dieser Hinsicht interessant – bescheiden und auf unserer Ebene – dem Gedanken nachzugehen, den Carlo Ginzburg als den wichtigsten methodischen Beitrag der ‚Mikrogeschichte‘ bewertet: aus den methodologischen Problemen, auf die man stößt, eine der Triebfedern der Forschung zu machen [Ginzburg, 2006, S. 262]. Die Durchlässigkeit unserer Forschung für Fragen, die auch von einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert werden, könnte in der Tat als Gefahr für ihre Qualität und Objektivität betrachten werden. „Wie kann man zugleich Richter und teilnehmende Partei, beurteilend und engagiert, Wissenschaftler und Politiker sein?“, hat man uns oft gefragt. Darauf können mehrere Antworten gegeben werden. Die erste lautet: Eines der Hauptziele der Sozialwissenschaften sollte darin bestehen, zur Klärung der empirischen Referenzen, der pragmatischen Ziele und der normativen Bezugsrahmen öffentlicher Diskussionen beizutragen. Wissenschaftler sollten nicht nur von ihrem Erkenntniswillen getrieben werden, und sie sind auch keine unschuldigen Briefmarkensammler. Ihre Verantwortung (und ihre Kosten) zwingen ihnen eine Aufgabe der ‚Aufklärung‘ auf. Diese Perspektive scheint uns dem Selbstverständnis bedeutender Figuren der Sozialwissenschaften zu entsprechen, von Émile Durkheim über Karl Marx, Marc Bloch und Max Weber zu Pierre Bourdieu. Die zweite Antwort: Die Sozialgeschichte der Wissenschaften und die interessantesten, erkenntnistheoretischen Ansätze zeigen, wie ‚unrein‘ wissenschaftliche Analysen sind und warum diese Unreinheit keineswegs ein Hindernis für die Forschung darstellt, sondern vielmehr eine ihrer Triebkräfte [Atten/ Pestre, 2002; Pestre, 2006]. Es geht also nicht darum, eine reine Wissenschaft zu fordern, die sich in ihren Elfenbeinturm zurückzieht, sondern daran zu arbeiten, dass die Partner der Wissenschaftler die richtigen sind – sowohl im Interesse der Wissenschaft als auch in dem der Gesellschaft. Wissenschaft ist immer mit Interessen und Werten verbunden, und es ist vorzuziehen, dass sich diese nicht auf die kleine Welt der Wissenschaftler beschränkt. Die von den Sozialwissenschaften geführte Kritik ist lediglich ein besonderer und besonders systematischer Fall im Rahmen einer großen Bewegung von Kritik und Rechtfertigungen, die die Öffentlichkeit der modernen demokratischen Gesellschaften prägt. Es handelt sich nicht um eine übergeordnete Position, aus der heraus Soziologen und Historiker, indem sie den einst vom platonischen Philosophen eingenommenen Platz besetzen, den blinden Akteuren in ihrer Höhle die Wahrheit enthüllen. Man muss offen über das gesellschaftspolitische Forschungsinteresse sprechen, darüber, was die wissenschaftliche Arbeit anregt und möglich macht, statt diese Frage zu verdrängen. Es ist dabei überaus positiv, dass die Hans-Böckler-Stiftung der deutschen Gewerkschaften und die Angestelltengewerkschaft Ver.di ein Forschungsprojekt fördern, mittels dessen untersucht werden soll, inwiefern die Nutzer öffentlicher Dienstleistungen auch an der
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Modernisierung der öffentlichen Verwaltung teilhaben können. Dieses Anliegen deckt sich mit den normativen Fragestellungen, die auch die Grundlage der vorliegenden Buches bilden: Unter welchen Bedingungen kann die öffentliche Verwaltung wirklich im Dienst der Öffentlichkeit stehen? Wie können einfache Bürger – und insbesondere jene aus den unteren Bevölkerungsschichten – bei der Definition von Beteiligungsverfahren beteiligt sein? In welchem Maße ist eine Demokratisierung des politischen Lebens denkbar, und bis zu welchem Punkt kann diese Bewegung zur Verbesserung der öffentlichen Verwaltung, zu mehr sozialer Gerechtigkeit und zu einer Erneuerung der Politik beitragen? In einer Zeit, in der die Welt der Forschung mehr und mehr mit rein wirtschaftlichen Effizienz-Kriterien beurteilt wird, ist der Gedanke von ‚Bürgerwissenschaften‘, die auf der Zusammenarbeit von Forschungsinstitutionen und sozialen Bewegungen beruhen, sehr aktuell. Dieses Thema ist insbesondere bei der Erforschung von Verfahren der Bürgerbeteiligung von besonderem Interesse. Es wäre paradox, wenn Partizipation im Namen einer über allem stehenden Wissenschaft analysiert würde, die gegenüber den Überlegungen der Akteure, die sie untersucht, immun ist, und die die ‚Wahrheit‘ ohne einen kritischen Austausch mit diesen vermitteln könnte: Das Geringste, das man von einer wissenschaftlichen Analyse der Bürgerbeteiligung erwarten kann, ist das Aufzeigen der eigenen Herangehensweise, indem in reflexiver Weise die Kategorien und Methoden beleuchtet werden, die zum Studium des Gegenstandes dienen. Es ist darauf hinzuweisen, dass wissenschaftliche Forschung (insbesondere die Auswahl der Untersuchungsgegenstände, der Methoden und verwendeten Konzepte) zutiefst normative Dimensionen beinhaltet, was jedoch keiner Lobpreisung des Relativismus gleichkommt. Es geht vielmehr darum, sich als Teil einer demokratischen Aufklärungsbewegung zu verstehen, die darum bemüht ist, die Kohärenz und Stringenz der ausgetauschten Argumente zu verbessern, was auch eine Selbstanalyse mit einschließt. Die von uns vorgelegten Forschungsergebnisse beanspruchen eine gewisse Objektivität, das heißt jedoch nicht eine ethisch-politische Neutralität. Dieser Anspruch auf Sachlichkeit, um einen klassischen Begriff der Weberschen Soziologie aufzugreifen, kann sich auf mehrere Argumente stützen. In erster Linie hoffen wir, dass die Leser die Forschungsmethoden, die Analysekategorien und den Argumentationsstil als hinreichend komplex, umfassend, streng und präzise beurteilen: Es sind diese Qualitäten, an denen man eine wissenschaftliche Arbeit erkennt, die diesen Namen auch verdient. Diese Eigenschaften sind in einem Feld wie dem der partizipativen Demokratie, in dem die Grenzen zwischen den Überlegungen der lokalen Akteure, der Experten und der Forscher sehr durchlässig sind, besonders notwendig. Der internationale Charakter unseres Forschungsteams war dafür von großem Vorteil, denn wir waren gezwungen, sehr unterschiedliche Auffas-
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Einleitung: Unruhe in der Demokratie
sungen von Partizipation, Demokratie und Politik miteinander zu konfrontieren. Die Arbeit der Vereinheitlichung der Kategorien und auch einfach nur die genaue Definition der benutzten Begriffe und Kategorien zwangen uns, unsere Ausgangsbegriffe und das, was jedem von uns zunächst einleuchtend schien, zu relativieren und zu hinterfragen.3 Insgesamt wurde dieses Buch mit dem Ziel verfasst, nicht nur die akademische Welt zu erreichen, aber gleichzeitig den Objektivitätsprüfungen standhalten zu können, denen es wissenschaftliche Leser unweigerlich unterziehen werden. Das Forschungsprojekt verfolgt in der Hauptsache ein Erkenntnisziel und beansprucht nur in indirekter Weise, konkrete Handlungen zu beeinflussen. Wir haben nicht den Weg einer Aktionsforschung gewählt, sondern entwickeln, obwohl wir unsere normativen Ziele explizieren, vor allem eine Argumentation kognitiver Ordnung, die sich stark auf empirische Forschung stützt. Wir ordnen uns in das Feld der Sozialwissenschaften ein und nicht in das der politischen Philosophie, auch wenn wir hoffen, dass die Leser unsere Thesen als philosophisch durchdacht betrachten. Während der Forschungsarbeit haben wir die ethisch-politischen Bezüge unserer Kritik nicht verheimlicht, haben diese jedoch stets mit der Realität konfrontiert und vermieden, dass nicht Wunschvorstellungen mit Wirklichkeit verwechselt werden. Wir haben die Zweifel und Fragen niemals verschwiegen, die diese Wirklichkeit hinsichtlich unserer normativen Erwartungen hervorriefen. Ein derartiges Vorgehen, das sich von Propaganda, politischem Diskurs und Ideologien unterscheidet, kann eine ernüchternde Wirkung haben, es kann aber auch mobilisierend wirken, indem es aktuelle Entwicklungfen erkennbar macht und Möglichkeiten eröffnet, die die Akteure bisher nicht wahrgenommen haben. Bei einem solchen Vorgehen ist es recht logisch, dass Mitglieder unseres Teams sich nicht nur für die untersuchten politischen Entwicklungen interessieren, sondern auch persönlich impliziert sind – in unterschiedlichen Funktionen und sei es nur am Rande der wirklichen Machtzentren. Diese teilweise interne und teilweise externe Stellung scheint uns letztlich mehr Vorteile als Nachteile mit sich gebracht zu haben, indem sie uns zugleich eine tiefere Kenntnis ethnologischen Typs vermittelte und die Fähigkeit der Distanzierung, die die Pluralität unserer Standpunkte verstärkte. Ohne der Selbstanalyse im Korpus des Textes eine zu große Bedeutung beimessen zu wollen, haben wir unsere Rolle bei den untersuchten Fallbeispielen systematisch kenntlich gemacht. In allgemeiner Hinsicht muss unsere Forschungstätigkeit als Bestandteil eines sich ausbreiteten Phänomens verstanden werden, nämlich der Schaffung von Berufen und von know-how über Partizipation. Eine ganz neue Welt taucht mit den Beteiligungs-
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Wir stellen am Ende dieser Arbeit ein Glossar bereit, das ein möglichst klares Verständnis der von uns verwendeten Begriffe ermöglichen soll.
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instrumenten auf, die sich von neuen Fortbildungen für Verwaltungsmitarbeiter über die Ausbreitung von spezialisierten consulting-Agenturen, der Ausbildung eines spezifischen Wissens bei manchen Politikern oder aktiven Bürgern bis hin zur Bildung eines akademischen Unterfeldes erstreckt. Immer wenn in der modernen Geschichte neue soziale oder politische Institutionen entstanden, wurden sie von der Entwicklung neuer Berufe und neuer Wissensformen begleitet. *** Um die in dieser Einleitung gestellten Fragen zu beantworten und dabei möglichst dem skizzierten Forschungsprogramm zu entsprechen, haben wir uns entschieden, in drei Schritten vorzugehen, um die konkrete Erfahrung der Bürgerhaushalte und die daraus folgenden Schlüsse auf die Entwicklung der partizipativen Demokratie in Europa im weiteren Sinne zu analysieren. Der erste Teil entwickelt eine transversale Analyse, die den Kontext darlegt, in dem die europäischen Bürgerhaushalte entstanden sind, ihre Entwicklung erklärt und das Maß ihrer Vielfalt zu ermessen sucht. Dieser erste Schritt ermöglicht eine Reihe von Fragen: Wie erklärt sich die gleichzeitige Entwicklung von Bürgerhaushalten in derart verschiedenen Kontexten? Kann man eine Konvergenz der verschiedenen Vorgehensweisen beobachten und handelt es sich überhaupt um das gleiche Phänomen? Wie kann man diese Entwicklungen interpretieren? Der zweite Teil beruht auf der Untersuchung von etwa zwanzig Fallstudien, die in ihrem nationalen Kontext verortet sind und bezüglich ihrer Besonderheiten wie auch Gemeinsamkeiten präsentiert werden. Damit können wir der Frage nachgehen, wie weit die Verbreitung der Bürgerhaushalte, ausgehend von der Erfahrung von Porto Alegre, die wesentlichen Merkmale des brasilianischen Verfahrens in europäischen Kontexten zu wiederholen erlaubte oder nicht. Der dritte Teil nimmt Abstand vom Bürgerhaushalt. Hier wird die transversale Analyse aus Teil eins wieder aufgegriffen, wobei die Auswirkungen, Entwicklungsdynamik und Bedeutung der partizipativen Demokratie allgemein im Mittelpunkt stehen. Dies geschieht auf Grundlage einer Typologie, mittels derer sich die Verbindung von partizipativer Demokratie und Verwaltungsmodernisierung, sozialer Gerechtigkeit und dem Wandel des politischen Systems analysieren lässt. In der Schlussfolgerung geht es darum, auf die im Laufe des gesamten Buches gegebenen Antworten zurückzukommen und in einer pragmatischen Perspektive nach der Besonderheit des ‚deutschen Modells‘ partizipativer Demokratie zu fragen – sowie der Demokratie im Allgemeinen.
Kapitel 1
„Alles begann in Porto Alegre…“
Ende der 1980er Jahre wurde, angeführt von der Arbeiterpartei PT, ein Bündnis linker Parteien in das Rathaus von Porto Alegre gewählt, das mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern zu den großen Städten im Süden Brasiliens zählt. Das Land beendete zu dieser Zeit den Transitionsprozess zur Demokratie, der ein gutes Jahrzehnt gedauert hatte – von den großen Arbeiterkämpfen der zweiten Hälfte der 1970er Jahre bis zur Annahme einer neuen, sehr fortschrittlichen Verfassung im Jahr 1988. Brasilien zählte damals wie heute nicht nur zu den zehn größten Wirtschaftsmächten der Welt, sondern auch zu den Ländern mit einer besonders ausgeprägten sozialen Ungleichheit, weshalb der Kampf gegen die Diktatur neben der Demokratisierung auch auf die Verbesserung der sozialen Verhältnisse abzielte. Der Bundesstaat Rio Grande do Sul, dessen Hauptstadt Porto Alegre ist, hat gegenüber der Bundesregierung schon immer eine Besonderheit dargestellt. Im Gegensatz zu dieser ist seine politische Kultur von alternativ-linken Traditionen geprägt. Die sozialen Ungleichheiten sind hier weniger stark ausgeprägt als im übrigen Land und die öffentliche Verwaltung funktioniert – tendenziell – besser.
1.
Die Erfindung des Bürgerhaushalts
In den 1980er Jahren war Porto Alegre die Stadt in Brasilien, in der es die stärkste Entwicklung sozialer Bewegungen gab [Avritzer, 2005]. Wie in den anderen Metropolen des Landes war aufgrund der Landflucht auch hier die Bevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnte stark angestiegen und man sah sich mit einer wachsenden Anzahl von Elendsvierteln an den Rändern der Stadt (favelas) konfrontiert. Die sozialen Bedürfnisse waren enorm und auf der Basis der alten, klientelistischen Beziehungen konnten keine Lösungen gefunden werden. Die Arbeiterpartei PT, die auf nationaler Ebene mit Lula da Silva den derzeitigen Präsidenten stellt, ist in Porto Alegre stark verwurzelt. Der Ursprung dieser Organisation liegt in der Gewerkschaftsbewegung (aus der auch Lula hervorgegangen ist) sowie in christlichen Basisbewegungen, die der Befreiungstheologie nahe stehen. In der Arbeiterpartei haben die meisten Anhänger der gemäßigten und radikaleren Linken ihre politische Heimat gefunden. Die Arbei-
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I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
terpartei von Porto Alegre ist dafür bekannt, dass linke Strömungen besonders stark vertreten sind. Als das Linksbündnis, das sich im Umfeld der PT gebildet hatte, 1988 in Porto Alegre die Bürgermeister-Wahl gewann, sah sie sich mit einer von der politischen Opposition dominierten Gemeindeversammlung konfrontiert. Denn in Brasilien gibt es nicht nur auf der Ebene der Bundesstaaten ein präsidentielles System, bei dem Exekutive und Legislative separat und direkt gewählt werden, sondern auch in den Kommunen. Um diese Kohabitation zu meistern und gleichzeitig ein entschiedenes Reformprogramm zu verwirklichen, entwickelte die von der Arbeiterpartei angeführte Regierung neue Partizipationsstrukturen, die die Beteiligung von Bürgern an Haushaltsentscheidungen ermöglichen sollte. Vorbilder für diese Verfahren waren die Ideale der revolutionären marxistischen Tradition, wobei sich hier die ‚Sowjets‘ von den Fabriken in die Wohnviertel verlagert haben. Unter expliziter und zum Teil mythischer Bezugnahme auf die Pariser Kommune sollte ein pyramidales Delegationssystem aufgebaut werden. Anders als bei den historischen Vorbildern gibt es in Porto Alegre allerdings keine Vermischung von Staat und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Letzere bleiben absolut unabhängig und die Beteiligung findet im Rahmen von eigenständigen Gremien statt. Diese Strukturen ermöglichen eine gleichberechtigte Kooperation zwischen Zivilgesellschaft und Verwaltung.4 Der Bürgerhaushalt ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den ursprünglichen Vorschlägen der Arbeiterpartei und denen der lokalen Initiativen und Basisgruppen und somit das Resultat eines Lernprozesses. Dieser Lernprozess zog sich bis zum Jahr 1992 – das Jahr, in dem das Linksbündnis seine zweite Regierungsperiode begann. In dieser Zeit gelang es der Regierung, die finanzielle Situation der Stadt zu stabilisieren (unterstützend wirkten dabei auch die von der Zentralregierung beschlossenen Reformen für mehr kommunale Finanzautonomie). Das Steuersystem wurde zu Gunsten der kommunalen Ebene umgestaltet und die Lokalverwaltung komplett reformiert. Und während die Regierung von Porto Alegre nach und nach den Gedanken einer sofortigen Revolution zugunsten einer modernen Verwaltung fallen ließ, entwickelte sich der Bürgerhaushalt Schritt für Schritt, bis schließlich 1992 seine Gestalt im Wesentlichen gefestigt war [Abers, 2000; Fedozzi, 1999, 2000]. Seine Unterstützer haben bei seiner Entwicklung nicht nur einen starken politischen Willen, sondern auch eine gute Portion Pragmatismus unter Beweis gestellt. Anfangs hatte keiner von ihnen präzise Vorstellungen über ein geeignetes Verfahren, dessen Herausbildung auch im Kontext der brasilianischen De-
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Die Legislative ist am Bürgerhaushalt nur am Rande beteiligt, da ihre Zustimmung nur für die endgültige Annahme des Haushalts notwendig ist.
I/1.1 Die Erfindung des Bürgerhaushalts
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mokratiebewegung, der Reform des kommunalen Finanzwesens, sowie dem Fall der Berliner Mauer und der daraus folgenden Diskreditierung des bürokratischen Sozialismus gesehen werden muss. Der Bürgerhaushalt in Porto Alegre bezieht sich auf städtische Investitionen und beinhaltet zwei Komponenten. Die erste ist räumlicher Natur: In jeder Bürgerhaushalt-Region5 werden Prioritäten von den Einwohnern diskutiert und definiert. Die zweite ist thematischer Art: Jedem Fachbereich der Verwaltung sind bestimmte Versammlungen und Komitees zugeordnet. Durch die Verbindung der räumlichen und thematischen Dimension ist es möglich, Probleme in einzelnen Stadtteilen zusammen mit gesamtstädtischen Themen zu diskutieren. Konkret sieht das Verfahren folgendermaßen aus: Auf der Ebene der Wohnviertel finden zahlreiche, mehr oder weniger formalisierte Versammlungen statt, auf denen mikro-lokale Projekte diskutiert werden (z.B. zur Verbesserung der Infrastruktur im Stadtteil). Auf Bezirksebene bieten jährlich stattfindende Bürgerversammlungen und thematische Foren die Möglichkeit, aus den zahlreichen Vorschlägen Prioritäten zu etablieren. Diese Prioritäten werden von den Delegierten eines Bürgerhaushalt-Rates,6 die mehrmals im Monat auf gesamtstädtischer Ebene zusammenkommen, in eine endgültige Rangfolge gebracht, die mit der Stadtverwaltung diskutiert wird. Darüber hinaus werden in diesem Gremium die Verfahrensregeln für den Bürgerhaushalt des Folgejahres besprochen und festgelegt. Die Versammlungen des Bürgerhaushalt-Rates stehen allen Interessierten offen. Zwar haben die bestehenden Nachbarschaftsinitiativen dort aufgrund ihres großen Mobilisierungspotenzials eine herausgehobene Rolle, verfügen jedoch verfahrenstechnisch über keinen privilegierten Status. Die Delegierten der thematischen Foren und die des Bürgerhaushalt-Rates werden von ihrer Basis streng kontrolliert und verfügen über ein semiimperatives Mandat. Ein auf das gesamte Jahr angelegter, detaillierter Ablaufplan zielt darauf ab, die Qualität der Diskussionen, die Entscheidungskontrolle und die Mobilisierung der Bürger zu fördern. Der gesamte Prozess läuft nach sehr präzisen Regeln ab, die jedes Jahr neu diskutiert werden und auf die die Teilnehmer großen Einfluss haben. Die Prioritäten werden anhand einer Berechnung ermittelt, die für jede Region nicht nur die Einwohnerzahl, sondern auch die Qualität der vorhandenen Infrastruktur und das Angebot an öffentli-
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Der Bürgerhaushalt basiert in Porto Alegre nicht auf den existierenden Planungseinteilungen Quartier, Stadtteil etc., sondern schafft ‚Regionen‘, die sich an zusammenhängenden Sozialräumen der Bürger orientieren. Es handelt sich um das höchste Entscheidungsgremium des Bürgerhaushalts in Porto Alegre. Die verschiedenen regionalen und thematischen Versammlungen entsenden dorthin Vertreter, die sich das ganze Jahr hindurch treffen, um die Aufstellung des Haushalts und die Umsetzung der Vorschläge aus der Bürgerschaft zu begleiten (wird auch Bürgerhaushalt-Beirat genannt).
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I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
chen Dienstleistungen berücksichtigt. Durch diese formalisierten Verteilungskriterien trägt der Bürgerhaushalt dazu bei, soziale Gerechtigkeit und die Logik von Mehrheitsentscheidungen miteinander in Einklang zu bringen. Hinzu kommt aufgrund der intensiven Diskussionen zwischen den Delegierten und den städtischen Verwaltungsmitarbeitern eine gewisse Demokratisierung administrativer Entscheidungen.7 Insgesamt wird den Bürgern in diesem Prozess ein beachtliches Maß an Macht übertragen; zudem erfreuen sie sich einer großen Verfahrensautonomie. Die Investitionen sind Gegenstand eines gemeinsamen Entscheidungsprozesses von Exekutive und Beteiligungsstruktur, wobei das jeweilige Gewicht der beiden Partner von Bereich zu Bereich variiert. In Bezug auf das restliche Budget hat der Bürgerhaushalt eine beratende Funktion, aber auch hier ist sein Einfluss nicht zu unterschätzen [Allegretti, 2003; Genro/De Souza, 1998; Gret/Sintomer, 2005; Herzberg, 2001]. Es fällt auf, dass sich insbesondere die unteren Bevölkerungsschichten für den Bürgerhaushalt mobilisieren und sich das Instrument zu eigen gemacht haben [Granet/Solidariedade, 2003]. Auch wenn die Beteiligung quantitativ begrenzt bleibt, ist sie im Laufe der Jahre kontinuierlich gewachsen. So haben sich im Jahr 1990 knapp unter tausend Menschen an dem Hauptzyklus der Versammlungen beteiligt, während es im Jahr 1999 schon über 14.000 waren und im Jahr 2002 mehr als 17.000. Diese Zahlen zeugen vom Mobilisierungspotenzial eines Verfahrens, das eine wachsende Zahl von Bürgern von seiner Nützlichkeit überzeugt hat. Noch bemerkenswerter ist die soziale Zusammensetzung der Teilnehmer: Während die unteren Schichten in politischen Diskussions- und Entscheidungsprozessen oftmals marginalisiert werden und Opfer eines „versteckten Zensus“ [Gaxie, 1978] sind, nehmen sie den Bürgerhaushalt massiv in Beschlag. Sie sind unter den Teilnehmern deutlich in der Mehrheit und Frauen sind in den Basis-Versammlungen schon lange zahlreicher vertreten als die Männer. Jedoch verschiebt sich dieses Verhältnis in der Pyramide der Delegierten-Gremien: Je höher man kommt, desto mehr nimmt der Einfluss von Bürgern mit einer höheren Schulbildung und mehr Zeitressourcen zu. Insgesamt spiegelt der Rat des Bürgerhaushalts aber in hohem Maße die Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung wider – zumindest im Vergleich zum Stadtparlament oder den Vorstehenden von politischen Parteien. Ursprünglich waren die ideologischen Ziele der Befürworter des Experiments auf eine „Umkehrung der Prioritäten“ zugunsten sozial Benachteiligter und auf eine „Demokratisierung der Demokratie“ [Genro/Souza, 1997] ausgerichtet. Diese beiden Ziele stehen dergestalt miteinander in Beziehung, dass die Partizipation den unteren Schichten die Möglichkeit geben soll, ihre Interessen
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Zum Beispiel geht es um die Breite von Straßen und Wegen oder um Sicherheitsanforderungen in Kindertagesstätten.
I/1.1 Die Erfindung des Bürgerhaushalts
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zu vertreten und der Aneignung des Staatsapparates8 durch die Oberschichten ein Ende zu setzen. Zu diesen beiden Zielen ist im Laufe der Jahre allmählich ein weiteres hinzugekommen: die Etablierung einer ‚guten Regierung‘, die durch Binnenreform der Verwaltung, Bürgerorientierung und der Bekämpfung klientelistischer Strukturen verwirklicht werden soll. Zum Teil sind diese Ambitionen von Erfolg gekrönt [Herzberg 2001; Gret/Sintomer, 2005]. Die Einführung klarer Regeln für die Verteilung der Ressourcen wie auch der öffentliche Charakter der Diskussionen haben den Prozess der Haushaltsaufstellung deutlich transparenter gemacht, die klientelistischen Verbindungen geschwächt und die accountability der Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung gefördert. Die Mobilisierung der unteren Schichten und die am Leitbild der sozialen Gerechtigkeit ausgerichteten Verteilungskriterien haben zu einer Umverteilung zugunsten der am meisten benachteiligten Gebiete geführt [Marquetti/de Campos/Pires, 2007], wodurch sich dort das alltägliche Leben verändert und verbessert hat. Die unteren Klassen sind nicht nur symbolisch zu legitimen Akteuren geworden, auch ihr reales Gewicht im Entscheidungsprozess ist beachtlich angewachsen, und der Bürgerhaushalt hat zu der Entstehung einer „plebejischen Öffentlichkeit“ geführt [Baierle, 2006]. Diese stützt sich auf das Aufkommen einer neuen, teilweise institutionalisierten Gewalt, die sich sowohl von der Legislative als auch von der Exekutive und der Judikative unterscheidet. Das Verfahren ist im Laufe der Jahre mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert, wie z.B. der Schwierigkeit, Bürger an mittel- oder langfristigen Fragen zu beteiligen, der Gefahr einer voranschreitenden Kooptierung aktiver Bürger aus der Zivilgesellschaft in das politische System oder auch der ‚Veralltäglichung‘ eines ursprünglich sehr innovativen Beteiligungsmodells. Die kommunalen Institutionen haben sich durch den Bürgerhaushalt nur wenig verändert und auch die Machtkämpfe innerhalb der Arbeiterpartei stehen denen anderer Parteiorganisationen in nichts nach. Bis zum Jahr 2000 sind diese Probleme jedoch noch nicht stark ausgeprägt. Das Experiment scheint echten Modellcharakter zu haben, und drei Mal in Folge wird die PT-Regierung im Amt bestätigt, was in Brasilien äußerst selten vorkommt. Der Bürgerhaushalt erfährt Anerkennung von Seiten internationaler Organisationen wie der Weltbank oder des UN-Programms Habitat, und er hat in der brasilianischen wie auch der internationalen Linken begeisterte Anhänger gefunden. Im Januar 2001 wird das erste Weltsozialforum in Porto Alegre organisiert, drei weitere folgen innerhalb der nächsten vier Jahre. Porto Alegre wird zur Hauptstadt der globalisierungskritischen Bewegung erkoren, da die Stadt wie keine andere den Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ zu verkörpern scheint.
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In Brasilien ist anders als in Deutschland die kommunale Ebene Teil des Staates.
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2.
I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
Die Verbreitung des Bürgerhaushalts in Brasilien und Lateinamerika
Partizipative Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Verbesserung der Verwaltung: ein viel versprechendes Programm, das Nachahmer auf den Plan ruft. In Brasilien ist der Bürgerhaushalt zum Aushängeschild der PT und einer Reihe von Nichtregierungsorganisationen geworden. Nach und nach hat das Modell immer mehr an Anerkennung gewonnen und ist sogar in die nationale Gesetzgebung aufgenommen worden. Während der Legislaturperiode 2001-2004 hat es in Brasilien über zweihundert Initiativen zur Einrichtung eines Bürgerhaushalts gegeben, von denen allein die Hälfte auf Bürgermeister der Arbeiterpartei zurückgeht. 43% der brasilianischen Bevölkerung leben in Kommunen mit einem solchen Beteiligungsinstrument – je größer die Stadt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es einen Bürgerhaushalt gibt (bei den Städten von über einer Million Einwohner beträgt sie 58%) [Marquetti, 2005a]. Die Entwicklungen auf lokaler Ebene haben auch die nationale Entwicklung Brasiliens beeinflusst, denn der Wahlsieg Lula da Silvas im Jahr 2002 basierte auch auf der erfolgreichen Kommunalpolitik der PT. Mit einem gewissen zeitlichen Abstand hat die Verbreitung des Bürgerhaushalts auch den Rest Lateinamerikas erreicht. Im Jahr 2006 haben Beobachtern zufolge 1.200 der 16.000 lateinamerikanischen Gemeinden ein derartiges Verfahren eingerichtet, wobei auch hier die größten Städte überproportional vertreten sind. Das Konzept wird auf regionaler Ebene erprobt (zunächst im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul, später aber auch in anderen lateinamerikanischen Ländern), und in Peru verpflichtet sogar ein Gesetz die Gemeinden zu einer Bürgerbeteiligung am Haushalt.9 Unterschiedlichste Akteure haben sich an der Verbreitung des Verfahrens beteiligt. In Brasilien hat die PT versucht, in den meisten der von ihr regierten Kommunen Bürgerhaushalte einzuführen, häufig auf Initiative linker Parteiströmungen. Durch den Austausch auf zahlreichen Kolloquien, Fortbildungsveranstaltungen, offiziellen oder auch informellen Kontakten ist allmählich ein Netzwerk entstanden, in dem die örtlichen Organisatoren und Aktivisten ihre Kenntnisse und Kompetenzen weiter entwickeln können. Häufig reisen die Personen, die ein Modellprojekt angestoßen haben, von einer Stadt in die nächste. Anlass dafür kann ein Regierungswechsel sein oder auch schlicht persönliche Karriereaussichten oder Beziehungen.10 Linke NGOs wie Cidade in Porto
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Diese haben allerdings größte Mühe, den Anforderungen des Gesetzes gerecht zu werden [Cabannes, 2006]. In brasilianischen Kommunen wird mit jeder neuen Regierung ein erheblicher Teil der Mitarbeiter ausgewechselt. Jeder Bürgermeister bringt eine ganze Riege von Vertrauensleuten mit. In Porto Alegre werden auf diese Weise mehrere tausend Stellen unter den Flügeln der Partei und den Koalitionspartnern aufgeteilt.
I/1.2 Die Verbreitung des Bürgerhaushalts (Brasilien, Lateinamerika)
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Alegre oder Polis in São Paulo haben bei der Vernetzung und bei der Erstellung von Expertisen ebenfalls eine aktive Rolle gespielt, indem sie z.B. Bürger zu unabhängig von der PT agierenden Aktivisten ausbilden, die als freie Berater fungieren oder Evaluationen laufender Verfahren erstellen. Durch das Weltsozialforum und seine kontinentalen Ableger hat die Idee des Bürgerhaushalts die Grenzen Brasiliens überschritten und sich auch in der übrigen lateinamerikanischen Linken verbreitet. Auch internationale Organisationen waren hierbei von Bedeutung, wie zum Beispiel das zwischen April 1997 und Dezember 2003 im ecuadorianischen Quito angesiedelte UNO-Programm zum Stadtmanagement (Urban Management Programm, UMP). Unter der Leitung von Yves Cabannes, einem ehemaligen Aktivisten, der Beruf und politisches Engagement miteinander in Einklang zu bringen versteht, hat es dazu beigetragen, der Idee des Bürgerhaushalts zu Legitimität bei weit mehr Personen als dem kleinen Kreis der Initiatoren zu verhelfen. Dabei wurden die politisch am weitestgehenden Versuche oft als best-practice-Beispiele besonders hervorgehoben [Cabannes, 2004a, 2004b, 2005]. Weitergeführt durch das Programm URB-AL der Europäischen Union, ist es dem um das UMP entstandene Netzwerk weitgehend gelungen, institutionell-organisatorische und politische Ansprüche in Bezug auf den Bürgerhaushalt zu verbinden. Diese Kopplung aus Professionalität und politischem Engagement ist bei internationalen Organisationen oder Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit wie z.B. der Weltbank oder der in Lateinamerika sehr aktiven Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) weniger stark ausgeprägt und ihr Vorgehen ist weitaus technokratischer. Die Weltbank spielt dennoch eine Rolle bei der weltweiten Verbreitung des Bürgerhaushalts, insbesondere in Afrika. Nach und nach hat sich der Bürgerhaushalt von Porto Alegre zu einem Vorbild für eine Vielzahl lokaler Akteure in Lateinamerika entwickelt. Ein Teil seines Erfolgs erklärt sich aus der Tatsache, dass er mehr ist als nur eine Idee: Seine im Laufe der Jahre erprobten und immer wieder verbesserten, präzisen Funktionsregeln stellen einen ‚institutionellen Baukasten‘ dar, der sich flexibel auch an andere Kontexte anpassen lässt – wie z.B. im 19. und 20. Jahrhundert, als die amerikanische und die französische Verfassung von anderen Staaten übernommen wurde. Reichlich vorhandenes, häufig interaktives und pädagogisch aufbereitetes Material erleichtert die Anpassungsarbeit, und schon nach einer oder zwei Versammlungen sind Bürger, Verwaltungsmitarbeiter und Aktivisten in der Lage, sich ein Bild von der genauen Funktionsweise des Verfahrens und seiner grundlegenden Regeln zu machen. Zahlreiche Gelegenheiten zum Austausch auf regionaler oder auch kontinentaler Ebene ermöglichen es, den Bürgerhaushalt zu verbessern, zu erneuern oder den lokalen Besonderheiten anzupassen. Zu beobachten ist ein Prozess der Hybridisierung mit den Instrumenten partizipativer strategischer Planung (die in Brasilien z.B. in Santo André
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I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
und in Belo Horizonte, in Peru in la Villa El Salvador entwickelt wurden), mit traditionellen Formen der Selbstverwaltung indigener Gemeinschaften (wie in einer Reihe von Gemeinden der Andenregion), mit den von der internationalen Gemeinschaft in den ärmsten Gegenden des Kontinents angewandten Formen des community development, mit der Gender-Thematik oder den gezielten politischen Maßnahmen zur Unterstützung von Minderheitengruppen, die unter dem Einfluss von Zivilgesellschaft und internationaler Zusammenarbeit rasch Verbreitung finden. Durch diese exponentielle Ausbreitung haben sich die ursprünglichen, soziopolitischen Grundlagen des Bürgerhaushalts schnell ausdifferenziert, auch wenn es mangels systematischer, auf einer verlässlichen Methodologie basierender Untersuchungen unmöglich ist, eine synthetische Übersicht der aktuellen Situation zu erstellen. Dennoch sind eine Reihe von zentralen, kontroversen Aspekten (cleavages) erkennbar. Der erste bezieht sich auf die Frage, ob die Beteiligung am Bürgerhaushalt mit Entscheidungskompetenzen verbunden ist oder lediglich beratenden Charakter hat. Der zweite Punkt betrifft die Art der teilnehmenden Bürger; hier werden die auf individueller Beteiligung beruhenden Beispiele (wie in Porto Alegre) denen gegenübergestellt, die auf der Partizipation von Vereinen basieren. Ein dritter Themenkomplex betrifft die Bedeutung der zur Diskussion stehenden Themen und den Umfang der Ressourcen, die von marginalen Summen bis hin zu für die Zukunft der betroffenen Kommunen entscheidenden Beträgen reichen können. Viertens werden solche Prozesse, in denen es eine Kontrolle durch die Basis gibt, von anderen ohne Basiskontrolle unterschieden. Ein fünftes Thema betrifft den Grad der Formalisierung und der Institutionalisierung des Verfahrens [Cabannes, 2005]. Darüber hinaus ist von Bedeutung, ob die partizipative Struktur klar mit den konkreten Abläufen der Verwaltung verbunden ist (6) und ob Mechanismen zur Beteiligung der am meisten benachteiligten Gruppen existieren (Schwarze, Ureinwohner, Frauen) (7). Der ohne Zweifel wichtigste Themenkomplex (8) betrifft jedoch die Frage, ob soziale Bewegungen (der Unterschichten) die Partizipationsverfahren zur Transformation der Gesellschaft nutzen. Oft existieren parallel zum Bürgerhaushalt starke soziale Bewegungen, die jedoch dem Beteiligungsinstrument fern bleiben. In einer Vielzahl von Gemeinden wurde der Bürgerhaushalt ‚von oben‘ eingerichtet und kam nur sehr partiell mit den zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Berührung. Er führte in erster Linie zu einer höheren Effizienz der lokalen Verwaltung und einem besseren Umgang mit den tatsächlichen Bedürfnissen, nicht aber zu einer Demokratisierung des politischen Lebens [Avritzer, 2005] – und noch weniger zur Entstehung einer „plebejischen Öffentlichkeit“ [Baierle, 2006]. Trotz dieser notwendigen Differenzierung ist der Bürgerhaushalt in Lateinamerika überwiegend ein Instrument der Armen, die es mehr nutzen als die
I/1.3 Was ist ein Bürgerhaushalt?
39
mittleren oder höheren Schichten. Er fördert die Beteiligung derer, die ‚keine Stimme‘ in den bestehenden Institutionen haben. Da er die unteren Schichten mobilisiert und nach Regeln funktioniert, die die soziale Gerechtigkeit bei der Verteilung der Ressourcen fördern, entfaltet er häufig eine redistributive Wirkung [Marquetti/de Campos/Pires, 2007]. Städte mit Bürgerhaushalt sind erfolgreicher im Kampf gegen die Armut und bei der Verbesserung der grundlegenden Infrastruktur wie fließendem Wasser und der Einrichtung von Kanalisationssystemen als Städte ohne Bürgerhaushalt, selbst wenn letztere von Vertretern der Arbeiterpartei regiert werden [Weltbank, 2008]. In manchen Fällen verbessert der Bürgerhaushalt die materielle Lage oder führt zu mehr symbolischer Anerkennung von Minderheitengruppen. Sobald er auf einen tatsächlichen politischen Willen zurückgeht und sich nicht auf eine reine Imagestrategie beschränkt, stellt er ein potentielles Instrument von good governance dar, das Korruption, Klientelismus und Verschwendung öffentlicher Gelder reduziert und eine bessere Kontrolle des Regierungshandelns bewirkt. In diesem Sinne ist er auch ein Instrument zur Modernisierung der Verwaltung. Auf politischer Ebene sind die Ergebnisse weniger eindeutig, was unter anderem daran liegt, dass lokale Ansätze zur Aufstellung eines Bürgerhaushalts regelmäßig dann scheitern, sobald die politischen Initiatoren die nächsten Wahlen verlieren. Diese Risiken haben jedoch nicht die exponentielle Ausbreitung des Bürgerhaushalts in Lateinamerika verhindert, zu der auch die Übernahme des Verfahrens in die nationale Gesetzgebung mehrerer Länder beigetragen hat.
3.
Was ist ein Bürgerhaushalt?
Spätestens seit dem Jahr des ersten Weltsozialforums (2001) verwenden auch europäische Akteure den Begriff des ‚partizipativen Haushalts‘ (der genauen sprachlichen Übersetzung des brasilianischen Verfahrens) zur Bezeichnung von Beteiligungsverfahren in ihrem Land (das deutsche Wort ‚Bürgerhaushalt‘ ist keine direkte Entlehnung aus der portugiesischen Sprache). Die Zahl der Bürgerhaushalte in Europa steigt seit einigen Jahren kontinuierlich an, bleibt aber deutlich geringer als in Lateinamerika. Gleichwohl steht man bei dem Versuch, eine systematische Bilanz der Verbreitung dieses Verfahrens auf dem europäischen Kontinent zu ziehen, vor einem Problem: Wie kann man ein Phänomen, das so unterschiedliche Formen annimmt wie der Bürgerhaushalt, detailliert untersuchen? Allgemein formuliert ist der Bürgerhaushalt ein Verfahren, das Bürgern die Möglichkeit gibt, sich an der Verteilung öffentlicher Gelder zu beteiligen. Allerdings gibt es in Europa, mehr noch als in Lateinamerika, äußerst unterschiedliche Verfahrensmodi dieses Beteiligungsinstruments. Darüber hi-
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I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
naus ist, wie noch zu zeigen sein wird, der Einfluss des Modells aus Porto Alegre im europäischen Kontext sehr unterschiedlicher Natur. Allein schon aus diesem Grund ist es nicht möglich, den Bürgerhaushalt auf einer rein empirischen Grundlage zu definieren: Damit erhielte man keine Aussage darüber, inwiefern sich der Bürgerhaushalt von anderen – seien es klassische, seien es innovative – Partizipationsmechanismen unterscheidet. So kann es geschehen, dass Prozesse, die mancherorts als Bürgerhaushalt bezeichnet werden, woanders nicht als solche angesehen werden bzw. dass manche Initiativen offiziell nicht als Bürgerhaushalt gelten, obwohl sie andernorts für einen solchen gehalten werden. Häufig ist die Definition dieses Verfahrens politisch umstritten. Für die einen bedeutet das Label Bürgerhaushalt einen symbolischen Zugewinn an Originalität oder ‚Radikalität‘ ihres Beteiligungsprozesses; die Anderen befürchten im Gegenteil, dass eine undifferenzierte Verwendung die Idee politisch aushöhlen und daher letztendlich kompromittieren könnte. Keines der Netzwerke, die sich rund um den Bürgerhaushalt organisiert haben, verfügt über ausreichend Legitimität und Einfluss, um ein anerkanntes Label zu verleihen. Sobald man daher eine vergleichende Forschung durchführt, ist eine ‚nominalistische Definition‘, die ausschließlich auf den Begriffen der lokalen Akteure beruht, unmöglich. Sich in die Kontroversen über den tieferen Sinn des Begriffs Bürgerhaushalt einzuschalten und eine bestimmte Definition zu unterstützen, kann im Rahmen philosophischer oder politischer Debatten sicherlich sinnvoll sein. In der vorliegenden Arbeit geht es jedoch darum, die Entwicklungstendenzen der lokalen Demokratie in Europa zu analysieren und nicht darum, ein ideales Verfahren vorzuschlagen. Daher verfolgen wir hier auch keine ‚normative‘ Definition. Ebenso wenig geht es darum, eine ‚objektivistische‘ oder ‚essentialistische‘ Definition der ‚wahren Natur‘ von Bürgerhaushalten zu liefern. Dies würde die Festlegung auf ein einziges Verfahren bedeuten, das exklusiv als Bürgerhaushalt anerkannt wird. Hierzu haben Forscher weder eine Legitimation, noch würde eine solche Einengung aus Sicht des allgemeinen Forschungsinteresses Sinn machen.11 Die Lösung, die wir in Anbetracht dieser unterschiedlichen Problemlagen gefunden haben, orientiert sich an der Vorgehensweise Max Webers: Sie besteht darin, eine im Wesentlichen ‚methodologische‘ Definition der europäischen Bürgerhaushalte vorzuschlagen. Als Bürgerhaushalte werden in dieser Arbeit Verfahren verstanden, die gewissen Kriterien entsprechen und daher, trotz ihrer
11
Die Geschichte der Wissenschaften hat gezeigt, dass die Begriffe und Kategorien, mit denen die Menschen die Welt erfassen, sozial konstruiert sind, und dass auch wissenschaftliche Konzepte keine Ausnahme dieser Regel darstellen [Desrosières, 2000]. Im Vergleich zu alltäglichen Kategorien haben sie lediglich eine größere Kohärenz und theoretische Fundierung sowie einen gewissen heuristischen Wert, da sie soziale Phänomene besser als Alltagskonzepte erklären können.
I/1.3 Was ist ein Bürgerhaushalt?
41
womöglich zahlreichen Unterschiedlichkeiten, über eine gemeinsame Basis verfügen. Erst auf dieser Grundlage wird ein systematischer Vergleich möglich. Max Weber hat den Staat durch sein spezifisches Mittel, sein „Monopol legitimen physischen Zwanges“ („Gewaltmonopol“) [Weber, 1990: 29], definiert. Eine Definition, die sich auf die von einem Staat verfolgten Ziele stützt, lehnte er hingegen mit der Begründung ab, diese seien zu unterschiedlich und zu wenig spezifisch, um ein kohärentes und eindeutiges Kriterium darzustellen. Ebenso muss unsere Definition der Bürgerhaushalte auf bestimmten, festgelegten Kriterien basieren, um das Phänomen Bürgerhaushalt detailliert beschreiben und vergleichen zu können. Die Definition soll einerseits umfassend genug sein, um eine große Zahl von Prozessen analysieren zu können, andererseits aber auch ausreichend präzise, um nicht jedes beliebige Beteiligungsverfahren berücksichtigen zu müssen und damit die Originalität des Untersuchungsobjekts zu untergraben. Zudem geht es hier nicht darum, sich im Elfenbeinturm der Wissenschaft einzuschließen und vollständig von den Kategorien der Akteure abzugrenzen. Was wir hier als Bürgerhaushalt bezeichnen, unterscheidet sich nicht fundamental vom Verständnis zahlreicher Aktivisten oder politischer Mandatsträger. Dennoch reicht es nicht, sich auf die vorhandenen Definitionen der Akteure zu stützen: Wir sehen bestimmte Beispiele als Bürgerhaushalt an, auch wenn diese den Begriff ihrerseits nicht verwenden, während wir ihn im Falle mancher ‚selbsternannter‘ Bürgerhaushalte nicht benutzen. Die nachfolgende Definition des Objekts ‚Bürgerhaushalt‘ ist im Rahmen einer europäisch vergleichenden Studie entstanden. Eine Untersuchung, die sich auf ein einziges Land oder auf einen anderen Kontinent beziehen würde, könnte natürlich andere Kriterien zugrunde legen. So kommen viele Verfahren in Spanien dem Modell Porto Alegres sehr nahe, weshalb eine Forschung in diesem Land mit anderen, strikteren Kriterien arbeiten könnte als z.B. in Frankreich oder Deutschland. Die Erarbeitung der Definitionskriterien ist auf Grundlage eines ständigen Austausches zwischen empirischer Forschung und sozialwissenschaftlicher Theorie entstanden. Darüber hinaus haben wir die ‚methodologische‘ Definition des Bürgerhaushalts regelmäßig mit Wissenschaftlern anderer Länder diskutiert und verändert.12 Eine solche Herangehensweise ist in der epistemologischen Perspektive des „pensée par cas“ (Denkens auf Grundlage von Fallstudien) [Passeron/Revel, 2005] begründet. Ausgehend von Einzelfallstudien wird nach verallgemeinernden Erklärungen gesucht, die jedoch immer wieder überdacht und verändert werden. Dieses Vorgehen ist mit der Jurisprudenz vergleichbar. Dort gibt es bestehende, rechtliche Normen, die aber durch neue Fälle oder
12
Besonders viel verdankt die Entwicklung der Definition G. Allegretti aus Italien und E. Ganuza aus Spanien.
42
I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
veränderte Vorgaben stets hinterfragt werden. Jede interessante Fallanalyse im Sinn von Passeron/Revel verweist auf solche Tatsachen, die sich nicht mit bereits bestehenden Forschungsansätzen erklären lassen und daher für eine Veränderung des Erklärungsmodells sorgen. Diese Sichtweise steht im Gegensatz zu einer auf der Widerlegbarkeit von Erklärungen basierenden, Popper’schen Herangehensweise, die Besonderheiten unter ‚monotone‘ Gesetze subsumiert und nach allgemeinen Aussagen strebt, die mechanisch auf die Untersuchung weiterer Fälle angewendet werden können. Sie grenzt sich ebenfalls von der hermeneutischen Analyse ab, die darauf abzielt, den Kern eines Phänomens auf Grundlage der von den Akteuren selbst vorgenommenen interpretativen Reflexion über dessen Sinnhaftigkeit zu erkennen. Allgemein formuliert ist ein Bürgerhaushalt ein Verfahren, das Bürgern die Beteiligung an der Planung von Einnahmen und Ausgaben öffentlicher Mittel ermöglicht. Zur Definition des Bürgerhaushalts in Europa müssen fünf weitere Kriterien herangezogen werden: 1.
2.
3.
4.
5.
Die Diskussion muss explizit finanzielle Angelegenheiten betreffen: Zwar beinhaltet jedes Partizipationsverfahren per se auch eine finanzielle Dimension, da die Organisation und eventuell die Ergebnisse des Prozesses bezahlt werden müssen. Die Besonderheit des Bürgerhaushalts besteht jedoch darin, das Geld ins Zentrum des Verfahrens zu stellen und hervorzuheben, dass es um die Vergabe begrenzter Ressourcen geht. Die Beteiligung findet auf der Ebene der Gesamtstadt oder eines Bezirks mit einem eigenen politischen Vertretungsorgan (Rat), dem eine eigene Verwaltung zugeordnet ist, statt. Wenn ein Verfahren nur im Rahmen eines Stadtviertels organisiert wird, ist dies kein Bürgerhaushalt. Dieses Kriterium ist notwendig, um den Bürgerhaushalt von Quartiersbeiräten oder Quartiersfonds abzugrenzen, die es in Europa zu Hunderten gibt. StadtteilFonds müssen, um zu einem Bürgerhaushalt zu werden, mit Versammlungen auf Ebene der Gesamtstadt verbunden werden. Es handelt sich um ein auf Dauer angelegtes und wiederholtes Verfahren: Eine einmalige Versammlung oder ein einmaliges Referendum über Haushaltsfragen stellen keinen Bürgerhaushalt im hier verstandenen Sinn dar. Das Verfahren beinhaltet eine öffentliche Diskussion zu Haushaltsfragen im Rahmen eigenständiger Versammlungen. Eine Umfrage zum Thema kommunaler Finanzen ist daher kein Bürgerhaushalt, ebenso wenig wie eine herkömmliche Rats- oder ein Ausschusssitzung, an der Bürger teilnehmen können. Über die Ergebnisse des Beteiligungsprozesses muss Rechenschaft abgelegt werden (accountability), und sei es nur in Form eines mündlichen Be-
I/1.4 Die Verbreitung des Bürgerhaushalts in Europa
43
richts. Wenn dies nicht der Fall ist, handelt es sich nicht um einen Bürgerhaushalt im hier vertretenen Sinn. Zusätzlich zu diesen fünf Kriterien soll noch auf folgende drei Aspekte hingewiesen werden: Erstens entsprechen manche Verfahren mehr als andere der methodologischen Definition. Während einige Beispiele alle Kriterien voll und ganz erfüllen, ist dies bei anderen nur ansatzweise der Fall. Zweitens ist die Größe der jeweiligen Kommune nicht Teil der Definitionskriterien für einen Bürgerhaushalt, da dies auf das Verfahren als solches keinen Einfluss hat (ebenso wie ein Staat sowohl wenige Tausend als auch eine Milliarde Einwohner haben kann). Daraus geht, drittens, hervor, dass sich die Definitionskriterien in erster Linie auf das angewandte Verfahrensmodell und nicht auf die reale Funktionsweise oder die konkreten Effekte von Bürgerhaushalten beziehen. Nur, wenn man sich auf diese Verfahrensdimension konzentriert, kann die Besonderheit des Untersuchungsgegenstandes deutlich werden. Wie im zweiten Teil deutlich werden wird, sind die Funktionsweisen und Effekte des partizipativen Haushalts in Europa zu unterschiedlich, als dass man darauf eine Definition gründen könnte.
4.
Die Verbreitung des Bürgerhaushalts in Europa
Nachdem eine Definition aufgestellt worden ist, anhand deren die zu vergleichenden Partizipationsverfahren eindeutig bestimmt werden können, geht es in diesem Abschnitt um die Verbreitung der Bürgerhaushalte auf dem alten Kontinent. Die Zahlen sind beeindruckend.13 Während sich 1999 die Beispiele noch an einer Hand abzählen ließen, belief sich 2002 die Zahl der Bürgerhaushalte in Europa bereits auf mehr als zwanzig und im Jahr 2005 auf 55. Und dieser Prozess geht weiter: Im Jahr 2009 sind zwar einige Bürgerhaushalte beendet worden, aber ihre Zahl ist insgesamt auf über zweihundert angestiegen, was vor allem auf die starke Zunahme in Italien, aber auch in Spanien und Portugal zurückzuführen ist (darüber hinaus gibt es Bürgerhaushalte nun auch in Schweden, Norwegen, Albanien und Bosnien). Wenn man die Einwohnerzahl der Städte bzw. Stadtbezirke mit einem solchen Verfahren berücksichtigt, so verläuft die Kurve ähnlich steil (vgl. Abb 2): weniger als 350.000 im Jahr 2000, 1.528.000 im Jahr 2002, 3.680.000 im Jahr 2004 und ein Jahr später 4.816.000 – und die Zahlen steigen 2009 weiter deutlich an.
13
Für eine umfassendere Beschreibung der quantitativen Entwicklung der Bürgerhaushalte in Europa, die hier nur in einigen Grundzügen dargestellt werden kann, vgl. [Sintomer/Herzberg/Röcke, 2005].
44
Abbildung 2:
I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
Anzahl der Bürgerhaushalte und der betroffenen Einwohner in Europa
Diese Ausbreitung, die sich allem Anschein nach in den kommenden Jahren fortsetzen wird, ist umso interessanter, als sie in Städten von sehr unterschiedlicher Größe zu beobachten ist. Während anfangs vor allem kleine und mittlere Städte einen Bürgerhaushalt eingeführt haben, ist die Zahl größerer Kommunen kontinuierlich gewachsen. 1999 hatte nur eine einzige Stadt mit mehr als 100.000 Einwohnern einen Bürgerhaushalt eingeführt, im Jahr 2002 waren es bereits vier und weitere drei Jahre später schon 17. Die bevölkerungsreichste unter ihnen war Sevilla (Spanien) mit 700.000 Einwohnern. 2007 gab es in mindestens einem Bezirk einer der folgenden europäischen Hauptstädte einen Bürgerhaushalt: Berlin, Paris, Rom, London und Lissabon. Zwei Regionen (Poitou-Charentes in Frankreich und das Latium in Italien) haben einen partizipativen Haushalt begonnen, wenn auch diese Verfahren nicht vollständig unserer methodologischen Definition entsprechen. Und im Jahr 2008 wird mit Köln ein Bürgerhaushalt in einer Stadt eingeführt, die über eine Million Einwohner zählt. Insgesamt ist die Diversität der betroffenen Kommunen hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl offenkundig, wie Abb. 3 veranschaulicht.
I/1.4 Die Verbreitungg des Bürgerhaushalts in Europa
Abbildung 3:
45
Einw wohnerzahl der Städte/Bezirke mit Bürgerhaushalt in Europa E 2005
46
I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
Auch geographisch hat sich das Phänomen Bürgerhaushalt stark verbreitet. Im Jahr 2005 gab es in Italien 15 Verfahren, 14 in Spanien, elf in Frankreich, etwa zehn in Deutschland, drei in Großbritannien, zwei in Portugal und eins in Polen (vgl. Abb. 4). Seitdem haben Spanien und – in noch höherem Maß – Italien ihren Abstand ausgebaut, während es auch in Portugal mehr Projekte gibt und sich der Bürgerhaushalt gegen Ende dieses Jahrzehnts in Großbritannien sehr stark verbreiten könnte (s. Teil II). In Schweden, Norwegen, Albanien und Ländern des ehemaligen Jugoslawiens gibt es seit Kurzem ebenfalls erste Versuche mit dem Bürgerhaushalt. Darüber hinaus könnte man auch Verfahren in der Schweiz berücksichtigen, die zum Teil unserer Definition eines Bürgerhaushalts entsprechen [Feld/Kirchgässner, 2001].14 In Bezug auf die Einwohnerzahl steht Spanien unangefochten an der Spitze, da die Bürgerhaushalte dort insbesondere in den bevölkerungsreichen Städten eingerichtet wurden. Im Jahr 2005 lebten hier zwei Millionen Menschen in Städten mit einem Bürgerhaushalt, gegenüber nicht einmal einer Million in Deutschland und um die 500.000 in Frankreich und Italien, wo sich Bürgerhaushalte in erster Linie in kleinen und mittelgroßen Städten entwickelt haben. Diese Daten relativieren gleichwohl die Bedeutung des Phänomens Bürgerhaushalt: Ungeachtet der Ausbreitung des Verfahrens sind rund 200 Kommunen im Vergleich zu der Gesamtzahl von Kommunen in Europa (mehrere Zehntausend) sehr wenig. Selbst in Spanien, wo die Bürgerhaushalte 2005 am weitesten verbreitet waren, entsprachen die Städte mit einem solchen Verfahren lediglich 5% der Gesamtbevölkerung, und erst 2008 wurde in Portugal eine Quote von 10% erreicht. Dies ist weitaus mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern, in denen nur ca. 1% der Bevölkerung (potentiell) betroffen ist. So wundert es nicht dass die Verbreitung in Europa weit hinter der Lateinamerikas zurückbleibt.
14
Aus primär zeitlichen Gründen konnte dies in diesem Projekt nicht geleistet werden.
I/1.4 Die Verbreitung des Bürgerhaushalts in Europa
Abbildung 4:
47
Karten über die geographische Verbreitung von Bürgerhaushalten in Europa (2000-2005)
Gibt es ein gemeinsames Profil von europäischen Kommunen mit einem Bürgerhaushalt? Die Größe ist es wie schon gezeigt wurde nicht, ebenso wenig das Alter einer Stadt: Während manche der beteiligten Kommunen auf eine jahrhundertealte Geschichte zurückblicken können, sind andere erst viel jüngeren Datums entstanden. Desgleichen sind neben Städten, die in wirtschaftlichen Ballungsgebieten liegen, auch Hauptstädte und Vorortkommunen beteiligt. Die
48
I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
sozioökonomische Lage unterscheidet sich ebenfalls von Kommune zu Kommune. Betrachtet man den alten Kontinent im Ganzen, so sind Bürgerhaushalte nicht etwa ausschließlich in den besonders reichen Städten anzutreffen, ebenso wenig aber in den finanziell besonders stark belasteten Kommunen. Die Arbeitslosenquote kann über 20% liegen (wie beispielsweise in Saint-Denis, Bobigny, Cordoba oder Płock), um die 15% der Bevölkerung betreffen (wie in den Stadtbezirken von Rom, Berlin oder Paris), unter 10% liegen (wie in Morsang-surOrge, in Grottammare oder in Bradford) oder auch nicht einmal die 5%-Marke erreichen (wie in Venedig oder in Salford). Der kommunale Haushalt kann, wie in den spanischen, portugiesischen oder polnischen Städten, einige Euro pro Einwohner betragen, oder auch über 2.000 Euro, so wie es in Saint-Denis, Pontde-Claix, Hilden oder in Rheinstetten der Fall ist (vgl. Abb. 5). Manche Kommunen sind stark verschuldet (z.B. Cordoba), andere (wie Morsang-sur-Orge oder Płock) hingegen so gut wie nicht (vgl. Abb. 6). Des Weiteren muss man Städte mit sehr geringem finanziellem Spielraum von Städten mit einer armen Bevölkerung unterscheiden. Diese beiden Merkmale fallen nicht zwangsläufig zusammen: Saint-Denis oder Bobigny sind zum Beispiel reiche Städte mit einer weitgehend verarmten Bevölkerung. Manche Städte haben einen hohen Anteil von Immigranten (die Ausländerquote in Bobigny, Bradford oder Saint-Denis liegt bei ca. 25%), in anderen liegt er bei weniger als fünf Prozent (wie in den meisten spanischen und deutschen Städten sowie Płock, Venedig oder auch Salford).15
15
Es ist interessant festzuhalten, dass es nicht unbedingt einen Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein sozialer Probleme und der Konzentration von Einwanderern geben muss. Zwar besteht dieser Zusammenhang in einigen Fällen sehr deutlich (zum Beispiel in den französischen Vorstädten), doch belegen die Städte Płock und Cordoue, dass es nicht überall so sein muss. Vergleicht man alle Projekt-Städte miteinander stellt man fest, dass die Kommunen mit der höchsten Arbeitslosenquoten nicht zwangsläufig diejenigen sind, in denen auch die meisten Immigranten leben und andersherum (selbst wenn es innerhalb der städtischen ‚Problemviertel‘ häufig eine hohe Ausländerquote gibt und sich die Prozesse der sozialen, räumlichen und ethnischen Segregation häufig stark überlagern).
0 630 629 336
758 701
2775 2273
8 mit weniger als 1000
4000 4839
5121
Städte mit einem Bürgerhaushalt
Utrecht Hämeenlinna Mons (Gesamtstadt) Esslingen
1000 841 785
1659 1630 1604 1140 1118
8 zwischen 1000 und 2000
42
2000 5 mit mehr als 2000
1902 1835 1818
6000
Sevilla Palmela Puente Genil Płock Córdoba Albacete Roma XI Paris XX
3000
2045
5000
2267 2155 2141
Abbildung 5:
Bobigny Bradford Salford Lichtenberg_(Berlin) Morsang Emsdetten Grottammare Pieve Emanuele
Hilden Pont Claix St. Denis Rheinstetten
I/1.4 Die Verbreitung des Bürgerhaushalts in Europa 49
Gemeindehaushalt je Einwohner Andere Verfahren
50
I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
Abbildung 6:
Kommunale Schulden/Gesamthaushalt
5,8%
1,6% Utrecht
15,6%
5,6% Morsang
54,8% 5,7% Płock
20%
15,2%
40%
37,6%
57,8% Sevilla
60%
26,8%
62,8% Emsdetten
70,4%
80%
75,8%
90,5% Albacete
100%
91,4%
120%
St. Denis
140%
Andere Verfahren
Städte mit einem Bürgerhaushalt
114,4%
160%
Esslingen
169,5%
180%
Kommunale Schulden/Gesamthaushalt
Hämeenlinna
Mons (Gesamtstadt)
Rheinstetten
Hilden
Pont Claix
Bobigny
Bradford
Córdoba
Salford
0%
Dieses äußerst differenzierte Bild unterscheidet sich kaum von dem der europäischen Kommunen im Allgemeinen, deren Diversität man anhand dieses kurzen Überblicks erahnen kann. Die sozio-ökonomischen Unterschiede zwischen den Städten haben sehr häufig lokale Ursachen und hängen nur teilweise von nationalen Rahmenbedingungen ab. Zwar gibt es diesbezüglich auch deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, Differenzen gibt es aber auch und vor allem innerhalb der Staaten und sogar innerhalb ein und derselben Stadt. So weist ein ‚Problemviertel‘ einer deutschen Großstadt vermutlich mehr Gemeinsamkeiten mit einem benachteiligten französischen Vorort auf als mit einem wohlhabenden Wohnviertel aus derselben Stadt. In jedem Fall kann man an dieser Stelle festhalten, dass die sozio-ökonomische Lage einer Kommune nicht maßgeblich beeinflusst, ob es zur Einrichtung eines Bürgerhaushalts kommt oder nicht. In manchen Städten ist die ökonomische Situation sehr angespannt und es gilt lediglich ‚den Mangel zu verwalten‘, in anderen wiederum sind genug Ressourcen vorhanden, so dass es etwas zu verteilen gibt. Auch hinsichtlich der Wahlbeteiligung, und damit der politischen Legitimation einer Kommunalregierung, gibt es gewaltige Unterschiede in Europa. Die Beteiligung bei Kommunalwahlen variiert zum Beispiel zwischen 32% in
I/1.4 Die Verbreitung des Bürgerhaushalts in Europa
51
Płock (Polen) und mehr als 70% in den italienischen Städten, während sich Kommunen wie Hilden oder Rheinstetten mit knapp unter 50% in der Mitte situieren. Ein anderer politischer Faktor scheint hingegen in einer Vielzahl von Fällen bedeutsam zu sein: die parteipolitische Ausrichtung der Initiatoren von Bürgerhaushalten. So war im Jahr 2005 die überwältigende Mehrheit der europäischen Städte mit einem Bürgerhaushalt im linken Teil des politischen Spektrums zu finden. In einem von zwei Fällen war der Bürgermeister Sozialdemokrat, in etwas mehr als einem Drittel Post-Kommunist oder Mitglied der alternativen Linken. Nur in knapp sieben Prozent der Fälle gehörte er der liberalen oder konservativen Rechten an. Betrachtet man parteipolitische Koalitionen auf kommunaler Ebene, so tritt die Bedeutung der Post-Kommunisten und alternativen Linken noch deutlicher hervor. Denn häufig sind es diese Parteien, die bei einer Regierungsbeteiligung die Einführung eines Bürgerhaushalts gegenüber dem sozialdemokratischen Koalitionspartner durchsetzen. In den mittel- und südeuropäischen Länder gibt es innerhalb des linken Parteienspektrums wichtige Unterschiede (vgl. Abb. 7): In Frankreich stellen die Kommunisten eindeutig die treibende Kraft für die Einrichtung von Bürgerhaushalten dar. Für Portugal gilt dies vor allem für die ersten Jahre, inzwischen werden in den Städten, in denen die postkommunistische Linke an der Macht ist, kaum noch Bürgerhaushalte eingeführt bzw. bestehende Verfahren beendet. In Spanien und Italien sind es zusätzlich zu den Post-Kommunisten vor allem Sozialdemokraten (bzw. die sozialistischen Parteien), die bei der Verbreitung der neuen Partizipationsform eine Rolle spielen. Die Grünen haben, selbst als kleiner Koalitionspartner, in dieser Entwicklung nur eine marginale Rolle gespielt, mit Ausnahme der Situation in Katalonien (wo die Grünen mit den Ex-Kommunisten regieren) und in Italien. In Deutschland haben sie sich nach einem anfänglich starken Engagement zwischenzeitlich zurückgezogen und verstärkt erst wieder ab dem Jahr 2007 die Initiative zur Einrichtung von Bürgerhaushalten ergriffen.16 Wie sich später noch zeigen wird, unterscheidet sich die parteipolitische Situation in Bezug auf den Bürgerhaushalt in Deutschland (in geringerem Maß auch in Großbritannien und Polen) insgesamt sehr stark von der in anderen, insbesondere süd- und mitteleuropäischen Ländern. Der Bürgerhaushalt gilt in Deutschland nicht vornehmlich als rein linkes, sondern als ein überparteiliches Projekt und wird von den verschiedensten politischen Kräften getragen. Kommunen mit einem CDU-
16
Davor war das Verfahren aus Porto Alegre zwar bekannt, auch wurden manche Vertreter der Stadt nach Deutschland zu Vortragsreisen eingeladen. Eigene Verfahren haben die Grünen aber erst spät initiiert, so z.B. 2007 in Berlin-Friedrichshain und Freiburg. Im Jahr 2008 haben die Berliner Grünen ein eigenes Bürgerhaushalts-Rahmenverfahren entwickeln lassen, an dem Mitglieder unserer Forschungsgruppe unmittelbar beteiligt waren.
52
I/1 „Alles begann in Porto Alegre …“
oder SPD-Bürgermeister haben in Deutschland fast gleich viele Verfahren initiiert. ‚Die Linke‘ hat sich hingegen erst einige Jahre nach den ersten Pilotprojekten (ab 2005) für den Bürgerhaushalt interessiert. Zwar kann man in Belgien, Frankreich, Italien, Portugal und Spanien feststellen, dass sich mit der Zeit die starke Dominanz der Linken bei der Einrichtung von Bürgerhaushalten deutlich relativiert, dennoch bleibt ihr Einfluss im Vergleich zu Deutschland noch weitaus größer und der Bürgerhaushalt ist aus gesamteuropäischer Perspektive nach wie vor ein vornehmlich linkes Phänomen (Abb. 7).
Abbildung 7:
Parteizugehörigkeit des Bürgermeisters in Städten mit einem Bürgerhaushalt (1998-2005)
18 16
1
1 2
14 12
2
8 2
10
7
8
12
7
9 6
2 0
Konservative / Liberale Sozialdemokraten Post-Kommunisten / Alternative Linke
6 4
Andere
3
1 Deutschland
Frankreich
Spanien
Italien
Im Hinblick auf die Herkunft des Verfahrens (soziale Bewegungen und die brasilianische Arbeiterpartei) und der Auswirkungen der ersten brasilianischen Beispiele auf die globalisierungskritische Bewegung ist diese bisherige Verankerung im linken Parteienspektrum eigentlich nicht weiter verwunderlich (die neueren Beispiele in Schweden, Albanien oder den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens wurden sämtlich von konservativen Parteien initiiert). Oder vielleicht doch: Denn neben der Befürwortung für Verfahren der Bürgerbeteiligung ist sowohl in moderaten als auch in ‚radikaleren‘ Gruppen bzw. Parteiströmungen oft eine paternalistische Grundhaltung weit verbreitet, aufgrund derer ein autonomer, nicht vollständig kontrollierbarer Partizipationsprozess häufig abgelehnt wird. Darüber hinaus kann man sich fragen, wieso sich
I/1.4 Die Verbreitung des Bürgerhaushalts in Europa
53
eine wachsende Zahl linksregierter Städte in Europa für ein Verfahren interessiert hat, das ursprünglich aus Brasilien stammt. Des Weiteren ist unklar, warum Bürgerhaushalte vor allem in Spanien und in Italien sowie, in etwas geringerem Maß, in Frankreich, Deutschland und in Großbritannien Fuß gefasst haben, aber nur sehr viel später in den skandinavischen Ländern, wo es auch eine starke sozialdemokratische Tradition gibt.17 Grundsätzlich stellt sich die Frage, wieso bestimmte Städte sich entschieden haben, einen Bürgerhaushalt einzurichten, während andere mit ähnlichen Rahmenbedingungen und politischer Orientierung dies nicht gemacht haben. Wie kann man darüber hinaus die besondere Entwicklung in Deutschland erklären? Viele Fragen sind noch offen, um die bisherige Entwicklung der Bürgerhaushalte in Europa zu erklären. Aus diesem Grund müssen wir genauer untersuchen, welche Faktoren am Ursprung des partizipativen Haushalts auf dem alten Kontinent stehen und noch deutlicher den Weg nachzeichnen, auf dem sich dieses Verfahren verbreitet hat.
17
In Norwegen und Schweden wird die Diskussion über den Bürgerhaushalt zwar zunehmend intensiver geführt, und in Schweden haben im Jahr 2008 auch einige Städte mit der Einführung eines Bürgerhaushalts begonnen; diese Entwicklung kommt aber im Vergleich zu den südeuropäischen Ländern rund fünf bis zehn Jahre später.
Kapitel 2
Eine europäische Konvergenz?
Um die wachsende Beliebtheit des Bürgerhaushalts zu erklären, könnte man zunächst die strukturellen Veränderungen analysieren, die diese Entwicklung auf makrosoziologischer Ebene begünstigt haben. Wie bereits deutlich geworden ist, gibt es keinen direkten Zusammenhang mit allgemeinen sozioökonomischen Faktoren (wie etwa ‚Die Situation der Krise zwingt zu der Suche nach neuen Lösungen‘ oder im Gegenteil ‚Die wirtschaftliche Prosperität erlaubt es, die Bürgerbeteiligung zu stärken‘). Sollte man daher wieder verstärkt institutionelle Faktoren berücksichtigen und sich beispielsweise der europäischen Einigung zuwenden, von der man annehmen könnte, dass sie eine Konvergenz der lokalen demokratischen Strukturen in Europa im Allgemeinen und die Entwicklung einer partizipativen Dimension im Besonderen begünstigt?
1.
Eine schwache Konvergenz lokalpolitischer Strukturen
Auf den ersten Blick scheint eine solche Erklärung nur bedingt einen Ansatzpunkt zu bieten, wie an den folgenden Gegenbeispielen zum Verhältnis von Partizipation und Dezentralisierung gezeigt werden kann: Großbritannien ist derzeit das Land in Europa, dessen nationale Gesetzgebung vermutlich die meisten Anreize zur Bürgerbeteiligung beinhaltet. Und doch haben die Regierungen der letzten zwei Jahrzehnte die ohnehin schon recht eingeschränkte Macht der Kommunen stets weiter begrenzt – und dies mitunter auch im Rahmen von nationalen Richtlinien bzw. sogar gesetzlichen Vorschriften zur Bürgerbeteiligung. Demgegenüber steht die Ausweitung der Bürgerbeteiligung in Finnland in engem Zusammenhang mit der weiteren Konsolidierung der bereits stark ausgeprägten kommunalen Autonomie [Kettunen, 2003]. Man kann daher nicht davon ausgehen, dass sich in Europa Dezentralisierung und Ausweitung der Beteiligungsmöglichkeiten gleichermaßen entwickeln und es diesbezüglich eine Konvergenz gibt. Die große Vielfalt der lokalpolitischen Strukturen in Europa schlägt sich auch in den wissenschaftlichen Analysen zu diesem Thema nieder. Es ist äußerst schwierig, verlässliche Vergleichsstatistiken über europäische Kommunalsysteme zu finden. In den meisten Fällen beziehen sich die Angaben über die
I/2.1 Eine schwache Konvergenz lokalpolitischer Strukturen
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Finanzsituation auf sehr unterschiedliche Institutionen (Gemeinden, Kreise, Regionen). Hinzu kommt, dass die vorliegenden vergleichenden Studien entweder auf zwei oder drei Länder beschränkt sind oder sich damit begnügen, nationale Studien gegenüberzustellen, die in der Regel unabhängig voneinander durchgeführt wurden.18 Die durchschnittliche Größe der Kommunen in Europa unterscheidet sich stark von Land zu Land. Auf der einen Seite hat man es, wie etwa in Großbritannien, mit einer geringen Anzahl an Gemeinden (unter 500) zu tun, die aber viele Einwohner zählen (durchschnittlich 130.000). Auf der anderen Seite, wie z.B. in Frankreich, trifft man auf eine große Zahl von Kommunen (35.000), die mit durchschnittlich 1.700 Einwohnern aber häufig sehr klein sind. Zwischen diesen beiden Extremen sind Länder wie Spanien, Italien oder Deutschland angesiedelt, die zwischen 8.500 und 15.500 Kommunen zählen. In vielen westeuropäischen Ländern ist die Zahl der Gemeinden seit den 1960er Jahren im Rahmen von Gebietsreformen reduziert worden. In Deutschland hat sich die Zahl der Kommunen von 24.000 auf 12.500 verringert, in Belgien von mehr als 2.600 auf unter 600. Mit diesen Maßnahmen wurden unter anderem Einsparungen und Effizienzsteigerung der Kommunalverwaltungen angestrebt. Frankreich schloss sich dieser Bewegung erst in den 1980er Jahren an, allerdings insbesondere unter Schaffung interkommunaler Zusammenschlüsse, denen die Gemeinden einzelne Kompetenzen übertragen.19 Allgemein gilt, dass die formalen Kompetenzen der europäischen Kommunen wie auch ihre tatsächlichen Einflussmöglichkeiten stark variieren. Bezüglich ihrer realen Macht geht es – entgegen einer weit verbreiteten Legende – weniger um die Höhe der eigenen (insbesondere Steuer-)Mittel, als vielmehr um die Höhe der finanziellen Mittel, über die die Kommunen frei verfügen können, wie auch das Ausmaß ihrer Kompetenzen. Analytisch kann man zwischen verschiedenen Fällen der finanziellen und politischen Autonomie unterscheiden:
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Erst vor kurzem haben eine Reihe von Wissenschaftlern damit begonnen, die Grundlage für einen systematischen Vergleich zu legen [Baeck/Heinelt/Magier, 2006; Delcamp/Loughlin, 2002; Denters/Rose, 2005; Steyers, 2005; Franzke, 2007; Delwit, 2007; Wollmann, 2004, 2007; Lazin/Hoffmann-Martineau/Wollmann, 2007]. Auch die vorliegende Arbeit versteht sich als Teil dieser Forschungsentwicklung. Im Dezember 2004 waren 81% der Bevölkerung und 86% der französischen Städte Teil eines solchen Kommunalverbands. In anderen Ländern, wie z.B. in Belgien, ist die Umstrukturierung der kommunalen Kompetenzen Sektor für Sektor vorgenommen worden, ohne dass sich die einzelnen Strukturen zwangsläufig geographisch verändert hätten. Nach 1989 haben die Länder Ostmitteleuropas einen anderen Weg eingeschlagen als die Länder des ‚alten Europas‘, indem sie (mit Ausnahme Polens) das französische Modell übernommen haben (Diese Entwicklungen können in der vom Council of Europe herausgegebenen Reihe „Structure and operation of local and regional democracy“ nachgelesen werden.)
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I/2 Eine europäische Konvergenz?
Kommunen ohne finanzielle und politische Autonomie (häufig anzutreffen in Diktaturen, z.B. vor dem Fall der Mauer in den meisten Ländern Osteuropas, in Spanien unter Franco oder im Portugal Salazars); Kommunen mit geringer finanzieller und politischer Autonomie (Frankreich vor 1982, Großbritannien unter Thatcher); Kommunen mit höherer Autonomie, die sich aber ihre Kompetenzen mit einer zwischenstaatlichen Ebene teilen müssen, der sie eventuell auch formal unterstellt sind (eine für Deutschland klassische Situation, die heute in unterschiedlicher Ausprägung auch in Italien, Spanien und Belgien sowie, in deutlich geringerem Maß, auch in Frankreich und Polen anzutreffen ist20); Kommunen mit großer, finanzieller und politischer Autonomie (die nordischen Länder und die Niederlande).
Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass politische Autonomie und ein großes Aufgabenspektrum nicht immer zusammenfallen, wobei es hierbei verschiedene mögliche Szenarios gibt. Ein Beispiel sind die englischen Kommunen, deren politische Schwäche und geringer Zuständigkeitsbereich auf die Ausgliederung von Aufgaben an eine große Anzahl weitgehend von der Kommunalverwaltung unabhängig agierender Einrichtungen und eine starke zentralstaatliche Kontrolle kommunaler Finanzen zurückzuführen ist. Ein anderes Extrem stellen die schwedischen oder deutschen Kommunalverwaltungen dar, die nicht nur über starke politische Kompetenzen verfügen, sondern auch über die für ihre Durchsetzung notwendigen Mittel. Eine mittlere Stellung nimmt das französische Modell ein, bei dem es sich politisch gesehen um starke Kommunen handelt, die aber hinsichtlich der Breite ihres Aufgabenspektrums eher als schwach einzustufen sind (wohingegen die städtischen Zusammenschlüsse viele Kompetenzen haben, aber politisch schwach sind) [Wollmann, 2004, 2007]. Die Europäische Union hat bestimmte Mindestbedingungen hinsichtlich der kommunalen Zuständigkeitsbereiche formuliert, die in der Europäischen Charta zur lokalen Autonomie vom 15. Oktober 1985 festgehalten sind. Kommunen ohne jegliche Autonomie sind daher seit der demokratischen Transition in Süd- und Osteuropa vom Kontinent verschwunden. Die Union ist allerdings nicht befugt, direkt in die lokalen politischen Strukturen einzugreifen, da diese in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedsstaaten (und in einigen Fällen der Regionen) fallen. In jüngster Zeit spielt die Gemeinschaftspolitik insbesondere eine Rolle für die Länder, die erst seit kurzem Mitglied in der EU sind. Insge-
20
Je nach Land kann der Kompetenzbereich der regionalen Ebene sehr groß sein (in den Föderalstaaten wie der Schweiz, Deutschland oder Belgien bzw. in den quasi-föderalen Staaten wie Spanien und Italien) oder relativ eingeschränkt (wie in Frankreich und Polen).
I/2.1 Eine schwache Konvergenz lokalpolitischer Strukturen
57
samt lässt sich festhalten, dass sich zwar kein Modell durchgesetzt hat, sich aber doch eine allgemeine Dezentralisierungstendenz in Europa feststellen lässt. Eine Ausnahme dieser Entwicklung bilden lediglich Großbritannien unter Margaret Thatcher (sowie teilweise unter Blair) und in Ansätzen Italien unter den ersten Regierungen von Silvio Berlusconi, wo es Tendenzen der Rezentralisierung zu Lasten der Kommunen gab. Auch die interne politische Organisation der Kommunen stellt ein regelrechtes Mosaik dar. Auf der einen Seite sind die rein monistischen Systeme zu finden, in denen es keine unabhängige politische Exekutivgewalt gibt bzw. in denen der Verwaltungschef ein dem lokalen Parlament untergeordneter Manager ist. Auf der entgegengesetzten Seite stehen die ausgeprägt dualistischen Systeme, in denen gemäß dem präsidentiellen Modell der Bürgermeister und der Gemeinderat getrennt gewählt werden und wo die lokale Regierung dem Bürgermeister untersteht.21 Innerhalb dieser beiden Pole gibt es Zwischenformen. In manchen Fällen wird der Bürgermeister vom Gemeinderat gewählt, ist aber dennoch Leiter einer relativ mächtigen Exekutive.22 Dieses System war in Westeuropa am weitesten verbreitet und ist heute noch in Frankreich, Spanien, Belgien, den Niederlanden und der Tschechischen Republik anzutreffen. In anderen Fällen wird der Bürgermeister unmittelbar vom Volk gewählt. Er kann sich somit auf eine direkte Legitimität stützen und verfügt über eine eigene exekutive Macht. Abgeschwächt wird dieser Dualismus jedoch dadurch, dass zu der Regierung auch vom Gemeinderat gewählte Beigeordnete gehören, die diesem Stadtrat gegenüber verantwortlich sind. Dieses Modell, das in Deutschland traditionell in Baden-Württemberg und Bayern verankert war, hat sich in den 1990er Jahren unter verschiedenen Anpassungen auf nahezu alle deutschen Bundesländer ausgebreitet. Es ist in Osteuropa vorherrschend, und in Italien ist es insofern anzutreffen, als dass der direkt gewählte Bürgermeister durch ein Misstrauensvotum der Gemeindevertretung abberufen werden kann. Dies ist in Polen nicht mehr möglich, da der Bürgermeister nur durch einen Bürgerentscheid abberufen werden kann; doch obwohl er in der Wahl seines Stellvertreters frei ist, muss der Rat bei der Ernennung anderer wichtiger Posten, wie z.B.
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Im ersten Fall handelt es sich um das nordische Modell, das klassischerweise in Großbritannien anzutreffen war. Der Bürgermeister leitete hier nicht die Verwaltung, sondern saß – wie ein primus inter pares – lediglich dem Stadtrat vor. Das zweite Modell, an das sich Italien und Polen in den letzten Jahren stark angenähert haben, ist in Europa noch wenig verbreitet, während es in Nord- und Südamerika vorherrschend ist. In diesem Modell spiegelt sich die parlamentarische Logik der gesamtstaatlichen Ebene auf lokaler Ebene wider. Die Stadtregierung kann eine juristische Person sein oder auch nicht, was dazu führt, dass sich ein solches System entweder als monistisch oder als dualistisch verstehen kann (so sind die Niederlande im Jahr 2002 zum Beispiel zu einem formal dualistischen System übergegangen, obwohl es in der Praxis noch unter einem gemischten System einzuordnen ist).
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I/2 Eine europäische Konvergenz?
den des Kämmerers, seine Zustimmung geben, so dass der Dualismus auch hier noch nicht ganz vollendet ist. Komplizierter wird dieses Bild dadurch, dass die tatsächliche Macht der Exekutive häufig größer ist, als vom Gesetz her vorgesehen. In gemischten Systemen, in denen die Bürgermeister über eine de facto unanfechtbare Machtstellung verfügen (wie z.B. in Frankreich), ist ihr Einfluss deutlich größer als der von Bürgermeistern in dualistischen Systemen, die zwar direkt gewählt sind, aber mit einem unabhängigen Gemeinderat auskommen müssen. Des Weiteren gibt es in den dualistischen Systemen starke Unterschiede in Bezug auf die tatsächliche Macht der Bürgermeister, je nachdem, ob sie mit einer von der politischen Opposition dominierten Gemeindeversammlung ‚kohabitieren‘ müssen (wie es zum Beispiel in Nord- und Südamerika häufig und auch in Deutschland zunehmend der Fall ist), oder ob das Wahlsystem ihnen eine Mehrheit im Gemeinderat sichert (dies ist in Italien der Fall). In den letzten Jahren ließ sich eine deutliche Tendenz zur Machtstärkung der Bürgermeister sowie, in etwas geringerem Ausmaß, zur ihrer Direktwahl durch die Bürger beobachten – Maßnahmen, die entweder mit dem Ziel einer besseren Regierbarkeit durchgeführt wurden oder mit der Absicht, durch Führungspersönlichkeiten der politischen Legitimationskrise zu begegnen [Bäck/ Heinelt/Magnier, 2006]. Die meisten Länder Osteuropas sowie Deutschland und Italien sind zu moderat dualistischen Systemen übergegangen,23 und auch in Großbritannien ist die Direktwahl der Bürgermeister inzwischen möglich. Andere Länder haben ihr System nicht verändert, und erstaunlicherweise gibt es auch keinerlei Gegenentwicklung in Richtung monistischer Systeme, die die Befugnisse des Bürgermeisters einschränken würden. Die in den westlichen Demokratien zu beobachtende Tendenz der Stärkung der Exekutive und der zunehmenden Personalisierung der Macht setzt sich daher, wenn auch mit gewisser zeitlicher Verzögerung, auf lokaler Ebene fort. Schließlich sind es die unterschiedlichen politischen Kulturen, die berücksichtigt werden müssen. In den meisten Ländern, in denen Bürgerhaushalte eingerichtet wurden, ist die rechts/links-Unterscheidung nach wie vor von maßgeblicher Bedeutung, auch wenn sie häufig mit anderen Themenbereichen, z.B. der nationalstaatlichen Entwicklung, verbunden ist (dies ist in Spanien und Belgien der Fall). Die Debatten über die Begriffe ‚rechts‘ und ‚links‘ dauern also an, bringen aber weitaus geringere identitäre Zugehörigkeiten hervor als in der Vergangenheit. Von großer Bedeutung für die kommunale Entwicklung sind weiterhin der Einfluss der Wahlmodi und der politischen Traditionen. Hier
23
Moderat bedeutet in diesem Fall, dass der Gemeinderat immer noch einen gewissen Einfluss auf die Exekutive behält, sei es bei der Benennung der Beigeordneten oder der Abwahl des Bürgermeisters.
I/2.2 Legitimationskrise und Veränderungen der repräsentativen Demokratie
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lassen sich Systeme mit überwiegend konsensueller und stabiler Regierungsbildung (wie Finnland oder Belgien) von solchen unterscheiden, in denen es zwar auch parteiübergreifende Koalitionen gibt, diese aber häufig wechseln (Polen). In anderen Ländern hat man es eher mit von Fall zu Fall neu gebildeten Koalitionen zu tun (Beispiel Deutschland), mit einem Wechsel rechter und linker Koalitionen (wie in Frankreich, Italien und zum Teil in Spanien) oder auch mit einem Zweiparteiensystem wie in Großbritannien.
2.
Legitimationskrise und Veränderungen der repräsentativen Demokratie
Das Bild der politisch-administrativen Strukturen der europäischen Kommunen gleicht, wie oben dargestellt, einem Mosaik. Ebenso wie auf der sozioökonomischen Ebene sticht auch hier die große Unterschiedlichkeit der Systeme hervor, so dass sich nur schwer ein einzelner Faktor isolieren lässt, der die Verbreitung der Bürgerhaushalte eindeutig erklären könnte. Ungeachtet der großen institutionellen Unterschiede gibt es im Bereich der politisch-administrativen Strukturen jedoch auch ähnliche Entwicklungstendenzen. Auf der einen Seite hat sich die repräsentative Demokratie fest etabliert und wird von der großen Mehrzahl der Bevölkerung in Europa nicht in Frage gestellt. Auf der anderen Seite sehen sich die europäischen Regierungen (sowie die Regierungen anderer westlicher Demokratien), wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, mit einem wachsenden Legitimitätsdefizit konfrontiert [Tocal/Montero, 2006]. Es ist nicht selten, dass in manchen Gegenden – und mitunter sogar in ganzen Ländern – nur ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung an Kommunalwahlen teilnimmt. Die politischen Entscheidungsträger befinden sich bei Befragungen nach gesellschaftlichen Vertrauenspersonen oft am unteren Ende der Ranglisten. In Großbritannien und Frankreich hat sich die Zahl derjenigen, die sich aktiv in einer politischen Partei betätigen, innerhalb zweier Jahrzehnte auf die Hälfte verringert; in Deutschland haben die Parteien im Jahr 2008 gegenüber dem Jahr 1990 ungefähr eine Million Mitglieder verloren [Berliner Morgenpost, 11.5.2009] – ein Phänomen, das auch andernorts zu beobachten ist. In allen untersuchten Ländern ist der Prozess der Abkoppelung vom politischen System insbesondere bei den unteren sozialen Schichten weit vorangeschritten, die sich stärker als andere Gruppen der Wahl enthalten oder ihre Entscheidung als Protestwahl verstehen. Die Kategorie der Arbeiterklasse scheint immer weniger den sozialen und politischen Realitäten zu entsprechen oder ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln. Keine andere Kategorie ist an ihre Stelle getreten, was einen für autoritär-populistische Tendenzen und xenophobe Strömungen idealen Nährboden bietet.
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I/2 Eine europäische Konvergenz?
Der französische Politikwissenschaftler Bernard Manin [2007] hat gezeigt, dass die Parteiendemokratie eine Variante der repräsentativen Demokratie darstellt. Um die repräsentative Demokratie näher zu bestimmen und sie von anderen politischen System (namentlich der direkten Demokratie) unterscheiden zu können, hat er vier Definitionskriterien aufgestellt: Wahl der Regierenden in regelmäßigen Abständen, die Unabhängigkeit der Gewählten im Entscheidungsprozess (die Regierenden sind nicht durch ein imperatives Mandat an ihre Wählerschaft gebunden und z.B. auch nicht verpflichtet, ihre Wahlversprechen zu halten), dementsprechend die Unabhängigkeit der öffentlichen Meinung gegenüber den Regierenden und schließlich die öffentliche Debatte über die von den Regierenden gefällten Entscheidungen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die repräsentative Demokratie deutlich von der ‚reinen‘ Demokratie, in der die Bürger die Macht selbst ausüben können. Bernard Manin stellt in Anlehnung an die Gründungsväter der Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich und Nordamerika errichteten Republiken fest, dass es sich bei der modernen repräsentativen Demokratie um ein Mischregime handelt: Auf der einen Seite ist es aristokratisch, da es die Macht einer sozialen und kulturellen Elite überträgt, die weitgehend unabhängig vom Volk agiert. Auf der anderen Seite ist es demokratisch, weil sich diese Elite durch Wahlen (und eventuell Wiederwahlen) konstituiert, ihre Macht grundsätzlich den von ihr erlassenen Gesetzen unterliegt (es handelt sich um einen Rechtsstaat), die Regierten ihre von der Regierungsmeinung abweichenden Auffassungen frei äußern dürfen und die Regierung ihre Entscheidungen öffentlich rechtfertigen muss. Dieses Regime wurde in der Vergangenheit in drei unterschiedlichen Modellen verkörpert. Das erste, das zur Zeit des Zensuswahlrechts entstanden ist und lange über dieses hinaus Bestand hatte, basierte auf der Dominanz von Notabeln und der zentralen Stellung des Parlaments im politischen Leben. Das zweite Modell war das der Massenparteien, die ihre Stärke aus der Integration der unteren Schichten in das repräsentative System bezogen und die wesentliche Entscheidungsmacht auf sich konzentrierten. Das dritte Modell, die Publikums- oder auch Meinungsdemokratie, ist Bernard Manin zufolge derzeit im Entstehen. Diese neue Form der repräsentativen Demokratie ist in erster Linie durch die zentrale Bedeutung der Medien im politischen Leben gekennzeichnet. Kommunikationsberater und Meinungsforschungsinstitute prägen die politischen Debatten und das Fernsehen zählt mittlerweile mehr als der Parteitag (der zunehmend mit Blick auf das zu erwartende mediale Echo organisiert wird). Die Bürger sind dadurch, zumindest teilweise, von der Dominanz der Parteiapparate befreit. Dies bedeutet aber im Gegenzug, dass sie ihr Schicksal einer neuen Spezies von Regierenden anvertrauen: Medienmagnaten, Starjournalisten, Kommunikationsspezialisten, Meinungsforschern und denjenigen Politikern, die begriffen haben, wie man aus diesem neuen Spiel Profit ziehen kann. Es findet somit ein Wandel von der Dominanz
I/2.2 Legitimationskrise und Veränderungen der repräsentativen Demokratie
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bürokratischer Apparate hin zur Vorherrschaft der Medien statt, weshalb man nach der Auffassung von Manin eigentlich weniger von einer Krise der repräsentativen Demokratie sprechen müsste als vielmehr von der Krise eines bestimmten Modells der repräsentativen Demokratie: der Parteiendemokratie, die im Auflösen begriffen ist und einem anderen Modell Platz macht. Überlegungen zur ‚Krise der Demokratie‘ sind so alt wie die Demokratie selbst, und man sollte nicht annehmen, dass es zum ersten Mal eine Debatte über demokratische Legitimationsdefizite gibt. Aber sollte man sich mit den von Manin gezogenen Konsequenzen begnügen? Geht die derzeitige Entwicklung eindeutig in Richtung der Meinungsdemokratie mit ihren Kommunikationstechniken und ihrem Fokus auf medialer Ausstrahlung? Muss man nicht auch andere, vielleicht gar gegensätzliche Entwicklungstendenzen beachten? Mit der europäischen Integration und der wachsenden räumlichen Interdependenz (mit der Globalisierung als nur einer von vielen Dimensionen) wird in zunehmendem Maße die Idee der politischen Repräsentation als solcher in Frage gestellt. Diese Entwicklung ist von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt, aber überall vorhanden. In der akademischen Welt sowie bei politischen Entscheidungsträgern erfreut sich der Gedanke, dass wir es mit einem Übergang von government zu governance zu tun haben [Scharpf, 1999], zunehmender Beliebtheit. Governance ist zugleich ein kognitiver und ein normativer Begriff, der der Beschreibung laufender Prozesse wie auch der Benennung erwünschter Entwicklungen dient. Auch wenn der Begriff höchst unterschiedlich verwendet wird, beinhaltet er doch vier Elemente, die sich in fast allen Ansätzen wieder finden. Demnach lässt sich von governance sprechen, wenn
verschiedene öffentliche Akteure an einer politischen Handlung oder Entscheidung beteiligt sind; es eine formalisierte öffentlich-private Partnerschaft gibt, wobei sich ‚privat‘ sowohl auf Unternehmen als auch auf zivilgesellschaftliche Vereine beziehen kann; die Arbeitsweise der öffentlichen Hand einem pragmatischen und experimentellen Ansatz folgt (und es nicht um die schlichte Umsetzung von Entscheidungen der jeweils höheren Hierarchieebene geht). Das heißt, es werden bei der Ausführung von Aufgaben oder Projekten neue Formen der Kooperation mit privaten Partnern oder Organisationen des dritten Sektors erprobt, die auf diese Weise auch einen Teil der Entscheidungskompetenz erhalten; der Entscheidungsprozess mehr als früher auf informelle Weise funktioniert, d.h. sich in Teilen von den klassischen Instanzen der repräsentativen Demokratie löst (und insbesondere von der Legislative).
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I/2 Eine europäische Konvergenz?
Wenn diese vier Bedingungen gegeben sind, lässt sich begründeter Weise von einem Übergang von der ‚Regierung‘ (verstanden als hierarchisch organisiert und an die neue Komplexität der Gesellschaften nicht angepasst) zu governance sprechen, d.h. zu einem ‚weicheren‘ und anpassungsfähigeren Prozess, der eine Vielzahl legitimer Akteure integriert. Betont man die Entwicklung von governance, so stellt die Meinungsdemokratie den sichtbarsten Ausdruck einer Entwicklung dar, die anstelle von Wahlen auf technokratische, expertengestützte und neokorporatistische Entscheidungsformen setzt und sich daher von der repräsentativen Regierungsform entfernt. Diese Entwicklung trägt dazu bei, die klassischen Formen politischer Repräsentation zu diskreditieren, deren objektiver Handlungsspielraum sich zu verringern scheint. Zwar haben unpolitische und insbesondere wirtschaftliche pressure groups schon immer durch mehr oder weniger formalisiertes Lobbying Einfluss auf politische Entscheidungen genommen. Ihre direkte Einbeziehung, sowie die Einbeziehung anderer halb öffentlicher Agenturen und Gremien, die sich der demokratischen Kontrolle der Mandatsträger und Bevölkerung entziehen, verstärkt jedoch das demokratische Defizit. Es gibt aber nicht nur eine Tendenz zur stärkeren Berücksichtigung privater oder technokratischer Expertengremien, sondern auch von zivilgesellschaftlichen Akteuren. Es wird immer schwieriger, die einfachen Bürger am Rande des Entscheidungsprozesses zu halten. Auf internationaler Ebene hat der Europarat mit als erster erkannt, dass diese neue Situation die Einbeziehung sozialer Bewegungen in den Prozess der Entscheidungsfindung erfordert – ein Kurs, dem die Europäische Union erst mit einiger Verzögerung gefolgt ist. Mittlerweile preisen die meisten internationalen Organisationen Formen von ‚partizipativer‘ oder ‚demokratischer governance‘, die zivilgesellschaftlichen Akteuren allem Anschein nach die Möglichkeit der Teilhabe bietet. Aber nicht nur das politisch-administrative System befindet sich im Wandel, auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gruppen unterliegen einem Veränderungsprozess. Während die sozialen Bewegungen in den demokratischen Staaten Europas immer eine gewisse Rolle gespielt haben, besteht die Neuheit sicherlich darin, dass sie sich heute nur noch in sehr geringem Maß an den politischen Parteigrenzen orientieren und stattdessen zunehmend autonom agieren. Diese Eigenschaft der neuen sozialen Bewegungen [Offe, 1990] trifft gleichermaßen auf traditionelle Organisationen wie z.B. die Gewerkschaften zu. Hinzu kommt, dass zahlreiche soziale Bewegungen in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten zunehmend horizontale und deliberative Organisations- und Mobilisierungsformen entwickelt haben, die mit dem auf vertikalen Machtverhältnissen basierenden Raster der repräsentativen Demokratie nur schwer zu interpretieren sind. Ein Teil des Erfolgs der globalisierungskritischen Bewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts spiegelt eben diese relative Verselbständigung der
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zivilgesellschaftlichen Strukturen gegenüber dem institutionalisierten politischen System [Della Porta, 2007] sowie den Machtzuwachs der neuen Organisations- und Koordinierungsformen wider. Davon zeugt die Organisationsform des ‚Forums‘ (wie z.B. beim Weltsozialforum), das auf netzwerkartigen Strukturen basiert, den Anspruch auf demokratische Diskussionsprinzipien erhebt (jeder soll sich gleichermaßen ausdrücken können), die repräsentative Beteiligungslogik ablehnt und gleichzeitig Gelegenheit zu koordinierten Aktionen bietet. Nach ähnlichen Grundsätzen funktionieren die alternativen Medien, die mit ihrer Internet-gestützten Arbeit mittlerweile zu einer wichtigen Quelle der Gegen-Information geworden sind [Cardon/Granjon, 2005]. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Schnittstelle zwischen demokratischer governance und den Aktivitäten sozialer Bewegungen öffnet sich ein anderes Feld, das sich weitgehend von der Meinungsdemokratie unterscheidet. Die wachsende Zahl institutionalisierter Beteiligungsverfahren verdeutlicht den neuen demokratischen Einfallsreichtum und die neuen politischen Visionen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten herausgebildet haben. Zu beobachten ist ein beachtlicher ideologischer Wandel, der mit der Aufwertung von Diskussion (Deliberation) und Partizipation einhergeht. Dieser Wandel verweist auf einen ‚neuen Geist‘ modernen politischen Handelns, vergleichbar mit der Entstehung eines ‚neuen Geistes des Kapitalismus‘, den Luc Boltanski und Eve Chiapello [2006] im Verlauf der vergangenen 20 Jahre ausmachen konnten. Wenn auch häufig eine beträchtliche Diskrepanz zwischen ambitionierter Rhetorik und bescheidener Umsetzung besteht, so muss diese normative Veränderung in der Sphäre von Politik und Verwaltung doch sehr ernst genommen werden [Blondiaux/Sintomer, 2002]. Die Entwicklung antiautoritärer Tendenzen in den sozialen Bewegungen und die Verbreitung institutionalisierter Beteiligungsverfahren eröffnet einen anderen Blick auf die Geschichte der modernen Demokratien. Diese lässt sich nicht auf die Wandlungen der repräsentativen Regierungsform reduzieren, zumal es in der Entwicklungsgeschichte der Demokratie stets eine andere Dimension gegeben hat; diese war zwar weniger ausgeprägt als das repräsentative Element, ohne sie ließen sich jedoch die vergangenen zwei Jahrhunderte nicht verstehen. Maßgeblich zu ihrem Verständnis beigetragen haben die Forschungsarbeiten aus dem Bereich der Geschichte ‚von unten‘ mit ihrem Fokus auf die unabhängigen Aktivitäten der unteren Gesellschaftsschichten [z.B. Thompson, 1987]. Diese ‚partizipative Tendenz‘ [Sintomer, 2007] der Demokratie beschränkt sich nicht auf die Kritik der Monopolisierung der Entscheidungsgewalt durch die Wahl von Repräsentanten. Sie basiert vielmehr auf einem eigenen Ideal, dem einer radikalen Demokratie, in der die Bürger echte Entscheidungskompetenzen haben, in der die Abkapselung der Regierenden von der Bevölkerung auf ein Minimum reduziert ist und größtmögliche Räume kollektiver Au-
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tonomie bestehen. Sie wirft des Weiteren eigene Fragen und Widersprüche auf und besitzt eine eigene Chronologie – mit ihren mehr oder minder mythischen Gründungsdaten und spezifischen Akteuren. Man sollte allerdings nicht vorschnell davon ausgehen, dass diese partizipative Tendenz heute in der Entwicklung der europäischen Bürgerhaushalte verkörpert wird. Haben wir es nach dem ‚Gründungsakt‘ von Porto Alegre tatsächlich mit dem Beginn einer Demokratisierungswelle zu tun, oder muss man in den demokratischen Entwicklungen der letzten Jahre im Gegenteil die Randerscheinung einer technokratischen und apolitischen Reform der Verwaltung sehen, eine von Geschäftsleuten dominierte, technokratische governance oder gar eine Aufwertung der Meinungsdemokratie?
3.
Verwaltungsreform und Partizipation
Antworten auf diese Fragen werden sich erst nach einer detaillierten Untersuchung der gegenwärtigen Beispiele des Bürgerhaushalts finden lassen. Eine Feststellung drängt sich jedoch bereits jetzt auf. In den Augen vieler linker Akteure ist die Entstehung der Bürgerhaushalte eine Reaktion auf die Globalisierung, die zeigen soll, dass „eine andere Welt möglich ist“. Diese Analyse wird von zahlreichen Beobachtern in Lateinamerika, aber auch in vielen europäischen Ländern geteilt, und es stimmt sicherlich, dass sich die Auswirkungen der Globalisierung auch auf kommunaler Ebene finden lassen (Herzberg 2009). Jeder weiß um ihre Begleiterscheinungen, von den Privatisierungen bis hin zur wachsenden Akzeptanz bzw. sogar Dominanz wirtschaftlichen Denkens und des Finanzkapitalismus. Wie Untersuchungen des Wohlfahrtstaats und des Kapitalismus deutlich gemacht haben, verläuft diese Entwicklung jedoch in jeder Region auf sehr unterschiedliche Art und Weise, so dass man sich vor einer vereinfachenden Sicht hüten muss [Esping-Andersen, 1990; Hall/Soskice, 2001; Amable, 2005]. Auf den ersten Blick scheint die ungleiche Ausbreitung der Bürgerbeteiligung am Haushalt nicht in Verbindung mit den mehr oder weniger starken Auswirkungen der Globalisierung zu stehen. Die am meisten von dieser Entwicklung betroffenen Städte sind nicht zwangsläufig diejenigen, die auch einen Bürgerhaushalt einrichten und umgekehrt. Wenn es eine Korrelation gibt, dann allenfalls mit dem Einfluss der Kritik an der neoliberalen Globalisierung. Allerdings bezieht sich eine solche Erklärung eher auf Akteursstrategien und nicht auf makroökonomische Faktoren. Soweit es um den europäischen Kontinent geht, sollte man in der Globalisierung nicht zu schnell den Kontext für eine institutionelle Erneuerung sehen. Im Zentrum der Erklärung steht deshalb die Frage, in welchem Zusammenhang die Verbreitung partizipativer Verfahren und Veränderungen im poli-
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tisch-administrativen System stehen. Ein struktureller Faktor scheint in der Tat eine unmittelbare Auswirkung auf die Entwicklung von Beteiligungsverfahren zu haben: die Infragestellung und Kritik an der traditionellen Bürokratie und damit einhergehend die Ausbreitung einer von den Umstrukturierungen des Managements in Wirtschaftsunternehmen inspirierte Reformbewegung. Sie beruht einerseits auf der Einführung von Marktmechanismen (Wirtschaftlichkeitskriterien, Auslagerung bestimmter Aufgaben, Konkurrenz zwischen privaten und öffentlichen Dienstleistern sowie die Einrichtung von öffentlichprivaten Partnerschaften), andererseits auf der Reform der Binnenstruktur der Verwaltung. Diese zwei Tendenzen, die im New Public Management ihre theoretische Begründung finden, können in den meisten Ländern mit je unterschiedlich starker Ausprägung beobachtet werden [Bouckaert/Pollit, 2004]. Wollmann [2003, 2004] spricht an dieser Stelle von zwei Polen: Der eine wird gebildet durch die klassische, autonome, multifunktionale Verwaltung und der andere stellt die monofunktionale, nach Marktgesetzen funktionierenden Bürokratie dar. Hinsichtlich einer nationalen Zuordnung verortet er die skandinavischen Länder und Deutschland sowie die meisten osteuropäischen Länder in der Nähe des ersten Pols, während England ein Beispiel des anderen Pols bildet. Zur weiteren Ausdifferenzierung kann eine Typologie von Bouckaert [2004] herangezogen werden, der zwischen vier verschiedenen Idealtypen der Verwaltungsmodernisierung unterscheidet: Bei dem „Modernisierer“ geht es in erster Linie um eine Reform der Binnenstruktur der Verwaltung. Diese umfasst die Organisation des Personals und eine Umstellung des kameralen Haushalts auf ein betriebswirtschaftliches System, womit die Bildung von Produkten und die Einführung einer Kosten-Leistungsrechnung einhergehen. Aufbauend auf der Idee von governance geht man bei diesem Typ neben einer Kooperation mit privaten Akteuren und freien Trägern auch von einer Partizipation der Bürger aus. Der „Marketizer“ hingegen setzt auf Wettbewerb. Damit ist aber nicht vorrangig die Privatisierung von Leistungen gemeint, sondern Leistungsvergleiche mit anderen Kommunen (benchmarking) und die Einführung von GutscheinSystemen (vouchers), mit denen Bürger zwischen öffentlichen und privaten Anbietern wählen können. Eine Priorität auf Privatisierung und den Verkauf öffentlichen Eigentums setzt erst der „Minimierer“-Typ. Hier geht es nicht mehr um eine Zusammenarbeit mit privaten Anbietern, sondern diese übernehmen weitgehend die Leistungserbringung für die Kommune, die nur noch als Kontrolleur und Steuerer tätig sein soll. Wettbewerb bedeutet hier Ausschreibung zwischen privaten Akteuren. Als letzten Typ nennt Bouckaert den „Bewahrer“, der resistent ist gegen Veränderungen und das klassische Modell der bürokratischen Verwaltung beibehält. Diese verschiedenen Modernisierungsformen finden ihre Entsprechungen in den Modellen des Wohlfahrtsstaates, die Gøsta Esping-Andersen [1990]
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herausgearbeitet hat. Somit lässt sich sagen, dass der Modernisierer-Typ vor allem im kontinentalen Wohlfahrtsstaat anzutreffen ist. Im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat der skandinavischen Länder herrscht eine Kombination von Modernisierer und Marketizer vor, während der Minimierer in Großbritannien dominiert. Nur Osteuropa scheint aus dem Rahmen zu fallen. Statt wie erwartet auch hier den liberalen Typ anzutreffen, werden diese Länder zu den Modernisierern gezählt. Bouckaert (2004) kommt allgemein zu dem Schluss, dass das neoliberale Modell nicht überhand genommen hat, sondern die Reformen insgesamt zur Herausbildung eines neoweberianischen Modells geführt haben, das die klassische Verwaltung ablöst. Darin bleibt das öffentliche Recht das zentrale Regulierungsinstrument und der öffentliche Dienst besteht neben den privaten Akteuren weiter. Bei der Messung der Verwaltungsleistung steht die Ergebnisorientierung im Vordergrund. Die größte Gemeinsamkeit in der Konvergenz zum neoweberianischen Modell ist jedoch in der aufgezeigten veränderten Beziehung zwischen Bürger und Verwaltung zu beobachten. Denn der Gedanke, dass die Beteiligung der Bürger als Kunden und Nutzer beitragen kann, die Effizienz von Verwaltungshandeln zu steigern, ist inzwischen weit verbreitet. In Großbritannien und Finnland, in den romanischen Ländern wie auch in Deutschland oder Polen nehmen Debatten über Bürgernähe und Bürgerbeteiligung in gleicher Weise zu, wie sich auch die Verfahren ausbreiten: Feedback-Mechanismen, Qualitätschartas, Kundenparlamente, Aufgabenübertragung (die bis hin zum community development gehen kann), Bürgerversammlungen (auf denen die Einwohner mit Verwaltungsmitarbeitern und politischen Mandatsträgern diskutieren) oder die Verwendung neuer Technologien. Es wird erwartet, dass die Verwaltung durch die Einbeziehung der Bürger und ihrem Wissen effizienter wird, als auch offener gegenüber Forderungen und Bedürfnissen der Bevölkerung [Bacqué/Rey/ Sintomer, 2005]. Es gibt auf dem Gebiet der Verwaltungsreformen also durchaus eine europäische Entwicklung. Die Partizipation der Bürger ist eine ihrer Dimensionen, und ohne sie wäre die Entstehung von Bürgerhaushalten nicht zu verstehen. Darüber hinaus lässt eine umfassende Untersuchung der Entwicklung der lokalen Regierungen in Europa in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten mehrere Merkmale deutlich werden. Eins davon ist, dass die Kommunalsysteme zum Gegenstand breit angelegter Reformen geworden sind [Reynaert, 2005]. Besonders großen Reformbedarf in dieser Hinsicht hatten die ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts, so dass die Frage hinsichtlich der Ost/WestDimension unterschiedlich gestellt werden muss [Wollmann, 2004, 2007]. Ein Vergleich innerhalb der Länder Westeuropas ergibt ein differenziertes Bild, wobei sich fünf grundlegende Tendenzen beobachten lassen, die jedoch je nach Land unterschiedlich stark ausgeprägt sind: die Koexistenz von Kernverwaltung, kommunalen Unternehmen und privaten Anbietern, eine zunehmende
I/2.3 Verwaltungsreform und Partizipation
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Einführung von betriebswirtschaftlichen Kriterien in die Funktionsweise der Verwaltung, Reformen der Binnenstruktur der Verwaltung, die Ausweitung der Macht des Bürgermeisters (mit Ausnahme der nordischen Länder und, in Teilen, Großbritanniens) und schließlich die Einführung partizipativer Verfahren. Ein Vergleich der Länder Osteuropas zeigt hingegen deutlich größere Übereinstimmungen, sowohl bezüglich der Entwicklung der Institutionen als auch mit Blick auf den Zeitpunkt der politisch-administrativen Reformen. Schließlich kann jedoch auch der Vergleich zwischen West- und Osteuropa eine gewisse Konvergenz sichtbar machen, da sich die neuen Mitgliedsländer der Europäischen Union grundsätzlich dem bzw. den westeuropäischen Modellen annähern. Die Reformen der Kommunalsysteme beruhen auf verschiedenen Legitimitätstypen, deren politische Dimension hervorgehoben werden sollte, da es sich bei keiner um rein (verwaltungs-)technische Entscheidungen handelt. 1.
2.
3.
Zum einen geht es darum, die Legitimität auf der Seite des Inputs zu verbessern, was durch die Einbeziehung von Bürgern in die Verwaltung oder ihre Beteiligung an der Wahl des Bürgermeisters (Direktwahl) erreicht werden kann. Zum anderen zielen die Reformen auf eine Stärkung der Legitimität auf der output-Seite, d.h. durch bessere Ergebnisse ab. So kann die lokale Regierung zum Beispiel nur noch regulierend eingreifen und bestimmte Dienste dem ohnehin als effizienter geltenden Markt überlassen. Sie kann sich auch eine Verbesserung ihres Dienstleistungsangebotes erhoffen, indem sie private und öffentliche Akteure miteinander konkurrieren lässt oder Marktmechanismen einführt. Weitere Möglichkeiten zur output-Verbesserung sind Gebietsreformen (Zusammenlegung von Kommunen), die Durchführung von Managementreformen in der Verwaltung, eine größere Berücksichtigung der Nutzer/Verbraucher oder die Übertragung bestimmter Leistungen auf die Zivilgesellschaft. Neben diesen beiden in der politikwissenschaftlichen Literatur der beiden letzten Jahrzehnte sehr häufig erwähnten Dimensionen [Scharpf, 1970, 1999] sollte hinzugefügt werden, dass die Reformen auch auf die Verfahrenslegitimität der Politik gerichtet sein können, indem sie nicht mehr nur die Qualität der erbrachten Leistung, sondern zunehmend auch die Vorgehensweise selbst in den Blick nehmen. Folgende Stichworte sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Stärkung der Transparenz und der Kontrollen öffentlicher Ausschreibungen, Entwicklung von Evaluationsinstrumenten und Veröffentlichung der Bewertungsergebnisse, Verbesserung der deliberativen Qualität von Verfahren der Bürgerbeteiligung.
Die Frage, ob und inwiefern die Verbreitung partizipativer Instrumente im Allgemeinen und der Bürgerhaushalte im Besonderen in Zusammenhang mit den
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I/2 Eine europäische Konvergenz?
Tendenzen der kommunalen Verwaltungsreformen stehen, ist an dieser Stelle noch nicht zu beantworten. Vier Forschungsfragen können hier jedoch bereits gestellt werden: 1.
2.
3.
4.
Zwischen der Modernisierung der Verwaltung und der Bürgerbeteiligung besteht, was die Legitimität der Abläufe betrifft, eine gewisse Affinität, die im Fall der Bürgerhaushalte besonders ausgeprägt zu sein scheint. Kann man diese jedoch auf ein Verwaltungs- und (technokratisches) governanceInstrument reduzieren oder haben die Bürgerhaushalte nicht auch wie in Porto Alegre eine politische Dimension im Sinne einer Demokratisierung der Demokratie? Entwickelt sich die Partizipation eher in monistischen Systemen (Verbindung von politischer Exekutive und Gemeinderat), in dualistischen Systemen (lokale Regierung und Gemeinderat bilden zwei voneinander getrennte Einheiten) oder in kombinierten Systemen? In Europa gab es zunächst keine Bürgerhaushalte in den (vor allem monistischen) skandinavischen Ländern, wobei sich in Schweden und Norwegen die Situation geändert hat. In Großbritannien, wo der Gemeinderat im Vergleich zu der lokalen Regierung eine sehr starke Position einnimmt, haben sich die Bürgerhaushalte seit 2008 sehr verbreitet. Im Gegensatz hierzu hat sich in Lateinamerika gezeigt, dass Bürgerhaushalte mit dualistischen Systemen zumindest kompatibel sind. Es lässt sich in dieser Frage also kein einzelner Faktor isolieren. Gibt es eine Verbindung zwischen Dezentralisierung und Partizipation? Das oben genannte Beispiel Großbritannien hat verdeutlicht, dass dies nicht immer der Fall ist. Zudem kann die Dezentralisierung zur Einsetzung von ‚Lokaldespoten‘ führen, wie der Fall Frankreichs in den 1980er Jahren gezeigt hat. In Europa wie auch anderswo werden partizipative Verfahren in zunehmendem Maß von der Exekutive befürwortet, während sie von der Legislative nicht selten mit Skepsis betrachtet werden. Selten sind sie hingegen ein von der Legislative eingesetztes Instrument zur besseren Kontrolle der Regierung.
Des Weiteren lässt sich häufig ein empirischer Zusammenhang zwischen der Stärkung der Legitimität und der Befugnisse des Bürgermeisters und der Einrichtung partizipativer Verfahren beobachten. Auf nationaler Ebene gibt es bezüglich von Vorwahlen zur Kandidatenbestimmung eine ähnliche Entwicklung. Durch Vorwahlen zur Kandidatenbestimmung wird der Einfluss des Parlamentes und der Parteien geschwächt: Anstelle dieser beiden klassischen Institutionen entscheidet die Parteibasis/die Bürger außerhalb des Parlamentes über
I/2.4 Histoire croisée
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die Ernennung der Spitzenkandidaten. Weist dies auf eine grundlegende Konvergenz hin, in dem Sinne, dass es die Meinungsdemokratie charismatischen Leadern ermöglicht, in eine direkte Kommunikation mit den Regierten einzutreten?24 Oder bedingen umgekehrt die Wahl des Bürgermeisters in allgemeiner Wahl und die zunehmende Personalisierung der Macht eine Überbetonung des persönlichen Charismas, die einer tatsächlichen partizipativen Dynamik und der mit ihr einhergehenden geringeren Delegation von Macht entgegensteht?
4.
Histoire croisée
Insgesamt betrachtet scheint die Erklärung für die Ausbreitung der europäischen Bürgerhaushalte im Zusammentreffen der Demokratisierung der lokalen Demokratie und der Modernisierung der Verwaltungen zu suchen zu sein, doch sind die beiden Begriffe dieser Gleichung noch alles andere als klar. Es ist äußerst schwierig, strukturelle Faktoren zu isolieren, die eine überzeugende Erklärung für diese Entwicklung liefern, die in derart unterschiedlichen Kontexten gleichzeitig stattgefunden hat. Eine Erklärung, die die Konvergenz der Kontexte oder die strukturellen Veränderungen in den Mittelpunkt rückt, wirft ebenso viele Fragen auf wie sie Antworten hervorbringt. Aus diesem Grund könnte man auch andere, interaktionistische bzw. mikrosoziologische Erklärungsansätze heranziehen, denen zufolge wir es mit dem weitgehend nicht vorhersehbaren Zusammentreffen zahlreicher, für sich genommen einzigartiger Begebenheiten, zu tun haben. Eine solche Erklärung ist jedoch aus komparativer Sicht unbefriedigend. Es stimmt zwar, dass kein Beispiel dem anderen gleicht, es ist aber auffällig, dass es bestimmte Merkmale gibt (Diskurse, Verfahren, Machtbeziehungen usw.), die an verschiedenen Orten vorkommen. Interessanter ist daher die These, nach der wir es mit einem historischen Ausbreitungsprozess zu tun haben, der auf zahlreichen Transfers und Austauschbeziehungen beruht und dessen Analyse im Wesentlichen darin besteht, die Entwicklungsgeschichte (Genealogie) nachzuzeichnen.
24
Die komparativen Arbeiten über die europäischen lokalen Regierungen, die dem Aspekt der Partizipation bislang recht wenig Bedeutung schenken, verstehen unter dem äußerst strittigen Begriff der ‚direkten Demokratie‘ häufig die Wahl des Bürgermeisters in allgemeiner Wahl und die Entwicklung von Beteiligungsverfahren [Wollmann, 1999].
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Die Rückkehr des Losverfahrens in die Politik: Das Beispiel Pont-de-Claix Die Losziehung stellte in den Republiken der Antike, des Mittelalters und der Renaissance eine der grundlegenden Verfahren zur Verteilung öffentlicher Aufgaben dar. In den aus den modernen Revolutionen hervorgegangenen repräsentativen Demokratien verschwand das Los aus der Politik, fand dafür aber z.B. in Form der Geschworenenjurys Verbreitung. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte kehrte es allmählich in die Politik zurück, zunächst in Form von repräsentativen Meinungsumfragen, dann im Rahmen zahlreicher innovativer Beteiligungsverfahren wie deliberativer Umfragen, Planungszellen oder Konsensuskonferenzen [Manin, 2007; Blondiaux, 1998; Röcke, 2005; Sintomer, 2007]. Frankreich stand sicherlich nicht an der Spitze dieser Bewegung, ist aber dennoch ein interessantes Beispiel für die Verbreitung des Losverfahrens über zahlreiche Transferprozesse. Im Rahmen der Bürgerbeteiligung wurde es das erste Mal in den 1990er Jahren in einem Pariser Bezirk für die Auswahl der Teilnehmer von Quartiersbeiräten eingeführt. Zahlreiche Nachahmer fand dieses Beispiel seit den Kommunalwahlen von 2001, ungefähr dem Zeitpunkt, ab dem Beteiligungsverfahren mit Zufallsprozedur aus den Nachbarländern nach Frankreich eingeführt werden. Heute erfreut sich das Losverfahren sowohl in akademischen Kreisen als auch in der Politik eines wachsenden Interesses. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2007 hat sich sogar die Kandidatin der Sozialistischen Partei für eine Verwendung ausgesprochen. In der kleinen Stadt Pont-de-Claix (12.000 Einwohner) in der Umgebung von Grenoble, die von einem kommunistischem Bürgermeister regiert wird (bis 2008), wird seit einigen Jahren der Rat des Bürgerhaushalts per Losverfahren bestellt. Wie ist es dazu gekommen? Diese Frage ist umso interessanter, als die von den Kommunisten regierten französischen Kommunen im Allgemeinen einem Verfahren misstrauen, das im Verdacht steht, Staatsbürger in individuelle Kunden zu verwandeln und die Legitimität der ‚republikanischen‘ Wahl bzw. der in den linken Parteien und Gewerkschaften versammelten ‚Avantgarde‘ zu unterminieren. Keiner der von uns befragten Akteure sah sich auf Anhieb in der Lage, für die Einführung des Losens eine Erklärung zu geben. Sie sagten, dass diese Neuerung eher pragmatischen Überlegungen gefolgt sei. Schließlich erklärten mehrere Befragte, dass das Losverfahren in Pont-de-Claix so angewandt werde wie auch die Ziehung der Lottozahlen funktioniere (unter Zuhilfenahme einer Kugel, aus der nach dem Zufallsprinzip Nummern gezogen werden). Dies habe den einfachen Grund, dass Lotto ein auf den Jahrmärkten
I/2.4 Histoire croisée
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und den Bürgerfesten der Region sehr weit verbreitetes Spiel sei. Es gebe bereits mehrere Personen, die sich mit der sachgerechten Ziehung der Nummern auskennen und wüssten, wo sich die dafür notwendigen Gerätschaften beschaffen ließen. Während die Frage nach der für die Zufallsziehung angewandten Technik also geklärt ist, bleibt noch die Frage nach der ursprünglichen Entscheidung zugunsten des Losverfahrens (und damit gegen die Wahl oder die Nominierung) zu beantworten. Die Untersuchung hat ergeben, dass nicht die Lottospieler Urheber der Idee waren, sondern vielmehr die in der Region sehr aktive PR-Agentur ELC2, die von der Lokalregierung beauftragt worden war, ein Konzept für einen Bürgerhaushalt auszuarbeiten. ELC2 ist ein kommerzieller Dienstleister, wird aber von ehemaligen Aktivisten geleitet, die ihre alten Netzwerke am Leben erhalten und klare politische Vorstellungen haben. Ihr Vorschlag der Einführung des Losens im Bürgerhaushalt scheint von den Politikern ohne große Diskussionen angenommen worden zu sein. Auf die Frage, woher die Idee für sein Konzept stammt, konnte der Direktor von ELC2 zunächst ebenfalls keine genaue Antwort mehr geben. Er erinnere sich lediglich irgendwo gehört zu haben, dass das Losverfahren in Deutschland seit Kurzem für die Besetzung von Bürgerjurys angewandt werde. Dies habe ihn inspiriert und die Lottospieler vor Ort hätten sogleich gewusst, wie sich die Idee umsetzen lasse. Dies hat uns neugierig gemacht, denn wir haben uns in einem früheren Forschungsprojekt mit den Berliner Bürgerjurys beschäftigt [Sintomer/Koehl, 2002; Röcke/Sintomer, 2005]. Als wir dem Direktor von ELC2 hiervon erzählten, erinnerte er sich im selben Moment daran, dass er einige Jahre zuvor ein Mitglied unseres Forschungsteams zu einer Konferenz über partizipative Demokratie eingeladen hatte. Dort sei auch das Losverfahren in den Bürgerjurys aus Berlin erwähnt worden und er habe sich in der Folge über das Internet weitere Informationen hierüber verschafft. Auch wenn ein vollständiger Bericht sicherlich ein differenzierteres Bild hervorbringen würde, macht diese ‚Mikrogeschichte‘ doch auf zwei wichtige Punkte aufmerksam. Ohne direkte oder indirekte Transferbeziehungen zwischen Akteuren verschiedener Bürgerhaushalte und ohne praktische wie auch theoretische Wissenstransfers zwischen den Bereichen der Wirtschaft, der Forschung und der Politik wäre das Losverfahren in Pont-de-Claix niemals zur Anwendung gekommen. Auf der anderen Seite bedurfte es günstiger Bedingungen, damit die Idee Fuß fassen konnte. Wäre dies nicht der Fall gewesen, hätten die Befürworter den Vorschlag des Losverfahrens wahrscheinlich wieder fallen gelassen. Die Handlungen der broker (Wissensübermittler) im Bereich der Bürgerbeteiligung nachzuzeichnen ist sicherlich wichtig, um die Verbreitung der zahlreichen Verfahren zu verstehen. Die Tatsache aber, dass
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diese Initiatoren so zahlreich sind, und dass es neben Pont-de-Claix noch Hunderte andere Kommunen gegeben haben muss, die sich zur selben Zeit für das Losverfahren begeisterten, macht eine über den bloßen Transfer hinausgehende Erklärung notwendig.
Nachdem man die europäischen Bürgerhaushalte vor 2001 an einer Hand abzählen konnte und kaum neue Verfahren entstanden, hat sich die Verbreitung seitdem deutlich verstärkt und bis heute nicht abgenommen. Dabei hat sich vor und nach der Zäsur des Jahres 2001 an dem Kontext und an den makrosozialen Tendenzen nichts verändert. Mit dem in Porto Alegre abgehaltenen Weltsozialforum ist es in der Tat ein politisches Ereignis, und kein Wandel auf struktureller Ebene, das die plötzliche Verbreitung der Idee des Bürgerhaushalts in Europa ausgelöst hat. Vor der Jahrtausendwende gab es nur Wenige, die sich für das brasilianische Vorbild interessierten und versuchten, es auf dem alten Kontinent zu verbreiten. In der angelsächsischen Welt stieß die Pionierarbeit von Rebecca Abers [2000] auf einige Resonanz. Das Buch des damaligen Bürgermeisters der Stadt, Tarso Genro (1992-1995), wurde 1998 ins Französische übersetzt [Genro/De Souza, 1998], 2000 ins Spanische und 2002 ins Italienische. Einige engagierte Sozialwissenschaftler veröffentlichten Artikel über Porto Alegre, wie Tomás Villasante [1995] in Spanien, Boaventura de Sousa Santos [1998] in Portugal oder Bernard Cassen [1998] in Frankreich. Letzterer spielte eine besonders wichtige Rolle, da er zusammen mit Ignacio Ramonet Le Monde diplomatique herausgibt, eine monatlich erscheinende linke Zeitung, die seit 1998 zunehmend auch in anderen Sprachen erscheint und ihre Kommentarseiten regelmäßig für Beiträge über Bürgerhaushalte öffnet(e). Als Mitgründer von ATTAC waren Bernard Cassen und Ignacio Ramonet auch an der Gründung des Weltsozialforums beteiligt, in dem sie seither eine zentrale Rolle spielen [Cassen, 2003]. In Deutschland wurde die erste Monografie erst 2001 veröffentlicht [Herzberg, 2001], im gleichen Jahr, als auch ein Nord-Süd-Netzwerk mit Unterstützung des DGB Bildungswerkes eine Broschüre über Porto Alegre herausgab. Mit dem Entstehen der globalisierungskritischen Bewegung ist die Hauptstadt des Bundesstaats Rio Grande do Sul, deren Name selbst in weiten Teilen der europäischen Linken unbekannt war, innerhalb von vier bis fünf Jahren zu einem wahren Symbol geworden. Viele Aktivisten und politische Mandatsträger sind seither nach Porto Alegre gereist oder haben Besuche leitender Funktionäre der Stadt in Europa organisiert. Diese sind sehr daran interessiert, ihr Modell international zu verbreiten – nicht nur als politischen Gründen, sondern auch wegen dem materiellen wie symbolischen Nutzen und Renommee für ihre Stadt.
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Günstig wirkt sich hierbei aus, dass der Bürgerhaushalt nicht nur als reines Verfahren gilt, sondern auch als ein politisches Ideal dargestellt wird. Hierzu haben neben dem Buch von Tarso Genro, der im Jahr 2000 zum zweiten Mal zum Bürgermeister von Porto Alegre gewählt wurde, auch Artikel von Aktivisten sowie zahlreiche wissenschaftliche und semiwissenschaftliche Artikel und Bücher beigetragen. Im Gegensatz zu Lateinamerika haben in Europa internationale Organisationen deutlich weniger zur Verbreitung von Bürgerhaushalten beigetragen. In der Anfangsphase ist z.B. der Einfluss der Vereinten Nationen, der Weltbank, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) oder der OECD von untergeordneter Bedeutung. Die direkten Auswirkungen der Europäischen Union sind gar inexistent, obwohl es im Rahmen von URB-AL, dem Programm zur Verbesserung der horizontalen Zusammenarbeit zwischen europäischen und südamerikanischen Kommunalverwaltungen, im Jahr 2003 zur Gründung einer in Porto Alegre angesiedelten Gruppe gekommen ist, die zum Thema „Lokale Finanzen und Bürgerhaushalt“ arbeitet. Auf dem alten Kontinent sind an diesem Netzwerk in erster Linie spanische und italienische Kommunen beteiligt. Es soll dazu beitragen, dem Thema Bürgerhaushalt in diesen Ländern mehr Legitimität zu verleihen und die Idee zu verbreiten. Von größerer Bedeutung ist hingegen die Wirkung nationaler Reform-Netzwerke von Städten und Gebietskörperschaften zu Themen der politischen wie verwaltungsbezogenen Modernisierung, wie z.B. „Kommunen der Zukunft“ in Deutschland und Nuovo Municipio in Italien, die im zweiten Teil dieser Arbeit genauer untersucht werden sollen. Insgesamt betrachtet sind es jedoch die Kontakte und Partnerschaften von Akteuren der globalisierungskritischen Bewegung (insbesondere über lokale und nationale Aktivisten und Politiker), die in diesem Kontext sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene von zentraler Bedeutung sind. Die bis 2005 jährlich stattfindenden Treffen des Weltsozialforums ermöglichen eine direkte Verbindung zu den brasilianischen Erfahrungen, zumal sie den Teilnehmern die Gelegenheit zu einem bilateralen und/oder multilateralen Austausch bieten. In vielen Städten mit einem Bürgerhaushalt gibt es mindestens einen zentralen politischen Akteur, der die Reise nach Porto Alegre zum Weltsozialforum angetreten hat, so dass man von einem bedeutsamen, wenn auch nicht automatischen (und zudem aufgrund des Fehlens ausreichender Daten auch nicht zu beziffernden) Zusammenhang zwischen der Bedeutung der globalisierungskritischen Bewegung und der Einrichtung eines Bürgerhaushalts sprechen
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kann.25 In Europa wird die Ausbreitung des Themas Partizipation darüber hinaus durch die Organisation der Europäischen Sozialforen gefördert. Vor allem die ersten beiden Treffen (2002 in Florenz und 2003 in der Pariser Region) haben ein großes Echo hervorgerufen. Auch wenn der Bürgerhaushalt dort nicht zu den zentralen Themen zählte, war er doch Gegenstand zahlreicher Diskussionen und Artikel. In den meisten europäischen Ländern ist die Entstehung der Bürgerhaushalte eine direkte Folge dieser globalisierungskritischen Bewegung, wobei Deutschland wohl die bedeutendste Ausnahme diesbezüglich darstellt.
Christchurch in Neuseeland In Deutschland war nicht Porto Alegre, sondern Christchurch das Vorbild für den Bürgerhaushalt. Die älteste koloniale Stadt Neuseelands (300.000 Einwohner) hat 1993 den Carl Bertelsmann-Preis für „Demokratie und Effizienz in der Kommunalverwaltung“ gewonnen. Daraufhin ist diese Stadt in Deutschland zu einem Beispiel von best practice geworden und hat als Vorbild für viele Reformen gedient. Interessanterweise ist sie in Neuseeland als Reformstadt weit weniger bekannt als hierzulande. Der Weg für den Bürgerhaushalt wurde in Christchurch durch eine landesweite Gebiets- und Kommunalreform vorbereitet: Die Zahl der Kommunen wurde Anfang der 1990er Jahre von über 800 auf 86 reduziert. Sie verfügen über eine hohe Unabhängigkeit und nehmen ca. zwei Drittel ihrer Gelder selbst ein. Kennzeichnend für die Verwaltung von Christchurch sind eine strikte Trennung zwischen politischer und operativer Verantwortung, eine starke Wettbewerbsorientierung bei der Leistungserbringung, die Kopplung von Effizienz und Bürgerorientierung sowie eine gut ausgebaute und sehr anschauliche Rechenschaftslegung. Eine Partizipation der Bürger erfolgt sowohl zum jährlich aufzustellenden Haushalt als auch zum strategischen Mehrjahresplan. Ausgangspunkt der Beteiligung sind die gewählten Vertreter der community boards in den Stadtteilen, vergleichbar mit den deutschen Ortsbeiräten, in denen erste Vorschläge formuliert werden. Eine Einbeziehung einzelner Bürger erfolgt durch schriftliche Eingaben, die in öffentlichen Sitzungen erörtert und diskutiert werden. Bemerkenswert ist dabei die übersichtliche Aufbereitung von Materialien (z.B. des Haushaltsplans und der langfristigen Investitionsplanung),
25
Vgl. auch Abb. 2, in der ab dem Jahr 2001 ein klarer Anstieg der Anzahl von Bürgerhaushalten in Europa erkennbar ist. Diese Korrelation wird mit der raschen Entwicklung der Bürgerhaushalte seit 2007 schwächer.
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die mit Bildern und übersichtlichen Grafiken versehen im Internet veröffentlicht werden.
Trotz der maßgeblichen Bedeutung der globalisierungskritischen Bewegung bei der Verbreitung des Bürgerhaushalts in Europa macht es Sinn, alle für diese Entwicklung wichtigen Akteure zu berücksichtigen. Sechs Gruppen können unterschieden werden, allen voran die politischen Parteien (siehe auch Kapitel 1.4). Unter ihnen gibt es eine klare Dominanz politischer Linksparteien, oder genauer einige ihrer Strömungen und Persönlichkeiten. Die kommunistischen bzw. postkommunistischen Parteien sehen sich seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Modells gezwungen, ihre Programme und ihre politische Praxis zu erneuern und sich von ihren alten Modellen bürokratischer Verwaltung zu distanzieren. Der Bürgerhaushalt hat hierbei eine wichtige Rolle gespielt, wobei die Erneuerungsbewegung von einer Handvoll Aktivisten ausging. Dies ist insbesondere in Italien, Spanien und mit einiger Verzögerung auch in Deutschland und Frankreich der Fall gewesen (die Nachfolgeorganisationen der kommunistischen Parteien Osteuropas zeigen sich gegenüber dieser Thematik weitgehend indifferent). Die sozialdemokratische Linke interessiert sich nur ansatzweise für das Thema Bürgerhaushalt. Getragen wird die Idee dort in der Regel von Einzelpersonen, wie z.B. Elio Di Rupo in Wallonien (Parteivorsitzender) und Ségolène Royal in Frankreich. Die europäischen Grünen spielen hingegen, wie bereits gezeigt werden konnte, nur eine marginale Rolle. Auf den ersten Blick noch überraschender ist, dass dies auch für die extreme Linke gilt, obwohl eine Vielzahl der Bürgermeister brasilianischer Städte mit einem Bürgerhaushalt Mitglieder von Schwesterorganisationen sind (z.B. Porto Alegre, wo die trotzkistische Strömung, Mitglied in der IV. Internationale, zwei PT-Bürgermeister der Stadt gestellt hat). Allgemein ist die radikale Linke in Europa nur sehr schwach in den Lokalparlamenten vertreten. Ihr Interesse an Verwaltungsfragen ist gering, und auch der Bürgerhaushalt wird, mehr oder weniger explizit, als zu reformistisch angesehen, um wirklich von Interesse zu sein. Logisch erscheint schließlich auch, dass sich keine europäische Rechtspartei dem aus Brasilien eingeführten Thema bedient. Bei den Konservativen und den Liberalen gibt es gelegentlich Einzelpersonen, die sich für den Bürgerhaushalt interessieren, meist jedoch nur, um dessen Grenzen aufzuzeigen. Soziale Bewegungen und Aktivisten zivilgesellschaftlicher Vereinigungen stellen eine zweite Gruppe von Akteuren dar, die auf unserem Kontinent allerdings deutlich weniger zur Einrichtung von Bürgerhaushalten beigetragen haben als politische Parteien. Hierfür gibt es mehrere Gründe: Der offensichtlichste ist, dass die Entscheidung über die Einrichtung eines Bürgerhaushalts von Mitglie-
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I/2 Eine europäische Konvergenz?
dern der kommunalen Exekutive getroffen wird und die dort Verantwortlichen in der Regel politischen Parteien angehören. Ein weiterer Grund ist darin zu sehen, dass die Parteien in Europa über wesentlich größeren Einfluss in der globalisierungskritischen Bewegung verfügen als in Lateinamerika. Und schließlich ist ein erheblicher Teil der ‚Bewegungs-Linken‘ anti-institutionell eingestellt; sie hegen daher ein großes Misstrauen gegenüber jeder Art von (und sei es partizipativen) Verwaltungsverfahren oder begegnen ihnen zumindest indifferent. Allerdings ist die Haltung der ‚Bewegungs-Linken‘ bezüglich der Frage der Zusammenarbeit mit der ‚institutionellen Linken‘ von Land zu Land unterschiedlich. Ist die Bereitschaft zur Zusammenarbeit vorhanden, so hat dies in der Regel nicht nur positive Auswirkungen auf die Möglichkeiten, einen Bürgerhaushalt einzurichten, sondern auch auf die Ausgestaltrung und Funktionsweise des Verfahrens. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die großen Unterschiede zwischen den im 11. Bezirk von Rom und im 20. Pariser Arrondissement angewandten Verfahren erklären sich aus der Tatsache, dass die Bürgerinitiativen im ersten Fall eine deutlich größere Rolle gespielt haben als im zweiten. Nur in seltenen Fällen waren, wie z.B. in der spanischen Stadt Albacete, zivilgesellschaftliche Vereinigungen von Anfang an ebenso an der Erarbeitung des Bürgerhaushalts beteiligt wie die politisch Verantwortlichen. In Deutschland sind Bürgerhaushalte zwar nirgendwo auf Druck zivilgesellschaftlicher Akteure eingeführt worden, auch erreichten sie nicht die gesellschaftspolitische Mobilisierungskraft wie z.B. in Spanien oder Italien. Ihr Verdienst ist es jedoch, dass das Beispiel Porto Alegre überhaupt auf die Agenda gesetzt wurde und Eingang in die Diskussion fand. Wie bereits dargelegt wurde, haben außenstehende Dritte, wie z.B. internationale Organisationen und Experten, im europäischen Kontext, zumindest in der Anfangsphase, eine deutlich geringere Rolle gespielt als in Lateinamerika. Die Weltbank ist inzwischen jedoch in Osteuropa aktiv geworden, und aufgrund ihrer Initiative wurden Bürgerhaushalte in Albanien und einigen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens eingeführt (dort gibt es auch Überlegungen, diese Prozedur auf nationaler Ebene zu praktizieren). Stiftungen haben insbesondere in Deutschland einen großen Einfluss auf die Entstehung und Entwicklung von Bürgerhaushalten gehabt. Die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen hat sich hingegen vor allem in Großbritannien ausgewirkt. Eine von ihnen, Community Pride Initiative, hat sich auf Grundlage des Modellverfahrens von Porto Alegre intensiv für die Verbreitung und Umsetzung des Themas eingesetzt. Unterstützt wurde diese NGO, die maßgeblich von lokalen zivilgesellschaftlichen Aktivisten betrieben wird, von Oxfam, einem der wesentlichen Pfeiler des Weltsozialforums. Zusammen mit anderen engagierten Personen aus verschiedenen Organisationen ist es ihr über die letzten Jahre gelungen, ein sehr aktives, nationales Netzwerk zum Thema Bürgerhaushalt ins Leben zu rufen.
I/2.5 Ein Paradox
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Manche Regionen und Provinzen haben eine aktive Rolle bei der Entwicklung neuer partizipativer Verfahren gespielt. In verschiedenen Ländern haben kommunale Netzwerke sogar eine Schlüsselrolle in dieser Hinsicht eingenommen (Deutschland, Italien, Portugal, Schweden). Schließlich sollte der Entstehung eines Milieus von ‚PartizipationsExperten‘ Beachtung geschenkt werden. Es setzt sich zusammen aus lokalen Verwaltungsbeamten und politischen Repräsentanten, die mit den neuen Beteiligungstechniken vertraut sind, aus Organisatoren und Moderatoren, die durch ihre Arbeit in diesem Bereich viel praktisches Wissen angesammelt haben, sowie aus zahlreichen in spezialisierten Forschungseinrichtungen oder Nichtregierungsorganisationen aktiven ‚Profis‘. Das Milieu engagierter Wissenschaftler hat mit seinen Kenntnissen und Analysen ebenfalls nicht unerheblich dazu beigetragen, Idee und Praxis des Bürgerhaushalts zu verbreiten sowie bestehende Verfahren zu evaluieren. Insbesondere in Italien, Spanien und Portugal konnten Wissenschaftler erheblichen Einfluss auf die Entwicklung konkreter Verfahren nehmen.
5.
Ein Paradox
Der Ansatz der histoire croisée, dessen Kerngedanke in der Verbindung von vergleichender und Transfergeschichte besteht, stellt für Studien, die über einzelne Fallstudien hinausgehen wollen, eine vielversprechende Möglichkeit dar [Werner/Zimmermann, 2004]. Die genealogische Untersuchung der europäischen Bürgerhaushalte scheint das heuristische Interesse dieses Ansatzes zu bestätigen. Wie der kurze Überblick über deren Entwicklung bereits vermuten lässt, und wie der zweite, auf Fallstudien basierende Teil der vorliegenden Untersuchung bestätigen wird, treffen in jedem lokalen Fallbeispiel spezifische Faktoren und Ereignisse aufeinander und machen es so zu einem besonderen Fall, der untersucht werden muss. Darüber hinaus sind Erklärungen notwendig, warum sich diese ‚lokalen Wunder‘ so stark verbreitet haben. Dies beinhaltet auch eine Analyse dessen, wie sich die Idee des Bürgerhaushalts von einer Stadt bzw. einem Land auf ein anderes übertragen hat, welche Wissens- und Techniktransfers es gegeben hat und welche Auswirkungen auf die Funktionsweise des Bürgerhaushalts die jeweiligen lokalen Anpassungen hatten. Darüber hinaus ist es jedoch auch notwendig, Erklärungen zu finden, die über die transferorientierte Geschichte hinausgehen. Strukturelle oder makrosoziologische Aspekte wie die Modernisierung der Verwaltung, die Durchsetzung neoliberaler Logiken, die ‚Krise‘ der repräsentativen Demokratie oder die Reformen der lokalen Regierungen sind bereits angesprochen worden. Es kann an dieser Stelle hierüber nicht viel mehr gesagt werden, denn erst nach einer Untersuchung der äußerst
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vielfältigen Einzelbeispiele wird es möglich sein, die maßgeblichen Faktoren diesbezüglich zu isolieren. Zuvor muss aber noch auf einen Aspekt hingewiesen werden, der bei der Gegenüberstellung von Bürgerhaushalten aus Lateinamerika und Europa hervorsticht [Sintomer, 2005a]: So unterscheiden sich die hiesigen Verfahren unter sozialen Gesichtspunkten deutlich von den lateinamerikanischen, was in einem gewissen Gegensatz zu dem bereits konstatierten globalisierungskritischen Ursprung zu stehen scheint. In der Tat gehören die Teilnehmer des Bürgerhaushalts in den meisten Fällen (in zwölf von 18 Beispielen) der Mittelschicht oder oberen Lagen in den sozialen Unterschichten an. Seltener (in fünf von 18 Fällen) beteiligen sich an den Bürgerhaushalten überwiegend Bürger der Mittelschicht, während nur in zwei von 18 Fällen in erster Linie die unteren Gesellschaftsschichten dominieren. Auch wenn in Europa die Bürgerhaushalte hinsichtlich ihrer sozialen Beteiligung vielleicht ein wenig ‚plebejischer‘ sind als der Durchschnitt der partizipativen Verfahren, so werden sie doch in erster Linie von der Mittelschicht und den besser situierten Gruppen der unteren Schichten getragen – im Gegensatz zu Lateinamerika, wo sie vor allem Instrumente der Armen darstellen. Dieser Unterschied ist zu einem gewissen Teil den sozialen Verhältnissen der betroffenen Kommunen geschuldet. Er ist daneben auch ein Symptom der gesellschaftlichen Entwicklung in Europa ‚nach der Arbeiterklasse‘. Im Zuge dieser Entwicklung kam es nicht nur zu einer Marginalisierung der Arbeiter und Angestellten bei politischen Entscheidungen, sondern auch dazu, dass sich die untersten sozialen Schichten nicht mehr mit diesen identifizieren. Die unteren sozialen Schichten, die sich weitgehend vom politischen Prozess abgelöst haben, beteiligen sich kaum an Partizipationsverfahren.26 In der Mehrzahl der untersuchten Beispiele beteiligten sich junge Menschen, solche in einer prekären Lebenssituation oder Migranten nur wenig mehr als im herkömmlichen System, und nur in wenigen Fällen konnten gezielte politische Maßnahmen dieses Bild umkehren. Mit Blick auf die soziologische Repräsentativität kennt die partizipative Demokratie demnach dieselben Verformungen wie die repräsentative Demokratie, wenn auch weniger stark ausgeprägt.27 Dieser Gegensatz wird durch den Umstand verstärkt, dass die Bürgerhaushalte in Europa seltener das Ergebnis einer von der Basis ausgehenden Mobilisierung sind als es in Lateinamerika der Fall ist. In der überwiegenden Mehrzahl der untersuchten Fälle (16 von 19) handelt es sich um ‚von oben‘ (top-down)
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Auch die soziale Zusammensetzung der globalisierungskritischen Bewegung ist in Europa alles andere als von den unteren Gesellschaftsschichten geprägt [Della Porta, 2007]. Selbst die Frauen, deren politische Beteiligung in Beteiligungsverfahren deutlich stärker ausgeprägt ist als ihre Präsenz in der institutionellen Politik, stoßen sich an einer ‚gläsernen Obergrenze‘, sobald man die Gipfel der partizipativen Pyramide erklimmt (so diese existiert). Dieses Phänomen ist in Brasilien und seinen Nachbarländern besonderes ausgeprägt.
I/2.5 Ein Paradox
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initiierte Prozesse, die auf eine geringe Resonanz seitens der Bürger treffen. Fälle, in denen Bürgerhaushalte gleichermaßen auf top-down- und bottom-upDynamiken zurückgehen (drei von 19), sind in Europa deutlich seltener anzutreffen als in Lateinamerika, und Verfahren, die ausschließlich in Folge einer Mobilisierung von unten eingerichtet wurden, sind Ausnahmen. Wenn es in den europäischen Gesellschaften auch ein diffuses Bedürfnis nach Beteiligung gibt, so wird es nicht in einer breiten Bewegung zur Förderung von Bürgerhaushalten oder anderen Partizipationsformen deutlich. Es gibt in dieser Hinsicht nichts, was sich auch nur ansatzweise mit dem Kampf für die repräsentative Demokratie vergleichen ließe, der den Kontinent vom 18. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts geprägt hat, oder auch mit der Mobilisierung gegen die neoliberale Globalisierung, die der Jahrtausendwende ihren Stempel aufgedrückt hat (ein junges Beispiel wären die Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm im Frühjahr 2007). Die Bürgerhaushalte sind von dieser Bewegung lediglich ein Nebenprodukt, allerdings ein recht besonderes. Der Überblick über die europäischen Bürgerhaushalte hat schon jetzt deutlich gemacht, dass die Wege der Innovation, auf welchem Gebiet auch immer, beschwerlich sind. Auf die Ausgangsfrage nach der schnellen Entwicklung der Bürgerhaushalte in Europa bietet eine histoire croisée zumindest den Ansatz einer Antwort, und zwar in Form eines Widerspruchs: Ein in Porto Alegre erfundenes Verfahren hat im Wesentlichen in der Folge der Kritik an der Globalisierung Verbreitung gefunden, aber es erzeugt keine wesentliche soziale Mobilisierung und verfügt über keine ausgewiesene Verankerung in den unteren Gesellschaftsschichten. Deutet dies auf den Widerspruch zwischen einem Prozess, der sich maßgeblich über die Netzwerke und Transfers innerhalb der globalisierungskritischen Linken ausbreitet, und einem Kontext, der sich stark von der brasilianischen Situation unterscheidet, ja eine Wiederholung der dortigen Entwicklung vielleicht gar nicht zulässt? Es ist noch zu früh, um diese Frage beantworten zu können. Dieses Paradox wirft jedoch eine zweite grundlegende Frage auf: Kann man die europäischen Bürgerhaushalte und die partizipativen Verfahren im Allgemeinen als den Ausdruck einer Alternative zur neoliberalen Globalisierung verstehen? Auch hierauf lässt sich erst eine Antwort geben, nachdem – Land für Land – die konkreten Verfahren und ihre Auswirkungen untersucht worden sind. Hierum wird es im zweiten Teil der Arbeit gehen. Erst im dritten Teil ist es dann möglich, eine allgemeine, fall- wie länderübergreifende Analyse der dargestellten Prozesse und Entwicklungen anzugehen und abschließend Bilanz zu ziehen.
Kapitel 3
Verschiedenheit der Verfahren
Vor der detaillierten Einzelanalyse von verschiedenen Beispielen des Bürgerhaushalts ist es notwendig, eine erste konzeptuelle Standortbestimmung abzugeben. In einer breit angelegten vergleichenden Studie hat man es mit einer derart großen Vielfalt zu tun, dass man im Laufe der Untersuchung leicht den Überblick verlieren kann. Nicht selten kommt es vor, dass sich das Detailverständnis zu Lasten des Gesamtverständnisses auswirkt – ein Problem, mit dem wir während unserer Forschungsarbeit häufig konfrontiert waren. Wir haben daher Typologien entwickelt, die eine bessere Orientierung ermöglichen sollen – ähnlich wie es bei der Forschung zu verschiedenen Typen des Wohlfahrtsstaats und Kapitalismus getan wurde. Unsere Definition des Bürgerhaushalts stellt, wie im ersten Kapitel deutlich geworden ist, dessen verfahrensbezogene Besonderheiten gegenüber anderen Partizipationsinstrumenten heraus. Aus diesem Grund erschien es angemessen, zunächst eine Typologie der verschiedenen, in Europa praktizierten Verfahren der Bürgerhaushalte zu konstruieren. Wie aber kann man eine derartige Typologie entwickeln? Die verschiedenen Prozeduren als Unterscheidungskriterium nehmend, geht es im Weberschen Sinn darum, halbabstrakte Idealtypen zu bilden. Deren Konstruktion beinhaltet neben empirischen Analysen auch theoretische Kategorien, zumal die konkreten Fälle nie gänzlich den Idealtypen entsprechen. Häufig muss man diese miteinander kombinieren, um die einzelnen Fälle erklären zu können. Es geht hier also nicht darum, eine empirische Typologie zu erstellen, indem man die konkreten Fälle zu Typen zusammenfasst und in die Felder einer Tabelle einträgt. Die Idealtypen stellen eher die Pole einer ‚konzeptuellen Karte‘ (s. Abb. 8) dar, auf der man die empirischen Fälle verorten kann. Ebenso wie auf einer Straßenkarte folgt man nur selten exakt der nördlichen, südlichen, östlichen oder westlichen Himmelsrichtung, und doch hilft das Vorhandensein dieser vier Richtungen dem Benutzer, nicht die Orientierung zu verlieren. Im vorliegenden Fall haben wir uns auf vier Gruppen von Kriterien gestützt, um unsere Typologie zu erstellen. URSPRÜNGE. Institutionelle Neuerungen werden in hohem Maß durch bestehende Institutionen geprägt, was in der Literatur unter dem Begriff der ‚Pfadabhängigkeit‘ (path-dependency) beschrieben wird. Demnach haben die Wege, denen
I/3 Verschiedenheit der Verfahren
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man in der Vergangenheit gefolgt ist, einen erheblichen Einfluss auf die Wege, die sich in der Gegenwart eröffnen – auch beim Versuch, neue Wege einzuschlagen. In Europa entwickeln sich Bürgerhaushalte häufig auf der Grundlage bereits bestehender partizipativer Verfahren, von denen sie bestimmte Elemente übernehmen. In manchen Fällen, wie bei der aus Porto Alegre importierten Prozedur, stellen sie jedoch auch einen Bruch mit der zuvor bestehenden Praxis dar. In der ersten wie der zweiten Variante müssen die unterschiedlichen Idealtypen in hohem Maß unter Berücksichtigung ihrer ‚Vorgeschichten‘ konstruiert werden. ORGANISATION DER VERSAMMLUNGEN. Die Versammlungen des Bürgerhaushalts folgen in der Regel entweder einer territorialen (z.B. Versammlungen in Stadtvierteln) oder einer thematischen Logik (Versammlung zu bestimmten Themen). Sie können allen Interessierten offen stehen oder auch nur ausgewählten Bevölkerungsgruppen zugänglich sein. Die Mobilisierung der Teilnehmer erfolgt über verschiedene Wege, wie z.B. über lokale Vereine, die Lokalpresse oder auch per Losverfahren. In manchen Fällen gibt es einen Zyklus, der sich über das ganze Kalenderjahr erstreckt, in anderen werden nur einzelne Veranstaltungen pro Jahr organisiert. Schließlich basieren manche Verfahren auf einer Art Partizipations-Pyramide, in der die teilnehmenden Bürger Delegierte wählen, wohingegen dies in anderen Verfahren nicht der Fall ist. DELIBERATION. Die Themen, über die in einem partizipativen Verfahren diskutiert wird, können sich auf Investitionen oder Dienstleistungen beziehen, auf die allgemeine Haushaltslage der in Frage stehenden Institution oder auch auf bestimmte Themenbereiche wie z.B. Schulen. In den Diskussionen geht es entweder um einzelne Projekte (mit oder ohne Hierarchisierung der Prioritäten) oder um die allgemeine thematische Schwerpunktsetzung im öffentlichen Sektor. Verfahren, in denen es ein explizites Regelwerk gibt, unterscheiden sich grundlegend von solchen, in denen die Diskussionen eher informellen Charakter haben. Des Weiteren kann auch die Qualität der Deliberation erheblich variieren. 28
28
Eine konzeptuelle Definition dessen zu geben, was eine ‚gute Deliberation‘ ausmacht, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher führen wir hier lediglich einige empirische Merkmale zur Bestimmung der ‚Qualität von Deliberation‘ an. Diese ist umso besser, je mehr die folgenden Bedingungen gegeben sind: Die Diskussion findet nicht nur zwischen Verwaltung und Bürgern statt, sondern auch zwischen den Bürgern; es gibt neutrale (z.B. externe) Moderatoren, die die Diskussionen leiten. Es findet ein Austausch von Argumenten statt und die Diskussion beschränkt sich nicht auf rein rhetorische Beiträge oder ausschließlich technische Fragen (wie z.B. die Kosten eines Projekts); die Diskussionen orientieren sich stärker am Gemeinwohl als an der Verteidigung persönlicher Interessen; die Diskussion wird zwischen Bürgern aus verschiedenen sozialen Schichten geführt (Prinzip der Inklusion); die verfahrenstechnischen Spielregeln und die Tagesordnung sind öffentlich und klar formuliert; die Bürger
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I/3 Verschiedenheit der Verfahren
Schließlich kann man danach fragen, ob die Diskussionen auf Grundlage von Verteilungskriterien oder anderen Richtlinien erfolgen, die eine Förderung bestimmter Gebiete oder (benachteiligter) Bevölkerungsgruppen vorsehen. GEWICHT DER ZIVILGESELLSCHAFT IM VERFAHREN. Der Begriff der Zivilgesellschaft ist nicht eindeutig und beinhaltet mindestens zwei verschiedene Bedeutungen. Folgt man einer traditionellen Interpretation bezieht er sich auf alle organisierten Kräfte, die nicht zum Staat gehören, d.h. insbesondere auf Wirtschaftsunternehmen und -akteure. In einem anderen Verständnis, das auch der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt, verweist der Begriff auf einen Bereich, der sich sowohl vom Wirtschaftssystem als auch vom politisch-administrativen System unterscheidet und auf dem Zusammenschluss und der Mobilisierung von Bürgern im öffentlichen Raum beruht.29 Ein Beteiligungsverfahren kann sich an höchst unterschiedliche Typen von Bürgern richten: soziale Sektoren (z.B. Frauen, Ausländer, alte oder junge Menschen), organisierte Bürger (insbesondere in Vereinen organisiert), einzelne aktive Bürger, die sich auf freiwilliger Basis engagieren, ‚einfache‘ Bürger (per Losverfahren bestimmt) oder auch alle Bürger (Referendum). Es ist zudem nicht unwichtig zu wissen, wer – die Zivilgesellschaft, die Verwaltung, die politischen Repräsentanten oder Dritte – formal an der Ausarbeitung der Spielregeln beteiligt war. Weitere Kriterien in diesem Bereich beziehen sich auf die prozedurale Autonomie der Zivilgesellschaft in dem Verfahren sowie darauf, ob es sich um ein rein konsultatives Instrument handelt oder ob es auch Entscheidungsmacht für die Bürger beinhaltet.30 Darüber hinaus geht es um die allgemeinere Frage, ob und wie die Partizipation mit dem politischen System und den Abläufen in der Verwaltung verbunden ist. Von Bedeutung ist hier insbesondere, in welchem Umfang die Regierenden gegenüber den Teilnehmern verantwortlich sind, d.h. inwieweit sie Rechenschaft über getroffene Entscheidungen und ihre Umsetzung ablegen müssen (accountability) und in welchem Maß die Verwaltung in der Lage oder bereit ist, auf die Anfragen aus der Bürgerschaft zu reagieren (responsiveness).
29
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können an der Erstellung der Zusammenfassung der Diskussion mitwirken; die den Teilnehmern gegebenen Informationen sind ausreichend für eine gut fundierte Diskussion und es steht genügend Zeit zur Verfügung; es gibt Diskussionen in kleinen Gruppen, die es einer möglichst großen Zahl an Einzelpersonen erlauben, sich zu beteiligen. Diese zweite Bedeutung kann auch als neo-tocquevillianisch oder neo-gramscianisch bezeichnet werden. Die deutsche Sprache hat hierfür mit dem Wort ‚Zivilgesellschaft‘ einen Neologismus geschaffen. Dieser ist von der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ zu unterscheiden, die ziemlich genau der ersten der beiden genannten Bedeutungen entspricht. In anderen Worten: Handelt es sich um eine starke Öffentlichkeit, die direkt auf Entscheidungen einwirkt, oder um eine schwache, rein konsultative Öffentlichkeit [Fraser, 2003]?
I/3 Verschiedenheit der Verfahren
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STÄRKEN, SCHWÄCHEN, SPEZIFISCHE HERAUSFORDERUNGEN. In Ergänzung dieser vier Kriteriengruppen haben wir noch eine weitere Dimension hinzugefügt. Sie ist weniger deskriptiv, sondern zielt vielmehr darauf ab, eine erste Synthese der Besonderheit der verschiedenen idealtypischen Verfahren zu liefern und beinhaltet daher auch eine gewisse normative Dimension. Insbesondere geht es um die Stärken, Schwächen und spezifischen Herausforderungen eines jeden Verfahrenstyps, die zunächst auf der Grundlage der ihm eigenen Logik, und erst in einem zweiten Schritt durch einen Vergleich mit den anderen Fällen ermittelt werden. Als Ergebnis der Feldforschung, die auf Grundlage von und in stetigem Austausch mit theoretischen Überlegungen stand, haben wir eine ‚konzeptuelle Karte‘ der europäischen Bürgerhaushalte entwickelt, deren Eckpunkte sechs idealtypische Verfahren darstellen: Porto Alegre in Europa; bürgernahe Partizipation; Konsultation öffentlicher Finanzen; privat-/öffentlicher Verhandlungstisch; Gemeinwesensfonds auf Quartiers- und Stadtebene; Partizipation organisierter Interessen. Um dem Leser bei der Lektüre des folgenden, zweiten Teils über die konkreten Erfahrungen des Bürgerhaushalts in Europa Orientierung zu bieten, präsentieren wir diese Typologie im Voraus und nennen jeweils auch ein Beispiel. Dies soll jedoch nicht zur Verwechslung von konkreten Fällen und Idealtypen führen, die niemals vollständig übereinstimmen. Darüber hinaus gilt zu berücksichtigen, dass die auf der konzeptionellen Karte eingezeichneten Verfahren ihre Position verändern können, wenn sich das Partizipationsverfahren vor Ort ändert (Entwicklungstendenzen sind mit Pfeilen gekennzeichnet).
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I/3 Verschiedenheit der Verfahren
Abbildung 8:
1.
Verfahrenstypologie der Bürgerhaushalte in Europa (2005-2006)
Porto Alegre in Europa
Wie der Name bereits sagt, kommt dieses Verfahren dem von Porto Alegre am nächsten, wurde aber an den europäischen Kontext angepasst. Es handelt sich um ein neues, innovatives Verfahren, das mit den zuvor bestehenden lokalen Traditionen bricht. Es integriert einige Merkmale des brasilianischen Beispiels, das im ersten Kapitel dargestellt wurde, und findet in Europa, insbesondere in Spanien und Italien, die größte Verbreitung. Konkret basiert es auf den folgenden Aspekten: thematische und territoriale Versammlungen, die allen Bürgern offen stehen; partizipative Räte, die sich aus Bürger-Delegierten zusammen-
I/3.1 Porto Alegre in Europa
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setzen und den Prozess das ganze Jahr über begleiten; eine auf Investitionen gerichtete Diskussion mit anschließender Hierarchisierung der vorgeschlagenen Projekte; eine prozedurale Autonomie der Zivilgesellschaft bei gleichzeitigem Ausschluss von privatwirtschaftlichen Unternehmen; die Übertragung von Entscheidungskompetenzen an die teilnehmenden Bürger durch die lokalen Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung. Die Stärken dieses Idealtyps sind darin zu sehen, dass er (zumindest im Vergleich zu anderen Beteiligungsinstrumenten) eine gute deliberative Qualität ermöglicht und die Bürger direkt entscheiden können. Dies wiederum ist der Beteiligung förderlich, da die Bürger am Ende des Partizipationsprozesses konkrete Ergebnisse sehen. Des Weiteren verhindert das Verfahren die Willkür des ‚selektiven Zuhörens‘ (die immer dann entsteht, wenn es ausschließlich den gewählten Repräsentanten oder den Mitarbeitern der Verwaltung zukommt, die Schlussfolgerungen aus den Diskussionen zu ziehen, ohne dabei an klare Regeln gebunden zu sein) und bringt Partizipation und soziale Gerechtigkeit miteinander in Verbindung. Problematisch ist hingegen die geringe Beteiligung der Bürger bei der Umsetzung der gewählten Projekte, was im europäischen Kontext auch damit einhergeht, dass die Bürger selten die Mitgestalterrolle übernehmen. Darüber hinaus wird Partizipation nicht in Zusammenhang mit der Modernisierung der Verwaltung gebracht, so dass diesbezüglich keine positiven Effekte entstehen können. Ein weiteres Problem ist, dass Vereine häufig die Legitimität eines Verfahrens anzweifeln, das ihnen keine privilegierte Stellung zuerkennt bzw. sie sogar außen vor lässt. Herausforderungen dieses idealtypischen Verfahrens sind demzufolge die Integration der Mitgestalter-Rolle in den Partizipationsprozess, die bessere Verbindung von Partizipation und Verwaltungsmodernisierung sowie eine hohe Beteiligungsrate, da Verfahren, die auf der Teilnahme einzelner Bürger beruhen, mehr Legitimität durch mehr Beteiligung haben. Schließlich besteht eine Herausforderung darin, lokalen Initiativen und Vereinen eine positive und klar definierte Rolle in dem Verfahren zu geben. Die Stadt Sevilla gehört zu den von diesem Modell am stärksten beeinflussten Orten in Europa.
Sevilla Mit mehr als 700.000 Einwohnern war Sevilla lange Zeit die größte europäische Stadt, die über einen Bürgerhaushalt verfügt. Ebenso wie viele andere Orte in Andalusien muss diese für ihren kulturellen Reichtum bekannte Stadt mit ernsten sozialen Problemen kämpfen. Seit 2003 ist eine Linkskoalition an
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I/3 Verschiedenheit der Verfahren
der Regierung, deren sozialistischer Bürgermeister mit den Post-Kommunisten zusammenarbeitet. Der Bürgerhaushalt wurde im Jahr 2004 auf Vorschlag der Regierung eingerichtet. Während er ursprünglich auf die Investitionen und Projekte von drei Bereichen der Lokalverwaltung ausgerichtet war (Bürgerschaft, Sport und Stadtplanung), wurden im Laufe der Jahre weitere Fachbereiche in das Verfahren integriert, das sich weitestgehend an Porto Alegre orientiert. Es handelt sich um einen dezentralisierten Prozess, der auf der Teilnahme einzelner Bürger auf der Ebene des Wohnviertels, des Bezirks und auch der gesamten Stadt beruht. In Kooperation mit den Moderatoren organisieren aus engagierten Bürgern bestehende Arbeitsgruppen (grupos motores) die Versammlungen des Bürgerhaushalts. Der Partizipationszyklus beginnt im März mit Versammlungen in den Stadtvierteln, auf denen Projektvorschläge gesammelt und die Delegierten, die gegenüber ihrer Basis durch ein semi-imperatives Mandat gebunden sind, für die Beteiligungs-Räte in den Bezirken und der Gesamtstadt gewählt werden. Während auf den Basisversammlungen die Teilnehmer eine erste Abstimmung vornehmen, entscheiden die Delegierten der Bezirke und der gesamtstädtischen Ebene über die endgültige Reihenfolge der Vorschläge (alle Maßnahmen, die den Wert von 30.000 überschreiten, wie z.B. die Sanierung von Gebäuden, werden der Stadtebene zugeteilt.) Zur Hierarchisierung der Vorschläge wenden die Delegierten ein komplexes Kriterien-System an, das auf Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit basiert. Auf diese Weise sollen die Ungleichheiten zwischen einzelnen Wohnvierteln bzw. Bezirken verringert werden. Priorität genießen Gebiete mit defizitärer Infrastruktur sowie Projekte, die in erster Linie benachteiligten Bevölkerungsgruppen zugute kommen. Im Rahmen des ersten Bürgerhaushaushalts wurden 265 Vorschläge mit einem Gesamtwert von 12 Mio. Euro finanziert. Das konkrete Verfahren wird von Delegierten, die auf den Basisveranstaltungen gewählt werden, beständig an neue Entwicklungen angepasst. Eine weitere Kommission ist damit beauftragt, die Umsetzung der Projekte zu kontrollieren. Der gesamten Prozess wird im Auftrag der Stadtverwaltung von einer privaten, von politischen Aktivisten betriebenen Agentur koordiniert und organisiert.
I/3.2 Bürgernahe Partizipation
2.
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Bürgernahe Partizipation
Der zweite Idealtyp, die ‚bürgernahe Partizipation‘, basiert auf einer Übertragung der Logik der Quartiersbeiräte auf den Bürgerhaushalt. Während in Europa mehrere tausend Quartiersfonds und Quartiersbeiräte vorzufinden sind, entsteht ein Bürgerhaushalt erst dann, wenn es zusätzlich auch eine Diskussion über gesamtstädtische Angelegenheiten gibt. Der Übergang von Quartiersbeiräten und Quartiersfonds zum Bürgerhaushalt liegt zum Teil in der ihnen eigenen Dynamik (in dem Sinne, dass die Beschränkung auf die mikro-lokale Ebene auf lange Sicht zur Ausbildung des beschränkten Kirchturmhorizonts führen kann), ist zum Teil aber auch im Einfluss des Beispiels Porto Alegre begründet. Wie in dem Verfahrenstyp ‚Porto Alegre in Europa‘ geht die Diskussion auch hier von konkreten Projekten aus, jedoch gibt es nur bei den Quartierfonds auch eine gewisse Entscheidungsdimension, ansonsten ist das Verfahren rein konsultativ. Insbesondere in den Quartiersbeiräten sind die Verfahrensregeln äußerst informell, und die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung entscheiden über die Annahme oder Ablehnung der Vorschläge auf Grundlage der Logik des ‚selektiven Zuhörens‘. Dieses kaum standardisierte Instrument ist in Europa hauptsächlich in Frankreich, Belgien, Portugal und, wenn auch in geringerem Maß, in Italien verbreitet. Die Stärken dieses Idealtyps bestehen darin, die Kommunikation zwischen verwaltungspolitischen Entscheidungsträgern und Bürgerschaft zu verbessern, letztere zu motivieren, über die ihr alltägliches Leben betreffenden Probleme zu diskutieren und durch eine bürgernahe Verwaltung auf der Ebene der Stadtviertel zu einer Verbindung von Partizipation und Verwaltungsmodernisierung beizutragen. Eine Schwäche des Verfahrens ist hingegen darin zu sehen, dass es in der Regel auf dem ‚selektiven Zuhören‘ basiert und so kaum geeignet ist, eine Dynamik des empowerment zu fördern. Selbst wenn es, wie beim Quartiersfonds, eine Übertragung von Entscheidungskompetenzen gibt, so führen die mikro-lokale Verwurzelung des Verfahrens und seine starke Kontrolle durch Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung zu keiner Stärkung der Bürgerschaft. Problematisch ist weiterhin, dass die Deliberation aufgrund des Fehlens klarer Verfahrensregeln nur von geringer Qualität ist und es keine Verknüpfung von Partizipation und Verwaltungsmodernisierung auf Ebene der Gesamtstadt gibt. Herausforderungen, denen sich das Verfahren der bürgernahen Partizipation stellen muss, sind daher die Einbeziehung gesamtstädtischer Themen, die Verbindung der oftmals sehr unterschiedlichen Partizipationsinstrumente zu einem kohärenten Ganzen sowie die systematischere Verknüpfung von Partizipation und Modernisierung auf allen Ebenen.
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I/3 Verschiedenheit der Verfahren
Die französische Stadt Bobigny (45.000 Einwohner) ist ein gutes Beispiel für den Idealtyp der ‚Bürgernähe‘.
Bobigny Bobigny ist ein im Departement Seine-Saint-Denis gelegener Vorort von Paris. Der alte Stadtkern wurde schon vor langer Zeit durch Wohnhochhäuser ersetzt und stellt ein Beispiel der heute kritisierten, industriellen Stadtplanung dar. Die weit überwiegende Mehrheit der Bewohner gehört den unteren sozialen Schichten an, der Anteil von Migranten oder Bürgern mit Migrationshintergrund ist hoch. Die Stadt, die von einer Linkskoalition mit einer kommunistischen Bürgermeisterin regiert wird, bietet seinen Bürgern zahlreiche Sozialleistungen, insbesondere eine hohe Zahl von Sozialwohnungen. Dennoch hat die öffentliche Verwaltung aufgrund finanzieller Schwierigkeiten wachsende Probleme, ihr Dienstleistungsangebot zu erfüllen, was durch die Krise des traditionellen Verwaltungsmodus der ‚roten Städte‘ verstärkt wird.31 In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre hat die Stadtverwaltung in den Wohnvierteln wie auch auf gesamtstädtischer Ebene zahlreiche Verfahren der Bürgerbeteiligung eingeführt (zu denen zwischen 2002 und 2004 auch der Bürgerhaushalt gehörte). Seit dieser Zeit gibt es in Bobigny verschiedene Arten von Quartiersversammlungen, in denen Mandatsträger, Verwaltungsmitarbeiter und Bewohner zusammenkommen und über Probleme des alltäglichen Lebens diskutieren. Darüber hinaus arbeiten Bürgergruppen kleinere Projekte aus, die der Lokalregierung vorgelegt werden können. Parallel hierzu verläuft auf der Ebene der Gesamtstadt ein Prozess der strategischen Stadtplanung (der diesen Namen jedoch nicht offiziell trägt). Er beinhaltet regelmäßig tagende Arbeitsgruppen sowie Stadtkonferenzen (assises), die im Abstand von zwei Jahren stattfinden. Aus diesen Beteiligungsprozessen erhalten Regierung und Verwaltung Anregungen, aus denen sie eine Vorschlagsliste erstellen, die auch veröffentlicht wird. Eine ausschließlich aus Bürgern zusammengesetzte Begleitkommission wacht über die Umsetzung dieser Vorschläge und legt regelmäßig Berichte hierzu vor.
31
Die ‚roten Städte‘ (‚rot‘ aufgrund der linken, in der Regel kommunistischen Regierungsspitze) in Frankreich verfügten lange Jahre über eine sehr sozial orientierte Verwaltungsspitze, die den Bedürfnissen der (armen) Bewohner und sozialen Fragen allgemein eine große Bedeutung zumaß und konkrete Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lage durchführte.
I/3.3 Konsultation öffentlicher Finanzen
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Der Bürgerhaushalt besteht aus zahlreichen Arbeitsgruppen, in denen sich Bürger mit dem kommunalen Haushalt und anderen finanziellen Fragen befassen. Inwieweit die dort geführten Diskussionen und Vorschläge von der Verwaltung berücksichtigt werden, ist jedoch weitgehend unklar. Die Bürger haben keine direkten Entscheidungskompetenzen und das Verfahren ist stark von der Stadtverwaltung dominiert – auch wenn diese sich bemüht, in regelmäßigem Kontakt und Austausch mit den Bürgern zu bleiben. Aufgrund interner verfahrenstechnischer Probleme wurde der Bürgerhaushalt 2005 eingestellt, aber im Jahr 2007 erneut eingerichtet.
3.
Konsultation öffentlicher Finanzen
Das dritte idealtypische Verfahren unterscheidet sich noch stärker als das der bürgernahen Partizipation vom Bürgerhaushalt in Porto Alegre. Ein Grund dafür liegt darin, dass es andere Ursprünge hat: es ist stark beeinflusst vom neuseeländischen Beispiel Christchurch, das sich, wie im vorigen Kapitel dargelegt wurde, deutlich von dem brasilianischen Ursprungsmodell unterscheidet. Dieser Verfahrenstyp stellt so etwas wie eine ‚rheinische‘ Variante des New Public Management dar, in dem die Partizipation ein wichtiges Element der Verwaltungstransparenz auf Ebene der Stadt ist. Er ist dank dem Engagement von Stiftungen und Netzwerken, die ihn verbreitet haben, recht formalisiert und standardisiert. Einige seiner Merkmale finden sich jedoch auch in anderen Verfahren (insbesondere in Saint-Denis), ohne dass es zwischen diesen und dem neuseeländischen bzw. den deutschen Beispielen eine direkte Verbindung gibt. Die wesentliche Besonderheit dieses Verfahrens besteht darin, dass es nicht auf konkrete Projekte, sondern auf den gesamten Haushalt der Kommune bezogen und daher überwiegend auf der Ebene der Stadt von Bedeutung ist. Dieser Idealtyp, der eine rein konsultative Rolle für die Bürger vorsieht, basiert neben einzelnen interessierten Bürgern oftmals auch auf der Partizipation ‚einfacher‘ Bürger, die per Losverfahren bestimmt werden – eine Regelung, die im Gegenzug den Einfluss lokaler Vereine und Lobbygruppen verringert. Die Hauptstärke des Verfahrens besteht darin, dass es über die erhöhte Transparenz des Haushalts Partizipation und Modernisierung miteinander in Einklang zu bringen versucht und Diskussionen über die grundlegenden finanziellen Fragen der Kommune beinhaltet. Weiterhin ist positiv zu bewerten, dass oftmals technische Innovationen wie das Internet Anwendung finden und dass es mit den zufällig ausgewählten, ‚einfachen‘ Bürgern über eine breitere Legitimationsgrundlage verfügt als Beteiligungsinstrumente, die sich ausschließlich auf eine freiwillige Beteiligung stützen [Röcke, 2005; Sintomer, 2007]. Auf der
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I/3 Verschiedenheit der Verfahren
anderen Seite kann es als Schwäche des Verfahrens angesehen werden, dass es in der Partizipation mehr ein Mittel der Modernisierung als ein Ziel an sich sieht, dass die politische Dimension schwach bzw. nicht existent ist und dass die Zivilgesellschaft in diesem von der Verwaltung dominierten Prozess nur geringes Gewicht hat. Hinzu kommt, dass die deliberative Qualität des Verfahrens im Allgemeinen eher schwach ist, sein Einfluss auf die Entscheidungsfindung indirekt und die Bürger nicht an der Umsetzung ihrer Empfehlungen beteiligt sind. Die wesentlichen Herausforderungen, vor denen das Verfahren steht, sind demnach die folgenden: eine Verknüpfung von Partizipation und Modernisierung in der Weise, dass Erstere der Zweiten nicht untergeordnet wird; eine höhere Beteiligungsrate, indem man den Prozess weniger technokratisch gestaltet; die stärkere Verbindung der Bürgerbeteiligung mit dem Prozess der offiziellen Entscheidungsfindung; die Verbindung von Stadtebene und Partizipation in den Stadtvierteln und schließlich die Entwicklung eines partizipativen Prozesses, der sich über das ganze Jahr erstreckt und somit potentiell zu einer Verbesserung der Diskussionsqualität beiträgt und die Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung zu einer größeren Rechenschaft vor den Bürgern anhält. In Deutschland ist die im Ruhrgebiet gelegene Stadt Hilden eines der frühesten Beispiele für ein Verfahren, das sich stark am Idealtyp der ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘ orientiert.
Hilden Die Stadt Hilden (56.000 Einwohner) gehört zu den wenigen Beispielen in Deutschland, in denen der Bürgerhaushalt als etabliert gelten kann. Er wurde im Jahr 2001 im Rahmen des Pilotprojektes „Kommunaler Bürgerhaushalt“ des Landes Nordrhein-Westfalen eingeführt. Im Gegensatz zu anderen Städten Nordrhein-Westfalens ist Hilden nicht unmittelbar von einer Finanzkrise bedroht. Kennzeichnend für die Stadt ist weiterhin die Bürgerfreundlichkeit der Verwaltung. Der Bürgerhaushalt dient in erster Linie dazu, die Finanzen der Stadt und die Arbeit der Verwaltung dem Bürger transparenter zu machen. Hierzu wird jährlich eine Broschüre mit den wesentlichen Informationen erstellt. Im Zentrum des Beteiligungsprozesses steht ein Bürgerforum, zu dem Einwohner per Zufallsauswahl eingeladen werden. Darüber ist eine Teilnahme für jeden interessierten Bürger möglich. Das Forum umfasst eine Abendveranstaltung, auf der der Bürgermeister und der Kämmerer zunächst einen Überblick über die finanzielle Situation der Stadt geben. Im interaktiven Teil der Veranstaltungen können Bürger an Informationsständen mehr über die
I/3.4 Privat-/öffentlicher Verhandlungstisch
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Tätigkeit der Verwaltung erfahren. Im Jahr 2004 wurden z.B. die Arbeit der Feuerwehr, der Bauverwaltung, des Ordnungsamtes sowie das Jugendprogramm vorgestellt. Bei Fragen können sich die Teilnehmer an die anwesenden Mitarbeiter der Verwaltung wenden, Anregungen zur Verbesserung des Angebots können auf bereitliegenden Kärtchen notiert und in eine Sammelbox geworfen werden. Eine Hierarchisierung der Vorschläge findet nicht statt, jedoch erhält jeder Bürger per Brief eine persönliche Antwort, ob und ggf. wann sein Anliegen umgesetzt wird. Seit einigen Jahren wird zusätzlich zum Bürgerforum eine Veranstaltung für die Sportvereine der Stadt organisiert. Das Verfahren zum Bürgerhaushalt wurde von der Verwaltung ohne Mitwirkung aus der Bürgerschaft erarbeitet und wird auch von ihr eigenständig durchgeführt. Bei den umgesetzten Vorschlägen handelt es sich im Wesentlichen um kleinere Reparaturmaßnahmen bei öffentlichen Einrichtungen (Gebäude, Straßen etc.) oder um kleine Veränderungen im Dienstleistungsbereich (Öffnungszeiten, Angebot der Bibliothek etc.).
4.
Privat-/öffentlicher Verhandlungstisch
Das vierte idealtypische Verfahren, der ‚privat-/öffentliche Verhandlungstisch‘, steht in gewisser Hinsicht in diametralem Gegensatz zu Porto Alegre, da hier die Unternehmen neben Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung, Nichtregierungsorganisationen und ggf. internationalen Organisationen eine Schlüsselrolle einnehmen. In einem Forum, an dem all diese Akteure teilnehmen, wird über die Verteilung der Gelder entschieden, die zum Teil aus dem kommunalen Haushalt, zum Teil von lokalen Unternehmen der Privatwirtschaft und zum Teil von internationalen Organisationen stammen. Die Gelder dienen der Finanzierung von Projekten, die von der organisierten Bürgerschaft vorgeschlagen werden. Der Einfluss von Porto Alegre auf dieses Verfahren war, wie auch bei dem Idealtyp ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘, zunächst so gut wie nicht vorhanden. Beim privat-/öffentlichen Verhandlungstisch kommt es zu einer Hierarchisierung der Projekte durch eine Jury, die sich z.B. aus Bürgern, Experten und Vertretern der verschiedenen Geldgeber zusammensetzt. Die Qualität der Diskussionen kann durchaus hoch sein. Auf dem alten Kontinent scheint dieser Verfahrenstyp vor allem in Osteuropa einflussreich zu sein, ist aber auch in den Ländern der Südhalbkugel weit verbreitet, wobei es darum geht, verschiedene stakeholder zusammenzuführen. Solche Initiativen wurden vor allem von der Weltbank und von UN-Organisationen angestoßen. So hat Kofi Annan 1999 nach dem Forum von Davos im Namen der UNO das Programm „Global Compact“ entwickelt, das die Entwicklung sozialer Verantwortlichkeiten von Unter-
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I/3 Verschiedenheit der Verfahren
nehmen („social responsibility“) zum Ziel hat. Im September 2000 verabschiedete die UNO die Milleniums-Erklärung, die als Ziel eine stärkere Beteiligung des privaten Sektors und der Zivilgesellschaft bei der Implementierung von UNProgrammen anführt. 2004 integrierte das Habitat-Programm den Bürgerhaushalt [Cabannes, 2004b], wobei kurz danach de facto Abstand vom brasilianischen Vorbild genommen wurde: der Bürgerhaushalt wird als ein „innovatives Instrument“ definiert, mit dem „die Verwaltung, der private Sektor und die Zivilgesellschaft zur Verteilung kommunaler Ressourcen zusammengeführt werden sollen“. Die Hauptstärke dieses Verfahrens besteht in der Organisation eines sehr breiten Forums inklusive wirtschaftlicher Akteure, die für die lokale Entwicklung von zentraler Bedeutung sind, aber in der Regel aus den Bürgerhaushalten ausgeschlossen bleiben. Des Weiteren verfügen die Teilnehmer in diesem Idealtyp über eine eigene Entscheidungskompetenz und die Diskussionen sind von guter bis hoher deliberativer Qualität. Es ist sinnvoll, dieses Verfahren immer dann einzusetzen, wenn den lokalen Entscheidungsträgern nur geringe Mittel zur Verfügung stehen oder ihr Handlungsspielraum eingeengt ist. Problematisch ist die Tatsache, dass die Bürger nur über einen begrenzten Einfluss auf die Funktionsweise des Verfahrens verfügen, während den Fondsgebern besondere Beachtung geschenkt wird. Die Partizipation ist daher eher ein im Dienste anderer Ziele stehendes Mittel als ein Ziel an sich. Darüber hinaus handelt es sich bei Bürgerhaushalten dieses Typs in der Regel um isolierte Verfahren und es ist schwierig, sie auf eine gesicherte rechtliche Grundlage zu stellen. Des Weiteren stehen sie in nur schwacher Verbindung zur kommunalen Politik und Verwaltung und stellen daher fast so etwas wie eine Parallelstruktur dar. Die Herausforderungen, denen sich dieses Verfahren gegenüber sieht, sind die Stärkung des öffentlichen Sektors wie auch der Zivilgesellschaft, die Integration von zentralen Themen der Stadtpolitik (anstelle kleiner Projekte auf mikro-lokaler Ebene), und die Verbindung und gegenseitige Stärkung vom privat-/öffentlichen Verhandlungstisch, politischer Partizipation und Verwaltungsmodernisierung. Die Tatsache, dass die finanziellen Mittel zum Teil von privaten Geldgebern kommen, macht den privat-/öffentlichen Verhandlungstisch zu einer besonderen Spielart eines Bürgerhaushalts, der sich nach der oben aufgestellten Definition eigentlich aus öffentlichen Mitteln speisen sollte. Von einem Bürgerhaushalt kann man, zumindest in der hier verfolgten vergleichenden Perspektive, bei diesem Fall daher nur sprechen, wenn ein Großteil der Mittel aus den kommunalen Finanzen stammt und wenn der Verhandlungstisch als partizipatives Forum und nicht als eine Kommission konzipiert ist, die die Vergabe privater Spenden zur Aufgabe hat. Der ‚privat-/öffentliche‘ Verhandlungstisch sieht die Hierarchisierung und Entscheidung über konkrete, von den Bürgern vorgeschlagene Projekte vor und kommt dem Modell von Porto Alegre in dieser Hin-
I/3.4 Privat-/öffentlicher Verhandlungstisch
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sicht deutlich näher als das Verfahren der ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘. Auch aus diesem Grund wäre es kaum zu rechtfertigen, ersteres aus dem Kreis der Bürgerhaushalte auszuschließen, das zweite aber als solchen zu bezeichnen. Die polnische Stadt Płock ist eines der wenigen europäischen Beispiele eines Bürgerhaushalts, der sich diesem Idealtyp nähert.
Płock Die Stadt Płock (130.000 Einwohner), stellt trotz ihrer hohen Arbeitslosenquote das größte polnische Zentrum der Erdölindustrie dar; im landesweiten Vergleich belegt es bezüglich des Einkommens pro Einwohner den zweiten Platz. Im Jahr 2004 hatte die Stadt einen Bürgermeister, der der MitteRechts-Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) angehörte, während die linken Parteien (Bund der demokratischen Linken, Arbeitsunion) die Mehrheit der Sitze im Stadtrat hatten. Die Stadt hat von einer Lokalen Agenda 21 bis hin zu Quartiersbeiräten eine Reihe partizipativer Verfahren eingeführt. Der Bürgerhaushalt der Stadt wird nicht offiziell als solcher bezeichnet, da dieser Begriff den meisten lokalen Akteuren unbekannt ist. Er wurde im Jahr 2002 durch das ‚Forum Płock‘ ins Leben gerufen und wurde als ‚Subventionsfonds für Płock‘ bezeichnet. Als Projekt im Rahmen des United Nations Development Programme (UNDP) basiert er auf einem Public Private Partnership, an der die folgenden Akteure beteiligt sind: die Stadtverwaltung (die den entscheidenden Anstoß für den Prozess gegeben hat), Vertreter lokaler Nichtregierungsorganisationen, PKN Orlen (der größte polnische Erdölkonzern, der seinen Sitz in Płock hat und dessen Führungsebene kurz zuvor, in der Folge eines Korruptionsskandals, ausgetauscht wurde) und, wenn auch nur in geringerem Umfang, andere große Wirtschaftsunternehmen. Im Jahr 2003 hat die erste Sitzung stattgefunden; seither werden die Treffen jährlich abgehalten. Der Fonds, aus dem verschiedenste Projekte finanziert werden, besteht jährlich aus ca. 250.000 bis 380.000 Euro, die je zur Hälfte aus Mitteln der Stadt und der Unternehmen stammen. Vorschläge für Projekte können alle Nichtregierungsorganisationen einreichen, deren Hauptsitz sich in Płock befindet. Um zur Teilnahme an dem Verfahren zugelassen zu werden, müssen die NROs nachweisen, dass sie einen ausgeglichenen Haushalt haben, Fördermittel auf transparente Weise einwerben und dass sie sich für die lokale Zivilgesellschaft engagieren. Die Evaluation der Anfragen wird nach deren Zuordnung zu den sechs von den Partnern festgelegten Themenbereichen (Bildung, Wirtschaft, Schutz des kul-
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I/3 Verschiedenheit der Verfahren
turellen Erbes, Umwelt, Lebensqualität und Architektur) anhand klarer Regeln durchgeführt. Eine Jury aus prominenten Bürgern, Experten und Vertretern der verschiedenen Geldgeber trifft die Entscheidungen. Jedes Einzelprojekt kann mit bis zu 10.000 US-Dollar gefördert werden. Es muss jeweils von der NRO durchgeführt werden, die den Vorschlag eingereicht hat. Das äußerst erfolgreiche Programm wurde im Jahr 2006 in eine selbstverwaltete Stiftung umgewandelt, deren Anfangskapital sich je zur Hälfte aus öffentlichen und privaten Geldern zusammensetzen sollte. Damit bestünde auch für kleine Bürgergruppen ohne formalen Status (z.B. Gymnasiasten) die Möglichkeit, eine Mikro-Subvention von bis zu 1.000 Euro zu erhalten. Płock gilt in Polen als ein Beispiel von best practice und hat bereits erste Nachahmer gefunden. Allerdings hat ein neues Gesetz verboten, dass Kommunen diese Stiftungen direkt finanzieren, weshalb die Zukunft des Verfahrens unsicher ist.
5.
Gemeinwesenfonds auf Quartiers- und Stadtebene
Der fünfte verfahrensbezogene Idealtyp der europäischen Bürgerhaushalte entstammt dem community development, wobei dessen im Quartier basierte Logik auf die Ebene der Stadt übertragen wird. Wie bei dem Idealtyp der bürgernahen Partizipation hat sich dieser Ebenenwechsel unter dem Einfluss des Beispiels Porto Alegre vollzogen. Der Bürgerhaushalt in Form des community development beruht auf der Existenz eines Gemeinwesenfonds. In Europa sind derartige Fonds in erster Linie in Großbritannien verbreitet, finden sich darüber hinaus aber auch in zahlreichen Ländern der südlichen Hemisphäre. Die zu verteilenden Fonds werden von der Stadt oder auch im Rahmen nationaler Programme zur Verfügung gestellt. Lokale Vereine bzw. community-Gruppen entwickeln Anträge für die Finanzierung eines Projekts, worüber ein Rat von communityVertretern, der auf gesamt-städtischer Ebene tagt, entscheidet. Die lokalen community-Gruppen setzen die von ihnen vorgeschlagenen Projekte, so sie ausgewählt werden, selbst um. Ein Vorteil dieses Verfahrens ist darin zu sehen, dass es auf die Stärkung des Netzes von zivilgesellschaftlichen Vereinen abzielt. Dies gilt insbesondere für benachteiligte Wohnviertel, wo es langfristig zu einem empowerment von Mitgliedern unterer sozialer Schichten führen soll. Dieser Idealtyp beinhaltet eine Übertragung von Entscheidungskompetenzen, er ist in den Stadtteilen verwurzelt und gewährleistet in der Regel eine gute deliberative Qualität. Auf der anderen Seite bietet er einzelnen aktiven Bürgern wenig Handlungsmöglichkeiten, denn nur (in Gruppen oder Vereinen) organisierte Bürger können an diesem
I/3.5 Gemeinwesenfonds auf Quartiers- und Stadtebene
95
Beteiligungsprozess teilnehmen. Hinzu kommt, dass dieses Verfahren tendenziell die Schaffung von Strukturen fördert, die parallel zum kommunalen politischen System und seiner Verwaltung funktionieren. Dadurch kann es auch in Kontexten funktionieren, die durch einen schwachen Staat und eine marktfreundliche Politik charakterisiert sind. Die Herausforderungen an dieses Verfahren sind die Verknüpfung von Partizipation und Modernisierung, eine bessere Verbindung mit dem lokalen politisch-institutionellen System und die Integration von Themen, die über die mikro-lokale Ebene des Stadtteils hinausgehen. In Europa stellt die britische Stadt Bradford ein Beispiel eines Bürgerhaushalts dar, das dem Idealtyp der ‚Gemeinwesenfonds auf Quartiers- und Stadtebene‘ mit am nächsten kommt. Die ungefähr 474.000 Einwohner zählende Stadt ist im westlichen Yorkshire gelegen.
Bradford Seit etwa zehn Jahren ist das politische Leben von Bradford von Instabilität gekennzeichnet, was sich in erster Linie in dem ständigen Machtwechsel zwischen verschiedenen Koalitionen zeigt. In den Jahren 2004/05 (ebenso wie 2007/08) verfügte keine politische Kraft über eine klare Mehrheit im Stadtrat, obgleich die Exekutive, bestehend aus sechs Beigeordneten, konservativ dominiert war. Die jüngste Geschichte der Stadt ist geprägt vom Aufstieg der extremen Rechten, von sozialen Spannungen sowie interethnischer Gewalt zwischen der weißen Mehrheit und einer pakistanischen Minderheit. Im Rahmen der ‚Strategischen Lokalen Partnerschaft‘ (genannt Bradford Vision), an der neben politischen Vertretern auch Unternehmen und Akteure aus dem community- wie auch dem Freiwilligen-Sektor beteiligt sind, gibt es eine Arbeitsgruppe, die sich mit sozialer Stadtentwicklung beschäftigt. Sie ist insbesondere verantwortlich für die Verteilung der Mittel, die im Rahmen des von der Regierung Blair initiierten nationalen Stadtentwicklungsprogramms Neighbourhood Renewal (das britische Vorbild zum Programm ‚Soziale Stadt‘ in Deutschland) zur Verfügung gestellt werden, um die soziale, wirtschaftliche und politische Entwicklung in benachteiligten Wohnvierteln zu fördern. Im Jahr 2004 entschied diese Gruppe, einen Bürgerhaushalt einzurichten, wobei sie sich dabei sowohl auf die Erfahrungen mit mikro-lokalen Gemeinwesenfonds in benachteiligten Wohnvierteln stützte, als auch auf das Modell Porto Alegre. 700.000 Pfund (rund 884.000 Euro, 2008) aus dem Programm Neighbourhood Renewal standen im Jahr 2004 für den Bürgerhaushalt zur Verfügung. Projektvorschläge für Projekte in einer
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I/3 Verschiedenheit der Verfahren
Größenordnung von 1.000 bis 10.000 £ (rund 1.260 und 12.600 Euro) konnten von lokalen community-Gruppen eingereicht werden. Gefördert wurden nur diejenigen Anträge, die sich an den thematischen Schwerpunkten des Neighbourhood Renewal orientierten, und die zunächst in den Stadtteilen diskutiert wurden. Die Auswahl der Projekte fand an zwei Tagen des Jahres statt, jeweils zu Beginn und Ende des Jahres. Diese zwei Veanstaltungen wurden von Bradford Vision organisiert. Jeder dieser Tage bestand aus zwei Sitzungen (vormittags und nachmittags), während derer jeweils über die Hälfte der Mittel entschieden wurde. Vormittags wie nachmittags stellten rund 30 Antragsteller nach und nach den anderen Teilnehmern ihr Projekt mündlich vor (lediglich die ausgewählten Antragsteller aus den lokalen community-Gruppen waren anwesend, bei starker Präsenz von Migranten-Gruppen). Die Teilnehmer mussten unter Verwendung der Noten 1-10 die vorgestellten Projekte bewerten (mit Ausnahme ihres eigenen). Nach zehn Präsentationen wurden die Bewertungsbögen eingesammelt, in den Computer eingegeben und die Ergebnisse auf eine Leinwand projiziert. Am Ende einer jeden Sitzung erhielten die Projekte, die nicht ausgewählt wurden, eine zweite Chance. So konnten die erfolgreichen Teilnehmer von der ihnen zugesprochenen Summe einen kleinen Teil für diejenigen zurückgeben, deren Projekt nicht die notwendige Stimmenzahl erhalten hatte. Auf diese Weise haben 60 bis 70% der zunächst erfolglosen Gruppen eine Förderung in einer durchschnittlichen Höhe von rund 310 bis 380 Euro erhalten. Die weitere Zukunft dieser ‚Bürgerhaushaltevents‘ ist nicht gesichert. Zwar wurde bis zum Jahr 2009 insgesamt sieben derartiger Verfahren in Bradford organisiert, aber da sie nicht institutionalisiert sind muss jede Durchführung neu entschieden werden. Darüber hinaus gibt es zunehmend Konflikte zwischen der ‚Strategischen Lokalen Partnerschaft‘ und dem Rat, was sich auch negativ auf den Bürgerhaushalt auswirken könnte.
6.
Partizipation organisierter Interessen
Wenn der letzte verfahrensbezogene Idealtyp der Bürgerhaushalte, ‚Partizipation organisierter Interessen‘, mit dem ‚privat-/öffentlichen Verhandlungstisch‘ eine Reihe von Merkmalen teilt (insbesondere die große Zahl beteiligter stakeholder, also der Teilnehmer und betroffenen Gruppen), so unterscheidet er sich von diesem dadurch, dass die staatlichen (kommunalen) Institutionen eine zentrale Rolle spielen und es nicht in erster Linie darum geht, private Unternehmen
I/3.6 Partizipation organisierter Interessen
97
zur finanziellen Förderung von Beteiligungsprojekten zu gewinnen. In diesem Verfahren suchen sich Vertreter der lokalen Regierung Gesprächspartner aus, mit denen sie über die öffentlichen Finanzen diskutieren. Dabei handelt es sich z.B. um Vertreter von Vereinen, Gewerkschaften, lokalen Einrichtungen (wie Schulen oder Universitäten), Arbeitgeberverbänden oder sozialen Gruppen (Jugendliche, ältere Menschen, Migranten). Die Ursprünge dieses Verfahrens gehen zum einen zurück auf neokorporatistische Strukturen, die es seit längerer Zeit auf lokaler Ebene gibt (häufig in Verbindung mit Beiräten, die zu bestimmten Themen arbeiten), zum anderen auf sehr viel jüngere Beteiligungsinstrumente wie der Agenda 21 oder partizipativen Strategieplänen.32 In den Ländern der Südhalbkugel haben zudem internationale Organisationen dazu beigetragen, Strukturen für die Partizipation organisierter Interessen zu schaffen. Die Weiterentwicklung derartiger Formen zu einem Bürgerhaushalt ist nicht nur auf den Einfluss von Porto Alegre zurückzuführen, sondern auch auf den wachsenden Stellenwert von finanziellen Fragen im Rahmen von öffentlichen Beteiligungsprozessen. Ziel dieser auf Stadtebene (und unter Umständen auch in den Wohnvierteln) durchgeführten Verfahren ist es, die jeweiligen Bedürfnisse der verschiedenen Akteure zu erfassen und die allgemeinen Leitlinien für die lokale Politik zu diskutieren. Die Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft unterscheidet sich sehr stark von Fall zu Fall, ebenso wie der ihr zugestandene Einflussbereich, der von einem beratenden Status bis hin zu tatsächlicher Entscheidungsbefugnis gehen kann. Die Verfahrensregeln werden von der lokalen Regierung entwickelt, sind aber mitunter recht informell. Die Stärke dieses Verfahrens liegt darin, dass es wenn nicht alle, so doch viele von einer bestimmten Sachfrage betroffenen Akteure und Akteursgruppen einbezieht und dadurch einen breiten sozialen Konsens ermöglicht. Seine Schwäche ist hingegen, dass es sich auf die organisierte Interessenvertretung beschränkt und die Partizipation einzelner Bürger erschwert. Dies birgt darüber hinaus das Risiko, dass neu entstehende Gruppen nicht oder deutlich weniger berücksichtigt werden als etablierte Organisationen, selbst wenn diese an Repräsentativität eingebüßt haben. Die ‚Partizipation organisierter Interessen‘ sieht sich daher mit der Herausforderung konfrontiert, gegenüber den nicht teilnehmenden Akteuren eine gewisse Transparenz und responsiveness zu bewahren, schwach organisierten Einzelpersonen (z.B. Jugendlichen) die Beteiligung zu erleichtern und insgesamt die Beteiligung einzelner Bürger zu ermöglichen – dies umso mehr, als die Krise der repräsentativen Demokratie sich nicht mehr auf politische Organisationen beschränkt, sondern mittlerweile auch große so-
32
Dies sind Strategiepapiere zur Ausrichtung einzelner Politikfelder wie Wohnungsbau, Gesundheitsvorsorge oder Sportförderung, die zusammen mit Vertretern der Bürgerschaft erarbeitet werden.
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I/3 Verschiedenheit der Verfahren
ziale Organisationen wie Gewerkschaften betrifft. Weiterhin sollte bei diesem Idealtyp darauf geachtet werden, ein Bewusstsein für Konflikte zu entwickeln, die Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft zu wahren und die Partizipation auf die Realisierungsphase der ausgewählten Projekte auszuweiten. Bis heute gibt es kein europäisches Beispiel eines Bürgerhaushalts, das sich ausreichend an den Idealtyp der ‚Partizipation organisierter Interessen‘ anlehnt, um es hier präsentieren zu können. Auch wenn die Entwicklung in Madrid auf einen solchen Typ zusteuert, kann das Verfahren in der spanischen Hauptstadt nicht als Bürgerhaushalt im Sinne der obigen Definition bezeichnet werden (insbesondere bezüglich der Kriterien vier und fünf, Öffentlichkeit und accountability): Die Regeln, auf denen das Verfahren basiert, sind zu undurchsichtig, zudem gibt es keine ausreichende Rechenschaft über den Umgang mit den Vorschlägen aus der Bürgerschaft. Es gibt jedoch einige Städte (wie Albacete, siehe unten), die sich auf halbem Weg zwischen diesem Verfahrenstyp und ‚Porto Alegre in Europa‘ befinden. Es ist davon auszugehen, dass es in den kommenden Jahren mehr solcher Beispiele geben wird, so dass dieser Idealtyp auf der ‚konzeptuellen Karte‘ der Bürgerhaushalte in Europa notwendig ist. Die folgende Tabelle bietet einen zusammenfassenden Überblick über die sechs verfahrenstechnischen Idealtypen der europäischen Bürgerhaushalte:
Organisation der Veranstaltungen
Herkunft
- Standardisiertes Verfahren in Alter-Globalisierungsbewegung; von Forschern analysiert - Offene Versammlungen im Quartier, Delegierte auf Stadtebene - Zyklus der Partizipation
- Bruch mit bestehenden Traditionen der Bürgerbeteiligung
- Adaptation des Verfahrens aus POA
1. Porto Alegre in Europa
- Nicht notwendigerweise Zyklus der Partizipation
- Oft kein Zyklus der Partizipation
- Zyklus der Partizipation
- Nicht notwendigerweise Zyklus der Partizipation
- Geschlossene Versammlungen auf Stadtebene - Verschiedene Versammlungsformen auf Quartiersebene, Delegierte auf Stadtebene - Nicht notwendigerweise Zyklus der Partizipation - Geschlossene Versammlungen auf Stadtebene
- Offene Versammlungen auf Stadtebene
- Offene Versammlungen im Quartier und der Stadt
- Gewisse Standardisierung durch internationale Organisationen - Gewisse Standardisierung durch NROs
- Gewisse Standardisierung durch internationale Organisationen
- Verfahren des community development (z.B. Gemeinwesenfonds) und empowerment (im Rahmen urbaner Entwicklungsprogramme)
- Partizipative Variante des Public Private Partnerships
6. Partizipation organisierter Interessen - Neokorporative Verfahren auf lokaler Ebene; Agenda 21, partizipative strategische Planung; Partizipationsverfahren für lokale Vereine
5. Gemeinwesenfonds Quartier/Stadt
4. Öff. -Privater Verhandlungstisch
- Durch Stiftungen standardisiertes Verfahren
3. Konsultation öffentlicher Finanzen - Reformmodell der öffentlichen Verwaltung aus Christchurch (Neuseeland), partizipative Varianten des NPM, strategische Planung
- Gering standardisiertes Verfahren
- Quartiersräte, Quartiersfonds, bürgernahe Verwaltung - Ausdehnung auf gesamte Stadt
2. Bürgernahe Partizipation
Tabelle 1: Hauptmerkmale der idealtypischen Verfahren des Bürgerhaushalts in Europa
I/3.6 Partizipation organisierter Interessen 99
Wo?
Zivilgesellschaft (ZG)
- Echte Verfahrensautonomie der ZG,Entscheidungskompetenz Einfluss insbesondere in Spanien (Cordoba, Sevilla, zum Teil Albacete) und in Italien (Grottammare, Pieve Emmanuele)
- Hierarchisierung der Investitionen/ Projekte unter Berücksichtigung von Kriterien zur distributiven Gerechtigkeit, formalisiertes Verfahren - Mittlere oder gute deliberative Qualität - Insbesondere aktive Bürger (oder organisiert)
- Diskussion über Investitionen/ Projekte
- Diskussion über Themen einzelner Politikfelder und evtl. über spezifische Projekte - Gewisse Hierarchisierung innerhalb der allgemeinen politischen Orientierungen, nicht unbedingt formalisierte Regeln - Mittlere oder gute deliberative Qualität - Organisierte Bürger neben lokalen Institutionen und Arbeitgeberverbänden - Variable Verfahrensautonomie der ZG, variable Kompetenzen Einfluss in Spanien (Madrid, gewisser Einfluss auf Albacete, Cordoba, Sevilla oder Puente Genil)
- Diskussion über Projekte aus lokalen communities
- Hierarchisierung der Projekte, formalisierte Regeln
- Mittlere oder gute deliberative Qualität - Insbesondere organisierte Bürger
- Echte Verfahrensautonomie der ZG, Entscheidungskompetenz Sehr verbreitet in Großbritannien (Bradford, zum Teil Salford)
- Diskussion über konkrete Projekte, finanziert von öffentlich-privater Partnerschaft
- Hierarchisierung der Projekte, formalisierte Regeln
- Mittlere oder gute deliberative Qualität - Organisierte Bürger und private Firmen
- Geringe Verfahrensautonomie der ZG, Entscheidungskompetenz Einfluss in Polen (Płock)
- Keine Hierarchisierung der Dienstleistungen, mögliche Hierarchisierung der Prioritäten, eher informelle Regeln
- Schwache deliberative Qualität - Aktive oder ‚einfache‘ Bürger (Losverfahren)
- Geringe Verfahrensautonomie der ZG, konsultatives Verfahren Sehr verbreitet in Deutschland (Esslingen, Rheinstetten, Emsdetten, zum Teil BerlinLichtenberg)
- Schwache oder mittlere deliberative Qualität - Insbesondere aktive Bürger (oder organisiert)
- Geringe Verfahrensautonomie der ZG, konsultatives Verfahren Sehr verbreitet in Frankreich (Bobigny, Saint-Denis, zum Teil Pont-deClaix), in Portugal (Palmela) u. Belgien (Mons). Etwas Einfluss in Italien (Venezia, Roma)
- Diskussion über Investitionen auf mikro-lokaler Ebene oder über allg. Orientierungen der Stadtpolitik - Keine Hierarchisierung der Investitionen, informelle Regeln
- Diskussion über kommunalen Haushalt oder das allgemeine Dienstleistungsangebot
Deliberation
100 I/3 Verschiedenheit der Verfahren
Zusammenfassung: Eine ausgeprägte Verfahrenskreativität
Es muss hier ein weiteres Mal daran erinnert werden, dass die im Rahmen dieses Kapitels dargestellten Idealtypen lediglich, bildlich gesprochen, die Eckpunkte des Bereichs darstellen, innerhalb dessen sich die europäischen Bürgerhaushalte entwickeln (s. Sechseck mit Verfahrenstypen). Viele Beispiele werden unter großem Erfindungsgeist entwickelt, und in der Praxis lässt sich häufig die Kombination verschiedener Verfahren beobachten, was durch die Entstehung von politischen, zivilgesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Netzwerken zum Thema zusätzlich befördert wird. Der ‚assoziative Bürgerhaushalt‘ zum Beispiel, in dem sich in etwa das widerspiegelt, was Theoretiker der assoziativen Demokratie vor gut zehn Jahren angedacht haben [Cohen/Rogers, 1995], ließe sich zwischen den Idealtypen ‚Porto Alegre in Europa‘ und ‚Partizipation organisierter Interessen‘ einordnen. In etwas anderer Gestalt (zum Beispiel in Form der Selbstorganisation von indigenen Gemeinschaften) findet sich dieses Verfahren auch in Lateinamerika. In Spanien gibt es eine Vielzahl von Bürgerhaushalten, die auf diesem Mischverfahren basieren oder davon einige Elemente übernommen haben. Der Hauptunterschied zwischen dem assoziativen Bürgerhaushalt und dem im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul erfundenen Verfahren besteht darin, dass sich ersterer zuvorderst an die in lokalen Vereinen organisierten Bürger, und nicht an alle Interessierten, richtet. Auf der anderen Seite sieht auch der vereinsbasierte Verfahrenstyp eine starke Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft vor, funktioniert nach einem festgelegten partizipativen Zyklus und beinhaltet eine gewisse Entscheidungskompetenz für die Teilnehmer. Er unterscheidet sich vom Verfahren der ‚Partizipation organisierter Interessen‘ vor allem darin, dass ausschließlich die Zivilgesellschaft in den Prozess einbezogen wird, nicht aber Unternehmen und kommunale Institutionen, und dass es seitens der Lokalregierung keine Bestrebung zur Kooptierung der Teilnehmer gibt. Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Verfahrenstypen sind hingegen die geringe Bedeutung der individuellen Beteiligung und die Fokussierung auf die Ebene der Stadt. Die wesentlichen Stärken des assoziativen Bürgerhaushalts sind die Förderung der lokalen zivilgesellschaftlichen Gruppen und Organisationen, eine hohe deliberative Qualität aufgrund regelmäßig stattfindender Versammlungen und einer ausreichenden Information der Teilnehmer sowie die Übertragung von Ent-
102
Teil I Der Bürgerhaushalt in Europa
scheidungskompetenzen an die Teilnehmer. Seine Schwächen sind hingegen die mangelnde Öffentlichkeit der Debatten, die ungenügende Einbeziehung einzelner Bürger sowie die Tatsache, dass der assoziative Bürgerhaushalt mitunter parallel zu den bestehenden politisch-administrativen Institutionen funktioniert. Die Herausforderungen sind daher die Integration anderer Akteurstypen in das Verfahren, die Verknüpfung von Partizipation und Verwaltungsmodernisierung sowie die bessere Anbindung an die kommunalen Strukturen. Das Verfahren in der spanischen Stadt Albacete stellt das dem assoziativen Bürgerhaushalt am nächsten kommende Beispiel in Europa dar.
Der assoziative Bürgerhaushalt von Albacete Das Verfahren der Stadt Albacete (150.000 Einwohner, Region Castilla-La Mancha) repräsentiert sehr gut die Funktionsweise eines assoziativen Bürgerhaushalts. Die von einem sozialdemokratischen Bürgermeister regierte Stadt verfügt über ein starkes Netzwerk von Vereinen, das sich zudem durch große Offenheit und einen geringen Grad an Bürokratisierung auszeichnet. Damit hebt es sich von den verkrusteten Strukturen der Quartiersbeiräte ab, die den Rest des Landes prägen. Die Einrichtung des Bürgerhaushalts in Albacete (2002) geht sowohl auf den politischen Willen der Stadtverwaltung als auch auf die Mobilisierung der Vereine zurück. Der Bürgerhaushalt stellt eine Synthese dar zwischen einer lokalen, Ende der 90er Jahre begonnenen Bewegung für mehr Bürgerpartizipation und dem Vorbild Porto Alegre. Die Bewohner von Albacete können sich in den Stadtteilen in mehr als 20 soziokulturellen Zentren engagieren. Im Zentrum des Bürgerhaushalts steht der so genannte Rat des Bürgerhaushalts. Obwohl er sowohl materiell als auch finanziell von der Stadtverwaltung unterstützt wird, funktioniert er auf einer weitestgehend autonomen Struktur. Seine Aufgabe ist es, über Investitionsprojekte und die politische Ausrichtung der kommunalen Politik, u.a. in den Bereichen Bildung, Verkehr und Wohnungsbau, zu diskutieren. Vereine und Bürger können sich an diesem Prozess beteiligen, indem sie sich mit Vorschlägen an das Sekretariat des Bürgerhaushaltsrats wenden. Diese Beiträge werden im Rahmen einer öffentlichen Versammlung vorgestellt, wo allerdings nur Mitglieder von Vereinen und Initiativen stimmberechtigt sind. Es gibt kaum individuell teilnehmende Bürger in dem Prozess. Auf der Grundlage der gesammelten Vorschläge obliegt es dem Rat des Bürgerhaushalts eine Prioritätenliste zu erstellen, wobei er hierfür wie im brasilianischen Fall bestimmte Kriterien berücksichtigen muss. Die Projekte werden vier Bereichen zugeteilt (Bürger-
Zusammenfassung: Eine ausgeprägte Verfahrenskreativität
103
schaftliches Engagement, Sozialpolitik, Mobilität und städtische Infrastruktur), die wiederum in Unterkategorien gegliedert sind. Im Anschluss an diesen Auswahlvorgang verhandelt der Rat des Bürgerhaushalts mit der Stadtverwaltung über die von dieser zu leistenden Realisierung der ausgewählten Projekte und formuliert parallel hierzu Empfehlungen bezüglich der Ausrichtung bestimmter kommunaler Politikfelder. Der Rat des Bürgerhaushalts stellt ein ständiges Gremium dar. Er bereitet die Versammlungen vor und kann über alle im Verlauf des Prozesses aufkommenden Fragen diskutieren. Er setzt sich aus Delegierten zusammen, die von einer Vollversammlung der lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen für ein Jahr gewählt werden. Da jedem Themenbereich zwei oder drei Delegierte zustehen, müssen sich die in diesem Gebiet aktiven Vereine und Initiativen gemeinsam auf die Kandidaten einigen. Der Rat hält einmal wöchentlich eine Sitzung von ca. zwei Stunden ab und wird dabei logistisch von zwei Mitarbeitern der Stadtverwaltung unterstützt, die dem Delegiertengremium mit ihrem vollen Stundenumfang zur Verfügung stehen.
Zwischen den Idealtypen der ‚bürgernahen Partizipation‘ und der ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘ gibt es ein weiteres Mischverfahren, das sich durch die Verbindung von Quartiersfonds und stadtweiter Diskussionen über den kommunalen Haushalt auszeichnet. Dieses nur wenig standardisierte Verfahren, das in zahlreichen Städten verschiedener europäischer Länder anzutreffen ist, vereint in sich zwei unterschiedlichen Prinzipien: Zum einen geht es darum, den Bewohnern eine gewisse Entscheidungsmacht über kleine Projekte im Bereich des direkten Lebensumfelds zu verleihen und zum anderen, sie an der Diskussion über die strategische Ausrichtung der Kommunalpolitik zu beteiligen. Entstanden ist dieser Verfahrenstyp entweder durch die Ausdehnung eines ursprünglich in den Wohnvierteln lokalisierten Verfahrens auf die Ebene der Stadt, oder – vice versa – auf die Verankerung eines stadtweiten Prozesses in den Quartieren. Seine Stärken bestehen darin, dass eine recht breite Beteiligung in den Quartieren möglich ist, die Bewohner zu Mitentscheidern über mikro-lokale Projekte werden und auf Quartiers- und Stadtebene Diskussionen von guter Qualität stattfinden können, die sowohl Einzelinteressen als auch Fragen von allgemeiner Relevanz betreffen. Die größte Schwäche dieses Typs liegt jedoch in der oftmals mangelnden Verbindung zwischen der Ebene der Quartiere und der Gesamtstadt. Die wichtigsten Herausforderungen bestehen daher darin, diese beiden Ebenen besser miteinander zu verbinden und dadurch auch die Modernisierung der Verwaltung weiter voranzutreiben.
104
Teil I Der Bürgerhaushalt in Europa
Die Funktionsweise dieses Typs lässt sich gut am Beispiel der Kleinstadt Pont-de-Claix veranschaulichen.
Pont-de-Claix Die französische Kleinstadt Pont-de-Claix (12.000 Einwohner), die bis 2008 von einer kommunistischen Bürgermeisterin an der Spitze einer Koalition linker Parteien regiert wurde, verdeutlicht sehr gut die Verbindung der Verfahrenstypen ‚Bürgernähe‘ und ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘. In dieser Stadt, einem Vorort von Grenoble, beruht der Bürgerhaushalt auf zwei Ebenen. Auf der Quartiersebene versammeln sich alle interessierten Bürger dreimal pro Jahr. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben ist die Verteilung eines Fonds (16.000 Euro pro Quartier), der von der Kommune zur Verfügung gestellt wird und zur Realisierung kleiner Projekte im Stadtteil dient. Auf gesamtstädtischer Ebene trifft sich ein konsultativer Haushaltsrat (50 Mitglieder) mehrere Male pro Jahr. Er besteht aus Bürgern, die per Zufallsverfahren bestimmt wurden (inklusive einer Quoten-Regelung für junge Erwachsende bis 25 Jahre), und aus zwei Vertretern eines jeden Stadtviertels. Die Mitglieder des Haushaltrates, deren Mandat auf ein Jahr (mit einer möglichen Verlängerung von einem weiteren Jahr) begrenzt ist, können bei der Stadtverwaltung Informationen und Dokumente erfragen. Am Ende verschiedener Haushalt-Ateliers, die jeweils zu konkreten Themen organisiert werden, übergibt der Haushaltsrat des Bürgerhaushalts dem Gemeinderat einen Bericht, der im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung diskutiert wird. Auch wenn beide Ebenen (Quartier und Stadt) nur sehr lose miteinander verbunden sind, beinhaltet jede einen Partizipationszyklus, der sich über das Jahr erstreckt und aus einer Reihe von Versammlungen besteht.
Ein weiterer interessanter Fall der Hybridisierung verschiedener Einflüsse ist die Anwendung des Bürgerhaushalts im Rahmen städtischer Einrichtungen, so dass die Bürger in der Rolle von Kunden teilnehmen. Prozesse der Bürgerpartizipation werden häufig dafür kritisiert, dass die grundlegenden Probleme wie z.B. im Bereich des Wohnungsbaus nicht thematisiert werden. In der öffentlichen Anstalt für sozialen Wohnungsbau der Stadt Poitiers (Frankreich) hingegen ist man einen ersten Schritt in diese Richtung gegangen. Es handelt sich um eine originelle Form des Bürgerhaushalts, von dem eine ähnliche Variante z.B. auch in der kanadischen Stadt Toronto existiert (bis heute sicher eins der interessantesten Verfahren dieses Typs auf internationaler Ebene).
Zusammenfassung: Eine ausgeprägte Verfahrenskreativität
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Der Bürgerhaushalt der öffentlichen Anstalt für sozialen Wohnungsbau in Poitiers Poitiers (87.000 Einwohner) ist die Hauptstadt der Region Poitou-Charentes. Sie wird von einem sozialdemokratischen Bürgermeister regiert, der einer Linkskoalition vorsteht. Seit 2002 gibt es einen Bürgerhaushalt, der auf Anregung des für Wohnungsbau zuständigen Beigeordneten eingerichtet wurde. Dieser Beigeordnete ist gleichzeitig der Präsident der öffentlichen Anstalt für sozialen Wohnungsbau (OPARC, Office Public Aménagement et de Construction), das etwa 8.000 der insgesamt 14.000 Sozialwohnungen der Stadt verwaltet. Mit der Beteiligung der Mieter an der Vergabe der Mittel für Reparaturarbeiten erhofft sich die Direktion einen besseren Kontakt zu den Mietern, indem erstere die Funktionsweise der Anstalt erklärt und die Entscheidungen stärker an den Bedürfnissen der Mieter orientiert. Darüber hinaus soll damit erreicht werden, dass die Mieter mehr Verantwortung übernehmen und der Verfall der Einrichtungen vermieden wird. Der Jahresetat dieser Einrichtung (38 Millionen Euro) wird von seinem Verwaltungsrat abgestimmt, unter dessen 21 Mitgliedern drei Vertreter von Mietervereinigungen sind.33 Zusätzlich zu den ca. 10% des Budgets, die für Arbeiten am Baubestand reserviert sind, muss die Anstalt für sozialen Wohnungsbau eine Reihe von Pflichtarbeiten durchführen, worüber die Mieter informiert werden. Darüber hinaus hat sich jedoch die Geschäftsführung bewusst entschieden, die Mieter über kleinere Investitionsprojekte mitentscheiden zu lassen. Das Gesamtbudget für derartige Maßnahmen beträgt 3,8 Mio. Euro, die Mieter selbst können auf die Verwendung von 668.000 Euro (17,6%) Einfluss nehmen. Dies geschieht mittels von Beiräten, die jeweils zur Hälfte von Mietern und Mitarbeitern der Anstalt für sozialen Wohnungsbau besetzt sind. Auf der untersten Ebene gibt es fünf Gebietsbeiräte, die sich auf die verschiedenen Wohnanlagen im Stadtgebiet verteilen. Sie unternehmen Ortsbegehungen und erstellen eine Liste mit den in ihrem Bereich am dringendsten vorzunehmenden Arbeiten. Eine Entscheidung über die letztlich durchzuführenden Maßnahmen wird schließlich vom gesamtstädtischen Mieterbeirat getroffen. In diesem Prozess übernehmen die Mietervereine eine aktive Rolle. Sie bereiten in der Regel die Treffen in den Wohnanlagen vor, indem sie das ganze Jahr über Anregungen sammeln bzw. zu diesem Zweck eigene Veranstaltungen organisieren.
33
Diese Regelung ist im Gesetz SRU vorgesehen (SRU – loi relative à la solidarité et au renouvellement urbains – dt.: Gesetz über städtische Solidarität und Erneuerung).
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Teil I Der Bürgerhaushalt in Europa
Insgesamt hat das Modellverfahren zu einer verstärkten Mobilisierung der Mieter geführt, die nicht nur besser informiert sind, sondern auch zahlreicher und aktiver partizipieren. Daneben kann man auch feststellen, dass einige dieser Mieter häufiger an den Quartiersbeiräten von Poitiers teilnehmen. Die Geschäftsführung der öffentlichen Anstalt für sozialen Wohnungsbau schließt die Einführung weiterer partizipativer Verfahren nicht aus, will dies aber nur in Übereinstimmung mit den Mieterinitiativen tun, um deren Arbeit und Repräsentativität nicht in Abrede zu stellen. Innerhalb des OPARC hat das Verfahren, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, zur Herausbildung einer neuen Arbeitsorganisation geführt und ihre Legitimität in Fragen der technischen Expertise unter der Mieterschaft erhöht.
*** Am Ende dieses ersten Teils besteht kein Zweifel daran, dass es angesichts der offensichtlichen Verschiedenheit der Idealtypen keine einfache Erklärung für die Entstehung der europäischen Bürgerhaushalte geben kann. Durch diese Verfahrensdiversität wird das bereits gezeichnete Bild der verschiedenen institutionellen und sozioökonomischen Kontexte auf dem alten Kontinent noch komplizierter. So ist z.B. deutlich geworden, dass die Ebene der Beteiligung unterschiedlich sein kann: Häufig ist das Verfahren hauptsächlich im Bereich der Wohnviertel lokalisiert, manchmal ist es aber auch die gesamtstädtische Ebene, die entscheidend ist. In den meisten Fällen sind konkrete Projekte, insbesondere Investitionen, Gegenstand der Diskussionen, doch in manchen Verfahren geht es auch um ganz andere Bereiche. Sehr unterschiedlich ist auch die Art und Weise, wie ausgehend von den kleinteiligen Fragen der Bürgernähe Rückschlüsse auf die gesamtstädtische Ebene gezogen werden. Die in dieser Hinsicht ungünstigsten Verfahren sind die, in denen die Diskussionen von Beginn an allgemeine Fragen betreffen (‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘) sowie diejenigen, bei denen es fast ausschließlich um mikro-lokale Themen geht (‚bürgernahe Partizipation‘). In den vier anderen Idealtypen sorgt hingegen die Hierarchisierung konkreter Projekte dafür, dass die Diskussion über den Bereich des Mikro-lokalen hinausgehen kann, sich dabei aber gleichzeitig auf diesen stützt. Weitere Unterschiede innerhalb der europäischen Bürgerhaushalte gibt es bezüglich der Bürger-Typen, an die sich die Verfahren richten. Während die Beteiligung aller Bürger in Form von Referenden in den untersuchten Beispielen gar nicht vorkommt, ist die Ansprache bestimmter Bevölkerungsgruppen (wie z.B. bei Jugend- oder Seniorenbeiräten) äußerst selten. In der Regel geht es in erster Linie um die Partizipation freiwilliger Bürger, wobei es hierbei zwei
Zusammenfassung: Eine ausgeprägte Verfahrenskreativität
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Prinzipien zu unterscheiden gilt: Entweder haben Vereine und Initiativen in dem Verfahren eine hervorgehobene Stellung, oder aber sie werden nur marginal beteiligt und stattdessen z.B. einfache, per Losverfahren bestimmte Bürger integriert. Unternehmen sind im Großteil der idealtypischen Verfahren nicht aktive Teilnehmer, auch wenn sie häufig in beträchtlichem Maß die Entwicklung der betroffenen kommunalen Gebiete beeinflussen. Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht zwischen den Verfahren, die der Zivilgesellschaft offiziell Einfluss zugestehen (Übertragung von Entscheidungskompetenzen, Verfahrensautonomie und klare Regeln, die die Zivilgesellschaft mit entwickeln kann) und jenen, die für die Bürger nur eine rein konsultative Rolle vorsehen. Im zweiten Fall wird die klassische Arbeitsteilung zwischen gewählten Vertretern und Bürgern aufrechterhalten. Weitere Unterschiede zwischen den Idealtypen betreffen die Berücksichtigung sozialer Aspekte (nur in einigen wenigen Fällen finden nach dem Vorbild von Porto Alegre Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit Anwendung) und die formale Verbindung zwischen Bürgerhaushalt und kommunalen Strukturen. Trotz dieser großen Vielfalt nimmt das Bild der Bürgerhaushalte in Europa, und darüber hinaus der politischen Systeme und der partizipativen Demokratie allgemein, allmählich schärfere Konturen an. Konkrete Verfahren können nun auf der ‚konzeptuellen Karte‘ platziert werden, einige Vergleichskategorien sind deutlich geworden und erste Erklärungen für die Entstehung und Verbreitung der Bürgerhaushalte in über 100 europäischen Städten wurden geliefert. Bevor dieser globale Überblick über die Entwicklungen und Auswirkungen der europäischen Bürgerhaushalte sowie deren Entstehung präzisiert und die Untersuchung auf die partizipative Demokratie allgemein ausgeweitet wird, müssen jedoch zunächst die einzelnen Verfahrensbeispiele in den jeweiligen Ländern untersucht werden. Im Folgenden, zweiten Teil dieser Arbeit besteht daher das Ziel darin, das bis jetzt erarbeitete Erklärungsgerüst mit konkreten Fallanalysen zu füllen. Erst im dritten Teil der Arbeit wird es dann möglich sein, eine Gesamtsynthese bezüglich des Bürgerhaushalts und der partizipativen Demokratie in Europa zu leisten.
Teil II
„Zwei, drei… viele Porto Alegre“?
„Wie anders könnten wir in die nahe leuchtende Zukunft blicken, würden zwei, drei, viele Vietnam auf dem Erdball erblühen, mit ihren Todesquoten und ihren gewaltigen Tragödien, mit ihrem alltäglichen Heroismus, mit ihren erprobten Schlägen gegen den Imperialismus, der gezwungen wäre, seine Kräfte aufzubrauchen angesichts der Stürme wachsenden Hasses der Völker der Welt! Daher der Rat: Schafft zwei, drei, viele Vietnam!“ [Ernesto Che Guevara, 1977]
Vor einigen Jahrzehnten rief Ernesto Che Guevara dazu auf, „zwei, drei, viele Vietnam“ zu schaffen. Die Losung war sehr treffend: Der leidenschaftliche Widerstand eines kleinen Landes gegen die Weltmacht USA war das Symbol einer radikalen internationalen Bewegung und verwies auch auf Kuba, das andere antiimperialistische Beispiel. Der Aufruf zur Vervielfachung derartiger Erfahrungen zielte darauf, eine internationale Bewegung zu schaffen, die von diesen exemplarischen Modellen lernen sollte. Fast überall auf der Welt nährten diese Beispiele die Hoffnung auf den Beginn einer neuen, gerechteren Welt. Sind wir, mutatis mutandis, heute vielleicht Zeuge einer ähnlichen Entwicklung? Die globalisierungskritische Bewegung bemüht sich um die Ausbreitung eines partizipativen Modells, das in ihrer ‚Hauptstadt‘ Porto Alegre erfunden wurde. Die Beteiligung der Bürger stand hier im Mittelpunkt eines umfassenden sozialen Transformationsprozesses, von dem insbesondere die ärmeren Bevölkerungsschichten profitiert haben. Porto Alegre scheint heute mehr als jeder andere Ort den Slogan „Eine andere Welt ist möglich!“ zu verkörpern. Kann diese Erfahrung in anderen Regionen der Welt wiederholt werden? Die Situation ist natürlich komplexer als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Kritik am militärischen Interventionismus der Vereinigten Staaten ist zwar immer noch aktuell, doch Vietnam ist seit langem ein idealisierter Mythos. Die Kehrseiten des ‚realen Sozialismus‘ sind bekannt, und das Gesellschaftsmodell, das sich eine Epoche auf ihre Fahnen geschrieben hatte, wirkt heute wie ein Trugbild. Vor diesem Hintergrund scheint der Bürgerhaushalt von Porto Alegre zum einen interessanter, weil hier der Abstand zwischen Diskurs und Realität geringer ist [Gret/Sintomer, 2002]. Zum anderen hat sich auch die Vision der „anderen Welt“ grundlegend geändert – auch, wenn sich heute manche Globalisierungskritiker in der antiimperialistischen Tradition der 1960er
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Teil II „Zwei, drei, … viele Porto Alegre?“
Jahre sehen. Der bewaffnete Kampf und seine Todesquoten sind diskreditiert. Es ist kein Zufall, dass die Charta von Porto Alegre, das Grundsatzdokument der globalisierungskritischen Bewegung, die Teilnahme von Guerilla-Organisationen am Weltsozialforum verbietet. Demokratische Verfahren, die in den Jahren um 1968 von einem Teil der ‚antiimperialistischen Bewegung‘ lauthals verschrien wurden, bilden heute den Grundpfeiler der Transformationsprojekte der radikalen Linken, wodurch sich zum Teil die hohe Aufmerksamkeit erklärt, die der Bürgerhaushalt genießt. Soziale Veränderungen werden heute nicht mehr in Form von bewaffneten Kämpfen gedacht (wie die Eroberung von Havanna durch die guerilleros), sondern durch eine Verbindung von autonomen, sozialen Bewegungen mit innovativen Verwaltungspraktiken: Der alltägliche Heroismus ist bescheidener geworden und hat nichts mehr mit den gewaltigen Tragödien zu tun, von denen Che Guevara einst sprach. Hinzu kommt, dass der Maßstab nicht der gleiche ist: Durch Fernsehen, Radio und Presse wusste damals jeder Bürger über die Ereignisse in Vietnam Bescheid. Dies ist unter keinen Umständen mit dem Bürgerhaushalt vergleichbar, der heute in Europa nur in begrenzten politischen und akademischen Kreisen bekannt ist. Ungeachtet der unterschiedlichen Herkunft und des anderen Verlaufs – bis zu welchem Punkt lässt sich der Vergleich zwischen der Entwicklung damals und heute ziehen? Wird der Bürgerhaushalt einen Platz in der ‚großen‘ Geschichte erhalten, anstatt nur die ‚kleine‘ lokale Geschichte einiger hundert Städte in Lateinamerika, Europa und dem Rest der Welt zu prägen? Wird der Bürgerhaushalt mehr als eine politische Mode bzw. eine zeitlich begrenzte Variante der Verwaltungsmodernisierung darstellen? Wird es zu einer bedeutenden Ausbreitung des Bürgerhaushalts kommen oder werden ihn viele Menschen zumindest als innovative Verwaltungspraxis kennenlernen? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es einer detaillierten Analyse der wichtigsten aktuellen Beispiele. Mittels dieser Betrachtung kommen wir möglicherweise auch der Beantwortung unserer eingangs gestellten Fragen näher: Wie erklärt sich das plötzliche Auftauchen der Bürgerhaushalte in Europa? Bis zu welchem Punkt besteht Übereinstimmung oder Divergenz zwischen den bestehenden Partizipationsformen? Welche Verfahren gibt es und welche Bedeutung haben sie? Inwiefern wird ihre Entwicklung von nationalen und lokalen Kontexten beeinflusst? Zur Präsentation der Ergebnisse unserer Untersuchung beginnen wir mit einer Vorstellung von Beispielen aus Deutschland und Finnland (Kap. 1). Hierzulande wird der Bürgerhaushalt vor allem als ein parteiunabhängiges Instrument im Dienst einer umfassenden Verwaltungsmodernisierung gesehen, wohingegen das Beispiel Porto Alegre erst relativ spät aufgetaucht ist. Nirgendwo sonst in Europa erhebt man so stark den Anspruch, Partizipation und Modernisierung miteinander zu verbinden. Das Vorbild hierfür hat die neuseeländische
Teil II „Zwei, drei, … viele Porto Alegre?“
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Stadt Christchurch geliefert, die ein best-practice-Beispiel im Rahmen des New Public Management ist. Ganz anders ist die Situation in Spanien und Italien, wo man versucht hat, das Verfahren von Porto Alegre an den europäischen Kontext anzupassen (Kap. 2). Auch in Frankreich gibt es eine ganz eigene Entwicklungslogik der Bürgerhaushalte, die vor allem vom Konzept der ‚bürgernahen Partizipation‘ beeinflusst ist (Kap. 3). Ähnlich ist die Situation in anderen europäischen Ländern, für die wir stellvertretend die Situation in Belgien, den Niederlanden und Portugal vorstellen (Kap. 4). Schließlich wenden wir uns dem Bürgerhaushalt mit Fokus auf die Beteiligung lokaler communities zu, wie er vor allem in Großbritannien und Polen praktiziert wird (Kap. 5).
Kapitel 1
Partizipative Modernisierung (Deutschland, Finnland)
Die finanzielle Situation der Kommunen hat sich in Deutschland ab den 1990er Jahren verschlechtert. Dies war zunächst in den alten Bundesländern zu spüren. Später, als die Förderprogramme der Nachwendezeit allmählich abgebaut wurden, kamen auch in Ostdeutschland Finanzprobleme zum Vorschein.34 Als Tiefpunkt der Krise können die Jahre 2003/2004 angesehen werden [Jungfer, 2005]. In dieser Zeit konnte man in den Medien Bilder sehen, auf denen Bürgermeister nur mit einer Badehose bekleidet und das Ortsschild ihrer Stadt hochhaltend dagegen demonstrierten, dass die Kommunalfinanzen ‚baden gehen‘. Die Initiatoren der ersten Bürgerhaushalte hatten somit allen Grund, den Schwerpunkt der Verfahren auf die Erklärung der Finanzsituation der Gemeinden zu legen.
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Deutschland: Die fetten Jahre sind vorbei
Ein weiterer Erklärungsfaktor für die Einführung des Bürgerhaushalts in Deutschland ist der Wandel des lokalen politischen Systems. Die Süddeutsche Ratsverfassung als Vorbild nehmend, wurde im Laufe der 1990er Jahre nahezu überall die Direktwahl des Bürgermeisters eingeführt und eine Erweiterung seiner Kompetenzen vorgenommen. War das Regierungssystem zuvor halb monistisch, halb dualistisch geprägt, entwickelte es sich nun zu einem moderaten Dualismus.35 Die Einrichtung von Bürgerbegehren, Bürgerentscheiden und weiteren Beteiligungsverfahren haben darüber hinaus zu dieser Entwicklung beigetragen [Wollmann, 1999].36 In den ostdeutschen Bundesländern wollte
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Die Ursachen liegen in einem strukturellen Problem: Für ihre - vor allem im sozialen Bereich - wachsenden Aufgaben erhalten die Kommunen vom Bund und von den Ländern keinen angemessenen Ausgleich. Halb monistisch, halb dualistisch meint, dass zwar der Bürgermeister vom Gemeinderat gewählt wird, er jedoch als Leiter der Verwaltung über starke, eigene Kompetenzen verfügt. Der moderate Dualismus hingegen geht zwar von einer Direktwahl des Bürgermeister aus, der Gemeinderat behält jedoch einen gewissen Einfluss, wie z.B. die Berufung der Beigeordneten. In vielen Bundesländern wurde die Gründung neuer Parteien und Wählergruppen durch die Abschaffung der Fünf- bzw. Dreiprozenthürde unterstützt, die zuvor für einen Einzug in die Gemeindevertretung zu überwinden war. Begleitend hierzu wurden so genannte Informations-
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man mit den neuen Partizipationsrechten einige Forderungen der Wendeproteste aufnehmen und kommunal eine direktdemokratische Beteiligung ermöglichen, wenn schon auf nationaler Ebene das strikt repräsentative System der alten BRD übernommen wurde. Aber auch im Westen gab es einen Reformbedarf in diesem Bereich. Seit Willy Brandts Initiative „Mehr Demokratie wagen“, die vor allem zu einer formalen Partizipation bei der Bauleitplanung geführt hatte, gab es lange Zeit keine weitere Ausweitung von Mitbestimmungsrechten. Roth zufolge kam Partizipation in der alten BRD daher vor allem durch den Protest sozialer Bewegungen zum Ausdruck [Roth, 1998]. Mit der Reform der Kommunalverfassungen sollten diesen Gruppen wie auch einzelnen Bürgern neue, formalisierte Mitwirkungsmöglichkeiten angeboten werden. Damit war die Belebung der lokalen Demokratie jedoch keineswegs zu Ende. Als angesichts sinkender Wahlbeteiligung und dem Erstarken extremistischer Parteien über Politikverdrossenheit diskutiert wurde, kam es in den 1990er Jahren zu einer Ausbreitung freiwilliger, dialogorientierter Verfahren. Ein erster Anknüpfungspunkt war die Lokale Agenda 21, deren Instrumente – Perspektivenwerkstätte, aktivierende Befragung, Bürgerpanel etc. – nach und nach auf weitere Felder der Kommunalpolitik übertragen wurden [Ley/Weitz, 2003]. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch eine Reform der Verwaltung und die Etablierung der Bürgerkommune als Leitbild lokaler Demokratie [Banner, 1999; Bogumil/Holtkamp/Schwarz, 2003; Plamper, 2000]. Mit ihrer im Grundgesetz garantierten Selbstverwaltung nehmen die deutschen Kommunen im europäischen Vergleich eine Mittelstellung ein, die zwischen der Autonomie romanischer und skandinavischer Kommunen eingeordnet werden kann. Neben einer Reihe von Pflichtaufgaben, wie die Auszahlung von Sozialhilfe, Abfallbeseitigung, Schulträgerschaft, Bauleitplanung etc., verfügen die deutschen Kommunen in den Bereichen Kultur, Sport, Wirtschaftsförderung etc. über eine vollständige Autonomie. Zur Reform der öffentlichen Verwaltung schlug die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt37) Anfang der 1990er Jahre ein „Neues Steuerungsmodell“ vor.38 In diesem an die Erfahrungen der niederländischen Stadt Tillburg anknüpfenden Konzept werden be-
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und Anhörungsrechte ausgebaut, zu denen u.a. das Recht auf Einsicht in Beschlussvorlagen, Einwohnerversammlungen und Einwohneranträge zählen. Die KGSt ist das Forschungs- und Beratungsinstitut des Deutschen Städtetages. Seine Analysen und empfohlenen Praktiken beeinflussen wie kein anderes Institut in Deutschland die kommunale Praxis. Die Entwicklung zum Neuen Steuerungsmodell wird anhand von vier KGSt-Berichten zu den Themen „Dezentrale Ressourcenverantwortung“ [Bericht 12/1991], „Fallbeispiel Tillburg“ [Bericht 19/1992], „Begründung, Konturen, Umsetzung des Neuen Steuerungsmodells“ [Bericht 5/1993] und „Budgetierung als ein neues Verfahren zur Steuerung kommunaler Haushalte“ [Bericht 6/1993] dargestellt.
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II/1 Partizipative Modernisierung
triebswirtschaftliche Kriterien auf die Verwaltung übertragen. Der öffentliche Sektor soll gestärkt und seine Wettbewerbsfähigkeit erhöht werden, weshalb dieses Modell auch als eine sozialdemokratische Variante des New Public Management bezeichnet werden kann (es hebt sich von einer neoliberalen, rein auf Minimierung öffentlicher Ausgaben setzenden Modernisierung ab).
Über 10 Jahre Verwaltungsmodernisierung in Deutschland Um die Wirkungen des Neuen Steuerungsmodells (NSM) zu messen, führte Jörg Bogumil [2006, 2007] in Kooperation mit verschiedenen Wissenschaftlern (Kuhlmann, Holtkamp, Kißler, Jann etc.) ein Forschungsprojekt „10 Jahre Neues Steuerungsmodell“ durch, das von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde. Die Autoren unterschieden einen auf die Binnenstruktur der Verwaltung ausgerichteten Kernbereich des NSM von einem Außenbereich, der sich auf Kundenorientierung und die Einführung von Wettbewerbselementen bezieht. Zur Erhebung der Daten wurde eine Befragung aller Kommunen über 20.000 Einwohner vorgenommen. Die Ergebnisse ergaben, dass 92,4% der deutschen Gemeinden in den letzten Jahren Reformmaßnahmen durchgeführt und sich dabei vor allem am NSM orientiert hatten. Allerdings hatte dabei nur eine Minderheit das Gesamtkonzept im Blickfeld, während die meisten Kommunen sich auf Einzelbereiche konzentrierten. An vorderer Stelle standen hierbei die Umstellung des Rechnungswesens (Budgetierung, Definition von Produkten, Kosten-Leistungsrechnung etc.) und die Personalentwicklung. Im Gegensatz dazu wurde ein Kontraktmanagement zwischen Politik und Verwaltung kaum umgesetzt. Im Außenbereich wurde am häufigsten die Kundenorientierung genannt, was vor allem auf die Einführung von Bürgerservicezentren zurückgeführt werden kann. Hinsichtlich einer Wettbewerbsorientierung stand vor allem der nicht-marktorientierte Wettbewerb (benchmarking, Vergleichsringe etc.) im Vordergrund. Die Wirkung dieser Maßnahmen wird höchst unterschiedlich eingeschätzt. Allgemein scheinen die Effizienzgewinne nicht sehr hoch zu sein. Eine deutliche Verbesserung wurde bei der Output-Qualität erreicht. Hierzu gehören eine bessere Kundenorientierung und eine Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Auch wird bescheinigt, dass Kostenbewusstsein und eigenverantwortliches Handeln der Mitarbeiter gestärkt wurden, obgleich es noch nicht zu einem umfassenden Kulturwandel gekommen sei. Insgesamt sehen die Autoren den Wandel zum neoweberianischen Staat weitaus kritischer als Bouckaert/Pollit [2004]. Sie bestätigen, dass es eine Mischung des alten Typs der Verwaltung mit Elementen des Modernisierers gibt. Aller-
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dings kritisieren sie, dass manche Kommunen ihre Reformen wieder zurücknehmen, es also auch eine Rückkehr des klassischen Modells mit ReZentralisierung und Re-Hierarchisierung gibt. Es fällt auf, dass Privatisierungen bei der Betrachtung der Modernisierung weitgehend ausgeblendet wurden. Den Autoren zufolge gibt es keinen derartigen Wettbewerb nach außen. Andere Studien hingegen kommen zu einem anderen Ergebnis. Killian/Richter/Trapp [2006] z.B. weisen darauf hin, dass in den Kernbereichen der Daseinsvorsorge umfangreiche Organisationsprivatisierungen stattgefunden haben, die in einer wachsenden Zahl die Beteiligung privater Akteure einschließen – bis hin zur vollständigen Übertragung von Aufgaben. Reichard zufolge hat sich dadurch die Rolle der Kommune grundlegend gewandelt: „Sie ist vom – oft monopolistischen – Produzenten der Dienstleistungen zum Initiator, Koordinator, Finanzierer und Kontrolleur dieser Dienstleistungen geworden und ist lediglich begrenzt noch selbst finanzierend tätig“ [Reichard 2007: 56]. Dieser Trend ist jedoch nicht ohne den Konkurrenzdruck zu verstehen, der auf die Liberalisierung der Wirtschaft und die Finanzkrise in Deutschland zurückzuführen ist. Eine nach außen gerichtete Wettbewerbsorientierung hat in Deutschland somit durchaus stattgefunden.
Die Bürgerkommune hat diesen Ansatz übernommen und erweitert. Die Bürger werden hier nicht nur als Kunden gesehen, sondern sie sollen als ehrenamtliche Mitarbeiter an der öffentlichen Dienstleistungsproduktion beteiligt werden. Diese Form des freiwilligen bürgerschaftlichen Engagements hat auch das Interesse der Bundesregierung geweckt, die zu diesem Thema im Jahr 2001 eine eigene Enquêtekommission einsetzte. Als Gegenleistung für die Mitarbeit der Bürger sieht die Bürgerkommune neue Mitsprachemöglichkeiten vor, womit sowohl an die formalen Partizipationsrechte der neuen Kommunalverfassungen als auch an die freiwilligen, dialogorientierten Partizipationsverfahren angeknüpft wird [Banner, 1998; Bogumil/Holtkamp/Schwarz, 2003; Plamper, 2000; Wimmer, 1999 etc.]. Einige Unterstützer der Bürgerkommune bezweifeln die potenziellen Vorteile eines Bürgerhaushalts. Angesichts der Finanzkrise sehen sie es zudem als fatal an, dem Bürger zu suggerieren, dass er Einfluss auf die kommunalen Finanzen nehmen könnte. Hierzu gebe es angesichts der knappen Kassen gar keinen Spielraum [Holtkamp, 2004]. Von diesen Kritikern wird allerdings übersehen, dass die Vorschläge aus einem Bürgerhaushalt in der Regel durch interne Budgetverschiebungen kostenneutral finanziert werden: Wer neue Medien für die Bibliotheken fordert, muss hinnehmen, dass an anderer Stelle gespart wird.
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II/1 Partizipative Modernisierung
Denn anders als in Brasilien geht es bei den deutschen Bürgerhaushalten nicht um eine Verteilung von Investitionen, sondern vielmehr um eine partizipative Evaluation öffentlicher Dienstleistungen. Im Zentrum der Diskussionen stehen Fragen, wie die Leistungen von Bibliotheken, Schwimmbädern, Kindergärten etc. bürgerfreundlicher und besser organisiert werden können. Der damalige Kämmerer und Erste Beigeordnete von Emsdetten Andreas Hoge39 hat dies einmal so ausgedrückt: „Wenn wir schon sparen müssen, dann sollen die Bürger wenigstens die Möglichkeit haben, Vorschläge zu machen und zu sagen, wo am ehesten und wo auf keinen Fall gekürzt werden soll.“ Der Bürgerhaushalt in Deutschland steht an erster Stelle für mehr Transparenz der öffentlichen Finanzen. Er beinhaltet in den meisten Fällen eine reine Konsultation der Bürger und keine Übertragung jedweder Entscheidungskompetenzen. Oftmals wird zur Legitimation der Bürgerbeteiligung und der öffentlichen Darstellung des Verfahrens das Leitbild der Bürgerkommune verwendet. Inzwischen ist der Bürgerhaushalt sogar zu einem der exponiertesten Instrumente dieses Konzepts geworden. Somit kann tatsächlich die Einführung dieses neuen Partizipationsinstruments mit der Krise der kommunalen Finanzen erklärt werden. Dies ist aber nicht der einzige Grund. Wie gezeigt wurde, ist der Bürgerhaushalt zudem Teil einer neuen Partizipationswelle, die mit der Reform der Kommunalverfassungen begonnen hat und mit der Ausdehnung freiwilliger Beteiligungsverfahren fortgesetzt wurde. Darüber hinaus hat sich eine weitere Strömung entwickelt, die eine Beteiligung von Bürgern erleichtert: Ende der 1990er Jahre lancierte die Rot-Grüne Bundesregierung ein umfangreiches städtebauliches Förderprojekt. Das Programm „Soziale Stadt“ [Difu, 2002, 2003] sollte vor allem benachteiligten Stadtquartieren zu Gute kommen und dort eine Kooperation zwischen öffentlichen, privaten und gesellschaftlichen Akteuren fördern. Gegen Ende der 1990er Jahre sind somit die Voraussetzungen gegeben, dass der Bürgerhaushalt in Deutschland sowohl eine modernisierungsbezogene als auch eine soziale Dimension nach dem Vorbild von Porto Alegre aufnehmen könnte.
2.
Konsultation öffentlicher Finanzen
Seit seinem Entstehen hat der Bürgerhaushalt in Deutschland zwei Etappen durchlaufen. Die erste beginnt mit einer kleinen Gemeinde im Schwarzwald und führt zu breit angelegten Pilotprojekten. In der zweiten geht es um eine Ausdifferenzierung der Verfahren, auch kommen neue Akteure ins Spiel. Die Zahl der
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Andreas Hoge ist inzwischen Bürgermeister in Steinfurt, einer Nachbargemeinde von Emsdetten, wo er ebenfalls einen Bürgerhaushalt initiiert hat.
II/1.2 Konsultation öffentlicher Finanzen
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Bürgerhaushalte in Deutschland, die den hier definierten Kriterien entsprechen, beträgt etwas mehr als zwanzig (2009). Rechnet man jedoch diejenigen Städte und Gemeinden hinzu, die sich um mehr Transparenz in Haushaltsfragen bemühen und zum Teil aufwendige Bürgerbefragungen durchführen, so kann von ca. 30 bis 50 Beispielen ausgegangen werden. Noch größer ist die Zahl der Vorträge und Veranstaltungen, auf denen über eine Bürgerbeteiligung am Haushalt diskutiert wird. Das Interesse spiegelt sich auch in der inzwischen umfangreichen Praxis-Literatur wider.40 Im Folgenden soll nun dargelegt werden, wie es zu dieser Verbreitung gekommen ist, wie die Verfahren konkret aussehen und welche Ergebnisse es bisher gab. 2.1 Ein couragierter Bürgermeister In einer Zwischenbilanz über die Umsetzung des Neuen Steuerungsmodells stellte Reichard [1997] fest, dass zwar Fortschritte bei der Binnenreform und bei der Wettbewerbsorientierung der Verwaltung zu verzeichnen sind, dem gegenüber sich jedoch die Bürgerorientierung der Kommunen wenig weiter entwickelt hat. Die Gründung des Netzwerkes „Kommunen der Zukunft“ (1998-2002) kann als eine Reaktion auf diese Analyse verstanden werden. Es wurde von der Bertelsmann Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung und der Kommunalen Gemeinschaftsstelle (KGSt) gemeinsam initiiert und hatte zum Ziel, mit interessierten Kommunen Werkzeuge für eine effiziente und bürgerfreundliche Verwaltung zu erarbeiten. Auf Initiative von Gerhard Banner, dem ehemaligen Vorsitzenden der KGSt, sollte sich das Bündnis auch mit dem Bürgerhaushalt beschäftigen.41 Der renommierte Kommunalberater hatte sich in der neuseeländischen Reformkommune Christchurch vom Bürgerhaushalt begeistern lassen. Banner zufolge wird die Verwaltung durch einen Bürgerhaushalt dazu gezwungen, den Haushaltsentwurf in eine vereinfachte Form zu bringen, die es ermöglicht, ihn mit der Bürgerschaft zu diskutieren. So hätten Bürger die Chance, die Kommunalpolitiker zu beeinflussen und Prioritäten zu verändern: „Bürger, die beteiligt werden, werden sich eher mit dem vom Rat beschlossenen Ergebnis identifizieren.“ Dabei ändert sich nichts daran, dass der Rat am Ende weiterhin den Haushalt beschließt. „Die politischen Entscheidungen nimmt ihm das Verfahren nicht ab“ [Banner, 1998]. Als Banner jedoch bei der Auftaktver-
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Einige dieser Leitfäden sind: „Der Bürgerhaushalt: Ein Praxishandbuch“ [Bertelsmann Stiftung/HBS/KGSt, 2001], „Kommunaler Bürgerhaushalt: Ein Leitfaden für die Praxis“ [Bertelsmann Stiftung/Landesregierung NRW, 2004], „Bürgerhaushalt in Großstädten“ [bpb, 2005], „Bürgerhaushalt Umsetzungsmöglichkeiten für die Praxis“ [InWent gGmbH, 2005], „Learning Community. Local Agenda 21 & Participatory Budget“ [Kate e.V. Stuttgart, 2006]. Andere Themen waren bürgerschaftliches Engagement, Optimierung von Ratsarbeit, Führungskräfteentwicklung, Qualitätssicherung etc.
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II/1 Partizipative Modernisierung
anstaltung der „Kommunen der Zukunft“ Mitstreiter für sein Vorhaben suchte, meldete sich zunächst nur Gerhard Dietz - ein junger Bürgermeister aus dem Schwarzwald, der entgegen der Skepsis seiner Kollegen den Mut zeigte, mit einem neuen Verfahren zu experimentieren. „Ich habe in diesem Moment spontan gedacht“, so Dietz, „eine gute Idee [der Bürgerhaushalt], warum lacht ihr eigentlich? Ich finde das gut und habe in diesem Moment beschlossen, dass ich in den Arbeitskreis hineingehen werde.“ So kam es, dass die kleine Schwarzwaldgemeinde Mönchweiler (2.500 Einwohner) als erste in Deutschland einen Bürgerhaushalt einführte. Ähnlich wie bei dem neuseeländischen Vorbild wurde der Haushaltsplan zu einer gut lesbaren Broschüre zusammengefasst. Darin werden sowohl die allgemeine Finanzsituation der Gemeinde als auch die Ausgaben und Einnahmen ausgewählter Dienstleistungen (Feuerwehr, Bibliothek etc.) erläutert. Zur Konsultation der Bürger liegt der Haushaltsbroschüre ein Fragebogen bei. Auf Vor-OrtVeranstaltungen in den betroffenen Einrichtungen diskutieren Verwaltungsmitarbeiter mit den anwesenden Bürgern über eine Verbesserung des Angebots und Sparvorschläge. Anschließend berichten die lokalen Medien über die Ergebnisse dieser Befragung. Eine weitere Verbreitung erfolgte, als Gerhard Dietz im Jahr 2000 in der bei Stuttgart gelegenen Stadt Rheinstetten zum Bürgermeister gewählt wurde. Durch sein Engagement wurde Rheinstetten zur ersten Gemeinde über 20.000 Einwohner, die ihren Haushalt mit den Bürgern diskutiert.42 Darüber hinaus waren inzwischen weitere Städte den „Kommunen der Zukunft“ beigetreten. Im Netzwerkknoten „Bürgerhaushalt“, dessen Koordination Rheinstetten übernahm, führte jedoch nur Groß-Umstadt einen Bürgerhaushalt ein. Die anderen Teilnehmer experimentierten, zum Teil bewusst, mit anderen Formen der Bürgerbeteiligung am Haushalt, wie z.B. mit schriftlichen Befragungen oder Informationsbroschüren. Bereits in diesen Anfangsjahren kommen einige Charakteristika der deutschen Beispiele zum Vorschein. Wie gezeigt wurde, stehen die partizipative Evaluation öffentlicher Dienstleistungen und die Transparenz des Haushalts im Vordergrund. Letzteres ist bei den anderen europäischen Beispielen eher zweitrangig. Die Bürger in Frankreich, Italien und Spanien diskutieren zwar über Projekte, setzen sich jedoch in der Regel nicht mit der finanziellen Situation ihrer Stadt auseinander. Zu den weiteren Merkmalen der hiesigen Beispiele zählt, dass der Bürgerhaushalt kein politisches Projekt einer Partei ist. Zwischen 1998 und 2005 werden acht Verfahren unter der Amtsführung eines konservativen Bürgermeisters eingeführt, sieben unter der eines sozialdemokratischen und
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In Mönchweiler wurde der Bürgerhaushalt nach dem Weggang von Bürgermeister Gerhard Dietz nicht mehr fortgesetzt.
II/1.2 Konsultation öffentlicher Finanzen
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jeweils einer unter einem unabhängigen Bürgermeister bzw. einer Bürgermeisterin der Linken. Eine zentrale Bedeutung für die Verbreitung haben insbesondere überparteiliche Akteure wie Stiftungen und Netzwerke, die sich mit einer Modernisierung der Verwaltung und dem Leitbild Bürgerkommune auseinandersetzen. Interessanterweise ist ihnen das Beispiel Porto Alegre durchaus bekannt. In verschiedenen Publikationen verweist man darauf, folgt jedoch in der Methode dem neuseeländischen Beispiel. Rückblickend führt Hartmut Gustmann, damaliger Mitarbeiter der KGSt aus, dass es seiner Organisation darum ging, eine Legitimation für die Verwendung von Steuergeldern herzustellen. Die Ziele, die man damals in Brasilien verfolgte (den Aufbau einer kommunalen Selbstverwaltung nach der Diktatur), sah man in Deutschland schon erreicht. Hier gebe es zudem andere Instrumente, wie Bürgerbegehren / Bürgerentscheide, die zivilgesellschaftliche Gruppen zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen könnten. Aufgrund dieser Einschätzung bedürfe es keines Bürgerhaushalts nach brasilianischem Vorbild.
Mehr Diskussion durch Internet? Seit ein paar Jahren werden Beteiligungsverfahren auch zunehmend im Internet durchgeführt [Kubicek/Lippa/Westholm, 2009]. Unter ihnen ist der Bürgerhaushalt zu einem Vorreiter geworden. In Blogs werden Themen erörtert und Vorschläge unterbreitet. Für den Kommunikationsfluss sorgen externe Moderatoren, die das Bindeglied zwischen Teilnehmern und Verwaltung bilden. Als Pionier auf diesem Gebiet kann die bei Stuttgart gelegene Stadt Esslingen angesehen werden, die bereits im Jahr 2003 ihren Haushalt im Internet diskutieren ließ [Märker/Poppenburg, 2003]. Aufgrund fehlender Rechenschaft handelt es sich jedoch nicht um einen Bürgerhaushalt, wie er hier definiert wird. Berlin-Lichtenberg nimmt 2005 die Esslinger Methode auf und integriert sie in ein umfangreicheres Beteiligungskonzept zum Bürgerhaushalt. Eine große Aufmerksamkeit erhält im Jahr 2006 das Verfahren der Hansestadt Hamburg, bei dem mit einem umfangreichen Haushaltsrechner symbolisch Verschiebungen im Landeshaushalt vorgenommen werden können [Initiative eParticipation/Stiftung Mitarbeit, 2007]. Die gleiche Methode wird in den Bürgerhaushalt der Stadt Freiburg integriert. Zudem wird im Jahr 2007 in Köln eine aufwendige Bürgerbeteiligung zum Haushalt im Internet organisiert, die über die bestehenden Versuche weit hinaus geht [Vorwerk/Märker/ Wehner 2008; Engel 2009]. Des Weiteren gibt es seit dem gleichen Jahr die nationale Internetplattform www.buergerhaushalt.org. Auf dieser Seite tauschen Praktiker Informationen zum Bürgerhaushalt aus. Die Homepage geht
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auf eine gemeinsame Initiative der Bundeszentrale für politische Bildung und der Servicestelle „Kommunen in der Einen Welt“ / Inwent gGmbH zurück. Mit der Moderation wurde Oliver Märker beauftragt, der bereits in Esslingen den Diskussionsprozess begleitet hat. Als Vorteile einer Internetbeteiligung seien folgende Punkte genannt: Der Zeitpunkt der Beteiligung kann von den Bürgern selbst bestimmt werden. Je nach Tagesablauf können Vorschläge in der Nacht oder in der Büropause unterbreitet werden. Mit dem Verfahren sollen bestimmte Gruppen, insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene, angesprochen werden, die sich konventionellen Beteiligungsformen verschließen. Auch die Verwaltung hat anders als bei Bürgerversammlungen mehr Zeit zum Recherchieren von Informationen. Des Weiteren trägt die Dokumentation der Beiträge zu einer Bereicherung der Diskussion bei, da die Teilnehmer die bisherigen Argumente nachlesen und die bereitgestellten Informationen nutzen können. Allerdings zeigt die Praxis der Internet-Diskussion noch Probleme auf. Mitunter verteilen sich die Beiträge auf eine unübersichtliche Anzahl von Unterthemen, wobei zentrale Fragen des Haushalts (Großprojekte, Privatisierungen, Entschuldungsvarianten etc.) untergehen bzw. später nicht mehr berücksichtigt werden. Im Internet besteht, ungeachtet der inzwischen eingeführten Abstimmungen und Voten, zudem die Gefahr, dass ein Teil der Beiträge unbeachtet bleibt und es keine Rechenschaft gibt, inwiefern sie berücksichtigt wurden. Hinzu kommt, dass sich die Teilnehmer anders als bei Bürgerversammlungen schwerlich organisieren können, um Druck zur Umsetzung ihrer Vorschläge auszuüben. Dies ist zwar hinsichtlich der Verhinderung von Lobbygruppen von Vorteil, erschwert aber eine gemeinsame Initiative der Bürger: Im Internet agieren die Teilnehmer meist anonym und lernen sich nicht persönlich kennen. Angesichts einer Tendenz zu reinen OnlineMethoden in Deutschland wächst die Gefahr, dass die Verfahren noch stärker als bisher von der Verwaltung abhängen. Eine Beteiligung im Internet sollte es von daher nur in Ergänzung aber nicht anstelle von face-to-faceVeranstaltungen geben.
2.2 Welche Effekte bringen etablierte Verfahren? Zwei Jahre nach Beginn der „Kommunen der Zukunft“ wird in NordrheinWestfalen von der Landesregierung und der Bertelsmann Stiftung das Pilotprojekt „Kommunaler Bürgerhaushalt” (2000-2002) initiiert. Von den sechs teilnehmenden Städten sind Hilden und Emsdetten besonders interessant. Beide Städte können auf eine mehrjährige Erfahrung mit dem Bürgerhaushalt zurück-
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blicken, womit sie sich für eine Untersuchung seiner Effekte besonders empfehlen. Darüber hinaus bilden die Verfahren in Hilden und Emsdetten die beiden wichtigsten Varianten der ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘, also des Verfahrensmodells vom Bürgerhaushalt, das in Deutschland am meisten verbreitet ist. Bei der einen geht es um eine Optimierung öffentlicher Dienstleistungen, während bei der anderen Variante eine Strategie zum Ausgleich des Haushalts gesucht wird. Bürgerhaushalt in mittleren Städten An dem Projekt „Kommunaler Bürgerhaushalt“ sind vor allem Städte zwischen 21.000 und 56.000 Einwohnern beteiligt. Ziel ist es, Handlungsanweisungen für die Praxis zu gewinnen. Für die Teilnahme am Projekt, dessen Koordination Oliver Haubner von der Bertelsmann Stiftung übernimmt, müssen interessierte Kommunen ein schlüssiges Partizipationskonzept ausarbeiten – Innenministerium und Stiftung geben nur den Rahmen vor bzw. wirken beratend mit. Ein weiteres Kriterium ist, dass ein Ratsbeschluss die Einführung des neuen Partizipationsinstruments absichert. Denn wie sich in Rheinstetten aber auch in anderen Städten gezeigt hat, scheitert eine Bürgerbeteiligung am Haushalt in vielen Fällen am Widerstand der Gemeindevertretung, die einen Machtverlust befürchtet. Bis auf Hamm (180.0000 Einwohner), wo eine Befragung durchgeführt wird, entscheiden sich alle teilnehmenden Kommunen für einen Bürgerhaushalt. Dabei befinden sich zwei Projektstädte in der Haushaltssicherung,43 CastropRauxel muss sogar einen Nothaushalt aufstellen. Hilden und Emsdetten heben sich in dem Sinne ab, dass sie im Gegensatz zu den meisten Kommunen in Nordrhein-Westfalen nicht unmittelbar von einer Finanzkrise bedroht sind [Eising, 2005].
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Wenn Kommunen ihre Fehlbeträge aus dem Haushalt längerfristig nicht ausgleichen können und ihre Zuweisungen aus dem Verwaltungshaushalt (laufende Kosten) in den Vermögenshaushalt (Investitionen) unterhalb der pflichtigen Werte liegen, geraten sie unter die von der Kommunalaufsicht vorgeschriebene Haushaltssicherung. Neben der Vorlage eines Konsolidierungsplanes schreiben die Sicherungsauflagen vor, dass die freiwilligen Ausgaben weitgehend zu reduzieren sind, was von der Aufsichtsbehörde kontrolliert wird.
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II/1 Partizipative Modernisierung
Abbildung 9:
Dauer der Partizipation und Finanzlage der Kommunen in NRW (Stand 2007) Bürgerhaushalte
2008 2007 2006 2005 2004 2003 2002 2001
( Ĺ/Ļ )
(Ļ Ļ)
( Ĺ/Ļ )
(Ļ)
Befragung
( Ĺ/Ļ )
(Ļ)
Emsdetten
CastropHilden Monheim Vlotho* Hamm Rauxel * 2005 gab es ein Bürgerforum zum Haushalt ohne Rechenschaft Legende: ( Ĺ/Ļ ) = ausgeglichener Haushalt; ( Ļ ) = Haushaltssicherung; (Ļ Ļ) = Haushaltsnotstand Quelle: Angaben zum Haushalt beruhen auf Bertelsmann Stiftung/Landesregierung Nordrhein-Westfalen (Hg.), 2004: Kommunaler Bürgerhaushalt: Ein Leitfaden für die Praxis, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.
Das in der Nähe von Münster gelegene Emsdetten (35.000 Einwohner) kann sogar als ein best-practice-Beispiel für gutes Verwalten angesehen werden. Verschiedene Elemente des Neuen Steuerungsmodells werden hier frühzeitig umgesetzt, u.a. ein Produkthaushalt und ein umfangreiches Controlling-System. In diesem Zusammenhang werden auch die Arbeitsstunden für den Bürgerhaushalt erfasst und ihr monetärer Wert berechnet. Hildens Stärke ist hingegen die Bürgerfreundlichkeit. Die Verwaltung ist sehr kooperativ, Anfragen und Beschwerden werden oft unkompliziert im direkten Gespräch geklärt, wie Bürgermeister Günther Scheib erläutert. Sowohl Hilden als auch Emsdetten haben in den 1980er Jahren einen wirtschaftlich erfolgreichen Transformationsprozess durchlaufen, bei dem die zuvor dominante Schwer- bzw. Textilindustrie durch Unternehmen unterschiedlicher Branchen abgelöst wurde. Aber auch wenn sich die Emsdettener Verwaltung modern gibt, so ist das gesellschaftliche Zusammenleben immer noch von traditionellen Einflüssen geprägt. „Es gibt […] immer noch den Spruch, dass man erst in der dritten Generation Pallbürger [angestammter Bürger] ist und vorher hat man hier nichts zu sagen, dass ist das sogenannte ‚Tottrockenpack‘ [die Hinzugezogenen]“, sagt der Grüne Ratsvertreter Alfred Franke über seine Stadt. Wer hier Bürgermeister werden will, muss Mitglied in einem Schützenverein sein, was auch auf den derzeitigen Amtsinhaber Georg Moenikes zutrifft. Mit dem Bürgerhaushalt wird in beiden Städten die Förderung einer bürgerorientierten und effizienten Verwaltung verfolgt. Während in Hilden die
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Verwaltung vor allem nach Anregungen zur Verbesserung ihrer Leistungen sucht, zentriert sich in Emsdetten die Diskussion auf den Ausgleich des Haushalts. Dabei knüpfen die Bürgerhaushalte an vorhergehenden Verfahren an: Unter dem Titel „Stadt machen“ hat man in Emsdetten Ende der 1990er Jahre eine umfangreiche, auf Arbeitskreisen beruhende Bürgerbeteiligung zur strategischen Planung begonnen. Der Bürgerhaushalt wird als eine Erweiterung dieses Diskussionsprozesses verstanden. In Hilden wurde der Haushalt zuvor zusammen mit interessierten Vereinen diskutiert. Der Bürgerhaushalt formalisierte diesen Prozess und öffnete ihn für die Partizipation ‚einfacher‘ Bürger. Bis zu ihrer heutigen Form hat sich die Beteiligung am Haushalt in beiden Städten mehrmals verändert. Nachfolgend stellen wir die Verfahren vor, die den Idealtypen am nächsten kommen. Inzwischen hat sich allerdings der Bürgerhaushalt in beiden Städten weiterentwickelt und existiert in der nachfolgend beschriebenen Art nicht mehr.
Information – Konsultation – Rechenschaft Der allgemeine Ablaufplan eines Bürgerhaushalts wird im Rahmen des Pilotprojekts „Kommunen der Zukunft“ (1998-2002) erarbeitet. Daran beteiligt ist neben Gerhard Banner Angelika Köllner vom Hamburger Beratungsunternehmen Ramsbøll. Dieser Ablaufplan basiert auf drei Phasen – Information, Konsultation, Rechenschaft – die bereits beim ersten Bürgerhaushalt in der Schwarzwaldgemeinde Mönchweiler sichtbar sind. Mit dem Schwerpunkt auf Transparenz und Konsultation wird der Einfluss des neuseeländischen Vorbilds Christchurch erkennbar. Durch den Baustein der Rechenschaft sollen die Bürger jedoch auch verbindlich erfahren, was aus ihren Vorschlägen geworden ist. Das Projekt „Kommunaler Bürgerhaushalt“ (2000-2004) übernimmt die Methode, wobei die drei Schritte von den Städten unterschiedlich umgesetzt werden. So informiert z.B. die Stadt Hilden nicht nur durch Broschüren und Zeitungsartikel über den Bürgerhaushalt, sondern lässt öffentlichkeitswirksam Bierdeckel mit Themen des Haushalts bedrucken. Und im hessischen Groß-Umstadt war der Bürgerhaushalt bis vor einigen Jahren mit einer Diskussion über Projekte der Lokalen Agenda 21 verbunden. Im nordrhein-westfälischen Vlotho wurde ein Schulprojekt zum Haushalt durchgeführt. Insgesamt gesehen haben die Städte des Projekts „Kommunaler Bür-
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gerhaushalt in NRW“ jedoch Schwierigkeiten gehabt, Rechenschaft über den Umgang mit den Vorschlägen aus der Bürgerschaft abzulegen.44 So kommt es, dass zum Zeitpunkt des Projektes nur sieben Städte den in diesem Buch vorgestellten Kriterien entsprechen, während über 40 die Bezeichnung Bürgerhaushalt verwenden. Die Bundeszentrale für politische Bildung nimmt im Jahr 2005 eine Vertiefung des Grundmodells vor [bpb, 2005]. Von nun an kommt der Mobilisierung der Akteure im Vorfeld des eigentlichen Beteiligungsprozesses besondere Bedeutung zu, ebenso wie der Einbeziehung der Bürger bei der Ausarbeitung und Evaluation des Verfahrens.
In Hilden wird in Broschüren und per Zeitung über den Haushalt informiert, zudem gibt es ein zentrales Bürgerforum. Hier wird die Arbeit der öffentlichen Einrichtungen an Informationsständen präsentiert, an denen Mitarbeiter der Verwaltung öffentliche Dienstleistungen bzw. Einrichtungen vorstellen sowie auf Fragen der Bürger eingehen. Ein Teil der Bürger wird dabei mit der Zufallsmethode aus dem Einwohnermelderegister ausgewählt, weiteren Interessierten steht die Beteiligung ebenfalls offen. Anregungen können auf bereitliegenden Kärtchen notiert werden, die die Bürger selbst ausfüllen und am Ende der Veranstaltung in eine Sammelbox werfen. Die Rechenschaft erfolgt in personalisierter Form. Jeder, der einen Vorschlag unterbreitet hat, erhält einen persönlich an ihn gerichteten Brief, mit dem er über die Entscheidung des Rates informiert wird. Weitere Briefe über die Umsetzung des Vorschlages folgen ggf. bei Beginn und Abschluss der Maßnahmen. In Emsdetten wird der Bürgerhaushalt im Jahr 2002 eingeführt und in Abwandlungen in den Folgejahren fortgesetzt. Auch hier gibt es in der Konsultationsphase ein Bürgerforum mit Informationsständen. Anders als in Hilden geht es jedoch nicht um die Evaluation öffentlicher Einrichtungen, sondern um den Ausgleich des Haushalts, wozu verschiedene Optionen angeboten werden.45 Zur Auswahl kann z.B. der Abbau von Personal, die Senkung von Betriebskosten, die Kürzung freiwilliger Ausgaben (Kultur, Sport, Freizeit etc.) oder die Anhebung von Steuern stehen. Durch eine Kombination dieser Möglichkeiten erarbeitet jeder Teilnehmer einen eigenen Vorschlag. Die Einzelmeinungen werden sodann in einem Fragebogen aufgenommen und rechnerisch zu einem Gesamtvotum des Bürgerforums zusammengefasst. Der Stadtrat fällt nach Beratung dieser Empfehlung eine eigene Entscheidung. Die verschiedenen Finanzie-
44 45
Die Angabe basiert auf einem Vortrag von Oliver Haubner, damals Koordinator des Projektes „Kommunaler Bürgerhaushalt in NRW“ [Sintomer/Herzberg/Röcke, 2004]. Im Jahr 2002 handelte es sich um ein Defizit von 2,8 Mio. Euro bei einem Haushaltsvolumen von insgesamt 63 Mio. Euro.
II/1.2 Konsultation öffentlicher Finanzen
125
rungsmodelle werden bei der Rechenschaft in einem Säulendiagramm gegenüber gestellt. Die unterschiedlichen Schraffierungen (siehe Grafik) zeigen auf, woher das Geld zum Ausgleich des Defizits kommen soll.
Abbildung 10: Rechenschaft: Vergleich der Ergebnisse in Emsdetten 2002
3.000.000
Verkauf von Immobilien
2.500.000 2.000.000
Kürzungen Personalund Sachkosten
1.500.000
Kürzungen Gebäudeunterhaltung
1.000.000
Kürzung Freiwillige Ausgaben Entnahme Rücklage
500.000 0
Steueranhebung Bürgerforum 2002
Ratsbeschluss
2.3 Eine erste Bilanz Mittlerweile führen die Städte Hilden und Emsdetten seit über sieben Jahren einen Bürgerhaushalt durch. Welche Ergebnisse sind zu beobachten? Wie ist die Wirkung von Bürgerhaushalten in Deutschland insgesamt einzuschätzen? Die transparente Aufbereitung des Haushalts ist die Stärke der Bürgerhaushalte von Hilden und Emsdetten. Die Teilnehmer – es sind jeweils zwischen 100 und 200 – haben daher die Möglichkeit, etwas über den Haushalt zu lernen. Während den Bürgern vorher Informationen zum Haushalt nicht ohne weiteres zugänglich waren, ist er nun leichtverständlich dargestellt. Manche Autoren gehen daher von einem Effekt politischer Bildung aus [Eising, 2005; bpb, 2005]. Allerdings erfahren die Bürger in der Regel wenig über Ausgaben, die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden: „Große Etatposten“, erklärt ein kritischer Bürger aus Emsdetten, „fehlen in der Auflistung. Woraufhin ich zur
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II/1 Partizipative Modernisierung
Antwort bekam, das hätte nichts mit der Vorstellung zu tun. Mein Kommentar dazu: Prestigeprojekte werden tabuisiert.“ Die Verwaltung ist sich diesen Vorwürfen bewusst und führt an, dass sie angesichts der kurzen Zeit eine Auswahl vornehmen muss. Dennoch gilt: Eine wirkliche Kontrolle durch die Bürgerschaft ist nicht gewährleistet – weder in Emsdetten noch bei anderen deutschen Beispielen. Stattdessen wird z.B. in Hilden das Wissen der Bürger für Verbesserungen an Einrichtungen, Dienstleistungen und Infrastruktur genutzt. Dabei handelt es sich allerdings in den meisten Fällen um Projekte wie die Überdachung der Einfahrt einer Tiefgarage oder die Verlängerung eines Radweges. Kontroverse Fragen oder große Projekte stehen auch hier nicht auf der Tagesordnung. Soziale Effekte sind beim Bürgerhaushalt in Deutschland kaum zu beobachten. Dies gilt sowohl hinsichtlich der mangelnden Verbindung mit dem Gender Mainstreaming, als auch für die fehlende Kopplung mit Programmen der sozialen Stadtentwicklung. Letzteres ist erstaunlich, da mit der Bertelsmann Stiftung, der Kommunalen Gemeinschaftsstelle und dem Deutschen Institut für Urbanistik auf beiden Gebieten die gleichen Akteure aktiv sind. Nur in Emsdetten hat im Jahr 2002 das Bürgerforum eine Empfehlung ausgesprochen, die von gewisser sozialer Relevanz ist: Anstatt freiwillige Leistungen zu kürzen, sollte nach dem Urteil der Bürger das anstehende Defizit mit einer Erhöhung der Gewerbesteuer ausgeglichen werden. Der Rat folgte dieser Aufforderung, was zu Mehreinnahmen von 610.000 Euro führte. Vergleicht man diesen Betrag mit den in anderen Ländern praktizierten Quartiersfonds, so ist der Einfluss der Emsdettener Bürger nicht unerheblich. Obwohl das Verfahren rein konsultativ ist, stehen für gemeinnützige Ausgaben nun je Einwohner 17,40 Euro zusätzlich zur Verfügung. Im Gegensatz dazu können bei den Quartiersfonds in Salford und Utrecht die Bürger nur über 3,18 Euro bzw. 9,20 Euro je Einwohner entscheiden. Der spektakuläre Schritt fiel dem Emsdettener Rat allerdings nicht schwer. Weil der Steuersatz unterhalb des vom Land empfohlenen Richtwertes lag, wären der Stadt ohne die Anhebung mittelfristig Zuschüsse entzogen worden. Bei den Teilnehmern des Bürgerhaushalts in Hilden und Emsdetten handelt es sich größtenteils um Bürger der Mittelschicht.46 In der Regel sind zwei Drittel über 40 Jahre alt, während die Beteiligung Jugendlicher und junger Erwachsener unter 5% liegt; Frauen stellen ein Drittel der Teilnehmer. Die Zufallsauswahl, von der in Deutschland im Rahmen des Bürgerhaushalts wie in keinem anderen Land Gebrauch gemacht wird, hat also nicht automatisch zu einer repräsentati-
46
Es handelt sich um Erhebungen von den Bürgerforen am 10.11.2003 in Emsdetten und am 17.02.2005 in Hilden. Die Ergebnisse decken sich mit Erhebungen, die die Verwaltung der beiden Städte in anderen Jahren unternommen hat.
II/1.3 Neue Akteure beleben den Prozess
127
ven Zusammensetzung geführt. Auf die Methode wird jedoch gerne zurückgegriffen, weil sie eine Mindestbeteiligung garantieren und den Einfluss von Lobbygruppen begrenzen soll [Röcke, 2005]. Nicht selten wird erwartet, dass der Bürgerhaushalt einen Beitrag zur Überwindung von Politikverdrossenheit leistet. Derartige Ergebnisse sind sehr schwierig zu messen und betreffen, wenn überhaupt, einzelne Teilnehmer am Bürgerhaushalt und nicht große Teile der Bevölkerung in einer Stadt. Grundsätzlich lässt sich in Deutschland, wie auch im restlichen Europa, kein Zusammenhang zwischen Bürgerhaushalt und Wahlbeteiligung herstellen, auch führt die Einrichtung eines derartigen Verfahrens nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen für regierende Parteien. Das eigentlich Erstaunliche ist jedoch, dass trotz der Diskurse über Modernisierung die Effekte auf diesem Gebiet meist marginal bleiben. Möglicherweise kann dies durch die eingeschränkte Diskussion erklärt werden, die wenig Raum für die Integration von Bürgerwissen lässt. Anders als in Porto Alegre fehlt es an Foren, die sich im überschaubaren Kreis regelmäßig treffen, um Problemlagen zu analysieren und Lösungsvorschläge auszuarbeiten. In Deutschland besteht der Bürgerhaushalt bis zu diesem Zeitpunkt zumeist nur aus einer Abendveranstaltung, auf der die Verwaltung den Großteil der Redezeit für sich in Anspruch nimmt. So äußern sich die Teilnehmer in Hilden und Emsdetten zwar allgemein positiv über die Verfahren, sie kritisieren jedoch regelmäßig, dass ihr Einfluss gering ist.
3.
Neue Akteure beleben den Prozess
Auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen lassen sich vier zentrale Herausforderungen für den Bürgerhaushalt in Deutschland in Form von Fragen formulieren: Ist eine Verbesserung der Diskussion möglich, die eine detailliertere Bürgerexpertise und damit weitere Modernisierungseffekte zulässt? Kann zur Stärkung der politischen Legitimation eine breitere und zahlenmäßig höhere Mobilisierung erreicht werden? Sind auch Effekte im sozialen Bereich möglich? Was kann unternommen werden, damit die Bürgerbeteiligung von den gewählten Mandatsträgern nicht als Konkurrenz verstanden wird? In der zweiten, nachfolgend zu beschreibenden Entwicklungsphase treten mit der Bundeszentrale für politische Bildung und zivilgesellschaftlichen Gruppen neue Akteure auf den Plan, die das Beispiel Porto Alegre in die Diskussion bringen. Dies bleibt für die Realität der deutschen Bürgerhaushalte nicht folgenlos.
128
II/1 Partizipative Modernisierung
3.1 Berlin wird zum Motor einer neuen Entwicklung Nach dem ersten Weltsozialforum in Porto Alegre ändert sich die Situation des Bürgerhaushalts in Deutschland. Die von der Bundesregierung und von mehreren Ländern finanzierte Servicestelle „Kommunen in der Einen Welt“, die eine verbesserte Kooperation zwischen Städten des Südens und des Nordens zur Aufgabe hat, erstellt in hoher Auflage eine Broschüre mit einer Vorstellung des brasilianischen Beispiels [Inwent gGmbH et al., 2002]. Zur gleichen Zeit erscheint die erste deutschsprachige Monografie über den Bürgerhaushalt von Porto Alegre, in der das Verfahren und seine Ergebnisse detailliert beschrieben werden [Herzberg, 2001]. Angestoßen durch eine Dialogreise von zwei Vertretern aus Porto Alegre, die der Verein Kate e.V. Stuttgart mit verschiedenen Partnern durch 18 deutsche Städte organisiert, gründen sich vermehrt lokale Initiativen. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung beginnt, sich für die Verbreitung und Entwicklung von Bürgerhaushalten zu interessieren. Der Bürgerhaushalt ist somit nicht mehr ausschließlich Thema der Kommunalwissenschaftler und Modernisierer. Besonders stark ist diese Entwicklung in Berlin, wo sich Bürger und zivilgesellschaftliche Gruppen, vor allem aus dem Bereich der Entwicklungskooperation, für einen Bürgerhaushalt in ihrer Stadt engagieren. Berlin ist für seine extreme Schuldenlage bekannt. Sowohl der West- als auch der Ostteil der Stadt haben vor der Wiedervereinigung von einer besonderen Förderung profitiert. Nach der Wende werden die Mittel innerhalb weniger Jahre radikal gekürzt, was die neue Hauptstadt vor finanzielle Schwierigkeiten stellt. Verschärft wird die Krise durch Finanzskandale und mangelnde Transparenz, die unter anderem dazu beiträgt, dass im Jahr 2001 die große Koalition von CDU und SPD abgewählt wird. Berlin lebt seitdem unter einem hohen Spardruck. Aus eigenen Mitteln glaubt sich die Regierung von den über 60 Milliarden Euro Schulden nicht befreien zu können, weshalb sie eine Klage beim Bundesverfassungsgericht einreicht – ohne Erfolg.47 Vor diesem Hintergrund schließen sich, inspiriert durch das Beispiel Porto Alegre, zivilgesellschaftliche Gruppen aus der alternativen Stadt- und Entwicklungspolitik zu einem Bündnis „Bürgerhaushalt in Berlin“ zusammen.48 Annette Berger, die Geschäftsführerin des Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlags, begründet
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Pro Einwohner ist das Land Berlin mit 16.919 Euro verschuldet. Einen größeren Anteil haben nur die Hamburger Bürger mit 18.564 Euro. Dem Bündnis gehörten an: Attac Berlin, Agenda-Fachforum Partizipation, Berliner Entwicklungspolitischer Ratschlag (BER) e.V., Gender Budget Initiative Berlin, Mehr Demokratie e.V., Netzwerk Zukunft e.V., Stadtforum von Unten und das Unabhängige Institut für Umweltfragen. Zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung haben diese Gruppen eine siebenteilige Seminarreihe zu „Haushalt und Partizipation“ organisiert [Herzberg, 2003].
II/1.3 Neue Akteure beleben den Prozess
129
das Engagement ihrer Organisation damit, dass mit dem Bürgerhaushalt ein „Erfolgsmodell aus dem Süden zu globalen Lernprozessen im Norden [führt]. Entwicklungshilfe wird einmal umgedreht. Berlin braucht internationalen Erfahrungsaustausch und kann besonders in Krisensituationen von innovativen Konzepten aus dem Süden lernen“. Parallel zu den Bemühungen dieser Initiativen arbeitet eine Beratergruppe unter dem Namen „AG Bürgerhaushalt“ eine erste Studie für einen Bürgerhaushalt im Bezirk Berlin-Mitte aus [Kommunalpolitisches Forum Berlin, 2003]. Der Gruppe gelingt es, das Interesse der Bundeszentrale für politische Bildung zu gewinnen. Um die Idee des Bürgerhaushalts bekannt zu machen, beginnt die etablierte Bildungseinrichtung einen Dialogprozess mit den Stiftungen der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien – eine Kooperation, die im krassen Gegensatz zum stark politisierten Bürgerhaushalt von Porto Alegre steht. Aber auch für deutsche Verhältnisse stellt diese Zusammenarbeit eine Besonderheit dar. Selten kommt es vor, dass Postkommunisten, Sozialdemokraten, Grüne, Liberale und Konservative ein gemeinsames Ziel anstreben, wie es beim Bürgerhaushalt der Fall ist.49 Ein erstes Ergebnis dieser Diskussion ist ein öffentlicher Workshop, mit dem vor allem die Entwicklung eines Bürgerhaushalts im Berliner Bezirk Mitte unterstützt werden soll. Der Bezirk selbst hat bereits seinen Haushalt transparenter gestaltet und im Internet präsentiert. Einen weiteren Schub bekommt die Diskussion, als die neue Regierung in Berlin ein Maßnahmenpaket zur Modernisierung der Verwaltung verabschiedet. Die PDS50 überzeugt ihren sozialdemokratischen Koalitionspartner, in dem Papier auch die Erprobung von Bürgerhaushalten in zwei Berliner Bezirken festzuschreiben. Als in Berlin-Mitte der politische Konsens für ein solches Vorhaben zerbricht, spricht der Rat der Berliner Bezirksbürgermeister eine Empfehlung für die Bezirke Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg aus. Sie werden beauftragt, einen Bürgerhaushalt zu erarbeiten, der sich von den bisherigen Berliner Beteiligungsformen abhebt und insbesondere solche Bürger mobilisiert, die bisher noch nicht aktiv waren. 3.2 Ein neues Konzept Entgegen der Skepsis mancher Akteure nimmt sich die Bundeszentrale für politische Bildung die Erprobung eines Bürgerhaushalts in einer Großstadt vor. Nur
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An dem Austausch nahmen Teil: Konrad-Adenauer-Stiftung, Heinrich-Böll-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung, Rosa-Luxemburg-Stiftung und Friedrich-Naumann-Stiftung. Die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) hat im Verlauf der Arbeit ihren Namen gewechselt. Je nach Berichtszeitraum führt der Text die Bezeichnung ‚PDS‘‚ ‚Linkspartei.PDS‘ oder ‚Die Linke‘.
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II/1 Partizipative Modernisierung
wenn dieser Schritt gelinge, so die Einschätzung, habe der Bürgerhaushalt langfristig eine Perspektive. Das neue Konzept, das anschließend vom Berliner Bezirk Lichtenberg übernommen und im Laufe der Jahre weiter entwickelt wird, hebt sich tatsächlich in einigen Punkten von den bisherigen Beispielen in Deutschland ab.51 Am deutlichsten wird dies bei der Benennung von Prioritäten durch eine Abstimmung der Bürger, bei der fünf Stimmen durch Panaschieren und Kumulieren auf die zur Auswahl stehenden Vorschläge verteilt werden können [Weise, 2007]. Dieses Vorgehen soll sowohl bei den Bürgerversammlungen als auch im Internet und bei schriftlichen Befragungen angewendet werden. Damit wird die Selektion der Vorschläge durch die Verwaltung überwunden, die für andere Verfahren des Bürgerhaushalts in Deutschland charakteristisch ist. Die Bürger geben selbst an, welche Vorschläge am wichtigsten sind und welche weniger. Als eine Weiterentwicklung zu bestehenden Verfahren kann auch die umfassende Mobilisierung verstanden werden, für die sich insbesondere Heino Gröf von der Bundeszentrale für politische Bildung eingesetzt hat. Erstmalig sollen mit einer aufsuchenden Ansprache Bürger für eine Beteiligung gewonnen werden. Für Migranten und andere ‚partizipationsferne Gruppen‘ sind Minitreffen in soziokulturellen Zentren vorgesehen. Darüber hinaus soll die Zufallsauswahl sowohl bei der schriftlichen Befragung als auch bei den Bürgerversammlungen ergänzend zu einer öffentlichen Mobilisierung angewendet werden. Veranstaltungen sind nicht nur auf zentraler Ebene des Bezirkes geplant, sondern auch dezentral in den einzelnen Stadtteilen. Obwohl es sich mit Abstand um das umfangreichste Partizipationskonzept handelt, das bisher für einen Bürgerhaushalt entworfen wurde, setzt das neue Verfahren die Tradition der deutschen Beispiele fort. Die Kernidee ist weiterhin eine partizipative Evaluation öffentlicher Dienstleistungen, wobei die Expertise der Bürger ausgeweitet werden soll. Eine soziale Dimension ist hingegen nur ansatzweise vorhanden. Es geht auch hier nicht um eine soziale Stadtentwicklung.52 Ebenso wenig wird an die Erfahrungen der Berliner Bürgerjurys angeknüpft, obwohl hierzu die dezentralen Stadtteilversammlungen, die es sonst bei den deutschen Bürgerhaushalten nicht gibt, eine gute Gelegenheit böten.
51
52
Das Konzept versteht sich als eine Empfehlung für Großstädte in Deutschland und richtet sich nicht explizit an Lichtenberg, auch wenn es dieser Bezirk nahezu vollständig übernommen hat. Für die praktische Umsetzung des Konzepts hat die Bundeszentrale Carsten Herzberg gebeten, ein Regelwerk mit konkreten Handlungsanweisungen zu erstellen [bpb, 2005: 14]. Einzig die 400.000 Euro für die Weiterentwicklung und Bestandssicherung der Musikschule sollen anderen Fachbereichen entnommen werden. Unklar ist jedoch hierbei, ob es sich um eine neue Umverteilung handelt oder ob bereits in den vergangenen Jahren so verfahren wurde.
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Bürgerjurys in Berlin In Berlin wird in den Jahren 2001-2003 in 17 Quartieren ein Fonds von 500.000 Euro zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei um Stadtteile mit einem ‚besonderen Entwicklungsbedarf‘, die auf diese Weise eine gezielte Förderung erhalten sollen. Über das Geld kann eine Jury entscheiden, die sich zur einen Hälfte aus Vereinsvertretern und zur anderen aus Bürgern zusammensetzt, die per Zufallsauswahl aus dem Einwohnermelderegister ermittelt werden. Anträge kann jeder stellen, der eine Idee zur Verbesserung der Lebensqualität im Kiez hat. Das Geld dafür stammt aus dem Programm ‚Soziale Stadt‘, dessen Finanzierung sich Bund, Länder und Kommunen teilen. Insgesamt sind es über 80 Kommunen, die sich mit unterschiedlichen Maßnahmen für soziale Verbesserungen engagieren. In Berlin wird nach dieser Probephase die Zahl der einbezogenen Quartiere auf 33 erhöht, die eine Globalsumme von 15 Million Euro zur Verfügung haben. Jedes Quartier kann dabei die Idee der Bürgerjury nach seinen eigenen Vorstellungen umsetzen, wobei es sich nun in der Regel um ein konsultatives Gremium handelt. Die Arbeit der Jurys wird in vielen Fällen durch ein Vor-Ort-Büro des Quartiersmanagements koordiniert, das die Aufgabe hat, verschiedene Akteure aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Verwaltung zu einem gemeinsamen Handeln zusammenzuführen [Koehl/Sintomer, 2002; Röcke, 2005; Röcke/Sintomer, 2005].
3.3 Berlin-Lichtenberg: Geburt einer Volksrepublik? Als Berlin-Lichtenberg im September 2005 seinen Bürgerhaushalt mit einer Auftaktveranstaltung eröffnet, erklärt die Berliner Tageszeitung „taz“ in einer Überschrift den Bezirk zur Volksrepublik. Diese etwas provokante Formulierung spielt sowohl auf die besonderen politischen Verhältnisse im Bezirk als auch auf die hohen Erwartungen an, die mit dem aufwendigen Verfahren verbunden werden: Für Werbung, Mobilisierung, Internet, Moderation und Evaluation geht das Bezirksamt umfangreiche Kooperationen mit externen Dienstleistern ein. Mit offiziell 125.000 Euro gibt Lichtenberg mehr für seinen Bürgerhaushalt aus, als alle anderen deutschen Beispiele zusammen.53 Hat sich dieser Aufwand gelohnt?
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Für sein Verfahren hat Berlin-Lichtenberg in der Initialphase die finanzielle Unterstützung des Landes Berlin erhalten, was die Finanzierung einer aufwendigen Begleitung und Entwicklung neuer Instrumente (Internetauftritt) erlaubte.
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Berlin-Lichtenberg beherbergt eine der größten Plattenbausiedlungen Ostdeutschlands. Obwohl der Bezirk heute mit einer Reihe umgesetzter Modernisierungsmaßnahmen als sehr reformfreudig gilt, scheint er zwischen Innovation und Vergangenheit hin- und hergerissen zu sein. Lichtenberg ist Hochburg der Linkspartei, bei Einführung des Bürgerhaushalts verfügt die Partei (Linkspartei.PDS) in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) über eine absolute Mehrheit. Der Ruf des Bezirks leidet jedoch unter rechtsextremer Gewalt. Der Bürgerhaushalt, so das parteiübergreifende Ziel, soll von daher zu einer Vertiefung der Demokratie sowie zu einem Imagegewinn des Bezirks beitragen. Die Linken ist zudem bestrebt, Lichtenberg zu einem Aushängeschild ihrer Politik zu machen, wobei in offiziellen Stellungnahmen von der Bürgermeisterin stets betont wird, dass die Einführung des neuen Beteiligungsinstruments auf der Zustimmung aller in der BVV vertretenen Parteien beruht. Erst auf der Grundlage dieses Konsenses wird eine Begleitung durch die Bundeszentrale für politische Bildung möglich, die ihrerseits ein Interesse hat, die von ihr entwickelten Methoden zu testen. Die Transparenz des Lichtenberger Beispiels ist vergleichbar mit der von Emsdetten, Hilden und Rheinstetten: Informationen zum Haushalt werden in Broschüren und im Internet bereitgestellt. Im Zentrum der Diskussion stehen 40 zu Produkten aufbereitete Leistungen der Verwaltung, auf die der Bezirk einen direkten Einfluss hat (Bibliotheken, Grünflächen, Sporteinrichtungen etc.).54 Die Bürger geben durch die Wahl von Prioritäten an, welches aus ihrer Sicht die dringendsten Probleme sind, wodurch Lichtenberg dem Bürgerhaushalt in Deutschland eine neue Qualität verleiht. Allerdings umfassen die Empfehlungen, die während der Bürgerversammlungen auf ausgeteilten Papierbögen niedergeschrieben werden, meist nur zwei bis drei Zeilen. Bei einer solchen knappen Meinungsäußerung kann nicht davon gesprochen werden, dass das Wissen der Bürger zu einer detaillierten Evaluation herangezogen wird [Herzberg/Cuny, 2007]. Damit geht auch die Möglichkeit verloren, dass aus der Partizipation Modernisierungseffekte entstehen können. Prinzipiell könnten fehlende Kleingruppendiskussionen durch eine Diskussion im Internet ausgeglichen werden, jedoch werden hier (zumindest im ersten Jahr) zu viele nebensächliche bzw. mikro-lokale Themen behandelt, während eine zentrale Diskussion umstrittener Punkte ausbleibt.55 Hervorzuheben ist allerdings, dass der Bürgerhaushalt zu
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Beim Produkthaushalt werden gegenüber dem herkömmlichen Haushalt alle Kosten direkt dem jeweiligen Produkt zugeordnet. Auf diese Weise können Stückkosten eines Kitaplatzes, einer Stunde Turnhallenbenutzung oder einer Buchausleihe berechnet und mit den Leistungen anderer Bezirke verglichen werden [bpb, 2005]. Als Beispiel ist hier die von der Schließung bedrohte Koppi-Schule anzuführen, deren Erhalt zu diesem Zeitpunkt eins der zentralen Themen der Bezirkspolitik war. Einige Initiativen hatten sogar ein Bürgerbegehren gestartet, mit dem sich die Politik auseinander setzen musste.
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einem Wandel im Verwaltungshandeln beiträgt. Berichten führender Verwaltungsmitarbeiter zufolge haben sich nach einer anfänglichen Skepsis manche Kollegen sehr für das neue Verfahren engagiert.
Stadtteilversammlung in Hohenschönhausen Nord Die zweite dezentrale Stadtteilversammlung im Jahr 2006 findet in einer Schule statt. Ungefähr 100 Bürger aus den umliegenden Plattenbauten haben sich eingefunden. Die größte Gruppe stellen die 40- bis 50-Jährigen, es gibt aber auch Jugendliche und Bürger im Rentenalter. Man sitzt in einem großen Kreis. Die Bürgermeisterin eröffnet die Versammlung mit ein paar Grußworten und stellt das Projekt Bürgerhaushalt vor. Dann übernimmt die Moderatorin von einem Kommunikationsunternehmen das Wort. Sie beschreibt noch einmal die Wege der Beteiligung über Internet, Fragebögen und Versammlungen. Sie erklärt, dass ¾ des Haushalts aus festen Ausgaben bestehen, die nicht verändert werden können. Auf 30 Mio. Euro habe das Bezirksparlament jedoch einen direkten Einfluss. Diese steuerbaren Gelder wurden zu Produkten zusammengefasst, die nun im Bürgerhaushalt verändert werden können. Eine Beschreibung dieser Leistungen ist in einem Katalog zu finden, der in Form eines Notizblockes verteilt wird. Auf der heutigen Versammlung, so die Moderatorin, seien Vorschläge für die Endabstimmung zu sammeln. Als sie daraufhin das Redaktionsteam wählen möchte, das die Vorschläge weiter begleitet, findet sich niemand. Aus diesem Grund geht es nun zunächst darum, die bestehenden Vorschläge zu diskutieren bzw. neue zu formulieren. Die Verwaltung hat hierzu Stände aufgebaut. Jeder Fachbereich hat seine eigene Infotafel. Bei ‚Bauen und Verkehr‘ unterhalten sich Teilnehmer mit dem zuständigen Mitarbeiter. Schließlich notieren sie auf einem bereit liegenden Formblatt, dass die Verbindung zwischen dem Gymnasium und den Radwegen zu verbessern sei. Eine Gruppe Jugendlicher aus einem Jugendzentrum möchte eine Skateboard-Anlage repariert haben, eine andere soll erweitert werden. Schließlich werden die letzten 10 Minuten eingeläutet. In der ‚Konferenzschaltung‘ wird aus den verschiedenen Ecken des Saals berichtet, dass die Beteiligung rege sei, aber für den Bereich Gesundheit nichts eingereicht wurde. Dafür klappt die Wahl des Redaktionsteams jetzt auf Anhieb. Auch ein Mitglied der Skater-Gruppe ist darin vertreten. Bei der an-
Beim Bürgerhaushalt wurde jedoch nicht vom Bezirksamt explizit die Frage nach der KoppiSchule gestellt. Die Diskussion über die Schule verlor sich im Internet unter den anderen Themen.
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schließenden Abstimmung kommen die Vorschläge der Jugendlichen, die offensichtlich viele Unterstützer mobilisiert haben, auf die ersten Plätze, gefolgt von der Pflege für eine Gedenkstätte.
Berücksichtigt man den Aufwand, der beim ersten Durchgang für die Mobilisierung der Bürger betrieben wird, muss die Beteiligung als ein Erfolg mit klaren Grenzen angesehen werden. Der Besuch von Bürgerversammlungen ist, wenn man sie mit der Einwohnerzahl ins Verhältnis setzt, mit Hilden und Emsdetten vergleichbar. Auch spiegelt die Zusammensetzung der Teilnehmer nicht die Bevölkerung des Bezirks wider [Klages/Daramus, 2007]. Dennoch gibt es einige Punkte, die sich von den bisherigen Erfahrungen aus Deutschland abheben. So ist es inzwischen gelungen, ausländische Gruppen wie z.B. die ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter für eine Beteiligung zu gewinnen. Weiterhin ist die Präsenz Jugendlicher relativ stark. Auch wenn man hier noch von einer repräsentativen Beteiligung entfernt ist, ist ihre Beteiligung weitaus höher als bei anderen deutschen Beispielen des Bürgerhaushalts. In Lichtenberg mobilisieren unter anderem Jugendclubs ihre Besucher zur Partizipation, um Verbesserungen für ihre Einrichtung zu erhalten. Mitunter führt dies aber auch zu Irritationen. So konnte z.B. beim zweiten Verfahren im Jahr 2006 beobachtet werden, wie Jugendliche aus einem Jugendzentrum dagegen protestierten, dass ihr Vorschlag für Renovierungsmittel abgelehnt worden war, weil Investitionsmaßnahmen vom Bürgerhaushalt ausgeschlossen sind. Als Zeichen ihrer Unzufriedenheit überklebten sie das Plakat, auf dem die ausgeschlossenen Vorschläge aufgelistet waren. Politisch und symbolisch gesehen hat der Bürgerhaushalt von BerlinLichtenberg – und das ist eine wesentliche Neuerung – die stärksten Effekte aufzuweisen. Nicht zuletzt die Begleitung durch die Bundeszentrale für politische Bildung hat zu einer bisher nicht gekannten Präsenz des Bezirks in den lokalen und nationalen Medien geführt. Lichtenberg ist dank des Bürgerhaushalts bekannter geworden und wurde für sein Verfahren mit positiven Schlagzeilen gelobt, wovon die PDS in besonderem Maße profitiert. Die Bezirksbürgermeisterin wird zur Botschafterin ihrer Partei, wenn sie in Westdeutschland von Einrichtungen, Institutionen und Organisationen eingeladen wird, die zuvor jegliche Kooperation mit der PDS vermieden haben.56 Berlin-Lichtenberg konnte dadurch der Entwicklung des Bürgerhaushalts in Deutschland einen wichtigen
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Der Bürgerhaushalt belebt zudem die innerparteiliche Diskussion über die Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie. Dabei fällt auf, dass sich gerade junge Parteimitglieder für den Bürgerhaushalt engagieren, während manche älteren Mitglieder Schwierigkeiten haben, den Sinn des Verfahrens zu sehen.
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Impuls geben – insbesondere in der Region Berlin-Brandenburg hat die Zahl derartiger Verfahren zugenommen, was indirekt den bundesweiten Trend zu mehr Bürgerbeteiligung am Haushalt gestärkt hat. Auch ist der Bezirk inzwischen auf der internationalen Bühne präsent. So stellte die Bezirksbürgermeisterin ihre Erfahrungen in verschiedenen Ländern Europas vor. Die nationale wie internationale Sichtbarkeit konnte allerdings nicht verhindern, dass bei der letzten Kommunalwahl die Linke überdurchschnittliche Verluste hinnehmen musste, womit sie ihre absolute Mehrheit einbüßte.57 Bei der Wahlbeteiligung bildet der Bezirk sogar eins der Schlusslichter in Berlin und gehört zu den wenigen, in denen sich die rechtsextreme NPD etablieren konnte. Somit konnte außerhalb von Lichtenberg der Bürgerhaushalt zu einer Aufwertung der Linkspartei beitragen, im Bezirk selbst hat dies an der geringen Wahlbeteiligung jedoch nichts geändert. Trotz der genannten Fortschritte ist man in Lichtenberg noch weit von einer Volksrepublik entfernt. Dies lässt sich an verschiedenen Punkten festmachen. Eine Umverteilung hat es nicht gegeben. Die meisten der 38 angenommenen Vorschläge wurden kostenneutral durch Kürzungen innerhalb der Produktbzw. Produktgruppenbudgets finanziert – eine Verschiebung von Geldern zwischen den Fachbereichen war nicht das Ziel der Diskussionen. Ein Einfluss der Bürger auf das Verfahren bleibt schwach. Auch wenn es verschiedentlich Diskussionen über die Methode geben mag, so behält die Verwaltung den Prozess ganz eindeutig unter Kontrolle. Von einer Ausarbeitung der Regeln durch Regierung, Verwaltung und Zivilgesellschaft gemeinsam wie in Porto Alegre kann jedenfalls nicht gesprochen werden. Zudem fällt auf, dass das GenderMainstreaming, wozu der Bezirk bereits weitgehende Studien durchgeführt hat [Bezirksamt Lichtenberg, 2004], bisher nicht in den Bürgerhaushalt integriert wurde; beide Prozesse verlaufen parallel zueinander. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht von ungefähr, wenn Kritiker der Linkspartei vorwerfen, dass mit dem ambitionierten Partizipationsprozess von den Privatisierungen auf Landesebene, wo die Partei ebenfalls an der Regierung beteiligt ist, abgelenkt werden soll. Dazu stellt sich die Frage, warum es auf der Landesebene – der Ebene, bei der es um die wirklich wichtigen Entscheidungen bezüglich der Stadtentwicklung geht – keinen Bürgerhaushalt gibt.58
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Mit den Wahlen zur Bezirksverordnetenversammlung im Jahr 2006 verliert die Linkspartei.PDS die absolute Mehrheit, gleichwohl bleibt sie mit ca. 40 Prozent die stärkste Fraktion. Auch der Koalitionsvertrag der zweiten Amtsperiode der Rot-Roten Regierung sieht im Jahr 2006 keine Einführung des Bürgerhaushalts auf Landesebene vor, allerdings soll das Projekt in weiteren Bezirken fortgesetzt werden.
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3.4 Bürgerhaushalt am Scheideweg Der Bürgerhaushalt erlebt derzeit eine sehr dynamische Entwicklung und es ist nicht leicht, seinen aktuellen Stand zu erfassen. So befindet sich das Beispiel Lichtenberg in einer kontinuierlichen Weiterentwicklung: Die Zahl der dezentralen Veranstaltungen wurde ausgebaut. Auch bemüht man sich, auf der Ebene des Quartiers Diskussionen in Kleingruppen zu führen, um die Expertise der Bürger besser zu integrieren [Brangsch/Brangsch, 2007]. Ebenso sollen Verschiebungen zwischen einzelnen Produktbudgets möglich werden. Inwiefern diese Veränderungen zu grundlegend anderen Ergebnissen führen, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesagt werden. Fest steht jedoch, dass sich seit einiger Zeit die Positionen der deutschen Beispiele auf der Karte der Bürgerhaushalte in Europa (s. Teil I) verändern, wenn auch nur ein wenig. Waren die deutschen Beispiele bisher alle in der Nähe des Idealtyps ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘ anzusiedeln, so befindet sich Lichtenberg mittlerweile auf halber Strecke zum Verfahren der ‚bürgernahen Partizipation‘. Dieser Ansatz wurde in noch ausgereifterer Form im Bezirk MarzahnHellersdorf umgesetzt, was dem Engagement der Bürger zu verdanken ist, die sich das Verfahren angeeignet haben [Herzberg/Cuny, 2007].59 Die brandenburgische Landeshauptstadt Potsdam hingegen hat mittlerweile das ursprüngliche Lichtenberger Verfahren übernommen. Wie die unten stehende Grafik zeigt, haben damit die Beispiele der Region Berlin-Brandenburg zu einer Belebung des Bürgerhaushalts in Deutschland geführt: War nach Beendigung des Pilotprojektes in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2004 ein Tiefpunkt erreicht, haben sie vermutlich zu einer Trendwende beigetragen. In Berlin ist es inzwischen so, dass der Bürgerhaushalt nicht mehr nur ein Projekt der Linken ist, sondern Bezirke mit einem Bürgermeister der SPD (Treptow-Köpenick, CharlottenburgWilmersdorf) und der Grünen (Friedrichshain-Kreuzberg) ebenfalls einen solchen Prozess begonnen haben. Das Anwachsen der Beispiele ist jedoch nicht auf die Hauptstadt beschränkt. Weiterhin gehören zu den wichtigsten neuen Beispielen die Großstädte Köln (1 Mio. Einwohner) und Freiburg (260.000 Einwohner).
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In Marzahn-Hellersdorf, wo ebenfalls auf Initiative des damaligen Bezirksbürgermeisters Uwe Klett (PDS) ein Bürgerhaushalt durchgeführt worden ist, wurde das Verfahren nach der Wahl und Ablösung des Bürgermeisters (2006) nicht mehr fortgesetzt. Stattdessen sollen andere Beteiligungsverfahren ausgebaut werden.
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Abbildung 11: Entwicklung der Zahl der Bürgerhaushalte in Deutschland
Trotz dieser Entwicklung ist derzeit noch offen, ob der Bürgerhaushalt sich langfristig etablieren kann. Viele der hiesigen Beispiele sind nach einer Probephase oder einem Wechsel der Regierung beendet worden. Diese Tendenz kann anscheinend auch nicht durch die in den letzten Jahren zahlreich entstandenen Consulting-Initiativen ausgeglichen werden, die die Einführung eines Bürgerhaushalts als fertige Dienstleistung anbieten. Bis heute fehlt ein bundesweiter zivilgesellschaftlicher Akteur, der sich die Verbreitung des Verfahrens auf die Fahnen geschrieben hat.60 Abgesehen von einigen lokalen Initiativen ist der Bürgerhaushalt nur vorübergehend Thema sozialer Bewegungen gewesen. Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass es – anders als in Frankreich und Spanien – keine Kopplung zwischen Bürgerhaushalt und sozialer Stadtentwicklungspolitik gibt. Zudem war der Bürgerhaushalt in Deutschland lange Zeit exklusiv ein Thema für Verwaltungswissenschaftler und das Verfahren wurde eher in Zu-
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Attac-Deutschland und der Verein „Mehr Demokratie“, der sich für die Einführung und Stärkung von Bürgerentscheiden einsetzt, haben sich zwar mit dem Bürgerhaushalt beschäftigt und befürworten ihn prinzipiell, doch haben sie ihm keine besondere Beachtung durch spezielle Kampagnen oder andere außenwirksame Aktivitäten gegeben. Lokale Initiativen zur Einführung eines Bürgerhaushalts gibt es u.a. in Freiburg, Leipzig, Frankfurt/Oder und Pforzheim.
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sammenhang mit ‚Verwaltungsmodernisierung‘ als mit ‚partizipativer Demokratie‘ gesehen. Hinsichtlich der Modernisierungsthematik bleibt es problematisch, dass die Ergebnisse bisher sehr bescheiden sind und grundsätzlich auch mit anderen Verfahren hätten erreicht werden können. So ist es nicht verwunderlich, dass derzeit ein Trend zur Verlagerung von Bürgerhaushalts-Aktivitäten ins Internet zu beobachten ist. Das Internet ist dabei nicht mehr nur Ergänzungsmedium, in dem Informationen bereit gestellt und Diskussionen mit denen geführt werden, die nicht zu den Versammlungen kommen, sondern der geringere Ressourcenaufwand spielt bei der zunehmenden Anwendung von OnlineDiskussionen zum Haushalt ebenso eine entscheidende Rolle. In Anbetracht dieser Tatsache lässt sich fragen, ob der Bürgerhaushalt in Deutschland für eine partizipative Modernisierung überhaupt das geeignete Instrument ist.
4.
Hämeenlinna (Finnland): Die kleine Demokratie
Einen Beitrag zur Klärung dieser Frage liefern die Erfahrungen aus Finnland, insbesondere der ‚kleinen Demokratie‘ aus Hämeenlinna. Anders als im Beispiel von Berlin-Lichtenberg gab es in diesem Land bisher keinen nennenswerten Einfluss der Erfahrungen aus Porto Alegre; auch die Kenntnis von den Reformprojekten aus Christchurch haben im Gegensatz zu Deutschland nicht zu der Einrichtung eines Bürgerhaushalts geführt.61 Stattdessen gibt es im ‚Land der tausend Seen‘ zahlreiche Verfahren einer bürgerorientierten Verwaltung, wobei sich die Stadt Hämeenlinna mit ihrer ‚kleinen Demokratie‘ als international bekannte Reformstadt hervorhebt. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Ähnlichkeiten in Bezug auf den Bürgerhaushalt in Deutschland. So fällt die Abwesenheit sozialer Bewegungen auf, die sich für mehr direkte Beteiligung einsetzen würden. Wie beim Großteil der deutschen Bürgerhaushalte geht es in der ‚kleinen Demokratie‘ zudem kaum um soziale und politische Fragen, als vielmehr um eine Modernisierung der Verwaltung. Zu welchen konkreten Ergebnissen haben die Verfahren aus Hämeenlinna geführt? Welche Vor- und Nachteile gibt es gegenüber dem Bürgerhaushalt in Deutschland? Zur Beantwortung dieser Fragen ist die Berücksichtigung des politischen Kontexts in Finnland unerlässlich. Er unterscheidet sich nicht nur stark von der Situation in Deutschland, sondern auch von den Ländern Südeuropas, von Frankreich und Großbritannien, um die es im Anschluss an dieses Kapitel gehen wird.
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Bis heute sind Schweden und teilweise auch Norwegen die einzigen Länder in Skandinavien, die Erfahrungen mit dem Bürgerhaushalt haben.
II/1.4 Hämeenlinna (Finnland): Die kleine Demokratie
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4.1 Kommunen und Freigemeindeexperiment In Finnland (ebenso wie in den anderen skandinavischen Ländern) wuchs die Aufgaben- und Kompetenzfülle der Kommunen insbesondere während der Etablierung des Wohlfahrtsstaates, der dem sozialdemokratischen Modell nahe steht. Allgemein gilt das skandinavische Kommunalmodell als positives Vorzeigemodell in Bezug auf den Grad der kommunalen Autonomie und Selbstverwaltung – die Situation in Finnland ist hier keine Ausnahme. Die finnischen Kommunen finanzieren ihre Ausgaben zum Großteil aus eigenen Steuern; darüber hinaus üben sie aufgrund einer fehlenden, autonomen Regionalebene zwischen Staat und Gemeinden den Großteil der öffentlichen Funktionen aus.62 Auch in Finnland sind das New Public Management, die Einführung von Marktkriterien und Privatisierungen schon lange keine Tabuthemen mehr. Doch ist die Entwicklung in Finnland (und Skandinavien allgemein) meilenweit von der umfassenden Liberalisierungspolitik eines Landes wie Großbritannien entfernt. Die Grundstruktur der kommunalen Selbstverwaltung ist trotz bestehender Herausforderungen nach wie vor intakt [Rose/Stahlberg, 2005]. Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man einen wichtigen Reformprozess berücksichtigen: das Freigemeinde-Experiment.
Das Freigemeinde-Experiment Das Freigemeinde-Experiment wird in Schweden Mitte der 1980er Jahre erfunden und in den folgenden Jahren auch in Dänemark, Norwegen und Finnland umgesetzt [Baldersheim/Stahlberg, 1994; Rose, 1990]. In Finnland erlaubt die Regierung den Kommunen ab dem Jahr 1989, eigenständig und freiwillig die (verwaltungs-)politischen Strukturen zu verändern. Die Kommunen haben im Rahmen des Freigemeinde-Experiments, das nach einer Verlängerungsperiode 1996 beendet wird, strukturelle Innovationen initiiert, d.h. als Motoren einer weit reichenden Modernisierung der öffentlichen Verwaltung agiert [Rose/Stahlberg, 2005: 99]. Die Ziele des FreigemeindeExperiments sind die Rationalisierung der politischen Funktions- und Ent-
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In Finnland gibt es zwischen Staat und Kommunen keine eigenständige, intermediäre Einheit. Die sechs Provinzen unterstehen direkt der Zentralregierung, auch die 19 Regionalverbände sind in ihrer Autonomie stark eingegrenzt. In den letzten Jahren wurde jedoch verstärkt die interkommunale Zusammenarbeit gestärkt, 2003 gab es 250 derartiger Kooperationen [vgl. Haveri, 2003]. Zwei Drittel aller öffentlichen Ausgaben für Verbrauch und Investitionen werden von Kommunen und kommunalen Zusammenschlüssen geleistet, die 411.000 kommunalen Angestellten repräsentieren 75% aller öffentlichen Angestellten [Oulasvirta, 2003: 340].
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II/1 Partizipative Modernisierung
scheidungsstrukturen, die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, mehr Qualität und Effizienz in der Dienstleistungserbringung, eine größere Kunden- und Bürgerorientierung und eine Stärkung der lokalen Demokratie. In Finnland, wo es 56 Projektkommunen gibt, konzentriert sich das Freigemeinde-Experiment insbesondere auf den Aspekt der Verwaltungsreform. Wichtige Punkte hierbei sind eine massive Reduktion der Ausschüsse, die Abflachung der Hierarchien durch Machtdelegation, die Förderung ressortübergreifender Kooperation und die Einführung von Rahmenbudgets. Die Veränderungen gehen weit über die Experimentierstädte und den Reformzeitraum hinaus. Heute gibt es kaum noch kommunale Beschlüsse, die der Zustimmung des Staates bedürfen, den Kommunen werden mehr finanzpolitische Spielräume eingeräumt und ihre Position gegenüber dem Zentralstaat gestärkt.
Dieses Reformprojekt hat die kommunale Autonomie gestärkt und zu einer umfassenden Modernisierung der Verwaltung geführt, die Ergebnisse im Bereich der lokalen Demokratie und Bürgerpartizipation sind jedoch weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück geblieben. Gleichzeitig sind die Probleme auf diesem Gebiet weiter gewachsen; z.B. lag im Jahr 2000 die kommunale Wahlbeteiligung auf kommunaler Ebene auf dem historischen Tief von rund 55% [Niemi-Iilahti, 2003: 281]. Aus diesem Grund hat die finnische Zentralregierung seit Mitte der 1990er Jahre verschiedene Programme zur Stärkung der lokalen Demokratie initiiert. Darüber hinaus wurden in der veränderten Kommunalverfassung von 1995 die Kommunen in einem neu geschaffenen Paragraphen angeregt, die Bewohner stärker zu beteiligen. Die traditionellen und noch heute am meist verbreiteten Beteiligungsformen der Finnen auf kommunaler Ebene sind Vereine,63 Interessengruppen und die Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten. Im Gegensatz zu der Situation in vielen anderen europäischen Staaten sind Quartiersräte, Planungszellen oder ähnliche institutionalisierte Formen der Beteiligung selten [Kettunen, 2003: 272-273]. 4.2 Die Anfänge der kleinen Demokratie Die Situation in der finnischen Stadt Hämeenlinna hat in dieser Hinsicht lange Zeit keine Ausnahme dargestellt. Es handelt sich um eine 46.000 Einwohner
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In Finnland sind einer von drei Bürgern in mehr als zwei der rund 100.000 registrierten Vereine aktiv. Es besteht eine auch in Deutschland vorhandene, enge Verbindung zwischen Kommunalpolitik und Vereinswesen.
II/1.4 Hämeenlinna (Finnland): Die kleine Demokratie
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zählende, 100 km nordwestlich der finnischen Hauptstadt gelegene typische finnische Kleinstadt. Sie befindet sich im wirtschaftlich starken Ballungsgebiet zwischen Helsinki und Turku, die wirtschaftliche Situation ist trotz der hohen Arbeitslosigkeit (12,5% im Vergleich zu national 8,8% 2005) relativ stabil. Die Geburtsstadt des finnischen Nationalkomponisten Jean Sibelius verzeichnet einen geringen Ausländeranteil (1,7%), darunter traditionell vor allem Russen und Esten. Es gibt keine klare Mehrheit im Rat, die meisten Sitze haben Sozialdemokraten und die konservative Sammlungspartei,64 die traditionell in einer Art ‚großen Koalition‘ zusammen regieren.65 Verändert hat sich die Situation mit dem Freigemeinde-Experiment, an dem Hämeenlinna als eine der 56 Projektkommunen teilgenommen hat. In der Folge fand ein umfassender Wandel in der Verwaltungsstruktur statt, darüber hinaus entwickelte sich ein neues Selbstverständnis im Umgang mit den Bürgern. ‚Kleine Demokratie‘: so nennen die lokalen Akteure aus der Verwaltung und Politik die Vielzahl von Beteiligungskanälen, die sie seit dem Freigemeinde-Experiment eingerichtet haben. Sie sollen die ‚große‘, d.h. repräsentative Demokratie ergänzen und zu einer besseren Kommunikation zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft führen. In den Worten des zentralen Verantwortlichen für Bürgerpartizipation in der Verwaltung Hämeenlinnas, Kari Kolehmainen, heißt das: „Unser Denken basiert auf der Idee, dass unsere Politiker, die gewählten Repräsentanten, einen konstanten Fluss von Ideen und Vorschlägen aus der Bürgerschaft brauchen, über die Jahre hinweg, nicht nur einmal alle vier Jahre. Nur dadurch sind sie die ganzen vier Jahre [des Mandats] verantwortlich gegenüber der Bürgerschaft.“ Die ‚kleine Demokratie‘ beruht einerseits auf einer Reihe von Beteiligungsverfahren für die Einwohner als Bürger, andererseits auf zahlreichen Verfahren zur Konsultation und Beteiligung der Kunden lokaler Dienstleistungen. In ihr geht es daher nicht nur um mehr Beteiligung, sondern wichtiger Stützpunkt ist eine effizient arbeitende und bürgernahe Verwaltung, die sich die Qualität der Produkte und die Zufriedenheit ihrer Kunden auf die Fahne geschrieben hat. Die Ideengeber der ‚kleinen Demokratie‘ kommen aus einem breiten politi-
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Finnland ist ein Vielparteienstaat, die stärksten Parteien sind die Sozialdemokraten, die konservative Sammlungspartei Kokoomus und die ehemalige Bauernpartei, das Zentrum (Keskusta). In dem offiziell zweisprachigen Land wird die schwedische Minderheit von der schwedischen Volkspartei repräsentiert. Historisch hat sich die Politik des gesellschaftlichen Konsenses insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg entwickelt. Die friedliche Kooperation mit der Sowjetunion erforderte eine Überwindung der scharfen ideologischen Trennungslinien zwischen Kommunisten (‚Roten‘) und Bürgerlichen (‚Weißen‘), die das Land noch im Bürgerkrieg von 1917 gespalten hatten. Ein weiteres Beispiel sind (wie in Deutschland) neo-korporatistische Verhandlungsstrukturen in der Arbeitsmarktpolitik, wo Arbeitgeberverbände, Bauernverband, Gewerkschaften und die Regierung gemeinsam über die Löhne verhandeln [Auffermann, 2003: 212].
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II/1 Partizipative Modernisierung
schen Spektrum und der Verwaltung, zivilgesellschaftliche Akteure spielen, ähnlich wie beim Bürgerhaushalt in Deutschland, keine maßgebliche Rolle. Die Idee der ‚kleinen Demokratie‘ hat sich jedoch erst allmählich entwickelt. Zu Beginn des Freigemeinde-Experiments ging es, wie auch in den anderen Kommunen, hauptsächlich um die Veränderung der Verwaltungsstrukturen nach den Vorstellungen eines auf die Binnenreform der Verwaltung orietierten New Public Managements. Mit großer Konsequenz wurde dies in der Folge tatsächlich umgesetzt, und z.B. die Hierarchien in der Verwaltung radikal abgeflacht, die Zahl der politischen Ausschüsse stark reduziert und Rahmenbudgets für die einzelnen Verwaltungseinheiten eingeführt. Gleichzeitig ging jedoch die Beteiligung bei den Kommunalwahlen weiter nach unten, immer weniger Bürger schienen sich für die Belange der Stadt zu interessieren. Der Kontext zu Beginn der 1990er Jahre war darüber hinaus durch die schwere finnische Wirtschaftskrise gekennzeichnet, in deren Folge sich die Arbeitslosigkeit in Hämeenlinna verdreifachte (von fünf Prozent in den 80er Jahren auf achtzehn Prozent). Der regionale Entwicklungsfonds, der Anfang der 1990er Jahre zur Unterstützung nachbarschaftlicher Initiativen eingerichtet wurde,66 schien nicht auszureichen, um die Bürger wieder für die kommunale Politik zu interessieren. Aus diesem Grund setzte sich die verwaltungspolitische Spitze der Stadt für eine doppelte Entwicklungsstrategie ein. Auf der einen Seite sollten die Bürger mehr Mitspracherechte erhalten, auf der anderen Seite die Verwaltung näher an den Bürgern agieren und konsequent deren Wünsche und Beschwerden berücksichtigen. Diese Verbindung von Bürger- und Qualitätsorientierung [Naschold, 1999] stellen die Besonderheit der Partizipationspolitik in Hämeenlinna dar, die auch als Hämeenlinna-Modell internationale Aufmerksamkeit erfahren hat. Auch wenn die Stadt heute nicht mehr die einzige in Finnland ist, in der die Qualität der Dienstleistungen und die Partizipation der Bürger so eine zentrale Rolle spielen, hat sie in den 90er Jahren eine Vorreiter-Rolle auf diesem Gebiet gespielt. Was ist jedoch genau die Rolle und Autonomie der teilnehmenden Bürger in der ‚kleinen Demokratie‘? Könnte man nicht den Vorwurf erheben, dass das Verhältnis zwischen Verwaltung und Bürgern sehr stark über den Kundenbegriff definiert ist und die Bewohner Hämeenlinnas nur nach Maßgabe von Politik von Verwaltung Einfluss haben? In welchem Verhältnis stehen Partizipation und Verwaltungsmodernisierung?
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Es handelt sich dabei um eine im europäischen Vergleich kleine Summe, rund 20.000 Euro pro Jahr. Gefördert werden insbesondere Projekte für Kinder und Jugendliche oder aber für die Verschönerung und Renovierung in den Stadtteilen. In der Regel werden die Projekte von der Bürgern selbst durchgeführt.
II/1.4 Hämeenlinna (Finnland): Die kleine Demokratie
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4.3 Von der Qualitätsorientierung zur aktiven Bürgerbeteiligung „Die Dienstleistungen sind für die Bürger da. […] Wir schätzen es, wenn sie Stellung beziehen und uns Rückmeldung geben. Ihr Dankeschön, ihre Kritik und ihre Fragen helfen uns, unsere Dienstleistungen weiter zu entwickeln.“ Diese beiden Sätze aus der „Hämeenlinna-Erklärung“ des Jahres 1997, zu deren Einhaltung sich der Rat der Stadt jährlich neu verpflichtet, verdeutlichen die Grundideen der städtischen Qualitätsorientierung und bürgernahen Verwaltung [vgl. Bertelsmann Stiftung, 2000]. Gleichzeitig symbolisieren sie auch den Unterschied hinsichtlich eines Bürgerhaushalts à la Porto Alegre, wo die Bürger selbst und nicht Mitarbeiter der Verwaltung (auf Grundlage einer Konsultation der Bürger) Prioritäten für die Stadt entwickeln. Dennoch steht in Hämeenlinna die Qualität der Dienstleistungen ganz oben auf der politischen Agenda und wird durch zwei Kanäle sichergestellt. Verwaltungsintern gibt es Verfahren, die die Qualität durch die Einhaltung bestimmter Kriterien sicherstellen sollen. Dazu gehören z.B. der ständige Vergleich mit Dienstleistungen anderer Kommunen sowie ein umfassendes System von Service-Chartas, in der die allgemeinen Erklärungen der Hämeenlinna-Erklärung konkretisiert werden. Inhalt der Service-Chartas sind der genaue Zeitpunkt, der konkrete Inhalt der zu erbringenden Dienstleistungen sowie die Erwartungen an die Bürger.67 Extern soll eine Konsultation des Bürgers als Kunden für eine beständige Kontrolle der Qualität sorgen. Es werden zum Beispiel regelmäßig umfassende Befragungen der Bevölkerung durchgeführt, seit November 2005 auch im Rahmen eines citizen panels: Bürger können sich freiwillig registrieren lassen und werden in regelmäßigen Abständen dazu aufgefordert, ihre Meinung zu bestimmten Themen zu äußern, darunter auch finanzielle Angelegenheiten (Investitionen, Steuern, Höhe der Schulden usw.). Kommunikationsmedium ist ausschließlich das Internet, zu dem die Bewohner Hämeenlinnas an mehreren öffentlichen Orten Zugang haben. Eine ausführliche Zusammenfassung der Antworten wird im Internet veröffentlicht, wie bei einer Umfrage gibt es allerdings keine Rechenschaft darüber, welche Vorschläge übernommen werden und welche nicht. In Zukunft soll es auch Kommunikationsmöglichkeiten zwischen den Bürgern geben, so dass der ‚Internet-Rat‘ (verkkovaltuusto) in Richtung der Erfahrungen
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Ein Beispiel aus der Altenpflege veranschaulicht diese Idee. So heißt es in der Charta: „Wir verpflichten uns, die Leistungen nach dem zusammen ausgearbeiteten Pflege- und Leistungsplan nach folgender maximaler Bearbeitungszeit den Bürgern zur Verfügung zu stellen: im Falle der Heimpflege in einem Monat; im Falle der häuslichen Pflege in zwei Monaten; sonst spätestens in drei Monaten. Wird das oben genannte Versprechen nicht erfüllt, verpflichten wir uns zu einer Kostenerstattung […]. Wir erwarten von den Bürgern aktive und offene Zusammenarbeit bei der Leistungserbringung; eine Rückmeldung über die Dienstleistung, die sie bekommen haben, dass sie uns ihre Gedanken zur Weiterentwicklung unserer Dienste mitteilen.“ [vgl. Bertelsmann Stiftung, 2000: 32]
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II/1 Partizipative Modernisierung
aus der deutschen Stadt Esslingen gehen könnte. Darüber hinaus gibt es in Hämeenlinna Ansprechpartner der Verwaltung in allen Stadtteilen, eine zentrale Anlaufstelle der Verwaltung auf dem Markplatz (Kastelli), sowie ein System des Beschwerdemanagements. Via Feedbackkarten haben die Bewohner Hämeenlinnas die Möglichkeit, schnell und unkompliziert ihre Wünsche und Beschwerden an die Verwaltung zu übermitteln und innerhalb eines Monats eine Antwort zu erhalten. Das ganze Jahr über können sie ihre Anfragen, Wünsche etc. an die Stadtverwaltung richten, ob per Internet oder durch einen Papierbogen, den sie bei Kastelli abgeben. Seit den 90er Jahren hat die politische Spitze Hämeenlinnas auch eine Reihe besonderer Beteiligungsformen eingerichtet. Hier agieren die Hämeenlinnalaiset nicht mehr als Kunden, sondern werden in ihrer Rolle als Bürger aktiv. Dennoch basiert die ‚kleine Demokratie‘ nicht auf der Schaffung autonomer Räume für die Bevölkerung oder gar der Übertragung eigener Entscheidungskompetenzen, wie sie die Idee des Bürgerhaushalts aus Porto Alegre prägen. Ein Beispiel hierfür liefern die zahlreichen Foren, die in den 1990er Jahren eingeführt wurden und eine Diskussionsplattform zwischen Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft darstellen. So gibt es in Hämeenlinna ein Jugend- und Drogenforum, einen Alten- und Behindertenrat sowie das ‚Vereinsparlament‘, in dem Mitglieder der örtlichen Sportvereine zusammenkommen. Mehrere Male pro Jahr treffen sich hier Vertreter der Stadtverwaltung und Mitglieder der jeweiligen Vereine oder Interessengruppen, um über bestehende Probleme, Planungen etc. zu reden. Darüber hinaus dienen die Foren zur Stärkung des gegenseitigen Verständnisses zwischen Verwaltung, Politik und Bevölkerung sowie einer besseren Vernetzung und Kooperation zwischen den lokalen Gruppen.
Das ‚Vereinsparlament‘ Es ist kalt draußen an diesem Januartag im Jahr 2005, die Stadt ist verschneit. Dennoch sind wie üblich rund 20 Mitglieder von lokalen Sportvereinen in den Sitz der Sportverwaltung gekommen. Sie sind pünktlich, das Treffen beginnt wie geplant um 18 Uhr. Der Großteil der Anwesenden trägt einen Jogginganzug, einige sind aber auch eleganter gekleidet. In einem großen Raum, der auch Vereinen zum Training zur Verfügung steht, haben sich die Teilnehmer um einen langen Tisch gesetzt. Das seuraparlamentti beginnt mit einer persönlichen Vorstellungsrunde. Daran anschließend erläutert die Leiterin der städtischen Sportabteilung auf einer Folie die Finanzsituation. Einige Anwesenden stellen Fragen, auf die die Leiterin gleich eine Antwort gibt. Am Ende sagt sie: „So ist die Situation, damit müssen wir umgehen, es könn-
II/1.4 Hämeenlinna (Finnland): Die kleine Demokratie
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te schlimmer sein.“ Damit ist der Punkt geklärt; es geht weiter auf der Tagesordnung. Dieser Pragmatismus im Umgang mit Problemen ist typisch für die Partizipationspolitik in Hämeenlinna. Anschließend wird noch über die Funktionsweise des ‚Vereinsparlaments‘ geredet. Besprochen wird unter anderem, dass der Aktionsradius ausgeweitet werden soll. So wäre es gut, das Themengebiet breiter zu fassen und z.B. auch über Sport an Schulen und für bestimmte Bevölkerungsgruppen zu diskutieren. Auch nicht organisierte Bürger sollen zu den Treffen eingeladen werden. Die Sitzung des ‚Vereinsparlaments‘ ist nach rund einer Stunde vorbei. Sie verlief sehr ruhig, geredet haben neben der Leiterin nur einige wenige Anwesende. Dennoch ist die Leiterin zufrieden. Es sei normal, dass sich nur ein paar Leute äußern. Das sei Ausdruck der finnischen Kultur. Dennoch bewirken die Anwesenden etwas, denn die gemachten Vorschläge werden tatsächlich umgesetzt. Im September 2006 findet das erste ‚Bewegungsparlament‘ (liikuntaparlamentti) statt, in dem die Vorschläge aufgegriffen werden.
Eine weitere Möglichkeit zur Beteiligung haben die Bewohner Hämeenlinnas seit den 90er Jahren im Bereich der Stadtplanung, und auch hier dominiert die Logik der Kooperation zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft. Zentral sind hierbei eine möglichst breite Information der Bevölkerung zu Beginn des Verfahrens sowie ein kontinuierlicher Ideenaustausch zwischen Verwaltung und Bürgerschaft im Verlauf des Planungsprozesses.68 Eine bei der Stadt angestellte Architektin beschreibt das Verfahren folgendermaßen: „Das wichtigste ist, dass wir die Diskussionen ganz zu Beginn des Verfahrens beginnen, wenn wir anfangen zu planen. Nur mit den Stadtplänen hingehen, so offen es nur irgendwie geht. Das ist der wichtigste Punkt unseres Planungsprozesses. Wenn wir dann etwas haben, zeigen wir die Pläne: So, das haben wir bis jetzt geplant, jetzt könnt ihr uns sagen, ob die Sachen, die ihr uns das letzte Mal mitgeteilt habt, berücksichtigt sind. Nach der Entscheidung des technischen Ausschusses müssen wir den Bürgern den Plan wieder zeigen. Dann geht alles zur Stadtregierung, und danach zum Stadtrat. Und danach können die Bürger immer noch ihre Meinung äußern. Wir diskutieren mindestens vier Mal mit ihnen.“
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Neben diesen eher formellen Treffen werden im Rahmen der Stadtplanung auch andere Verfahren angewandt. So werden in manchen Gebieten Spaziergänge von Bürgern und Architekten organisiert, so dass man vor Ort diskutieren kann, wo es Probleme gibt und was gut funktioniert. Allgemeiner gehalten sind Veranstaltungen, an denen Bürger (Kinder, Jugendliche, Erwachsene) auf Karten einzeichnen, wo es gefährliche Orte in der Stadt gibt, welche Plätze sie besonders mögen, wo Grünflächen fehlen etc.
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II/1 Partizipative Modernisierung
Ein weiteres Verfahren verdient besondere Aufmerksamkeit, das sich spezifisch an Jugendliche und junge Erwachsene (13-20 Jahre) richtet: Vaikuttamo (‚der Ort, wo man Einfluss hat‘). Es wurde 2002 zum besten eLearning-Projekt im Eschola-Wettkampf des Europäischen Netzwerkes Schoolnet gekürt. Hintergrund des Projekts ist die besonders niedrige Wahlbeteiligung bei Wählern unter 25 Jahren (im Jahr 2000 beteiligte sich nur ein Drittel dieser Altersgruppe an den Kommunalwahlen). Mit verschiedenen Projekten soll das Interesse von Jugendlichen für ihr Umfeld geweckt, die lokale e-Demokratie durch einen neuen, virtuellen Öffentlichkeitsraum verstärkt und der Schulunterricht durch die Verwendung innovativer Technik interessanter werden. Einen zentralen Platz hat die Internetseite, die weitgehend von den Jugendlichen selbst gestaltet wird. Hier können die Jugendlichen mit Politikern chatten, Lehrer und Schüler finden hier Informationen zu verschiedenen, in der Schule behandelten Themen, das von Schülern selbst durchgeführte Wocheninterview gibt Informationen zu einem aktuellen Thema. Jugendliche haben zudem die Möglichkeit, einen Plan für bestimmte Projekte zu veröffentlichen, wofür sie dann einen offiziellen Antrag bei der Stadtverwaltung stellen müssen. Auf diese Weise wurde z.B. eine Skateboard-Rampe einer Schule finanziert. Grundsätzlich ging in den letzten Jahren die Tendenz in Hämeenlinna in Richtung einer besseren Koordination von Verwaltungsmodernisierung und Bürgerpartizipation. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass sich dort stark politisierte Verfahren mit autonomen Räumen für die Zivilgesellschaft bilden werden, besteht kein Zweifel daran, dass die bestehenden Verfahren weiter entwickelt und um neue Themen ergänzt werden. Die stetige Fortentwicklung der bestehenden Strukturen ist ein Grundprinzip in der ‚kleinen Demokratie‘.
5.
Voraussetzungen einer partizipativen Modernisierung
Zusammenfassend lassen sich folgende Prinzipien für die ‚kleine Demokratie‘ festhalten: Partizipative Modernisierung, hohe Qualitätsstandards der Verwaltung und konsultative Bürgerpartizipation in möglichst vielen Bereichen, aber keine Veränderung der politischen Strukturen.69 Die ‚kleine Demokratie‘ stellt somit die ‚große‘, repräsentative Demokratie nicht in Frage. Der Einfluss der Bürger ist rein konsultativ, anders als in Porto Alegre gibt es keine bottom-upBewegung aus der Bevölkerung und keine wirklichen Kontrollmechanismen der teilnehmenden Bürger. Es ist daher nicht zu bestreiten, dass die Bürger unter formalen Gesichtspunkten nur nach Vorgabe von Politik und Verwaltung Ein-
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Diese Prinzipien finden sich auch in der Charta of Democracy wieder, die der Rat der Stadt im Jahr 1997 beschlossen hat [vgl. Oppen, 1999: 98].
II/1.5 Voraussetzungen einer partizipativen Modernisierung
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fluss haben. Zwischen Modernisierung und Demokratisierung ist es eindeutig die Modernisierung, die dominiert. Es handelt sich jedoch um eine Modernisierung, die auf Grundlage einer umfassenden Konsultation der Bürger stattfindet (Feedback-Karten, Umfragen u.a.). Gleichzeitig gibt es zahlreiche Formen der Bürgerbeteiligung, die zwar konsultativ sind, in denen die Bürger aber de facto die Politikformulierung mit beeinflussen. Im Rahmen mancher Foren (hier das ‚Vereinsparlament‘) entscheiden die teilnehmenden Mitglieder lokaler Vereine über die Verfahrensregeln mit, auch sind im Bereich der Stadtplanung sehr zentrale Themen Gegenstand der Bürgerpartizipation gewesen. Über die letzten 15 Jahre hat sich eine Kultur der Transparenz und gemeinsamen Planung gebildet, die den Stil des Verwaltungshandelns und Regierens prägt. Offenheit gegenüber den Bürgern und ihre regelmäßige Konsultation gehören inzwischen zum Alltag im Handeln der meisten Akteure aus Politik und Verwaltung. In den Worten des stellvertretenden Bürgermeisters der Stadt,70 Juha Isosuo, klingt das so: „Die wichtigste Sache ist die Einstellung. Die demokratische Struktur, Wahlen alle vier Jahre etc., haben sich nicht so sehr verändert. Aber jetzt ist das ganze Leben ganz anders: Internet, Anhörungen, zivilgesellschaftliche Organisationen […]. Und die Bürger beteiligen sich auf ganz normale Weise. Sie können mich einfach anrufen oder mir eine Mail schicken. Der Abstand zwischen Repräsentanten und Repräsentierten ist viel geringer.“ Wieso scheinen in der ‚kleinen Demokratie‘ die Ergebnisse letztendlich größer als beim Bürgerhaushalt in Deutschland, wo insbesondere im Bereich der Modernisierung konkrete Effekte begrenzt sind? Liegt es an dem längeren Erfahrungszeitraum, oder sind die Instrumente in Hämeenlinna‘ einfach besser als der deutsche Bürgerhaushalt? Anders formuliert: Ist der Bürgerhaushalt, so wie er heute in den meisten deutschen Städten praktiziert wird, ein geeignetes Verfahren zur Modernisierung der Verwaltung? Ein Vergleich mit dem Beschwerdemanagement auf Grundlage von Feedback-Karten ist bezüglich dieser Frage besonders aufschlussreich. Mit Ausnahme der Präsentation des Haushalts funktioniert das Feedback-System in Hämeenlinna genauso wie z.B. der Bürgerhaushalt in der Stadt Hilden: Die Bürger schreiben ihre Vorschläge auf Kärtchen und erhalten dafür eine persönliche Antwort. Bei den Feedback-Karten hingegen fallen kaum Kosten an (für die Organisation der Veranstaltung, die Durchführung der Zufallsprozedur etc.), darüber hinaus wird es das ganze Jahr über angeboten und ist nicht auf eine einzelne Veranstaltung begrenzt. Zwar erhalten
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Es gibt in Finnland (noch) keine Bürgermeister, sondern sog. Stadtdirektoren. Sie sind Beamte, nicht Mitglieder des Rates, werden aber vom Rat bestimmt. Ihre politische Zugehörigkeit spielt daher eine Rolle bei der Auswahl; als Stadtdirektoren haben sie jedoch keine politische Funktion. Sie vertreten offiziell die Stadt und stehen der Verwaltung vor.
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II/1 Partizipative Modernisierung
die Bürger im Rahmen des Feedback-Systems keinerlei Informationen über den Haushalt. Wenn sich die Konsultation der Bürger im Bürgerhaushalt jedoch auf kleinteilige Leistungen wie die Verlängerung eines Radweges beschränkt, ohne eine Diskussion über den Haushalt allgemein zu integrieren, so reicht auch ein gut durchgeführtes Beschwerdemanagement oder eine hauptsächlich im Internet durgeführte Beteiligung zum Haushalt – so zumindest könnte man eine Hypothese in die Debatte um den Bürgerhaushalt in Deutschland und Europa einfügen. Die potenzielle Reichweite eines Bürgerhaushalts ist jedoch größer als beim Beschwerdemanagement, das keine Diskussion über langfristige Politikziele oder auch über komplexere Fragen ermöglicht. Mit einem Bürgerhaushalt lassen sich grundlegende strategische Fragen erörtern, wie z.B. der Ausgleich des Haushalts. Um Klarheit darüber zu bekommen, welche Leistungen wichtig sind und welche weniger, kann diesbezüglich auch über die inhaltliche Ausrichtung der Aufgabenbereiche wie Kultur, Sport, Jugend etc. diskutiert werden. Hieraus lässt sich eine Prioritätenliste ableiten, nach der Finanzierungen für einzelne Bereiche und Aufgaben vergeben werden. Darüber hinaus ermöglicht ein Bürgerhaushalt auch die Erarbeitung von Fachanalysen, wie z.B. die Evaluation öffentlicher Dienstleistungen. Hierfür ist es jedoch notwendig, dass die Diskussion ausgeweitet wird und die Bürger die Möglichkeit haben, detaillierte Vorschläge zu unterbreiten, die die Verwaltung dann für eine Optimierung ihr Dienste nutzen kann. Abgesehen von den konkreten Problemen in der Praxis liegt der besondere Beitrag der deutschen Beispiele und der ‚kleinen Demokratie‘ aus Finnland zu der internationalen Debatte um den Bürgerhaushalt darin, eine Verbindung zwischen Partizipation und Modernisierung herzustellen. Dieser Ansatz fußt auf einer eigenen Tradition, die aus dem Beispiel Christchurch bzw. dem New Public Management hervorgegangen ist, während der Einfluss von Porto Alegre in Deutschland marginal bleibt bzw. in Finnland (bis heute) fehlt. Das Interessante hierbei ist, dass es in Hämeenlinna – wie auch beim Bürgerhaushalt in Deutschland – zunächst einen Modernisierungsprozess gab, der erst im Laufe der Zeit durch Verfahren der Bürgerbeteiligung ergänzt wurde. Lässt sich daraus schließen, dass ein Modernisierungsprozess, der über eine gewisse Stufe hinausgehen will, auf eine Beteiligung der Bürger und die Integration ihres ‚Benutzerwissens‘ angewiesen ist? Im dritten Teil des Buches werden wir nochmals auf diese Frage zu sprechen kommen. In den nächsten Kapiteln geht es nun jedoch zunächst um die Erfahrungen mit dem Bürgerhaushalt aus anderen Ländern Europas.
Kapitel 2
Porto Alegre in Europa?
In Deutschland wurde ein Bürgerhaushalt über Investitionen nicht nur aufgrund der schwierigen finanziellen Lage der Kommunen abgelehnt. Die Einführung eines solchen Verfahrens ist nach Meinung vieler deutscher Politiker auch nicht gerechtfertigt, da man von Armut und Korruption in einem viel geringeren Maß betroffen sei als in Brasilien. Ein weiteres Argument ist, dass allein die gewählten Repräsentanten die Legitimation hätten, über Verteilungsfragen zu entscheiden. In Spanien, in geringerem Maß auch in Italien, wird dies mitunter ganz anders gesehen. Die Idee einer Bürgerbeteiligung am Haushalt ist eng mit einer Delegation von Entscheidungskompetenz und der Förderung sozialer Gerechtigkeit verbunden. Im Gegensatz zu Deutschland können die Teilnehmer oft Einfluss auf die Regeln des Verfahrens nehmen. Viele der Politiker, die einen Bürgerhaushalt unterstützen, waren selbst in Porto Alegre und haben sich auf den Weltsozialforen von der Vision einer neuen lokalen Demokratie begeistern lassen. Auf dem im Vorfeld tagenden „Forum der lokalen Autoritäten“, einer Versammlung von Bürgermeistern und lokalen Mandatsträgern, werden gegenseitige Besuche und gemeinsame Projekte verabredet. Eine besondere Bedeutung hat in dieser Funktion das Programm URB-AL erhalten, indem sich, unterstützt durch eine Finanzierung der EU, Städte und Gemeinden aus Lateinamerika und Europa zum Netzwerk „Kommunale Finanzen und Bürgerhaushalte“ zusammengeschlossen haben [Cabannes, 2003]. An vorderster Stelle stehen auf europäischer Seite Spanien und Italien. Dies kommt nicht von ungefähr, die beiden Länder repräsentieren mittlerweile die stärkste Kraft des Bürgerhaushalts in Europa – nirgendwo sonst wächst die Zahl der Beispiele so schnell wie hier. Auf den nächsten Seiten werden einige Verfahren vorgestellt und ihre konkreten Ergebnisse, Probleme und Herausforderungen diskutiert.
1.
Spanien: Die Macht der Vereine
Spanien ist noch eine relativ junge Demokratie. Bei der Überwindung der Diktatur haben Stadtteilvereine eine wesentliche Rolle gespielt. In Anerkennung ihres historischen Beitrags garantiert die Verfassung ihnen eine besondere Beachtung. In vielen Fällen wird dies von den Kommunen aufgenommen, die mit der Ver-
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II/2 Porto Alegre in Europa?
abschiedung eines Partizipationsstatuts den Vereinen Privilegien zuweisen können. Vorreiter ist Barcelona, hier wurde bereits 1986 ein solches Grundsatzpapier etabliert, an dem sich weitere Städte orientiert haben. Um die Bedeutung der organisierten Zivilgesellschaft gegenüber Nachbarschaftsinitiativen in Deutschland zu verstehen, muss gesagt werden, dass es in Spanien in jedem Stadtteil solche Initiativen gibt, die auf der Ebene der Stadt zu einem Dachverband zusammengeschlossen sind. Weitere Gliederungen existieren auf der Ebene der Provinz, der Region und auf der des Gesamtstaates [Ganuza, 2009]. Die Herausbildung derartiger neokorporatistischer Strukturen wird zudem durch fachbezogene Beiräte für Kultur, Bildung, Soziales gefördert, die seit den 1990er Jahren vermehrt gegründet wurden. Als Folge der engen Zusammenarbeit zwischen Lokalregierung und Vereinen haben sich vielerorts klientelistische Strukturen herausgebildet. Dieses Verhältnis ist aber für die Vereine nicht nur mit Vorteilen, sondern auch mit Nachteilen verbunden, denn ihr Einfluss wird durch den strikt konsultativen Charakter der bisherigen Partizipationsinstrumente begrenzt. Durch den Bürgerhaushalt hoffen sie, eigene Entscheidungskompetenzen zu erhalten und damit an Attraktivität zu gewinnen. Auf der anderen Seite stellen gerade die globalisierungskritische Bewegung und andere neu entstandene Gruppen an den Bürgerhaushalt die Erwartung, die Macht der etablierten Vereine zu brechen, womit sich bereits abzeichnet, dass mit der Einführung dieses neuen Instrumentes ein gewisses Konfliktpotenzial einhergeht. Eine Besonderheit der spanischen Kommunen ist, dass sich ihre Aufgaben nach der Größe richten. Gewisse Kernaufgaben wie Wasserversorgung, Müllbeseitigung, öffentliche Beleuchtung, Asphaltierung müssen von jeder der über 8.000 Kommunen erbracht werden. Darauf aufbauend erhalten Kommunen mit mehr als 5.000, 20.000 bzw. 50.000 Einwohnern sukzessiv weitere Kompetenzen. Die 50 Provinzen sind wie die deutschen Landkreise Teil der lokalen Ebene. Die ihnen übergeordneten Regionen stellen eine Zwischenebene dar. Sie verfügen über weniger Einfluss als die deutschen Bundesländer, haben aber einen höheren Status als z.B. die Regionen in Frankreich. Das lokale politische System ist dabei ein gemischtes; der Bürgermeister wird in der Regel vom Rat gewählt,71 verfügt aber über weitreichende Kompetenzen wie die Berufung der Beigeordneten in die Commission de gobierno (Regierungsausschuss). Als Vorsitzender delegiert er einige seiner Kompetenzen auf die Mitglieder dieser Kommission. Seit neustem kann er auch Personen außerhalb des Rates berufen. Denn mit der Einführung des Großstadtgesetzes ist Bewegung in die kommunale Landschaft gekommen [Ballesteros, 2004]: Großstädte können nun halbauto-
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Nur in Kommunen mit weniger als 250 Einwohnern wurde der Bürgermeister bisher direkt gewählt.
II/2.1 Spanien: Die Macht der Vereine
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nome Bezirke gründen; in diesem Zusammenhang können auch neue Partizipationsinstrumente wie der Bürgerhaushalt eingeführt werden. Erste Vorläufer des Bürgerhaushalts waren bereits in den 1980er Jahren zu finden.72 Als geistiger Vater der spanischen Verfahren kann Tomàs Villasante [1995, 2002] angesehen werden, der für einen Wissenstransfer zwischen Lateinamerika und Spanien gesorgt und einige der spanischen Bürgerhaushalte begleitet hat.73 Zu den Pionierstädten der neuen Generation zählen Rubi in Katalonien und Cabezas de San Juan in Andalusien [Ganuza/Álvarez de Sotomayor, 2003]. Ungeachtet dessen, dass es in beiden Städten heute keinen Bürgerhaushalt mehr gibt, hat sich die Bürgerbeteiligung am Haushalt seit dem ersten Weltsozialforum im Jahr 2001 von drei auf heute annähernd 20 Beispiele (2008) ausgeweitet. Der Einfluss des Bürgerhaushalts wird aber erst deutlich, wenn man beachtet, dass in Spanien bereits über 5,2 Prozent der Bevölkerung in einer Stadt mit einem Bürgerhaushalt wohnen – ein Wert, der sich deutlich von der Verbreitung in anderen europäischen Ländern (mit der Ausnahme Portugals) abhebt. Regionale Entwicklungsschwerpunkte des Bürgerhaushalts sind Katalonien sowie der Süden des Landes. So war z.B. lange Zeit Sevilla (700.000 Einwohner) die größte Stadt mit einem Bürgerhaushalt in Europa, bevor die Stadt Köln mit seinen eine Million Einwohnern diesen Platz eingenommen hat. Darüber hinaus haben sich solche Verfahren über das ganze Land verteilt. In jüngster Zeit ist z.B. mit Getafe und den Vorbereitungen für einen Bürgerhaushalt in Algete und Leganes ein weiterer Entwicklungspol um Madrid entstanden. Die Entstehung von Bürgerhaushalten fiel in die Zeit der konservativen Regierung José Maria Aznars. Das neue Beteiligungsinstrument wurde auch in Spanien nicht von der Zivilgesellschaft initiiert, sondern von Lokalpolitikern ins Gespräch gebracht, die sich mit einer neuen partizipativen Politik von der Nationalregierung abheben wollten. Insbesondere die Kommunistische Partei innerhalb der Vereinigten Linken (Izquierda Unida) trieb die Verbreitung einer Bürgerbeteiligung am Haushalt voran. Schon bald interessierten sich aber auch Politiker der sozialdemokratischen PSOE für dieses Thema und erst die Kooperation beider Parteien in Regierungskoalitionen brachte eine nennenswerte Zunahme der Beispiele. Seitdem haben Bürgermeister der Sozialisten und Post-
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Ohne explizit den Namen Bürgerhaushalt zu benutzen sind folgende spanische Städte als erste Beispiele eines Bürgerhaushalts zu bezeichnen, die alle hier vorgebrachten Kriterien erfüllen: das auf den Kanarischen Inseln gelegene Tirajana (34.000 Einwohner) führt seit 1982 ein solches Verfahren durch, im andalusischen Marinaleda gibt es seit 1980 eine Bürgerbeteiligung am Haushalt und in Lebrija (ebenfalls Andalusien) gab es diese von 1992 bis Ende der 1990er Jahre [Villasante, 1995]. Ebenso sind auf diesem Gebiet u.a. Joan Font [2001] und Ismael Blanco [2002] zu nennen, die sich an der Universität von Barcelona mit Bürgerhaushalten und partizipativer Demokratie beschäftigen.
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kommunisten in ungefähr gleich vielen Kommunen einen Bürgerhaushalt eingeführt. Trotz dieser starken Linkstendenz gibt es mittlerweile auch in Spanien konservative Regierungen, die sich für einen Bürgerhaushalt interessieren – eine Entwicklung, die später auch noch in Italien zu beobachten sein wird. 1.1 Vereinsbasierte versus individuelle Partizipation (Albacete und Cordoba) Die Namen Albacete und Cordoba stehen für zwei unterschiedliche Wege des Bürgerhaushalts in Spanien. Während Albacete an die Traditionen der Vereinsbeteiligung anknüpft, versucht Cordoba sich vor allem an Porto Alegre zu orientieren und begeht mit der individuellen Partizipation der Bürger einen Bruch mit den etablierten Beteiligungsformen. Hinter den unterschiedlichen Verfahren stehen zunächst unterschiedliche Parteien. Cordoba ist das Aushängeschild der Vereinigten Linken und der kommunistischen Partei. In Albacete wird der Bürgerhaushalt hingegen unter der Regierung der sozialdemokratischen PSOE eingeführt. Leuchttürme der Demokratie? Albacete (152.000 Einwohner) liegt in der Region Castilla la Mancha, eineinhalb Stunden mit dem Schnellzug Richtung Alicante von Madrid entfernt. Die Bewohner der Stadt leben hauptsächlich vom Dienstleistungssektor. An zweiter Stelle kommen Betriebe, die in Industrieparks außerhalb der Stadt angesiedelt sind. In der Innenstadt wohnen vor allem Angehörige der Mittelschicht; um sie herum ist ein Gürtel von benachteiligten Quartieren entstanden. Seit dem Ende der Diktatur (1979) wird Albacete mit Ausnahme der Jahre 1995 bis 1999 von einem sozialdemokratischen Bürgermeister regiert. Die Stadt zeichnet sich durch ein starkes Netz von Vereinen aus, denen 23 soziokulturelle Zentren zur Verfügung stehen. Eine hervorgehobene Stellung haben die Stadtteilvereine, denen im lokalen Partizipationsstatut eine besondere Förderung zugesichert wird [Aviles, 2004]. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten ist in Albacete der Klientelismus deutlich weniger ausgeprägt. Von den Akteuren vor Ort wird die Partizipationskultur gerne in Zusammenhang mit der linken Geschichte der Stadt gestellt. Man ist stolz darauf, Stützpunkt der Internationalen Brigaden gewesen zu sein sowie eine der Städte, die am längsten den Truppen Francos Widerstand geleistet haben. Cordoba (knapp 319.000 Einwohner) ist nach Sevilla die zweitgrößte Stadt Andalusiens. Die soziale Situation ist grundlegend anders als in Albacete. Die Arbeitslosigkeit ist mit 23% mehr als doppelt so hoch und 33% der Haushalte sind nach OECD-Maßstäben als arm zu bezeichnen. Einen Gegensatz stellt auch die politische Situation dar: Die Vereinigte Linke verfügte im Stadtrat bei der
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Einführung des Bürgerhaushalts über eine absolute Mehrheit. Die Sozialdemokraten stellten nach den Konservativen nur die drittstärkste politische Kraft. Cordoba war die erste Stadt in Spanien, die 1979 ein Partizipationsstatut verabschiedet hat. In der Stadt gibt es mehr als 2000 eingetragene Vereine, die sich mittels unterschiedlicher Partizipationsinstrumente an der lokalen Politik beteiligen können. Hervorzuheben ist darunter der Beirat der Bürgerbewegungen, der Consejo del Movimiento Ciudadano, ein Koordinationsgremium der lokalen Vereine, der eine Art Beirat der Stadtverwaltung darstellt und im offiziellen Organigramm verankert ist. Auf der Ebene der 14 Bezirke gibt es mit dem Bezirksbeirat (Juntas de Distrito) ein weiteres Gremium der Vereinsbeteiligung. Parallel dazu verbreitet sich aber auch die Tendenz, die Beteiligung nicht organisierter Bürger zu stärken. Einen ersten Schritt stellen die Lokale Agenda 21 sowie ein partizipativ erarbeiteter Stadtentwicklungsplan dar. Als weiterer Schritt in diese Richtung kann die Einführung eines Bürgerhaushalts angesehen werden [Ganuza, 2007; Aguilar, 2004]. Im Vergleich zu Albacete hat es die Stadt verstanden, sich national und international ins Rampenlicht zu setzen. So hat sich die Stadt aktiv im Netzwerk „Kommunale Finanzen und Bürgerhaushalte“ des europäisch-lateinamerikanischen URB-AL-Programms engagiert und hat aus diesem Anlass mehrere internationale Konferenzen ausgerichtet [Ayuntamento de Cordoba/URB-AL, 9/2004]. Zwei Wege der Partizipation am Haushalt Der Bürgerhaushalt von Cordoba entsteht, als das alte, auf Vereinen basierende Partizipationsmodell ins Stocken gerät: Die Privilegierung der Vereine wird zunehmend durch eine Ausdifferenzierung der Zivilgesellschaft in Frage gestellt, für die neuen Gruppen und Initiativen bilden die alten Beteiligungsstrukturen keinen angemessenen Platz. Gleichzeitig ist die Zahl der Teilnehmer bei den etablierten Verfahren begrenzt – sie erreichen ca. zehn Prozent der Bevölkerung. Als Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft im Jahr 2000 auf einer Konferenz von Bürgerhaushalten in Lateinamerika hören, sind sie es selbst, die ein solches Verfahren für ihre Stadt vorschlagen. Die Stadtverwaltung konzipiert daraufhin, unterstützt durch Berater aus dem Team von Tomás Villasante, einen ersten Bürgerhaushalt, der mehr eine Anpassung als eine direkte Übertragung des Beispiels von Porto Alegre darstellt. Dies kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass den Vereinen an verschiedenen Stellen ein Mitspracherecht eingeräumt wird. Allerdings soll sich dies als unzureichend erweisen, wie später dargestellt wird. Anders als in Deutschland geht es beim Bürgerhaushalt in Cordoba nicht in erster Linie um eine Transparenz des Gesamthaushalts und eine Evaluation von Dienstleistungen, sondern im Zentrum stehen drei Fachbereiche (Infrastruktur,
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Solidarität, Jugend und Bildung), in denen Investitionen und Projekte diskutiert werden. Bei einem Gesamtbudget von 212 Mio. Euro bezieht sich der Bürgerhaushalt auf 9 Mio. Euro (2004). Das Verfahren setzt auf der Ebene der Quartiere an, wo eine Abstimmung über die wichtigsten Vorschläge stattfindet. Auch werden hier die Delegierten gewählt, die anschließend die Prioritätenlisten auf der Ebene des Bezirks und der Gesamtstadt erstellen. Wie in Porto Alegre werden hierzu Verteilungskriterien herangezogen: Entsprechend der Qualität der vorhandenen Infrastruktur, der betroffenen Bevölkerung und der Lokalisierung des Quartiers (Zentrum, Peripherie, etc.) wird eine Rangliste der wichtigsten Maßnahmen erarbeitet. Eine Besonderheit stellt die das ganze Jahr hindurch arbeitende Begleitkommission dar. Sie verfolgt, inwieweit die Prioritäten der Bürger in den Haushaltsplan aufgenommen und später auch realisiert werden. Um auf die Interessen der Vereine einzugehen, hat man ihnen sowohl einen festen Sitz in der Bezirkskommission des Bürgerhaushalts zugesprochen als sie auch bei der Erarbeitung der Prioritätenlisten integriert. In Albacete führt nicht eine Krise, sondern ein interaktiver Prozess zwischen Bürgermeister und Zivilgesellschaft zum Bürgerhaushalt [Pineda, 2004]. Als 1999 die PSOE wieder an die Macht kommt, wird ein Plenum der Partizipation abgehalten. „Wir haben die Repräsentanten der sozialen Bewegungen eingeladen und eine Art Debatte über den Zustand der Stadt geführt“, erklärt der Bürgermeister von Albacete, Manuel Pérez Castell. „Aber die Debatte im Plenum führte nicht sehr weit. Aus diesem Grunde haben wir im Jahr 2002 begonnen, über den Haushalt zu reden. Es geht nicht darum, unzählige Vorschläge zu machen, sondern zu fragen, wie unser Haushaltsbudget von 95 Mio. Euro am besten ausgegeben werden kann.“ Auf diese Weise entsteht ein Verfahren, in dem ausschließlich Vertreter der organisierten Zivilgesellschaft stimmberechtigt sind.74 Es gibt zudem keine Quartiers- und Bezirksversammlungen, sondern Versammlungen auf Ebene der Gesamtstadt, die den Beirat, das eigentliche Arbeitsgremium des Bürgerhaushalts, wählen. In diesem Gremium ist jeder zivilgesellschaftliche Bereich75 mit zwei Mitgliedern vertreten. Eine besondere Stellung haben die Stadtteilvereine, die als einzige Gruppe drei Vertreter benennen. Auch in Albacete werden mittlerweile zur Priorisierung der Vorschläge Selektionskriterien angewendet – doch wie bereits beschrieben wird dabei eine Verteilung zwischen den Stadtteilen nicht berücksichtigt. Gegenstand des Verfahrens sind Investitionen und Programme. Darüber hinaus gibt es die Tendenz, auch allgemeine Fragen der Stadtpolitik zu diskutieren (die Integration von
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Einzelne Bürger können zwar zuhören und es können zwei Vertreter in den Rat des Bürgerhaushalts entsandt werden, doch den übrigen Teil der ca. 40 Mitglieder des Bürgerhaushaltsrats stellen Vereine und Initiativen. Bildung, Jugend, Gewerkschaften, Entwicklungskooperation, Frauen, Migranten etc. .
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Migranten, die Gebühren für Trinkwasser oder den Alkoholmissbrauch von Jugendlichen).
Eine Versammlung der Delegierten des Bürgerhaushalts von Cordoba Anfang Oktober 2003 treffen sich die Delegierten des Bürgerhaushalts in einem soziokulturellen Zentrum. Der Vormittag dient zur Hierarchisierung der Projekte in den einzelnen Bezirken. Hierzu werden unter Berücksichtigung der Voten der Quartiersversammlungen sowie den Selektionskriterien (Mangel an Infrastruktur oder Dienstleistungen, bevorzugtes oder benachteiligtes Quartier, betroffene Bevölkerungsgruppe) Punkte verteilt. Es handelt sich um ein komplexes Verfahren, das eine lokale Anpassung der Verteilungskriterien von Porto Alegre darstellt. Am Nachmittag erstellt man eine Liste für die gesamte Stadt. Ein Bezirk kann z.B. für Infrastrukturmaßnahmen zwischen 150.000 und 480.000 Euro erhalten, wobei maximal drei Projekte angenommen werden. Auf diese Weise werden 9 Mio. der 212 Mio. Euro des Stadthaushalts verteilt. Zu der Versammlung haben sich ca. 30 Personen eingefunden, von denen sieben der Stadtverwaltung angehören. Das bedeutet, dass fasst alle der insgesamt 28 Bezirksdelegierten des Bürgerhaushalts (es gibt zwei je Bezirk) erschienen sind. Die meisten von ihnen sind Männer im Alter von 45 bis 65 Jahren. Sie heben sich damit deutlich von den Mitarbeitern der Stadtverwaltung ab, die mehrheitlich weiblich und bedeutend jünger sind. Wie immer ist die Diskussion über das konkrete Verfahren und die Kriterien lebhaft, da von ihnen das Ergebnis und die Verteilung der Gelder abhängt. Dabei wird der Einfluss der Delegierten, die nur mit einem halb-imperativen Mandat ausgestattet sind und damit keine Repräsentanten im klassischen Sinne darstellen, durch präzise Regeln begrenzt. Nicht zuletzt die Existenz eines klaren Verfahrens mit einem Punktesystem erlaubt es, die aufgebrachte Stimmung in geordnete Bahnen zu lenken. Die Regeln werden als gerecht empfunden und von allen akzeptiert. Über die Projektvorschläge wird relativ schnell entschieden, nach Meinung einiger Teilnehmer sogar etwas zu schnell. Allerdings konnte sich jeder auf einer Bustour durch die Bezirke mit den Vorschlägen vertraut machen. Außerdem sind die meisten Delegierten gut informiert, weil sie zu der Gruppe von Freiwilligen gehören, die das ganze Jahr hindurch den Bürgerhaushalt aktiv unterstützt. Die Qualität der Diskussion ist relativ hoch, auch wenn manchmal die Kosten der Projekte sowie ihre genauen Ziele etwas unklar bleiben. Im Allgemeinen orientiert sich die Diskussion am Gemeinwohl: Je-
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der Delegierte muss die anderen vom Nutzen der für seinen Bezirk vorgesehenen Projekte überzeugen. Dabei geht es jedoch mehr um einzelne Quartiere und nicht um Projekte für die gesamte Stadt. Einsprüche gibt es nur zur Klärung von Verfahrensfragen oder wenn zwei Vorschläge die gleiche Punktzahl erreichen. Nach einer zweistündigen Diskussion sind 25 Investitionsprojekte endgültig verabschiedet. Nach einer Pause wendet man sich drei Dienstleistungsbereichen zu, die ebenfalls in den Bürgerhaushalt einbezogen sind: Internationale Kooperation, Bildung und Jugend sowie Bürgerservice. Hier sind die Vorschläge nicht mit einem Kostenplan versehen, die Diskussion verläuft zügig. Um kurz vor 20 Uhr endet die Versammlung in guter Stimmung.
1.2 Alle Macht den Bürgern? Die Stärke von Albacete liegt in der Expertise der organisierten Gruppen. Die Qualität der Diskussion ist sehr hoch. Zur Bearbeitung spezifischer Fragen, wie z.B. zur besseren Integration von Migranten, organisiert der Rat des Bürgerhaushalts Thementage. Insbesondere die Stadtteilvereine verfügen über Personalkapazitäten, Gutachten zu erarbeiten. Im Jahr 2005 legten die Stadtteilvereine eine Studie über die kommunale Infrastruktur vor, die sie für ihre Vorschläge zur Verbesserung der städtischen Investitionspolitik als Grundlage heranziehen. Hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit sind ebenfalls einige Projekte zu finden [Perez, 2004]: „Der Stadtrat hatte Vorbehalte gegen das Zentrum der Roma und Sinti“, erklärt eine Mitarbeiterin der Verwaltung. „Dann hat aber das Forum der Partizipation (Generalversammlung des Bürgerhaushalts) dieses Projekt vorgeschlagen und sie haben das Zentrum erhalten.“ Weiteres Beispiel hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit sind die umgesetzten Maßnahmen zur Unterstützung kinderreicher Familien. Zu ihnen gehören ermäßigte Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr und der Bau von ausreichend großen Sozialwohnungen. In Cordoba kommt es nach drei Jahren Bürgerhaushalt zum offenen Konflikt. Im Jahr 2004 wird der Prozess aufgrund des Protests etablierter Vereine, die einen Machtverlust befürchten, ausgesetzt. Die Verhandlungen mit der Regierung führen zunächst zu einem neuen Verfahren. Dieses bezieht sich ausschließlich auf die Ebene der Quartiere ohne Einbeziehung der Gesamtstadt. Im Jahr 2007 wird die konservative Partido Popular stärkste Partei und bricht damit die absolute Mehrheit der Vereinigten Linken, die nur durch eine Kooperation mit der PSOE ihr Regierungsmandat fortsetzen kann. Natürlich kann der Stimmenverlust nicht nur auf die Erfahrungen mit dem Bürgerhaushalt zurück-
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geführt werden und dessen Krise nicht allein auf die Vereine. Auch die Verwaltung hatte Schwierigkeiten, sich auf das Verfahren einzulassen. Es fehlte an einer Koordination, die eine fachbereichsübergreifende Zusammenarbeit erleichtert. Weiterhin wurde deutlich, dass die Einflussmöglichkeiten des Bürgerhaushalts auch darin begrenzt wurden, dass die Kernverwaltung nur ein Viertel der Investitionen tätigt. Die restlichen Maßnahmen werden von ausgelagerten kommunalen Unternehmen übernommen, auf die der Bürgerhaushalt keinen Einfluss hatte. Und nicht zuletzt haben die Verteilungskriterien nicht wie erwartet zu einer Förderung benachteiligter Quartiere geführt. Damit ergibt sich eine ganze Reihe von Gründen, die die Schwächen des Verfahrens von Cordoba aufzeigen. Aber auch in Albacete sind Probleme zu beobachten. So fordert z.B. das Sozialforum, ein Zusammenschluss linker und globalisierungskritischer Gruppen, die Einführung eines Bürgerhaushalts nach dem Vorbild von Porto Alegre, der anstelle der Vereine die Beteiligung einzelner Bürger in den Vordergrund stellen soll. Ebenso rebellieren Stadtteilvereine, die mit der Föderation der Stadtteilgruppen im Konflikt liegen bzw. von ihm ausgeschlossen wurden. Dass diese Streitigkeiten nicht eskalieren, liegt an der geschickten Koordination des Vorsitzenden des Bürgerhaushaltsrates Javier Aviles, einem progressiven katholischen Pfarrer. Ein weiteres Problem ist, dass der Bürgerhaushalt in Albacete nicht wirklich zu einer Stärkung der Zivilgesellschaft geführt hat. Die Vereine haben weder einen Zulauf erhalten, noch ist die Zahl der Gruppen, die sich am Bürgerhaushalt beteiligen, gestiegen. Im Gegenteil, viele deraktiven Teilnehmer beklagen sich, dass die Arbeit immer auf den gleichen Personen lastet. Als positiv wird von den Akteuren beurteilt, dass sich mit dem neuen Partizipationsverfahren die Koordination zwischen den verschiedenen Gruppen verbessert hat. Sie lernen ihre jeweiligen Ziele kennen und können gemeinsame Aktionen absprechen. Politisch zeichnet sich mit umgekehrten Vorzeichen eine ähnliche Entwicklung ab. Nachdem die PSOE zwischenzeitlich von 2003 bis 2006 mit einer absoluten Mehrheit regiert hat, ist sie seit 2007 auf eine Kooperation mit der Vereinigten Linken angewiesen.
Javier Aviles, Aktivist des Bürgerhaushalts von Albacete Javier Aviles ist der Sprecher des Bürgerhaushalts von Albacete. Er wurde 1962 im afrikanischen Guinea Ecuatoral, einer ehemaligen spanischen Kolonie, geboren. Mit vier Jahren zog er mit seinen Eltern in die Nähe von Albacete. Er, der sich selbst als Christ und Pazifist bezeichnet, arbeitet heute als Pfarrer. Er war Mitglied in der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer und
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engagiert sich seit einigen Jahren bei Pax Christi, einer international ausgerichteten katholischen Friedensorganisation. „Ich bin überzeugt“, so Aviles, „dass der einzige Weg, das Leben humaner zu gestalten, der Bruch mit den individualistischen Tendenzen ist.“ Für ihn lassen sich Probleme am besten lösen, wenn Menschen aus unterschiedlichen Gruppen und Bereichen in die Diskussion miteinander treten. Aus diesem Grund ist er ein entschiedener Verfechter von Vereinen. Mit der Vereinswelt von Albacete ist er durch seine vielfältigen Engagements bestens vertraut. Als Sprecher leitet Aviles die wöchentlichen Sitzungen des Rates des Bürgerhaushalts, zu denen sich in der Regel 20 bis 30 Personen einfinden. Unterstützt wird er durch einen Stellvertreter und ein Sekretariat. Seiner natürlichen Autorität und seinem auf Ausgleich bedachten, demokratischen Führungsstil ist es zu verdanken, dass Konflikte bisher immer moderiert werden konnten. Aviles erklärt dazu: „Ich glaube an die Einheit der Völker, Rassen, Gesellschaften und Kulturen. Um Lösungen für globale Probleme zu finden, muss man beginnen, sie auf lokaler Ebene zu suchen.“ Man sagt, dass der Bürgermeister schon an Aviles als Koordinator gedacht hatte, als er vor Jahren begann, mit der Zivilgesellschaft über die Einführung eines Bürgerhaushalts zu diskutieren.
Beide vorgestellten Städte zeigen Ansätze partizipativer Demokratie im Sinne der Übertragung von Entscheidungskompetenz auf Bürger bzw. organisierte Gruppen. In Albacete wird zudem das Regelwerk von der Zivilgesellschaft ausgearbeitet. Die Eigenständigkeit der Zivilgesellschaft wird auch darin deutlich, dass nicht wie in Deutschland der Bürgermeister zur Pressekonferenz einlädt, sondern die aus dem Kreis der Teilnehmer kommenden Sprecher des Bürgerhaushalts – ein Vorgehen, das in Deutschland nicht denkbar wäre. In Cordoba waren die Vereine sogar in der Lage, das Verfahren zu stoppen und die Methode neu zu verhandeln. Zusammen mit einigen italienischen Beispielen gehören diese beiden spanischen Städte, wie später noch gezeigt wird, zu den wenigen Fällen in Europa, bei denen das neue Partizipationsinstrument auf Druck der Zivilgesellschaft entstanden ist. Es ist noch hinzuzufügen, dass das Verfahren von Albacete neben der partizipativen Demokratie zum Teil auch neokorporatistische Züge aufweist, weil hier die organisierte Zivilgesellschaft an der Ausrichtung von Politikfeldern beteiligt ist. 1.3 Zwischen Innovation und Integration (Sevilla, Puente Genil, Madrid) Als Nachfolgerin von Cordoba kann die andalusische Stadt Sevilla (709.000 Einwohner) angesehen werden. Auch sie orientiert sich am Beispiel Porto Aleg-
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re, als sie im Jahr 2004 einen Bürgerhaushalt initiiert. In den einzelnen Stadtteilen gibt es ‚Motorgruppen‘ (grupos motores), in denen Bürger, angeleitet durch externe Moderatoren, den Prozess organisieren. Sie legen die Tagesordnung der Versammlungen fest, sprechen Werbemaßnahmen ab und erstellen die zum Einreichen der Vorschläge notwendigen Formblätter. Die Zivilgesellschaft kann zudem Einfluss auf das Regelwerk mit seinen Kriterien zur Hierarchisierung der Vorschläge nehmen. Gegenstand des Verfahrens sind Investitionen und Programme ausgewählter Fachbereiche. Damit es nicht wie in Cordoba zu einem Konflikt kommt, werden die Vereine eingeladen, sich an den ‚Motorgruppen‘ zu beteiligen. Sie haben hier aber keine besonderen Rechte wie in Albacete, sondern ihre Vertreter nehmen individuell als Bürger teil. Dies scheint sich als eine gute Lösung zu erweisen, denn bis jetzt gibt es noch keinen Protest, der zu einer Blockade des Verfahrens führen könnte. Viele Gruppen sehen in dem neuen Partizipationsinstrument vielmehr eine Chance, Finanzierungen für Projekte in ihrem Stadtteil zu erhalten. In der bei Cordoba gelegenen Kleinstadt Puente Genil (29.405 Einwohner) ist die Fusion der Ansätze von Cordoba und Albacete noch stärker sichtbar: Die Regeln des Bürgerhaushalts werden von einem Gremium bestimmt, das sich jeweils zur Hälfte aus Vertretern der Zivilgesellschaft und individuellen Bürgern zusammensetzt. Aber noch ein anderer Aspekt ist interessant: die Verbindung von Partizipation, Verwaltungsmodernisierung und der Förderung sozialer Gerechtigkeit. In Puente Genil besteht die Verwaltung aus relativ eigenständigen Fachbereichen, die über ihr eigenes Budget verfügen. Einige Dienstleistungsbereiche wie Müllentsorgung, Straßenreinigung und Wasserversorgung sind in kommunale Unternehmen ausgegliedert. Zwischen all diesen Einheiten gibt es eine transversale Zusammenarbeit, die auch auf den Bürgerhaushalt übertragen wird. Dieser ist nicht wie in Cordoba bzw. Sevilla nur auf einzelne Fachbereiche beschränkt, sondern bezieht alle Aufgabenbereiche der kommunalen Verwaltung ein, inklusive der kommunalen Unternehmen. Eine fachübergreifende Kommission, der auch die Geschäftsführer der kommunalen Unternehmen angehören, koordiniert die Umsetzung der Projekte des Bürgerhaushalts. Die Vorschläge werden dabei nach sozialen Selektionskriterien sortiert. Hier wird nach der territorialen Ebene (Gesamtebene, benachteiligtes Quartier, Dorf etc.), dem Typ der betroffenen Bevölkerung (Kinder und Jugendliche, Senioren, sozial Benachteiligte) und der Zahl der betroffenen Nutzer unterschieden (siehe nachfolgenden Kasten). Außerdem findet eine Trennung zwischen Vorschlägen für Investitionen und Dienstleistungen statt. Bisher konnte zwar noch kein umfassender sozialer Wandel beobachtet werden, aber die Wirkungen sind dennoch für die Beteiligten wahrnehmbar, wie die folgende Aussage eines Teilnehmers zeigt: „Ja, es ist klar, die Verwaltung ist jetzt in unserem Dorf sichtbarer. Es besteht ein engerer Kontakt zu den gewählten Vertretern. Man muss jetzt nicht
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mehr zu ihrem Büro in die Stadt, um seine Anliegen nach einer festgelegten Agenda vorzutragen.“
Tabelle 2: Verteilungskriterien des Bürgerhaushalts von Puente Genil
Puente Genil: Kriterien zur Hierarchisierung von Dienstleistungen Kriterium 1: Anzahl der Benutzer des Programms/der Dienstleistung Mehr als 400 Benutzer... 10 Punkte 201 bis 400 Benutzer... 08 Punkte 51 bis 200 Benutzer... 04 Punkte 1 bis 20 Benutzer... 02 Punkte Kriterium 2: Typ der betroffenen Bevölkerung Kinder und Jugendliche... 10 Punkte Senioren... 08 Punkte Sozial Benachteiligte... 06 Punkte Frauen... 04 Punkte Gesamtbevölkerung... 02 Punkte Kriterium 3: Territoriale Ebene Gesamtstadtebene... Benachteiligte Quartiere... Dörfer... Stadtrandgebiete... Stadtzentrum...
10 Punkte 08 Punkte 06 Punkte 04 Punkte 02 Punkte
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Inzwischen haben weitere Städte wie z.B. Viladecavall oder San Sebastian, die Kombination von individueller und kollektiver Beteiligung fortgesetzt. Am Beispiel Puente Genil wird aber noch ein anderer Trend sichtbar: die Verbindung von Partizipation und Modernisierung. Galt dies im Hinblick auf die deutschen Beispiele nur als begrenzt erfolgreich, zeigt Puente Genil, dass eine Bürgerbeteiligung am Haushalt zu einer Vertiefung und Erweiterung der kommunalen Verwaltungsmodernisierung führen kann. Der Bürgerhaushalt bildet ein Bindeglied, mit dem die transversale Zusammenarbeit der Fachbereiche gestärkt wird und welches die Verwaltung näher an die Bürger heranrücken lässt. Trotz
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dieser Erfolge wird im Jahr 2007 der Bürgerhaushalt vorerst eingestellt. Offiziell geht es um eine Reorganisation der Partizipationspolitik. Der tatsächliche Grund scheint jedoch darin zu liegen, dass geplante Einnahmen ausblieben und die Verwaltung in den nächsten Jahren weniger Investitionen vornehmen kann als ursprünglich vorgesehen. Nichts desto trotz scheint sich die Verbindung von Partizipation und Modernisierung in Spanien weiter auszubreiten. So hat die konservative Stadtregierung von Madrid die Bürgerbeteiligung in ihre Modernisierungsagenda aufgenommen. In einigen Stadtteilen wird ein Beteiligungsverfahren zum Thema Finanzen begonnen, aus dem sich in den nächsten Jahren ein Bürgerhaushalt entwickeln könnte. Offen bleibt hingegen, ob das neue Partizipationsinstrument zu einer Überwindung der Vereinskrise führen kann. Möglicherweise konnten nur bedingt neue Bürger mobilisiert werden, weil spürbare Verbesserungen bisher ausblieben. Trotz Verteilungskriterien ist ein sozialer Wandel nur in Ansätzen erkennbar. Zu einer Umkehrung der Prioritäten ist es bei keinem der Beispiele gekommen.
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Italien: Die Politik nach Mani pulite
Auch in Italien spielt das Beispiel Porto Alegre eine wichtige Rolle [Allegretti, 2005]. Nirgendwo sonst auf dem europäischen Kontinent haben sich soziale Bewegungen den Bürgerhaushalt auf ihre Fahnen geschrieben. Insbesondere die globalisierungskritische Bewegung verbindet mit ihm die Vision „einer anderen Welt“. Das alternative Städtenetzwerk Nuovo Municipio (‚Neue Kommune‘) hat diese Forderung aufgenommen und trägt heute wesentlich zur Verbreitung von Bürgerhaushalten bei [Allulli, 2006; Magnaghi, 2004]. Aber ist der Bürgerhaushalt tatsächlich wie in Lateinamerika in der Lage, die lokale Realität zu verändern? Bisher war dies in Spanien nur in Ansätzen möglich; gibt es in Italien diesbezüglich weiterreichende Erfahrungen? 2.1 Der Bürgerhaushalt als politisches Projekt Der öffentliche Sektor war in Italien lange Zeit von Korruption und Klientelismus geprägt (einige der Probleme bestehen bis heute). Die Aktion Mani pulite (‚Saubere Hände‘) vom Beginn der 90er Jahre, in deren Verlauf Politiker unterschiedlichster Parteien wegen Amtsmissbrauch und illegaler Parteifinanzierung verhaftet wurden und die fast zum Ende der sogenannten ersten Republik führte, war ein Versuch, diesem Zustand ein Ende zu setzen. Parallel zur juristischen Strafverfolgung fand in den 1990er Jahren zudem eine Transformation des öffentlichen Sektors statt. Die Verantwortlichkeiten wurden klarer definiert und
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neue Kontrollmechanismen eingerichtet, die eine Prüfung öffentlicher Ausgaben erlauben sollten. Die Kommunen nahmen dabei ähnlich wie bei der Modernisierung des Staates in Deutschland eine Vorreiterfunktion ein. Mit dem Gesetz 142/1990 begann ein Wandel in Italien, der auf lokaler Ebene das monistisch-dualistische System in einen moderaten Dualismus übergeführt hat. Die Norm sieht unter anderem vor, dass der Bürgermeister seine Beigeordneten selbst bestimmen kann. Drei Jahre später wurde die Direktwahl des Stadtoberhaupts eingeführt, womit Italien in Europa zum Vorreiter eines starken Bürgermeisters wurde [Magnier, 2003]. Mehr Konsequenzen hatte jedoch der Übergang vom Verhältnis- zum Mehrheitswahlrecht. Diese Reform führte Italien aus der Unregierbarkeit. Davor blieben vielerorts politische Entscheidungen blockiert, weil die zersplitterten Parteien sich nicht einigen konnten. Mit dem Ende der 1990er Jahre eingeführten voto congiunto erhielt die den Bürgermeister tragende Koalition im Gemeinderat eine Mehrheit von mindestens 60 bzw. 66% [Barusso, 2004].76 Der Modus der Direktwahl ist damit grundlegend anders als in Deutschland. In Italien ordnen sich die Parteien einem Kandidaten zu. Die Ergebnisse der einzelnen Parteien werden dann dem gemeinsamen Bewerber zugeteilt.77 Regierungskoalitionen werden somit im Vorhinein festgelegt und nicht erst nach der Wahl verhandelt. Die Wahl des Gemeinderates erfolgt zeitgleich auf einer getrennten Liste.78 Mit dem gleichen Gesetz 142/90 wurden den Kommunen die Organisationshoheit und mehr Autonomie übertragen. Sie wandelten sich von staatlichen Dienstleistern zu selbstständigen Einheiten. Dieser Prozess gipfelte im Jahr 2001 in einer grundlegenden Überarbeitung des V. Kapitels der Verfassung, worin es nun mehr heißt, dass der italienische Staat von unten, von den Kommunen her, aufgebaut ist. Den Kommunen wurde damit die Allzuständigkeit für kommunale Angelegenheiten übertragen. Mit der zunehmenden Autonomie gingen auch Modernisierungsbemühungen einher. Die erste Welle der Modernisierung bezog sich auf Managementreformen, in deren Zusammenhang es auch zur Gründung kommunaler Unternehmen und Outsourcing kam. Maßgeblich war aber vor allem eine zweite Reformwelle, die sich auf die Evaluation des neuen Managements bezog. Während es bis zu diesem Zeitpunkt vor allem eine juristische Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Verwaltungshandeln gab, wurde
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In Kommunen über 15.000 Einwohnern ist es eine Mehrheit von 60%, in Kommunen unter 15.000 Einwohnern ist es eine 2/3 Mehrheit. Die restlichen Sitze des Gemeinderates werden nach dem Prinzip der Verhältniswahl zwischen allen Parteien aufgeteilt. Erreicht ein Bewerber im ersten Wahlgang nicht die absolute Mehrheit, wird eine Stichwahl durchgeführt, für die eine einfache Mehrheit ausreicht, um das Bürgermeisteramt zu erlangen. Bürgermeister und Gemeinderat sind insofern noch miteinander verbunden, als dass ersterer dem Rat angehört, jedoch nicht den Vorsitz übernimmt. Zudem kann der Rat durch ein Misstrauensvotum dem Oberhaupt der Gemeinde das Mandat entziehen.
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diese nun ergänzt durch eine Überwachung von Effizienz und Effektivität. Diese Überwachung liegt nicht mehr nur in der Hand von nationalstaatlichen Organen, sondern in den Kommunen selbst wurden Kontrollinstrumente eingeführt. Sie bestehen aus drei Maßnahmen: a) Managementkontrolle durch Indikatoren, b) Bewertung durch eine Expertenkommission und c) Instrumente zur Messung der Kundenzufriedenheit. Diese Reform der Verwaltung kann nicht als neoliberal bezeichnet werden, da sie vor allem auf Binnenstruktur und Bürgerorientierung ausgerichtet ist. Umfangreiche Privatisierungen fanden in den 1990er Jahren vor allem auf der Ebene des Nationalstaates statt [Lippi, 2003]. Wie die dargestellte Entwicklung zeigt, hätte es in Italien durchaus die Möglichkeit gegeben, den Bürgerhaushalt mit einer Modernisierung der Verwaltung zu verbinden, wie dies auch in Deutschland geschehen ist. Stattdessen orientierte man sich aber am Vorbild Porto Alegre; die Reformstadt Christchurch ist nicht bekannt. Grundsätzlich ist jedoch festzustellen, dass die Reformen bisher nur halbherzig umgesetzt worden sind, es viele Blockaden gibt und die Veränderungen für den Bürger nicht spürbar sind [Bifulco/De Leonardis , 1997; Cassese, 1998]. Wie in Spanien wurde der Bürgerhaushalt zunächst von linken Bürgermeistern eingeführt, die sich von der neoliberalen Politik der Nationalregierung, die auf Privatisierung und Liberalisierung setzte, abgrenzen wollten. Während der spanische Regierungschef Aznar mit dem Großstadtgesetz immerhin noch versuchte, die Kommunen in eine Modernisierung zu integrieren, betrieb Berlusconi eine Zentralisierung der Macht (gepaart mit einer Politik des ungefesselten Neoliberalismus), die zu Lasten der lokalen Ebene ging. Allerdings gab es in Italien schon recht früh ein Netzwerk von Sozialdemokraten und Kommunisten, das zur Verbreitung des Bürgerhaushalts beitrug: Auf dem Weltsozialforum 2002 präsentierten die italienischen Delegierten eine Charta für „Neue Kommunen“, die eine Verbindung von Partizipation, sozialer Gerechtigkeit und nachhaltiger Entwicklung zum Ziel erklärt und auch den Bürgerhaushalt beeinhaltet. Dem Netzwerk gehören inzwischen über 80 Städte und Gemeinden an, die in verschiedenen Projekten und Arbeitsgruppen aktiv sind [Allulli, 2006; Perulli/ Rugge/Florio, 2004]. Die italienischen Postkommunisten sind dabei in der Lage, mit sozialdemokratischen Parteien zu verhandeln und Verantwortung zu übernehmen: Nahezu zwei Drittel der Kommunen mit einem Bürgerhaushalt werden von einer Mitte-Links-Koalition regiert. Bei den übrigen Beispielen stellt eine Bürgerliste die Regierung. Inzwischen interessieren sich aber auch in Italien einige Konservative für eine Bürgerbeteiligung am Haushalt und haben Schritte in diese Richtung unternommen.
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2.2 Schluss mit Tangentopoli? In Grottammare, einem Touristenort an der Adriaküste, entsteht in den 1990er Jahren ein Bürgerhaushalt, der sich nahezu ohne äußere Einflüsse und Vorbilder entwickelt. 2002 wird in Pieve Emanuele, einem Arbeitervorort Mailands, unter direktem Bezug auf Porto Alegre ein Bürgerhaushalt eingerichtet. Zur Jahrtausendwende kommt es dann mit Rom und Venedig zu ersten Experimenten in Großstädten. Im Jahr 2005 gab es über 16 Bürgerhaushalte in Italien, im Jahr 2009 sind es über 200. Was ist genau passiert? Die Verbreitung eines neuen, partizipativen Regierungsstils in kleinen Städten Der Tourismus hatte in Grottammare der Spekulation und der Korruption Tür und Tor geöffnet. Weil die Regierung zu sehr in den Tangentopoli, den großen italienischen Korruptionsskandal Anfang der 90er Jahre, verstrickt ist, kommt es 1994 nach nur einem Jahr zu Neuwahlen (die Stadt steht zudem unter besonderer Aufsicht der Präfektur). Aus Frust und Enttäuschung über die skandalösen Verwicklungen gründen junge Leute aus verschiedenen Vereinen und Initiativen die Bürgerliste „Solidarität und Partizipation“. Das Bündnis will sich nicht nur von den etablierten Parteien abgrenzen, sondern auch die schwerfällige, bürokratische Verwaltung durch eine effizientere ersetzen [Fanesi, 2004]. Dank einer Kooperation mit der Linken gewinnt „Solidarität und Partizipation“ die Wahl gegen die gespaltene Rechte. In Grottammare beginnt damit die ‚Stunde Null‘ einer neuen, partizipativen Regierungsepoche: Als erstes werden die Finanzen offen gelegt. In Quartiersversammlungen wird über kommunale Ausgaben und Investitionen diskutiert. Zunächst verläuft dies nach der Logik des ‚selektiven Zuhörens‘ – die Regierung fasst die Ergebnisse der Diskussion zusammen. Unter dem Einfluss der nationalen und internationalen Diskussion über den Bürgerhaushalt ändert sich ab dem Jahr 2003 das Verfahren. Nach dem Vorbild von Porto Alegre können die Bürger nun selbst über die Prioritäten bestimmen. Zudem ist der Bürgerhaushalt in ein ganzes System von Beteiligungsinstrumenten integriert. Im Zentrum stehen die offenen, wöchentlich abgehaltenen Treffen der Wählergruppe „Solidarität und Partizipation“. Des Weiteren gibt es Quartierskomitees, die für den Bürgerhaushalt die Umsetzung der Projekte begleiten. Dieser partizipative Regierungsstil hat Erfolg: Die Bürgerliste gewinnt die drei nachfolgenden Wahlen. Erstaunlich ist, dass die Bürger gegen den nationalen Trend wählen. Während sie bei den Kommunalwahlen die eher linksorientierte Wählergruppe bevorzugen, entscheiden sie sich bei den nationalen Parlamentswahlen für die Parteien der Rechten und des Zentrums. Wie ist dies zu erklären? Scheinbar ist es der Lokalregierung gelungen, ein neues Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Verwaltung zu etablieren. Statt sich in den
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Mühlen der Bürokratie zu verlieren, werden die Prioritäten der Bürger relativ zeitnah – in der Regel innerhalb von einem bis drei Jahren – umgesetzt. Mit ähnlicher Verbindlichkeit wurde der Stadtentwicklungsplan unter Mitwirkung der Bürger nicht nur überarbeitet, sondern grundlegend neu ausgerichtet. Statt dem rasanten Ausbau von Hotelburgen und einer weitgehenden Zerstörung der ökologischen Ressourcen erfolgt nun eine behutsame, das kulturelle Erbe der Stadt bewahrende Entwicklung. Weiterhin ist von Bedeutung, dass der Bürgerhaushalt, zumindest in zwei betroffenen Ortsteilen, ähnlich wie in Porto Alegre zu einem Wandel der sozialen Realität geführt hat. In Ischia I und Ischia II, zwei ‚Schlafstädten‘, in denen vornehmlich ärmere Bevölkerungsgruppen und Migranten leben, haben die Bewohner durch Partizipation am Bürgerhaushalt und öffentlichen Druck eine grundlegende Verbesserung der Lebensqualität in ihren Quartieren erreicht. Mit der Partizipation ist es in Grottammare somit zu einer Neuorientierung von Stadtpolitik und Stadtentwicklung gekommen. Die Korruption ist beendet, die Bürger selbst können nun die öffentlichen Angelegenheiten kontrollieren. Die Erfahrung von Pieve Emanuele ist der von Grottammare ähnlich. Ein rasanter städtebaulicher Wachstum in den 70er Jahren, während dem die Einwohnerzahl von 3.000 auf über 15.000 steigt, bildet den Nährboden für Spekulation und Korruption [Amura, 2003]. Anfang der 1990er Jahre wird der Bürgermeister vor den Augen der Bewohner in Handschellen abgeführt, weil er ein archäologisch geschütztes Gebiet als Baugrundstück an die Familie Berlusconi verkauft hat. Als die Kommune aufgrund dieses und ähnlicher Skandale unter die staatliche Zwangsverwaltung fällt, beschließen auch hier junge Politiker, einen Neuanfang zu wagen. Eine von ihnen initiierte Linkskoalition aus Sozialdemokraten der Democratici di Sinistra, Postkommunisten der Partito della Rifondazione Comunista und einer unabhängigen Wählergruppe gewinnt 1994 die Wahlen. Partizipation wird fortan zu einer der wichtigsten Aufgaben der Verwaltung. Als eine der ersten Maßnahmen wird eine neue Kommunalverfassung verabschiedet, die der Beteiligung von Bürgern und Vereinen mehr Platz einräumt. Anders als bei den spanischen Beispielen führt dies jedoch nicht zu einem Konflikt, was möglicherweise daran liegt, dass für die jeweiligen Akteure getrennte Partizipationsformen vorgesehen sind. So wird mit den Vereinen ein regelmäßiger Konsultationsprozess begonnen, während Bürger sich an einzelnen Projekten, wie z.B. zur Schulpolitik (Projektwochen, Schülertransport, Sicherheit, Schulhofgestaltung etc.), beteiligen. Aber auch als im Jahr 2003 nach dem Vorbild von Porto Alegre ein auf individueller Beteiligung basierender Bürgerhaushalt eingeführt wird, bleibt Protest aus. Dies mag daran liegen, dass die Vereine nicht wie in Cordoba oder Albacete traditionell über Privilegien verfügen, sondern viele von ihnen erst durch die Partizipationspolitik der Regierung entstanden sind. Dieser grundlegende politische Wandel, das Ende
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II/2 Porto Alegre in Europa?
der Korruption, zeichnet die Erfahrung von Pieve Emanuele aus. Darüber hinaus sind auch einige soziale Wirkungen des Bürgerhaushalts zu beobachten, wie z.B. die Integration benachteiligter Gruppen, die an den Partizipationsprozessen Teil haben. Bis 2007 kamen Studenten und Wissenschaftler aus ganz Italien nach Pieve Emanuele, um dieses Beispiel der Beteiligung zu untersuchen. 2.3 Die Eroberung der Großstadt In Grottammare und in Pieve Emanuele hat der Bürgerhaushalt deutliche Wirkungen gezeigt – auch wenn seine dauerhafte Verankerung widersprüchlich bleibt.79 Es ging hier nicht um kleinteilige Veränderungen wie beim Bürgerhaushalt in Deutschland, sondern es wurden Veränderungen auf der Ebene der großen strategischen Fragen erreicht. Beide Städte haben dem Tangentopoli, dem System aus Korruption, Amtsmissbrauch und Misswirtschaft, ein Ende gesetzt. In Grottammare ist dabei auch ein grundlegender sozialer Wandel zweier Quartiere gelungen. Ähnliche Resultate wie in Porto Alegre scheinen somit in Europa möglich zu sein, die Frage ist nur: Sind diese Erfahrungen auf kleine Gemeinden beschränkt oder weisen andere italienischen Bürgerhaushalte ähnliche Charakteristika auf? Die Chance, einen Bürgerhaushalt in einer bedeutenden italienischen Stadt zu initiieren, wird zur Jahrtausendwende möglich. In Rom XI, einem Bezirk der italienischen Hauptstadt, in dem sowohl Bürger der Mittel- als auch der Arbeitsklasse wohnen, gewinnen im Jahr 2001 die Postkommunisten der PRC mit Unterstützung sozialer Bewegungen und der lokalen, alternativen Szene die Wahl. Der Bürgerhaushalt wird gleich im ersten Amtsjahr der neuen Regierung eingeführt. Öffentlichkeitswirksam wird eine Orientierung am Beispiel Porto Alegre verkündet, dessen Bürgerhaushalt man während des Weltsozialforums kennen gelernt hat. Um den Neuanfang zu markieren, erhält der Bürgerhaushalt einen eigenen Beigeordneten – einen Posten, auf den Bürgermeister Massimiliano Smeriglio einen angesehenen Aktivisten der globalisierungskritischen Bewegung beruft. Ebenso tritt der Bezirk dem Netzwerk Neue Kommunen bei, was dazu führt, dass man auf die Erfahrungen anderer italienischer Beispiele zurückgreifen kann [D’Albergo, 2005; AAVV, 2005]. Inspiriert durch die Beispiele Grottammare und Pieve Emanuele steht die quartiersbezogene Partizipation im Vordergrund des Verfahrens. In den sieben
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In Grottammare ist der Prozess von wachsendem Erfolg gekrönt, und der Bürgermeister wird 2004 sogar zum Präsident der gesamten Provinz gewählt. In Pieve Emanuele hingegen tritt die Linke bei den Wahlen 2007 gespalten an und verliert sie: Wie in Porto Alegre haben die Erfolge auf dem Gebiet der Beteiligung nicht zu einem kompletten Wandel der politischen Institutionen geführt, die von internen Machtkämpfen geprägt bleiben.
II/2.2 Italien: Die Politik nach Mani pulite
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Stadtteilen des Bezirks werden im Januar gebietsbezogene Versammlungen abgehalten, auf denen über den Bürgerhaushalt informiert wird und Sprecher zur Begleitung der Arbeitsgruppen gewählt werden. Es ist vorgesehen, dass es in jedem Stadtteil vier Gruppen gibt, die zu den Themen Straßen- und Wegebau, Grünflächen, Mobilität und Kultur Investitionsmaßnahmen und Projekte ausarbeiten (ab dem Jahr 2005 gibt es zusätzlich den Bereich Jugend). Die deliberative Qualität ist hoch: Die Treffen finden zwei Mal pro Monat statt (es kommen nicht immer alle Gruppen zustande bzw. werden thematisch mit anderen zusammengefasst) und werden moderiert; auf einer zweiten Stadtteilversammlung im Mai werden die Vorschläge mittels einer Abstimmung hierarchisiert. Für jeden Themenbereich können drei bis vier Prioritäten benannt werden. Eine Rechenschaft über die Umsetzung der Vorschläge erfolgt durch den Rat im Dezember. Auf diese Weise konnten die Bürger im Jahr 2004 auf 20% der Investitionen (ca. 4 Millionen Euro) Einfluss nehmen. Allerdings muss der Haushalt von der Gesamtkommune, der Stadt Rom, genehmigt werden, die wie der Senat von Berlin noch Änderungen am Bezirkshaushalt vornehmen kann.
Luciano Ummarino, Beigeordneter für den Bürgerhaushalt In Rom XI geboren, lebt der 31-jährige Luciano Ummarino heute in Garbatella, einem der ältesten Quartiere des Bezirks, das in den 1920er Jahren als soziales Wohnungsbauprojekt von Mussolini errichtet wurde. Sein politisches Engagement beginnt bereits in der Schule. „Ich habe immer Politik in der Linken gemacht, war aber nie Mitglied in einer Partei, sondern immer in sozialen Bewegungen aktiv“, erklärt Luciano Ummarino, der derzeit bei den Disobbedienti (den ‚Ungehorsamen‘), einer nationalen globalisierungskritischen Bewegung, aktiv ist. Als Student gehört er einer unabhängigen, kommunistischen Gruppe an. Anfang der 1990er Jahre besetzt er mit Freunden ein Haus und richtet darin das Sozialzentrum ‚La Strada‘ ein. Von nun an beginnt er, sich auch für Lokalpolitik zu interessieren. Mit Hilfe einer Beteiligung der Bürger möchte er die Institutionen verändern. 1997, drei Jahre nach der Gründung von ‚La Strada‘, wird er als unabhängiger Kandidat auf der Liste der postkommunistischen PRC in den Bezirksrat gewählt. Bei den darauf folgenden Wahlen ernennt man ihn zum Beigeordneten für den Bürgerhaushalt: „Diese Regierung“, so Ummarino, „wurde im Jahr 2001 gewählt, im gleichen Jahr als es den Protest gegen den G8-Gipfel in Genua gab, an dem der Bürgermeister und ich teilgenommen haben. Der Bürgerhaushalt schien uns die Art des Regierens zu sein, die den sozialen Bewegungen entspricht. Nach unserer Überzeugung müssen wir nicht nur protestieren, son-
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II/2 Porto Alegre in Europa?
dern gleichzeitig an einer demokratischeren Gesellschaft bauen.“ Nachdem er sein vorheriges Mandat für den Bürgerhaushalt aufgegeben hat, wird er 2005 Berater der Exekutive der Provinz Rom.
Wie in Pieve Emanuele befördert der Bürgerhaushalt in Rom XI die Gründung neuer Initiativen und Vereine, in denen vor allem Jugendliche und Senioren aktiv sind und miteinander kooperieren.80 In den Arbeitsgruppen des Bürgerhaushalts werden detaillierte Projektvorschläge von den Teilnehmern erarbeitet. Als Beispiel ist die Einrichtung einer unabhängigen Messstelle für Elektrosmog zu nennen, mit der die Strahlung von Mobilfunkanlagen überwacht werden soll. Während die Bürger am Anfang kaum Einfluss auf das Verfahren haben, führt ihr Engagement dazu, dass sie die Regeln des Bürgerhaushalts zunehmend mitbestimmen können und autonomer gegenüber der Verwaltung werden. Soziale Auswirkungen hat das Verfahren allerdings kaum. Auch wenn durch den Bürgerhaushalt die Investitionen etwas gleichmäßiger zwischen den Stadtteilen verteilt werden, bleibt ein grundlegender sozialer Wandel aus. Darüber hinaus erweist sich die Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft mit der Verwaltung sowie die Verbindung des Bürgerhaushalts mit einem Modernisierungsprozess der Verwaltung als schwierig. Es sieht ganz so aus, als ob der Bezirk noch nicht seinen Platz in der Arbeitsteilung mit der Gesamtkommune gefunden hat. Nach den Wahlen im Jahr 2007 nutzt der neue BezirksBürgermeister, der weiterhin von der PRC gestellt wird, zunächst die Gelegenheit zu einer Neuanpassung des Verfahrens. Dies gelingt jedoch aus politischen Gründen nicht. Die Koalitionspartner setzen eine Beendigung des Verfahrens durch, weil sie der Meinung sind, dass sie weitaus weniger vom positiven Image des Bürgerhaushalts profitieren als die kommunistische Partei. Damit ist der Bürgerhaushalt in der italienischen Hauptstadt allerdings nicht beendet, da an die Stelle von Rom XI zwei andere Bezirke treten, die einen solchen Prozess beginnen. In Venedig ist der Bürgerhaushalt, anders als in Rom, direkt an einen Dezentralisierungsprozess gekoppelt. In drei Stadtteilen, die Vorreiter für die Einrichtung von halbautonomen Bezirken sein sollen, wird im Jahr 2004 der Bürgerhaushalt zuerst erprobt. Dabei wird das Verfahren in den Stadtteilen Lido di Venezia, Favaro Veneto und Marghera durchgeführt. Trotz der Unterschiede zwischen den Verfahren nimmt die Verwaltung aktiv an den Arbeitsgruppen des
80
Die Gesamtteilnehmerzahl im Bürgerhaushalt konnte nicht erhoben werden. Es lagen nur Daten für die im Januar stattfindenden Eröffnungsplenen des Bürgerhaushalts vor. Demnach ist eine rückläufige Beteiligung zu beobachten : 972 Teilnehmer (2003), 714 Teilnehmer (2004) und 668 Teilnehmer (2005).
II/2.2 Italien: Die Politik nach Mani pulite
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Bürgerhaushalts teil. Auch werden zur Koordination der vorgeschlagenen Projekte neue Gremien in der Verwaltung geschaffen. Die Kommune Venedig, die sich mit der Einrichtung von Bezirken und einem Umbau der Verwaltung in einem Reformprozess befindet, zeigt, dass auch in Italien Bürgerhaushalt und Modernisierung zusammengehen können. Von Vorteil ist dabei, dass die Stadt aufgrund ihres Status als Weltkulturerbe Sondermittel von der Nationalregierung und der EU erhält.81 Wirkungen hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit sind wie zuvor in Rom XI kaum vorhanden. Die Erfahrung von Porto Alegre scheint damit vorerst nicht auf eine italienische Großstadt übertragbar zu sein. In Venedig wird der Bürgerhaushalt nach nur einem Jahr sogar als beendet erklärt, gleichwohl das auf einer Kooperation zwischen Zentralverwaltung und Bezirksverwaltungen beruhende Verfahren in anderen großen Städten (hinsichtlich anderer Beteiligungsinstrumente) ein gewisses Echo gefunden hat. 2.4 Gegensätzliche Entwicklungen des Bürgerhaushalts in Italien Als im Jahr 2006 das Mitte-Links-Bündnis die Macht auf nationaler Ebene erobert, lässt auf lokaler Ebene die Suche nach Alternativen nach – ein Phänomen, das sich bereits in Brasilien nach dem Sieg des PT-Kandidaten „Lula“ Ignazio da Silva bei den Präsidentschaftswahlen zeigte. Darüber hinaus werden die Spielräume der Kommunen durch eine Krise der Finanzen eingeschränkt. Wie in Deutschland sollen sie immer mehr Staatsaufgaben übernehmen, ohne dass ihnen dafür ausreichend Gelder zugewiesen werden. Diese ‚asymmetrische Subsidiarität‘ wird durch eine Zweckbindung der Mittel verstärkt. Der Bürgerhaushalt droht zu einer ‚Lotterie unter Armen‘82 zu werden. Anders als in Deutschland hat er nicht die Evaluation öffentlicher Dienstleistungen zum Ziel, sondern basiert auf Investitionen, die auf Finanzierungen angewiesen sind. Mit dem Sieg von Berlusconis Partei bei den Wahlen 2008 verstärken sich die finanziellen Engpässe der Kommunen.
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82
Venedig ist sehr reich im Vergleich zu anderen Städten, die wir untersucht haben. Pro Kopf stehen der Kommune 3.869 Euro zur Verfügung, in der deutschen Stadt Hilden oder in der französischen Stadt St. Denis sind es im Vergleich dazu nur 2.267 Euro bzw. 2.141 Euro. Dem Bezirk Rom XI stehen im Vergleich dazu nur 336 Euro je Einwohner zur Verfügung. Nur in Ländern, in denen die Kommunen im politischen System eine herausgehobene Stellung haben, kommt den Städten mehr Geld zu. In der finnischen Stadt Hämeenlinna sind es 4.839 Euro je Einwohner und in Utrecht (Niederlande) sogar 5.121 Euro. Es gibt viele Vorschläge und Forderungen, aber es können nur wenige und kostenarme Projekte umgesetzt werden. Auf diese Weise ist die Realisierung von Vorschlägen beinahe dem Zufall überlassen, und selbst die wenigen Gewinner sind am Ende fast noch genau so arm wie die anderen Teilnehmer.
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II/2 Porto Alegre in Europa?
Diese Entwicklung hätte zum Ende des Bürgerhaushalts führen können, wäre sie nicht von einer anderen Tendenz überlagert worden. Die jüngste Wahlniederlage der Linken auf nationaler Ebene scheint die Innovationstätigkeit auf lokaler Ebene zu stimulieren, die darüber hinaus von verschiedenen Netzwerken sowie den Regionen Toskana und Lazio angetrieben wird. In den letzten Jahren ist es zudem zu einer ‚Kontamination‘ des Bürgerhaushalts mit anderen Verfahren gekommen. Durch eine Einbeziehung von Förderprogrammen der Stadtentwicklung gibt es wieder Finanzierungen für größere Projekte. Zudem sind einige Regionalregierungen dazu übergegangen, den Kommunen die Organisation der Verfahren zu finanzieren sowie Mittel für Partizipationsprojekte bereit zu stellen. Die Gelder kommen aus Programmen der Europäischen Union wie auch aus Fonds der Nationalregierung zur Erprobung von e-Governance oder anderer innovativer Technologien. So kommt es, dass der Bürgerhaushalt in Italien sich weiterhin dynamisch entwickelt. Im Rahmen von Pilotprojekten sind bis 2009 über 100 neue Beispiele entstanden. Freilich ist die Reichweite von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Bemerkenswerter Weise sind von diesem Trend auch nicht nur kleine und mittlere Kommunen betroffen, sondern es sind auch Großstädte wie Modena (176.000 Einwohner) und Bergamo (117.000 Einwohner), die zu einer Etablierung des Bürgerhaushalts in Italien beitragen. Diese neue Verfahrenswelle ist von weniger ideologischen Debatten gesprägt und weniger vom Beispiel Porto Alegre beeinflusst, als vom Idealtyp der ‚bürgernahen Partizipation‘. Mit dem Wandel des Bürgerhaushalts hat sich auch die Ausrichtung des Netzwerks „Neue Kommunen“ geändert. Stand jener am Anfang im Zentrum, so ist unter anderem auch die Solidarökonomie zu einem Kernthema geworden. Diesen Wandel könnte man als Antwort darauf interpretieren, dass die sozialen Auswirkungen der Bürgerhaushalte in Italien bisher in ihrer großen Mehrheit eher bescheiden waren. Eine sozialere Umverteilung bleibt das Ziel des Netzwerkes, wobei der Bürgerhaushalt nun nicht mehr das einzige Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist, sondern neben anderen Formen alternativen Regierens steht [Allegretti/Allulli, 2007].
3.
Bleibt Porto Alegre die Ausnahme?
Die Bürgerhaushalte in Spanien und Italien haben sich nicht nur mehr entwickelt als in Deutschland, sondern sie lassen auch mehr Raum für eine stärker selbstbestimmte Partizipation der Teilnehmer. Ähnlich wie in Porto Alegre gibt es Bürger, die zu Protagonisten der Partizipationsprozesse geworden sind. Sie können die Regeln der Verfahren mitbestimmen und verfügen über eine gewisse Autonomie. Diese drückt sich u.a. in einem unabhängigen Rat des Bürgerhaus-
II/2.3 Bleibt Porto Alegre die Ausnahme?
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halts aus, der ganzjährlich tagt und darauf achtet, dass die Vorschläge der Bürger umgesetzt werden – soweit dafür Mittel bereit stehen. In manchen Fällen, wie z.B. in Cordoba, haben zivilgesellschaftliche Akteure den Beteiligungsprozess sogar zum Stoppen gebracht. Die Spannung zwischen individueller und assoziativer Beteiligung ist in Italien allerdings wesentlich geringer ausgeprägt als in Spanien. Stadtteilvereine haben hier einen viel geringeren Einfluss als auf der iberischen Halbinsel, wo seit dem Übergang zur Demokratie Partizipationsverfahren nicht ohne diese Vereinigungen organisiert werden können. Eine geschickte Kombination von individueller und assoziativer Beteiligung ermöglicht jedoch, wie in Puente Genil, die Zivilgesellschaft zu stärken, ohne dass es zu einer Ausweitung von Klientelismus und Privilegien etablierter Vereine kommt. Ein Knackpunkt liegt in der Frage der sozialen Gerechtigkeit, bzw. den sozialen Auswirkungen der Partizipation am Haushalt. Grottammare und Pieve Emanuele zeigen, dass es auch in Europa diesbezüglich eine ähnliche Dynamik wie in Porto Alegre geben könnte – zumindest in kleinen Städten. Auf der Ebene von mittleren und großen Städten ist dies bisher noch nicht geschehen. Dennoch hat sich gezeigt, dass soziale Effekte zumindest ansatzweise möglich sind, wenn es Verteilungskriterien gibt oder Minderheitengruppen in das Verfahren integriert werden. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es nicht auch sinnvoll wäre, den Beteiligungsprozess auch auf die Finanzen der kommunalen Unternehmen auszudehnen, da von ihnen ein immer größerer Teil der Investitionen getätigt wird und sie daher für die Entwicklung einer Gemeinde sehr wichtig sind. Hieraus lässt sich die schwierige Frage ableiten, inwiefern über die kommunalen Unternehmen hinausgehend privatwirtschaftliche Akteure einen Einfluss auf das Beteiligungsverfahren ausüben könnten – eine Frage, auf die im Kapitel fünf zu Großbritannien und insbesondere Polen Bezug genommen wird. Davor geht es jedoch erst einmal um den Bürgerhaushalt in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Portugal, wo das Verfahren unter dem Zeichen der ‚bürgernahen Partizipation‘ steht.
Kapitel 3
Bürgernahe Demokratie im „Zeichen der Zeit“ (Frankreich)
Als im Jahr 2001 die französische Nationalversammlung ein Gesetz über die ‚bürgernahe Demokratie‘ (démocratie de proximité) debattierte, sprach sich eine Minderheit für die Entwicklung einer ‚partizipativen Demokratie‘ aus. Sie betonte den Gegensatz zwischen beiden Konzepten, da „man bürgernahe Demokratie – durch die die Abgeordneten den Puls der Bevölkerung fühlen […] – nicht verwechseln darf mit partizipativer Demokratie. Dieses aktivere Modell hat zum Ziel, einen Teil der Entscheidungskompetenz auf den Bürger zu delegieren.“83 Diese partizipationistische Strömung vertritt eine ähnliche Auffassung, wie sie in Cordoba oder Grottammare zu Tage getreten ist. Der damalige kommunistische Bürgermeister von Bobigny, Bernard Birsinger, engagierte sich besonders stark in dieser Debatte. Vergeblich forderte er in der Nationalversammlung ein Gesetz, das erlaubt, einen Bürgerhaushalt nach brasilianischem Vorbild einrichten können, wenn die betroffenen Städte dies wünschen.84 Drei Jahre später führte die Stadt Bobigny, neben einigen anderen, einen Bürgerhaushalt ein. Dabei wäre ein Beobachter aus Brasilien oder auch nur aus Cordoba sicherlich befremdet, würde er die ‚Szenen aus dem Partizipationsalltag‘ miterleben, die sich an einem Abend im November 2004 in einem öffentlichen Gebäude nah des Rathauses abspielen.
Forum „Bobigny ganz demokratisch“ Im Rahmen der ‚partizipativen Foren‘ (assises participatives) des Jahres 2004 haben die engagiertesten Bewohner der Stadt eine Sitzung zum Thema Partizipation einberufen. Die Veranstaltung beginnt kurz nach 20 Uhr. Es gibt kein Podium, das den Saal überragt, sondern nur Tische, die wie in einem weitläufigen Restaurant angeordnet sind. Einige sind für Ehrengäste reserviert. Wie immer ist die Kommunikationsagentur Campana-Eleb mit der Organisation der Veranstaltung beauftragt und man hat den Eindruck, an ei-
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Le Monde, 23.03.2001. Wortmeldung von Bernard Birsinger in der Nationalversammlung, 3. Sitzung am 14/06/01.
II/3 Bürgernahe Demokratie im „Zeichen der Zeit“ (Frankreich)
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ner Talk-Show teilzunehmen. Rund 130 Menschen wollen an der Diskussion teilnehmen und den Bürgermeister, seine Mitarbeiter und die zahlreich angereisten Gäste (Abgeordnete oder Vereinsvertreter aus umliegenden Städten, Akademiker etc.) hören. Das Publikum kommt aus der Unter- und Mittelschicht und ist ethnisch gemischt. Ungefähr ein Drittel sind Frauen. Jugendliche sind, wenn auch nicht zahlreich, doch zumindest vertreten. Es wird lebhaft diskutiert und auch viele Menschen, die es nicht gewohnt sind, vor einem großen Publikum zu sprechen, scheuen sich nicht, ihre Ideen den Anwesenden vorzustellen. Liegt es an der Fernsehatmosphäre der Versammlung, die sie in einen fast familiären Kontext versetzt, oder am Moderator, der die Zuschauer aktiv zum Reden auffordert, oder daran, dass sich viele Teilnehmer im Laufe der vorhergehenden Beteiligungsveranstaltungen an eine derartige Situation gewöhnt haben? Es ist sicher ein bisschen von allem dabei, und das ist doch so selten, dass es wert ist, festgehalten zu werden. In Bobigny gibt es zahlreiche unterschiedliche Beteiligungsverfahren, was nicht selten zu einer gewissen Verwirrung sowohl auf Seiten der Bewohner als auch auf Seiten der Stadtverwaltung führt. Die Diskussion an diesem Abend ist lebhaft, es sprechen Vereinsvertreter und ‚einfache‘ Bürger, Abgeordnete der politischen Mehrheit im Rat und der Opposition sowie geladene Gäste. Einige Teilnehmer bedauern die Tatsache, dass manche Partizipationsinstrumente immer weniger nachgefragt werden. Der Moderator treibt bestimmte Redner aus der Stadtverwaltung in die Enge, indem er fragt, was sich dank der Partizipation wirklich geändert habe. Ein kurzes Video dient zur Auflockerung der Stimmung und fasst auf lebendige Art zusammen, was in der Vergangenheit bereits erreicht wurde. Die Vertreter der Opposition äußern ihr grundsätzliches Einverständnis mit dem Beteiligungsprozess, die externen Gäste vermitteln den Anwesenden eine Außenperspektive auf das Verfahren. Die Aufmerksamkeit ist groß und die Stimmung ist gelockert. Zu Beginn hatte der Bürgermeister erklärt, dass er die Ergebnisse der Diskussion berücksichtigen wolle. Nach zweieinhalb Stunden beendet er die Debatte mit einer kurzen, allgemein gehalten Rede, in der er die positive Haltung der Stadtverwaltung zur Partizipation ausdrückt, die zurückliegenden Etappen in Erinnerung ruft und noch auf den Kampf gegen die neoliberale Globalisierung zu sprechen kommt. Diese Zusammenfassung ist keine Synthese der Debatten. In dieser Versammlung, in der es eigentlich um die bestehenden Verfahren der Bürgerbeteiligung gehen sollte, wurden keine konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der aktuellen Situation besprochen. Die Bewohner äußerten ihre Beschwerden und Vorschläge, die Abgeordneten hörten zu und kündigten ein paar Neuerungen an (Bildung eines konsultativen Jugendgremiums, probehafte Einführung von Quartierfonds). Es wird
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Bürgernahe Demokratie im „Zeichen der Zeit“ (Frankreich)
allein die Aufgabe der Abgeordneten und Verwaltungsmitarbeiter sein, die ‚guten‘ und ‚zulässigen‘ Vorschläge herauszufiltern und eine Synthese der Diskussionen dieses Abends zu erstellen.
Was ist passiert zwischen den Reden im Jahr 2001 und der geschilderten Veranstaltung im Jahr 2004? Was ist die Besonderheit des französischen Bürgerhaushalts im Vergleich zu anderen europäischen Ländern?
1.
Die Erosion des Republikanismus
Die Verabschiedung des Gesetzes über bürgernahe Demokratie im Jahr 2002 geschah im Kontext einer Legitimationskrise des politischen Systems, die in Frankreich noch ausgeprägter erscheint als in Deutschland, Spanien oder Italien – obwohl die französische Gesellschaft vergleichsweise stark politisiert ist. Von 1986 bis 2002 zog jede nationale Wahl (Präsidentschaftswahl oder Wahlen zur Nationalversammlung) eine Sanktion der alten Regierung und eine Veränderung der Mehrheitsverhältnisse nach sich. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2002 erreichte Jacques Chirac, der sich in der zweiten Runde dem rechtsradikalen Politiker Le Pen stellen musste, nur 19,9% der abgegebenen Stimmen, während die Kandidaten von Parteien, die nicht im Parlament vertreten waren, zusammen auf 29,64% kamen. Beim Referendum über die Europäische Verfassung am 29. Mai 2005 sprachen sich 92% der nationalen Repräsentanten (Nationalversammlung und Senat zusammengenommen) für den Verfassungsentwurf aus, während ihn 55% der Wähler drei Monate später ablehnten. Umfragen ergeben regelmäßig, dass der Graben zwischen Politikern und Bevölkerung wächst. Die Präsidentschaftswahlen aus dem Jahr 2007 haben zwar eine große Beteiligung hervorgerufen, mehr als 83%, Umfragen haben aber ergeben, dass dies kein Zeichen für ein erneutes Vertrauen in die politische Klasse sei – ein Ergebnis, das durch die Legislativwahlen bestätigt wurde. Die neue Nationalversammlung ähnelt sehr stark der alten, wo der Frauenanteil bei 12,3% lag, das Durchschnittsalter der Abgeordneten bei gut 56 Jahren, und kaum Personen mit Migrationshintergrund vertreten waren.85 Grundsätzlich sind die politischen Parteien und Gewerkschaften in Frankreich im Vergleich zu ihren Nachbarn sehr schwach, und die Mitgliederzahlen sind in den letzten Jahren noch weiter zurückgegangen.86
85 86
Le Monde, 01/08/2005. Im Jahr 2005 verfügten beide wichtigsten linken Parteien, die Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei, über etwas mehr als 100.000 Mitglieder, die wichtigste konservative
II/3.1 Die Erosion des Republikanismus
175
Diese politischen Entwicklungen fanden vor dem Hintergrund wachsender sozialer Ungleichheiten, einem stockenden ökonomischen Wachstum und einer grundlegenden Infragestellung des ‚französischen Modells‘ statt. Hinzu kamen Finanzskandale, die das Vertrauen der Bevölkerung in die Berufspolitiker erschütterten, sowie die zunehmende Monopolisierung der politischen Ämter durch Kader aus den Elitehochschulen. Zudem erklärt sich diese Entwicklung durch die anhaltende Kritik am ‚Republikanismus à la française‘, der den gewählten Abgeordneten das alleinige Monopol bei der Definition des Gemeinwohls zuspricht. In dieser Perspektive werden die Vorschläge von Bürgern als Partikularinteressen abgetan und jeder Versuch, sie in die Entscheidungsfindung einzubeziehen, als wegbereitend für die Arbeit von Lobbys gesehen. Zwar verfügen republikanische Ansichten in manchen Themengebieten noch über einen gewissen Einfluss, wie zum Beispiel in der Frage des islamischen Kopftuches, verlieren jedoch in anderen Feldern an Glaubwürdigkeit, wie z.B. bei der Dezentralisierung und Bürgerpartizipation. Frankreich war früher eines der zentralisiertesten Länder Europas. Seit die Linke 1981 an die Macht kam, begann eine Bewegung der Dezentralisierung, die unter den Regierungen unterschiedlicher Couleur schrittweise an Tiefe gewann. Innerhalb von drei Jahrzehnten sind die Macht der ‚lokalen Autoritäten‘ (der Begriff ‚lokale Regierung‘ wurde in Frankreich gewissenhaft vermieden) und ihre finanziellen Ressourcen erheblich gestiegen, auch wenn Frankreich noch immer recht weit von der Mehrheit seiner Nachbarn entfernt bleibt. Parallel dazu umfasst der legislative Rahmen zunehmend Vorgaben zur Partizipation der Bürger [Blondiaux/Sintomer, 2002]. An für sich ist die Idee der Partizipation nicht neu in Frankreich, da sie auch einen Bestandteil der gaullistischen Ideologie bildete und in einigen Bereichen (wie z.B. der Universität) umgesetzt wurde. In der Kommunalpolitik jedoch fand die Idee der Partizipation ihre erste institutionelle Verankerung in der Politik der sozialen Stadterneuerung zu Beginn der 1980er Jahre. In einer Reihe von policy-Texten zur sozialen Stadtentwicklung wurden seit Anfang der 1990er Jahre die Prinzipien der Information, der Beratung und der Abstimmung mit den Bewohnern festgehalten und seit Ende des Jahrzehnts in verbindliche, rechtliche Vorgaben umgewandelt [Blondiaux, 2005]. Auf Betreiben der Regierung Jospin führten diese Diskussionen im Jahr 2002 zum Gesetz über die ‚bürgernahe Demokratie‘, das mit den beiden Bedeutungen des Begriffes spielt, die wir bereits analysiert haben: zum einen die Schaffung einer größeren räumlichen Nähe zwischen Verwaltung, Politik und
Partei UMP über 200.000 Mitglieder. Insgesamt liegt die Mitgliedschaft in allen französischen Parteien zwischen 600.000 und 700.000, wohingegen in Deutschland allein die CDU auf 575.000 Mitglieder kommt (2005) und die SPD auf 600.000.
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II/3 Bürgernahe Demokratie im „Zeichen der Zeit“
Bevölkerung, zum anderen die Einrichtung von mehr Kommunikationskanälen zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern [Le Bart/Lefebvre, 2005]. Das Gesetz schreibt die Einrichtung von Quartiersbeiräten in allen Städten mit mehr als 80.000 Einwohnern obligatorisch vor. Während der Diskussionen zum Gesetz bestand Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit, die Bürgerbeteiligung zu stärken, um zu einem größeren Kontakt zwischen Politik, Verwaltung und Bevölkerung zu gelangen. Divergenzen betrafen die Frage, wie der Dialog zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern institutionalisiert werden soll. Vertreter der republikanischen Strömung, die sich aus rechten und linken Parteien zusammensetzt, hatten kaum Gewicht in der Debatte. Sie akzeptierten das Prinzip der Quartiersbeiräte nur halbherzig, da es in ihren Augen ein zweifaches Risiko für die lokale Demokratie darstellt: Es schwäche die Legitimität der Abgeordneten, die mit den neuen Kommunikations- und Beteiligungsstrukturen konkurrieren müssten und es bedeute einen Triumph für die Partikularinteressen der Stadtviertel. Aus diesem Grund betonten die Parlamentarier der republikanischen Denkrichtung den absoluten Vorrang des Gemeinschaftsinteresses. Dieses lässt sich ihrer Meinung nach nur aus allgemeinen Wahlen ableiten und einzig die Abgeordneten seien in der Lage, es zu verkörpern. Die allgemeine Devise des französischen Republikanismus könnte dabei wie folgt lauten: „Es lässt sich nur aus der Entfernung gut regieren, aber man verwaltet gut nur aus der Nähe, (denn) in einer guten demokratischen Praxis kann man durch Distanz die Verwechslung partikularer Interessen mit dem Allgemeinwohl vermeiden und verhindern, situationsbedingtem Druck nachzugeben.“87 Die republikanische Strömung, deutlich in der Defensive, hatte (und hat) es schwer, sich den „Zeichen der Zeit“88 entgegenzustellen. Die Ideen, die hinter dem Gesetz von 2002 stehen, sind gleichermaßen entfernt von der partizipativen wie von der republikanischen Thematik. Die Mehrheit der Abgeordneten teilt mit letzterer die Vorstellung, dass allein eine allgemeine Wahl die Legitimation verleihe, das Gemeinschaftsinteresse zu interpretieren, betont aber die Legitimität partikularer Interessen, die von den Abgeordneten berücksichtigt werden müssten. Die Aufgabenverteilung zwischen repräsentativer und partizipativer Demokratie soll demgemäß eindeutig sein: Den Repräsentanten kommt das Monopol der Entscheidung und des Gemeinschaftsinteresses zu, die Bürger dürfen aktiv ihre Bedürfnisse und Interessen in den Quartiersbeiräten äußern. Die Hierarchie muss dabei streng beachtet werden. Die Partizipation ist lediglich eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie,
87 88
Jean Espilondo, sozialistischer Abgeordneter, Protokoll der 2. Sitzung am 14.06.2001. Der Ausdruck stammt von Michel Charzat, ehemaliger sozialistischer Abgeordneter und Bürgermeister des 20. Bezirks von Paris (Protokoll der parlamentarischen Debatten, 2. Sitzung am 14.06.2001).
II/3.2 Politischer Dialog, bürgernahe Verwaltung: Saint Denis, Bobigny
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die Quartiersräte dürften sich weder eine Entscheidungsmacht anmaßen, noch Themen außerhalb der nachbarschaftlichen Gestaltung diskutieren. Unter Anerkennung dieser Grenzen bereichert die regelmäßige Anhörung der Bewohner die öffentliche Debatte, macht es den Repräsentanten leichter, die Forderungen ihrer Wähler zu vernehmen, und entspricht dem Wunsch der Bürger nach Partizipation.
2.
Politischer Dialog, bürgernahe Verwaltung: Saint-Denis und Bobigny
Die ersten französischen Bürgerhaushalte entstehen im Zusammenhang mit den Diskussionen über die ‚bürgernahe Demokratie‘. Saint-Denis und Bobigny heben sich aufgrund des nationalen und internationalen Bekanntheitsgrades ihrer Bürgerhaushalte von den anderen Erfahrungen in Frankreich ab (bis 2005: 12 Städte). Diese beiden Städte im Norden von Paris, von kommunistischen Bürgermeistern an der Spitze einer linken Koalition regiert, sind emblematisch für das Schicksal der ehemaligen ‚Roten Banlieue‘. Saint-Denis ist historisch bedeutsam, denn es beherbergt die Basilika, in der die Könige von Frankreich beerdigt sind. Bobigny ist die Hauptstadt des Département Seine-Saint-Denis, eines der beiden letzten, die bis 2008 von der Kommunistischen Partei Frankreichs regiert wurden. Beide Städte sind aufgrund der Steuereinnahmen aus Industriebetrieben und Gewerbetreibenden relativ reich; ein großer Teil der Bevölkerung ist jedoch von Prozessen sozialer, räumlicher und ethnischer Ausgrenzung betroffen. 2005 zählt Saint-Denis 94.000 Einwohner und wird wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs der Stadt beständig größer. Viele Dienstleistungsunternehmen haben sich niedergelassen, angezogen vom großen Fußballstadion, von der günstigen Verkehrsanbindung an die Hauptstadt und von der volontaristischen Politik der Stadtverwaltung. Diese hat damit das bedrohte finanzielle Gleichgewicht der Stadt wiederhergestellt, ein Programm des sozialen Wohnungsbaus wiederbelebt und eine Gemeindeverbund (agglomération) mit den benachbarten Städten gegründet, deren Zentrum sie ist. Bobigny, 45.000 Einwohner, profitiert seinerseits von dem Status einer Präfekturstadt mit Sitz vieler Verwaltungen und von seiner Lage zwischen Paris und dem Flughafen Charles de Gaulle. Die Lage der kommunalen Finanzen und das Budget pro Einwohner (rund 2.000 Euro 2005) sind mit denen von Saint-Denis vergleichbar. Dort organisiert sich die Stadt um ein historisches Zentrum, wohingegen das Kennzeichen von Bobigny seine Wohnblöcke aus Beton sind, die an manche Ostberliner Großraumsiedlungen erinnern. Beide Städte haben ein ähnliches soziales Profil: eine hohe Arbeitslosenquote (um 20% im Jahr 2005, das Doppelte des nationalen Durchschnitts), einen hohen Unterschichtenanteil und wenig mittlere Ange-
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II/3 Bürgernahe Demokratie im „Zeichen der Zeit“
stellte im öffentlichen Dienst, einen hohen Anteil an Sozialwohnungen (um 55% in Saint-Denis und 65% in Bobigny) und eine hohe Zahl von Migranten (der Ausländeranteil liegt in Saint-Denis bei 26%, in Bobigny bei 23%; das sind ca. fünf mal so viel wie der nationale Durchschnitt). In beiden Städten repräsentieren die ‚echten Gallier‘ eine Minderheit, das Stadtbild ist hingegen geprägt von den Bevölkerungsgruppen, die aus den französischen Überseegebieten stammen sowie den Immigranten der ersten, zweiten und dritten Generation (von denen viele die französische Nationalität besitzen, aber deren „Gesicht eine Buchseite ist, die man nicht herausreißt“, nach einer Wendung der Musik-Gruppe Zebda). 2.1 Von den Quartiersbeiräten zum Bürgerhaushalt Saint-Denis hat bei der Einführung von Quartiersbeiräten eine Vorreiterrolle gespielt. Seit den 1980er Jahren gerät der Stadtrat in offene Meinungsverschiedenheiten mit der Leitung der Kommunistischen Partei. Der neue Bürgermeister, Patrick Braouezec, sieht sich mit einer tiefen Krise des politischen Aktivismus konfrontiert, die sich in ganz Frankreich bemerkbar macht. Die Anzahl der Parteimitglieder geht stark zurück, die politischen Aktivitäten ebenso. Es gibt eine massiv sinkende Wahlbeteiligung, viele Einwohner schreiben sich nicht mal mehr in die Wahllisten ein.89 Der Front National gewinnt an Stimmen und übertrifft regelmäßig die bürgerliche Rechte, während sich die Ergebnisse für die Regierung regelmäßig verschlechtern. 1995 wird die Liste der vereinten Linken zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht in der ersten Runde wiedergewählt. Als Antwort auf diese Entwicklungen setzt Braouezec auf die Einführung von Beteiligungsverfahren – auch gegen die Führung der KPF. Zudem möchte er eine bürgernahe Verwaltung entwickeln, um aus der Enge der bestehenden Institutionen herauszukommen. Durch diese Strategie – zunächst von der Leitungszentrale der kommunistischen Partei kritisiert – soll die Kommunikation mit den Bürgern wiederhergestellt werden, die bislang durch die KPF und die von ihr beinflussten Organisationen gewährleistet war. Zudem geht es darum,
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1999 zählte die Stadt Saint-Denis 86.000 Einwohner, davon besaßen ca. 63.000 die französische Nationalität, worunter rund 45.000 Erwachsene waren, also potenzielle Wähler. 32.000 standen auf den Wählerlisten, 15.000 nahmen an den Kommunalwahlen 2001 teil, wovon 7.500 für die gewinnende Kommunalregierung gestimmt haben (53% der abgegebenen Stimmen). Die Wahlbeteiligung, d.h. der Anteil der abgegebenen Stimmen im Verhältnis zur wahlberechtigten Bevölkerung, ist in Saint-Denis während der letzten Jahre auf das Niveau der 1870er Jahre gesunken, d.h. auf den Zeitraum vor dem Beginn der Arbeiterbewegung in der Stadt: 2001 nahm ein Viertel der Wahlberechtigten in Saint-Denis an der Kommunalwahl teil, in ganz Frankreich lag der Anteil bei einem Drittel der erwachsenen Franzosen. Das Phänomen ist neu: 1980 waren in Saint-Denis noch 45.000 Personen auf den Wählerlisten eingeschrieben, wo bei die Bevölkerung kaum größer war [Vidal, 1995a und 1995b; Offerlé, 1989].
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das Image des Bürgermeisters und der Abgeordneten gegenüber der Bevölkerung zu verbessern, für die die kommunistische Ideologie und die traditionelle Arbeiterstadt immer weniger einen identitären Bezug darstellen. Ist Saint-Denis auch eine Stadt mit einer hohen Dichte an Vereinen und Organisationen, so sind die neuen Verfahren der Bürgerbeteiligung ganz deutlich das Ergebnis einer top-down-Bewegung. Seit Mitte der 1980er Jahre werden von der Stadtverwaltung als Teil der sozialen Stadtentwicklungspolitik (vergleichbar mit dem Programm Soziale Stadt in Deutschland) ‚Quartierssitzungen‘ durchgeführt. Es handelt sich dabei um monatliche Versammlungen im Stadtviertel, die allen Bürgern offen stehen und von einem Abgeordneten geleitet werden. Sie stellen eine informelle Version der Quartiersbeiräte dar, die zur gleichen Zeit in ein paar Dutzend Kommunen entstehen. Nachdem die Stadtverwaltung anfänglich mit großem Engagement die Quartiersbeiräte unterstützt hat, treten zu Beginn der 2000er Jahre die Grenzen eines rein konsultativen, mikro-lokalen Vorgehens ohne große Mobilisierungskraft der Bevölkerung hervor. Aufgrund der wachsenden Entwicklung von Quartiersbeiräten in anderen Städten riskiert die Stadt zudem, im Bereich der Partizipation ihren Vorsprung gegenüber anderen Kommunen zu verlieren, und sucht nach neuen Initiativen. Die Begegnung mit Porto Alegre wird in der Folge eine entscheidende Rolle spielen. Von Anfang an nimmt die Regierungsspitze von Saint-Denis an den Treffen des Weltsozialforums teil, bedeutend früher als die nationale Führung der KPF. Die Erfahrungen der brasilianischen Projekte eröffnen neue Perspektiven, auch Probleme in Frankreich in den Griff zu bekommen. Erste Versuche in diese Richtung starten schon 2001. Parallel dazu entdeckt die Kommunistische Partei schließlich auf nationaler Ebene die Tugenden der Partizipation. Die Entwicklung von Bobigny ist in dieser Hinsicht exemplarisch. Die Stadt wird seit mehr als acht Jahrzehnten von der KPF geführt und sieht sich selbst noch immer als kommunistische Modellstadt. Die Partei hat hier 1.200 Mitglieder (2005), was im Verhältnis zur Anzahl der Einwohner außergewöhnlich viel ist (in Bobigny ist nahezu einer von achtzig Bewohnern aktives Mitglied der Kommunistischen Partei). In der Stadtregierung dominierten schon immer die ‚orthodoxen‘ Vertreter , die abweichende Nachbargemeinden mitunter heftig bekämpfen – vor allem Saint-Denis, die verfeindete Schwester. Wie jedoch in nahezu allen ‚roten Bastionen‘ sieht sich die traditionelle kommunistische Verwaltung seit den 1980er Jahren in einer tiefen Legitimationskrise. Die mittelmäßige Qualität des öffentlichen Dienstes nimmt unter dem Einfluss von Vetternwirtschaft und so schwerfälligen wie festgefahrenen Strukturen weiter ab. Die politische Strategie, Gewerkschaftskämpfe in den städtischen Unternehmen zu unterstützen, funktioniert nicht mehr, da mehr und mehr Unternehmen abwandern und das Problem nun vielmehr darin besteht, Wirtschaftsbetriebe anzuziehen. Zudem hat es die kommu-
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nistische Führung nicht vermocht, mit den neuen Einwanderungsgruppen die gleichen Verbindungen zu knüpfen, die sie zu den vorangegangenen Migranten aus dem ländlichen Frankreich oder aus anderen europäischen Ländern aufgebaut hatte [Masclet, 1983]. Diese lokalen Faktoren werden durch die nationale und internationale Krise der kommunistischen Bewegung verschärft. Wie auch in Saint-Denis findet sich der kommunistische Aktivismus in Bobigny im freien Fall. Die Prozentzahl der Stimmen für die linke Koalition in der ersten Runde der Kommunalwahlen sinkt zwischen 1989 und 1995 von 65% auf 51%. Ein neuer Bürgermeister, Bernard Birsinger, ist nunmehr davon überzeugt, dass allein eine Neuorientierung die Stadt retten kann. Er schlägt einen neuen Kurs ein, der an die Aufbruchsstimmung der sozialen Bewegung in Frankreich anknüpft (der große Streik im Dezember 1995 und seine Folgen). Die Erneuerung erfolgt, wie in Saint-Denis, über die Schaffung neuer Kanäle der Partizipation, die vom Parteiapparat abgekoppelt sind. 1998 wird im Auftrag der Verwaltung eine Stadtkonferenz organisiert, die assises de la ville, die in Folge alle zwei Jahre stattfinden wird. Parallel dazu wird die consult’action organisiert, eine Initiative, die die Logik von Umfragen und Massenmobilisierungen der Bevölkerung verbindet. Mit ihr sollen Tausende Einwohner ermuntert werden, ihre Bedürfnisse, ihre Probleme und Wünsche für ihre Stadt zu äußern. So wird es den Bewohnern nach Jahren kaum vorhandener Kommunikationskanäle ermöglicht, sich zu äußern und sich für die Gestaltung der kommunalen Politik zu engagieren. Die Initiative ist von Erfolg gekrönt: Es nehmen mehr Bewohner an der Umfrage teil als an den Kommunalwahlen und die Themen, die in den Foren entwickelt werden, versprechen einen Neuanfang. In Bobigny wie in Saint-Denis wirkt sich die Entstehung der globalisierungskritischen Bewegung positiv aus. Sie scheint nach dem Fall der Berliner Mauer und den Enttäuschungen des französischen Kommunismus ein neues politisches Projekt zu eröffnen. Während die Beziehung zu Porto Alegre stark von Saint-Denis monopolisiert wird, wendet sich Bobigny der brasilianischen Stadt Belém zu, um neue Inspirationen für die Beteiligung zu Hause zu finden. Der Bürgerhaushalt beruht dort auf einer sehr starken Mobilisierung der Bevölkerung, wohingegen weniger Wert auf die verfahrensrechtlichen Bestimmungen und Strukturen gelegt wird. Die Idee eines Bürgerhaushalts wird zum ersten Mal auf der III. Stadtkonferenz im Jahr 2001 diskutiert – also im gleichen Jahr des ersten Weltsozialforums in Porto Alegre. 2003 lädt Bobigny, gemeinsam mit Saint-Denis und Paris, zum zweiten Europäischen Sozialforum ein und erhält dadurch eine gewisse nationale und internationale Sichtbarkeit.
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2.2 ‚Selektives Zuhören‘ Es ist nicht dieser besondere Kontext, der den brasilianischen oder spanischen Beobachter am meisten verwirren würde. Auch die politische Sprache ist teilweise die gleiche wie in Porto Alegre, geprägt durch ein marxistisches Vokabular und Kritik am neoliberalen Kapitalismus. Hingegen findet sich wenig wieder von den entwickelten Methoden des brasilianischen Bürgerhaushalts mit seinen expliziten Verfahrensregeln und den ausgeklügelten Modalitäten der Entscheidungsfindung. Selbst die lokalen Adaptationen des Verfahrens von Porto Alegre, wie man sie in manchen spanischen oder italienischen Städten finden kann, scheinen hier keinen Platz zu finden. Die zu Beginn beschriebene Logik der assises findet sich in der Mehrzahl partizipativer Erfahrungen in Frankreich wieder. Der Geist des Bürgerhaushalts à la française, für den Bobigny und Saint-Denis als repräsentativ gelten können, besteht demnach darin, Treffen in den Quartieren als Grundlage für eine Diskussion auch auf der Stadtebene zu nutzen (dies ist der entscheidende Schritt auf dem Weg zum Bürgerhaushalt im Vergleich zu Quartiersbeiräten). Gleichzeitig liegt es ausschließlich in der Verantwortung der politischen Mandatsträger und der städtischen Verwaltung, die Synthese aus diesen Diskussionen zu ziehen (‚selektives Zuhören‘). Der wichtigste Unterschied zwischen der Vorgehensweise in Saint-Denis und Bobigny liegt darin, dass in Bobigny der eigentliche Bürgerhaushalt nur eine relativ kurze Zeit besteht. Davon abgesehen weisen beide einige Gemeinsamkeiten auf. Eine Schlüsseldimension liegt in der Schaffung direkter Kommunikationskanäle zwischen den politisch-administrativen Verantwortlichen und den Bürgern. Dies geschieht durch die Organisation von Versammlungen in den Stadtvierteln (ein bis zweimal pro Jahr), anlässlich derer der Bürgermeister mit den Bewohnern zusammenkommt und man über konkrete mikro-lokale Probleme spricht. Der Bürgermeister soll dabei auch über den Stand der Umsetzung der vereinbarten Maßnahmen berichten. Darüber hinaus finden in beiden Städten einmal pro Quartal weitere, etwas stärker formalisierte Treffen in den Stadtvierteln statt. Die Teilnahme beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Gruppe von Bürgern, wie es bei vielen anderen Quartiersräten der Fall ist, sondern alle interessierten Bewohner können kommen. Geleitet werden die Sitzungen von einem Kommunalpolitiker und einem Quartiersmanager. Die Autonomie der Bewohner ist aufgrund der informellen Verfahrensregeln und der zentralen Rolle offizieller Vertreter aus Politik und Verwaltung beschränkt. Darüber hinaus kommt es fast niemals zu stadtteilübergreifenden Versammlungen, in denen über gemeinsame Probleme gesprochen werden kann. Die diskutierten Themen, die sich bei den Versammlungen hauptsachlich auf Probleme in den einzelnen Stadtvierteln beziehen, beinhalten jedoch im zweiten Fall seit Kurzem auch Fragen bezüglich der gesamten Stadt. Der vorherrschende Gedanke bei all
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diesen verschiedenen Treffen ist, dass Gemeinderat und Verwaltung eine gewisse Nähe zu den Bürgern herstellen können. Es geht darum, die kommunale Politik sichtbarer zu machen, Verbindungen zu engagierten Bürgern zu knüpfen und dadurch zu einer stärkeren politischen Legitimation zurückzufinden, den sozialen Zusammenhalt durch mehr Dialog zu fördern und die tägliche Verwaltungsarbeit im Sinne einer höheren Reaktionsfähigkeit zu ändern. Die Dezentralisierung bestimmter städtischer Dienste und die Einrichtung von Stadtteilbüros, die Anwesenheit eines berichterstattenden Mitgliedes des Gemeinderates sowie eines Quartiersmanagers und schließlich eine größere Transparenz der Kommunalpolitik sollen die Qualität der öffentlichen Hand auf mikro-lokaler Ebene fördern. Weitere Arbeitsgruppen und Foren, die auf städtischer Ebene organisiert werden, ermöglichen eine Fortführung dieser Kontakte und die Erörterung von Fragen des kommunalen Haushalts. In Saint-Denis wird ein Fragebogen zum Budget an alle Haushalte verteilt und die Antworten von der Stadtverwaltung sowie von Gruppen aus der Bürgerschaft zusammengefasst und analysiert. Andere Arbeitsgruppen beschäftigen sich mit konkreten Fragen des kommunalen Haushalts. In diesen Gruppen sollen, theoretisch, freiwillige Teilnehmer und Delegierte aus den Quartiersräten zusammenkommen. In der Realität ist diese Unterscheidung zwischen beiden Gruppen jedoch undeutlich, denn das Delegationsprinzip ist sehr vage: Die so genannten Delegierten „werden innerhalb der Quartierssitzungen ernannt, sie schlagen sich vor, sie berufen sich selbst. […] Oft repräsentieren sie sich selbst. Sie fassen zusammen, was in letzter Zeit gesagt wurde […].“90 Dies erklärt zum Teil, warum die Arbeitsgruppen nicht die Rolle eines wirklichen Bürgerhaushaltsrats spielen, wie er in Spanien und Italien oft existiert. Dennoch sind während der Treffen führende Vertreter der Stadtverwaltung präsent, um mit den Bewohnern zu diskutieren. Eine Reihe von didaktisch präsentierten Dokumenten erlaubt es, in die Haushaltsdiskussion auf recht präzise Weise einzusteigen. Die Diskussionen können konkrete Projekte betreffen, aber auch allgemeinere Fragen (z.B. wurde die Erhöhung lokaler Steuern, die das Rathaus beschlossen hatte, in Arbeitsgruppen diskutiert). Das Ergebnis dieser Diskussionen wird dann von der Leitung und den Abgeordneten an die betroffenen Ämter weitergeleitet, in den Haushalt integriert und im Frühjahr im Stadtrat abgestimmt. Das Resultat der partizipativen Vorgehensweise wird auf der Internetseite der Stadt verbreitet und an alle Haushalte von SaintDenis in Form einer Broschüre verschickt; schließlich ist der Bürgerhaushalt Gegenstand eines speziellen Paragraphen in der recht übersichtlichen Präsentation des städtischen Haushalts, die jedes Jahr drei Seiten in der lokalen Wochenzeitschrift einnimmt.
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Interview mit einer führenden Verwaltungskraft von Saint-Denis.
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2.3 Ergebnisse der bürgernahen Partizipation Im Großen und Ganzen kommt die Vorgehensweise von Bobigny dem Idealtyp der ‚bürgernahen Partizipation‘ sehr nah (er beeinflusst auch einzelne italienische Bürgerhaushalte). Jene von Saint-Denis übernimmt dagegen – wenn auch in geringem Maße – bestimmte Züge des Verfahrens ‚Konsultation über öffentliche Finanzen‘, das in den deutschen Bürgerhaushalten stark verbreitet ist. Trotz der politischen Nähe und der verwendeten Rhetorik sind die beiden Varianten in der Praxis weit entfernt von den spanischen und italienischen Bürgerhaushalten, die weitgehend der Idee von Porto Alegre treu bleiben. In beiden französischen Städten bleibt das Vorgehen sehr informell und strikt konsultativ. Die Partizipation beruht auf einer Vielzahl von Instrumenten, aber diese sind untereinander nur auf schwache Art verbunden. Auf jeden Fall kommen diese Mechanismen ‚von oben‘ und werden nicht, wie in Porto Alegre, auch durch eine breite soziale Mobilisierung hervorgerufen. Die Beteiligung ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Saint-Denis z.B. beteiligen sich in den meisten Vierteln und Arbeitsgruppen zwischen einigen wenigen und ein paar Dutzend Personen. Die große Mehrzahl der Bevölkerung ist sich nicht einmal bewusst, dass ein Bürgerhaushalt existiert. Zudem nehmen bestimmte soziale Schichten (Jugendliche, sozial Schwache, Migranten) kaum am Prozess teil. Zwar betonen Politiker das allgemeine Ziel einer ‚solidarischen Stadt‘, das die ärmsten Bevölkerungsgruppen nicht außen vor lässt. Konkret wird dieses Ziel jedoch nicht umgesetzt und hinsichtlich des Bürgerhaushalts fehlt jeglicher Bezug zur Idee von mehr sozialer Gerechtigkeit – trotz des rhetorischen Verweises auf Porto Alegre. Die weitestgehende Abwesenheit der outsider in den Bürgerversammlungen macht es unwahrscheinlich, dass diesbezüglich konkrete Forderungen an die Organisatoren gestellt werden. Aus diesem Grund erscheinen auch die Ziele einer Wiederherstellung des sozialen Zusammenhalts durch die Partizipation als haltlos, ohne dass diese Feststellung jedoch zu ernsthaften Debatten in der Stadtverwaltung oder auf öffentlichen Versammlungen geführt hätte [Bacqué/Sintomer, 1999]. Im Großen und Ganzen beteiligen sich so viele Frauen wie Männer, genderbezogene Themen kommen in den Debatten allerdings fast nicht vor und die Idee des Gender Mainstreaming ist unbekannt. Darüber hinaus soll zwar die Verwaltung insgesamt transparenter werden, nicht jedoch die Verteilung der Investitionen auf die einzelnen Stadtteile: „Würde man die Verteilung der Haushaltsmittel pro Stadtteil vorstellen, könnte man auf derartig große Unterschiede stoßen, dass sich die Frage stellen würde, warum es so viel Geld in einem Viertel gibt und weniger in dem anderen […]. Wenn es in einem Bereich gerade Sanierungsarbeiten gibt, wie gegenwärtig im Stadtzentrum, so werden [enorme Unterschiede] auftreten. In den Vierteln, die sich gegenüber anderen
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schon jetzt benachteiligt fühlen, würde man es, glaube ich, noch stärker merken. Und schließlich weiß ich nicht, ob es der finanzielle Aspekt ist, der am meisten zählt. Wenn eine Straße neu bebaut werden muss, ob es nun 10.000 oder 500.000 Euro kostet, gemacht werden muss es. Die Kosten sind nicht das wichtigste, um den Einsatz der Stadtverwaltung zu beweisen.“91 Im Bürgerhaushalt von Saint-Denis finden sich somit alle Merkmale, die die Mehrzahl der Beteiligungsinstrumente in Frankreich zu charakterisieren scheinen [Bacqué/Sintomer, 2001]. Das Vorgehen in Bobigny ist ebenfalls weit davon entfernt, eine distributive Gerechtigkeit oder eine Transformation der Geschlechterverhältnisse voranzubringen. Es hebt sich allein dadurch ab, dass die Versammlungen auf Stadtebene ein breites Publikum (bis zu mehreren hundert Menschen) anziehen konnten. Die Motivation zur Teilnahme erklärt sich vermutlich auch durch den Event-Charakter der Veranstaltungen, die dadurch einen hohen Unterhaltungswert haben. Die Spielregeln werden jedoch im Wesentlichen von der Stadtverwaltung bestimmt und können nicht von den Teilnehmern verändert werden. Selbst die Einrichtung eines Beobachtungszentrums, das den Stand der Realisierung der diskutierten Projekte einschätzen soll, ändert nichts an der Tatsache, dass die Entwicklung einer ‚Gegenmacht‘ in Form einer organisierten Bürgerschaft im Verfahren nahezu unmöglich ist. Die Situation in Saint-Denis ist nicht sehr anders. Die Abstimmung des Haushalts bot im Jahr 2004 die Gelegenheit zu einer gemeinsamen Sitzung von Stadtrat, Vertretern der partizipativen Arbeitsgruppen und interessierten Bewohnern. Dieser Versuch, der einen der interessantesten Aspekte der Bürgerbeteiligung in Saint-Denis darstellte, wurde jedoch aus Angst vor Lobbygruppen und der Entstehung einer Gegenmacht nicht wiederholt. Ohne eine starke Mobilisierung ‚von unten‘ und ohne die Übertragung von Entscheidungsmacht an die Bürger illustriert der Bürgerhaushalt die Logik des ‚selektiven Zuhörens‘, mit der sich manche Bewohner zufrieden geben, die aber jene enttäuscht, die sich stärker engagieren wollen. Viele Angestellte hingegen meinen, sie hätten ihre Arbeitsweisen von Grund auf geändert, um der Nachfrage nach Partizipation gerecht zu werden. Hinsichtlich der Verwaltungsmodernisierung wurden die geplanten Ziele in der Tat zum Teil erreicht. Die Verwaltung arbeitet inzwischen in größerer Nähe (z.B. durch Büros in den Stadtteilen), und es wurden Kommunikationsmöglichkeiten geschaffen, um die Anliegen der Bürger schnell zu den zuständigen Stellen weiterzuleiten. Da die Verwendung dieser Methoden jedoch nicht formal vorgeschrieben ist und ihre Ausführung von der Bereitschaft der Verantwortlichen abhängt, fallen die Ergebnisse in den einzelnen Stadtteilen sehr unter-
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Interview mit der Beauftragten zur Kontrolle der Verwaltung innerhalb der Generaldirektion von Saint-Denis.
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schiedlich aus. In den besten Fällen erarbeiten Verwaltung und Teile der Bürgerschaft gemeinsam eine Problemanalyse und führen auch gemeinsam das dazu gehörige Projekt aus. Es gibt Formen dieser Kooperation nicht nur auf Quartiers-, sondern auch (in geringerem Maße) auf gesamtstädtischer Ebene. Dies nehmen die Bewohner zwar nicht immer war, aber es lässt sich nicht leugnen, dass sich z.B. der Prozess der Haushaltsaufstellung geändert hat. Er ist offener für Ansprüche, die in den partizipativen Foren erhoben werden. Die Summen, um die es dabei geht, liegen über den 700.000 Euro, die von der Stadt SaintDenis offiziell für den Bürgerhaushalt bereitgestellt werden Paradoxer Weise profitieren womöglich die Mitglieder des Gemeinderates am meisten von der größeren Transparenz und Lesbarkeit des Haushalts, die durch die Verfahren der Bürgerbeteiligung erreicht werden. Sie können dadurch z.B. einen stärkeren Druck auf die Verwaltung ausüben, zu der das Verhältnis oft gespannt ist. Eine der größten Schwierigkeiten bei der bürgernahen Partizipation liegt darin, dass sich die grundlegende Funktionsweise der Verwaltung kaum verändert hat. Zum Beispiel hat man am kameralen Haushalt festgehalten und kein betriebswirtschaftliches Rechnungswesen eingeführt. Ebenso lässt die Fähigkeit der Verwaltung, innerhalb kurzer Zeit auf Anfragen zu reagieren, zu wünschen übrig. Manche städtischen Dienste, wie z.B. die Verwaltung der Sozialwohnungen, funktionieren nach wie vor auf kafkaeske Weise, was regelmäßig für Empörung bei den Bewohnern sorgt. Dennoch erhält die Bürgerpartizipation gerade durch kleinteilige Verbesserungen und Maßnahmen ihre Legitimation. Allerdings kann eine Wirkung nur begrenzt eintreten, wenn die mit den Bürgern in Kontakt stehenden Mitarbeiter es nicht schaffen, den Rest der Verwaltungsmaschinerie mit sich zu ziehen. So beklagt z.B. ein Bürger aus St. Denis, der regelmäßig an Quartiersversammlungen teilnimmt, dass „diese Verfahren zwar erlauben, Fieber zu messen […], aber der Kranke nicht geheilt wird“. Von der Verwaltung wird dieses Problem mitunter erkannt, eine Mitarbeiterin erklärt: „Die Vorschläge der Bürger werden berücksichtigt, aber wir haben enorme Schwierigkeiten, innerhalb der Frist zu reagieren. Die Zeit der Bewohner ist eine andere als die Zeit der Stadt.“ Der begonnene Dialog hat es der Stadt ermöglicht, nicht den Kontakt zur Bevölkerung zu verlieren. In Bobigny und in Saint-Denis hat der Bürgerhaushalt jedoch in keiner Weise die sinkende Wahlbeteiligung aufhalten können, was die These bestätigt, dass die Einrichtung von Beteiligungsverfahren nicht mir der Entwicklung der Wahlbeteiligung zusammenhängt [Rey, 2005]. Zudem waren die Bewohner, die in diesen Strukturen mitgearbeitet haben, meist schon aktive Wähler. Ohne dass die Wirkung der Beteiligungsverfahren genau nachweisbar wäre, scheint es dennoch, dass durch sie ein Teil der engagierten Bewohner wieder eingebunden wurde. Im Jahr 2001 konnten sich die Listenverbindungen der Links-Parteien durch einen spürbaren Zuwachs in beiden Städten schon in
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der ersten Runde durchsetzen (ein Anstieg von 51% auf 65% in Bobigny und von 46% auf 53% in Saint-Denis) und wahrscheinlich hat die Einrichtung der Partizipationsforen dabei eine gewisse Rolle gespielt. Sieben Jahre später allerdings ist die Mehrheit so gespalten, dass sie mit zwei getrennten Listen antritt; in Bobigny verliert die Regierung einige Prozente und fällt auf 54% der Stimmen zurück. Darüber hinaus scheint der Bürgerhaushalt unter den verschiedenen Beteiligungsinstrumenten keine besondere Funktion eingenommen zu haben. Im Jahr 2004 stellt die Verwaltung in Bobigny ohne weitere politische Folgen das Verfahren ein. Erst im Jahr 2007 startet man einen neuen Versuch mit dem Bürgerhaushalt. Keine der beiden Städte scheint einen Lernprozess begonnen zu haben, um auf Grundlage der bisherigen Erfahrungen die Verfahren weiterzuentwickeln. Es stellt sich insgesamt die Frage nach der Nachhaltigkeit eines Prozesses, der eine Menge Energie und Geld benötigt und dessen Wirkungen bis jetzt bescheiden bleiben. Aus diesem Grund muss man sich eher anderen Erfahrungen zuwenden, um neue Perspektiven und Ideen für eine Erneuerung zu erhalten.
3.
Die Erwartungen an einen regionalen Bürgerhaushalt
Während der letzten Jahre haben sich die Bürgerhaushalte in Frankreich vervielfacht und diversifiziert. Nachdem es im Jahr 2001 zwei Verfahren gab, sind es 2005 schon ein Dutzend. Bobigny hat zu dieser Ausbreitung des Bürgerhaushalts erheblich beigetragen. Die Stadt hat regelmäßige Treffen zum Thema veranstaltet, andere kommunistische Gemeinden der Vorstädte mit sich gezogen und ein dauerhaftes Bündnis mit Démocratiser Radicalement la Démocratie (‚Die Demokratie radikal demokratisieren‘) geknüpft.92 Vereine wie ADELS, dem wichtigsten französischen Verein, der sich mit dem Thema der lokalen Demokratie beschäftigt, tragen ebenfalls zu dieser Bewegung bei. Obwohl das Thema weiterhin nur von einer kleinen Minderheit beachtet wird, ist es nicht mehr im Alleinbesitz der kommunistischen Bürgermeister der Vorstädte von Paris. An verschiedenen Orten nehmen sich Vertreter der sozialdemokratischen
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Der Verein DRD, gegründet von linken Aktivisten, spielte eine beachtliche Rolle bei der Verbreitung des Bürgerhaushalts in Frankreich, indem er zahlreiche Versammlungen durchführte, die Verbreitung des Buches zweier führender Persönlichkeiten aus Porto Alegre, Tarso Genro und Ubiratan de Souza [1998], auf französisch organisierte und einen Band über den Bürgerhaushalt von Porto Alegre [Granet/Solidariedade, 2003] veröffentlichte. Beide Werke erfuhren, ebenso wie das Buch von Marion Gret und Yves Sintomer [2002], eine beachtliche Verbreitung und trugen dazu bei, das Thema in Frankreich stärker bekannt zu machen, ebenso wie Reportagen, die von der nationalen Presse anlässlich der verschiedenen Zusammenkünfte der Weltsozialforen veröffentlicht wurden.
II/3.3 Die Erwartungen an einen regionalen Bürgerhaushalt
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Partei (hier dem Parti Socialiste) seiner an, zum Beispiel im 20. Arrondissement von Paris, im Amt für sozialen Wohnungsbau der Stadt Poitiers und im Regionalrat von Poitou-Charentes. Auch manche Grünen-Politiker interessieren sich für diese Idee, jedoch ohne sie weiterzuentwickeln. Die Herausgeber der Monatszeitschrift Le Monde diplomatique, die auch zu den Initiatoren des Weltsozialforums gehörten, sind in der Anfangszeit der Verbreitung sehr aktiv [Le Monde diplomatique, 2000], wenden sich dann jedoch von der Thematik wieder ab. Darüber hinaus spielen auch Beraterbüros oder Kommunikationsagenturen (die teilweise von ehemaligen politischen Aktivisten gegründet wurden, wie z.B. Campana Eleb in Bobigny) eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der Konzeption und Ausbreitung. Bei der Suche nach neuen Verfahren verdient eine Innovation besondere Beachtung: zwei Bürgerhaushalte, im 20. Bezirk von Paris und in der Kleinstadt Pont-de-Claix, greifen auf das Losverfahren zurück. Diese Prozedur, die bei manchen deutschen Bürgerhaushalten benutzt wird, bringt interessante Ergebnisse hervor. Dies gilt insbesondere für Pont-de-Claix, wo das Los benutzt wird, um eine Art Bürgerhaushaltsrat zu bilden, der beratend den kommunalen Haushalt diskutiert. Ein anderer Weg, den französischen Bürgerhaushalten ‚mehr Schwung‘ zu geben, besteht darin, über ihren rein konsultativen Charakter hinauszugehen und ihnen mehr Entscheidungsmacht zu verleihen. Damit können all jene, die sich für sie einsetzen, auch sehen, dass ihre Bemühungen sichtbare Folge haben. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass die Bürgerhaushalte in Frankreich unter dem Einfluss von Porto Alegre aus der Überschneidung von zwei Beteiligungsverfahren entstanden sind: den Quartiersbeiräten und den Quartierfonds. Letztere sind insofern von Interesse, als sie den Bürgern eine Entscheidungsmacht über festgelegte Geldsummen zuerkennen und darauf setzen, dass die Partizipation in dem Maße, wie sie sich auf eine qualitativ gute Diskussion stützt, zu vernünftigen Ergebnissen führen kann. Das Problem besteht allerdings darin, dass die auf dem Spiel stehenden Summen in der Regel unbedeutend sind: Es geht oft nur um einige hundert oder tausend Euro und betrifft nur Projekte, die sich nur auf ein bestimmtes Viertel beziehen [Röcke/Sintomer, 2005]. So brechen die Quartierfonds zwar mit der Idee des klassischen Republikanismus, da Bürger Entscheidungen über öffentliche Haushaltsmittel selbst treffen, verlassen aber nicht wirklich das Paradigma der Bürgernähe. Welche Auswirkungen hat die Integration eines derartigen Fonds auf den Bürgerhaushalt? Um auf diese Frage zu antworten, kann man den Fall der Stadt Morsang-sur-Orge als paradigmatisch betrachten. Diese kleine Kommune von weniger als 20.000 Einwohnern, im Süden von Paris gelegen und ebenfalls in kommunistischer Tradition stehend, war mit Saint-Denis die erste französische Stadt, die einen Bürgerhaushalt aufstellte. Sie baute ihn von Anfang an auf
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Grundlage der bereits existierenden Quartierfonds auf und stattete diese mit nicht unbeachtlichen Summen aus: insgesamt 480.000 Euro, das heißt 24 Euro pro Einwohner und 20% des Investitionsbudgets der Stadt. Allerdings unterscheidet sich der Bürgerhaushalt von Morsang trotz dieses Aufwands eindeutig von den Beispielen in Spanien und Italien. Verwaltungsmitarbeiter und Politiker haben eine dominante Position in den Diskussionen (Sprechzeit, Leitung der Debatten), die Regeln des Verfahrens sind nicht klar dargelegt und es fehlt jedwede Logik einer distributiven Gerechtigkeit zwischen den Stadtvierteln. Die in Morsang zu beobachtende Dynamik ähnelt daher letzten Endes weniger dem Modell von Porto Alegre als vielmehr dem der bürgernahen Demokratie. Dieses wiederum ist sowohl charakteristisch für die klassischen Quartierfonds, als auch für die Bürgerhaushalte von Saint-Denis und Bobigny. Es sieht nicht so aus, als ob sich die knappe Hälfte der französischen Bürgerhaushalte, die sich auch auf Quartierfonds stützt, in dieser Hinsicht von der Situation in Morsang-sur-Orge unterscheiden würde. Allerdings hat es vielleicht mit den Entwicklungen in der Region PoitouCharentes eine Wende in der Geschichte der französischen Bürgerhaushalte gegeben. Der im Jahr 2004 initiierte ‚Bürgerhaushalt der Gymnasien‘ stieß nicht nur auf große mediale Aufmerksamkeit, da die Initiatorin des Projekts und Präsidentin der Region Poitou-Charentes, Ségolène Royal, als Kandidatin der Sozialistischen Partei bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen auch eine zentrale nationale Rolle gespielt hat. Das Projekt ist zudem interessant, da es das erste Beispiel eines Bürgerhaushalts auf regionaler Ebene in Europa darstellt. Schließlich sticht es dadurch hervor, dass die Teilnehmer über eine direkte Entscheidungskompetenz verfügen und pro Jahr über beachtliche Summen entscheiden (10 Millionen Euro). Mit 1.600.000 Einwohnern ist Poitou-Charentes eine der dünn besiedeltsten und der ländlichsten Regionen Frankreichs. Traditioneller Weise rechts orientiert, kippt sie bei den Wahlen 2004 nach links. Das Team der sozialdemokratischen Linken hatte die ‚partizipative Demokratie‘ zum Hauptthema der Wahlkampagne erklärt, allerdings blieb relativ vage, was sich dahinter konkret verbirgt. Dies verhindert jedoch nicht die forcierte Umsetzung eines originellen Modells, das sich nach einigen Monaten als eines der aussichtsreichsten in ganz Frankreich erweist. Mehrere Faktoren tragen dazu bei. Ségolène Royal versteht, dass die ‚partizipative Demokratie‘ ein gewinnträchtiges Thema in einem nationalen Kontext der Legitimationskrise des politischen Systems ist – noch dazu passt das Projekt zu ihrem Profil, das auf bewusster Distanz zum politischen Apparat der Sozialistischen Partei beruht. Kurz nach dem Sieg der Regionalwahlen im Juni 2004, durch die sie an die Spitze der Region Poitou-Charentes kommt, stürzt sich Royal in die Praxis. Dafür müssen ein Teil der linken Abgeordneten, die widerstrebend, skeptisch oder einfach wenig informiert sind,
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von der Berechtigung des partizipativen Vorhabens überzeugt werden. Beraten von Sophie Bouchet-Peterson und einigen Intellektuellen entwickelt Ségolène Royal eine Reihe konsultativer Verfahren im Rahmen der regionalen Zuständigkeitsbereiche und ruft den ‚Bürgerhaushalt der Gymnasien‘93 ins Leben. Diese Entscheidung basiert auf Überlegungen zur Sichtbarkeit des Verfahrens (das einen deutlichen Unterschied zur vorherigen Praxis markiert) und seiner Umsetzbarkeit (Gymnasien betreffen nur einen Verwaltungsbereich). Für die Diskussion im Rahmen des Bürgerhaushalts stehen insgesamt 10 Millionen Euro zur Verfügung, bei einem Gesamtvolumen von 110 Millionen Euro, die in der Region für Gymnasien ausgegeben werden (und einem regionalen Haushalt von 494 Millionen Euro). Diese Summe dient der Realisierung kleinerer Investitionen und Projekte (bis zu 150.000 Euro), beinhaltet aber keine großen Vorhaben, wie den Bau oder die komplette Sanierung eines Gebäudes. Die Region verpflichtet sich, die Entscheidungen der Teilnehmer zu respektieren, sobald angenommene Projekte in ihren rechtlichen Zuständigkeitsbereich fallen. Es ist diese Bereitschaft, die das Verfahren von den meisten anderen Beispielen eines Bürgerhaushalts in Europa unterscheidet – mit Ausnahme derer, die dem Idealtyp ‚Porto Alegre in Europa‘ nahe stehen. Die Prozedur basiert auf zwei Versammlungen, die in jedem der 93 Gymnasien organisiert werden und allen betroffenen Akteuren offen stehen: Schülern, Lehrern, Personal (wie Küchen- und Reinigungskräfte, Hausmeister), Verwaltungsangestellten, den Eltern der Schüler und dem Schuldirektor. Die Sitzungen, auf denen stets auch ein Vertreter der Regionalverwaltung und des Regionalrates sind, werden von externen Diskussionsleitern animiert. Der Bürgerhaushalt beruht in jeder Schule auf zwei Versammlungen von ca. zwei Stunden. Zu Beginn des ersten Treffens (November/Dezember) wird zunächst die Funktionsweise vorgestellt. In einem zweiten Schritt werden Arbeitsgruppen gebildet, um Projekte zur Verbesserung des Schulalltags zu diskutieren (der Vertreter der Region sowie der Schulleiter nehmen hieran nicht teil, um die Diskussion nicht zu beeinflussen). Schließlich stellen Vertreter jeder Gruppe die jeweiligen Ergebnisse im allgemeinen Plenum vor. In den darauf
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Im Wahlprogramm 2004 wird im Fall eines Sieges die Einführung von drei Beteiligungsverfahren versprochen: einem Bürgerhaushalt, einer Bürgerjury und einem Referendum. Während die erste Bürgerjury 2008 stattfindet, beginnt der ‚Bürgerhaushalt der Gymnasien‘ schon im Jahr 2004; ein Referendum wurde noch nicht organisiert. Gymnasien, die in Frankreich die letzten drei Schuljahre umfassen, stellen den wichtigsten legalen Zuständigkeitsbereich der französischen Regionen dar. Französische Gymnasien sind öffentliche Erziehungsanstalten (établissement public local d’enseignement), von denen es unterschiedliche Ausrichtungen gibt: Gymnasien allgemeiner und/oder technischer Ausrichtung (lycée général ou technique) und berufsorientierte Gymnasien (lycée professionel). Der Bürgerhaushalt bezieht sich auch auf die Oberstufen, in denen Schüler mit Lernschwierigkeiten unterrichtet werden (EREA).
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folgenden Wochen begutachtet die regionale Verwaltung die einzelnen Vorschläge, bewertet, ob sie in den Zuständigkeitsbereich der Region fallen und berechnet, wenn dies nötig ist, die Kosten (falls die Projekte einer weiteren Klärung bedürfen, wird ein Treffen zwischen dem Zuständigen der Region und den Antragstellern organisiert). Auf der zweiten Versammlung (Januar/Februar) werden die geprüften Projekte von einem Mitarbeiter der Regionalverwaltung vorgestellt. Es folgt eine Diskussion über die Notwendigkeit und den Nutzen der verschiedenen Anträge, wonach eine Abstimmung stattfindet (jeder kann zehn Punkte frei unter den Projekten verteilen; diese werden dann nach der Anzahl der erhaltenen Punkte geordnet). Das Regionalparlament hat sich verpflichtet, im Gesamtrahmen der 10 Millionen Euro die vorrangigen Projekte jedes Gymnasiums zu realisieren.94 Die Ergebnisse der Abstimmung, sowie alle weiteren Dokumente (Protokolle, Regelwerk, Adressen etc.) können auf der Internetseite des Bürgerhaushalts eingesehen werden. Am Ende jeder Sitzung werden von den Teilnehmern Evaluierungsbögen ausgefüllt (die überwiegende Mehrheit ist im Großen und Ganzen zufrieden mit dem Projekt) und einmal im Jahr wird das Verfahren extern evaluiert, wobei nur eine von der Region erstellte Zusammenfassung der Ergebnisse veröffentlicht wird. Im Ganzen scheint das Projekt, das eine Entscheidungskompetenz über bedeutende Geldsummen sowie klare Verfahrensregeln beinhaltet, aus dem Schatten der Bürgernähe herauszutreten. Dennoch bleiben mehrere entscheidende Fragen offen. Die erste betrifft die Beteiligung. Im Schuljahr 2007/2008 haben 16.400 Menschen an beiden Runden teilgenommen, was eine Steigerung von rund 20% im Verlauf von zwei Jahren bedeutet. Sieben bis acht Prozent der 120.000 Teilnahmeberechtigten nehmen jeweils an Sitzung eins und zwei teil. Obwohl diese Zahl weit über den Ergebnissen der meisten französischen Erfahrungen liegt und mit den Beteiligungsraten aus Porto Alegre vergleichbar ist, bleibt die Partizipation im Hinblick auf die Vielzahl der Versammlungen (insgesamt 186) und die eingesetzten logistischen wie personellen Mittel eher begrenzt.95 Vor allem zeigen diese Zahlen, dass der partizipative Prozess nicht von einer starken bottom-up-Dynamik getragen wird. Der ‚Bürgerhaushalt der Gymnasien‘ stößt ursprünglich auf Skepsis oder auf Widerstand bei einigen Abgeordneten aus der politischen Mehrheit wie aus der Opposition, beim Rekto-
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Es wird zugesichert, die erste Priorität umzusetzen; in den ersten drei Jahren konnten mit dem Gesamtbudget sogar die ersten drei Projekte jeder Schule finanziert werden, im dritten Jahr mit einem Gesamtvolumen von über 11 Millionen Euro. Zudem ist die Teilnahme je nach Kategorie ungleich: während die Zahl der Schüler um ca. 20% steigt (zum Teil, weil die Teilnahme an den Versammlungen in einigen Schulen obligatorisch erklärt wurde), auch die Partizipation des technischen Personals einen leichten Anstieg verzeichnet (wobei sie immer noch vergleichsweise gering ist), nimmt die der Eltern und Lehrer ab.
II/3.3 Die Erwartungen an einen regionalen Bürgerhaushalt
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rat,96 bei den Gewerkschaften und Schulleitern, sowie bei Lehrern und anderen Angestellten der Gymnasien. Der starke politische Wille Ségolène Royals und ihrer Vertrauten ist der entscheidende Faktor, damit dieses Projekt überhaupt zustande kommen kann. In den einzelnen Schulen hängen die Qualität der Debatten und die Höhe der Beteiligung maßgeblich davon ab, ob der Bürgerhaushalt von den Lehrern und dem Schuldirektor unterstützt wird oder nicht. Die Macht, die den Teilnehmern im partizipativen Vorgehen zukommt, ist noch nicht klar bestimmt. Einerseits haben sie eine beachtliche Autonomie im Verfahren, da sie die Rangfolge der Projekte in einer Wahl festlegen, die von der Region akzeptiert wird – betont werden sollte an dieser Stelle jedoch, dass dieser entscheidende Schritt über das ‚selektive Zuhören‘ hinaus Royal nicht leicht gefallen ist und sie erst allmählich von den beiden Organisatoren des Verfahrens und der Eigendynamik des Prozesses überzeugt wurde. Andererseits wird das Programm fast ausschließlich ‚von oben‘ organisiert, also von der Regionalregierung und von den in ihrem Aufrag arbeitenden Moderatoren. Die Teilnehmer spielen dabei nur eine marginale Rolle. Die Bildung dauerhafter Arbeitsgruppen in den Schulen, die auf dem freiwilligen Engagement im Umkreis der ‚Kulturarbeiter‘97 basiert, würde in dieser Hinsicht einen wichtigen Aspekt zu einer Verbesserung der deliberativen Qualität des partizipativen Prozesses darstellen, da ihre Arbeit zu einer genaueren Definition der Projekte und zu einer besseren Vorbereitung der Versammlungen beitragen könnte. In der Tat versucht die Region seit einem Jahr die ‚Kulturarbeiter‘ stärker in das Verfahren einzubinden und von seiner Wichtigkeit zu überzeugen. Es beginnt zudem eine neue Etappe bei der Definition der Verfahrensregeln. Anstatt allein über die Regeln nachzudenken, hat die Region in den Jahren 2007 und 2008 ein Gremium mit freiwilligen Vertretern aller Gruppen in den Gymnasien einberufen, um die Funktionsweise des Bürgerhaushalts zu evaluieren und Veränderungen der Regeln vorzuschlagen. Die Teilnehmer erhalten Auskunft über die Ergebnisse dieses Treffens, die Entscheidung über das zukünftige Vorgehen liegt aber weiterhin ausschließlich bei der Region. Eine dritte Frage bezieht sich auf die Modernisierung der regionalen Verwaltung. Die intern von den Trägern des Prozesses erklärten Ziele sind glei-
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Das Rektorat ist das staatliche Gremium, das für den Bereich Bildung in der Region zuständig ist. Das Gremium ist politisch gefärbt, da sein Vorsteher, der Rektor, von der nationalen politischen Mehrheit bestimmt wird, in diesem Fall der konservativen Partei UMP. Beim ‚Bürgerhaushalt der Gymnasien‘ versuchte der Rektor dieses Projekt anfänglich dadurch zu behindern, indem er den Schulleitern verbot, die Versammlungen des Bürgerhaushalts während der Schulzeit zu organisieren. Diese Moderatoren (animateurs culturels) wurden von der Region nach dem ersten Jahr des ‚Bürgerhaushalts der Gymnasien‘ in jeder Schule eingestellt, da deutlich wurde, dass ein großes Bedürfnis nach mehr kulturellen Aktivitäten in den Schulen besteht.
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II/3 Bürgernahe Demokratie im „Zeichen der Zeit“
chermaßen politischer (Demokratisierung von Entscheidungsprozessen, staatsbürgerliche Erziehung u.ä.), sozialer (mehr Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Gymnasien) und administrativer Ordnung (Bekämpfung von Klientelismus, mehr Kontakt zwischen Verwaltung und Dienstleistungsnutzern, transparent und effizient arbeitende Verwaltung). Bis jetzt gab es die meisten Auswirkungen des Verfahrens im administrativen Bereich. Wie in anderen französischen Beispielen fördert der Bürgerhaushalt der Gymnasien eine bürgernahe Verwaltung. Sie stützt sich auf das Praxiswissen der Akteure und reduziert daher Probleme, die aufgrund des fehlenden Wissens von Verwaltungsmitarbeitern über die realen Alltagsprobleme- und Bedürfnisse der Benutzer entstehen können. Eine Verwaltungsmitarbeiterin aus der Abteilung ‚Schulisches Leben‘ meint dazu: „[Der Bürgerhaushalt] ist ein Mittel, die Basis zu konsultieren und das ist wichtig. Die Basis ist nicht immer im Recht, aber ihr ist es zu verdanken, dass sich Dinge ändern. Ich denke, zu einem gegebenen Zeitpunkt sieht sie die Probleme klarer.“ Ihre Meinung deckt sich mit der des einen oder anderen Mitarbeiters: „Viele Dinge treten zutage, man entdeckt Probleme. Wenn ich zum Beispiel schnell an den Toiletten [in den Gymnasien] vorbeigehe, erscheint alles in Ordnung […] Die Direktion [kannte] kleinere Probleme, aber […] niemand war [wirklich] auf dem Laufenden. Und dann kommen plötzlich auf dem Bürgerhaushalt der Gymnasien [viele Probleme] zur Sprache, weil die Schüler sich darüber beschweren, dass man das Wasser von den Duschen aus der Etage darüber abbekommt.“ Die letzte Frage betrifft die Ebene der Beteiligung und damit gleichzeitig die sozialen Auswirkungen des Beteiligungsverfahrens. Diese Frage ist entscheidend mit Bezug auf einen partizipativen Prozesses auf regionaler Ebene, als auch hinsichtlich der Realisierung eines Prozesses, der über die ‚bürgernahe‘ Demokratie hinausgehen will. Ursprünglich war eine dritte Versammlungsrunde mit Akteuren mehrerer Schulen vorgesehen, die über die Bedürfnisse ihrer Gymnasien und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit zwischen ihnen diskutieren würden. Das Ziel war, damit den mikro-lokalen Kontext (in diesem Fall einzelne Gymnasien) hinter sich zu lassen, die am stärksten benachteiligten Schulen zu begünstigen und ein Nachdenken über regionale Solidarität anzustoßen. Diese Stufe wurde jedoch aufgrund des Widerstands von Seiten der Schulleiter nicht ausgeführt, da sie darin eine weitere Instanz sahen, die Autonomie der Schulen in Frage zu stellen und ihre eigene Macht zu beschneiden. Aufgrund der bereits bestehenden Schwierigkeiten schien es der regionalen Exekutive daher zunächst am wichtigsten, das gegenwärtige Projekt zu stabilisieren. Wenn diese Entscheidung auch verständlich ist, so ist sie dennoch nicht unproblematisch. Das Fehlen einer inter-schulischen Ebene beeinträchtigt die
II/3.4 Zwischen partizipativer Demokratie und bürgernaher Partizipation
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Entscheidungsmöglichkeiten der Teilnehmer.98 Die Begrenzung auf die ‚mikrolokale‘ Ebene verhindert zudem, dass die Partizipation ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit wird. In der Zwischenzeit ist die Regierung auf dieser partizipativen Ebene eingesprungen und hat selbst den redistributiven Aspekt übernommen. So werden z.B. über die von jedem Gymnasium aufgestellten Projekte hinaus eine Reihe anderer Projekte realisiert, die den sozialen Prioritäten der Region entsprechen. Ein Verantwortlicher meint dazu: „Ich kann jetzt einen Guide Michelin der Schulen schreiben. Und ich kann dir sagen, dass es Schulen gibt, für die Sozialwohnungen als Internat dienen, in denen der Ort für den Schülertreff eher einer Fahrradgarage gleichkommt. Durch den Bürgerhaushalt konnten wir uns ein wahres Bild darüber machen, wie es um das Immobilienerbe der Region steht. […] Wir müssen feststellen, dass bestimmte Schulen vernachlässigt wurden. Der Bürgerhaushalt gibt uns die Legitimation, bestimmten Schulleitern zu sagen, dass in Anbetracht dessen, was in den vergangenen Jahren realisiert wurde und des Zustandes mancher Gebäude diese oder jene Forderung von ihnen keine Priorität hat.“ Der Bürgerhaushalt hat schon jetzt zur Folge, die ‚heimliche Diplomatie‘ zu mindern, von der zuvor die Entscheidungen über Investitionen bestimmt waren. Dennoch sorgt der partizipative Prozess selbst nur indirekt für mehr soziale Gerechtigkeit, es fehlt die inter-schulische Ebene und die Entscheidungen über das Gesamtbudget der Region spielen in den Versammlungen nur eine marginale Rolle.
4.
Zwischen partizipativer Demokratie und bürgernaher Partizipation
In Frankreich wie anderswo unterscheiden sich die Bürgerhaushalte von den Quartiersbeiräten unter anderem dadurch, dass sie die Ebene des Mikrolokalen überschreiten und dadurch potenziell ein Verfahren darstellen, womit der Kirchturmhorizont überwunden werden kann. Laut den Erklärungen ihrer Initiatoren sollten sie im weiteren Sinne zum Träger einer partizipativen Demokratie werden und sich von Formen der ‚bürgernahen Partizipation‘ abheben. In Wirklichkeit gehen aber die meisten der Erfahrungen nur unwesentlich über die bürgernahe Logik hinaus, und zwar in deren doppelter Bedeutung: geographische und politische Nähe. Die mikro-lokale Ebene bleibt bei den meisten Verfahren vorherrschend, hier sind die konkreten Auswirkungen für die teilnehmenden Bürger und die organisierenden Kräfte aus Politik und Verwaltung am spürbarsten. Das
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Zudem ist dies der Grund, weshalb es sich in Poitou Charentes nicht um einen Bürgerhaushalt im engen Sinn handelt, da hierfür das Verfahren über die mikro-lokale Ebene hinausgehen muss.
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II/3 Bürgernahe Demokratie im „Zeichen der Zeit“
‚selektive Zuhören‘, das auf der Institutionalisierung eines regelmäßigen Dialogs zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft, aber auch auf dem Fehlen klarer Verfahrensregeln beruht, ist für diese Form der Beteiligung typisch. Die Mehrheit der Bürgerhaushalte in Frankreich bleibt im Rahmen dieses Verfahrenstyps, dessen Grenzen auf den letzten Seiten offensichtlich geworden sind. Die ‚bürgernahe Partizipation‘ erlaubt gewiss eine nicht zu vernachlässigende Neuorientierung der Verwaltung sowie die Etablierung von Kommunikationskanälen zwischen Politik und Verwaltung auf der einen Seite und der aktiven Bürgerschaft auf der anderen. Letzen Endes stellt sie jedoch lediglich eine Variante zur Figur des aktiven Lokalpolitikers dar, der sich direkt um die Belange der Bevölkerung kümmert. Außerdem durchzieht eine ungelöste Spannung diesen Verfahrenstyp, ebenso wie das dazu passende Modell der Partizipation, das im dritten Teil genauer eingeführt wird (‚bürgernahe Demokratie‘): Einerseits wird betont, dass das Gemeinwohl das Monopol der politischen Mandatsträger ist; andererseits wird die Bedeutung öffentlicher Debatten mit den Bürgern unterstrichen. Und schließlich kann die ‚bürgernahe Demokratie‘ zwar bis zu einem gewissen Grad zu einer Legitimierung der lokalen Politik beitragen, jedoch kann sie keine umfangreiche Mobilisierung der Bevölkerung beinhalten, wie es in Porto Alegre der Fall ist (es ist auch fraglich, ob dies überhaupt das Ziel wäre): es ist eher unwahrscheinlich, dass Bürger an Verfahren teilnehmen, die keine wirklichen Entscheidungsbefugnisse beinhalten und deren konkreten Ergebnisse bescheiden bleiben. Die Zukunft der französischen Bürgerhaushalte bleibt allerdings offen, schon allein deshalb, weil das Thema von der sozialdemokratischen Kandidatin bei den Präsidentschaftswahlen 2007 getragen wurde. Auch gab es in den letzten Jahren gewisse verfahrenstechnische Fortschritte zum Bürgerhaushalt: Der Gedanke einer besseren Organisation der Diskussionen gewinnt an Boden; die Verwendung des Losverfahrens wird sich vermutlich ausbreiten; und die Bedeutung der Übertragung von Entscheidungskompetenzen an die Bürger wird betont, ebenso wie die Etablierung von Kommissionen, die eine Evaluation des jeweiligen Verfahrens durchführen. Andere Regionen haben Bürgerhaushalte eingeführt, wobei die Verfahren nicht unbedingt den hier entwickelten Kriterien entsprechen. Dieser Erfindungsgeist ist umso bemerkenswerter, als er sich auf kein strukturiertes Netzwerk stützen kann, wie dies in etwa in Deutschland oder Großbritannien der Fall ist. Während sich der ‚Bürgerhaushalt der Gymnasien‘ zwischen den Modellen partizipative und bürgernahe Demokratie einordnen lässt (siehe Teil drei), wird letztere exemplarisch von den Quartiersbeiräten verkörpert, die sich nach dem Gesetz von 2002 (‚bürgernahe Demokratie‘) in Frankreich so massiv verbreitet haben – auch und gerade in Städten, die weniger als 80.000 Einwohner haben.
II/3.4 Zwischen partizipativer Demokratie und bürgernaher Partizipation
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Wie lässt sich diese Situation erklären? Zum heutigen Zeitpunkt können zumindest drei Hypothesen vorgebracht werden: 1. 2.
3.
die republikanische Ideologie und eine paternalistische Form der öffentlichen Verwaltung sind in Frankreich besonders ausgeprägt; die öffentliche Hand hat bis jetzt nur in sehr geringem Maße einen Prozess der Modernisierung initiiert, und die Ideen des New Public Management werden in den meisten Kommunen nicht umgesetzt; die Legitimität der Parteien ist geringer als in anderen Ländern.
Aus diesem Grund und in Anbetracht der geringen politischen Macht der Kommunen sind die Risiken einer erheblichen Legitimationskrise der (lokalen) politischen Institutionen besonders groß. Die ‚bürgernahe Demokratie‘ scheint in Anbetracht dieser Situation dafür zu sorgen, den größten Problemdruck zu reduzieren, jedoch ohne die Gefahr eines radikalen Wandels zu beinhalten. Sie führt zu einem größeren Kontakt zwischen Politik, Verwaltung und Bürgerschaft und einer stärker kundenorientierten Verwaltung auf lokaler Ebene, ohne jedoch grundsätzlich etwas am System zu ändern. Eine alternative Hypothese wäre, dass wir erst am Beginn einer viel umfassenderen Bewegung sind, die ganz langsam beginnt, die Dinge zu verändern. Könnten die französischen Bürgerhaushalte, die Teil dieser Veränderungsdynamik sind, die Spitze dieser Bewegung darstellen? Bislang ist es schwierig, eine klare Antwort auf diese Frage zu geben.
Kapitel 4
Bürgernahe Demokratie: Sprungbrett oder Falle (Belgien, Portugal, Niederlande)
Die ‚bürgernahe Partizipation‘ ist bei weitem keine Besonderheit Frankreichs. Im Gegenteil: Ungeachtet der unterschiedlichen rechtlichen und politischen Kontexte handelt es sich um die derzeit meist verbreitete Beteiligungsform in Europa. Die verwendeten Begriffe sind diesbezüglich vielfältig: In Großbritannien spricht man mancherorts von neighbourhood democracy, in Deutschland von einer ‚bürgernahen Verwaltung‘ und in den Niederlanden gibt es das Konzept des wijkaanpak (‚Quartiersansatz‘). Die ‚bürgernahe Partizipation‘ stützt sich dabei auf verschiedene Instrumente, wie z.B. auf Quartiersmanagement, Quartiersbeiräte und Quartiersfonds. Sehr häufig stehen auch Programme der sozialen Stadtentwicklungspolitik am Beginn derartiger Verfahren. Die Beteiligung der Bürger an der sozialen Erneuerung des Stadtviertels befindet sich oft im Mittelpunkt dieser Stadtentwicklungsprogramme, und so haben sich in vielen Ländern Partizipationsverfahren zuerst in den so genannten Problembezirken entwickelt. Fast überall ist die mikro-lokale Ebene des Stadtteils das bevorzugte Terrain für solche partizipativen Experimente. Beteiligung wird hierbei oft als Synonym verstanden für eine intensivere Kommunikation und mehr Nähe zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern.99 Warum hat die bürgernahe Partizipation einen solchen Erfolg? In welcher Weise prägt sie die Praxis der Bürgerhaushalte und, andersherum gefragt, inwieweit beeinflussen die Bürgerhaushalte die bürgernahe Partizipation? Ist das im letzten Kapitel beschriebene französische Beispiel des Bürgerhaushalts der Normalfall oder eher die Ausnahme in Europa? Inwieweit bedeutet eine Partizipation im Sinne der ‚bürgernahen Demokratie‘ ein ‚Sprungbrett‘ oder eine ‚Falle‘ für den Beteiligungsprozess [Blondiaux, 2001]? Da es weit über den Rahmen dieses Buches hinausgehen würde, das ganze Panorama der bürgernahen Partizipation aufzuzeigen, begnügen wir uns bei der Beantwortung der aufgeworfenen Fragen mit der Untersuchung von drei Beispielen: die Städte Mons in Belgien, Utrecht in den Niederlanden und Palmela in Portugal.100
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Die beiden Bedeutungen der Nähe (proximité), geographische und kommunikative Nähe, sind nicht überall so eindeutig vorhanden wie in Frankreich (siehe Kap. 3) 100 Beim ersten Beispiel definieren die Organisatoren ihr Verfahren als Bürgerhaushalt, es entspricht jedoch nicht unseren Kriterien; im zweiten Beispiel sprechen die lokalen Akteure nicht
II/4.1 Mons (Belgien): Stadterneuerungspolitik und Bürgerbeteiligung
1.
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Mons (Belgien): Stadterneuerungspolitik und Bürgerbeteiligung
Das politische System in Belgien basiert traditionell auf föderalen Elementen und der Existenz von drei gesellschaftlichen ‚Säulen‘, einer christlichen, einer liberalen und einer sozialistischen Säule [Delperée, 1999]. Als dieses System Ende der 1990er Jahre Krisenerscheinungen zeigt, wendet man sich neuen, außerhalb der klassischen Säulen stehenden Akteuren zu, wie z.B. Gewerkschaften, Verbänden sowie verschiedenen Vereinen. Das Bemühen um eine ‚Wiederbelebung der Demokratie‘ durch die Partizipation der Bürger findet sich sowohl auf föderaler, wie auf regionaler Ebene und auch in verschiedenen Städten (insbesondere Walloniens) wieder. Diese Entwicklung, die durch die hohe Vereinsdichte gestützt wird,101 ist eine Antwort auf die Vertrauenskrise der politischen Institutionen [Elchardus, 2004] wie auch Ergebnis parteipolitischer Konkurrenzkämpfe: Der Durchbruch der ökologischen Partei (1999), die maßgeblich auf Themen wie Bürgerbeteiligung und eine neue Form der Politikgestaltung setzt, provoziert als Gegenreaktion eine thematische Entwicklung bei den Sozialdemokraten (hier dem Parti Socialiste). Unter ihrem neuen Präsidenten Elio Di Rupo setzen nun auch sie verstärkt auf Themen wie Partizipation und verbreiten den Slogan „Eine andere Welt ist möglich.“102 Die Stadt Mons (91.000 Einwohner), im Westen der Region Wallonien gelegen, ist die Hauptstadt der Provinz Hennegau. Außerhalb der historischen Stadtmauern von Mons befinden sich die beiden ehemals eigenständigen Arbeiterstädte Flénu und Jemappes. Mons ist ein Aushängeschild der Sozialdemokratischen Partei: Ihr Bürgermeister, Elio di Rupo, ist zugleich Chef des frankophonen Flügels der sozialdemokratischen Partei und zurzeit Ministerpräsident der Region Wallonien. Die Stadt Mons ist so etwas wie seine Visitenkarte: Die sozialdemokratische Partei hat bei den Kommunalwahlen 2000 61,4% der Stimmen erhalten und führt hier eine Koalition mit den Liberalen an (eine Konstellation, die in Belgien keine Ausnahme ist). 2002 hat die Verwaltung entschieden, ihre Anstrengungen in den ausgelagerten Stadtteilen Jemappes und Flénu (15.000 Einwohner), die sich auch nach 40 Jahren noch nicht vom Zusammenbruch der Stahlindustrie erholt haben, zu verstärken. Auf Grundlage nationaler
von einem Bürgerhaushalt, was auch den Realitäten des Verfahrens entspricht. In Pamela wird das Verfahren als Bürgerhaushalt bezeichnet und entspricht auch unsere Kriterien. 101 Gemäß einer von der Johns Hopkins University herausgegebenen, vergleichenden Untersuchung [Mertens/Pascolet, 1999] ist Belgien eines der Länder in Europa mit der höchsten Vereinsdichte. 102 Di Rupos auf Erneuerung gerichteter Ansatz gerät manchmal heftig in Konflikt mit dem stärker arbeitnehmerorientierten Flügel der Partei, dessen große, gesellschaftliche Verwurzelung an die Sozialdemokratie der mittel- und nordeuropäischen Staaten (z.B. Deutschland und Österreich) erinnert.
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II/4 Bürgernahe Demokratie: Sprungbrett oder Falle
Entwicklungsgelder wird das Projekt Bürgerhaushalt initiiert und vom Stadtrat einstimmig beschlossen.
Zwischen der Vision von Porto Alegre und einer Stadtentwicklungspolitik Der Bürgermeister von Mons, Elio di Rupo, hat wiederholt Interesse am Beispiel Porto Alegre gezeigt. Nach einem Besuch dieser Stadt schreibt er im Jahr 2001: „Auch bei uns gibt es trotz unterschiedlicher Entwicklungsbedingungen und einem anderen Lebensniveau […] Problemviertel. Das Vertrauen in die Institutionen ist sehr gering und immer deutlicher artikuliert sich der Wunsch nach einer ‚Humanisierung der Globalisierung‘ und einer ‚Teilhabe am Fortschritt‘. Die lokale Ebene, auf der sich politische Maßnahmen besonders gut koordinieren lassen, ist ein geeignetes Experimentierfeld, auf dem neue Antworten auf diese Herausforderungen gefunden werden können […]. Ich bin davon überzeugt, dass wir einen Teil des Vertrauens unserer Bürger wiedergewinnen können, wenn wir die Erfahrungen aus Porto Alegre an die Situation hier im Land anpassen. Einige Kommunen Belgiens könnten sich davon inspirieren lassen, insbesondere in Bezug auf ihren Investitionshaushalt.“103 Parallel dazu bewilligt die Bundesregierung der Stadt Mons ab 2001 Subventionen im Rahmen eines Entwicklungsprogramms für Großstädte, das unter Einbeziehung der Bürger auf eine Revitalisierung benachteiligter Quartiere zielt (die Fördermittel betragen 2004 2,2 Mio. Euro). Die gesamten Zuschüsse sind für die Stadtteile Jemappes und Flénu vorgesehen, in denen nun ein Bürgerhaushalt begonnen werden soll. Die Fonds aus dem sozialen Entwicklungsprogramm werden allerdings nicht direkt im Rahmen des Bürgerhaushalts verwaltet und es gibt keinen Einfluss auf die Gesamtheit der Maßnahmen. Die Überlagerung von Bürgerhaushalt und urbanem Entwicklungsprogramm sorgt für Verwirrung, selbst bei den Stadträten und den am besten informierten Bürgern. So werden manche Maßnahmen als Projekte des Bürgerhaushalts dargestellt, obwohl sie nicht von den Bürgern formuliert wurden. Die Verbindung von Großstadtprogramm und Bürgerhaushalt ist aufgrund der mangelnden Koordination nicht gelungen.
103 Di Rupo, E.: „Carte Blanche. Retour de Porto Alegre“, Le Soir, 17. August 2001.
II/4.1 Mons (Belgien): Stadterneuerungspolitik und Bürgerbeteiligung
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Hinter den vielfachen Zielen des top-down eingeführten Verfahrens verbergen sich recht unklare Erwartungen [Damay/Schaut, 2007]. Stadtrat und kommunale Verwaltung sollen näher an die Bürger heranrücken und wie in Frankreich bedeutet der offizielle Slogan ‚partizipative Demokratie‘ eigentlich ‚bürgernahe Demokratie ‘, da die letzte Entscheidung beim Stadtrat liegt. Zudem wird eine Modernisierung der Verwaltung angestrebt, z.B. über die Einrichtung von Bürgerbüros in den Stadtteilen. Beide Prozesse, die Bürgerbeteiligung und die Modernisierung, werden jedoch weder im Diskurs noch in der täglichen Praxis miteinander verbunden. Schließlich wird die Bürgerbeteiligung als Teil einer Strategie der ‚affirmativen Aktion‘ gesehen, deren Schwerpunkt auf den benachteiligten Vierteln liegt und dort zu einer Verbesserung der sozialen, physischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen führen soll. Ursprünglich sollte der Bürgerhaushalt in Mons wie in Porto Alegre auf gebietsbezogenen und thematischen Versammlungen basieren. Im Jahr 2003 wird unter der Beteiligung der Quartiersbeiräte eine Reihe von Versammlungen in den sechs Stadtteilen, den sogenannten Zonen, von Jemappes-Flénu durchgeführt. Während sich an diesen Versammlungen ca. 3% der Bevölkerung beteiligen, nehmen an anderen Veranstaltungen, bei denen auch der Bürgermeister anwesend ist, wesentlich mehr Menschen teil. Einige Teilnehmer sind Vereinsmitglieder, die jedoch nicht offiziell eingeladen wurden. Dies führt zu Konflikten, da die Vereine die traditionellen Träger der Partizipationskultur sind. Auf den Quartiersversammlungen werden die Delegierten für den Bezirksrat des Bürgerhaushalts gewählt, der insbesondere an der Verbreitung eines Fragebogens arbeitet, mit dem die Wünsche der Bewohner ermittelt werden sollen.104 Darüber hinaus gibt es auch themenbezogene Versammlungen, bei denen es um Bereiche wie Jugend, Senioren, Wohnumfeld und Kultur geht. Ausgehend von diesen Initiativen stellen die Delegierten einen Forderungskatalog auf, den sie im Oktober 2003 dem Bürgermeister und seinen Beigeordneten präsentieren. Trotz dieser ambitionierten Bemühungen am Anfang gerät der Prozess ins Stocken: Die Bürger erhalten keine Rückmeldungen über die Annahme bzw. Ablehnung ihrer Vorschläge. Für viele Projekte werden keine Machbarkeitsstudien erstellt und wenn einige dennoch realisiert werden, dann liegt das daran, dass sie schon in einem anderen Rahmen vorgesehen waren. Während die Ausgangsidee darin bestand, den Bürgern das Recht auf Einsicht in die Ausgaben,
104 Da eine Ausdehnung auf die Stadt als Ganzes nicht vorgesehen war, blieb der Bürgerhaushalt auf den Bezirk Jémappes-Flénu beschränkt. In Mons ist das eine Verwaltungsebene ohne politische Spitze: Es gibt weder eine Bürgermeisterwahl noch einen repräsentativen Rat des Bezirks, wie wir ihn in den Pariser Arrondissements, den römischen Gemeinderäten oder den Berliner Bezirken finden. Das System in Mons entspricht deshalb nicht den von uns im ersten Teil vorgeschlagenen Kriterien des Bürgerhaushalts, da hier eine Verwaltungsebene mit eigenen Kompetenzen und einer politischen Vertretung notwendig ist.
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die Einnahmen und eine ganze Reihe von Planungsprozessen (von Dreijahresplänen bis zu Plänen für die touristische Infrastruktur) zu gewähren, reduziert man ihre Mitsprache auf Investitionen. Dies geschieht allerdings ohne ihnen die dafür zur Verfügung stehenden Summen zu nennen, was man angeblich deshalb nicht tut, um gute Ideen nicht durch eine Budgetbegrenzung auszuschließen. In der Folge werden viele der von den Bürgern eingereichten Beschwerden nicht berücksichtigt, weil sie nicht die kommunalen Investitionen betreffen. Von den ursprünglich im Jahr 2003 vorgesehenen 520.000 Euro für den Bürgerhaushalt werden im Jahr 2004 nur 132.000 Euro ausgegeben,105 von denen auch Projekte finanziert werden, die nicht von den Bürgern vorgeschlagen wurden. Als Folge dieser Situation reduzieren sich im Jahr 2004 die Teilnehmerzahlen erheblich und auch der Stadtrat und die Verwaltung ziehen sich aus dem Projekt zurück. In manchen Vierteln kommt kein einziger Bürger mehr zu den Versammlungen. Ein Jahr später (2005) versteht die Regierung es jedoch, den Prozess wieder in Gang zu setzen. Diesmal weniger ambitioniert, dafür aber mit konkreteren Handlungsvorgaben bezüglich der Vorschlagsrealisierung. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass im Jahr 2006 Kommunalwahlen ins Haus stehen und man gute Resultate erreichen will. Die Stadträte nehmen sich damit wieder einem Prozess an, den sie in weiten Teilen der Verwaltung überlassen hatten. Und es scheint, dass die 2006 gewonnene Dynamik zu konkreten Ergebnissen führt. Die Bürger formulieren Projekte, deren Machbarkeit von einem externen Ingenieurbüro geprüft wird. Die Stadtverwaltung ihrerseits scheint die Projekte umsetzen zu wollen. Dennoch gibt es nach wie vor eine Reihe von Problemen. Nach den Stadtteilversammlungen z.B. werden die Vorschläge und Beschwerden der Bürger umformuliert, wenn sie nicht mit den Erwartungen der Verwaltung übereinstimmen – worüber jedoch die Bürger nicht informiert werden. Die Vorschläge beziehen sich dabei meist auf konkrete Probleme bei Straßen, Gehwegen, Verkehr, Beleuchtung, unbefugtem Parken, Sicherheit, Sauberkeit etc. Obwohl die Beschwerden an die Verwaltung weiter geleitet werden, können sie oftmals nicht bearbeitet werden, weil sie sich auf Maßnahmen beziehen, die nicht Teil des Bürgerhaushalts sind. Darüber hinaus fängt man bei den Debatten oft wieder von vorne an, da die Bürgerversammlungen sich nicht wirklich aufeinander beziehen. Des Weiteren wird der Prozess stark von der Verwaltung kontrolliert. Es gibt kaum Diskussionen zwischen den Bürgern; diese haben auch keinen Einfluss auf die Methode des Verfahrens. Bei den Delegiertenversammlungen ist die Situation etwas besser. Es gibt Diskussionen darüber, was für Leistungen eine Stadt ihren Einwohnern liefern müsste, sowie z.B. über den Nutzen einzelner Projekte. Jedoch wird die Frage
105 Das sind ungefähr 1,5% des Investitionsbudgets der Stadt.
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der Prioritätensetzung und der Förderung benachteiligter Quartiere nicht gestellt.106 Die Delegierten formulieren zwar Vorschläge und Einwände und arbeiten an einer Charta des Bürgerhaushalts mit, sie entscheiden aber nicht über die Themen der Versammlungen und haben, anders als z.B. die Delegierten bei den spanischen und italienischen Bürgerhaushalten, keinen richtigen Einfluss auf den Gesamtprozess. Auch wenn einzelne Projekte umgesetzt werden, führt das partizipative Verfahren nicht zu einer Umverteilung von Mitteln zugunsten der ärmsten Bevölkerungsschichten. Derartige Ergebnisse sind, wenn überhaupt, vom ‚Großstadtprogramm‘ zu erwarten, das jedoch nicht direkt mit dem Bürgerhaushalt verbunden ist oder andere Verfahren der Beteiligung beinhaltet. Die Thematik des Gender Mainstreaming fehlt in dem Verfahren völlig, das zudem aufgrund seiner geringen Sichtbarkeit wenig Einfluss auf den Alltag der Mitarbeiter der Verwaltung hat. Das Fehlen konkreter Ergebnisse sowie die mangelnde Einbeziehung der Verwaltung lähmen das Handeln derjenigen, die mit der Umsetzung des Bürgerhaushalts beauftragt sind. Aus diesen Gründen sind auch keine politischen Wirkungen zu erwarten. Es überwiegt das Gefühl der Frustration bei der Bevölkerung (und den zuständigen Verwaltungsmitarbeitern), da die Arbeit, die getan wurde, nur wenig Beachtung findet. Manchmal begründet der Stadtrat nicht einmal seine Entscheidung über die Annahme bzw. Ablehnung der Vorschläge.107 Die Grenzen des Bürgerhaushalts in Mons sind offensichtlich, auch wenn die Verwaltung versucht, die Kommunikation mit den Bürgern wie auch das Verfahren zu verbessern. Es ist zwar zutreffend, dass der Prozess noch jung ist, und dass zumindest der Versuch unternommen wurde, etwas zu bewegen, dennoch bleiben viele Fragen offen. Wird das Projekt überhaupt fortgeführt? Mit welchen Mitteln? Für die Stadtverwaltung bedeutet es viel Arbeit bei geringen Ergebnissen. Ist angesichts dessen eine Ausweitung des Verfahrens auf die ganze Stadt realistisch? Müssten nicht zunächst die Spielregeln geklärt werden, um das Projekt wirklich voranbringen zu können? Wenn das Beispiel Porto Alegre gezeigt hat, dass prinzipiell ein anderes Verhältnis zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern möglich ist, hat die Situation in Mons nicht viel mit dem brasilianischen Vorbild zu tun. Mehr noch als in Saint-Denis oder Bobigny entspricht das Verfahren dem Modell der ‚bürgernahen Demokratie‘. Die Stadtverwaltung versucht das bestehende Konzept
106 Jedoch werden die Projekte von manchen Delegierten in einer korporatistischen Art unterstützt ohne jegliche Rücksicht auf das Gemeinwohl. 107 Neue Kommunalwahlen fanden am 8. Oktober 2007 statt. Die Sozialisten haben einen deutlichen Rückgang erlebt mit 51,55% der Stimmen. Mit sensationellen 8,37% der Stimmen ist die Front National in den kommunalen Rat gekommen. Die Koalition zwischen Sozialisten und Liberalen besteht weiterhin.
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zu überarbeiten, erinnert jedoch gleichzeitig daran, dass Porto Alegre zehn Jahre gebraucht habe, um ein konsolidiertes Verfahren zu entwickeln. Der Vergleich mit der brasilianischen Erfahrung stellt für die Initiatoren des Projekts letzten Endes eine schwer zu tragende Last dar und hat vielleicht sogar die Einführung eines Bürgerhaushalts im Rahmen des lokalen Kontexts und der bestehenden Möglichkeiten der Partizipation erschwert.
2.
Utrecht (Niederlande): Quartiersfonds und Quartiersmanagement
Das partizipative Verfahren der Stadt Utrecht ist interessanter und weitreichender als in Mons, wenngleich das Prinzip der Bürgernähe klar akzeptiert ist. Utrecht ist mit 270.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt der Niederlande, verfügt über eine dynamische Wirtschaft und verzeichnet ein starkes demographisches Wachstum. Gleichzeitig ist sie jedoch von ethnischen und sozialen Segregationsprozessen betroffen, die in manchen Stadtteilen zu einer Konzentration von Arbeitslosen und von Ausländern (31% der Bevölkerung) führen. Das politische System stützt sich wie in Belgien traditionellerweise auf mehrere ‚Säulen‘, die sich seit den sechziger Jahren zunehmend auflösen [Meggeneder, 1981]. Seit dieser Zeit verlieren die konfessionellen Unterschiede an Kontur, neue Parteien entstehen (wie die Liberalen der D66 und die Grüne Linke) und das Auftreten der extremen Rechten des Populisten Pim Fortuyn stellt das politische System vor neue Herausforderungen. Dieser kritisiert in aggressiver Weise das multikulturelle Modell der Niederlande und die etablierten Parteien, denen er vorwirft, sich von den Bürgern losgelöst zu haben [Lepszy, 2003].108 Seine Ermordung im Jahre 2002 sowie die Ablehnung der europäischen Verfassung im Jahre 2005 (trotz Unterstützung des Vertrages durch den überwiegenden Teil der politischen Klasse) bilden zwei besonders stark ausgeprägte Momente im Rahmen einer allgemeinen Legitimitätskrise des politischen Systems – in einem Land, das auf eine lange Tradition des zivilgesellschaftlichen Engagements zurückblicken kann. Die großen Städte (Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht) weisen eine sehr niedrige Wahlbeteiligung auf109 und sind besonders betroffen von sozialen Problemen, die sich am stärksten in den benachteiligten Vierteln manifestieren. Im Jahr 1995 rufen sie um Hilfe und bringen die nationale Regierung dazu, ein spezielles Programm zur
108 Das ist ein Schwerpunkt-Thema für die populistische Partei Leefbar Nederland (Fortuyn's ursprüngliche Partei). 109 Bei den Kommunalwahlen von 2001-2002 betrug die Wahlbeteiligung in Utrecht und in Den Haag 44%, in Amsterdam 47,8% und in Rotterdam 55% (gegenüber einem nationalen Durchschnitt von 58%).
II/4.2 Utrecht (Niederlande): Quartiersfonds und -management
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sozialen Stadterneuerung ins Leben zu rufen. Das Ziel besteht darin, die negativen Tendenzen in den ‚Problembezirken‘ umzukehren und individuelles sowie kollektives Handeln zu ermöglichen [Davelaar, et al, 2003]. In Folge entsteht ein Maßnahmenpaket, das aus bürgernaher Verwaltung, sozialer Stadtentwicklungspolitik und Bürgerpartizipation besteht, wobei die Verbindung zwischen den drei Elementen durch ein Quartiersmanagement geschaffen wird.110 Utrecht profitiert von den zahlreichen Projekten zur Stadterneuerung und Verwaltungsreform, die von der Zentralregierung eingeführt werden [Swinnen, 2005; Ketelaar, 2005], und steht im nationalen Vergleich unter den Vorreitern dieser Entwicklung. Seit 1984 hat die Gemeinde nach und nach ihre Verwaltung dekonzentriert und zehn Bezirke (ohne politische Autonomie) mit jeweils einem Manager an der Spitze geschaffen. Seit Ende der neunziger Jahre wird die Partizipation ein wichtiges Element im Rahmen dieser bürgernahen Verwaltung. Obwohl die Bürgerbeteiligung einen ziemlich breiten Konsens erfährt, macht die populistische Partei Leefbar Utrecht daraus während der Kommunalwahlen von 2001 ein zentrales Thema, was wahrscheinlich zu ihrem Wahlerfolg beigetragen hat (sie wird mit 28% der Stimmen auf einen Schlag stärkste Partei in der Stadt). Sie tritt in die Koalition ein, die sich nach den Wahlen unter der Führung eines sozialdemokratischen Bürgermeisters bildet, und trägt damit wesentlich zur weiteren Entwicklung der Beteiligungsverfahren bei. Nach den Wahlen werden in jedem Bezirk Bürgerbeiräte eingerichtet, die sich einmal alle ein bis zwei Monate versammeln. Sie bestehen aus 9 bis 25 Personen, die vom Bezirksmanager aus einer Gruppe freiwilliger Einwohner ausgewählt werden. Der Manager verfügt außerdem über einen ziemlich bedeutenden Bezirksfond, der es der Verwaltung ermöglicht, den Beschwerden der Einwohner nachzugehen und die von den Einwohnern vorgeschlagenen Projekte schnell und unbürokratisch zu verwirklichen. Auch andere Fonds sind verfügbar, zum Beispiel im Rahmen des Initiativrechts, mittels dessen eine Gruppe von Bürgern (es müssen mindestens 25 sein) Mittel für ein selbstverwaltetes Projekt beantragen kann. Anträge werden mit bis zu 30.000 Euro finanziert, im Jahr 2004 standen dafür insgesamt knapp 500.000 Euro zur Verfügung.
110 Die Reform der Kommunalverwaltung wird durch die große Autonomie der niederländischen Kommunen vereinfacht. Sie verfügen, ähnlich wie in Skandinavien, über großzügige Ressourcen (das Budget pro Einwohner liegt in Utrecht bei ungefähr 5.120 Euro (2005) und ist ca. zweieinhalb Mal so hoch wie in Hilden oder Rheinstetten und zweimal höher als in Mons) und über einen viel größeren Handlungsspielraum bezüglich der Vergabe der kommunalen Mittel als in anderen europäischen Ländern.
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II/4 Bürgernahe Demokratie: Sprungbrett oder Falle
Ein partizipativer Zyklus Seitdem das Beteiligungsverfahren eingeführt wurde, hat sich unter dem aktiven Einwirken der Verwaltung eine rege Beteiligung in Utrecht entwickelt. Wäre das Verfahren nicht auf die Ebene der Viertel und Bezirke (die in Utrecht keine Verwaltungseinheiten mit einem eigenständigen Rat und einer eigenständigen Verwaltung darstellen) begrenzt, würde der Prozess fast an den Bürgerhaushalt von Porto Alegre erinnern. Hier geht es jedoch nicht um die Übertragung von Entscheidungsgewalt, sondern eher um einen Prozess der regelmäßigen Information der Bürger und Beratung mit ihnen als Teil einer bürgernahen Verwaltung. Der Prozess verbindet bürgerschaftliche Partizipation, Verwaltungsexpertise und Entscheidungsfindung durch die politischen Mandatsträger. Dabei spielen die Bezirksmanager eine zentrale Rolle, denn sie bilden die Schnittstelle zwischen den verschiedenen Akteuren. Von Januar bis März erarbeitet der partizipative Bezirksbeirat ein Jahresprogramm und legt auch die Kriterien fest, anhand derer die 260.000 Euro zu verteilen sind. Manchmal werden auch schon konkrete Projekte vorgeschlagen. In dieser Hinsicht wird unter den Einwohnern eine Befragung (mittels Versammlungen, Fragebogen, Interviews oder Gruppengesprächen) durchgeführt, für die 15.000 Euro zur Verfügung stehen (das Verwaltungsbudget beträgt insgesamt 22.500 Euro). Auf dieser Grundlage erarbeitet im April der Bezirksmanager in Zusammenarbeit mit den betroffenen Fachbereichen der Verwaltung einen Aktionsplan, der sowohl die vom partizipativen Bezirksfonds finanzierten Projekte enthält, als auch kurz- und mittelfristige Entwicklungsziele des Bezirks (die langfristigen Ziele werden alle vier Jahre in einer Bezirksvision definiert). Der in dieser Weise ausgearbeitete Plan bildet den wichtigsten Teil des Verfahrens. Er wird mit dem Beirat nochmals besprochen (auch die Mitglieder des Stadtrates können sich über Kommissionen in den Bezirken in diese Diskussion einbringen), bevor er schließlich der Verwaltungsspitze vorgestellt wird. Im Mai bzw. Juni entscheidet die Verwaltung über diesen Plan und gibt dabei auch eine Begründung darüber, welche Projekte ausgesucht werden und welche nicht. Anschließend übergibt sie den Plan dem Stadtrat, der ihn bestätigt und über den kommunalen Haushalt abstimmt (Oktober/November). Im Dezember legt der für den Bezirk verantwortliche Stadtrat den Mitgliedern des Bezirksbeirats Rechenschaft über die Entscheidung der von ihm vorgeschlagenen Projekte ab. Die Verwaltung wird sodann beauftragt, diese Entscheidungen umzusetzen. Dies geschieht unter der Verantwortlichkeit der Bezirksmanager, die für die lokale Koordinierung der Verwaltung zuständig sind. Regelmäßig durchgeführte, externe Evaluierungsarbeiten geben dem
II/4.2 Utrecht (Niederlande): Quartiersfonds und -management
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ganzen Prozess eine gewisse Transparenz.111 Schließlich kann ein neuer Zyklus der Partizipation beginnen.
Wie man sehen kann, bleibt die Stadt Utrecht im Rahmen des bürgernahen Partizipationsmodells und will dies auch nicht ändern. Die Beteiligung ist auf Bezirksebene (und zweitens auf Ebene der Stadtviertel) institutionalisiert und reicht nicht darüber hinaus. Das Verfahren ist also kein Bürgerhaushalt, und kein Verantwortlicher aus Politik und Verwaltung behauptet das Gegenteil.112 Ebenso wenig handelt es sich um einen Prozess, der sich nach dem Beispiel von Porto Alegre die Umkehrung der Prioritäten zugunsten der Benachteiligten zum Ziel setzt, und auch nicht um ein politisiertes Verfahren, das sich als Gegenmodell zur neoliberalen Globalisierung sieht. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Bemühungen zu vernachlässigen wären. Die Stadt Utrecht verfügt im Rahmen der Bürgernähe über eine der interessantesten Prozesse in Europa, deren Untersuchung die Potenziale und Grenzen des Modells verdeutlichen. Ein komplexes Verfahren (wie in Utrecht), das eine ganze Reihe von neuen innovativen Instrumenten beinhaltet, ermöglicht der Verwaltung auf der Ebene der Bezirke viel mehr Durchlässigkeit in Bezug auf die artikulierten Bedürfnisse der Einwohner. Gleichzeitig gibt es diesen die Möglichkeit, kleinere Projekte durchzuführen. Aufgrund der umfassenden Umorganisation der Verwaltung in den Bezirken gibt es hier Ergebnisse, die weit über die aus Mons und der Mehrzahl der französischen Beispiele hinausgehen. Es ist die Verbindung von einem recht wohldotierten Fonds, einem Bezirksbeirat, der mit der Verwaltung einen Jahresplan für den Bezirk aufstellt und die Präsenz eines Bezirksmanagers mit umfassendem Aufgabengebiet, die in besonderem Maße effektiv zu sein scheint. Es ist übrigens bemerkenswert, dass eine Thematik, die insbesondere von einer populistischen Partei vertreten wird (das zeigt auch, dass die Linke kein Monopol darauf hat), so tiefgreifend in die Verwaltungspraxis der Kommune integriert wurde. Diese Entwicklung hat wahrscheinlich zu einer Neulegitimierung der lokalen Politik beigetragen: Bei den Kommunalwahlen von 2006 ist die Wahlbeteiligung um 10% gestiegen, d.h. deutlich mehr als in den drei anderen großen Städten (wo die Steigerung zwischen 3% und 6% beträgt), wobei die Tendenz im nationalen Maßstab leicht
111 Utrecht hat sehr von der Zusammenarbeit mit der Forschungseinrichtung ‚Verwey-Jonker Institut‘ profitiert. 112 Deshalb erscheint es uns irreführend, diesen Terminus zu benutzen, im Gegensatz zu [Ketelaar, 2005].
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II/4 Bürgernahe Demokratie: Sprungbrett oder Falle
negativ ist.113 Dennoch hat das Verfahren auch seine Grenzen. Das Niveau der Partizipation ist recht gering (um die 200 Personen bei den Bezirksräten, ein paar hundert beim ‚Initiativrecht‘). Obwohl die Verwaltung auf Druck der aktiven Bürger dazu gebracht wurde, Rechenschaft über den Umgang mit den Bürgervorschlägen zu leisten, bleibt insgesamt auch das empowerment der Bewohner begrenzt. Die Beschränkung der Beteiligung auf die Stadtteile und Bezirke begrenzt die potenziellen Effekte, insbesondere hinsichtlich der ‚großen‘ Politik: Was sind die 3 Millionen Euro Fondsgelder für Bürgerprojekte verglichen mit einem kommunalen Budget von 1,2 Milliarden Euro (2004)?
3.
Palmela (Portugal): Bürgernähe als Sprungbrett?
Es wäre verfrüht zu schlussfolgern, dass Beteiligungsvorhaben nur dann konkrete Ergebnisse haben, wenn sie sich auf die mikro-lokale Ebene (wie dem Stadtviertel) beziehen. Erstens sind die bis jetzt untersuchten Erfahrungen alle noch sehr jung, so dass sie vielleicht noch nicht ihr ganzes Potenzial gezeigt haben. Zweitens wird mancherorts die mikro-lokale Ebene als „Sprungbrett“ für darüber hinaus gehende Erfahrungen gesehen [Blondiaux, 2001]. Dies ist insbesondere beim Bürgerhaushalt von Palmela in Portugal der Fall. Die Stadt mit 58.000 Einwohnern (steigende Tendenz), die auch Gegenden mit ländlichem Charakter umfasst, ist nicht nur für ihren Wein und ihren Käse bekannt, sondern auch für ihre Automobilindustrie, die für einen gewissen Wohlstand bei den öffentlichen Finanzen sorgt.114 Die Stadt liegt in der Region Setubal, dem ‚roten Gürtel‘ im Süden Lissabons, und wird schon lange von der Kommunistischen Partei Portugals geführt. Sie ist mit mehr als 50% der Stimmen die größte Kraft in der Regierungskoalition, die 15 der 26 Sitze im Stadtrat besitzt.115 Die Stärke der örtlichen kommunistischen Partei kontrastiert mit ihrer Situation auf nationaler Ebene, wo sie viel Macht verloren hat und jetzt in Konkurrenz zu einer aktiven extremen Linken steht. Die KPP hat in jüngster Zeit einen gewissen Öffnungsprozess durchlebt, nachdem sie lange eine der stalinistischsten Parteien Westeuropas gewesen ist. Wie in vielen kommunistischen Städten gibt es auch in Palmela eine starke Stimmenthaltung (12% mehr als im nationalen Durchschnitt). Anders als dort hat die Kommune jedoch unter dem Einfluss einer reformfreudigen Bürgermeis-
113 Außerdem verliert Leefbar Utrecht der nationalen Tendenz folgend an Einfluss, und die Sozialdemokraten gewinnen Stimmen (sie werden wieder die stärkste Partei auf lokaler Ebene). 114 Das Budget pro Einwohner (ca. 780 € in 2005) ist allerdings viel niedriger als das von Utrecht. 115 Die Linke insgesamt erhält mehr als 2/3 der Stimmen.
II/4.3 Palmela (Portugal): Bürgernähe als Sprungbrett?
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terin früher und entschlossener begonnen, Partizipationsverfahren einzurichten. Ebenso wie bei den französischen Städten und Mons gibt es einen direkten Einfluss von Porto Alegre, wohin mehrere Abgeordnete aus Palmela gereist sind. Dieser externe Einfluss knüpft an eine lokale Tradition an, die ihre Wurzeln in den zahlreichen Erfahrungen der Selbstverwaltung und Partizipation während der Revolutionsjahre hat (1974-1975). Der portugiesische Kontext unterscheidet sich stark von dem der BeneluxStaaten – nicht so sehr hinsichtlich des absoluten Wohlstandsniveaus (Portugal verzeichnet seit dem Eintritt in die Europäische Union ein starkes ökonomisches Wachstum), sondern eher bezüglich des politisch-institutionellen Kontexts sowie der im Rahmen von Partizipationsverfahren debattierten Themen. Die portugiesische Demokratie ist viel jünger als die Belgiens und der Niederlande, und aus der ‚Nelkenrevolution‘ vom April 1974 ist nach dem Aufschwung der ersten Jahre nur eine vergleichsweise schwache Zivilgesellschaft hervorgegangen. Der Sozialstaat ist im europäischen Vergleich schwach entwickelt. Darüber hinaus sind auch die früher das Land prägenden autoritären Traditionen noch immer spürbar [Ruivo, 2000]: Es spricht für sich, dass trotz des großen kulturellen Einflusses aus Brasilien und der Anwesenheit eines auf internationaler Ebene anerkannten Theoretikers der partizipativen Demokratie, Boaventura de Sousa Santos [Sousa Santos, 2002], in der Anfangsphase nur wenige Gemeinden einen Bürgerhaushalt eingeführt haben. Ab dem Jahr 2006 jedoch gewinnt der Bürgerhaushalt zunehmend an Bedeutung und 2008 zählt Portugal mit ca. 20 Beispielen bereits zu den Ländern in Europa, die im Verhältnis zur Bevölkerung und zur Gesamtzahl der Kommunen die größte Dichte an Bürgerhaushalten aufzuweisen haben. Die Verfassung von 1976, die auch heute noch gültig ist, hat die Einrichtung einer autonomen lokalen Ebene ermöglicht. Zwar fehlt eine regionale Ebene, und auch die mit den deutschen Landkreisen vergleichbare Verwaltungseinheit verfügt nur über eine sehr geringe Macht. Die Gemeinden haben jedoch gewählte Gremien, die in den letzten Jahren immer mehr Kompetenzen erhalten haben (selbst wenn diese im Vergleich zum europäischen Durchschnitt noch relativ bescheiden sind).116 Die junge portugiesische Demokratie ist bereits drei Jahrzehnte nach dem Fall der Salazar-Diktatur von Legitimitätsproblemen geprägt, welche mit denen anderer europäischer Länder vergleichbar sind. Es gibt eine breite Stimmenthaltung (etwa 39% bei den Kommunal- und Parlamentswahlen in den Jahren 2001 und 2002, mehr als 50% bei den Präsidentenwahlen
116 Die Kommunen werden über ein dualistisches System geleitet, in dem der Bürgermeister und die Exekutive auf der einen und der Rat auf der anderen Seite stehen. Sie werden direkt und unabhängig voneinander gewählt. Die Besonderheit in Portugal ist, dass die zu verteilenden Sitze proportional verteilt werden, so dass die Opposition an der Regierung beteiligt ist.
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II/4 Bürgernahe Demokratie: Sprungbrett oder Falle
von 2001117), einen Rückgang der Mitglieder von Parteien und Gewerkschaften sowie einen wachsenden Vertrauensschwund bei der Bevölkerung gegenüber dem politischen System. Palmela ist die erste portugiesische Gemeinde, die im Jahr 2002 einen Bürgerhaushalt einführt.118 Das angewandte Verfahren ist eine originelle Kombination der Ideen von Porto Alegre mit einer auf Bürgernähe setzenden Dezentralisierung. Der Bürgerhaushalt ist dabei eher als ein Produkt dieser Entwicklung und nicht als ihr Auslöser zu sehen. Zunächst erarbeitet die Verwaltungsspitze zusammen mit den einzelnen Abteilungen einen ersten Plan für den Investitionshaushalt. Dieses Dokument wird in eine für Bürger leicht verständliche Form gebracht und in den Versammlungen der zwölf Stadtteile sowie der im Stadtkreis liegenden Dörfer präsentiert (in der Regel im Oktober). Die Beteiligung der Bürger erfolgt dabei auf individueller Basis, d.h. Vereine verfügen über keinen besonderen Status. Rund drei bis vier Prozent der erwachsenen Bevölkerung nehmen an diesem Prozess teil, wovon ca. 40% Frauen sind (mit steigender Tendenz) und ein Großteil aus der Unter- und Mittelschicht stammt. Parallel dazu wird ein Fragebogen verteilt, mittels dessen die zur Diskussion stehenden Projekte hierarchisiert werden können. Die Informationen, die während der Bürgerversammlungen und durch den Fragebogen ermittelt wurden, werden von der Verwaltung gesammelt und ein Teil der Vorschläge aus der Bürgerschaft in die Investitionsplanung integriert (im Jahr 2004 wurden ca. 60 bis 70 der insgesamt 250 von den Bürgern unterbreiteten Vorschläge aufgenommen). Der neue Entwurf wird nach einer öffentlichen Debatte von der Regierung und dem Stadtrat verabschiedet. Die Umsetzung der bewilligten Projekte wird anschließend von Kommissionen begleitet, denen sowohl Delegierte der Bürgerversammlungen aus den Stadtteilen und Dörfern angehören, als auch Mitglieder der verschiedenen Fachbereiche der Verwaltung, die mit der Umsetzung des Bürgerhaushalts beauftragt sind. Eine Besonderheit des Bürgerhaushalts von Palmela besteht darin, dass auf gesonderten Veranstaltungen auch die Mitarbeiter der Verwaltung Vorschläge einbringen können, die vor allem eine Verbesserung der verwaltungsinternen Abläufe zum Ziel haben.
117 Die Stimmenthaltung ist bei den Kommunalwahlen von 2005 bei 39% geblieben und bei den Präsidentschaftswahlen von 2006 auf 37% zurückgegangen. 118 Ein Mitglied unseres Forscherteams war einer der wichtigsten Anreger des Prozesses.
II/4.3 Palmela (Portugal): Bürgernähe als Sprungbrett?
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Die schwierige Verbindung von freguesias und Bürgerhaushalt Eine der Besonderheiten der lokalen portugiesischen Demokratie ist die Existenz einer dezentralisierten Struktur innerhalb der 308 Kommunen. Die 4.259 freguesias bilden eine Art Bezirk und erhalten einen Teil ihrer Mittel direkt von der Nationalregierung, während sie den anderen Teil aus Zuweisungen der Kommune bestreiten, für die sie im Gegenzug einige Aufgaben übernehmen. Die freguesias verfügen über einen direkt gewählten Rat und über einen Präsidenten, der auch Mitglied des Stadtrates der Gesamtkommune ist. Zu Palmela gehören fünf freguesias, wobei vier davon von der Kommunistischen Partei und ihren Koalitionspartnern und einer von der Sozialistischen Partei regiert werden. Seit mehreren Jahren werden im Rahmen einer Dezentralisierungspolitik mehr Kompetenzen auf die freguesias übertragen, um den Aufbau einer bürgernahen Verwaltung zu fördern. Die gewählten Repräsentanten der freguesias waren am Anfang nicht in das BürgerhaushaltsVerfahren involviert, unter anderem, um die Autonomie der Bezirke zu wahren und einen direkten Dialog zwischen Stadtverwaltung und Bürgern zu etablieren. Jedoch haben einige der freguesias die Ergebnisse des Bürgerhaushalts in Frage gestellt und damit die Stadtverwaltung zu einer engeren Kooperation mit ihnen gezwungen. Inzwischen sind die Präsidenten der freguesias in den Versammlungen des Bürgerhaushalts anwesend. Darüber hinaus ist die Einführung eines partizipativen Beirates geplant, dem sowohl Delegierte der Bürgerversammlungen angehören sollen als auch Bürger, die per Losverfahren ausgewählt werden.
Die Erfahrung von Palmela verdeutlicht eine weitere Facette der bürgernahen Beteiligung. Bei dem Verfahren, das auf der Ebene der Gesamtstadt angelegt ist, handelt es sich im Gegensatz zu Mons und Utrecht sehr wohl um einen Bürgerhaushalt. Es fördert die Kommunikation zwischen Stadtrat und Stadtverwaltung auf der einen und den Bürgern auf der anderen Seite. Durch das Verfahren auf der Ebene der Gesamtstadt ist ein gewisser Einfluss auf die Modernisierung der Verwaltung zu beobachten. Gleichwohl bleiben die konkreten Resultate begrenzt. Ein Grund ist die anfängliche Trennung von Bürgerhaushalt und freguesias, was jedoch mit der Zeit geändert wurde. Trotz der Tatsache, dass sich die unteren Bevölkerungsschichten in einem relativ hohen Anteil beteiligen, scheint es keine weitreichenden Ergebnisse bezüglich einer größeren sozialen Gerechtigkeit, der Integration von Immigranten oder der Umsetzung von Prinzipien zur Förderung von Geschlechtergerechtigkeit zu geben.
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II/4 Bürgernahe Demokratie: Sprungbrett oder Falle
Das Verfahren hat, wie es für die ‚bürgernahe Partizipation‘ typisch ist, eindeutig einen konsultativen Charakter. Jedoch geht es mit der Erstellung der Prioritätenlisten, den Begleitkommissionen, die die Umsetzung der Vorschläge kontrollieren, und der guten Rechenschaftslegung über die Logik des ‚selektiven Zuhörens‘ hinaus. Die Regierung hat zudem erklärt, im Jahr 2007 den Bürgern eine tatsächliche Entscheidungskompetenz zu geben. Damit hebt sich das Verfahren aus Palmela deutlich von Saint-Denis oder Bobigny ab. Im Fall von Palmela ist die Bürgernähe nur ein Ausgangspunkt gewesen, um die klassische Aufgabenteilung zwischen Bürgern und gewählten Vertretern zu hinterfragen und – ansatzweise – zu verändern. Trotz dieser Entwicklungen bleibt die Zukunft des Bürgerhaushalts in Palmela ungewiss. Ein Zeichen dafür ist, dass auf der Internetseite der Stadt nichts vom Bürgerhaushalt zu lesen ist. Im Jahr 2005 ist aufgrund der Wahlen und einer Finanzkrise nicht viel passiert, erst 2006 wurde die Verwaltung neu organisiert und Verfahren der Bürgerbeteiligung direkt dem Büro des Bürgermeisters zugeordnet. Ungeachtet der Entwicklungen in Palmela findet die Idee des Bürgerhaushalts im ganzen Land einen wachsenden Zuspruch, insbesondere im Süden. Hier ist die Linke mächtiger als anderswo, wobei die Sozialdemokraten die PostKommunisten in ihrem Engagement für den Bürgerhaushalt abzulösen scheinen. Letztere befürchten, dass sie sich bei dessen zunehmender Verbreitung nicht mehr von anderen Parteien abheben können. Aus diesem Grunde ist man eher vorsichtig geworden, was die Initiierung neuer Verfahren angeht. Dies bremst jedoch nicht die allgemeine Verbreitung des Bürgerhaushalts in Portugal. Viele der neuen Beispiele haben sich die Stadt Palmela als Vorbild genommen, die um sich ein aktives Netzwerk gebildet hat und interessierte Städte berät. 2008 haben mehr als 20 Städte oder freguesias einen Bürgerhaushalt begonnen, darunter Alcochete – der erste Orte, an dem die Beteiligten über Entscheidungskompetenzen verfügen; des weiteren gibt es an drei weiteren Orten einen Bürgerhaushalt mit Kindern und Jugendlichen. Einen Schwerpunkt dieser jungen Entwicklung bildet die Hauptstadtregion. So haben die sozialdemokratischen Regierungen der Vororte von São Bras de Alportel oder de Odivelas starkes Interesse an diesem Partizipationsinstrument bekundet. Aber auch die bürgerliche Rechte plant in Algueirão-Mem Martins, der mit 60.000 Einwohnern größten freguesia des Landes, die Einführung einer Beteiligung am Haushalt. Der Bürgerhaushalt ist aber nicht nur auf einzelne Kommunen beschränkt, sondern das große Medienecho sorgt dafür, dass das Thema zunehmend in die Öffentlichkeit getragen wird und Verbreitung findet. In Lissabon wird im Jahr 2007 ein internetbasierter Bürgerhaushalt eingeführt (nach einem Wechsel der kommunalen Spitze im Jahr 2006). Die Bürger können im Umfang von fünf Millionen Euro Prioritäten definieren. Seit 2009 gibt es auch face-to-face-Veranstaltungen in
II/4.4 Die Herausforderung der bürgernahen Demokratie
211
den Stadtteilen. In Lissabon findet im gleichen Jahr zudem die dritte nationale Konferenz zum Thema Bürgerhaushalt statt. Diese Faktoren lassen darauf schließen, dass die Zahl der Beispiele in Portugal noch weiter anwachsen wird.119 Darüber hinaus gibt es bei den beteiligten Akteuren einen kumulativen Lernprozess: Sie versuchen die bestehenden Verfahren kontinuierlich zu evaluieren und Lösungen für auftretende Probleme zu finden.
4.
Die Herausforderung der bürgernahen Demokratie
Was kann man aus dem Paradigma der Bürgernähe, das wir anhand der Beispiele aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Portugal untersucht haben, schlussfolgern? Das Modell der Bürgernähe mit seiner kommunikativen und geografischen Dimension scheint vor allem aus zwei Gründen so erfolgreich zu sein. Zunächst bildet es in einer Zeit, in der die klassischen politischen Mobilisierungsformen in einer Krise stecken, eine gute Möglichkeit für Kommunalpolitiker, den Kontakt mit den Bürgern wieder herzustellen. Leicht übertrieben könnte man auch sagen: Wenn es den neokorporatistischen ‚Säulen‘ und den Massenparteien nicht mehr gelingt, ihre politische Rolle auszuüben und die Bürger zu mobilisieren und zu politisieren, tritt die institutionalisierte Bürgerbeteiligung an diese Stelle. Im Gegensatz zur traditionellen Vereins- und Verbändebeteiligung ist die Partizipation hier offener gehalten und weniger hierarchisch, gleichwohl sie für die gewählten Vertreter keinerlei Gefahr im Sinne einer Gegenmacht darstellt. Der zweite Erfolgsgrund der bürgernahen Partizipation liegt in ihrem wichtigen Beitrag für eine Verbesserung der öffentlichen Verwaltung. Sie regt dazu an, sich so ‚nah wie möglich‘ an den Bedürfnissen der Benutzer zu orientieren. Je mehr die Verwaltung ihre Strukturen in diese Richtung reorganisiert, desto positiver scheinen die Effekte der Beteiligung auszufallen. Keine der in den letzten Kapiteln untersuchten Fallbeispiele sind gleich und alle haben ihre Schwierigkeiten und Grenzen. Allerdings wirft die bürgernahe Partizipation jedes Mal die Frage nach der Modernisierung der lokalen Verwaltung auf und bringt einen Teil der Herausforderungen zum Vorschein, der sich
119 Eine wichtige Rolle bei dieser Diffusion hat eine Forschungsinstitution der Univeristät Coimbra gespielt, das Centro de Estudos Sociais (CES). Direktor des Instituts is Boaventura de Sousa Santos, einer der wichtigsten zeitgenössischen Theoretiker der partizipativen Demokratie [Santos, 2005]. Im Jahr 2008 hat das CES eine Finanzierung erhalten, um damit ein einjährliches Fortbildungs- und Beratungsprojekt zum Thema Bürgerhaushalt zu initiieren. Dieses Projekt wird gefördert vom Programm EQUAL, das von der Nichtregierungsorganisation IN LOCO (Sitz in Algarve) geführt wird. Potentielle Teilnehmer des Projekts sind über 900 Verwaltungsbeamte und Lokalpolitiker.
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II/4 Bürgernahe Demokratie: Sprungbrett oder Falle
die klassische repräsentative Demokratie gegenübersieht. Die Beispiele von Mons, Palmela und Utrecht zeigen, dass der Bürgerhaushalt nicht automatisch das geeignetste Instrument ist, um die Idee der ‚bürgernahen Partizipation‘ umzusetzen. Aufgrund ihrer zentralen Rollen innerhalb der Verwaltung scheinen die Bezirksmanager von Utrecht stärker die Etablierung einer gut funktionierenden, lokalen Verwaltung voranzutreiben, als es bei den untersuchten Formen der Partizipation am Haushalt der Fall war. Nichts hindert die Initiatoren und Unterstützer von Bürgerhaushalten jedoch daran, aus anderen Erfahrungen zu lernen und z.B. Aspekte des Utrechter Modells zu übernehmen. Darüber hinaus funktioniert ein Bürgerhaushalt potenziell dann am besten, wenn er sich nicht nur auf einen Stadtteil, sondern auf den gesamten kommunalen Haushalt bezieht und dadurch auch Einfluss auf das Verwaltungshandeln insgesamt sowie auf die zentralen politischen Entscheidungen hat. In diesen Fragen sind die sich in Europa vielerorts ausbreitenden Verfahren der bürgernahen Partizipation in Form von Beiräten und Quartiersfonds nicht ausreichend. Solange sich der Bürgerhaushalt jedoch innerhalb der Grenzen der Bürgernähe bewegt, kann er nicht die Erwartungen erfüllen, die mit dem Beispiel Porto Alegre verbunden werden. Zwar können die Bürger ihre Anliegen sowie ihr Wissen als Benutzer öffentlicher Einrichtungen besser einbringen, auch reagiert die Verwaltung auf Fragen und Anregungen der Bürger schneller und die gewählten Vertreter diskutieren mit den Bürgern, bevor sie eine Entscheidung treffen. Allerdings bleibt die klassische Aufgabenteilung bestehen: Die Entscheidung über das Gemeinwohl liegt weiterhin bei den gewählten Vertretern. Die Partizipation ist von oben gesteuert, die Effekte hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit bleiben gering und auch eine Modernisierung der Verwaltung geht nicht über die mikro-lokale Ebene des Stadtteils hinaus. Die Akteure der Zivilgesellschaft und insbesondere die am meisten benachteiligten Gruppen erhalten keine wirkliche Autonomie und Macht im Verfahren (wenn sie denn überhaupt teilnehmen). Die wichtigsten Entscheidungen können sie, wenn überhaupt, nur marginal beeinflussen. Mit dem Verfahren aus Porto Alegre hat dies nichts mehr zu tun, seine vermeintliche Adaptation in Europa scheint mancherorts geradezu das Gegenteil der proklamierten Ergebnisse zu produzieren. Die Beispiele aus Italien und Spanien haben allerdings schon gezeigt, dass sich das brasilianische Modell, zumindest ansatzweise, auch in Europa realisieren lässt. Wie ist diesbezüglich die Situation in Großbritannien und Polen? Welche Formen hat dort der Bürgerhaushalt angenommen, zu welchen Resultaten hat er geführt?
Kapitel 5
Zwischen community development und Public Private Partnership (Großbritannien, Polen)
“Der öffentliche Dienst kann nicht per Diktat von oben geführt werden. In der nächsten Periode muss die Rechenschaft […] zu den Konsumenten und communities gelangen. Ihr ‚empowerment‘ ist der beste Weg, um einen Wandel zu erreichen. Die zentralen Kräfte für die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen […] sind Konsumentenwahl und die Beteiligung von communities.“ [Milburn, 2004].
Dieses Zitat des ehemaligen Gesundheitsministers aus dem Blair-Kabinett führt in medias res der Debatten um Bürgerbeteiligung im Vereinigten Königreich. Das dortige Szenario unterscheidet sich sowohl von der ‚partizipativen Modernisierung‘ aus Deutschland und Finnland, als auch von den Verfahren aus Spanien und Italien, die sich sehr stark am Vorbild Porto Alegres orientieren, und von den Erfahrungen mit der ‚bürgernahen Demokratie‘, wie sie sich in Frankreich und anderen Ländern entwickelt haben. Im Zentrum stehen einerseits die Beteiligung und das empowerment von communities und andererseits eine konsequente Kundenorientierung im Rahmen der Reform der öffentlichen Verwaltung. Hier wird bereits eine Spannung deutlich, die auch den Bürgerhaushalt in Großbritannien insgesamt kennzeichnet. Geht es um eine Form der Kundenorientierung, die eher von der Logik des New Public Management geleitet wird, oder steht stärker die Übertragung von Macht (empowerment) an zivilgesellschaftliche Gruppen im Mittelpunkt des Interesses? Inwiefern wird die Bürgerbeteiligung von einer neoliberalen Politikausrichtung geprägt und welchen Einfluss haben private Unternehmen in diesem Bereich? Diese Fragen stellen sich nicht nur hinsichtlich der Situation in Großbritannien, sondern sie sind auch in Polen aktuell. Beide Länder unterscheiden sich durch eine dezidiert liberale Wirtschaftspolitik und einen gering ausgeprägten Wohlfahrtsstaat von den Ländern, die wir bis jetzt vorgestellt haben. Der Bürgerhaushalt hat in Großbritannien und Polen ebenfalls eine besondere Ausrichtung, die sich von den bisher beschriebenen Verfahren stark unterscheidet. Er oszilliert zwischen den Ideen des community development, das die Stärkung zivilgesellschaftlicher Organisationen durch die Übertragung eigenverantwortlich durchzuführender Leistungen zum Ziel hat, und öffentlich-privaten Partnerschaften, die in der Regel durch ein Übergewicht wirtschaftlicher Akteure gekennzeichnet sind. Wie funktioniert ein Bürgerhaushalt, der Elemente von
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II/5 Zwischen community development und Public Private Partnership
community development und Public Private Partnerships integriert und was sind seine politischen, sozialen und administrativen Effekte? Kann er zu einer Stärkung der lokalen Demokratie beitragen? Oder akzentuiert er eher Tendenzen einer „partizipativen Dezentralisierung“ [Baierle, 2006], indem kommunale Aufgaben an zivilgesellschaftliche Organisationen übertragen werden und die Autonomie und Aufgabenbreite lokaler Politik geschwächt wird?
1.
Der Bürgerhaushalt zwischen Porto Alegre und New Labour (Großbritannien)
In Großbritannien wurde der Bürgerhaushalt zu Begionn der Jahrtausendwende nur an einigen wenigen Orten praktiziert. Die Popularität des Verfahrens ist seitdem jedoch beträchtlich gestiegen, insbesondere seit Hazel Blears (ehemalige Staatssekretärin für Bürgerbeteiligung und kommunale Angelegenheiten120) eine „nationale Strategie“ zur landesweiten Einführung dieses Verfahrens entwickelt hat (dies gilt für England; s. Communities and Local Government, 2008). Dieser Vorgang ist nicht nur hinsichtlich der Situation in Großbritannien erstaunlich, wo der Bürgerhaushalt à la Porto Alegre ursprünglich nur von lokalen Aktivisten unterstützt wurde, die große Schwierigkeiten hatten, diese Ideen zu verbreiten. Er ist auch von maßgeblichem Interesse für die Entwicklung der Bürgerhaushalte in Europa allgemein, da es sich um den ersten Fall einer – angestrebten – flächendeckenden Einführung dieses Verfahrens auf nationaler Ebene handelt. Wie ist es dazu gekommen? 1.1 Von Thatcher zu New Labour Wer die Herausforderungen und Probleme des Bürgerhaushalts in Großbritannien verstehen will, muss insbesondere die Situation der Kommunen berücksichtigen. Ihre politisch-institutionelle Funktionsweise und Aufgabenbreite wurden sowohl unter den konservativen Regierungsjahren, als auch seit der Übernahme von New Labour im Jahr 1997 grundlegend verändert. Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der ‚konservativen Revolution‘ von Thatcher und der ‚Modernisierungsagenda‘ von Tony Blair?
120 Sie ist im Rahmen des großen Abrechnungsskandals im Britischen Parlament (Mai 2009) zurückgetreten, als zweite Ministerin des Kabinett Brown, am Tag vor den Kommunalwahlen.
II/5.1 Der Bürgerhaushalt zwischen Porto Alegre und New Labour
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Privatisierung und Zentralisierung Die Thatcher-Regierung, die im Jahr 1979 an die Macht kam, verfolgte hauptsächlich zwei Ziele. An erster Stelle stand die Durchsetzung neoliberaler Politikziele, wie z.B. die Einführung des minimal state und die Liberalisierung der Märkte durch Privatisierungen. Diese politische Orientierung betraf vor allem die Kommunen, da sie als zentrale Dienstleistungserbringer grundlegende Institutionen des Wohlfahrtstaates repräsentierten. Zweitens hatte Thatcher die Schwächung der Machtbasis der Labour Party in den Kommunen zum Ziel [Wollmann, 2004: 38], ebenso wie die Zerschlagung jeglicher gesellschaftlicher Opposition (Gewerkschaften u.a.). Im scharfen Gegensatz zum europäischen Trend einer Ausweitung und Stärkung der kommunalen Kompetenzen zu Beginn der 1980er Jahre, setzte die Thatcher-Regierung eine Reihe von Maßnahmen durch, die eine radikale Verringerung der Autonomie und Kompetenzen der Kommunen zur Folge hatte. Im deutschen Kontext wären solche Umwälzungen aufgrund des föderalen Systems undenkbar, in Großbritannien hingegen, einem Einheitsstaat mit Zweiparteiensystem, hat die jeweils regierende Partei umfassende Gestaltungsmöglichkeit. Darüber hinaus ist die rechtliche Stellung der britischen Kommunen aufgrund der Parlamentssouveränität traditionell sehr gering. Darüber hinaus sind sie aufgrund des Prinzips des ultra vires nur für ihnen explizit zugewiesene Aufgabengebiete zuständig, womit sie sich vom Prinzip der Allzuständigkeit der deutschen Kommunen erheblichen absetzen. Als erstes setzte Thatcher eine umfassende Privatisierungspolitik kommunaler Dienstleistungen durch. Das Mittel hierzu war das Compulsory Competitive Tendering, also die Verpflichtung, kommunale Aufgaben durch Ausschreibung zu vergeben und dadurch in direkte Konkurrenz zum privaten Sektor zu stellen. In der Folge wurde eine wachsende Zahl ehemals kommunaler Zuständigkeitsbereiche an private Anbieter vergeben. Ein weiterer Schwerpunkt der Politik war die Bildung halb-öffentlicher, zentralstaatlich kontrollierter Institutionen, die außerhalb demokratischer Kontrollinstanzen agieren. Diese Quangos (quasi-autonomous non-governmental organization) sind für ehemals kommunale Aufgaben wie regionale Entwicklung, Energiepolitik, Transport und Planung zuständig. Ihre Zahl beläuft sich auf rund 5000, in denen über 60.000 Mitarbeiter beschäftigt sind. Sie werden nicht gewählt, sondern in der Regel von der Zentralregierung direkt besetzt [Wilson/Game, 2002: 136]. Diese ‚Quangoisierung‘ schwächte die Kommunen, da ihr Aufgabenbereich weiter reduziert und die Koordinierung der Dienstleistungserbringung erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich wurde. Schließlich reduzierte Thatcher die Möglichkeiten der kommunalen Steuererhebung durch Instrumente wie capping (Höchstgrenzen für Steuereinnahmen, für deren Überschreitung Lokalpolitiker persönlich bestraft werden konnten) und ring fencing (die ‚Eingrenzung‘ bestimmter Aus-
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II/5 Zwischen community development und Public Private Partnership
gaben, z.B. für Erziehung, auf national vorgegebene Prioritäten). Als Ergebnis halbierte sich die Höhe gemeindeeigener Steuern von rund vierzig auf zwanzig Prozent [Sturm, 2003: 255]. Diese Politik der Fragmentierung lokaler Zuständigkeiten, der Privatisierung des öffentlichen Sektors und der finanziellen Abhängigkeit der Kommunen von der Zentralregierung hatte katastrophale Auswirkungen. Sie führte dazu, dass der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas im Jahr des Machtwechsels zur Labour-Regierung (1997) der lokalen Demokratie in Großbritannien große Probleme attestierte – neben Bulgarien, Lettland, Moldavien und der Ukraine [vgl. Wilson/Game, 2002: 149]. Ein allgemeines Problem in Großbritannien ist die im europäischen Vergleich extrem niedrige Wahlbeteiligung, die in manchen Wahlbezirken zwischen 15 und 20% liegt. Negativ wirkt sich hierbei ein besonderes Wahlsystem auf lokaler Ebene aus, das die jährliche Wahl nur eines Drittels der lokalen Mandatsträger beinhaltet. Damit werden eine langfristige Planung sowie die Zuordnung der Verantwortlichkeit für getroffene Entscheidungen stark erschwert, was das Vertrauen in die lokalen Institutionen und ihre Arbeitsfähigkeit eher schwächt als stärkt.121 Die Modernisierungsagenda Tony Blairs: Zwischen Kontinuität und Neuerung Tony Blair gewann die Wahlen von 1997 unter anderem mit dem Versprechen, diese desolate Situation in den Kommunen zu bekämpfen. Seine durchgeführten Maßnahmen erzeugen jedoch ein komplexes Bild, gekennzeichnet von Parallelen und Unterschieden zu den vorherigen Regierungen (dies trifft ebenso auf die Nachfolgeregierung unter Gordon Brown zu). Erschwert wird die Situation für die Labour-Partei darüber hinaus durch einen sehr starken Mitgliederschwund (unter dem auch die Konservative Partei leidet): Seit dem Jahr 1997 hat sich die Mitgliederzahl von 400.000 auf knapp 200.000 mehr als halbiert, die Zahl von 800.000 aus den 1970er Jahren stehen in weiter Ferne [El País, 28.12.2006]. Bei den jüngsten Kommunalwahlen vom Mai 2009 musste New Labour zudem eine herbe Niederlage hinnehmen, da sie nicht nur die ‚rote Hauptstadt‘ an die Konservativen verlor, sondern die Partei insgesamt auf lediglich 24% der Stimmen kam und damit nur drittstärkste Kraft hinter den Konservativen und Liberalen wurde. In Kontinuität zu Thatcher (und John Major) steht bei der Politik von New Labour insbesondere die finanzielle Kontrolle der Kommunen und die Praxis des capping, wenn auch ohne die persönliche Bestrafung von Kommunalpolitikern. Die Anzahl der ‚eingegrenzten‘ (ring-fenced) Aufgaben, ebenso wie die
121 Aus diesem Grund wird in einem White Paper der Regierung [Communities and Local Government, 2006] vorgeschlagen, die bisherige Praxis zu ändern und Wahlen für alle Lokalpolitiker alle vier Jahre zu organisieren.
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der Quangos, ist im Vergleich zu den Thatcher Jahren sogar noch gestiegen [Stewart, 2002: 231-236]. Blair hat auch der Privatisierungspolitik kein Ende gesetzt. Ein zentrales Element seiner Modernisierungsagenda sind die so genannten Private Finance Initiatives, der in Großbritannien stark verbreiteten Form einer Öffentlich-Privaten Partnerschaft (Public Private Partnership).122 Während diese Partnerschaften eigentlich dazu dienen sollen, eine effizientere und kostengünstigere Dienstleistungserbringung zu gewährleisten, besteht oftmals die Gefahr der Entstehung höherer Kosten sowie einer indirekten und langfristigen Verschuldung der öffentlichen Hand. Hinzu kommen das Fehlen an demokratischer Kontrolle und die Möglichkeit von zum Teil erheblichen Einbußen bei der Qualität der Dienstleistungen [z.B. Marlière 2001: 360ff.]. Insgesamt handelt es sich bei der Politik von Blair gegenüber den Kommunen nicht mehr um eine reine ‚Zerstörungspolitik‘ wie noch unter Thatcher, aber um eine Politik von ‚Zuckerbrot und Peitsche‘ – mit mehr Peitsche als Zuckerbrot: „Wenn Sie diese Herausforderung akzeptieren […] können Sie eine verstärkte Rolle und mehr Macht erwarten. Ihr Beitrag wird anerkannt werden. Ihr Status verstärkt. Wenn Sie nicht für die Modernisierungsagenda arbeiten wollen oder können, wird die Regierung nach anderen Partnern suchen müssen, die Ihre Rolle übernehmen“ [Blair, 1998b: 22]. Man kann sich gut die Reaktionen vorstellen, die eine derartige ‚Kampfansage‘ eines deutschen Bundeskanzlers/in bei den Gemeinden in Deutschland provozieren würde. Und dennoch ist Blair keine reine Kopie von Thatcher. Sein „Dritter Weg“, der zwischen „alter Sozialdemokratie“ und „neuer Rechten“ lokalisiert ist [Blair, 1998a], ist weniger neoliberal als sozial-liberal (keine Kontrolle des Marktes, aber seine soziale Abfederung, umfassende Modernisierung des öffentlichen Sektors, Bürgerpartizipation, Investitionen in Erziehung u.ä.). In Bezug auf die kommunale Ebene basiert seine Politik insbesondere auf vier Schwerpunkten, die über die Jahre beständig weiterentwickelt wurden. Ohne die Regel des ultra vires abzuschaffen, hat Blair erste Schritte für eine Verbesserung der legalen Situation der Kommunen unternommen, indem er ihnen im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung und Verbesserung eigenständige Kompetenzen zuwies (powers of well-being).123 Ein weiterer Schritt in die Richtung zur Stärkung lokaler Kompetenzen stellen die local area agreements dar, in denen die Kommunalregierungen zwar zusammen
122 Während es in Großbritannien im Jahr 1999 ca. 250 Private Finance Initiatives gab, deren Gesamtwert bei rund 23,86 Milliarden Euro (16 Milliarden Pfund) lag, belief sich die Summe in Deutschland im Jahr 2005 auf rund drei Milliarden Euro [www.kommunaler-wettbewerb. de/ppp]. 123 Die Devolution-Politik der Regierung Blairs, so z.B. die Einrichtung eines schottischen Parlaments 1997, markiert ebenfalls einen starken Wandel im zentralstaatlichen Prinzip, betrifft die Kommunen aber nur indirekt.
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mit London die lokalen Prioritäten definieren, die Zentralregierung aber insgesamt weniger Einfluss auf die Vergabe der kommunalen Finanzen hat. Des Weiteren hat New Labour die Organisationsform der Kommunalregierungen umfassend reformiert, um mehr lokales leadership zu ermöglichen (Ermöglichung der Direktwahl der Bürgermeister u.a.). Drittens ist die blinde Privatisierungspolitik durch das Element der Qualität der Dienstleistungen ergänzt worden, wie der Übergang vom Compulsory Competitive Tendering zum BestValue-Regime belegt (allerdings gibt es viele Kritiker, denen zu Folge Best Value nur ein neues Label für eine Herangehensweise ist, die noch stark vom ‚Geist‘ des CCT geprägt ist). Im Gegensatz zum Freigemeinde-Experiment aus Skandinavien handelt es sich bei all diesen Maßnahmen zwar um ein zentralstaatlich verordnetes Reform-Modell lokaler Verwaltungen. Dennoch haben die radikale Infragestellung bisheriger Praktiken, der systematische Qualitätsvergleich zwischen den Kommunen und eine unabhängige Evaluierung der Ergebnisse zu einer umfassenden Modernisierung der öffentlichen Dienstleistungserbringung beigetragen. Schließlich hat New Labour im Rahmen der Reformagenda ein sehr umfassendes System zur Konsultation von Bürgern und Benutzern etabliert. Bereits unter der vorherigen, konservativen Regierung von John Major wurden Formen der Kundenkonsultation (in Form von Kundenumfragen, Beschwerdemanagement etc.) eingeführt. New Labour hat diese Ansätze übernommen, sie systematisch weiter ausgebaut und mit anderen Formen der Partizipation ergänzt. Der Großteil dieser Beteiligungsformen, die von traditionellen Methoden (wie Frage-und-Antwort-Sitzungen im Rat), über konsultative Foren, interaktiven Internetseiten bis hin zu citizen juries124 reicht, bleibt bisher maßgeblich auf die Konsultation von Benutzern oder Kunden lokaler Dienstleistungen gerichtet [Lowndes, Pratchet/Stoker, 2001]. In diesem Bereich gehört Großbritannien jedoch ohne Zweifel zu den führenden Ländern Europas. Die Konsultation stellt eine nationale Priorität dar, deren Umsetzung durch verschiedene lokale wie nationale Institutionen (z.B. der Audit Commission125) genauestens gemessen und bewertet wird. Man könnte sogar soweit gehen und die Hypothese aufstellen, dass es sich bei der Bürgerbeteiligung in Großbritannien um eine versteckte Form zentralstaatlicher Kontrolle der Kommunen handelt: „Die Lokalverwaltungen müssen beweisen, dass sie bessere und effizientere Dienstleistungen erbringen können. Sie müssen auch zeigen, dass sie für einen fundamentalen
124 Großbritannien gehört neben Deutschland und Spanien zu den Ländern, in dem es die meisten citizen juries gibt (in Deutschland ‚Planungszellen‘ genannt). Ihre Einrichtung war keine offizielle Priorität von New Labour, dennoch kam es nach 1997 zu einer starken Ausbreitung. Heute gibt es rund 200 Fallbeispiele. 125 Sie wurde 1982 von den Tories ins Leben gerufen.
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Wandel ihrer Einstellungen und Kultur bereit sind, indem sie Bürger beteiligen und auf neuen Wegen mit ihren Partnern arbeiten. […] Wir wollen, dass alle Kommunen den Akzent auf ihre Bürger und communities setzen.“ [Department for Communities and Local Government, 2006: 5-7]. Wie dieses Zitat aus dem White Paper „Starke und florierende Communities“ ebenso verdeutlicht, hat sich neben der bisher dominanten Kundenorientierung das community development als weitere Priorität von New Labour entwickelt. Community development und lokale Partnerschaften Bereits im Jahr 2000 hat die Regierung in Westminster die Kommunen mit der Einrichtung von „community-Strategien“ [DETR, 2000] beauftragt. In dem White Paper aus dem Jahr 2006 wird dieser Ansatz eindeutig bestätigt und seine Weiterentwicklung sowie Ausdehnung auf alle Kommunen gefordert. Die Kommunen müssen zur Vorbereitung und Implementierung dieser Strategien Partnerschaften mit anderen Akteuren einrichten, z.B. so genannte ‚Lokale strategische Partnerschaften‘ (Local Strategic Partnerships). In diesen Partnerschaften sollen neben rein wirtschaftlichen auch zivilgesellschaftliche Akteure teilnehmen: „Die Zukunft der Kommunen (local government) basiert auf einer Partnerschaft mit Anderen – öffentlichen Einrichtungen, privaten Unternehmen, community-Gruppen und Wohlfahrtsorganisationen. […] Kommunen werden nicht mehr länger allein dadurch definiert werden, welche Pflichtaufgaben sie erfüllen, sondern was sie in Partnerschaft mit Anderen erreichen“ [Blair, 1998b: 13]. Verbessert sich durch diese Partnerschaften die Rolle der Zivilgesellschaft in der lokalen Politikformulierung, oder dienen sie eher der Legitimation von Entscheidungen, die nach wie vor von einem engen Zirkel von ‚Experten‘ getroffen werden? Bisherige Analysen zeigen, dass der Einfluss der communities auf die lokale Entscheidungsfindung insgesamt sehr schwach bleibt – insbesondere dann, wenn sie unabhängig und kritisch sind. Darüber hinaus besteht eine starke Tendenz der Professionalisierung der teilnehmenden communityVertreter, so dass tendenziell jegliche Form von Konflikt marginalisiert wird [Diamond, 2005]. Diese Form der konsensuellen Beteiligung im Rahmen von Partnerschaften erinnert eher an die Praxis der ‚runden Tische‘ oder auch an neokorporatistische Strukturen, die auch ‚einfache‘ Bürger integrieren, beinhaltet aber nicht die Schaffung autonomer Räume für die Zivilgesellschaft. Gleichzeitig gibt es aber lokale Entwicklungen, die eine andere Dynamik aufzeigen. Zu den interessantesten Beispielen gehört der Bürgerhaushalt, der nicht durch New Labour, sondern über die globalisierungskritische Bewegung nach Großbritannien gekommen ist – für den sich Mitglieder der neuen Regierung unter Gordon Brown aber zunehmend interessieren. Welche Veränderun-
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gen kann der participatory budget in Bezug auf die bisherige Situation bringen? Führt er zu einem tatsächlichen empowerment lokaler communities und zu einer Demokratisierung der lokalen Ebene? 1.2 Ausgangspunkt der Entwicklung: Bradford und Salford Porto Alegre ist wie in den meisten anderen Ländern Europas die rhetorische Referenz für den Bürgerhaushalt im Vereinigten Königreich. Die Idee seiner Einführung ist im Rahmen eines Lernaustauschs in Fragen lokaler Demokratie zwischen zwei englischen (Salford und Manchester) und zwei brasilianischen Städten (Recife und Porto Alegre) entstanden [Community Pride Initiative, 2000]. Nach ersten Ansätzen zur Durchführung eines Bürgerhaushalts in der Stadt Salford, maßgeblich unter Einfluss der lokalen Nichtregierungsorganisation Community Pride Initiative (sie heißt heute PB Unit), haben weitere Städte mit dem Bürgerhaushalt experimentiert, unter anderem Bradford, wo das erste offizielle Verfahren in Großbritannien durchgeführt wurde.126 Beide Städte dienten in den letzten Jahren häufig als Vorzeigemodell bei Debatten um den Bürgerhaushalt in Großbritannien, unter anderem deshalb, da Community Pride Initiative/PB Unit sehr aktiv in der nationalen Verbreitung der Idee beteiligt ist (Organisation von Konferenzen, Workshops, Erstellung eines elektronischen News-Bulletin zum Thema Bürgerhaushalt u.ä.). Bradford (474.000 Einwohner) und Salford (220.000 Einwohner) liegen beide im Nordwesten Englands, dem ehemaligen industriellen Zentrum Großbritanniens. Während der Gemeinderat in Salford traditionell von einer LabourMehrheit dominiert wird, gab es in Bradford während der letzten 15 Jahre wechselnde Mehrheiten (Labour oder Konservative). Bradford und Salford ähneln sich in ihrer urbanen Struktur als postindustrielle Städte mit einer Konzentration von sozialen Problemen in den Innenstadtbezirken. Aus diesem Grund erhalten sie Mittel aus nationalen Programmen zur sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung besonders benachteiligter Viertel (Neighbourhood-Renewal, New Deal for Communities), die die Blair-Regierung auf Grundlage bestehender Ansätze eingeführt hat [Diamond, 2005]. In Bradford wird seit dem Jahr 2002 ein Teil der Neighbourhood-RenewalGelder communities aus den betroffenen Vierteln zur Verfügung gestellt, um nachbarschaftliche Projekte zu finanzieren und damit zur Verbesserung des Lebensumfeldes beizutragen. Im Jahr 2002/03 wurden auf diese Art Projekte, sog. ‚Nachbarschafts-Aktionspläne‘, im Gesamtwert von rund 3,13 Millionen
126 Für die lokalen Initiatoren hat das Buch ‚Reclaim the State‘ von H. Wainwright [2003], in der das Porto Alegre Modell vorgestellt wird, eine große Bedeutung gespielt, Verbindungen zu Community Pride Initiative gab es am Anfang noch nicht.
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Euro und 2003/04 im Wert von rund 1,49 Millionen Euro finanziert. Verwaltet wird das Geld, von dem feste Beträge bestimmten Themengebieten zugeordnet ist (Kriminalität, Umwelt, Gesundheit u.a.), von dem Leitungsgremium der Lokalen Strategischen Partnerschaft, genannt Bradford Vision. Die ‚Nachbarschafts-Aktionspläne‘ müssen den vorgegebenen, allgemeinen Kriterien aus dem Neighbourhood Renewal-Programm und den Prioritäten von Bradford Vision entsprechen. In Salford hat der ‚community-Ansatz‘ bereits eine längere Tradition.127 Seit den 90er Jahren ist die gesamte Stadt in acht communityGebiete aufgeteilt, in der es jeweils ein community-Komitee (Mitglieder sind lokale Vereine) unter Leitung eines Nachbarschaftsmanagers gibt. Diese Komitees sind Teil der Lokalen Strategischen Partnerschaft. Seit dem Jahr 1999 erhalten die acht Komitees Gelder aus dem kommunalen Haushalt, um damit lokale Projekte durchzuführen (devolved budget). Der Betrag wurde 2004 von rund 308.000 auf 700.000 Euro erhöht, was das besondere Engagement der Stadtregierung hinsichtlich des community-Ansatzes unterstreicht. Die Kriterien zur Vergabe der Gelder werden in Salford von Mitgliedern der communities und dem Nachbarschaftsmanager erarbeitet. In Bradford ist der Bürgerhaushalt aus der Ausdehnung des community development in einzelnen Stadtteilen auf die Stadtebene entstanden. Die Idee hierfür wird 2004 von leitenden Vertretern des Nachbarschafts-Management-Teams entwickelt, die in den Jahren zuvor bereits für die Entwicklung und Koordinierung der Nachbarschafts-Aktionspläne zuständig waren. Sie können einen anderen Partner von Bradford Vision, die ‚Umwelt-Partnerschaft‘, dazu überzeugen, einen Teil der erhaltenen Gelder für einen Bürgerhaushalt aufzuwenden, anstelle ihn wie gewöhnlich an andere Träger zu vergeben. Das Environmental Partnership stellt dem Prozess daraufhin rund 1,04 Millionen Euro zur Verfügung. Die Grundlage des Bürgerhaushalts, der das erste Mal im Jahr 2004 stattfindet, bilden weiterhin die lokalen community-Gruppen. Sie werden dazu aufgefordert, Projektanträge zwischen rund 1.260 und 12.600 Euro zu stellen. Ausgewählt wurden solche Projekte, die besonders gut den aufgestellten Kriterien entsprechen. Daraufhin findet eine stadtweite Veranstaltung statt, in deren Rahmen über die einzelnen Anträge entschieden wird. Anwesend sind ausschließlich Vertreter der communities, über deren Antrag abgestimmt wird, und Mitglieder von Bradford Vision; das Verfahren ist nicht öffentlich zugänglich.128
127 Eine größere Beteiligung der Bürger wird unter anderem als eine Möglichkeit angesehen, aus dem Schatten der international bekannten Nachbarstadt Manchester zu treten und sich ein eigenes Profil zu verschaffen. Zudem gilt die Stadt im britischen Kontext als besonders problembelastet (Kriminalität, anti-social behaviour etc.), so dass eine größere Beteiligung der Bevölkerung auch als ein Mittel im Kampf gegen soziale Marginalisierung gesehen wird. 128 Eine ausführlichere Beschreibung findet sich in Teil I des Buches.
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In Salford ist die Verbindung von community development auf Stadtteilund auf Stadtebene weniger deutlich als in Bradford. Dies liegt daran, dass es zwei unterschiedliche Prozesse gibt, deren Verbindung nur schwach ausgeprägt ist. In den Stadtteilen bestehen die beschriebenen community-Strukturen, die über den Stadtteilfonds entscheiden und Prioritäten für ihr Gebiet erarbeiten. Auf gesamtstädtischer Ebene gibt es einen Konsultationsprozess zum Haushalt, der auf die Initiative einzelner Labour-Abgeordnete (darunter Hazel Blears) im Jahr 1996 zurückgeht und seitdem beständig weiterentwickelt wurde. Das Ziel ist nicht die Stärkung lokaler communities, sondern ähnlich wie in Deutschland oder in Saint-Denis in Frankreich eine größere Transparenz und Akzeptanz des kommunalen Haushalts.129 „Mein Ziel ist sicherzugehen“, sagt der ehemalige Vorsitzende des Rats in Salford zu diesem Thema, „dass die Leute deutlich die Komplexität des Haushalts verstehen.“ Der Hintergrund ist die finanzielle Abhängigkeit der Kommunen von der Regierung in London. So führt er weiter aus: „Wenn du berücksichtigst, dass 75% des Haushalts, 75 Penny von jedem Pfund, für die zwei wichtigsten Dienstleistungen ausgegeben werden: Erziehung und Soziales. Und die Zentralregierung determiniert, wir nennen das ring fence, dass wir das Geld in diesen Gebieten ausgeben müssen. Das lässt dir nur 25 Penny von jedem Pfund zur Finanzierung von anderen Dienstleistungen.“ Wie genau funktioniert das Verfahren zur Haushaltskonsultation?
„Dein Geld, Deine Wahl.“ Mit diesem Slogan wirbt die Stadtverwaltung von Salford im Jahr 2004/2005 auf Flyern und Anzeigen zu den Veranstaltungen der budget consultation. Eine der insgesamt sechs Veranstaltungen im Dezember 2004 findet ab 19 Uhr in einem zentralen Versammlungsort der communities statt. Im vorderen Teil des Raumes steht ein Tisch, um den herum eine Protokollantin, ein leitendes Mitglied der Finanzverwaltung, ein Lokalpolitiker und die Nachbarschaftsmanagerin sitzen. Davor stehen einige Stuhlreihen für die Teilnehmer, an der Wand ist eine Leinwand für die Powerpoint-Präsentation aufgebaut. In einer Ecke stehen für die Anwesenden Kaffee, Wasser und Mintpies zur Verfügung.
129 Für die Initiatoren der budget consultation ging es von Anfang an primär um eine Konsultation der Bewohnerschaft und nicht um einen Bürgerhaushalt, dessen Idee vermutlich noch weitgehend unbekannt war. Aus diesem Grund reden sie auch bis heute nicht von einem Bürgerhaushalt, sondern verwenden die Bezeichnung ‚Haushaltskonsultation‘. Unseren Kriterien zufolge handelt es sich jedoch um einen Bürgerhaushalt.
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Zur Veranstaltung an diesem Abend kommen sechzehn Personen, der Großteil von ihnen ist einfach gekleidet. Es gibt eine leichte Mehrheit von Männern, der Großteil der Anwesenden ist über fünfzig Jahre alt. Die Veranstaltung beginnt pünktlich um sieben Uhr mit einer Begrüßung der Teilnehmer. Es werden kurz die Gründe für die Haushaltskonsultation erklärt, daraufhin beginnt die Powerpoint-Präsentation durch einen Mitarbeiter der Finanzverwaltung. Er erklärt unter anderem die Herkunft des kommunalen Haushalts, die für das nächste Haushaltsjahr geplanten Ausgaben und die Höhe der staatlichen Finanzzuweisungen. Einige Teilnehmer stellen zwischendurch Fragen, die eigentliche Diskussion findet aber nach der ca. 20minütigen Vorstellung statt. Kritisiert wird immer wieder die Höhe der Kommunalsteuer, andere Themen sind das Erscheinungsbild der Stadtteile und Fragen der öffentlichen Sicherheit. Am Ende der Veranstaltung, nach knapp zwei Stunden, werden die Teilnehmer darum gebeten, einen standardisierten Bewertungsfragebogen auszufüllen. Darin sollen sie das Treffen bewerten und Antworten auf drei Fragen geben: Wenn Sie Ratsvorsitzender wären, was wäre ihre Hauptpriorität? Wenn Sie zwischen 5 und 10 Millionen Pfund für die Verbesserung der städtischen Dienstleistungen zur Verfügung hätten, wofür würden Sie es ausgeben? In welchen Bereichen glauben Sie, dass der Stadtrat die Effizienz verbessern und/oder Einsparungen machen sollte? Darüber hinaus wird wie auch sonst immer ein Protokoll der Sitzung geführt, in dem die Kritik, Vorschläge und Wünsche der Bürger erfasst werden. Die Stadtverwaltung stellt anschließend ein Dokument zusammen, in dem sie die geäußerten Meinungen den sieben thematischen Prioritäten des Rates zugeordnet festhält. Rund ein halbes Jahr später veröffentlicht sie ein Dokument, das die Antworten des Rates auf die gemachten Vorschläge enthält. Es wird den Teilnehmern der Veranstaltung sowie allen community-Ausschüssen geschickt; seit 2003 ist es im Internet jedem zugänglich.
Die Verbindung zwischen Haushaltskonsultation und community-Strukturen in Salford ist formaler Natur (z.B. Organisation der Haushaltskonsultation im Rahmen der community-Ausschüsse), es gibt keine inhaltliche Kopplung zwischen beiden Prozessen. Dies ist auch ein Grund dafür, dass die Prioritäten, die in den community-Strukturen entwickelt werden, kaum die Vergabe des kommunalen Haushalts beeinflussen [Community Pride Initiative, 2005].
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1.3 In Richtung eines ‚vierten Wegs‘? Bis zu den Jahren 2005/2006 konnte man die konkreten Beispiele mit dem Bürgerhaushalt in Großbritannien an einer Hand abzählen, dennoch verbreitete sich die Idee. Neben Salford und Bradford wurde auch im Bezirk Harrow von London sowie in den Städten Newcastle, Sunderland und Coedboeth (Wales) ein Bürgerhaushalt durchgeführt [Lavan, 2007; Blakey, 2007]. Zusätzlich hat sich aufgrund der Bemühungen eines sehr aktiven, nationalen Netzwerkes zum Bürgerhaushalt (National Reference Group), das sich aus Vertretern der Zivilgesellschaft, privaten Consultants und interessierten, lokalen wie nationalen Politikern und Beamten zusammensetzt, ein wachsender Erfahrungsaustausch innerhalb des Landes entwickelt [Röcke, 2010].130 Der PB Unit spielt eine zentrale Rolle in dieser Verbreitung von Idee und Praxis des Bürgerhaushalts. Während sich in den ersten Jahren maßgeblich nationale und lokale Nichtregierungsorganisationen sowie unabhängige Forschungseinrichtungen für den Bürgerhaushalt eingesetzt haben, hat er in den letzten Monaten wachsende Beachtung bei kommunalen Entscheidungsträgern gefunden. An einer Konferenz über Bürgerhaushalt und Dezentralisierung im April 2006 in London nahmen Vertreter von über 80 britischen Kommunen teil. Darüber hinaus gibt es ein wachsendes Interesse innerhalb von New Labour am Bürgerhaushalt. Seid sich Hazel Blears des Themas angenommen und eine „nationale Strategie“ für seine landesweite Einführung entwickelt hat, ist seine Präsenz in den Medien und den Kreisen der Lokalpolitiker nochmals deutlich gestiegen. Diese Entwicklung hat bereits jetzt zu einer Verbreitung von Pilotverfahren geführt, deren offizielle Zahl in England im März 2008 bei 22 lag [Communities and Local Government, 2008: 19] und die ständig ansteigt. Im Rahmen des genannten nationalen Diskussionsforums wird verstärkt darüber diskutiert (sowie erste Verfahren evaluiert), wie der Bürgerhaushalt in verschiedenen Politikbereichen (Gesundheit, Sicherheit etc.) eingeführt bzw. verbreitet werden kann. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Erfahrungen mit Bürgerhaushalten, die sich an Kinder und Jugendliche wenden (z.B. in New Castle). Wie lässt sich dieses wachsende Interesse erklären? Bestärken die Erfahrungen des Bürgerhaushalts in Bradford und Salford die bisherige ‚Partizipationspolitik‘ von New Labour, oder kündigt sich eine alternative Entwicklung, vielleicht sogar ein ‚vierter Weg‘ an? Die Haushaltskonsultation in Salford erinnert eher an das Modell ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘, das in Deutsch-
130 Jeremy Hall, Mitglied vom PB Unit und Ko-Autor dieses Abschnitts, ist auch Teil des europäischen Netzwerkes zum Bürgerhaushalt und hat an Veranstaltungen der Autoren des vorliegenden Buches teilgenommen.
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land sehr verbreitet ist, als an eine Form des community development. Effekte auf eine Modernisierung der Verwaltung liegen insbesondere im Bereich einer größeren Bürgerorientierung und Transparenz des Haushalts vor, nicht jedoch in strukturellen Reformen. Die deliberative Qualität des Verfahrens ist insgesamt als schwach zu bezeichnen, was unter anderem daran liegt, dass die PowerpointPräsentation nicht leicht verständlich für ‚einfache‘ Bürger bzw. Nicht-Experten ist und es keine externen Diskussionsleiter und Kleingruppendiskussionen gibt. Ein großes Problem ist die geringe Beteiligungsrate, die im Gegensatz zum großen Einsatz der Mitarbeiter der Stadtverwaltung steht, die die abendlichen Treffen vorbereiten und durchführen. So nahmen in Salford im Jahr 2003 nur 48 Bürger an insgesamt drei Veranstaltungen teil, im Dezember 2004 waren es während fünf Veranstaltungen 76, im Januar 2005 bei vier Veranstaltungen 53 Bürger. Unter den Teilnehmern befinden sich kaum Jugendliche, das Verhältnis von Männern und Frauen war hingegen ausgeglichen.131 Ein Grund für diese geringe Partizipation liegt vermutlich an der Tatsache, dass von vielen Bewohnern die Haushaltskonsultation nur als eine weitere der zahlreichen Konsultationsmaßnahmen der Stadt wahrgenommen wird, die darüber hinaus nicht besonders spannend zu werden verspricht. In der Tat entspricht die Haushaltskonsultation eher den herkömmlichen, kundenorientierten Konsultationsverfahren von New Labour, als einem Ort für community development und empowerment. Dementsprechend lassen sich auch keine eindeutigen politischen Effekte von dem Verfahren ableiten.132 Insbesondere aufgrund der geringen Partizipation der Bevölkerung setzt die Stadtverwaltung ab dem Haushaltsjahr 2006/2007 verstärkt auf eine Befragung der Bewohner Salfords in Form von Umfragen, citizen panels133 [Klages/Daramus/Masser, 2007] und konsultativen Foren. Diese Maßnahmen haben nichts mit der Idee Porto Alegres gemein, sondern stehen eindeutig in der Tradition der bisherigen, insbesondere kundenorientierten Partizipationspolitik der Blair-Regierung. Im Rahmen der bestehenden community-Strukturen der Stadt gibt es in jüngster Zeit jedoch eine andere Entwicklung. Durch die landesweite Verbreitung von Pilotprojekten wird schließlich auch in Salford die Entscheidung getroffen, offiziell einen Bürgerhaushalt einzuführen. Er findet im ersten Jahr (2007) in nur einem Stadtteil (bzw. community-Komitee-Gebiet) von Salford
131 Es sind auch kaum Migranten anwesend, was allerdings den geringen Teil Anteil von Migranten an der Gesamtbevölkerung wiederspiegelt. 132 So lassen sich z.B. keine Aussagen über die Beeinflussung der Wahlbeteiligung machen, die in den letzten Jahren, auf insgesamt niedrigem Niveau, stark variierte: 21,04% (2000); 42,77% (2001); 25,07% (2002); 40,07% (2003), 35,53% (2004); 28,14% (2006); 31,3% (2008). 133 Citizen Panels bestehen aus einem Sample mehrerer hundert bis mehrerer tausend Bürger, die in regelmäßigen Abständen zu bestimmten, kommunalen Angelegenheiten befragt werden (Zufriedenheit mit Dienstleistungen, Prioritäten für den Stadtteil/die Stadt etc.).
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statt, wodurch es den hier präsentierten Kriterien eines Bürgerhaushalts nicht entspricht – jedoch denen, die vom PB Unit herangezogen werden. Nicht der Rat hat über die Durchführung des Verfahrens entschieden (er war auch nicht dagegen), sondern die Nachbarschafts-Koordinatoren der Stadt. Grundlage bildet die Summe von 100.000 Pfund (ca. 170.000 Euro), die der Rat allen acht community-Komitees für Arbeiten im Verkehrsbereich übertragen hat. In Claremont/Weaste & Seedley, einem der acht Gebiete, erklären sich der Nachbarschaftsmanager und sein Komitee bereit, einen Bürgerhaushalt durchzuführen. Organisiert und durchgeführt wird dieses Pilotprojekt von einer Gruppe, die sich aus einem lokalen Abgeordneten, dem Nachbarschaftsmanager, einem Mitglied des PB Unit, einem aktiven Bürger und einem Mitarbeiter der privaten Firma, die für den Rat die Verkehrsprojekte durchführt, zusammensetzt. 47 Bürger kommen zu der Veranstaltung des Bürgerhaushalts im Mai 2007 – mehr als die Organisatoren gehofft hatten. Im Vorfeld haben Bürger Vorschläge für die Verteilung des zur Verfügung stehenden Geldes gemacht, einige Projekte kamen auch aus den bestehenden community-Entwicklungsplänen für den Stadtteil. Nach einer freien Diskussionsphase zu Beginn stimmen die Teilnehmer am Ende der Sitzung in einem zweistufigen Verfahren über die Projekte ab (vier Projekte können finanziert werden). Nachdem dieses erste Treffen von den beteiligten Akteuren sehr positiv beurteilt wird, kommt es 2008 zu einem zweiten Durchlauf und das Verfahren wird zusätzlich auf ein weiteres Stadtgebiet ausgeweitet. Es könnte sein, dass noch weitere Gebiete in Salford einen derartigen ‚Bürgerhaushalt‘ einführen, und es zu einem späteren Zeitpunkt sogar eine übergreifende Diskussion zwischen den jeweiligen Stadtgebieten bzw. einen wirklich zweistufigen Prozess auf Stadtteil- und gesamtstädtischer Ebene gibt.134 In Bradford gibt es eine derartige Verwurzelung des Bürgerhaushalts mit den community-Strukturen der Stadt von Beginn an, aber auch hier wird das Verfahren nur in einigen Gebieten und nicht in der ganzen Stadt organisiert. Wichtige Leitgedanken sind von Anfang an das empowerment der lokalen community-Gruppen und die Übertragung von Entscheidungskompetenzen. Im Gegensatz zu Salford sowie der überwältigenden Mehrheit der Erfahrungen mit dem Bürgerhaushalt in Europa, gibt es eine starke Partizipation ethnischer Minderheitengruppen. Die Projekte müssen sozialen Kriterien entsprechen und werden durch die Teilnehmer hierarchisiert. Alle diese Faktoren zusammen genommen machen aus dem Fall Bradford ein Beispiel dafür, wie die Partizipation
134 Die andere Variante ist die Verbreitung dieser Form des ‚Bürgerhaushalts‘ innerhalb der einzelnen Stadt-Gebiete, ohne Kommunikation untereinander. Momentan scheint sich eher diese Form durchzusetzen, die nicht den hier entwickelten Kriterien eines Bürgerhaushalts entspricht, in England aber weit verbreitet ist [Röcke, 2009].
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im Rahmen eines ‚vierten Wegs‘ aussehen könnte. Vielleicht ist der Fall Bradford das erste Symbol der Reorientierung von New Labour in Richtung von mehr empowerment, anstelle wie bisher vor allem k u nd e n orientierte Partizipationsformen zu fördern. Das Beispiel Bradford verdeutlicht jedoch auch einige Grenzen eines auf dem community development basierenden Bürgerhaushalts. Das Verfahren ist nicht für die gesamte Bevölkerung zugänglich, da nur Mitglieder von community-Gruppen Zutritt haben, und auch nur diejenigen, deren Projekt angenommen wurde. Sehr problematisch ist zudem die Tatsache, dass es im Rahmen des Bürgerhaushalts keine Deliberation gibt; es ist nicht einmal Zeit für Nachfragen zu den einzelnen Projekten vorhanden. Die Veranstaltung besteht nur aus einer Vorstellung der Projekte und der Abstimmung darüber, jedoch keiner Diskussion über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Vorschläge. Darüber hinaus handelt es sich bei dem Geld, worüber im Rahmen des Bürgerhaushalts entschieden wird, um funny money, das aus einem nationalen Programm zum Neighbourhood Renewal und nicht aus den kommunalen Finanzen stammt (in Salford hingegen handelt es sich um kommunale Gelder). Sobald das Programm zu Ende geführt ist, versiegt auch die Geldquelle und damit ist der Bürgerhaushalt beendet. Bis zum Jahr 2009 wurde ein derartiges ‚Bürgerhaushaltsevent‘ in Bradford zwar insgesamt sieben Mal organisiert, eine weitere Finanzierung ist jedoch nicht gesichert. Darüber hinaus gibt es Konflikte zwischen dem Local Strategic Partnership (LSP) und dem Rat; vermutlich wird das LSP einige Kompetenzen abgeben müssen und über weniger Handlungsautonomie verfügen. Schließlich hängt die Organisation des Verfahrens maßgeblich vom Engagement einzelner Personen ab (bisher Mitarbeiter von Bradford Vision), da bisher keine institutionelle Verankerung stattgefunden hat. Aus diesem Grund ist die Verbindung zur lokalen politischen Ebene und zur Stadtverwaltung nur sehr schwach ausgeprägt, wodurch auch keine Auswirkungen auf die Verwaltungsmodernisierung und Legitimität der kommunalen Politik zu erwarten sind. Über die beschriebenen Probleme hinaus stellt sich eine grundsätzliche Frage. Besteht bei einem derartigen Modell des Bürgerhaushalts nicht die Gefahr, dass sich eine Parallelstruktur zur kommunalen Politik bildet, die die Legitimationskrise vom local government noch verstärkt? Es ist zwar richtig, dass ein derartiger Bürgerhaushalt innerhalb bestehender Partnerschaftsinstitutionen für mehr Einfluss der Zivilgesellschaft sorgt. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, dass ohne eine umfassende Lösung der strukturellen Probleme der britischen Kommunen der Bürgerhaushalt allein in nur äußerst begrenztem Maß für eine ‚Demokratisierung der Demokratie‘ sorgen kann. Dafür wäre eine größere finanzielle Unabhängigkeit der Kommunen notwendig, ebenso wie mehr Freiräume in der Gestaltung lokaler Politik. In einem White Paper [Communities and Local Government, 2006] wird zwar an die bisherigen Ansätze der Blair-
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Regierung zur Stärkung der Kommunen angeknüpft: So sollen die Gemeinden unter anderem mehr Kompetenzen über lokale Angelegenheiten erhalten sowie die freie Wahl zwischen verschiedenen Modellen der Exekutive haben. Es gibt jedoch kaum Vorschläge zur finanziellen Entlastung für die Kommunen, die weiterhin in Partnerschaft mit Anderen (und insbesondere mit privaten Unternehmen) für eine effiziente Dienstleistungserbringung sorgen sollen. Innerhalb der Kommunen würde der Bürgerhaushalt daher für eine größere Beteiligung der Zivilgesellschaft und dadurch auch für eine Demokratisierung sorgen. Ob die kommunale Politik insgesamt davon profitiert bleibt vorerst jedoch noch eine unbeantwortete Frage.
2.
Polen: Bürgerhaushalt als partizipativer Neoliberalismus?
Die Eingliederung der Bürgerpartizipation in einen Kontext, der sich durch eine liberale Wirtschaftspolitik und die Präsenz öffentlich-privater Partnerschaften auszeichnet, ist in Polen noch deutlicher ausgeprägt als in Großbritannien. Der Bürgerhaushalt macht diese Situation besonders deutlich. Anders als in Großbritannien gibt es keinerlei Einfluss von Porto Alegre auf das Partizipationsverfahren, das stattdessen von der Idee des Public Private Partnership geprägt ist. Welche Rolle haben zivilgesellschaftliche Gruppen (communities) in diesem Kontext? Geht es überhaupt um eine Stärkung der Bürgerbeteiligung und der lokalen Demokratie, oder steht lediglich die Akquirierung von privatem Kapital zur Stärkung finanzschwacher Kommunen im Vordergrund des Interesses? Ein schwieriger Transformationsprozess Der politische Kontext ist in Polen durch eine akute Vertrauenskrise in die politischen Institutionen geprägt. Die Zustimmung der Bevölkerung zum nationalen Parlament und dem Senat hat sich seit der Transformationsphase 1989 bis heute massiv verringert (von knapp 90% im Jahr 1989 auf 25 bzw. 31% im Jahr 2003). Anfang 2003 hielten in einer repräsentativen Umfrage 77% der Befragten die Politiker für unehrlich, 78% für unglaubwürdig, und für 87% der Befragten kümmerten sie sich primär um ihre eigenen Interessen, im Gegensatz zu vier Prozent, die ihnen ein Interesse für ganz Polen zuschrieben. In den Medien gibt es Berichte darüber, dass es im parlamentarischen Milieu einen höheren Anteil krimineller Aktivitäten gibt als im Durchschnitt der Gesellschaft [Ziemer, 2003: 42-43]. Jüngste Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich diese fundamentale Infragestellung der aktuellen Funktionsweise der repräsentativen Demokratie (jedoch nicht der demokratischen Ordnung als solche) von der nationalen Ebene auch auf die Kommunen ausdehnt [Swianiewicz, 2005: 112f.]. Seit vielen Jah-
II/5.2 Polen: Bürgerhaushalt als partizipativer Neoliberalismus?
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ren wird die demokratische Legitimität der Kommunen durch die auch für osteuropäische Verhältnisse niedrige Wahlbeteiligung in Frage gestellt. Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass es in Polen mit der Bewegung SolidarnoĞü eine der stärksten zivilgesellschaftlichen Oppositionsbewegungen im ehemaligen Gebiet des Warschauer Pakts gab. Allerdings hat die ‚neoliberale Wende‘ eines Großteils der Mitglieder dieser Gewerkschaft zu einer Unübersichtlichkeit der politischen Trennungslinien und insbesondere der links-rechts Opposition geführt. Die Transformationsphase war auch durch massive Privatisierungen und eine rasche Ausbreitung gesellschaftlicher Ungleichheiten geprägt, wobei der EU-Beitritt im Jahr 2004 zwar einen gewissen wirtschaftlichen Aufschwung gebracht, jedoch an den weiter bestehenden Ungleichheiten nichts geändert hat. Die Instabilität der Parteienlandschaft und des politischen Systems allgemein (wie sich häufig ändernde Wahlgesetze) sowie die ideologischen Konflikte zwischen Anhängern eines weltanschaulich neutralen Staates und Befürwortern einer zentralen Rolle der katholischen Kirche in den Staatsangelegenheiten135 schaffen eine Situation, die durch große politische und wirtschaftliche Unsicherheit geprägt ist. Auch auf kommunaler Ebene hat sich seit dem Regimewechsel so gut wie alles geändert. Eine Reform der kommunalen Ebene war eine der Prioritäten der ersten postkommunistischen Regierung, die sich im September 1989 bildete. Während die zentralistische Doktrin der kommunistischen Periode keinen Raum für lokale Selbstverwaltung ließ und auch keine Wahlen auf dieser Ebene stattfanden, wurde nach der demokratischen Wende ein System eingeführt, das auf einer relativ weitgehenden Autonomie der Kommunen basiert [Swianiewicz, 2005]. Seit 1998 gibt es in Polen eine offizielle, dreistufige Staatsverwaltung, die auf demokratisch gewählten Kommunen, Regionen und der staatlichen Ebene basiert. Im Jahr 2002 wurde durch eine weitere, weit reichende Reform die Direktwahl des Bürgermeisters eingeführt, der über ausgeprägte Behördenkompetenzen verfügt. Die Folgen dieser Neuerung sind strukturelle Machtkonflikte zwischen Rat und Bürgermeister, der bei unterschiedlicher politischer Färbung noch verstärkt wird [Raciborski, 2005: 179-184]. Im Gegensatz zu Großbritannien gilt die allgemeine Zuständigkeit für kommunale Aufgaben, die durch das Subsidiaritätsprinzip gestützt wird. Die Gemeinden sind rechtsfähig; zu ihren Aufgabengebieten gehören unter anderem die kommunale Wirtschaft, Grundschulen und Kindergärten, die Sozial- und Gesundheitsvorsorge, Büchereien und andere kulturelle Einrichtungen. Ihre Finanzen bestehen aus einer Mischung aus lokal erhobenen Steuern, Anteilen der nationalen Einkommensteuer und Transfers der Zentralregierung.
135 Rund 90% der Bevölkerung in Polen sind getaufte Katholiken.
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II/5 Zwischen community development und Public Private Partnership
Płock: partizipatives Public Private Partnership Die erste polnische Erfahrung mit einem Bürgerhaushalt fand in Płock statt, einer Stadt mit rund 130.000 Einwohnern, die auf eine 1000jährige Geschichte zurückblicken kann. Sie beherbergt das größte Zentrum petrochemischer Industrie in Polen und liegt in der Mitte des Landes, im Einflussgebiet der beiden großen Wirtschaftszentren Warschau und ŁodĨ. Insbesondere die Präsenz der größten polnischen Ölfirma PKN Orlen macht die ökonomische Stärke des Standorts Płock aus. Die Wirtschaftssituation ist stabil und dynamisch und es gibt das zweitgrößte Pro-Kopfeinkommen im nationalen Vergleich (mit einem Haushalt in Höhe von 112 Millionen Euro im Jahr 2004). Problematisch ist jedoch die wachsende Arbeitslosigkeit, die im Jahr 2005 bei rund 20% liegt. Die Stadt wird von einem Bürgermeister der Partei „Gesetz und Gerechtigkeit“ regiert, im Rat gibt es keine eindeutige Mehrheit („Recht und Gerechtigkeit“ verfügen über 8 der 25 Abgeordneten, gefolgt von der Partei „Linke und Demokraten“ (6 Abgeordnete) und drei weiteren Parteien). Der Bürgerhaushalt in Płock geht auf das Jahr 2002 zurück, als in Kooperation zwischen der Stadtregierung, dem Ölkonzern PKN Orlen und dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations Development Program) das „Forum von Płock” gegründet wird. Es handelt sich um ein Public Private Partnership und hat die Verbesserung der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Lebensbedingungen in der Stadt zum Ziel. Auf Initiative der Vereinten Nationen wird das Projekt weiterentwickelt und im Jahr 2003 der Kleine Subventionsfonds für Płock gegründet, in dem neben Stadtregierung und lokaler Wirtschaft auch zivilgesellschaftliche Organisationen vertreten sind. Im Zentrum des Verfahrens (s. Kasten im Teil I) steht die Entscheidung über Projekte für lokale Vereine,136 die diese selbst beantragen und realisieren – aus diesem Grund kann man hier wie in Bradford von einer Form des community development sprechen. Die Verbindung von einer privat-öffentlichen Partnerschaft mit Ansätzen des community development und einer städtischen Entwicklungsstrategie charakterisieren demnach den kleinen Entwicklungsfonds. Für die Initiatoren profitieren alle Beteiligten von der Einrichtung: die Bürger, da es mehr soziale Projekte in der Stadt gibt, die Vereine aufgrund der Finanzhilfen für ihre Aktivitäten, die Stadtregierung, die private Finanzmittel und die Expertise aus der Bürgerschaft für die Stadtentwicklung nutzen kann, und schließlich die Geldgeber selbst. Für sie bedeutet der Fonds nicht nur ein Imagegewinn; die Etablierung derartiger Formen der ‚korporativen sozialen Verantwortung‘ (corporate social
136 Es gibt rund 200 registrierte Vereine in Płock, davon sind jedoch aufgrund von Finanzproblemen lediglich die Hälfte aktiv.
II/5.2 Polen: Bürgerhaushalt als partizipativer Neoliberalismus?
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responsibility) ermöglicht zudem die Akquisition von Finanzmitteln der Europäischen Union. Dies ist vermutlich auch einer der Gründe dafür, dass das Verfahren Płock, das erste in dieser Form, bereits Nachahmer gefunden hat und weitere Städte Interesse daran zeigen. In einem nationalen Kontext, in dem viele Kommunen noch nach einer demokratischen Legitimation suchen, und in dem die Verteilung öffentlicher Subventionen oftmals auf undurchsichtige Weise erfolgt, ist Płock ein Vorbild für viele Städte. Berücksichtigt man jedoch die begrenzte finanzielle Ausstattung, die geringe Autonomie der Zivilgesellschaft und die mangelnde Verbindung zu strategischen Fragen der kommunalen Politik, so wird die begrenzte politische Reichweite des Verfahrens deutlich. Es handelt sich beim Bürgerhaushalt in Płock nicht um ein politisches (Transformations-)Projekt, wie es insbesondere in den südeuropäischen Ländern und ansatzweise auch in Großbritannien der Fall ist. Es findet darüber hinaus außerhalb der kommunalen Entscheidungsgremien statt und hat daher keinerlei Konsequenzen auf wichtige politische Entscheidungen oder mögliche Reformprozesse der Verwaltung. Die soziale Dimension der Prozedur, insbesondere die Unterstützung lokaler Vereine, ist ohne Zweifel lobenswert, ändert aber nichts an der letzten Endes dominierenden Rolle der politischen und wirtschaftlichen Vertreter. Dies ist ein entscheidender Unterschied zum Verfahren in Bradford, wo der auf dem community development basierende Bürgerhaushalt noch stärker mit der Idee eines empowerment der lokalen Gruppen zusammenhängt. In Płock hingegen sollen die lokalen Vereine funktionstätig sein, um soziale Leistungen übernehmen zu können, es geht aber nicht darum, dass sie mehr Macht erhalten. Die geringe Rolle der Zivilgesellschaft bzw. die geringe demokratische Öffnung des Verfahrens insgesamt, macht aus dem Beispiel Płock einen Grenzfall hinsichtlich der europäischen Bürgerhaushalte. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Initiatoren nicht von einem Bürgerhaushalt reden, sondern vielmehr von einem ‚kleinen Fonds‘ oder einer ‚öffentlich-privaten Partnerschaft‘. Gleichzeitig ist die Grundstruktur eines Bürgerhaushalts gegeben, und die Erfahrungen aus Großbritannien machen deutlich, dass sich die demokratische Dimension des Verfahrens (die Stärkung der zivilgesellschaftlichen Akteure) verbessern kann. Darüber hinaus gibt es Anlass für die Vermutung, dass sich derartige Formen des ‚partizipativen Public Private Partnerships‘ in Polen, wie auch in anderen osteuropäischen Ländern und auf der Südhalbkugel weiter ausbreiten werden.137 Sie stellen eine Priorität im Rahmen des
137 Im Jahr 2007 haben in Polen die Städte Ostrów Wielkopolski, Watbrzych und Tarnów ein ähnliches Verfahren eingeführt. Allerdings ist die Zukunft des Bürgerhaushalts in Płock derzeit ungewiss, da der Subventionsfonds in eine Stiftung überführt wurde. Dies ist von daher
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II/5 Zwischen community development und Public Private Partnership
Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen dar und sind (innerhalb Europas) auch eine Voraussetzung dafür, bestimmte Fördermittel der EU zu erhalten. Stellt dieser Ansatz nur ein geeignetes Verfahren dar, damit finanzschwache Kommunen privatwirtschaftliche Gelder zur Stadtentwicklung erhalten? Die Erfahrung aus Płock spricht eher gegen diese Hypothese. Es handelt sich um eine wirtschaftlich prosperierende Stadt, die es sich ‚leistet‘, ein derartiges Verfahren durchzuführen (die Stadtregierung bezahlt über die Hälfte der FondsSumme und finanziert einen Angestellten zur Organisation des Verfahrens). Ohne Zweifel hat der Imagegewinn, als erste große Stadt eine derartige Prozedur durchzuführen, eine motivierende Rolle bei der Entscheidung gespielt.138 Allein daraus lässt sich die Einrichtung des ‚kleinen Fonds‘ jedoch nicht erklären.
3.
Eine widersprüchliche Situation
Welche Schlüsse lassen sich aus der Vorstellung des Bürgerhaushalts in Płock, Salford und Bradford ziehen? Die Verbindung mit den Ideen des community developments stellt im europäischen Vergleich die Originalität der Bürgerhaushalte in diesen Städten dar. Im Gegensatz zu den meisten Erfahrungen mit dem Bürgerhaushalt in Europa (Ausnahmen sind lediglich einige Beispiele, die sich an das Modell ‚Porto Alegre in Europa‘ annähern) haben sie eine ausgeprägte soziale Dimension, da es um die Förderung bzw. sogar das empowerment lokaler Gruppen geht, die selbstständig Prioritäten entwickeln und diese realisieren. Problematisch ist hingegen die Tatsache, dass die Beteiligung auf Mitglieder der communities oder Vereine beschränkt bleibt und es nur eine schwache Verbindung zur kommunalen Politik und Verwaltung gibt – grundsätzlich besteht sogar die Tendenz der Herausbildung paralleler Strukturen zur kommunalen Politik. Im Vergleich zu der Situation in Deutschland ist die Tatsache bemerkenswert, dass der Bürgerhaushalt durch die Verbindung mit dem community development an bestehende, lokale Strukturen der Bürgerbeteiligung anknüpft. Damit ist zwar nicht automatisch der Erfolg des partizipativen Haushalts verbunden; die beschriebenen Beispiele haben die bestehenden Probleme verdeutlicht. Dennoch ist eine wichtige Grundlage dafür gelegt, dass sich dieses Modell wei-
problematisch, als dass ein neues Gesetz verbietet, öffentliche Gelder in eine private Stiftung fließen zu lassen. 138 So heißt es auf der Internetseite der Vereinten Nationen, dass es sich um „die erste große privat-öffentliche Partnerschaft in Osteuropa seit Generalsekretär Kofi Annans Appell für Kooperation beim Weltkongress zur nachhaltigen Entwicklung“ handelt. [www.undp.org/ business/examples_pov.html]
II/5.3 Eine widersprüchliche Situation
233
ter ausbreiten wird. Zumindest in Großbritannien geht die Tendenz eindeutig in diese Richtung. Deutlich wurde in der Präsentation der drei Städte ebenfalls, dass es sehr unterschiedliche Ausprägungen des Modells community development gibt. Während der Bürgerhaushalt in Bradford dem Idealtyp dieses Verfahrens am nächsten kommt, ist es auch in Salford vorhanden, wobei sich hier die Prozeduren noch mehr auf einzelne Stadtteile beziehen. In Płock wiederum verbindet sich das community development mit der Idee der ‚öffentlich-privater Partnerschaften‘. Die Vorstellung des empowerments lokaler communities ist sehr schwach ausgeprägt, sie sollen lediglich unterstützt werden, um soziale Dienstleistungen übernehmen zu können (die im Kontext eines liberalen Wohlfahrtsstaates nicht mehr vom Staat geleistet werden). Es gibt einen großen Einfluss wirtschaftlicher Akteure, da sie einen erheblichen Teil der Fondsgelder beisteuern. Während der Bürgerhaushalt in Großbritannien potenziell sowohl eine Alternative zu den kundenorientierten Formen der Beteiligung als auch zu den herkömmlichen, oftmals von wirtschaftlichen Akteuren dominierten Public Private Partnerships darstellt, wird in Płock die Beteiligung der Wirtschaft als großer Vorteil betrachtet. Der Bürgerhaushalt ist dementsprechend explizit als ‚partizipative öffentlich-private Partnerschaft‘ angelegt. In diesem Fall steht die partizipative Dynamik am diametral gegenüberliegenden Ende von Porto Alegre. Man könnte sogar von einem partizipativen Neoliberalismus sprechen, also einer Dynamik, in der die Bürgerpartizipation im Dienst wirtschaftlicher Interessen steht und als Vorwand für eine weitere Aushöhlung staatlicher Funktionen dient. Obwohl große Unterschiede zwischen einem Bürgerhaushalt im Sinne von community development oder von öffentlich-privaten Partnerschaften bestehen, gibt es eine parallele Tendenz in Bezug auf das Verhältnis von (lokalem) Staat und Bürgerbeteiligung. In beiden Fällen fehlt eine starke Verbindung von Staat und Partizipation, was im Gegensatz zu der Situation in Frankreich und Deutschland steht: Sowohl im Rahmen der ‚bürgernahen Partizipation‘ als auch beim Modell ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘ gibt es eine enge Verbindung von kommunaler Politik (Staat) und Bürgerbeteiligung. Vor diesem Hintergrund sind die jüngsten Entwicklungen in Großbritannien besonders interessant. Wenn die Ankündigung einer flächendeckenden Einführung bis 2012 tatsächlich realisiert werden, so bedeutet dies ohne Zweifel eine neue Etappe in der Entwicklung des Bürgerhaushalts in Europa.
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4.
II/5 Zwischen community development und Public Private Partnership
Ist die Erfahrung von Porto Alegre auf Europa übertragbar?
Im Anschluss an das letzte Kapitel ist es nunmehr möglich, eine Einschätzung über die Hypothese des ‚Porto Alegre-Effekts‘ zu geben, die wir dem zweiten Teil vorangestellt hatten. Die Verbindung zwischen der Verbreitung von Bürgerhaushalten in Europa und der Hauptstadt der globalisierungskritischen Bewegung ist deutlich geworden. Die Transferprozesse, die über Reisen, Netzwerke, verfahrenstechnische oder ideologische Anleihen stattfanden, waren entscheidend für die Verbreitung dieser Prozedur in Europa. Ohne das brasilianische Beispiel und seine Aufnahme durch die globalisierungskritische Bewegung und andere Akteure, insbesondere linke politische Parteien bzw. Aktivisten, hätte es die aufgezeigte Entwicklung auf dem alten Kontinent nicht gegeben. Auch Deutschland ist Teil dieser Entwicklung.139 Die Vorstellung, dass es allein durch das Vorbild Porto Alegre zu einer rasanten Entwicklung des Bürgerhaushalts kam, muss jedoch relativiert werden. In vielen Ländern in Europa und der Welt gibt es noch keine Bürgerhaushalte, und dort, wo sie bestehen, sind die angewandten Verfahren extrem unterschiedlich. Wenn man sich näher mit der konkreten Beteiligungsdynamik oder mit den Auswirkungen der Verfahren auf Verwaltung und Politik auseinandersetzt, stellt man fest, dass die Unterschiede gewaltig sind. Sie bestehen selbst innerhalb eines Landes zwischen verschiedenen Städten und können sehr oft auf den Einfluss lokaler Akteure zurückgeführt werden. Manchmal ist bereits das Handeln einer einzigen Person, z.B. eines Bürgermeisters, eines Beigeordneten, eines Verantwortlichen aus der Verwaltung oder eines zivilgesellschaftlichen Akteurs, ausschlaggebend für eine tiefgreifende Modifikation des Verfahrens. Neben diesen lokalen Unterschieden haben unsere Untersuchungen darüber hinausgehende Divergenzen aufgezeigt: die politische Kultur und das politische System des jeweiligen Landes, die unterschiedliche Verbindung von Bürgerbeteiligung und Verwaltungsmodernisierung sowie die Integration der Beteiligungsverfahren in den politischen Gesamtkontext. Man braucht keine weitreichende Vergleichsstudie durchzuführen, um zu dem Schluss zu kommen, dass eine direkte Übernahme des brasilianischen Verfahrens aus Porto Alegre in Europa nicht möglich ist und dass jede Übertragung auch eine Neuerfindung sein muss. Doch mit Hilfe des vorhergehenden, detaillierten Überblicks ist es nun möglich, einen Schritt weiter zu gehen und die
139 Auch wenn es mit Christchurch eine andere Referenzstadt gab und bei der Entwicklung der Bürgerhaushalte keine Anstrengung unternommen wurde, sich an die brasilianische Vorzeigestadt anzulehnen, so hat dennoch der rhetorische Verweis auf Porto Alegre in Deutschland dazu beigetragen, die Idee einer neuen Form der Bürgerbeteiligung zu verbreiten und einer Öffentlichkeit außerhalb der einschlägigen Verwaltungs- und Modernisiererszene bekannt zu machen.
II/5.4 Ist die Erfahrung von Porto Alegre auf Europa übertragbar?
235
Analyse zu verfeinern. Nimmt man das Beispiel der demokratischen Verfassungen, die nach den Revolutionen in Frankreich und Amerika oder nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fast überall in Europa und in der ganzen Welt kopiert oder nachgeahmt wurden, so wird klar, dass man zwischen zwei Fällen unterscheiden muss: Auf der einen Seite die, in denen die Neu-Adaptation im Wesentlichen dieselbe sozio-politische Prägung wie das Ursprungsmodell hat und auf der andere Seite jene, in denen es kaum eine Ähnlichkeit mit dem Original gibt. So hat z.B. das Grundgesetz von 1949 in der Bundesrepublik Deutschland zu einem politischen System geführt, das trotz seiner Besonderheiten auch gewisse Gemeinsamkeiten mit den Systemen in Frankreich, Großbritannien oder den USA aufweist. Die formale Übertragung westlicher Verfassungen in einige afrikanische Länder oder in manche Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion hingegen hat die vorhandenen, sozio-politischen Realitäten vor Ort nur sehr wenig verändert, so dass sie sich nach wie vor sehr stark von den westlichen Demokratien unterscheiden. Handelt es sich bei den europäischen Bürgerhaushalten im Wesentlichen um eine echte Anpassung des brasilianischen Modells, oder vielmehr um ‚entwurzelte Kopien‘, die in keiner Verbindung mit der europäischen politischen Kultur stehen? Diese Frage lässt sich nicht einfach mit Verweis auf die großen Unterschiede zwischen dem brasilianischen und dem europäischen Kontext von der Hand weisen, da es innerhalb Europas sehr große Differenzen gibt und manche europäische Beispiele dem Vorbild Porto Alegre näher kommen als andere. Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte so aussehen: Zwar gab es in Europa keine reine Multiplikation der Erfahrung von Porto Alegre, und auch die sozialen wie politischen Auswirkungen des brasilianischen Vorbilds finden kaum eine Entsprechung; dennoch hat es einen Transferprozess von Ideen und Praktiken gegeben (erst von einem Kontinent zum anderen und dann innerhalb Europas von einer Stadt, Region oder Land zum anderen). Auch wenn man die Ebene der empirischen Beschreibung verlässt und versucht, eine politische oder normative Perspektive einzunehmen, ließe sich kein Idealmodell konstruieren, das keinerlei Nachteile aufweist. Dies liegt daran, dass politische Experimente nicht im Labor durchgeführt werden und kontextuelle Bedingungen oder die Pfadabhängigkeit bestimmter Ideen und Praktiken nicht einfach eliminiert werden können. Die lokalen Initiatoren der Bürgerhaushalte versuchen sehr oft, bestehende Verfahren mit neuen Ideen zu verbinden und dadurch Misch-Typen zu entwickeln. Obwohl es bisher wenige komparative Studien oder transversale Kriterien zur Evaluation des Bürgerhaushalts gibt, die es den Akteuren erlauben würden, entsprechend ihrer politischen Ziele und Handlungsmöglichkeiten eine Wahl für das am besten geeignete Verfahren zu treffen, so scheint dieser Beteiligungsprozedur noch eine spannende Zukunft
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II/5 Zwischen community development und Public Private Partnership
bevor zu stehen. Sie begegnet einem wachsenden Interesse und die Zahl der neuen Beispiele wächst von Jahr zu Jahr. Um in unserer Analyse einen Schritt weiter zu kommen, müssen wir uns nach Vorstellung der konkreten Beispiele nun wieder um eine allgemeinere Klassifizierung und Konzeptualisierung bemühen und die makropolitischen Zusammenhänge offen legen, die wir in den Fallstudien einzeln untersucht haben. Worum geht es wirklich bei den europäischen Bürgerhaushalten und der partizipativen Demokratie im Allgemeinen? Entsprechen die Ergebnisse auch nur teilweise den verkündeten Zielen einer Demokratisierung der Demokratie, der Förderung sozial Benachteiligter und der Reform der öffentlichen Verwaltung?
Teil III Herausforderungen und Ergebnisse der Bürgerbeteiligung
An diesem Punkt der Arbeit soll die im ersten Teil begonnene Querschnittanalyse wieder aufgenommen werden, allerdings unter einer erweiterten Perspektive, die über den Bürgerhaushalt hinausgeht und nach den Chancen, Problemen und Herausforderungen partizipativer Politik und der Demokratie im Allgemeinen fragt. Ein solches Vorgehen, das sich am bereits erwähnten „Denken auf Grundlage von Fallstudien“ [Passeron/Revel, 2005] (Teil 1, Kapitel 1) orientiert, scheint in mehrerlei Hinsicht gerechtfertigt zu sein: Die europäischen Bürgerhaushalte sind nicht zufällig entstanden, sondern sie sind Teil einer umfassenderen Geschichte der Partizipation und der lokalen Demokratie, die je nach Land und Stadt jeweils eigene Besonderheiten aufweist. Die zunehmende Verbreitung der Bürgerhaushalte ist kein isoliertes Phänomen. Sie ist vielmehr Teil und Motor eines allgemeinen Trends, in dessen Folge es zu einer zunehmenden Verbreitung von Verfahren der Bürgerbeteiligung kommt. An dieser Stelle sollen drei Hypothese aufgestellt werden: Wir haben es hier erstens mit einer zwar erst im Anfangsstadium befindlichen, aber dennoch bedeutenden Tendenz zu tun, die mehr ist als eine Modeerscheinung. Zweitens stellen die von uns untersuchten Beispiele lediglich die ersten sichtbaren Anzeichen dieser Veränderungen dar. Betrachtet man diese Veränderungen in ihrer Gesamtheit, muss man drittens feststellen, dass es in Europa nicht e i n Modell partizipativer Demokratie gibt, sondern sechs Modelle der Bürgerbeteiligung, die sich sehr unterschiedlich entwickeln und lediglich eine partielle Konvergenz aufweisen. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, sollte man bei der Untersuchung dieser Entwicklung nicht vereinfachend vorgehen, indem man etwa ein eindimensionales oder dichotomisches Analyseraster anlegt. Vielmehr sollte es darum gehen, jedes der sechs Modelle in einer Querschnittanalyse zu untersuchen. Aus dieser Vorgehensweise ergibt sich auch die Struktur dieses dritten Teils: Nach einer Vorstellung der sechs europäischen Partizipationsmodelle (Kap. 1) sollen die Auswirkungen und Entwicklungschancen der Bürgerhaushalte (und allgemeiner: von Beteiligungsverfahren) systematisch untersucht werden, wobei jeweils folgende Aspekte im Vordergrund stehen: ihre Verbindung zur Verwaltungsmodernisierung (Kap. 2), die Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Alternative zum Neoliberalismus (Kap. 3) sowie die Frage der Demo-
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Teil III Herausforderungen und Ergebnisse der Bürgerbeteiligung
kratisierung der Demokratie (Kap. 4). Am Schluss werden diese Überlegungen dann in einigen abschließenden Gedanken zusammengeführt.
Kapitel 1
Die sechs Modelle der Partizipation
Nach der Vorstellung zahlreicher europäischer Beispiele des Bürgerhaushalts im zweiten Teil der Arbeit geht es nun darum, die Analyseelemente zu systematisieren und eine zweite Typologie zu präsentieren, die jedoch anders als die erste (aus Teil eins des Buches) über die Beschreibung von Verfahren hinaus geht. Diese zweite Typologie enthält eine größere Zahl an Kategorien und beansprucht eine größere heuristische Reichweite als nur den Bürgerhaushalt. Unsere Vorgehensweise bleibt jedoch grundsätzlich dieselbe, denn auch hier geht es darum, die empirischen Fälle in einer ‚konzeptuellen Karte‘ zu präsentieren. Umfassende quantitative Analysen sind hier allein schon deshalb ungeeignet, weil es sich um ein junges Phänomen handelt. Diese zweite Typologie dient nicht nur zum besseren Verständnis der großen Vielfalt der europäischen Bürgerhaushalte, sondern wir sehen sie ebenso als hilfreiche Analysefolie zur Untersuchung anderer partizipativer Verfahren, obwohl die Modelle und Kriterien hierfür eventuell ergänzt, angepasst oder korrigiert werden müssen. Man wird bei der Lektüre dieses dritten Teils schnell feststellen, dass die verfahrenstechnischen Idealtypen aus Teil I und die allgemeinen Modelle, die im Folgenden präsentiert werden, einander nicht hundertprozentig entsprechen. Dies erklärt sich schon allein daraus, dass die Verfahren nur eine von vielen Dimensionen darstellen, aus denen sich die allgemeiner konzipierten Beteiligungsmodelle zusammensetzen. Ein weiterer Grund ist, dass sich die Verfahrenstypologie ausschließlich auf die Bürgerhaushalte bezieht, während es bei der allgemeinen Typologie darum gehen soll, größere Zusammenhänge in den Blick zu nehmen. Und doch ähneln sich die beiden Typologien auf gewisse Weise, was schon daran ersichtlich wird, dass für die ‚konzeptuelle Karte‘ die Form des Sechseckes übernommen wird (vgl. Abb. 8 + 12).140
140 Dieser Umstand ist in Teilen dem Bestreben geschuldet, die Ergebnisse so klar wie möglich darzustellen, dabei jedoch nicht durch zu viele unterschiedliche Typologien zu verkomplizieren. Wenn durch dieses Vorgehen manche Nuancen weggefallen sind, so soll dies durch die graphische Ähnlichkeit der Typologien ausgeglichen werden, die zu einer besseren Nachvollziehbarkeit der Gesamterklärung beiträgt. Zudem ist es recht logisch, dass jedes der allgemeinen Modelle einem bestimmten Verfahren einen besonderen Platz einräumt, zumindest wenn es um die Bürgerhaushalte geht. Und schließlich erscheint es angesichts der Tatsache, dass die Verfahrenstypen der Bürgerhaushalte auf Grundlage bestehender partizipativer Traditionen konstruiert wurden, einleuchtend, dass die Verfahrenstypologie gewisse Ähnlichkeiten mit der
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III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
Welche Faktoren gilt es bei der Konstruktion der verschiedenen Modelle der Bürgerbeteiligung zu berücksichtigen? Vieles scheint dafür zu sprechen, sich nicht alleine auf die Kriterien zu konzentrieren, die am meisten ins Gewicht fallen, sondern – um die Gefahr einer monokausalen Interpretation zu vermeiden – eher eine große Bandbreite an Parametern zu berücksichtigen. Allerdings impliziert bereits die Auswahl der Analysefaktoren eine gewisse theoretische Festlegung, die wiederum Auswirkungen auf die Analyse des Untersuchungsgegenstandes hat. Wir haben uns dafür entschieden, die folgenden vier Kategorien zugrunde zu legen: SOZIOPOLITISCHER UND ÖKONOMISCHER KONTEXT. Die Länderstudien in Teil II haben gezeigt, wie sehr die unterschiedlichen Kontexte die jeweilige Entwicklung der Bürgerhaushalte beeinflussen. Selbst wenn man bei der Untersuchung davon ausgeht, dass die Handlungen der Akteure kontingent sind, sollte man doch nicht übersehen, dass deren Entscheidungen nie ganz unabhängig von ihrem Kontext (z.B. Ort und Zeit) betrachtet werden können. So kann dasselbe Verfahren, kann derselbe politische Wille je nach dem soziopolitischen Kontext unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen. Es ist daher von großer Bedeutung zu wissen, wie in einem bestimmten Kontext Markt, Staat und dritter Sektor zueinander stehen oder welcher Typ von Sozialstaat (liberal, konservativ oder sozialdemokratisch) und von Kapitalismus (liberal, kontinental, sozialdemokratisch, mediterran, asiatisch) vorherrschend sind. Weiterhin sollten die politischen Machtverhältnisse berücksichtigt werden, die Handlungsspielräume der Kommunalverwaltungen und der Grad der Verwaltungsmodernisierung.
Typen des Wohlfahrtsstaats und des Kapitalismus Seit den 1980er Jahren haben sich viele Wissenschaftler gegen die These ausgesprochen, dass sich alle Länder in Richtung eines neoliberalen Wohlfahrtsstaats entwickeln. Nach Gøsta Esping-Andersen [1990] gibt es drei Typen von Wohlfahrtsstaaten, die sich durch folgende Kriterien unterscheiden: den Grad der Dekommodifizierung (Abkopplung sozialer Leistungen vom Markt, insbesondere durch Erhöhung der staatlichen Ausgaben), allgemeine oder spezifische Vergabekriterien für Sozialleistungen, den Grad sozialer Sicherheit, die Verbindung von Staat und wirtschaftlichem Entwicklungsmodell sowie die Reglementierung des Arbeitsmarkts. Der sozialdemokratische
allgemeinen Typologie aufweist. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die im Folgenden vorgeschlagene Typologie in erster Linie für den europäischen Kontext konstruiert wurde und nicht ohne weiteres auf den Rest der Welt übertragen werden kann.
III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
241
Typ, der in erster Linie in den skandinavischen Ländern entwickelt wurde, ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Dekommodifizierung und ein entwickeltes soziales Sicherungssystem basierend auf einem universalistischen Prinzip der Leistungsvergabe. Der konservative Typ, der vor allem in Deutschland und Frankreich anzutreffen ist, bietet eine weniger umfassende soziale Sicherheit und legt bei der Vergabe von Sozialleistungen eine strenge Kategorisierung in verschiedene Berufsgruppen zugrunde. Der liberale Typ eines Wohlfahrtsstaats, der für Großbritannien und die USA charakteristisch ist, bietet eine noch geringere soziale Sicherheit und räumt dem wirtschaftlichen Sektor größere Freiräume ein. Diese Typologie hat eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten hervorgerufen, die sie bestätigen, modifizieren oder vervollständigen [Guillemard, 2002]. Einige Kritiker weisen auf die Vermischung idealtypischer Modelle und konkreter Länder hin, die sich vor dem Hintergrund der Weiterentwicklung der Systeme sozialer Sicherung in den zurückliegenden Jahrzehnten als problematisch herausstellt. Andere merken an, dass sich eine gänzlich andere Typologie ergeben hätte, wenn man bei der Konstruktion der Modelle die unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen durch die staatliche Sozialpolitik berücksichtigt hätte [Lewis, 1992; Orloff, 1993; Sainsbury, 1999]. Während sich die Typologie von Gøsta Esping-Andersen, in der es um das Verhältnis von Sozialstaat und Kapitalismus geht, auf den Sozialstaat konzentriert, legen andere Autoren den Schwerpunkt eher auf den Kapitalismus [Hall/Soskice 2001]. Einen der jüngsten Versuche in diese Richtung stellen die Arbeiten von Bruno Amable [2005] dar, in denen die soziale Sicherung nur einen von fünf Parametern darstellt. Hinzu kommen der Wettbewerb auf dem Produktmarkt, die Lohnverhandlungen und Arbeitsmarktinstitutionen, der Finanzmarkt und das corporate governance (Kontrolle und Management von Unternehmen) und schließlich die Bildungspolitik. Aufbauend auf diesen Kategorien unterscheidet Bruno Amable fünf Typen des Kapitalismus: den sozialdemokratischen Kapitalismus (im Wesentlichen in Skandinavien anzutreffen), den kontinentalen Kapitalismus (Deutschland, Frankreich), den mediterranen Kapitalismus (Italien, Spanien), den liberalen Kapitalismus (Großbritannien, USA) sowie den asiatischen Kapitalismus. Für die vorliegende Arbeit sind diese Überlegungen in mehrerlei Hinsicht interessant: Zum einen bieten sie, nicht zuletzt durch die Debatten, die sie ausgelöst haben, methodologische Anregungen für die Konstruktion idealtypischer Modelle. Obwohl sie verschiedene allgemeine Entwicklungstendenzen berücksichtigen, machen sie deutlich, dass der Gedanke einer Konvergenz auf einen einzigen institutionellen Typ zurückzuweisen ist. Und
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III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
schließlich haben wir die oben behandelten Typen von Wohlfahrtsstaaten und Kapitalismus als Bestandteil der kontextuellen Variablen in unsere Typologie aufgenommen und die Frage gestellt, ob es eine Verbindung zwischen bestimmten europäischen Typen des Wohlfahrtsstaats oder des Kapitalismus und bestimmten Formen der Partizipation gibt.
NORMATIVE RAHMEN UND POLITISCHER WILLE. Es ist kaum möglich, die Bedeutung der normativen Dimension von Politik zu leugnen – ob diese nun in expliziten Zielsetzungen (dem ausdrücklichen politischen Willen) zum Ausdruck kommt oder in Form ideeller Vorstellungen, derer sich die Akteure selbst nicht immer bewusst sein müssen. In vergleichbaren institutionellen, ökonomischen oder gesellschaftlichen Kontexten wird von dieser normativen Dimension nicht nur die Entscheidung beeinflusst, welches konkrete Partizipationsverfahren eingeführt wird, sondern auch die konkrete Form, die dieses haben soll. Wir haben deshalb Frage nach den erklärten Zielen der jeweiligen Beteiligungsprozesse gestellt (siehe dazu Teil III, Kapitel 2). Weiterhin geht es darum zu klären, welchen Einfluss der (erklärte oder implizite) politische Wille auf die tatsächliche Entwicklung des Verfahrens hat. Darüber hinaus gilt zu untersuchen, ob die Partizipation ein Ziel an sich darstellt oder ein Mittel zur Erreichung anderer Ziele ist. Grundsätzlich ermöglicht eine Analyse der leitenden Zielstellungen auch einen Einblick in die allgemeine, politische Orientierung derjenigen Institution (z.B. eine Kommune), die das Verfahren einführt. Schließlich ist es in unserer Forschung darum gegangen, über die erklärten Ziele hinaus die normativen Rahmen der Handlungen zu verstehen.
Die normativen Rahmen Der Begriff des ‚Rahmens‘ (frame) wird häufig mit Erving Goffman [1977] in Verbindung gebracht. Dieser verwendet ihn, um Wahrnehmungs- und Analyseschemata zu beschreiben, deren sich Akteure spontan bedienen, um sich in ihrer sozialen Umwelt zurechtzufinden. Diese können zugleich kognitiv, normativ und affektiv sein. In einigen Aspekten erinnert der Begriff an die Theorien von Pierre Bourdieu, wobei Rahmen allerdings weniger als der ‚Habitus‘ von der Stellung der Akteure innerhalb der Sozialstruktur abhängen; es handelt sich vielmehr um unbestimmtere Realitäten, die stark von kontingenten Entwicklungen und konkreten Situationen beeinflusst werden.
III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
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Seit Mitte der 1980er Jahre wird der Begriff des Rahmens von einigen nordamerikanischen Wissenschaftlern in die soziale Bewegungsforschung eingeführt, um zu untersuchen, welche Rolle ‚Ideen‘ (Ideologien, Normen, Symbole) in sozialen Mobilisierungsprozessen spielen. Dieser Aspekt wurde zuvor vernachlässigt, da man soziale Proteste eher als das Ergebnis von Kosten-Nutzenrechnungen verstanden und die Forschung sich verstärkt auf die materiellen wie immateriellen Ressourcen als die Hauptwesenszüge von kollektiver Mobilisierung konzentriert hatte [Zald/Ash, 1966; Tilly, 1978]. Vor diesem Hintergrund wurde das Konzept der Rahmen eingeführt, um eine andere, wichtige Dimension kollektiven Handelns zu verstehen. Mit dem Rahmenbegriff konnte man z.B. die psychosoziologischen Prozesse erklären, aus denen ‚einfache‘ Bürger zu politischen Aktivisten werden [Gamson, 1992]. In den meisten Fällen herrscht jedoch in der Bewegungsforschung eine instrumentelle Definition des Rahmenbegriffs vor: Die Anführer von Bewegungen geben ideologische Schemata (‚Rahmen‘) vor, um Mitstreiter zu rekrutieren und eine größtmögliche Zahl an Sympathisanten zu erreichen (ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Sprache der Bürgerrechte in den Vereinigten Staaten in den 1960er Jahren) [Benford, 1997; Snow/Benford, 1988; Cefaï, 2007; Mathieu, 2002]. In diesem Punkt unterscheidet sich die Verwendung des Begriffs deutlich von der Interpretation Erving Goffmans. Diese aus dem englischsprachigen Raum stammenden Theorien weisen einige Berührungspunkte mit solchen Traditionen auf, in denen normative Positionen Ideologien darstellen, die die Interessen bestimmter sozialer Gruppen ausdrücken bzw. diese Interessen durch vorgeblich auf das Gemeinwohl abzielende Argumente verschleiern. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass die Rahmen-Theorien der sozialen Bewegungsforschung vor allem zur Untersuchung der strategischen Verwendung von Rahmen verwendet werden (dort, wo insbesondere marxistische Flügel betonen, dass die Ideologien ‚im Rücken‘ der Akteure, d.h. ohne ihr Wissen agieren) und insbesondere Handlungen der Bewegungsanführer untersuchen (während in der marxistischen Tradition auch die ‚kreativen Kapazitäten der Massen‘ berücksichtigt werden). Des Weiteren wird unter einer Ideologie im Allgemeinen eine kohärente und recht umfassende Vorstellung der Welt verstanden, während Rahmen eher fragmentarischer Natur sind, sich auf konkrete Situationen beziehen und verschiedene Interpretationen zulassen [Röcke, 2009].141
141 Der Begriff des Rahmens evoziert in Teilen auch den der cité (dt. ‚Polis‘), den Luc Boltanski und Laurent Thévenot entwickelt haben [2007]. Diese poleis sind ebenfalls normative handlungsanleitende Referenzen, auf die sich die Akteure in der Regel implizit beziehen, wenn sie sich gegenseitig kritisieren und rechtfertigen. Da sie einem solchen dialogischen Kontext ent-
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III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
Aus den genannten Gründen soll der Begriff des Rahmens im Folgenden eher frei verwendet werden. In einer pragmatischen Perspektive, die sich stärker an der Definition Goffmans orientiert, werden wir zur Untersuchung der partizipativen Verfahren von normativen Rahmen als einer Art ‚semitheoretischem Orientierungsraum‘ der Akteure sprechen, der es ihnen erlaubt, ihrem Handeln einen Sinn zu geben. Solche Rahmen können recht umfassend oder im Gegenteil auch sehr beschränkt sein. Sie werden regelmäßig modifiziert und umformuliert, da sie von kontextuellen Veränderungen beeinflusst werden. Als Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata beziehen sich die Akteure in der Regel unbewusst auf sie, weshalb sie sich auch nicht unbedingt mit den offiziell verkündeten Zielen der Beteiligungsverfahren decken. Dennoch kommt es häufig vor, dass ein beschränkter oder umfassender Teil der ihnen zugrunde liegenden Logik in Momenten der „Bewährung“ diskutiert wird [Boltanski/Thévneot, 2007]. In diesen „Bewährungsproben“ [ibid.], die in klassischen öffentlichen Foren wie dem Parlament oder auch während einer Versammlung des Beteiligungsverfahrens stattfinden können, kritisieren und rechtfertigen sich die beteiligten Akteure (Politiker, Verwaltungsmitarbeiter, Vereinsmitglieder, nicht organisierte Bürger) gegenseitig. Die normativen Rahmen werden nur dann zu Ideologien im klassischen Sinn, wenn sie mit ausschließlich strategischer Zielsetzung verwendet oder wenn sie jeder Möglichkeit, sie ernsthaft zu kritisieren, entzogen werden.
ANGEWANDTE VERFAHREN. Auch wenn die allgemeine Typologie der Bürgerbeteiligung über die Ebene der Verfahren hinausgehen muss, heißt dies nicht, dass diese außer Acht gelassen wird. Während die politische Theorie in den letzten Jahrzehnten eher die Verfahrensrationalität in demokratischen Prozessen untersuchte, hat die Soziologie in erster Linie analysiert, wie die Interaktionen zwischen Akteuren in einem bestimmten know-how und einem bestimmten materiellen Kontext verwurzelt sind. Selbst bei dem gleichen soziopolitischen
stammen, eignen sie sich nur bedingt für eine instrumentelle Nutzung, wie sie die frameTheoretiker der sozialen Bewegungsforschung im Sinn haben. Bei einer empirischen Untersuchung wie der vorliegenden besteht die Schwierigkeit des Begriffs von Luc Boltanski und Laurent Thévenot darin, dass er auch eine zweite Bedeutung hat: Er soll erklären, wie eine aus der Konfrontation der poleis entstandene, legitime Ordnung möglich ist. Um dies zu leisten, sind Boltanski und Thévenot gezwungen, die poleis auf sehr spezifische Weise zu konstruieren: Sie sind in ihrer Zahl begrenzt, normalerweise aus großen philosophischen Werken abgeleitet, weisen eine feste und unabänderliche innere Struktur auf und müssen, um diese Bezeichnung zu tragen, einer Reihe normativer Kriterien entsprechen. Es scheint daher schwierig zu sein, diese begrenzten poleis-Formen mit der Vielzahl normativer Vorstellungen der Initiatoren der europäischen Bürgerhaushalte in Verbindung zu bringen.
III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
245
Kontext und denselben normativen Rahmen kann sich die dem Beteiligungsprozess zugrunde liegende Dynamik sehr unterscheiden, je nachdem welche konkreten Instrumente und Verfahren verwendet werden. Es stellt sich daher die Frage, in welchem Modell dieser zweiten allgemeinen Typologie sich die im ersten Teil der Arbeit dargestellten Verfahrenstypen wiederfinden. Welches sind die konkreten Verfahren, die im Rahmen eines jeden der sechs Globalmodelle der Partizipation verwendet werden, und wie funktionieren sie? In manchen Fällen beinhalten sie eine Übertragung von Entscheidungskompetenz an Bürger, in anderen beruhen sie auf dem Prinzip des ‚selektiven Zuhörens‘; einige Instrumente basieren auf einem klar definierten Regelwerk, in anderen wiederum gibt es keinerlei klare Verfahrensvorgaben; auch die deliberative Qualität kann stark variieren, ebenso wie der Grad der Autonomie, über den die Zivilgesellschaft verfügt; schließlich entsteht in manchen Verfahren eine vierte Gewalt jenseits der klassischen Gewaltenteilung, in anderen hingegen werden die bestehenden Grenzen der repräsentativen Demokratie nicht überschritten. DYNAMIKEN DES KOLLEKTIVEN HANDELNS. Wie bereits im zweiten Teil der Arbeit deutlich geworden ist, hängt die Bedeutung und Reichweite der partizipativen Instrumente erheblich von der sie tragenden sozialen Dynamik ab. Das bedeutet, dass man bei der Konstruktion der Idealtypen die jeweiligen Handlungsspielräume einbeziehen muss, die sich aus dem Kontext ergeben. Auch die Beschaffenheit der beteiligten Akteure gilt es zu untersuchen, seien es Makroakteure (soziale Schichten, soziale Bewegungen) oder die konkreten Personen vor Ort. Beteiligungsinstrumente unterscheiden sich stark hinsichtlich der sozialen Schichten, die an ihnen teilnehmen, und bezüglich der Frage, ob sie von einer sozialen Bewegung initiiert oder ‚von oben‘ eingerichtet wurden. Auch spielen der Organisationsgrad und die Beteiligung der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle – so kann ein Verfahren, das nichtstaatlichen Akteuren große Autonomie gewährt, ins Leere laufen, wenn es nur eine geringe Beteiligung gibt. Ein partizipatives Verfahren wird sich unterschiedlich entwickeln, je nach dem, ob es sich an bestimmte Teile der Gesellschaft, an organisierte Bürger, an aktive Bürger, an einfache Bürger oder an alle Bürger richtet. Ebenso unterschiedlich kann es sich auswirken, ob es hauptsächlich von Parteien, von Stiftungen, von Nichtregierungsorganisationen oder von internationalen Organisationen initiiert wird. Neben diesen Aspekten gibt es weitere Fragen, die von Bedeutung sind: Wie wird in einem Verfahren mit sozialen Konflikten umgegangen? Welche Rolle spielt der Konsens? Kann eine kooperative Gegenmacht142 entstehen?
142 Wie in der allgemeinen Einleitung bereits erwähnt wurde, werden dieser und weitere zentrale Begriffe des Buches im Glossar erklärt. In der Folge fügen wird aus Gründen der Übersicht-
246
III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
VERHÄLTNIS VON KONVENTIONELLER POLITIK UND PARTIZIPATION. In Ergänzung der vier genannten Kategorien (Kontext, normative Rahmen, Verfahren und Dynamik des kollektiven Handelns) sollen hier zwei weitere Dimensionen angeführt werden, mit deren Hilfe sich die Eigenschaften der jeweiligen Beteiligungsmodelle noch genauer herausstellen lassen. Der erste Aspekt bezieht sich auf das Verhältnis von konventioneller Politik (repräsentativer Demokratie) und Bürgerbeteiligung. Rey [2005] unterscheidet zwischen den folgenden Möglichkeiten: das Verhältnis von konventioneller Politik und Partizipation kann schwach ausgeprägt oder gar inexistent sein, was insbesondere dann der Fall ist, wenn die Beteiligung nur eine Managementtechnik ohne jeglichen politischen Effekt ist. Daneben gibt es Fälle, in denen die eine Form die andere substituiert. Dies geschieht z.B. dann, wenn sich die Bürgerbeteiligung parallel zur konventionellen Politik entwickelt. Dadurch kann es geschehen, dass Bürger an Partizipationsprozessen teilnehmen, aber nicht mehr zur Wahl gehen. Drittens kann Partizipation von offizieller Seite instrumentalisiert werden, was unter Umständen ein verstärktes Engagement im Rahmen der konventionellen Politik zur Folge hat. Und schließlich gibt es auch Beispiele, bei denen repräsentative Demokratie und Partizipation eine sich gegenseitig stärkende Verbindung eingehen und zu insgesamt mehr Partizipation führen. STÄRKEN, SCHWÄCHEN, HERAUSFORDERUNGEN. Die zweite ergänzende Analysekategorie bezieht sich auf die jeweiligen Stärken, Schwächen und Herausforderungen der einzelnen Beteiligungsmodelle. Wie schon bei der Verfahrenstypologie im ersten Teil der Arbeit werden diese Aspekte auch hier zunächst gemäß der inneren Logik eines jeden Beteiligungsmodells bewertet, lassen sich aber gleichzeitig auch auf den Vergleich zwischen den Modellen beziehen. Dies bringt es mit sich, dass die so konstruierten Idealtypen zugleich eine normative und eine kognitive Dimension haben, wie es etwa bei den Begriffen der Öffentlichkeit bei Jürgen Habermas oder des wissenschaftlichen Feldes bei Pierre Bourdieu der Fall ist [Sintomer, 2005b].143 Auf der Grundlage dieser vier Kriterien und der zwei zusätzlichen Dimensionen lassen sich in Europa sechs Partizipationsmodelle unterscheiden, die im Folgenden nacheinander skizziert werden sollen: partizipative Demokratie, bürgernahe Demokratie, partizipative Modernisierung, partizipatives Public Private Part-
lichkeit einen Hinweis zum Glossar nur dort ein, wo er zum besseren Verständnis unbedingt erforderlich ist. 143 Allerdings geht es in der vorliegenden Arbeit in erster Linie darum, einen kohärenten, kognitiven Rahmen zu entwerfen. Unser oberstes Ziel besteht nicht darin, die laufenden Verfahren zu bewerten. Dort, wo unser normatives Urteil ausdrücklich gefordert ist – wie z.B. bei der Bestimmung des Blickwinkels der Forschung und der Auswahl der Untersuchungsmethoden – wird es auch von den Ergebnissen der empirischen Untersuchung beeinflusst.
III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
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nership, community development und Neokorporatismus. Anhand dieser sechs Modelle kann eine ‚konzeptuelle Karte‘ der Partizipation in Europa konstruiert werden, in die sich Bürgerhaushalte und Partizipationsverfahren einordnen lassen. Ebenso wie bei den idealtypischen Verfahren gilt auch hier, dass konkrete Fälle und Idealtypen nie hundertprozentig übereinstimmen. Zudem wird man beim Vergleich der beiden Karten feststellen, dass die räumliche Einordnung der einzelnen Beispiele leicht abweichend ist, was auf den höheren Komplexitätsgrad der zweiten Typologie zurückzuführen ist (so kann ein Bürgerhaushalt unter verfahrenstechnischen Gesichtspunkten beispielsweise sehr nah an dem von Porto Alegre sein, sich von diesem aber deutlich unterscheiden, wenn man auch den Kontext oder die Dynamiken kollektiven Handelns mit einbezieht). Um anzuzeigen, in welche Richtung sich die Fallbeispiele entwickeln, sind auch auf der neuen Karte Pfeile eingezeichnet.
248
III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
Abbildung 12: Typologie der Bürgerbeteiligung in Europa (Beispiel: Bürgerhaushalt, 2005/2006)
1.
Partizipative Demokratie
Das erste der sechs im Folgenden vorzustellenden Modelle haben wir ‚partizipative Demokratie‘ genannt. Es ist durch das Aufkommen einer vierten Gewalt gekennzeichnet, da die Verfahren, die diesem Modell zuzuordnen sind, in aller Regel Entscheidungskompetenzen für die Bürger beinhalten. Darüber hinaus kann die mobilisierte Zivilgesellschaft die neuen Möglichkeiten der Konfliktbearbeitung zur Herausbildung einer kooperativen Gegenmacht nutzen. Das Modell der partizipativen Demokratie ist stärker als alle anderen von der Idee der sozialen Gerechtigkeit geprägt und bringt, zumindest potenziell, die meisten
III/1.1 Partizipative Demokratie
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politischen Veränderungen hervor. Die Beteiligung geht hier nicht nur von der Mittelschicht, sondern auch maßgeblich von den unteren Schichten aus und kann zur Herausbildung einer plebejischen Öffentlichkeit führen. Durch die Kombination von konventioneller Politik und Partizipation sind Synergieeffekte möglich. Gegenwärtig lässt sich das Modell der ‚partizipativen Demokratie‘ überwiegend in Form von Bürgerhaushalten und hier insbesondere in Form des in Europa überwiegend in Spanien und Italien verbreiteten Verfahrenstyps ‚Porto Alegre in Europa‘ antreffen. Es weist idealtypische Eigenschaften auf, die für den Bürgerhaushalt des brasilianischen Vorbilds kennzeichnend sind. In Europa hat es sich in erster Linie in Wohlfahrtsstaaten des konservativen Typs und im Kontext eines mediterranen Kapitalismus entwickelt. Das Modell der ‚partizipativen Demokratie‘ kann als ein Versuch angesehen werden, Alternativen zur vorherrschenden neoliberalen Logik der Globalisierung zu bieten. Man kann daher davon ausgehen, dass das Modell allgemein eher in ‚progressiven‘ Kommunen zu finden ist. Dies ist insbesondere dort der Fall, wo die globalisierungskritische Bewegung einen Einfluss auf die institutionelle Linke in der Regierung hat. Außerhalb Europas kann die ‚partizipative Demokratie‘ auch im Zusammenhang liberaler Wohlfahrtsstaaten und eines liberalen Kapitalismus entstehen – also in Ländern, in denen linke Organisationen und die Arbeiterbewegung historisch gesehen geringeren Einfluss auf die Grundstruktur der Gesellschaft hatten und die Globalisierung bereits zu großen Ungleichheiten geführt hat. Hier können sich Kommunalverwaltungen als potenzielle ‚Bastionen des Widerstands‘ und Versuchslabore für eine alternative Politik darstellen. In Ländern wie Frankreich oder Italien wird der Begriff der partizipativen Demokratie inzwischen für sämtliche Beteiligungsverfahren verwendet, selbst wenn sie rein konsultativen Charakter haben. Zutreffender wäre es allerdings, unter dem Begriff die Verknüpfung von repräsentativer Demokratie mit direktdemokratischen Verfahren zu verstehen. Diese Interpretation wird auch von den meisten Sozialwissenschaftlern geteilt, die zu dem Thema arbeiten. So verstanden stellt der Begriff der partizipativen Demokratie (neben der Tradition des antiautoritären Sozialismus) eine normative Referenz unseres ersten partizipativen Idealtyps dar.144 Ein anderer Aspekt, auf den auch weiter unten noch einzugehen sein wird, ist, dass der Idealtyp der ‚partizipativen Demokratie‘ sowohl in philosophischer
144 Das Vorgehen, einen stark verbreiteten Begriff in einem eng umrissenen Sinn zu verwenden, bringt den Nachteil mit sich, dass es angesichts der Bedeutungsunterschiede zu Unklarheiten kommen kann. Es bietet aber auf der anderen Seite den Vorteil, mit diesem Begriff genau das Modell benennen zu können, das aus unserer Sicht nicht nur den höchsten Grad an Innovation aufweist, sondern sich auch am meisten an Porto Alegre annähert und somit an das Verfahren, das entscheidend zur internationalen Verbreitung des Ende der 1980er Jahre nur wenig bekannten Begriffs der partizipativen Demokratie beigetragen hat.
250
III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
als auch in politischer Sicht äußerst inspirierend ist: Zum einen stellt er den ‚Fetischismus der Repräsentation‘ in Frage, ohne dabei aber die grundlegenden Institutionen der repräsentativen Demokratie außer Kraft setzen zu wollen; zum anderen gewährleistet er eine hohe deliberative Qualität. Weiterhin verbindet der Idealtyp die Bürgerbeteiligung mit der Förderung sozialer Gerechtigkeit und verleiht auf diese Weise der Idee der Partizipation mehr Glaubwürdigkeit. Allerdings, so zeigt die historische und soziologische Untersuchung, funktioniert dieser Idealtyp nur unter bestimmten Bedingungen, während in anderen Kontexten andere Modelle geeigneter sind. Jedes Modell hat seine Vor- und Nachteile, die aber immer nur vor dem Hintergrund einer konkreten Situation bewertet werden können. Die Stärke der ‚partizipativen Demokratie‘ ist, dass sie eine starke, autonome und einflussreiche Zivilgesellschaft mit einer Transformation (und dadurch auch Legitimation) der politischen Institutionen verknüpft. Ihr Schwachpunkt ist, dass sie eine Reihe begünstigender Faktoren voraussetzt (insbesondere einen ausgeprägten politischen Willen und eine autonome Zivilgesellschaft, die bereit ist, sich an einem kooperativen Prozess mit der Verwaltung und politischen Spitze zu beteiligen) und instabil ist, solange sie auf die lokale Ebene beschränkt bleibt [Herzberg, 2009]. Eine Herausforderung stellt die Verknüpfung von Partizipation und Verwaltungsmodernisierung dar. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass engagierte Bürger zu sehr in die institutionellen Abläufe integriert werden und dadurch den Kontakt zu ihrer Basis verlieren. Schließlich besteht eine Herausforderung darin, die ‚partizipative Demokratie‘ über die kommunale Ebene hinaus zu fördern, damit sich ihr Einflussgebiet auch auf Entwicklungen und Entscheidungen auf höheren Ebenen erstreckt.
2.
Bürgernahe Demokratie
Das Hauptmerkmal dieses zweiten Modells ist es, eine sowohl geographische als auch kommunikative Nähe zwischen den Bürgern und der Kommunalverwaltung herzustellen, dabei aber die Entscheidungskompetenz ausschließlich in den Händen der Letzteren zu lassen. Die ‚bürgernahe Demokratie‘ beinhaltet keine klaren Verfahrensregeln und räumt der Zivilgesellschaft lediglich einen geringen Spielraum ein. Sie stellt daher, auch wenn es von den Akteuren häufig anders dargestellt wird, die deliberative Variante einer ansonsten strikt repräsentativen Demokratie dar und keinen Schritt in Richtung einer partizipativen Demokratie im eigentlichen Wortsinn. Im Zusammenhang mit den Bürgerhaushalten spiegelt sich das Modell überwiegend in dem Verfahren der ‚bürgernahen Partizipation‘ wider. Obwohl es ursprünglich im Kontext konservativer Wohlfahrtsstaaten und eines kontinentalen oder mediterranen Kapitalismus entstan-
III/1.2 Bürgernahe Demokratie
251
den ist, erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass es sich in den kommenden Jahren auch in Ländern des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaats und Kapitalismus durchsetzt. In der ‚bürgernahen Demokratie‘ behauptet sich der Staat auf lokaler Ebene, was aber nicht zwangsläufig mit einer umfassenden Modernisierung der öffentlichen Verwaltung einhergeht (diese ist eher auf den Aspekt der Bürgernähe reduziert). Linke Regierungen tendieren im Allgemeinen eher dazu, Verfahren der bürgernahen Beteiligung einzuführen als von Rechtsparteien regierte Kommunen. Auch wenn dieses Modell (beispielsweise durch die Beschränkung der Wohnungsspekulation oder die gezielte Erneuerung der Wohnviertel) ein gewisses Maß an Solidarität gewährleistet, kann es aufgrund des Fehlens von Verteilungskriterien nicht als ein Instrument zur Förderung sozialer Gerechtigkeit angesehen werden. Da die Verfahren, die sich dem Modell der ‚bürgernahen Demokratie‘ zuordnen lassen, in der Regel nur konsultative Kompetenzen für Bürger beinhalten und der Zivilgesellschaft keine wirkliche Autonomie zugestehen, ist die Entstehung einer vierten Gewalt oder auch einer kooperativen Gegenmacht nicht möglich. Auch wenn die unteren sozialen Schichten in einigen Fällen in die Beteiligungsprozesse einbezogen werden, handelt es sich überwiegend um eine top-down-Bewegung. Die Bürgerhaushalte, die dem Modell der ‚bürgernahen Demokratie‘ entsprechen, richten sich in erster Linie an freiwillige Bürger; Vereine und Initiativen spielen, wenn auch nicht offiziell, ebenfalls eine gewisse Rolle. Einige Verfahren beziehen des Weiteren Bürger ein, die nach dem Losverfahren ermittelt werden. Die ‚bürgernahe Demokratie‘ ist kaum in der Lage, die konventionelle Politik zu stärken, zumindest sobald man die Ebene der ‚kleinen Demokratie‘ im Stadtviertel verlässt. Im Hinblick auf die Bürgerhaushalte ist dieses Modell vor allem in Frankreich und Portugal von Bedeutung. In Bezug auf andere Verfahren der Bürgerbeteiligung ist es das in Europa am weitesten verbreitete Modell, das sich im Wesentlichen auf Quartiersbeiräte und Quartiersfonds stützt. Für Lateinamerika müsste das Modell der ‚bürgernahen Demokratie‘ in einen größeren Rahmen gestellt werden, der auch die Form des ‚partizipativen Populismus‘ beinhaltet. Ebenso wie dieser zeichnet sich die ‚bürgernahe Demokratie‘ durch eine schwache Autonomie der Zivilgesellschaft und eine geringe Verbindlichkeit der partizipativen Spielregeln aus. Im Unterschied zum ‚partizipativen Populismus‘ ist sie jedoch zudem von einer schwachen Politisierung und einer geringen Mobilisierung (insbesondere in den unteren Gesellschaftsschichten) geprägt. Ihre wesentliche Stärke liegt darin, eine bessere Kommunikation zwischen Bürgern und Entscheidern zu gewährleisten, wenn es um kleine, alltägliche Probleme geht. Ihre Schwächen sind der willkürliche Charakter des ‚selektiven Zuhörens‘, der Kirchturmhorizont des Verfahrens, der Partikularinteressen an Stelle des Allge-
252
III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
meinwohls in den Vordergrund stellt, sowie die mögliche Instrumentalisierung der Zivilgesellschaft durch die lokalen Entscheidungsträger. Allgemein betrachtet sind daher die wichtigsten Herausforderungen der ‚bürgernahen Demokratie‘ eine Verknüpfung mit sozialpolitischen Maßnahmen, die Gewährleistung einer höheren, deliberativen Qualität, eine über die Ebene der Wohnviertel hinausgehende Verbindung von Bürgernähe und Modernisierung sowie die Vermeidung von Populismus.
3.
Partizipative Modernisierung
Charakteristisch für das Modell der ‚partizipativen Modernisierung‘ ist, dass die Beteiligung nur eine Dimension der Verwaltungsmodernisierung darstellt, durch die der Staat versucht, seine Effizienz und Legitimität zu stärken und dem Privatisierungsdruck zu begegnen (in diesem Zusammenhang ist beispielsweise das Schlagwort der deutschen Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes „Konkurrieren statt privatisieren“ entstanden). Gemäß dieser Zielsetzung werden die Beteiligungsprozesse der partizipativen Modernisierung ‚von oben‘ initiiert, sind wenig politisiert und haben einen rein konsultativen Charakter. Die Zivilgesellschaft verfügt in diesen Prozessen nur über eine sehr begrenzte Autonomie, so dass weder Voraussetzungen für die Entstehung einer vierten Gewalt noch für die Herausbildung einer kooperativen Gegenmacht vorliegen. Stattdessen liegt der Fokus der Partizipation auf einer guten Verwaltung, deren Verbesserung natürlich auch auf eine größere Legitimität der (lokalen) Politik abzielt. Da die Verfahren der ‚partizipativen Modernisierung‘ in der Regel eher der Logik von Umfragen folgen, anstelle eine Diskussion zwischen den verschiedenen Akteuren zu fördern, bleibt die Qualität der Deliberation relativ beschränkt. Wenn keine spezifischen Maßnahmen zur Einbeziehung der unteren Gesellschaftsschichten ergriffen werden, beteiligt sich an der partizipativen Modernisierung in erster Linie die Mittelschicht. Das Modell richtet sich in den meisten Fällen an ‚einfache‘ Bürger, und die Verwendung des Losverfahrens ist im Rahmen dieses Modells besonders verbreitet. Während der Einfluss von Porto Alegre, so überhaupt erkennbar, äußert gering ist, lassen sich Transfers anderer Art, wie z.B. aus der neuseeländischen Stadt Christchurch, ausmachen. Der normative Rahmen des Modells ist deutlich mehr von den partizipativen Varianten des New Public Management beeinflusst als von den Utopien der partizipativen Demokratie als Alternative zur neoliberalen Globalisierung. In Bezug auf die Bürgerhaushalte stützt sich das Modell überwiegend auf den Verfahrenstyp der ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘. Es ist insbesondere in Deutschland, einem Land mit einem Wohlfahrtsstaat konservativen Typs und kontinentalem Kapitalismus, vorherrschend, könnte aber auch in Ländern mit
III/1.4 Partizipatives Public Private Partnership
253
sozialdemokratischem Wohlfahrtsstaat und Kapitalismus Fuß fassen. In jüngster Zeit hat man in den skandinavischen Ländern verstärkt Interesse an der partizipativen Modernisierung gezeigt, was u.a. zu der Einführung von Bürgerhaushalten im Jahr 2008 geführt hat. Dasselbe ist darüber hinaus für zahlreiche Städte mit einer modernisierten Verwaltung in einem Land mit vorherrschendem mediterranen Kapitalismus zu erwarten (vor allem in Spanien) oder auch in Kontexten eines liberalen Kapitalismus, in denen sich die kommunalen Exekutiven durch eine Effizienzsteigerung ihrer Verwaltung behaupten wollen. Die Kommunen, die einen dem Modell der ‚partizipativen Modernisierung‘ entsprechenden Bürgerhaushalt eingerichtet haben, werden von Parteien sehr unterschiedlicher Farbe regiert. Die vielfältige Anwendung des Modells wird dadurch gefördert, dass es auf einer ganzen Reihe von Partizipationsverfahren basiert, wie z.B. Feedback-Instrumente und Qualitätschartas. Es ist zu beobachten, dass sich zum Idealtyp der ‚partizipativen Modernisierung‘ gehörende Beteiligungsinstrumente in unterschiedlichsten Kontexten entwickelt haben, insbesondere jedoch in den Ländern Nordeuropas. Die Stärke der ‚partizipativen Modernisierung‘ liegt zweifelsohne darin, dass sie eine enge Verbindung von Verwaltungsmodernisierung und Partizipation ermöglicht und dass sich in aller Regel Politiker über Parteigrenzen hinweg auf dieses Modell einigen können. Ein Nachteil ist hingegen, dass sie aufgrund der ausgeprägten Fokussierung auf die Verwaltung und der damit einhergehenden schwachen Politisierung kaum in der Lage ist, bestimmte Probleme – vor allem in Bezug auf soziale Gerechtigkeit – zu lösen. Um nicht dem Technokratismus zu verfallen, besteht die größte Herausforderung für dieses Modell darin, die Bürgerpartizipation wie auch die Autonomie der Zivilgesellschaft zu stärken.
4.
Partizipatives Public Private Partnership
Der grundlegende Wesenszug dieses vierten Modells besteht darin, dass die Bürger nur einen Akteur neben privaten Unternehmen und der Kommunalverwaltung darstellen. Während die privaten Geldgeber als die tonangebende Größe angesehen werden können, verfügt die kommunale Politik lediglich über einen eingeschränkten Handlungsspielraum. Der Beteiligungsprozess ist nur wenig politisiert, so dass wichtige politische Themen gar nicht – oder nur am Rande – diskutiert werden. Auch wenn den Bürgern eine gewisse Entscheidungskompetenz übertragen wird, bleiben die Verfahren doch in ihrer topdown-Logik verhaftet, in der die Entwicklung einer kooperativen Gegenmacht nicht vorgesehen ist. Auch eine vierte Gewalt kann nicht im Rahmen des ‚partizipativen Public Private Partnership‘ entstehen; vielmehr stützt sich dieses
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III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
Modell auf governance-Verfahren, die privaten Wirtschaftsakteuren institutionalisierten Einfluss auf Entscheidungsprozesse einräumen. Die Zivilgesellschaft ist in diesem Modell schwach und – trotz der klar festgelegten Regeln – wenig autonom. An den Verfahren der ‚partizipativen Public Private Partnerships‘, die sich an aktive Bürger und an Nichtregierungsorganisationen als die ‚Sprachrohre‘ der Zivilgesellschaft richten, beteiligen sich in erster Linie Bürger der Mittelschicht. Internationale Institutionen wie die Weltbank oder die Vereinten Nationen spielen bei der Verbreitung des Verfahrens eine wichtige Rolle. Die Beteiligung wird bei den ‚partizipativen Public Private Partnerships‘ häufig in den Dienst einer sich ganz auf die Zwänge der neoliberalen Globalisierung ausrichtenden Politik gestellt, zu der sie im besten Fall ein kleines Gegengewicht darstellt. Zu dem Verfahren von Porto Alegre steht dieses Modell somit in diametralem Gegensatz. Sein normativer Rahmen entspringt aus der Vermischung einer governance-Rhetorik mit Themen der Partizipation. Obwohl das Modell stärker als andere eine wirtschafts- und verwaltungsbezogene Perspektive verfolgt, kann es auf lokaler Ebene auch, in begrenztem Maß, zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts beitragen und den am Prozess beteiligten politischen Akteuren einen Zugewinn an Legitimität einbringen. Im Zusammenhang mit Bürgerhaushalten ist das Modell des ‚partizipativen Public Private Partnerships‘ nur in Osteuropa anzutreffen und hier insbesondere in Form ‚privat-/öffentlicher Verhandlungstische‘. Es ist, wenn man weitere Verfahren dazu zählt, darüber hinaus auch im angelsächsischen Raum verbreitet und in anderen Ländern, die durch Wohlfahrtsstaat und Kapitalismus liberalen Typs geprägt sind. Verfahren, die diesem Modell zuzuordnen sind, werden von Parteien unterschiedlicher politischer Richtungen eingeführt. Die Stärken des ‚partizipativen Public Private Partnerships‘ liegen darin, insbesondere in marktdominanten Kontexten gut zu funktionieren und privates Kapital in Projekte von allgemeinem Interesse zu leiten. Im Unterschied zu den anderen Modellen sind lokale Wirtschaftsunternehmen, die für die lokale Entwicklung einer Stadt oder Gemeinde von zentraler Bedeutung sind, als Akteur beteiligt. Dies bringt allerdings das Problem mit sich, dass die Unternehmen starken Einfluss auf den Prozess haben und daraus auch einen möglichst großen Nutzen ziehen wollen. Demgegenüber spielt die Zivilgesellschaft nur eine untergeordnete Rolle und ist nicht in der Lage, den alles bestimmenden, wirtschaftlichen Rahmen in Frage zu stellen. Eine weitere Schwäche ist darin zu sehen, dass es keinerlei Verbindung von Partizipation und Verwaltungsmodernisierung gibt – ein Umstand, der zugleich eine der wesentlichen Herausforderungen darstellt. Eine weitere Herausforderung besteht darin, die für die Aufrechterhaltung von ‚partizipativen Public Private Partnerships‘ nötigen Finanzströme, die mangels gesetzlicher Verpflichtungen unregelmäßig fließen, auf eine verlässliche Grundlage zu stellen. Auch sollte der Einfluss der betroffenen Akteure (stakeholders) in ein gewisses
III/1.5 Community development
255
Gleichgewicht gebracht und verhindert werden, dass Nichtregierungsorganisationen und Vereine dem Druck ausgesetzt sind, sich zu sehr in den Dienst der Exekutive zu stellen oder zu quasi wirtschaftlichen Akteuren zu werden.
5.
Community development
Dieses fünfte Modell zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass die Teilnehmer der Beteiligungsverfahren die Umsetzung von Projekten teilweise oder ganz selbst übernehmen. Partizipationsverfahren und öffentliche Verwaltung sind hier getrennt voneinander, und ersteres wird von einer starken bottom-upDynamik getragen. Der Handlungsspielraum der repräsentativen Politik ist in diesem Idealtyp recht eingeschränkt. Die sich herausbildende vierte Gewalt und die kooperative Gegenmacht sind kaum mit den politischen Institutionen der lokalen Politik verbunden, womit das ‚community development‘ in gewisser Weise im Gegensatz zur ‚partizipativen Demokratie‘ steht. Der Einfluss durch Porto Alegre ist eher indirekt, da die Funktionslogik bestehender Partizipationsansätze vor Ort in der Regel dominiert. Die Verfahrensregeln sind klar definiert und die Deliberation ist von recht hoher Qualität. An den Verfahren des community development beteiligen sich überwiegend Angehörige der etwas besser gestellten Teile der Unterschichten oder auch der Mittelschicht, da sie es sind, die sich am meisten in den lokalen Initiativen und communities engagieren. Die Beteiligung zielt insgesamt eher auf benachteiligte oder marginalisierte Gruppen ab, was mehr einer Logik des affirmative action als einer sozialen Umverteilung entspricht. In Anbetracht dieser Situation ist es wahrscheinlich, dass ein Teil der konventionellen Beteiligungsformen am politischen System (Parteien, Wahlbeteiligung) durch nicht konventionelle Formen ersetzt wird. Die Rolle von Nichtregierungsorganisationen ist für die Einrichtung derartiger Verfahren häufig entscheidend. Bürgerhaushalte, die sich am ‚community development‘ orientieren, weisen überwiegend das vor allem in Großbritannien verbreitete Verfahren der ‚Gemeinwesenfonds auf Quartiers- und Stadtebene‘ auf. Traditionelle Formen des ‚community development‘ sind in weiten Teilen des angelsächsischen Raums anzutreffen und darüber hinaus in Ländern mit liberalem Wohlfahrtstaat und Kapitalismus. In anderen Ländern des Nordens, insbesondere in Kanada (und hier in der Stadt Guelph) wie auch in zahlreichen Ländern auf der Südhalbkugel, besitzt das ‚community development‘ entscheidenden Einfluss auf den Bürgerhaushalt. Für die Einrichtung eines solchen Bürgerhaushalts ist die politische Farbe der lokalen Exekutive von keiner großen Bedeutung. Die normativen Rahmen dieses Modells beinhalten neben dem empowerment auch Elemente des
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III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
libertären Sozialismus, des Linksliberalismus und gelegentlich auch Traditionen lokaler, insbesondere indigener Gemeinschaften. Vorteile bietet das partizipative Modell des ‚community development‘ vor allem in Kontexten, in denen die kommunale Exekutive wenig Macht hat bzw. in denen die Zivilgesellschaft stark entwickelt ist, über Erfahrungen der Selbstorganisation verfügt und dadurch in der Lage ist, Projekte selbst zu verwalten. Seine Schwäche liegt hingegen in der Schwierigkeit, ein Konzept für die gesamte Stadt zu entwickeln sowie in der sehr schwach ausgeprägten Verbindung von Partizipation, Modernisierung der öffentlichen Verwaltung und der Einbindung von politischen Mandatsträgern. Die Herausforderungen bestehen daher zum einen darin zu verhindern, dass die community-Organisationen zu reinen Dienstleistern werden oder in halböffentliche Einrichtungen (wie z.B. die sog. Quangos in Großbritannien) überführt werden; und zum anderen darin zu gewährleisten, dass die Verfahren des ‚community development‘ über die mikro-lokale Ebene der Stadtviertel hinausgehen und zur Reform von Politik und Verwaltung beitragen.
6.
Neokorporatismus
Die Besonderheit dieses Modells liegt in der tragenden Rolle der Exekutive bei der Organisation der Bürgerbeteiligung. Ihr kommt die Aufgabe zu, organisierte Gruppen (wie z.B. Vereine, Gewerkschaften oder auch Arbeitgeberverbände), soziale Gruppen (ältere Menschen, Frauen u.a.) sowie verschiedene andere Institutionen zusammenzubringen. Das Ziel des neokorporatistischen Modells besteht darin, gemeinsame Handlungen der ‚entscheidenden Kräfte‘ zu initiieren und einen sozialen Konsens herzustellen, in dem Interessen, Werte und das Anerkennungsstreben verschiedener Teile der Gesellschaft zum Ausgleich kommen. Bürgerhaushalte, die unter dem Einfluss des neokorporatistischen Modells entstanden sind, wurden zuerst in Spanien eingerichtet, im Kontext eines konservativen Wohlfahrtsstaats und eines mediterranen Kapitalismus. Es erscheint aber auch möglich, dass sie in Kontexten entstehen, die von einem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat und einem kontinentalen oder sozialdemokratischen Kapitalismus gekennzeichnet sind. In liberalen Wohlfahrtsstaaten dürfte sich der ‚Neokorporatismus‘ hingegen weniger gut entwickeln, da die Kommunalverwaltungen hier über einen zu eingeschränkten Handlungsspielraum verfügen. Die politische Farbe der Exekutive ist für dieses Modell von geringer Bedeutung, ebenso wie der Grad der Verwaltungsmodernisierung. Den normativen Rahmen des Modells bilden der Neokorporatismus sowie governance-Theorien.
III/1.6 Neokorporatismus
257
Die Partizipationsregeln im Modell des ‚Neokorporatismus‘ können formalisiert sein, wohingegen die deliberative Qualität variabel ist. In den meisten Fällen sind korporatistische Verfahren auf lokaler Ebene überwiegend konsultativ; selbst wenn die Zivilgesellschaft eine starke Position einnimmt, ist ihre verfahrensbezogene Autonomie in jeder Hinsicht schwach ausgeprägt. Da es sich fast immer um top-down-Prozesse handelt, ist die Entstehung einer kooperativen Gegenmacht ebenso unwahrscheinlich wie die Entwicklung einer vierten Gewalt. Eine gegenseitige Stärkung von Partizipation und repräsentativer Demokratie ist nicht abzusehen und auch nicht, dass erstere durch letztere ersetzt wird. Diese Charakteristika stehen im Gegensatz zu neokorporatistischen Verfahren auf nationaler Ebene, die in der Regel stark formalisiert sind und in denen die Sozialpartner über tatsächliche Entscheidungskompetenzen bzw. über eine große Autonomie verfügen können. Im Zusammenhang mit den Bürgerhaushalten ist das neokorporatistische Modell in Europa kaum verbreitet. Es existiert nur in Spanien, wo die Verbindung neokorporatistischer Elemente mit Einflüssen aus Porto Alegre Formen der assoziativen Demokratie hervorgebracht hat, und wo in Verbindung mit bereits existierenden, themenbezogenen Partizipationsformen in den kommunalen Verwaltungen originelle Verfahren des Bürgerhaushalts entstehen könnten. In Deutschland gibt es seit langem eine Tradition der neokorporatistischen Beteiligung, die jedoch nicht in Verbindung zum Bürgerhaushalt steht.145 Bei der Verbreitung des neokorporatistischen Modells spielen internationale Organisationen eine wichtige Rolle. Seine Stärken sind darin zu sehen, dass es die wesentlichen organisierten Kräfte der Gesellschaft zusammenführt und so in verschiedenen Politikbereichen das Zustandekommen eines sozialen Konsenses erleichtert. Auf der anderen Seite sind die dem neokorporatistischen Modell zuzuordnenden Verfahren von sehr ungleichen Machtverhältnissen gekennzeichnet und haben den Nachteil, dass die nicht organisierten Bürger aus den Verfahren ausgeschlossen bleiben. Wie bei den anderen Modellen gibt es auch hier eine Reihe von Herausforderungen: die Verbindung von Partizipation und Verwaltungsmodernisierung, die Diskussion auch über kontroverse Fragen, die Übertragung einer tatsächlichen Entscheidungsgewalt an die zivilgesellschaftlichen Teilnehmer (anstelle des ‚selektiven Zuhörens‘) sowie die Garantie ihrer Autonomie (anstelle ihrer Kooptation durch die Verwaltung).
145 Zurückgehend auf das im 19. Jahrhundert unter Bismarck eingeführte Prinzip der Subsidiarität darf der Staat nur eingreifen, wenn Familie und Wohlfahrtsverbände ihrer Verantwortung nicht nachkommen können. Als Folge dieser Regelung sind diese Kräfte heute noch als ‚freie Träger‘ weitgehend mit der Erbringung sozialer Dienstleistungen (Kindergärten, Altenpflege, Behindertenarbeit etc.) beauftragt. Hinsichtlich der Partizipation haben sie Mitwirkungsrechte in Jugend- und Sozialausschüssen des Gemeinderates und sind in Beiräten vertreten, die sich diesen Themen widmen.
Variabel
Links
Typ von Wohlfahrtsstaat
Politische Ausrichtung der lokalen Exekutive
Partizipative Demokratie, postautoritärer Sozialismus
Integration des Benutzerwissens
Normative Rahmen
Administrative Ziele
Normative Rahmen und verfolgte Ziele
Auf Ebene der Wohnviertel
Variabel
Modernisierung der öffentlichen Verwaltung
Bürgernahe Verwaltung auf Ebene der Wohnviertel Integration des Benutzerwissens
Kommunikativer Republikanismus, Stadtentwicklungspolitik, deliberative Demokratie
Variabel (in Bezug auf Bürgerhaushalte ursprünglich links)
Konservativ oder sozialdemokratisch
Stärkung des Staates
2. Bürgernahe Demokratie
Beziehungen Stärkung des Staates zwischen Staat, Markt und drittem Sektor
Kontext
1. Partizipative Demokratie
Partizipative governance
Variabel
Liberal
Unter Rückgriff auf Marktmechanismen, Privatisierungen
Dominanz des Marktes
4. Partizipatives Public Private Partnership
Verwaltungsmoderni- Public Private sierung Partnerships, Integration des Benutzerwissens, Bürger als Kunden, Beitrag von Nichtregierungsorganisationen
Partizipative Variante des New Public Management
Variabel
Variabel
Stark
Stärkung des Staates
3. Partizipative Modernisierung
Tabelle 3: Modelle der Bürgerbeteiligung in Europa
Delegierung öffentlicher Dienstleistungen in den gemeinschaftlichen (community) Sektor; Integration des Benutzerwissens
Empowerment, libertäre Traditionen, Linksliberalismus
Variabel
Liberal
Variabel
Dominanz des Marktes, Stärkung des dritten Sektors
5. Community development
Integration des Benutzerwissens, Beitrag von Nichtregierungsorganisationen und organisierten Interessen
Neokorporatismus, partizipative governance
Variabel
Konservativ oder sozialdemokratisch
Variabel
Stärkung des Staates
6. Neokorporatismus
258 III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
Schwach
Stark
Verfahrensbezogene Autonomie der Zivilgesellschaft
Schwach
Schwach
Stark
Variabel
Klare Regeln möglich, variable deliberative Qualität Klare Regeln möglich, mittlere oder hohe deliberative Qualität
Klare Regeln, mittlere deliberative Qualität Klare Regeln möglich, schwache deliberative Qualität
Informelle Regeln, geringe deliberative Qualität
Klare Regeln, mittlere oder hohe deliberative Qualität
Regelwerk, deliberative Qualität
Partizipation in bestimmten Bereichen der öffentlichen Verwaltung, Lokale Agenda 21, partizipative strategische Planung Gemeinwesenfonds, community development-Corporations, Lokale Entwicklungspläne von communities Verschiedene Verfahren von Public Private Partnerships
Feedback-Mechanismen für Benutzer, Citizen Panels, partizipative Kommissionen, Bürgerjurys, partizipative strategische Planung
Quartiersbeiräte, Quartiersfonds, Bürgerjurys
Referenden, Bürgerinitiativen
Andere lokale partizipative Verfahren
‚Bürgerhaushalt organisierter Interessen‘
‚Gemeinwesenfonds auf Quartiersund Stadtebene‘
Konsens und sozialer Zusammenhalt
Empowerment der unteren Schichten, affirmative action, keine Politik der allgemeinen Umverteilung
Stärkung des sozialen Kapitals, Wirtschaftswachstum, keine Umverteilungsziele
Sozialer Friede, keine Umverteilungsziele
‚Privat-/öffentlicher Verhandlungstisch‘
Legitimierung der öffentlichen Hand durch gute Ergebnisse und durch die Einbeziehung organisierter Interessen
Legitimierung der öffentlichen Hand durch gute Ergebnisse und durch die Übertragung von Kompetenzen auf community-Gruppen
Legitimierung der öffentlichen Hand durch gute Ergebnisse
Legitimierung der öffentlichen Hand durch gute Ergebnisse
‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘
‚Bürgernahe Partizipation‘
Stärkung sozialer Bindungen, Solidarität ohne Umverteilung
‚Porto Alegre in Europa‘
Soziale Gerechtigkeit
Verfahrenstyp des Bürgerhaushalts
Verfahren
Soziale Ziele
Schwache Politisierung
Evtl. Politisierung
Keine Politisierung
Keine Politisierung
Demokratisierung der Demokratie Partizipative Demokratie
Evtl. rhetorische Politisierung Deliberative Wende der repräsentativen Demokratie
Starke Politisierung
Politische Ziele
III/1.6 Neokorporatismus 259
Ja
Vierte Gewalt
Einfache und aktive Bürger
Konsens
Aktive und organisierte Bürger
Konsens
kein countervailing power Instrumentalisierung zugunsten der konventionellen Politik
Aktive und organisierte Bürger
Kooperative Konfliktlösung
countervailing power
Kombination
Spanien, Italien
Konsens vs. Kooperative Konfliktlösung; countervailing power
Verbindung zwischen konventioneller Politik und Partizipation
Verbreitung (in Bezug auf Bürgerhaushalte)
Frankreich, Belgien, Portugal
Deutschland, Schweden
Schwach (Partizipation als Verwaltungsinstrument)
kein countervailing power
Top-down
Typen von Bürgern, an die sich die Partizipation richtet
Top-down
Top-down und bottom-up
Top-down vs. bottom-up
Schwach
Nein
Konsultation
Stark
Schwach
Nein
Konsultation
Einfluss der Zivilgesellschaft im Prozess
Dynamik des kollektiven Handelns
Entscheidungsmacht
Osteuropa (Polen)
Spanien
Stärkung der traditionellen Beteiligung Substituierung (Partizipation ist losgelöst von der konventionellen Politik) Schwach (Partizipation als Verwaltungsinstrument)
Großbritannien
kein countervailing power
countervailing power
Konsens
kein countervailing power
Organisierte Bürger (neben Arbeitgebergewerkschaften und lokalen Institutionen)
Top-down
Recht stark
Nein (auf lokalem Niveau)
Variabel
Konsens
Organisierte Bürger
Top-down und bottom-up
Stark
Ja
Entscheidungsmacht
Kooperative Konfliktlösung
Organisierte Bürger (neben Unternehmen)
Top-down
Schwach
Nein
Entscheidungsmacht
Entscheidungsmacht oder Konsultation
260 III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
III/1.7 Die Ankunft und Abfahrt der Karavellen
7.
261
Die Ankunft und Abfahrt der Karavellen
Die im zweiten Teil dieser Arbeit beschriebene Realität der verschiedenen Bürgerhaushalte hat bereits deutlich gemacht, dass die Verfahren von Ort zu Ort stark variieren und stellenweise sogar im Gegensatz zueinander stehen können. Die von uns vorgeschlagene Typologie dient daher dem Zweck, der Vielfalt an Bürgerbeteiligungsverfahren gerecht zu werden und eine Orientierung in diesem sich dynamisch entwickelnden Bereich zu bieten. Bereits an dieser Stelle ist deutlich geworden, dass die europäischen Bürgerhaushalte, die sich dank der ‚Rückkehr der Karavellen‘ aus Brasilien entwickelt haben, nicht mehr viel mit dem Vorbild von Porto Alegre zu tun haben. Nicht nur der Form nach unterscheiden sie sich – bis auf wenige Einzelfälle – von diesem, sondern auch in ihrer soziopolitischen Entwicklung und somit in der den Verfahren zugrunde liegenden Logik. Fälle, in denen die angewandten Verfahren und ihre soziopolitische Dynamik tatsächlich Ähnlichkeit mit dem von Porto Alegre aufweisen, sind die Ausnahme. Bei dieser ersten Feststellung sollte man es allerdings nicht belassen. Denn die allgemeine Typologie der Partizipationsmodelle, die wir auf der Grundlage der großen Vielfalt der europäischen Bürgerhaushalte erstellt haben, lässt sich nicht nur auf diese beziehen, sondern auch auf Varianten von Bürgerhaushalten und andere Formen der Beteiligung – in Lateinamerika wie überall auf der Welt. Auch wenn sich viele Akteure bei der Einrichtung von Bürgerhaushalten von dem Vorbild Porto Alegre haben inspirieren lassen, so hat die Entwicklung der letzten Jahrzehnte doch eine enorme Vielfalt unterschiedlich funktionierender Verfahren hervorgebracht. So hat zum Beispiel Santo André, eine der ‚roten‘ Vorstädte von São Paulo, einen Bürgerhaushalt eingerichtet, der eine Mischung aus den Modellen ‚partizipative Demokratie‘ und ‚Neokorporatismus‘ darstellt. In dieser spezifischen Variante finden sich Elemente, die direkt vom Vorbild Porto Alegre übernommen wurden, neben einem Prozess zur strategischen Planung. Erkennbar ist auch, dass das Verfahren deutlich mehr als das in Porto Alegre aus der Notwendigkeit heraus entstanden ist, die kommunale Verwaltung zu modernisieren. Ein weiteres Beispiel für derartige Mischformen stellen die Bürgerhaushalte der indigenen Kommunen Ecuadors dar, deren Verfahren sich an der Schnittstelle zwischen ‚partizipativer Demokratie‘ und ‚community development‘ bewegen. Sie haben das Modell von Porto Alegre auf originelle Art und Weise mit der stark ausgeprägten Tradition der Selbstorganisation der indianischen Gemeinschaften kombiniert. Die Bürgerräte, für deren Einrichtung sich die Regierung Chavez in Venezuela massiv einsetzt, tragen zwar auf der einen Seite gewisse populistische Züge, weil es keine garantierte Autonomie der Zivilgesellschaft und keine klar definierten Spielregeln gibt, auf der anderen Seite haben sie aber auch einige Gemeinsamkeiten mit den Idealtypen der ‚par-
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III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
tizipativen Demokratie‘ und des ‚community development‘. So werden die Bürgerräte in erster Linie von den unteren Schichten genutzt, sind hochgradig politisiert und beinhalten eine gewisse Übertragung von Entscheidungskompetenzen an Repräsentanten der Bürgerschaft, die durch ein semi-imperatives Mandat an die Basis gebunden sind; sie ermöglichen vor allem die Entwicklung von Projekten der Gemeinwesenentwicklung, in denen die Bürger als Mitgestalter agieren. Es gibt kein Beispiel des Bürgerhaushalts, das im Zuge seiner Entwicklung nicht tiefgreifende Veränderungen durchgemacht hätte. Auch Porto Alegre ist hier keine Ausnahme. Die konzeptuelle Karte, die wir für Europa entworfen haben, macht es möglich, diese Veränderungen auf detaillierte Weise zu analysieren.
Der Bürgerhaushalt von Porto Alegre nach der Niederlage der Arbeiterpartei Ende 2004 muss die weitgehend isoliert dastehende Arbeiterpartei PT bei den Kommunalwahlen in Porto Alegre eine vernichtende Niederlage einstecken. Das von der Partei eingeführte Verwaltungsmodell hat sich nach und nach erschöpft, auch führen ideologische und personelle Streitigkeiten innerhalb der Partei zu einer Schwächung der Bündnisfähigkeit. Nach dem Wahlsieg des PT-Kandidaten Ignazio (Lula) da Silva bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2002 wechselt ein Teil der fähigsten Politiker und Verwaltungsbeamten in die Bundesregierung. Die als moderat angesehen Politik des Präsidenten führt bei den in Porto Alegre stärker linken Strömungen zu Enttäuschungen und hat zu einer weiteren Verschärfung der innerparteilichen Krise beigetragen. Neben diesen politischen Faktoren gibt es eine Reihe von äußeren Zwängen und Planungsproblemen. So ist z.B. der Handlungsspielraum der Stadt aufgrund einer gravierenden Finanzkrise deutlich eingeschränkt. Dies ist zum Teil auf reduzierte Finanztransfers der Bundesregierung zurückzuführen, zum Teil auf die Unterhaltungskosten der in den 1990er Jahren geschaffenen Infrastruktur [BIRD/BM, 2008]. Darüber hinaus gibt es in Porto Alegre Probleme bei der Erarbeitung einer wirtschaftlichen Entwicklungsstrategie. Während der Regierungszeit der Arbeiterpartei verschlechtern sich die Bedingungen für den von ihr geschaffenen Bürgerhaushalt zusehends. So gelingt es seinen Initiatoren nicht, ‚ihr‘ Verfahren nennenswert weiterzuentwickeln. Auch fehlt ihnen jede Bereitschaft, von den Erfahrungen anderer Bürgerhaushalte zu lernen. Hinzu kommt, dass die Finanzkrise immer größere
III/1.7 Die Ankunft und Abfahrt der Karavellen
263
Verzögerungen bei der Durchführung bereits bewilligter Projekte verursacht und die Stadtverwaltung zu Abstrichen bei dem von ihr ursprünglich verfolgten Ziel der Transparenz gezwungen ist. Zu beobachten ist weiterhin eine Tendenz der Kooptierung von Delegierten des Bürgerhaushalts durch die politischen Parteien. Die Zahl der Teilnehmer an den Versammlungen auf Bezirksebene und der thematischen Foren sinkt über die Jahre stark ab (von 17.200 im Jahr 2002 auf 13.300 im Jahr 2004). Ungeachtet dieser Entwicklung entscheidet sich die neue, politisch extrem heterogene Lokalregierung bereits während des Wahlkampfs, den von den Wählern als Errungenschaft der PT angesehenen Bürgerhaushalt aufrechtzuerhalten. Ihr folgender Wahlsieg ist nicht als Abwahl des Bürgerhaushalts zu verstehen, sondern der Arbeiterpartei, die ihn eingeführt hat [Fedozzi, 2007]. Trotz einiger Unsicherheiten und eines sehr zurückhaltenden Umgangs der neuen Exekutive mit dem Verfahren besteht der Bürgerhaushalt auch nach den Wahlen des Jahres 2004 in weitgehend unveränderter Form weiter. Anders als in Städten wie São Paulo oder Belém, in denen die neuen Stadtverwaltungen mit der abrupten Abschaffung des Verfahrens nicht einmal Proteste seitens der Bevölkerung hervorgerufen haben, zeugt die Kontinuität des Bürgerhaushalts in Porto Alegre von einer tiefen Verankerung des Prozesses in der Bevölkerung. Es hat in dieser Stadt eine tiefgreifende Veränderung in der politischen Kultur gegeben, auch wenn sie insbesondere die aktiveren Mitglieder der unteren Schichten betrifft [Fedozzi, 2007]. Dennoch lässt sich bei der neuen Stadtverwaltung eine Tendenz beobachten, den Bürgerhaushalt in seinem Umfang zurückzufahren. So sinkt die Quote der tatsächlich zum Abschluss gebrachten Projekte in den Jahren 2005 und 2006 auf durchschnittlich 18% [Cidade, 2007], wohingegen sie vorher weitaus höher lag und die Regierung zudem stets ausführlich erklärt hat, warum es zu Verzögerungen gekommen und für wann eine Umsetzung vorgesehen ist. Ein zusätzliches ernst zu nehmendes Hemmnis für das Funktionieren des Bürgerhaushalts stellen politische Streitigkeiten dar. Nach einer leichten Erholung im Jahr nach der Wahl ist die Beteiligung an dem Verfahren in den Folgejahren auf das Niveau von 1997 zurückgegangen. Eine weitere, in den letzten Jahren zu beobachtende Tendenz ist, dass sich der Rat des Bürgerhaushalts aufgrund der neu eingeführten Möglichkeit der Wiederwahl personell deutlich weniger erneuert als in den ersten Jahren nach seiner Einführung: Lag die Austauschquote in den 1990er Jahren noch bei 60-70%, ist sie in den Jahren 2006-2008 auf rund 35% abgesunken. All diese Entwicklungen bringen die Gefahr mit sich, dass der Bürgerhaushalt formal zwar weiter besteht, aber seinen ursprünglichen ‚Geist‘ verliert. Mit Blick auf die Politik der neuen lokalen Exekutive, die sich vor allem von der Weltbank beraten lässt, ist durchaus zu erwarten, dass der Bür-
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III/1 Die sechs Modelle der Partizipation
gerhaushalt seinen Status als eigenständiges Verfahren verliert und stattdessen als eine neue Form der ‚lokalen solidarischen governance‘ in einen anderen Rahmen integriert wird. In einem solchen, maßgeblich von den Modellen des ‚Neokorporatismus‘ und der ‚partizipativen Public Private Partnerships‘, beeinflussten Verfahren sind die am Bürgerhaushalt beteiligten Bürger nur noch Akteure neben anderen (wie Unternehmen, Stiftungen, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, Universitäten oder auch halböffentlichen Einrichtungen). Das Ziel eines derartigen ‚partizipativen Public Private Partnerships‘ besteht darin, Finanzquellen für größere Stadtentwicklungsprojekte zu erschließen. Auf diese Weise werden andernorts erprobte Mischformen des Bürgerhaushalts nach Porto Alegre reimportiert und bringen die Gefahr mit sich, dass dort so wichtige Ziele wie soziale Gerechtigkeit und die Behauptung einer plebejischen Öffentlichkeit an Bedeutung verlieren. Aus diesem Grund sehen einige kritische Beobachter in dieser Entwicklung eine „konservative Revolution“, die den ursprünglichen Sinn des Bürgerhaushalts in Frage stellt [Cidade 2005]: Selbst wenn dieser ein Instrument in den Händen der unteren Schichten bleibe, wäre er doch anderen (Markt-)Logiken untergeordnet, denen gegenüber er lediglich eine kompensatorische Funktion besitze. Während der ersten Mandatszeit der neuen Stadtverwaltung (2005-2008) haben sich noch keine Unternehmen, die die soziale Basis eines solchen neuen Projekts darstellen könnten, für ein derartiges Unternehmen interessiert, so dass über die weiteren Entwicklungen des Bürgerhaushalts in Porto Alegre noch keine Aussagen getroffen werden können. Wird das Verfahren von Porto Alegre, das zur weltweiten Verbreitung der Bürgerhaushalte gesorgt hat, langsam verkümmern? Wird es nach den Kommunalwahlen eine Neuauflage des ursprünglichen Projekts in neuer Gestalt geben? Oder wird sich unter der Ägide der internationalen Organisationen ein neues Modell durchsetzen?
Kapitel 2
Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit?
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass es in Europa keine Konvergenz der Partizipationsverfahren im Allgemeinen und der Bürgerhaushalte im Speziellen auf ein einheitliches Modell gibt. Das bedeutet jedoch nicht, dass man diese nicht trotzdem in einer Querschnittanalyse miteinander vergleichen könnte um herauszufinden, auf welche Weise sie bestimmten politischen, sozialen oder verwaltungstechnischen Herausforderungen begegnen. Derartige Unterschiede und eventuelle Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten ist insbesondere dann von großer Bedeutung, wenn man die tatsächlichen oder potenziellen Auswirkungen von Beteiligungsprozessen in den Blick nimmt. Auch wenn man in der Partizipation ein Ziel an sich sehen kann, würde sich die aktuelle Ausbreitung von Beteiligungsverfahren nur schwerlich erklären lassen, wenn sie nicht gleichzeitig auch ein Mittel zur Erreichung anderer Zwecke darstellen würde. Jenseits aller Unterschiede können alle in dieser Arbeit untersuchten Fälle auf drei Ziele bezogen werden, die sich in Abhängigkeit des Kontextes sehr unterschiedlich darstellen und äußerst unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen [Bacqué/Sintomer, 2001]. Die erste Gruppe von Zielen, den man auch als administrative Ziele bezeichnen könnte, strebt eine Verbesserung der lokalen Verwaltung an – durch die Einbeziehung des bürgerschaftlichen Wissens oder durch die Nutzung der Partizipation als Motor der Verwaltungsmodernisierung. Die Ziele der zweiten Gruppen versuchen, in der Partizipation eine Antwort auf die ‚soziale Frage‘ zu finden – etwa um zu mehr sozialem Zusammenhalt zu führen, eine Umkehrung der vorherrschenden Prioritäten zu erreichen, den Ärmsten mehr Macht zu geben, ethnische Minderheiten besser zu integrieren oder auch um die Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu verändern. Die politischen Ziele bestehen schließlich darin, das politische System zu (re-)legitimieren bzw. durch die Beteiligung der Bürger zu einer Belebung der Demokratie zu führen. Darüber hinaus lassen sich noch zwei andere Ziele anführen. Das eine sieht in der Partizipation eine Möglichkeit, durch die Förderung des gegenseitigen Vertrauens der Akteure zur wirtschaftlichen Entwicklung beizutragen. Das andere Ziel, das häufig in den Lokale Agenda 21-Prozessen formuliert ist, sieht in der Partizipation ein bevorzugtes Mittel nachhaltiger Entwicklung – ausgehend von dem Gedanken, dass sich diese nicht verordnen lässt, sondern ein
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III/2 Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit?
verändertes Verhalten bei allen betroffenen Akteuren (Verwaltung, Politik, Zivilgesellschaft) zur Grundlage hat. Da die beiden letztgenannten Ziele im Kontext der europäischen Bürgerhaushalte eher von nachrangiger Bedeutung sind, werden wir uns in diesem wie auch in den beiden nachfolgenden Kapiteln auf die Bereiche der administrativen, sozialen und politischen Ziele konzentrieren. Dabei soll die Frage nach den bestehenden Herausforderungen und ersten sichtbaren Ergebnissen im Vordergrund stehen. Der politische Wille von Akteuren äußert sich in der Regel über die von ihnen verkündeten Ziele. Diese Ziele decken sich aber nur zum Teil mit unserer analytischen Einordnung. Hinzu kommt, dass die verfolgten Ziele in der Regel nicht systematisch ausgearbeitet sind, sondern eher ad hoc als Reaktion auf geäußerte Kritik, auf festgestellte Erfolge oder Misserfolge, auf neue Probleme oder auch als Reaktion auf das Auftreten neuer Akteure (wie z.B. eines neuen Beigeordneten für Finanzen) und dadurch provozierte Veränderungen im Machtgefüge formuliert werden. Selbst wenn systematische Überlegungen stattfinden, bleiben – wie die vergleichende Untersuchung der in verschiedenen politischen Kulturen vorherrschenden, impliziten Bezüge offen legt – die im Hintergrund wirkenden normativen Rahmen den Akteuren doch häufig weitgehend unbewusst. Trotz dieser Mehrdeutigkeiten muss man die Ziele, die die Akteure öffentlich vertreten, Ernst nehmen, und das nicht nur, weil sie Auswirkungen auf die Wirklichkeit haben. Darüber hinaus beeinflussen die verkündeten Handlungsmotive auch die Identität der Teilnehmer in den Beteiligungsverfahren [Talpin, 2007], die Legitimität des Prozesses und in Teilen die tatsächlich umgesetzten politischen Maßnahmen. Auf der anderen Seite sollte man als Beobachter aber auch nicht so naiv sein, alle ausgerufenen Ziele für bare Münze zu nehmen. Nicht jedes tatsächliche Ziel wird auch öffentlich gemacht, manche werden nicht erreicht, und nicht immer findet eine kritische Diskussion über die Diskrepanz zwischen den offiziellen Zielen und den zu beobachtenden Effekten statt. Zwei Beispiele können zur Veranschaulichung angeführt werden: In Frankreich wird die Partizipation häufig als Mittel zur ‚Wiederherstellung der sozialen Beziehungen‘ und als Maßnahme im Kampf gegen ‚soziale Ausgrenzung‘ verstanden. Dabei zeigen alle Forschungen zu diesem Thema, dass die ‚Ausgeschlossenen‘, von denen so häufig die Rede ist, an den Beteiligungsverfahren nur am Rande (wenn überhaupt) teilnehmen – sie sind also keine direkten Gesprächspartner, sondern lediglich Gegenstand von Debatten. Und doch kommt es nur selten vor, dass das Fehlen dieser Gruppe von den Initiatoren hinterfragt und konkrete Maßnahmen ergriffen werden, um diese Situation zu verbessern. Ebenso heißt es überall in Europa, dass die Partizipation das Vertrauen der Bürger in das politische System wiederherstellen und somit ein Mittel zur Reduzierung der Wahlenthaltung darstellen soll. Obwohl Untersuchungen zeigen, dass
III/2.1 „Konkurrieren statt privatisieren“
267
ein solcher Zusammenhang nicht unbedingt zu beobachten ist, werden die Akteure vor Ort nicht müde, dieses Argument anzuführen. Wie steht es also um die Bürgerhaushalte in Europa und was kann durch ihre Untersuchung über die Ergebnisse von Partizipationsverfahren auf dem alten Kontinent allgemein gesagt werden?
1.
„Konkurrieren statt privatisieren“
Wie bereits deutlich geworden ist,146 sieht sich die öffentliche Verwaltung auf internationaler Ebene seit einigen Jahrzehnten einer Welle von Reformen ausgesetzt, die in unterschiedliche Richtungen weisen. Wie auch in anderen Bereichen stellt die Privatisierung hier einen starken Trend dar. Auch wenn sie in bestimmten Kontexten (insbesondere dort, wo die öffentliche Verwaltung korrupt oder ineffizient ist) positive Effekte hervorrufen kann, bringt die Ausgliederung von Aufgaben auf private Akteure massive Risiken mit sich: die Verstärkung von Ungleichheiten, die ausschließliche Fokussierung auf die Nachfrage, die Dominanz eines kurzfristigen Zeithorizonts zu Lasten längerfristiger Ziele, der Machtverlust der Arbeiter zugunsten des Profits der Aktionäre u.a. Eine umfassende Privatisierung löst auf jeden Fall nicht alle Probleme der traditionellen Bürokratie, weshalb auch in vielen Verwaltungen interne Modernisierungsbestrebungen aufkommen – insbesondere in Ländern, in denen die öffentliche Verwaltung den Anspruch auf eine aktive Rolle im politischen Leben stellt. Einige Autoren sprechen sogar von der Entstehung eines neoweberianischen Modells, das den öffentlichen Sektor mit einem effizienten Management verbindet und das sich am Output und damit an der Zufriedenheit der Kunden orientiert [Bouckaert, 2004; Wollmann, 2003]. Diese Reformbestrebungen stoßen jedoch auf mehrere Hindernisse. Ein erstes besteht darin, dass im Inneren der öffentlichen Verwaltungen häufig kein hinreichender Konsens über die Durchführung von Modernisierungsmaßnahmen zu erzielen ist. Dies ist neben der bürokratischen bzw. korporatistischen Unbeweglichkeit vor allem auf die legitime Angst der Mitarbeiter zurückzuführen, dass sich die häufig aufgrund von Sparzwängen durchgeführten Reformen zu ihrem Nachteil auswirken könnten. Ein zweites Hindernis ist, dass die Zweckmäßigkeit der neuen Organisationsformen noch keineswegs bewiesen ist. Zwar hat man sich heute weitestgehend von dem traditionellen Bürokratiemodell entfernt, wie es Max Weber am Beispiel des preußischen Staates theoretisiert hat, mit einer hierarchischen Struktur, die auf einer gewissenhaft und blind allen Anordnungen Folge leistenden Beamtenschaft basiert. Die zunehmende Dekonzentration der Verwaltung,
146 Siehe besonders Teil I, Kap. 2.
268
III/2 Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit?
das verstärkt vorzufindende Handeln in Netzwerken und Partnerschaften sowie die systematische Evaluierung von Verfahren und Ergebnissen rufen jedoch ihrerseits Ernst zu nehmende Probleme hervor: So führen Kooperationen und Netzwerke häufig dazu, dass die Entscheidungsfindung zusätzlich erschwert wird, während die Aufstellung von Evaluationskriterien und Kontrollmechanismen, die diesen Namen verdienen, allzu häufig den Schwachpunkt neu eingeführter Verwaltungsverfahren darstellen [Bogumil/Jann/Nullmeier, 2006]. Ein drittes Hindernis ist darin zu sehen, dass Reformen der Verwaltung gegenüber der Bevölkerung in der Regel damit begründet werden, dass sie möglicherweise zu einer Verbesserung der Dienstleistungen beitragen. Auch wenn dieser Aspekt sicherlich von großer Bedeutung ist, kann seine permanente Überbetonung jedoch dazu führen, die Rolle der Bürger auf die einfacher Kunden zu reduzieren. Dies führt zu der Frage, ob eine solche hauptsächlich verwaltungstechnische Logik gegenüber den bestehenden Herausforderungen wirklich angemessen ist. Es steht außer Frage, dass das Verharren auf dem traditionellen Bürokratiemodell unhaltbar ist. Dort, wo man sich zu lange vor der Durchführung von Reformen scheut, wird am Ende, in angespannten Problemsituationen, oft zu den radikalsten Mitteln in Form von Privatisierungen gegriffen. Die deutschen Gewerkschaften hatten eine solche Entwicklung vor Augen, als sie das Schlagwort „Konkurrieren statt privatisieren“ formulierten. Über diese Formel kann man zwar streiten, da sie suggeriert, dass Konkurrenzfähigkeit Vorrang vor der Allgemeinwohlorientierung hat. Gerade aber aus letzterer bezieht die Verwaltung ihre Legitimation. Der Position der Gewerkschaften ist jedoch zugute zu halten, dass der dringende Reformbedarf zumindest erkannt wird.147 In diesem Zusammenhang erscheint die Berücksichtigung des Bürgers als Nutzer, die eine Art ‚dritten Weg‘ der Modernisierung darstellt, Erfolg versprechend. Sie kann zur Legitimitätssteigerung der Politik beitragen, indem sie das Prinzip stärkt, dass die Bürger letzten Endes über die Politik zu entscheiden haben, die in ihrem Namen durchgeführt wird, und die Nutzer darüber, ob die erbrachten Dienstleistungen tatsächlich im Dienste der Öffentlichkeit stehen. An beiden Enden der Kette sind die Bürger (bzw. Nutzer) demnach aufgerufen, das Wort zu ergreifen (voice), um diesen Ausdruck von Albert O. Hirschman [1972] zu verwenden. Die Beteiligung von Laien beim Aufstellen von Evaluationskriterien und bei der Kontrolle politischer Maßnahmen trägt in dieser Hinsicht entscheidend mit dazu bei, dass sich keine rein technokratischen Lösungen durchsetzen, dass bei kollektiven Entscheidungen das bestehende bürgerschaftliche Wissen berücksichtigt und eine große Spannbreite an Argumenten jenseits der Meinungen der Experten einbezogen werden. Darüber hinaus fördern die Beteiligung
147 Dies ist in Ländern wie z.B. Frankreich ganz anders, da sich gerade die Gewerkschaften als Hüter bestehender Strukturen, insbesondere der öffentlichen Verwaltung, verstehen.
III/2.1 „Konkurrieren statt privatisieren“
269
mobilisierter Nutzer und der Druck, den diese auf die Verbesserung der angebotenen Dienstleistungen ausüben, eine Modernisierung der Verwaltung. Ein größerer Kontakt zwischen Bürgern und Verwaltungsmitarbeitern führt häufig dazu, dass letztere ihre Arbeit anders betrachten und – eventuell – hinterfragen und verändern. Des Weiteren kann dieser Modernisierungsweg der Dominanz einer reinen Marktlogik, deren Unzulänglichkeit während der aktuellen Finanzkrise deutlich geworden ist, entgegen wirken. Anders als private Unternehmen trägt die öffentliche Hand auch für die armen Bevölkerungsgruppen Verantwortung. Sie versorgt auch diejenigen mit Strom, Gas oder Wasser, die ihre Rechnungen nicht aus eigener Kraft bezahlen können. Indem über die Ziele des Anbieters öffentlich diskutiert wird, entsteht eine gewisse Transparenz. Sie sorgt dafür, dass Entscheidungen sich auch am Allgemeinwohl orientieren und nicht nur an den privaten Interessen von Aktionären. Allerdings hat unsere Untersuchung gezeigt, dass sich Bürgerbeteiligung und Ökonomisierung (im Sinn der Einführung von betriebswirtschaftlichen Kriterien in der Binnenstruktur als auch im Außenbereich der Verwaltung) nicht gegenseitig ausschließen – im Gegenteil; meistens verlaufen beide Prozesse parallel zueinander. In vielen Fällen entspricht die Höhe des Haushalts der kommunalen Unternehmen (z.B. Stadtwerke) dem Haushalt der Gemeinde. Die Fälle, in denen solche Unternehmen Beteiligungsstrategien entwickeln, sind jedoch sehr selten – beispielsweise die andalusische Stadt Puente Genil oder einige Betreiber von Sozialwohnungen in Frankreich. Es darf auch nicht der Fall vergessen werden, dass der Bürgerhaushalt selbst den Wettbewerb vorantreibt. So war eine Informationstafel in der deutschen Kleinstadt Emsdetten überschrieben mit dem Satz: „Was andere preiswerter können, das sollen sie auch tun / was wir preiswerter können, dass machen wir auch.“ Letzteres Beispiel zeigt auch, dass die Partizipation mit dem in Deutschland diskutierten Gewährleistungsstaat kompatibel ist, bei dem es darum geht, dass die Kommune nur noch als Regulator auftritt und die Dienstleistungen nach dem best-value-Prinzip von dem (öffentlichen, privaten oder dem dritten Sektor angehörenden) Anbieter übernommen werden, der den Anforderungen hinsichtlich Preis und Qualität am meisten entspricht.
Der Gewährleistungsstaat In den 1990er Jahren zerbricht in Deutschland der Konsens über den versorgenden, umfassenden Wohlfahrtsstaat. Während die konservativen Parteien den ‚schlanken Staat‘ propagieren, versucht die rot-grüne Bundesregierung (1998-2005) mit dem ‚aktivierenden Staat‘ eigene Akzente zu setzen. Dieses
270
III/2 Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit?
Staatsbild sieht vor, dass Bürger zur Selbsthilfe befähigt werden [Hombach, 1998]. Damit verbunden ist ein gewisser Druck auf Staat und Bürgerschaft, der in den Imperativen fordern und fördern zum Ausdruck kommt. Der Staat ist also nicht abwesend, aber es gilt auch nicht mehr das Versorgungsprinzip des klassischen Wohlfahrtsstaates. Auf die Verwaltung bezogen, findet diese Diskussion eine Anknüpfung im Gewährleistungsstaat [Schedler/Proeller, 2000]. Damit verschiebt sich die Aufgabe der Kommune vom Dienstleistungsproduzenten zum Regulierer. Auch der Gewährleistungsstaat versteht sich, zumindest in den Augen seiner Befürworter, als eine Alternative zum Neoliberalismus (so wie der ‚aktivierende Staat‘). Zwar sollen private und andere Akteure die Dienstleistungsproduktion weitgehend übernehmen, aber es geht nicht in erster Linie um eine Verringerung des Angebots. Vielmehr soll die Konkurrenz zwischen verschiedenen Anbietern zu mehr Effizienz und Qualität führen. Eine Kontrolle über die ausgegliederten Bereiche soll mittels einer Gewährleistungsverwaltung ausgeübt werden. Es wird diesbezüglich von einer Fusion zwischen neoliberalen und sozialstaatlichen Prinzipien gesprochen. In der Realität hat sich jedoch gezeigt, dass die Verwaltung gerade bei der Kontrolle ausgegliederter Aufgabenbereiche erhebliche Schwierigkeiten hat. Ein Beteiligungsmanagement ist in vielen Kommunen erst im Aufbau begriffen bzw. mit den ihm übertragenen Aufgaben überfordert [Hille, 2003]. Es ist die gleiche Skepsis angebracht, die gegenüber dem neoweberianischen Staat artikuliert wird: Es handelt sich eher um ein Nebeneinander als um eine erfolgreiche Synthese alter und neuer Praktiken. Wie bereits bei der Bilanz zur Verwaltungsmodernisierung in Deutschland ist hier erneut darauf hinzuweisen, dass Dienstleister in privatrechtlicher Trägerschaft eine Eigendynamik entwickeln [Edeling, 2003], indem sie vor die Orientierung am Gemeinwohl ihre Profitinteressen stellen. Auch dürfte eine Umstellung auf Gewährleistungsprinzipien generell eher im Kontext einer Reduzierung als eines Ausbaus von Aufgaben stehen.
Insgesamt betrachtet bleibt der ‚partizipative Trend‘ im Vergleich zu den anderen Reformbereichen eine nachgeordnete Größe. An bestimmten zentralen Mechanismen unserer Gesellschaft (Parteipolitik, Gerichtsbarkeit, Druck durch Lobbygruppen etc.) hat sich auch auf lokaler Ebene wenig geändert. Geändert hat sich lediglich die Tatsache, dass die institutionelle Bürgerbeteiligung nun ein Mechanismus neben anderen darstellt. Diese Bürgerbeteiligung drückt einen grundlegenden Wandel im Bereich der Demokratie aus und hat sich auf der ganzen Welt verbreitet. Wie die Analyse der europäischen Bürgerhaushalte
III/2.1 „Konkurrieren statt privatisieren“
271
deutlich gemacht hat, trägt sie darüber hinaus, zumindest potenziell, zu einer demokratischeren Gestaltung der Verwaltungsmodernisierung bei. Rollen und Status-Positionen der Bürger in der Modernisierung der öffentlichen Verwaltung Welche genaue Rolle können Laien bei der Modernisierung der öffentlichen Verwaltung spielen? Zur Beantwortung dieser Frage haben Verwaltungswissenschaften und politische Akteure aus unterschiedlichen Ländern verschiedene Kategorien geschaffen. In Frankreich trifft man überwiegend auf die Unterteilung Nutzer/Kunden/Bürger. In Deutschland hingegen differenziert die am meisten verbreitete, von einer bestimmten Lesart des New Public Management beeinflusste Aufteilung zwischen Bürgern als Kunden, als Mitentscheidern oder Mitgestaltern. Diese Unterscheidungen lassen sich nur schwer in andere Sprachen übersetzen. So gibt es beispielsweise für den in Frankreich dominanten, Gegensatz zwischen dem sich in einer wirtschaftlichen Logik bewegenden Kunden (frz.: client) und dem Nutzer (frz.: usager) öffentlicher Dienstleistungen in keinem der Nachbarländer eine wirkliche semantische Entsprechung.148 Der deutsche Begriff Kunde zum Beispiel verbindet die beiden eben genannten Bedeutungen von client und usager. Hinzu kommt, dass die gängigsten Unterscheidungen in der Regel nicht sehr präzise sind und die Tendenz haben, den Status der betroffenen Personen mit den Rollen, die sie übernehmen können, zu verwechseln. Trotz dieser begrifflichen Schwierigkeiten verweisen all diese Begriffe und Beschreibungen auf reale Entwicklungen. Wir haben auf Grundlage der vergleichenden Forschungsausrichtung eine Synthese dieser unterschiedlichen Perspektiven erarbeitet und dabei auch die ihnen zugrundeliegenden Denkrichtungen berücksichtigt: von der in Deutschland entwickelten progressiven Variante des New Public Management über in Frankreich bzw. in Lateinamerika diskutierte, stärker politisch ausgerichtete Fragestellungen bis hin zu den im englischsprachigen Raum verbreiteten Varianten des community development. So betrachtet lassen sich vier verschiedene Rollen der Bürger in Partizipationsprozessen unterscheiden. Als Verbraucher interessieren sie sich in erster Linie für die Qualität der Dienste und sozialen Leistungen, weniger hingegen dafür, wie diese entstehen (in diesem Rahmen unterscheiden sich die Nutzer (usagers) öffentlicher Dienstleistungen nicht wesentlich von den Kunden (clients) wirtschaftlicher Leistungen). Als Mitentscheider sind die Bürger an der Auswahl der angebotenen Dienste oder durchgeführten Projekte beteiligt, wobei
148 In Frankreich reicht häufig schon die Verwendung des ersten Begriffs in Bezug auf die öffentliche Verwaltung, um den Ansatz als neoliberal zu kritisieren.
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III/2 Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit?
das Maß der Beteiligung an der Entscheidungsfindung erheblich variieren kann. Als Mitgestalter beteiligen sie sich an der Durchführung von Projekten oder Dienstleistungen – bis hin zu ihrer gänzlich autonomen Selbstverwaltung. Als Kontrolleure oder Bewerter können sie schließlich Funktionen übernehmen, die normalerweise Verwaltungsmitarbeitern, externe Behörden (wie zum Beispiel dem Rechnungshof) oder Wirtschaftsprüfungsbüros vorbehalten sind. Neben diesen Rollen, die sich auf die Art der durchgeführten Handlung beziehen, sollte man vier Status-Positionen der Bürger unterscheiden, auf deren Grundlage die Partizipation erfolgt: Er kann als Nutzer einer öffentlichen Dienstleistung, als wirtschaftlich denkender Kunde, als Mitarbeiter (einer öffentlichen Einrichtung oder eines privaten Unternehmens) sowie als Bürger (Mitglied einer politischen Gemeinschaft) partizipieren. Diese beiden Dimensionen – die Rollen und der Status der Bürger – müssen, um die Einbeziehung der Bevölkerung in den Prozess der Entscheidungsfindung einer systematischen Analyse zu unterziehen, aufeinander bezogen werden, was anhand der folgenden Tabelle veranschaulicht wird. Auch wenn die Intensität der Partizipation in den einzelnen Feldern der Tabelle nicht gleich groß ist, so birgt diese doch erheblich genauere Analysemöglichkeiten im Vergleich zu herkömmlichen Ansätzen, die sich in der Regel auf die Untersuchung verschiedener Ebenen der Partizipation [z.B. Arnstein, 1969] beschränken. Sie haben durch diese Beschränkung zwar den Vorteil, leicht nachvollziehbar zu sein, sehen sich aber zu Recht dem Vorwurf der Eindimensionalität ausgesetzt. Wir berücksichtigen daher die Intensität (die Ebenen) der Partizipation als ein weiteres Kriterium neben denen der Rolle und der Status-Position der Bürger. Die Intensität der Bürgerbeteiligung beruht auf folgenden Stufen: Information und Transparenz auf der untersten Ebene; Konsultation, Anhörung, Mitentwicklung, Mitplanung, Mitverwaltung, und formalisierte Evaluation im Mittelbereich; und schließlich Selbstverwaltung und Sanktionsmöglichkeiten auf der obersten Ebene.
III/2.1 „Konkurrieren statt privatisieren“
273
Tabelle 4: Rollen, Status-Positionen und Ebenen der Beteiligung Rollen
Status
Ebenen
Verbraucher
- Nutzer öffentlicher Dienstleistungen - Kunde von Dienstleistungen, die von öffentlichen Unternehmen angeboten werden oder bei deren Erbringung Verwaltung und private Unternehmen in Konkurrenz zueinander stehen (darunter auch Patienten öffentlicher Gesundheitsdienste)
- Information der Nutzer/Kunden - Konsultation (z.B. Umfragen, Nutzerpanels etc.) - vollständige Integration der Nutzer-/ Kundenreaktionen (Verfahren zur Steigerung der responsiveness von Verwaltung und Unternehmen, Ombudsmann, Qualitätsgarantie mit evtl. integrierter Entschädigung für nicht oder fehlerhaft geleistete Dienste)
Mitentscheidung
- Nutzer (Mitentscheidung als Bewohner, Gymnasiast etc.) - Kunde privater, aber öffentlich regulierter Dienstleistungen (z.B. wenn Patienten sich organisieren, um Druck auf das Angebot medizinischer Leistungen auszuüben) - Bürger (von dem zur Entscheidung stehenden Dienstleistungsangebot nicht direkt betroffen) - Mitarbeiter (Mitarbeiter der betroffenen Verwaltungen; hauptamtliche Mitarbeiter von Vereinen; nicht direkt vom Dienstleistungsangebot betroffen)
-
Mitgestaltung
- Nutzer (Mitwirkung an der Realisierung/Umsetzung der in Anspruch genommenen Dienstleistungen) - Bürger (ehrenamtliches Engagement in Vereinen zur Erbringung von Dienstleistungen für andere) - Arbeitnehmer (bieten ihre beruflich qualifizierte Tätigkeiten zugunsten des Allgemeinwohls ehrenamtlich an, z.B.: Lehrer geben Nachhilfe für Kinder)
- sehr begrenzte Einbeziehung in die Verwaltung von Dienstleistungen/ Delegierung von Aufgaben unter strenger Behördenaufsicht - tatsächliche Mitverwaltung, Delegation von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung - Selbstverwaltung, dritter Sektor (Solidarökonomie, community development)
Information Konsultation Mitentwicklung/Mitplanung Mitentscheidung
Fortsetzung nächste Seite
274
III/2 Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit?
Rollen
Status
Ebenen
Kontrolle und Evaluation
- Nutzer: Bewertung oder Kontrolle der in Anspruch genommenen Leistungen - Kunde (mittels Verbraucherorganisationen oder anderer Formen, anhand derer Verbraucher Einfluss auf öffentliche Unternehmen ausüben können) - Bürger (nicht direkt von dem Angebot der zu bewerteten oder zu kontrollierenden Dienstleistungen betroffen)
-
Transparenz Anhörungsrecht formalisierte Evaluation Sanktionsmöglichkeiten
Je nach Partizipationsverfahren nehmen die Bürger unterschiedliche StatusPositionen und Rollen ein. Im Rahmen der europäischen Bürgerhaushalte partizipieren Bürger vor allem in den Rollen des Verbrauchers und des Mitentscheiders. Deutlich weniger ausgeprägt ist hingegen die Rolle des Mitgestalters, die enge Verbindungen zum community development aufweist. Dies ist in Lateinamerika oder in anderen Ländern der südlichen Hemisphäre ganz anders. Die Beteiligung bei der Umsetzung der Projekte bzw. ihre Selbstverwaltung durch die Bürger steht häufig im Zentrum der Aufmerksamkeit, insbesondere dann, wenn sich das Verfahren an die ärmsten Bevölkerungsgruppen richtet. Die Rolle des Kontrolleurs und Bewerters ist hingegen nur selten zu finden und wenn, dann in Form der Interpellation der Verantwortlichen durch die mobilisierte Bevölkerung. Auf diesem Gebiet wurden immerhin einige Begleit- und Evaluationskommissionen eingerichtet. Darüber hinaus können in Porto Alegre und in Städten, in denen es einen aktiven Rat des Bürgerhaushalts gibt, die mobilisierten Bürger/Nutzer tatsächlich eine gewisse Kontrolle der kommunalen Politik ausüben. Allerdings führen häufig der Mangel an Transparenz in der Verwaltung und das Fehlen von Sanktionsmechanismen im Falle der Nichterfüllung der eingegangenen Verpflichtungen dazu, dass diese Kontrolle nur in sehr begrenztem Maß wirksam wird. Arbeitnehmer und Verbraucher Bei einer genaueren Betrachtung der unterschiedlichen Statuspositionen, die die Bürger bei der Mitwirkung an der Entscheidungsfindung einnehmen können, wird ein Problem besonders sichtbar. Es besteht darin, dass bei der Mehrzahl der gegenwärtigen partizipativen Verfahren nicht genau bestimmt ist, wie die Arbeitnehmer teilnehmen können. In den 1960er und 1970er Jahren ging es
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beim Thema Partizipation in erster Linie um Partizipation in Unternehmen, und der insbesondere in Frankreich stark entwickelte Gedanke der Selbstverwaltung fand auch in anderen Ländern Verbreitung. In Deutschland und Nordeuropa gab die Mitbestimmung den Mitarbeitern die Möglichkeit, in nicht unerheblichem Maß an Entscheidungen ihrer Unternehmen teilzuhaben. Seit Ende der 1990er Jahre und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sieht die Situation jedoch ganz anders aus. Im privaten Sektor scheint die frühere Kritik nur eingeschränkt Eingang in das Management gefunden zu haben, und auch nur in dem Sinn, dass man die Mitarbeiter mit einbezieht, um sie von der tatsächlichen Macht fernzuhalten [Boltanski/Chiapello, 2006] – während es den Aktionären gelungen ist, ihre Kontrollmacht zu behaupten. Zudem hat sich das Thema Partizipation heute eher weg von den Unternehmen in zwei andere Bereiche verlagert: Zum einen in das der Stadtpolitik, wo die Bewohner im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und die Arbeitnehmer, obwohl auch sie einen Großteil ihres Lebens an diesem selben Ort verbringen, in aller Regel vergessen werden; zum anderen in die Bereiche von Wissenschaft und Technik, in denen die Bürger eher als Verbraucher oder Nutzer denn als Mitarbeiter von Unternehmen betroffen sind. Es gibt eine potenzielle Spannung zwischen den Mitarbeitern der Kommunalverwaltung und den Bürgern, die die öffentlichen Dienste in Anspruch nehmen und mit ihrer Qualität oder den für sie zu entrichtenden Gebühren unzufrieden sein können. Einer erfolgreichen Modernisierung der öffentlichen Verwaltung sollte es daher gelingen, diese Spannung zu überwinden und ein kooperatives Klima zwischen den Verwaltungsangestellten und den Bürgern zu befördern. Dasselbe gilt für partizipative Verfahren im Allgemeinen. Wie sieht die Situation diesbezüglich im Rahmen der Bürgerhaushalte in Europa aus? Bis jetzt waren die Gewerkschaften – und insbesondere die, die die öffentlichen Angestellten vertreten – nicht gerade ein Motor bei der Entwicklung von Beteiligungsverfahren. Deutschland stellt diesbezüglich eine Ausnahme dar, da die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di ernsthaftes Interesse an der Problematik zeigt und sich die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung als Partnerin in mehreren Pilotprojekten engagiert hat. Auch in Italien und in den nordeuropäischen Ländern war ein gewisses Interesse festzustellen, mit Blick auf ganz Europa blieb das Engagement der Gewerkschaften bei diesem Thema bisher jedoch sehr beschränkt. Diese Feststellung lässt sich in Teilen mit einer gewissen korporatistischen Ängstlichkeit erklären, zumal die Einführung partizipativer Verfahren für die kommunalen Angestellten den Nachteil mit sich bringen könnte, dass durch die Präsenz eines neuen Akteurs (dem Bürger) gewohnte Abläufe in Frage gestellt und die Arbeit komplizierter wird – und das, obwohl die Zusammenarbeit mit den gewählten Vertretern häufig schon schwierig genug ist. Die stellvertretende Bürgermeisterin von Saint-Denis bringt diesen Gedanken zum Ausdruck, wenn
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sie bedauert, dass „die Einbeziehung der Verwaltung in Partizipationsprozesse nicht einfach ist. Die Mitarbeiter der Verwaltung sind der Auffassung, dass sie allein über das notwendige Fachwissen verfügen. Für sie ist es schwer zu akzeptieren, dass auch Bürger etwas beitragen können. Aufgrund dieser Haltung laufen viele Beteiligungsverfahren ohne die Verwaltung ab, selbst wenn diese anwesend ist. […] Die Leitung der Verwaltung hört sich zwar die Bürgervorschläge an, aber sie verharrt in der passiven Rolle des Zuschauers und macht in ihrem Bereich weiterhin das, was sie will.“ Jenseits zum Teil reflexartiger Abwehrreaktionen lassen sich in der Tat Risiken feststellen, die den betroffenen Mitarbeitern Sorgen bereiten können. Häufig geht die Einführung partizipativer Verfahren nicht mit einer entsprechenden Anpassung der Vergütung oder mit anderen Maßnahmen einher, mit denen der Mehraufwand der Mitarbeiter ausgeglichen wird. Denn es macht wenig Sinn, Beteiligungsprozesse zu den üblichen Bürozeiten zu organisieren, wenn die Bürger selbst noch ihren Tätigkeiten nachgehen. Selbst das freiwillige Engagement überzeugter Mitarbeiter kann auf Dauer nicht die Anerkennung ersetzen, die dieser neuen Dimension der Arbeit eigentlich zuteil werden müsste, erst recht nicht, wenn eine substanzielle Umgestaltung der Dienste und somit eine Rationalisierung der Aufgaben ausbleibt. So sah sich auch der in der Region Poitou-Charentes eingerichtete ‚Bürgerhaushalt der Gymnasien‘, der sehr weitreichende Effekte im Bereich der Verwaltungsmodernisierung hervorgebracht hat, anfangs der Kritik derjenigen ausgesetzt, die die Anfragen bearbeiten und die beschlossenen Projekte umsetzen müssen. So beschwert sich auf der Ebene Regionalverwaltung der ehemalige Leiter des Bereichs Gymnasien und schulische Einrichtungen: „Wenn (…) der Bürgerhaushalt mit seinen eigenen Projekten [zur bestehenden Arbeitslast] hinzukommt, [nach] Beginn der anderen Arbeiten, dann geht gar nichts mehr. Dann haben die Verantwortlichen große Schwierigkeiten, diese Projekte in ihren Arbeitsplan zu integrieren, zumal sie ja eigentlich schon ausgelastet sind und keine freien Stunden haben. Und wenn sie es tun, dann auf Kosten anderer Aufgaben, die dann aufgeschoben werden müssen. Häufen sich die Verschiebungen, führt dies insgesamt zu Verzögerungen. Dann müssen die Ausschreibungen verlängert werden, was wiederum viel administrativen Aufwand bedeutet. Kurzum, es macht alles komplizierter.“ Wenn sie ernsthaft durchgeführt werden und Einfluss auf den Entscheidungsprozess haben, kommen Beteiligungsinstrumente zu den an sich schon schwierigen Verwaltungsabläufen hinzu und stellen feste Gewohnheiten in Frage. Dieses Problem darf nicht vernachlässigt werden, da es sich nachteilig auf die Mitarbeiter der Verwaltung und die Dienstleistungsproduktion im Allgemeinen auswirken kann. Werden partizipative Verfahren nicht mit einer tiefgreifenden Umstrukturierung der Verwaltung verbunden, können sie zu Enttäuschungen führen und somit kontraproduktiv sein. Selbst das Vorzeigebeispiel
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Porto Alegre hatte an diesem Punkt seine Schwierigkeiten: Zwar haben zu Beginn der 1990er Jahre die Veränderung der Verwaltungsstruktur, die Einführung eines neuen Verfahrens der Haushaltsaufstellung und die Anstellung von zahlreichen politischen Vertrauensleuten, die nach brasilianischem Recht mit jeder neuen Regierung ausgewechselt werden, zu einer Stabilisierung des Bürgerhaushalts beigetragen, doch hat das Ausbleiben anderer Reformen nachträglich einen Effizienzverlust verursacht. Im Fall des ‚Bürgerhaushalts der Gymnasien‘ (Poitou-Charentes) hingegen hat die Umgestaltung des Organigramms und der Aufgabenverteilung dazu beigetragen, die Anfangsschwierigkeiten schnell zu beheben und die Leistungen der Verwaltung deutlich zu erhöhen. Allerdings ist in Europa nur in sehr wenigen Fällen eine derart konsequente Veränderung bestehender Strukturen zu beobachten. Anstatt tiefgreifende Veränderungen abzuwarten, gibt es jedoch immer auch Verwaltungsmitarbeiter, die sich mit großer Begeisterung für die neuen Partizipationsverfahren engagieren und häufig für deren Gelingen von entscheidender Bedeutung sind. In den südeuropäischen Ländern sind es häufig frühere Aktivisten, die sich derart engagieren und die Motivation hierzu aus ihrer politischen, ethischen oder professionellen Überzeugung beziehen. Es handelt sich häufig um Mitarbeiter auf zeitlich befristeten Stellen, wohingegen sich die langjährigen, fest angestellten Mitarbeiter erst nach einer gewissen Zeit und auch nur am Rand beteiligen. Aber es gibt auch andere Szenarien. In BerlinLichtenberg z.B. haben die beiden für die Organisation der Partizipation verantwortlichen Mitarbeiter den Bürgerhaushalt zu ihrer ‚persönlichen Sache‘ gemacht und stehen mit voller Überzeugung dahinter. Nach jahrelanger Routine haben sie sich ein neues Feld erarbeitet, das – trotz der erheblichen Mehrarbeit, die es bedeutet – eine Bereicherung ihres Aufgabenbereichs darstellt. Der Leiter der Personal- und Finanzabteilung drückt das folgendermaßen aus: „Ich bin verantwortlich für die Aufstellung des Haushalts und so eine Haushaltsplanung ist ja für viele ein Buch mit sieben Siegeln. Und ich hab immer ein Interesse daran gehabt, auch hinter den Zahlen zu schauen, welche Aufgaben verbergen sich denn hinter den Zahlen. […] Es ist ja mal interessant, einen Haushaltsplan verständlich zu machen, so dass ein ganz normaler Bürger versteht, was verbirgt sich denn dahinter, ohne dass er erstmal einen Lehrgang besuchen muss. Und dann einzubeziehen, also die Vorschläge von Bürgern [miteinzubeziehen und zu überlegen], wie wir dieses denn haushaltsplanerisch übersetzen können. Das fand ich einfach eine spannende Geschichte und auch eine Bereicherung meiner Aufgaben.“ Darüber hinaus stehen die beiden für den Bürgerhaushalt verantwortlichen Mitarbeiter im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Dies gilt sowohl im Umgang mit den Bürgern im Bezirk selbst als auch als Referenten auf nationalen und internationalen Konferenzen. Mittlerweile hat eine wachsende Zahl von Verwaltungsmitarbeitern Aus- oder Weiterbildungen durchlaufen, in denen Fra-
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gen und Techniken der Partizipation einen immer größeren Raum einnehmen. Auf diesem Gebiet gibt es sicherlich noch weitere, interessante Entwicklungsmöglichkeiten, dann in dem Maß, in dem sich Beteiligungsverfahren ausweiten, entstehen auch vermehrt Ausbildungen und Berufe, die sich mit ihnen befassen. Eine solche Entwicklung ist darüber hinaus auch die Voraussetzung dafür, dass die Partizipation der Bürger allmählich Eingang in die Praxis bei denjenigen findet, die in den Verwaltungen an den entscheidenden Stellen sitzen. Eine empirische Bilanz Kann uns die Untersuchung der europäischen Bürgerhaushalte Aufschluss über die tatsächlichen Auswirkungen der Partizipation auf die Modernisierung der Verwaltung geben? In dieser Frage ist, wie auch in Bezug auf die in den folgenden Kapiteln zu untersuchenden sozialen und politischen Auswirkungen, aus verschiedenen Gründen eine gewisse Vorsicht angebracht. Erstens sind die untersuchten Verfahren in der Regel sehr jung, wobei sich ihre Auswirkungen eigentlich erst mittelfristig messen lassen. Zweitens ist es methodologisch schwierig, die Variable der Partizipation von anderen Faktoren zu isolieren. Und zum dritten liegen nur sehr wenige verlässliche, vor Ort durchgeführte Evaluationen vor, auf die wir uns bei unserer Analyse stützen konnten. Die Frage der konkreten Ergebnisse von Beteiligungsinstrumenten erweist sich also immer wieder als problematisch. Hinzu kommt, dass nur wenige Verfahren einer echten Analyse unterzogen werden. Noch geringer dürfte die Zahl der Fälle sein, in denen die Evaluationen von unabhängigen Einrichtungen vorgenommen werden und Gegenstand öffentlicher Debatten sind. Die Ergebnisse, die wir hier vorstellen, gehen in erster Linie auf qualitative Untersuchungen zurück. Da sie nicht durch quantitative Studien ergänzt und geprüft werden konnten, stellen wir sie in Form von Hypothesen vor. Berücksichtigt man diese Einschränkungen, ergibt sich ein differenziertes Bild der Auswirkungen des Bürgerhaushalts in Europa auf die Modernisierung der Verwaltung. Insgesamt lassen sich sechs allgemeine, positive Tendenzen ausmachen. Die erste, in den meisten untersuchten Städten zu beobachtende Tendenz ist, dass die Qualität von Dienstleistungen durch die Einbeziehung der Nutzerexpertise, sei es durch Vereine oder einzelne Bürger, dauerhaft verbessert werden kann. Missstände oder Bedürfnisse, die die kommunalen Behörden bislang nicht klar feststellen oder auf die sie keine angemessene Antwort hatten, finden nun mehr Berücksichtigung, so dass es z.B. bei der städtischen Infrastruktur, dem kommunalen Polizeidienst oder dem soziokulturellen Angebot für Jugendliche zu Verbesserungen gekommen ist. Zivilgesellschaftliche Vereine in der spanischen Stadt Albacete, z.B., haben im Jahr 2004 eine detaillierte, alle
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Wohnviertel einschließende Bestandsaufnahme gemacht, in der neben dem Zustand der Infrastruktur besonders die Bedürfnisse in den Bereichen Gesundheitswesen, Sicherheit oder Wohnen erhoben wurden. Diese ‚von unten‘ initiierte und erstellte Bilanz hat es der Verwaltung ermöglicht, ihre Arbeit entsprechend zu verändern, indem sie sich auf Informationen stützen konnte, die ihr bis dahin nicht zur Verfügung standen. Es handelt sich somit um einen Effekt der bürgernahen Verwaltung, der auch in Modellen außerhalb des Idealtyps der ‚bürgernahen Demokratie‘ möglich ist. Die Bürgerhaushalte weisen in diesem Bereich allerdings keine stärkeren Wirkungen auf als andere Beteiligungsverfahren (wie z.B. in Hämeenlinna oder Utrecht). Auch die zweite und die dritte Tendenz hängen mit der bürgernahen Verwaltung zusammen. In vielen Fällen kann die responsiveness der Verwaltung gegenüber den Nutzern bestimmter Dienstleistungen deutlich verbessert werden. Neben einer größeren Ansprechbarkeit der Beamten können auch Anfragen aus der Bevölkerung schneller als über die klassischen Verwaltungswege übermittelt und bearbeitet werden. Dies geschieht insbesondere über reguläre FeedbackMechanismen, wobei es hierbei häufig um Einzelanfragen oder Anliegen geht, die sich auf ein einzelnes Wohnviertel beziehen (manchmal geht es aber auch um Angelegenheiten wie den Jahreshaushalt oder die Erstellung des Bebauungsplans). Weiter konnte festgestellt werden, dass die Einführung eines Bürgerhaushalts zu der Lö s u n g spezifischer Probleme beitragen kann, auf die die Verwaltung bis dato keine Antwort hatte. Meistens handelt es sich um mikrolokale Angelegenheiten, in denen es um Themen wie Sauberkeit oder Konflikte zwischen Nachbarn geht. Zu beobachten sind diese beiden hier dargelegten Tendenzen insbesondere bei Verfahren, die sich an den Modellen der ‚bürgernahen Demokratie‘, der ‚partizipativen Demokratie‘ oder auch des ‚community development‘ orientieren. Die vierte Verbesserung wird durch die Übertragung öffentlicher Aufgaben an Vereine oder Bürgergruppen erreicht, die nicht nur in der Lage sind, diese schneller durchzuführen als es die Verwaltung könnte, sondern auch mit einem besseren Verhältnis zwischen den entstandenen Kosten und der Qualität der Dienstleistung. Zwar werden im Fall der europäischen Bürgerhaushalte auf diese Weise nur mikro-lokale Projekte mit einem relativ geringen Finanzvolumen durchgeführt, doch auch diese ‚kleinen Dinge‘ können den Alltag der Bürger erleichtern bzw., wenn sie nicht funktionieren, erheblich erschweren. Dieser Aspekt zeigt sich am ehesten bei Verfahren, die sich an den Modellen des ‚community development‘ oder des ‚partizipativen Public Private Partnerships‘ orientieren. Die fünfte Tendenz basiert auf der Stärkung der fachbereichsübergreifenden Zusammenarbeit innerhalb der Verwaltung. Zur einheitlichen Beantwortung von Anfragen aus der Bürgerschaft, die sich nicht immer nur zu genau einem
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Bereich zuordnen lassen, werden die verschiedenen Fachbereiche dazu angeregt, miteinander zu kooperieren. Konkrete Maßnahmen in diesem Bereich sind daher die Einrichtung von Bürgerbüros oder themenspezifischer Arbeitsgruppen (an denen häufig auch Bürger teilnehmen können), eine verbesserte Kommunikation zwischen den Leitern und Mitarbeitern der einzelnen Fachbereiche und die Ausweitung fachbereichsübergreifender Programme. Die Forderung nach stärker integrierten Handlungsansätzen in der Verwaltung kann auch die Beteiligungsinstrumente selbst betreffen. So haben die Bürger des Berliner Bezirks Marzahn-Hellersdorf von sich aus eine Änderung der Partizipationsverfahren vorgeschlagen, weil das Nebeneinander von Strukturen und die ungeklärten Zuständigkeiten zwischen Stadt, Land und Bezirk zunehmend für Verwirrungen sorgten [Herzberg/Cuny, 2007]. Der letzte Aspekt besteht in einer Verbesserung der Transparenz der kommunalen Finanzen. Angesichts von Fragen oder der Kritik von Laien, die sich in der Regel nur wenig mit Einzelheiten der Finanzplanung befassen, gerät die Verwaltung unter Druck, ihre haushaltsplanerischen Instrumente zu verändern. Aus der Notwendigkeit heraus, den Kommunalhaushalt in einer für alle Bürger verständlichen Weise vorzustellen, erarbeiten viele Verwaltungen Broschüren und andere Unterlagen, die auch bei den gewählten Vertretern zu einem klareren Verständnis bestimmter Sachverhalte beitragen. Insbesondere in Deutschland wird im Rahmen des Bürgerhaushalts stets eine Broschüre von der Verwaltung hergestellt, in der der kommunale Haushalt klar erläutert wird. In den Berliner Bezirken Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg wurden die jeweiligen Dienstleistungen und ihre Kosten für den Bürgerhaushalt sogar in Bezug auf die Stadtteilebene berechnet, um den Teilnehmern noch deutlicher klar machen zu können, worum es geht und wie teuer genau eine Leistung ist (ein Kindergartenplatz, eine Parkbank etc.). Dieses notgedrungene Verlassen der alltäglichen Routine aufgrund der Bearbeitung konkreter Anfragen (und evtl. dem Kontakt mit den Bürgern) trägt potenziell zu einer Hinterfragung der bisherigen Praxis bei und kann daher zu einer Quelle der Modernisierung werden. Die Verfahren, in denen diese Tendenz auszumachen ist, können grundsätzlich allen sechs Beteiligungsmodellen zugeordnet werden. Während das Modell der ‚partizipativen Modernisierung‘ potenziell die gesamte Stadtverwaltung betrifft, geht es bei Verfahren, die zu den anderen Modellen gehören, nur um einzelne Projekte oder einzelne Bereiche. Eine verbesserte Transparenz lässt sich häufiger auf mikrolokaler als auf städtischer Ebene beobachten, auch wenn in fast der Hälfte der Fälle beide Ebenen betroffen sind.
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Ein Instrument der nachholenden Modernisierung? Es ist nicht leicht einzuschätzen, wie diese Effekte voneinander abhängen und inwiefern sich insbesondere eine verbesserte Transparenz auf die anderen Modernisierungstendenzen auswirkt. Die Transparenz stößt ihrerseits auch an Grenzen, an denen die eingeschränkten Kontrollmöglichkeiten der Bürger sichtbar werden. Dies ist insbesondere bei den zentralen Fragen der Haushaltspolitik der Fall, die in der Regel nicht Gegenstand des Bürgerhaushalts sind. Um Modernisierungseffekte zu ermöglichen und den Bürgern potenziell mehr und präzisere Einflussmöglichkeiten zu geben, ist es wichtig, die Partizipation mit einem umfassenden Reformprozess zu verbinden. Die einzige Stadt, in der dies bisher deutlich erkennbar war, ist Puente Genil in Andalusien. Mit einem gewissen Abstand gehören auch Berlin-Lichtenberg und Emsdetten dazu, wo ein Bürgerhaushalt nach der Einführung eines Produkthaushaltes eingerichtet wurde. Emsdetten hat zudem ein Controlling der Kosten auf sehr hohem Niveau umgesetzt. An manchen Orten haben die Beteiligungsinstrumente selbst zu einer Umstrukturierung der öffentlichen Verwaltung beigetragen, doch sind diese Fälle nicht sehr zahlreich. In den meisten Fällen sind gewisse Ergebnisse zu beobachten, doch handelt es sich hierbei überwiegend um vereinzelte Verbesserungen und nicht um umfassende Veränderungen. Die Tatsache, dass sich die Bürgerhaushalte nur in recht geringem Maß auf den Bereich der Verwaltungsmodernisierung ausgewirkt haben, lässt sich zum Teil durch ihre kurze Bestehensdauer erklären. Zudem konnten wir in a ll e n unseren qualitativen Fallstudien, wenn auch geringe, so doch vorhandene Modernisierungseffekte feststellen. Insgesamt gesehen scheint das aus Porto Alegre nach Europa importierte Verfahren in diesem Bereich sogar deutlich größere Auswirkungen zu zeigen als im sozialen oder politischen Bereich. In der Regel gibt es insbesondere dann Modernisierungseffekte, wenn der Bürgerhaushalt eng an die Verwaltung angebunden ist (ohne von ihr abzuhängen). In den meisten Fällen ist dies jedoch nicht der Fall, und der Partizipationsprozess wird von gesonderten Abteilungen bzw. Personen (vom Typ ‚Beigeordneter für Partizipation‘) verwaltet und hat entsprechend geringen Einfluss auf die Arbeit der anderen Dienste. Dies gilt allerdings auch für andere Beteiligungsinstrumente, so dass weitere Untersuchungen notwendig wären, um über diesen Punkt genauere Aussagen zu treffen. Die verschiedenen Beteiligungsmodelle zeichnen sich ihrerseits durch sehr unterschiedliche Ergebnisse aus. Paradoxerweise haben sich die Bürgerhaushalte, die zum Modell der ‚partizipativen Modernisierung‘ gehören (von dem man in diesem Bereich eigentlich besonders gute Ergebnisse erwarten würde), als enttäuschend erwiesen. Wie die deutschen Beispiele im zweiten Teil der Arbeit deutlich gemacht haben, ist vor allem der Verfahrenstyp ‚Konsultation öffentlicher Finanzen‘ wenig dazu geeignet, Parti-
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zipation und Verwaltungsmodernisierung zu verbinden. So erklären sich auch die Entwicklungsschwierigkeiten der deutschen Bürgerhaushalte. In Deutschland ist, anders als in Italien, Portugal, Großbritannien oder Spanien, noch keine Explosion neuer Beispiele zu beobachten; auch lässt sich nur ansatzweise eine Suche nach neuen, gemischten Verfahren feststellen, mittels derer sich die bestehenden Schwierigkeiten überwinden ließen. An dieser Stelle sollte eine Beobachtung angeführt werden, die in den Augen der Verfechter von Bürgerhaushalten vielleicht banal erscheinen mag, die aber in der Politik, in der Verwaltung wie auch in der akademischen Welt immer wieder heftig bestritten wird: Es ist bei der Untersuchung kein Fall aufgetreten, in dem sich (von Anfangsschwierigkeiten einmal abgesehen) die Einführung eines Bürgerhaushalts negativ auf die Effizienz der Verwaltung ausgewirkt hätte. Dies widerlegt einmal mehr die düsteren Voraussagen elitistischer Demokratietheorien, denen zufolge die verstärkte Einbeziehung von Bürgern in die öffentliche Verwaltung nur zu einer Verschlechterung der Ergebnisse führen könne. Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass die europäischen Bürgerhaushalte sich überwiegend in Städten entwickelt haben, die sich in Sachen Verwaltungsmodernisierung eher im Mittelfeld bewegen. So sind die Kommunalverwaltungen in den Ländern, in denen schon früh Bürgerhaushalte eingeführt wurden (z.B. Deutschland, Spanien, Italien und Frankreich) nicht annähernd so leistungsfähig wie etwa in den nordischen Ländern, in denen lange Zeit kein Bürgerhaushalt zu verzeichnen war. Dieselbe Feststellung macht man, wenn man innerhalb der einzelnen Länder den Stand der Verwaltungsmodernisierung in den Städten mit und denen ohne Bürgerhaushalt vergleicht: Mit Ausnahme von Puente Genil liegen erstere insgesamt gesehen eher im Durchschnitt als in der Spitzengruppe. Eine erste Hypothese zur Erklärung dieses Sachverhalts könnte lauten, dass die Bürgerhaushalte Instrumente der nachholenden Modernisierung darstellen, die es Kommunalverwaltungen mit Modernisierungsanstrengungen ermöglichen, diese voranzutreiben. Wenn dem so wäre, könnte sich das Verfahren schon in naher Zukunft als überflüssig erweisen und, sobald die Verwaltungen ein ausreichendes Modernisierungsniveau erreicht haben, durch andere Instrumente ersetzt werden. Eine andere Hypothese ist, dass wir es mit einer Übergangsphase zu tun haben: Die Einführung eines Bürgerhaushalts in Europa geschieht in der Regel in einem Kontext, in dem es eine funktionierende Verwaltung gibt. Die Anreize zur Einführung eines solchen Instruments sind geringer, wenn eine Stadt ihre Verwaltung bereits in hohem Maße modernisiert hat. Ein zukunftsträchtiges Verfahren müsste also auch für Kommunen interessant sein, die in diesem Bereich schon sehr weit vorangeschritten und daher bestrebt sind, die Bürgerbeteiligung auf eine breitere Basis zu stellen oder sich andere positive Auswirkungen auf die Effizienz ihrer Verwaltung erhoffen. Diese Hy-
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pothese des Übergangs scheint aus mehreren Gründen plausibel zu sein: So fangen nicht nur die nordischen Länder an, mit dem Bürgerhaushalt zu experimentieren (obwohl sie doch so etwas wie die Speerspitze der Verwaltungsmodernisierung darstellen); auch in Großbritannien gibt es Überlegungen, das Verfahren flächendeckend einzuführen; und drittens ist auch in Lateinamerika zu beobachten, dass sich vermehrt Städte mit hochgradig modernisierten Verwaltungen für die Einführung von Bürgerhaushalten entscheiden. Sind die Bürgerhaushalte nicht schließlich, zumindest potenziell, doch die Instrumente, die am ehesten geeignet sind, Modernisierung und Partizipation jenseits der Bürgernähe miteinander zu verbinden? Zum aktuellen Zeitpunkt lassen sich diesbezüglich keine definitiven Aussagen treffen, und die zukünftige Entwicklung hängt insbesondere vom politischen Willen und der Überzeugung der lokalen Akteure ab.
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Grundsätzlich ist die Frage zu stellen, ob es legitim ist, Verwaltungsmodernisierung und Demokratie eng miteinander zu verbinden. Kritiker sagen, dass die zwei Bereiche mteinander nichts zu tun haben. Für Rancière [1995] zum Beispiel bedeutet die „Politik“ („politique“) die radikale Infragestellung des Verhältnisses von Regierenden und Regierten, der gesellschaftlichen Hierarchien sowie der ungleichen Ressourcenverteilung. Sie sollte von daher nicht mit rein verwaltungstechnischen Fragen (was er „Polizei“ – „police“ – nennt) verwechselt oder vermischt werden. Wir werden diese Frage im vierten Kapitel und im Schlussteil erneut aufgreifen, aber schon jetzt kann festgestellt werden, dass die zum Teil verbreitete, strenge Trennung in Verwaltung und Politik zumindest abgeschwächt werden sollte. Ein erster Grund hierfür ist, dass die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung unabdingbar ist, wenn man sie in den zunehmend von Marktmechanismen geprägten gegenwärtigen Gesellschaften erhalten will. Es geht hier also um eine grundlegende Entscheidung über die Gesellschaft und nicht nur um eine Debatte über eine gute Verwaltung. Allerdings kann eine solche Überlegung nur eine indirekte Verbindung zwischen Verwaltungsmodernisierung und politischen Fragen begründen: Die Modernisierung könnte dank einer verbesserten Leistungsfähigkeit, die unter Umständen auch auf Beteiligungsverfahren zurückzuführen ist, Einflüsse auf die Form der Demokratie haben, in der wir leben.
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Technik und Politik Ein zweites, ergänzendes Argument für eine weniger scharfe Trennung zwischen Verwaltungsmodernisierung und Demokratie geht noch weiter und sieht in der Einführung partizipativer Verfahren die Möglichkeit, die politische Dimension technischer bzw. verwaltungsbezogener Entscheidungen zu stärken. Dadurch, dass diese Verfahren eine Debatte über die sozialen und demokratischen Zielsetzungen anregen, denen die öffentliche Hand eigentlich dienen sollte, könnten sie der Politik helfen, ihren Platz gegenüber Bürokraten und Experten zu behaupten. In diesem Zusammenhang sind Bürgerhaushalte besonders interessant, weil sie über den Bereich des Mikro-lokalen hinausgehen und im Zentrum eine Debatte über öffentliche Finanzen, den ‚Nerv des Krieges‘, steht. Die gewählten Vertreter sind also gut beraten, wenn sie sich auf derartige Verfahren einlassen und mit den teilnehmenden Bürgern/Nutzern kooperieren. Ein Mitglied des Regionalparlamentes der Region Poitou-Charentes, der als Direktor der öffentlichen Anstalt für sozialen Wohnungsbau in Poitiers selbst die Einführung eines Bürgerhaushalts für Mieter initiiert hat, zieht in diesem Punkt eine besonders positive Bilanz: „Die partizipative Demokratie gibt mir als gewähltem Vertreter mehr Macht, als man meinen könnte. Natürlich verfügt auch der Gewählte in der repräsentativen Demokratie über Macht, die er aber auf sehr ungleiche Weise mit den Verwaltungsmitarbeitern teilen muss. Die Mitarbeiter der Verwaltung sind jeden Tag da, sie verwalten und haben überdies das Fachwissen. Da steht der Gewählte schon manchmal ein bisschen alleine da. Wenn er sich damit begnügt, Sprechstunden anzubieten und dann zu sagen: ‚Beheben Sie bitte das Problem von Herrn oder Frau Sowieso…‘, dann kümmern sich die Mitarbeiter darum. Das gibt einem natürlich eine gewisse Macht, aber nicht sehr viel. Wenn Sie hingegen alle hinter sich haben, die etwas zu sagen haben, wenn sie deren Teilnahme mitorganisieren und ihnen einen Teil der Macht übertragen, [sieht die Sache anders aus. Hinzu kommt, dass in diesem Fall der gewählte Repräsentant] das Vertrauen der Leute hat und ihnen Entscheidungen erklären kann, die er auf nicht partizipative Weise getroffen hat – denn es geht auch nicht darum, den Leuten vorzumachen, dass sie über [alles] entscheiden können. Auf diese Weise bekommt der gewählte Vertreter eine enorme Legitimität. Er spielt eine fantastische Rolle, die zehnmal interessanter ist als im klassischen System.“ Trifft diese positive Äußerung eines Politikers jedoch auch auf andere Akteursgruppen zu? Befragt man die Verwaltungsmitarbeiter, so beklagen sich viele von ihnen darüber, dass sich die Mitglieder des Gemeinderates – bzw. in manchen Verfahren auch die Bewohner – immer wieder in Angelegenheiten einmischen, mit denen sie schlecht vertraut sind. So würden häufig schlechte
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Entscheidungen getroffen, und dies aus rein wahltaktischen oder klientelistischen bzw. rein naiven Annahmen. In dem Bestreben, diese potenziell negativen Auswirkungen des Politischen auf den administrativen Bereich zu vermeiden, ohne dabei den Vorrang des ersteren vor letzterem in Frage zu stellen, schlagen die Verfechter des New Public Management eine klare Arbeitsteilung vor, wie sie in der traditionellen Beziehung zwischen Gewählten und ihrer Verwaltung nur angedeutet war. Die Rolle des Auftraggebers müsste wieder auf die politische Ebene zurückverlagert werden und hier eine klare Zielformulierung möglich sein, wohingegen die Umsetzung bzw. eine Entscheidung über die Art der Umsetzung bei der Verwaltung läge. Eine solch klare Trennung der Zuständigkeiten würde auch die Bewertung der geleisteten Arbeit erleichtern. Zudem könnte der operative Teil viel leichter von privaten Unternehmen oder auch von öffentlichen Dienstleistern übernommen werden. Diese Dinge vermischen sich jedoch in den Verfahren der partizipativen Modernisierung, in denen die Bürger die Abläufe der Verwaltung täglich begleiten, wie es zum Beispiel in Hämeenlinna der Fall ist. Fällt die Beteiligung der Nutzer in den Bereich des Auftrags oder der technischen Leitung? Dieselbe Frage stellt sich, wenn auch in geringerem Maß, in Bezug auf Bürgerhaushalte wie den in Albacete, wo ein Rat von Bürgern berechtigt ist, sich regelmäßig über den Stand der laufenden Projekte zu informieren. Und auch im Fall von Bürgerkonferenzen, die sich mit wissenschaftlichen und technischen Fragen befassen, scheint die Arbeitsteilung zwischen politischer Auftragserteilung und technischer Expertise aufgehoben. Erst recht ist dies der Fall, wenn Bürger- oder Patientenvereinigungen an der Ausarbeitung eines städtischen Bebauungsplans oder eines Testverfahrens für ein neues Medikament beteiligt werden. Die Beteiligung erstreckt sich in diesen Fällen sowohl auf den Prozess der Entscheidungsfindung, als auch auf die Phase der Projektdurchführung – ein im Rahmen der ‚technischen Demokratie‘149 durchaus gewünschter Prozess. Man hat diesen Konzeptionen der technischen Demokratie vorgeworfen, auf gewisse Weise wirklichkeitsfremd zu sein, da sie Machtbeziehungen tendenziell unterschätze und die empirische Bedeutung der technischen Demokratie überbetone, die zwar politisch wünschbar, aber auf nur einige wenige Bereiche begrenzt sei. Eines ihrer wesentlichen Verdienste liegt hingegen darin, eine zu scharfe Trennung zwischen politischer Entscheidungsfindung und technischer Leitung in Frage zu stellen – ein Aspekt, der zum Verständnis vieler bestehender Beteiligungsverfahren notwendig ist. So zeigte sich im Fallbeispiel des ‚Bürgerhaushalts der Gymnasien‘ in der Region Poitou-Charentes, dass Kostenberechnungen mangelhaft waren, die Prioritäten nach wenig transparen-
149 Siehe die Definition im Glossar.
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ten Kriterien aufgestellt wurden und sich die Einschätzung der Dringlichkeit der einzelnen Arbeiten zu wenig an den tatsächlichen Bedürfnissen orientierte, womit das von den Mitarbeitern beanspruchte Monopol des Fachwissens tatsächlich in Frage zu stellen war. Seit der Neuorganisierung der Dienste, die mit einer besseren Integration des Beteiligungsprozesses in die täglichen Abläufe einherging, ist hingegen eine deutliche Effizienzsteigerung zu beobachten: die Transparenz hat zu einer Verbesserung der responsiveness und zu Kosteneinsparungen geführt. So wurde z.B. auf die beauftragten Unternehmen Druck ausgeübt, indem sie ihren Arbeitsaufwand besser nachweisen mussten. In manchen Fällen hat dies zu einer Eingliederung von Aufgaben geführt, die der öffentliche Dienst preiswerter erstellen kann. Angesichts dieser nachweislichen Fortschritte scheinen die Klagen der Mitarbeiter vor allem darauf zurückzuführen zu sein, dass sie den Verlust ihrer Monopolstellung befürchteten und sich in ihrer Routine gestört fühlten. Bürgerschaftliches Wissen Vermutlich aufgrund der wachsenden Ausbreitung von Instrumenten der Partizipation in Europa (und der Welt) verbreiten sich Begriffe wie ‚bürgerschaftliches Wissen‘, ‚Alltagswissen‘ oder ‚Nutzerexpertise‘ immer mehr, insbesondere in den romanischen Ländern. Sie kommen nicht nur im Sprachgebrauch politischer Funktionsträger vor, sondern werden ebenso von Vereinsvertretern, Stiftungen, Universitäten und unabhängigen Forschungseinrichtungen verwendet. Auch wenn diese Begriffe semantisch mitunter unscharf sind (womit in Teilen auch ihr Erfolg zu erklären ist), spiegeln sich in ihnen auf der anderen Seite doch breite Veränderungen wider. Um diese analysieren zu können, muss man mehrere Ebenen voneinander unterscheiden. Der Begriff des ‚bürgerschaftlichen Wissens‘ und äquivalente Konzepte beinhalten zunächst die Idee des gewöhnlichen Verstandes (raison ordinaire), über den prinzipiell alle Menschen verfügen. Dabei können zwei Varianten unterschieden werden. (1) Das ‚Nutzerwissen‘ (savoir d’usage) ist der am häufigsten verwendete Begriff. Der nordamerikanische Philosoph John Dewey hat diesen zum Paradigma erhoben, indem er schrieb: „Der Mensch, der den Schuh trägt, weiß am besten, ob er drückt und wo er drückt, auch wenn der Schuhmacher besser beurteilen kann, wie man dem abhelfen kann […] Eine Kaste von Experten ist zwangsläufig so weit vom Gemeininteresse entfernt, dass sie eine Kaste mit eigenen Interessen und einem privaten Wissen wird, was sozial gesehen auf das Fehlen von Wissen hinausläuft.“ [Dewey, 1954: 207] Das Nutzerwissen lässt sich in das Paradigma der Nähe einordnen, das man in diesem Fall auf dreifache Weise verstehen kann: zunächst als geographische Nähe, denn das Nutzerwissen ist in erster Linie auf kleinteilige Bereiche bezo-
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gen. Das Lokale ist somit das Herz und das Sprungbrett der Demokratie – eine Idee, die schon bei John Dewey vorkommt, wenn er schreibt: „Demokratie muss zu Hause beginnen, und ihr Zuhause ist die nachbarschaftliche Gemeinschaft.“ [Dewey, 1954: 213] Ein zweiter Aspekt der Nähe betrifft die Kommunikation zwischen Entscheidungsträgern und Nutzern, etwa durch Treffen zwischen lokalen Mandatsträgern und Bewohnern oder Verwaltungsmitarbeitern, die sich vor Ort, und nicht von ihrem Büro aus, um die jeweiligen Belange kümmern. Und schließlich kann Nähe auch im Sinne einer Ähnlichkeit der Sozialprofile von Entscheidungsträgern und Regierten verstanden werden.150 So verstanden stellt das Nutzerwissen eine erhebliche Bereicherung des technischen Wissens dar, insbesondere im Rahmen „hybrider Foren“ [Callon/Lascoumes/Barthes, 2001], in denen verschiedene Wissenstypen aufeinander treffen. Ein Beispiel hierfür gibt der Bürgermeister der spanischen Stadt Albacete: „Die Sinti und Roma, die in unserer Stadt leben, haben sich bei uns für die gebrauchten Schuhe, die wir ihnen jedes Jahr zu Weihnachten schenken, bedankt. Aber sie fragen uns auch, warum wir uns nie nach ihrer Schuhgröße erkundigt haben. Die Partizipationsprozesse haben dies verändert. Anstatt Einheitswohnungen zu bauen, gehen wir nun auf die kulturellen Bedürfnisse der Sinti und Roma ein. So verfügen ihre Wohnungen über große Gemeinschaftsräume, in denen sie sich für Feste versammeln können und in denen auch ein offenes Feuer angezündet werden kann.“ In anderen Beteiligungsverfahren steht, wenn es um das Wissen der Bürger geht, weniger der Aspekt des Nutzerwissens im Vordergrund, als vielmehr ihr ‚gesunder Menschenverstand‘ (bon sens) (2). Dieser Begriff verweist auf eine allgemeine Urteilsfähigkeit, auf die „natürliche, ursprüngliche Klugheit, die Einsicht des Menschen“ [Wahrig. Deutsches Wörterbuch]. Diese Form des Wissens, das nicht systematisiert und tendenziell keinen Interessen verpflichtetet ist, kommt typischerweise in Geschworenengerichten, Bürgerjurys oder auf Konsenskonferenzen zur Anwendung, auf denen ‚einfache‘ Bürger gebeten werden, zu Fragen, von denen sie nicht unbedingt betroffen sind, ihre Meinung abzugeben oder in manchen Fällen auch Entscheidungen zu treffen. Das Losverfahren wird in dieser Perspektive als Garant für die Neutralität des von den Geschworenen zu fällenden Urteils eingesetzt [Röcke, 2005; Sintomer, 2007].
150 Es handelt sich hierbei um eine alte Idee. Sie wurde insbesondere von der französischen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert entwickelt, als die Frage diskutiert wurde, welche Kandidaten am besten die Arbeiterinteressen vertreten können: „Der Arbeiter kennt seine Bedürfnisse und seine Möglichkeiten. Wer kann uns besser als er selbst darüber Auskunft geben, was er benötigt und was er will? Die gutsituierten Leute denken, dass nur sie selbst in der Lage sind, die sozialen Probleme zu lösen, und dass nur sie über das hierzu notwendige Wissen verfügen, aber auch nur ihre geringsten Anwendungsversuche scheitern stets“ [zitiert nach Rosanvallon, 1998, S. 84].
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III/2 Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit?
Der gesunde Menschenverstand entfaltet sich insbesondere bei ausreichender Information zum behandelten Thema, bei widersprüchlichen (oder zumindest pluralistischen) Debatten dazu, sowie – währenddessen oder daran anschließend – in Momenten der Selbstreflexion. Er ist also eng mit dem Gedanken der Deliberation verbunden, mit deren Hilfe man zu einer aufgeklärten Meinung gelangen kann. Zudem wäre der Grundgedanke der Demokratie, demzufolge alle das Recht haben und in der Lage sind, an der Definition der gemeinsamen Angelegenheiten mitzuwirken, nur schwer ohne die Idee des gesunden Menschenverstandes zu legitimieren. Das bürgerschaftliche Wissen beschränkt sich aber nicht nur auf das Nutzerwissen oder auf den gesunden Menschenverstand, sondern die Diskurse über Partizipation beziehen sich ausdrücklich auch auf den Bürger als Experten von Alltagsangelegenheiten. Dem Bürger wird damit ein Expertenstatus zugeschrieben, der auf den ursprünglichen lateinischen Sinn dieses Wortes zurückgeht. Demnach bedeutet Experte eine „durch Erfahrung befähigte“ Person [Trenel: Französisch-lateinisches Wörterbuch] bzw. eine Person, die „durch Erfahrung eine große Geschicklichkeit erlangt hat“ [Le petit Robert]. Mit der zunehmenden Arbeitsteilung und dem Aufkommen der experimentellen Wissenschaften hat sich die Bedeutung des Wortes allerdings im Laufe der Zeit gewandelt und wurde immer häufiger zur Bezeichnung technischen Könnens verwendet. Das französische Substantiv expert, das aus dem 16. Jahrhundert stammt, hat vor allem diese neuere Bedeutung angenommen: Der Experte ist seither „eine aufgrund ihres technischen Wissens ausgewählte Person, die in Bezug auf einen konkreten Gegenstand oder ein bestimmtes Thema Untersuchungen, Feststellungen und Bewertungen vornimmt“ [Le petit Robert]. Ähnlich wird dies auch in Deutschland gesehen, wo von „Sachverständiger“ oder „Fachmann“ gesprochen wird [Wahrig. Deutsches Wörterbuch]. Der Experte hebt sich demnach vom Nicht-Spezialisten dadurch ab, dass er sein Wissen unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten systematisiert hat. Als Laie wird folglich derjenige bezeichnet, „der von einem bestimmten Fach nichts versteht“ [Wahrig. Deutsches Wörterbuch]. Wie bereits deutlich geworden ist, sind die ‚einfachen‘ Bürger am häufigsten in ihrer Funktion als Nicht-Spezialisten zur Beteiligung aufgerufen. Ihr nicht systematisiertes Nutzerwissen bzw. ihr gesunder Menschenverstand werden zur Ergänzung von Fachwissen herangezogen, das für sich allein genommen nicht ausreicht bzw. insbesondere bei lokalen Entscheidungen inadäquat ist. Dies stellt ein Gegengewicht zur wachsenden Tendenz dar, das nicht spezialisierte Wissens zu verdrängen. Dennoch kommt es auch regelmäßig vor, dass Formen der ‚Bürgerexpertise‘, die auf einem spezialisierten Wissen beruhen, im Rahmen von Beteiligungsverfahren mobilisiert werden (sie unterscheiden sich von den beiden genannten
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Varianten des ‚gewöhnlichen Verstandes‘). In der Tat wird immer häufiger ein allgemeines ‚berufliches Wissen‘ (3) gefordert: Da Bürger, die sich engagieren, in der Regel berufstätig sind, verfügen sie über ein professionelles Wissen, das sie gelegentlich auch außerhalb ihrer Arbeit anwenden können, sei es bei der Entscheidungsfindung in einem Verein, sei es bei der Realisierung von Projekten. Typische Träger beruflichen Wissens sind z.B. der Architekt, der Widerspruch gegen ein Stadtplanungsprojekt einlegt, der Sozialarbeiter, der über Jugend- und Ausländerpolitik diskutiert oder auch Lehrer, die in ihrer Funktion als Eltern am Elternabend der Schule ihrer Kinder teilnehmen. Diese Form des Wissens nimmt mit der Entwicklung des Bildungssystems und der Wissensgesellschaft tendenziell zu. Eine zentrale Rolle bei seiner Mobilisierung spielt die gebildete Mittelschicht, die stark in den neuen sozialen Bewegungen vertreten ist. Nicht selten kommt es vor, dass Bürger in technischen Fragen mindestens ebenso kompetent sind wie die offiziell Verantwortlichen. Einer anderen Logik folgt die ‚in Auftrag gegebene Expertise‘(4). Sie bezeichnet ein technisches oder professionelles Wissen, das aus der Übertragung bestimmter Aufgaben vom Staat auf Vereine oder aus der staatlichen Anerkennung bestimmter allgemeinnütziger Aktivitäten resultiert. Eine solche Aufgabenübertragung kann sehr weit gehen, insbesondere im Bereich des community development. Das Wissen, das sich in diesem Zusammenhang entwickelt, ist mitunter von sehr hohem technischen Niveau, so dass bestimmte Aufgaben von zivilgesellschaftlichen Vereinen besser durchgeführt werden können als vom Staat – auch deshalb, weil sie flexibler und weniger bürokratisch sind, stärker das Nutzerwissen der anderen Bürger einbeziehen oder weil ihnen ihre soziale und kulturelle Nähe zu diesen die Aufgabe erleichtert. Eine wiederum andere Funktionslogik weist die (5) ‚Gegenexpertise‘ auf. Sie tritt in der Regel bei technischen oder wissenschaftlichen Kontroversen auf, sobald die Diskussion über den Kreis der eigentlichen Entscheidungsträger hinaus ausgeweitet wird. Beispiele für diese Entwicklung lassen sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte auf verschiedensten Feldern beobachten, wie die Erarbeitung alternativer Stadtentwicklungspläne, die Rolle von Patientenvereinigungen bei der Einführung neuer Behandlungsmethoden oder auch die Proteste gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel bezeugen. Mehr noch als die in Auftrag gegebene Expertise handelt es sich bei der Gegenexpertise um eine grundlegende Dimension der ‚technischen Demokratie‘. In dem Bild, das John Dewey im oben wiedergegebenen Zitat verwendet, geht sie insofern über das Nutzerwissen hinaus, als sie die Übertragung der technischen Lösung an den Schuhmacher in Frage stellt. Es geht nun nicht mehr darum, dem Schuhmacher zu erklären, wo der Schuh drückt; es geht auch nicht darum, dass einige der aktiven Bürger zufällig selbst Schuhmacher sind (wie beim ‚beruflichen Wissen‘) oder dass eine gemeinschaftliche Initiative entsteht, die gebrauchte Schuhe
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III/2 Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit?
repariert, wie bei der in Auftrag gegebenen Expertise. Zentraler Punkt der Gegenexpertise ist vielmehr, dass Bürger eine eigene Analyse erarbeiten. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Die Bürger erarbeiten selbst mehrere Beurteilungen über die Schuhe, entwickeln verschiedene Vorschläge zu ihrer Reparatur und arbeiten sogar zum Teil bei ihrer Herstellung mit. Und schließlich kann sich durch partizipative Verfahren ein (6) politisches Wissen herausbilden (wenn auch wahrscheinlich in geringerem Maß als durch Engagement in sozialen Bewegungen). Dieses Wissen setzt ein mit dem Status des Bürgers verbundenes, allgemeines Urteilsvermögen voraus. Darüber hinaus beruht es auch auf der Aneignung von Wissen durch die aktive Ausübung der politischen Rechte, ohne die dieser Status rein formal bliebe. So lernt der Bürger erst durch aktive Teilnahme die Funktionsweise und Bedeutung der politischen Institutionen kennen. Tendenziell schwächt somit die politische Passivität den formalen Status. Zudem muss ein Unterschied gemacht werden zwischen dem gesunden Menschenverstand, der prinzipiell allen Bürgern zuerkannt wird (alle sind wahlberechtigt) und dem gesunden Menschenverstand, der in Rahmen der politischen Kultur (culture civique) durch politische Sozialisation und Bildung entsteht. Theoretikern der partizipativen Demokratie (Carole Pateman oder C. B. MacPherson) zufolge können sich gesunder Menschenverstand und politische Kultur durchaus gegenseitig verstärken. Es gibt aber auch andere Sichtweisen. So waren in der Antike die aristokratischen Kritiker der Demokratie der Auffassung, dass die Ämter entsprechend der politischen Fähigkeiten besetzt werden sollten. Eine solche Argumentationsweise tritt noch deutlicher in den modernen, vom Prinzip der Repräsentation geprägten Demokratien zum Vorschein. Den Gedanken der Gründungsväter zufolge wird hier die Entscheidungsfindung an gewählte Vertreter übergeben, die ‚gebildeter‘ bzw. ‚weiser‘ als die einfachen Bürger seien. Das Bild der vita activa (und der mit ihr verbundenen politischen Kultur) ist in diesem Fall deutlich weniger stark ausgeprägt als in der athenischen Polis oder auch im bürgerlichen Humanismus in Florenz am Übergang vom Mittelalter zur Renaissance. Auch während des gesamten 19. Jahrhunderts sah sich die breite Bevölkerung dem Verdacht der Unfähigkeit ausgesetzt – und dies bei weitem nicht nur von Seiten konservativer oder liberaler Denker. Auch Politiker der republikanischen oder sozialistischen Linken standen der Idee des allgemeinen Wahlrechts sehr ambivalent gegenüber, insbesondere in Frankreich [Rosanvallon, 1992]. Die Spannung zwischen politischem gesundem Menschenverstand und Politik als beruflicher Beschäftigung hat in dem Moment deutlich an Intensität zugenommen, als aus der Politik ein eigenständiger Beruf wurde. Der Gedanke, dass die soziale Arbeitsteilung zunehmen werde und dass es normal sei, dass die aktive Politik, ebenso wie jede andere Aktivität, einer begrenzten Zahl an hierfür eigens ausgebildeten Menschen vorbehalten sei, war bereits in der Französischen Revolution präsent. Noch deutli-
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cher zum Ausdruck kam er jedoch durch das allmähliche Aufkommen von Berufspolitikern und die Gründung von Massenparteien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Im Laufe dieser Entwicklung wurden die normalen Bürger zunehmend als politische Laien gegenüber denen angesehen, die ‚Politik als Beruf‘ ausüben, was ein starkes Gegengewicht zum sich allmählich verbessernden Zugang jedes erwachsenen Menschen zu vollen staatsbürgerschaftlichen Rechten bildete. Die politische Kultur (culture civique) der Laien wurde von dem politischen Wissen der politischen Berufsmenschen getrennt. Dennoch gestand selbst ein Liberaler wie Benjamin Constant [1986], der leidenschaftlich die politische Arbeitsteilung verteidigte, den Bürgern die Fähigkeit und sogar die Pflicht zu, die gewählten Vertreter daraufhin zu überprüfen, ob sie auch im Bürgerinteresse handeln. Anhänger sehr verschiedener politischer Strömungen (von den Republikanern über manche Sozialisten bis hin zu den Liberalen) sprachen sich dafür aus, dass die Bürger die Funktionsweise von Staat und Politik gut kennen sollten. Hierzu gehörte das Wissen über das Funktionieren der staatlichen Institutionen, aber auch Kenntnisse über allgemeine politische Themen und Fragen des Gemeinwohls. Aus dieser Perspektive war es erforderlich, dass der Staat selbst zum Ausbilder wird, was mitunter die Entstehung öffentlicher Schulen und bildungspolitischer Einrichtungen erklärt. Auf dieselbe Weise wurde häufig auch die Beteiligung von Laien in Schwurgerichten begründet, denn sie erlaubte es Mitgliedern der Zivilgesellschaft, die Gesetze kennen zu lernen, sie anzuwenden und einzufordern [Hegel 1995, § 228; Sintomer 2007]. Auch noch heute werden Verfahren der Bürgerbeteiligung mit einer derartigen Begründung eingeführt: Sie würden es den Bürgern ermöglichen, die Komplexität politischer Angelegenheiten, das Funktionieren des Staates oder auch die Grundsätze der Verwaltung besser zu verstehen. Diese politische Kultur, die durch den Kontakt mit politischen Institutionen erworben wird, hat eine starke Legitimationsfunktion. Bei diesem Wissen geht es weder um den gesunden Menschenverstand noch um Expertise im professionellen Sinne. Es handelt sich vielmehr um eine partielle Einführung in die Geheimnisse der professionellen Politik, die aber letztlich den Berufspolitikern überlassen bleibt. Das politische Wissen, das im Rahmen von Beteiligungsverfahren oder durch gesellschaftspolitisches Engagement entsteht, kann jedoch über die gerade beschriebene Arbeitsteilung zwischen denen, die wissen, und denen, die lernen, hinausgehen. Es kann nicht auf eine einfache politische Kultur (im oben definierten Sinn) reduziert werden. Bei manchen Beteiligungsverfahren geht es im Sinn einer „Schule der Demokratie“ [Talpin, 2007] oder des empowerment darum, die Bürger zu bilden und damit zu autonomen Handeln zu befähigen. Ein solches Wissen beruht auf dem oben beschriebenen politischen Nutzerwissen und einer politischen Kultur, darüber hinaus jedoch auch auf kollektiv aus-
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geführten Formen der Expertise und Gegenexpertise, die zu der Formierung einer Gegenmacht beitragen [Fung/Wright 2005]. All diese Typen bürgerschaftlichen Wissens stoßen auf gewisse Schwierigkeiten und an bestimmte Grenzen. So hat das Nutzerwissen die Tendenz, die Partizipation auf lokale Angelegenheiten oder einen bestimmten Bereich zu reduzieren. Hierin liegt auch der Grund, warum es in Elitentheorien der Demokratie integrierbar ist: Die Überlegungen der Bürger könnten bei lokalen Angelegenheiten durchaus Sinn machen, sobald man jedoch diesen Bereich verlasse und allgemeinere Fragen behandle, sei es geradezu lächerlich, auf das Bürgerwissen zu zählen [Schumpeter, 1993]. Der gesunde Menschenverstand trifft auch auf bestimmte Grenzen, z.B. in öffentlichen Versammlungen. Bürger, die mit einem größeren kulturellen Kapital ausgestattet oder einfach die Sprache beherrschen, die in solchen Instanzen angemessenen bzw. erforderlich ist, können die Zuhörer eher von ihrer Position überzeugen als solche ohne diese Fähigkeiten. Allgemein kann man beobachten, dass Jugendliche, Angehörige unterer Bevölkerungsschichten oder Immigranten sich in öffentlichen Versammlungen weniger zu Wort melden als andere Teilnehmer. Auch das berufliche Wissen ist ungleich verteilt und anerkannt. Bürgerversammlungen verlaufen, je nachdem ob sie in Vierteln mit armer (tendenziell stärker ‚bildungsferner‘) oder reicher (tendenziell stärker ‚bildungsnaher‘) Bewohnerschaft abgehalten werden, unterschiedlich. Eine Person mit hohem Bildungsgrad hat mit Blick auf ihr berufliches Wissen weitaus bessere Möglichkeiten, bei Versammlungen ihre Interessen zu verfechten als jemand, der aus einer unteren Gesellschaftsschicht stammt. Zu spüren ist dies insbesondere in Vierteln mit einer sozial gemischten Bewohnerschaft. Die in Auftrag gegebene Expertise ist von einer inneren Spannung gekennzeichnet. Je mehr sich die Verantwortlichen von Vereinen oder Initiativen professionalisieren und zu Experten für die von ihnen übernommenen Aufgaben werden, desto weiter entfernen sie sich vom Nutzerwissen der übrigen Bürger wie auch von der Basis ihrer eigenen Organisation. Die Unterteilung zwischen Experten und Laien besteht also auch innerhalb der Zivilgesellschaft – und nicht nur zwischen Bürgern und politisch-administrativem System. Dieses Problem tritt auch bei der Gegenexpertise auf. Deren Einfluss ist darüber hinaus noch begrenzt, da eine Gegenexpertise der aktiven Zivilgesellschaft häufig ausbleibt bzw. missachtet wird. Als eine der wenigen Ausnahmen können nur die Mobilisierung AIDS-Kranker oder US-amerikanische Frauenorganisationen genannt werden, die Druck für eine Weiterentwicklung von Medikamenten gegen den HIV-Virus bzw. gegen Beschwerden der Wechseljahre ausgeübt haben [Gaudillière, 2006]. Und wenn man einmal diejenigen Communityplanning-Verfahren beiseite lässt, die tatsächlich Effekte gezeigt haben – wie viele Wohnviertel haben in der Folge von Baumaßnahmen ihren Charakter und ihre ursprüngliche Bewohnerschaft verloren, weil eine Gegenexpertise gefehlt
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hat? Vor diesem Hintergrund lässt sich daher fragen: Stehen das Wissen und die Kultur der Laien – also das bürgerschaftliche Wissen und das ‚echte‘ politische Wissen nicht grundsätzlich in einem gewissen Spannungsverhältnis? Diese Fragen betreffen die Bürgerhaushalte insbesondere dann, wenn es nicht nur um lokale Angelegenheiten geht, sondern um komplexe Finanzprobleme, die bei weitem nicht auf Grundlage des Nutzerwissens allein angegangen werden können: „Wenn man sich am Bürgerhaushalt beteiligt, muss man sich für eine Arbeitsgruppe eintragen und an einer bestimmten Zahl an Sitzungen teilnehmen. Und das Problem ist immer dasselbe: Man kommt an und hat das Dossier, das an dem betreffenden Tag behandelt wird, nicht gelesen, da man es gerade erst erhalten hat. Auf einmal wird einem ein Haufen Unterlagen in die Hand gedrückt, und man wird von dem Verwaltungsmitarbeiter, der das Dossier vorbereitet hat, mit lauter Zahlen konfrontiert […] Aber wie soll man entscheiden, wie soll man seine Meinung äußern, wenn man doch erst kurz zuvor angefangen hat, sich überhaupt mit dem Dossier zu befassen? Man kann dann nicht einmal mehr andere Leute aus seinem Wohnviertel fragen. Und wenn es um andere Viertel geht, deren Alltag man nicht kennt, kann man sich erst recht keine eigene Meinung bilden. […] Um seine Meinung einbringen zu können, muss man vorher nachgedacht haben, vor allem, weil es immer um so hohe Summen geht. […] Ich denke, dass wir eine kleine Fortbildung bekommen müssten.“ (Bürgerin, die sich im Bewohner-Verein des Quartiers Allende in Saint-Denis, Frankreich engagiert). Einige der von dieser engagierten Bürgerin angesprochenen Probleme ließen sich recht einfach lösen, zum Beispiel durch eine bessere Arbeitsorganisation (die Teilnehmer erhalten z.B. das entsprechende Dossier etwas vor der Sitzung) und durch Fortbildungen. Diese könnten nicht nur den mobilisierten Bewohnern ein größeres Hintergrundwissen vermitteln, sondern böten auch den Verwaltungsmitarbeitern die Möglichkeit, sich mit den Beteiligungsverfahren vertraut zu machen und eine allgemeinverständlichere Sprache zu verwenden. Allerdings würden die Spannungen, die innerhalb und zwischen den Bereichen des bürgerschaftlichen Wissens bestehen, auch durch diese Maßnahmen nicht automatisch behoben werden können – so besteht zum Beispiel die Möglichkeit, dass der Abstand zwischen engagierten Bürgern, die eine Fortbildung besucht haben, und dem Rest der Bürger stetig zunimmt. Aber gehen diese Spannungen nicht deutlich über die Bürgerhaushalte hinaus und betreffen die Politik als solche? Das Wissen derer, die aus der Politik einen Beruf machen, bemisst sich zunächst an ihren strategischen und taktischen Fähigkeiten im Kampf um die Macht, ohne die niemand in der Lage wäre, sich im politischen Spiel zu behaupten. Wenn sich die Politik jedoch darauf beschränken würde, dann gäbe es ausschließlich reine Machtpolitiker. Professionelle Politiker müssen von daher auch sachliche Kenntnisse im Bereich der
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III/2 Öffentliche Dienstleistungen im Dienste der Öffentlichkeit?
öffentlichen Verwaltung haben sowie ihr Aufgabenfeld genau kennen. Darüber hinaus müssen Berufspolitiker auch in der Lage sein, kollektives Handeln zu koordinieren und Themen politisch zu bewerten, d.h. die gesellschaftlichen Risiken bei der Umsetzung einzuschätzen. Denn nur wenn auch ethisch-politische Aspekte einbezogen werden, kann eine rein bürokratische oder technokratische Herangehensweise überwunden werden [Weber, 1977]. Dieses Wissen kann deswegen nie rein sachlich sein. Wenn Berufspolitiker demnach auf eine eigene Expertise angewiesen sind, gilt es dann nicht vielmehr die ‚Befähigung durch Erfahrung‘ zu entwickeln anstelle einer rein beruflichen oder wissenschaftlichen Kompetenz? So gesehen bestünde nur ein relativ geringer Unterschied zwischen dem politischen Wissen der Berufspolitiker und Bürgern, die sich in Beteiligungsprozessen engagieren. Damit gäbe es auch keine Legitimation dafür, dass die Macht in Händen der politischen Mandatsträger monopolisiert wird, wie es sich historisch durchgesetzt hat. Bei der technischen Demokratie geht es genau darum, eine andere Art der Verbindung von technisch-professionellem und Nutzer-Wissen, von Expertise und gesundem Menschenverstand, von Fachwissen und politischer Kultur herzustellen, die als normativ wünschbar präsentiert wird und neue Wissensformen ermöglichen soll. Wie bereits deutlich geworden ist, ist dies kein einfacher Weg, aber angesichts der Herausforderungen und Schwierigkeiten einer rein technokratischen Herangehensweise scheint es unausweichlich, ihn zu versuchen. Die empirische Bilanz der Bürgerhaushalte scheint dies, auch wenn sie insgesamt bescheiden ausfällt, zu bestätigen. Jedes der Beteiligungsmodelle stützt sich auf einen bestimmten Typ bürgerschaftlichen Wissens und jedes hat seine spezifischen Schwierigkeiten, deren systematische Untersuchung jedoch noch aussteht. Insgesamt gesehen haben wir es mit einer sehr vielseitigen Entwicklung zu tun, die eines deutlich macht: Wenn die Partizipation zur Modernisierung der Verwaltung beiträgt, wäre es dennoch ein Fehler, sie auf rein verwaltungstechnische Aspekte zu reduzieren – umso mehr, als ihre Entwicklung eng mit Fragen der technischen Demokratie zusammenhängt und hierdurch letzten Endes höchst politische Fragen aufgeworfen werden.
Kapitel 3
Ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit?
Können Bürgerhaushalte auf sozialem Gebiet eine ebenso viel versprechende Entwicklung vorweisen wie bei der Modernisierung der Verwaltung und in der technischen Demokratie? Von den Globalisierungsgegnern wird das Verfahren von Porto Alegre als Baustein einer Alternative zum Neoliberalismus präsentiert. Die Übernahme des Konzepts auch durch internationale Organisationen ermöglicht eine distanziertere Betrachtung, wenngleich eine Tatsache keine Zweifel zulässt und auch von wissenschaftlichen Studien belegt wurde: Die lateinamerikanischen Bürgerhaushalte haben zu bedeutenden sozialen Verbesserungen geführt [Marquetti/de Campos/Pires, 2007; BIRD/BM, 2008]. Diese Verbesserungen basieren einerseits auf Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit, nach denen den ärmsten Bevölkerungsschichten mehr Ressourcen zugeteilt werden als besser gestellten Bevölkerungsgruppen. Andererseits sind sie darauf zurückzuführen, dass gerade diese benachteiligten Gruppen massiv von den Bürgerhaushalten Gebrauch machen, so dass er auch als ‚Instrument der Armen‘ gilt. Wie sieht es dagegen in Europa aus? Inwiefern unterscheiden sich Bürgerhaushalte von anderen institutionellen Partizipationsverfahren?
1.
Eine Alternative zum Neoliberalismus?
Im Vergleich zu Südamerika sind die empirisch messbaren sozialen Auswirkungen der europäischen Bürgerhaushalte relativ gering. In nahezu jedem zweiten Fall können keinerlei soziale Effekte beobachtet werden. In einigen Fallbeispielen, besonders in Deutschland, kommt die Frage nach sozialer Gerechtigkeit nicht einmal auf die Tagesordnung, in anderen wird sie rein rhetorisch gestellt ohne Konsequenzen für die Praxis. In knapp der Hälfte der analysierten Fälle gibt es zwar Auswirkungen in diesem Bereich, jedoch in nur sehr begrenztem Maße. Wenn ein Bürgerhaushalt die Verteilung finanzieller Ressourcen beinhaltet, so begünstigt dies tendenziell die Glaubwürdigkeit des Verfahrens, da die Diskussionen in konkrete Entscheidungen münden. Die soziale Tragweite des Bürgerhaushalts hält sich jedoch in der Regel auch in diesen Fällen in Grenzen, da die Summen relativ begrenzt bleiben, und nicht grundsätzlich der Abbau von
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III/3 Ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit?
Ungleichheiten durch gezielte Ressourcenverteilung beabsichtigt ist. Trotzdem gibt es diesbezüglich große Unterschiede zwischen den untersuchten Fallbeispielen. In zwei Fällen übersteigt das Budget des Bürgerhaushalts hundert Euro pro Einwohner bzw. vom Verfahren betroffenen Person: Pieve Emanuele mit ca. 130 Euro, was mehr als 10% des kommunalen Gesamthaushalts sind; der ‚Bürgerhaushalt der Gymnasien‘ aus Poitou-Charentes, wo insgesamt mehr als 300 Euro, d.h. 2% des regionalen Haushalts und 9% des Schuletats auf diesem Wege verteilt werden. In dieser Größenordnung sind Maßnahmen mit einer gewissen Tragweite möglich – in sozialen oder anderen Bereichen. In Pieve Emanuele beispielsweise ist die Bilanz beachtlich: Abgesehen von Maßnahmen für die ganze Stadt konzentrierte sich der Großteil der Projekte auf zwei Quartiere, die gravierende infrastrukturelle Defizite aufwiesen. Erklärt werden kann dieses Ergebnis durch die starke Mobilisierung der Bewohner in diesen Gebieten als auch die positive Reaktion der Exekutive, obwohl diese Einwohner nicht zu ihrer traditionellen Wählerschaft gehörte. Ganz anders ist die Situation im Falle des ‚Bürgerhaushalts der Gymnasien‘ von Poitou-Charentes. Obwohl auch hier beachtliche Summen bereitgestellt werden, fehlt ein Verteilungsmechanismus zwischen den (armen und reichen) Schulen, was von Anfang an einen sozialen Ausgleich verhindert hat. Allerdings ermöglicht die Verfahrensweise eine Art schulinternen Ausgleich zugunsten der traditionell am wenigsten berücksichtigten Personengruppen – vor allem Schüler (insbesondere Internatsschüler) und ‚technisches‘ Personal (Hausmeister, Köche, Putzfrauen u.ä.). Es handelt sich hierbei um einen Verfahrenseffekt: Aufgrund des gleichen Stimmrechts aller Beteiligten unabhängig von ihrem Status ist automatisch die größte Gruppe im Vorteil, in diesem Fall die Schüler. Die seit vier Jahren finanzierten Projekte (kulturelle Aktivitäten, Renovierung der Internate etc.) zeigen deutlich eine Orientierung an den Bedürfnissen derjenigen, die in den traditionellen Gremien der Schulen bisher wenig zu sagen hatten. In einer zweiten Fallgruppe werden den Bürgerhaushalten Summen von 15 bis etwa 30 Euro pro Einwohner zugeteilt: Córdoba (28 Euro), Morsang-surOrge (24 Euro) und Sevilla (17 Euro). Diese relativ bescheidenen Einzelbeträge ergeben mit 9 Millionen Euro in Córdoba und um die 12 Millionen in Sevilla im Jahr 2004 (4,3% bzw. 1,4% des kommunalen Haushalts) zwar beachtliche Gesamtsummen,151 die Bürgerhaushalte stellen aber keine Relaisstationen der sozialen Umverteilung dar. Besonders deutlich ist dies in Morsang-sur-Orge, wo dieses Ziel gar nicht auf der Tagesordnung steht: Unabhängig von der jeweiligen sozioökonomischen Situation erhält jedes Stadtviertel die gleichen Beträge.
151 Mit Ausnahme des Jahres 2005, in dem Fahrradwege im größeren Umfang eingeplant wurden, hat sich in Sevilla das Budget des Bürgerhaushaltes bei 14 Mio. Euro eingependelt.
III/3.1 Eine Alternative zum Neoliberalismus?
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Kein formales Verteilungskriterium begünstigt die am meisten Benachteiligten oder bemüht sich um die Integration derer, die normalerweise von politischen Prozessen ausgeschlossenen sind. Dies führt insbesondere zu einer massiven Unterrepräsentation der Migranten in den Gremien des Bürgerhaushalts. Nicht zuletzt geht es bei den meisten Entscheidungen in den Quartieren nicht um soziale Angelegenheiten, sondern um Projekte wie die Ausbesserung von Bürgersteigen und Straßen, den Bau von Fahrbahnschwellen zur Verkehrsberuhigung, von Fahrradwegen oder um eine neue Verkehrsbeschilderung. Auch auf Ebene der Gesamtstadt werden innerhalb der konsultativen Gremien des Bürgerhaushalts nur sehr selten soziale Anliegen diskutiert. 152 Diese Ausführungen zeigen, dass eine bürgernahe Beteiligung nicht notwendigerweise mit sozialer Gerechtigkeit verbunden ist. Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Situation in den spanischen Städten Córdoba und Sevilla deutlich, da dort die soziale Umverteilung offiziell als eines der Hauptziele des partizipativen Verfahrens festgelegt ist. Wie in Porto Alegre stützt es sich auf formale Verteilungskriterien zugunsten benachteiligter Bevölkerungsgruppen (Córdoba) bzw. zugunsten von Stadtteilen, die hinsichtlich Infrastruktur und Dienstleistungsangebot Defizite aufweisen (Córdoba und Sevilla). Die konkreten Ergebnisse lassen jedoch zu wünschen übrig. Obwohl der Bürgerhaushalt eindeutig soziale Projekte unterstützt hat, hielt sich der tatsächliche soziale Ausgleich in Grenzen. In Córdoba haben weniger die ärmsten Stadtviertel von einem Investitionsschub profitiert als vielmehr Randgebiete mit schlechter Infrastruktur, mit einer jedoch ökonomisch relativ gut gestellten Bewohnerschaft. Ebenso rekrutierten sich die beteiligten Bürger nicht gerade aus den sozial benachteiligten Gruppen oder Stadtvierteln. In Sevilla profitierte der Polígono Sur, eines der ärmsten Viertel der Stadt mit mehreren zehntausend Einwohnern und einer Arbeitslosenquote von 50% (2005), zwar von den Verteilungskriterien des Bürgerhaushalts, aber die entsprechenden Mehrzuteilungen sind äußerst gering. Von den für Großprojekte vorgesehenen Mitteln erhält das Gebiet 10,90 Euro pro Einwohner statt der durchschnittlichen Zuweisung von 8,70 Euro, was einem Bonus von 70.000 Euro entspricht. Der Polígoro Sur erhält auf diese Weise insgesamt 350.000 Euro. Dies ist nicht gerade viel, wenn man bedenkt, dass die Umgestaltung einer Straße oder der Bau einer Sportstätte insgesamt mit jeweils 1,2 Millionen Euro veranschlag wurde. Weitere Gelder bekommt der Stadtteil zwar aus dem Bürgerhaushalt für kleinteilige Maßnahmen, aber auch hier fällt das Kriterium der sozialen Benachteiligung nicht besonders ins Gewicht. Wirklich entscheidende finanzielle Hilfen (einige Millionen Euro) wurden dem Viertel im Rahmen eines gemeinsamen
152 Möglicherweise möchte die Stadtverwaltung die Entscheidungsgewalt über soziale Fragen für sich behalten, da sie sie als zentrale Kompetenz betrachtet.
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III/3 Ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit?
Programms der Europäischen Union (über ihre Strukturfonds) zuteil, das jedoch in einem separaten Beteiligungsverfahren verwaltet wurde. Die häufig vorgeschlagene Integration dieser Beträge in den Bürgerhaushalt wurde bis jetzt nicht verwirklicht. Demnach sind in diesen Hochburgen der Linken, in denen nach direktem Vorbild von Porto Alegre Verteilungskriterien zur Förderung sozialer Gerechtigkeit aufgestellt wurden, die sozialen Effekte der Bürgerhaushalte nicht vergleichbar mit den brasilianischen Vergleichsbeispielen und wohl noch geringer als die Ergebnisse der klassischen sozialen Stadtentwicklungspolitik. In der dritten Gruppe der Bürgerhaushalte belaufen sich die zur Verfügung gestellten Mittel auf unter 10 Euro pro Einwohner – Saint-Denis (8 Euro), Pontde-Claix (5,50 Euro), Salford (3,18 Euro), Bradford (2,18 Euro für den Bürgerhaushat auf Stadtebene, bei Einbeziehung der Gemeinwesenfonds für benachteiligte Viertel verdreifacht sich der Betrag) oder Płock (1,91 Euro). In den von der Stadt verwalteten Sozialprogrammen finden in den meisten Fällen die Vorschläge des Bürgerhaushalts keine oder nur eine geringe Beachtung. In Bradford und Salford ist die Situation hingegen etwas anders. Insbesondere in Bradford wurden die Gelder ausschließlich den am meisten Benachteiligten gewidmet und der Bürgerhaushalt wurde im Rahmen eines nationalen Programms zur städtischen Erneuerung mit genau diesem Ziel durchgeführt. In dieser Stadt haben sich die Bewohner benachteiligter Viertel sowie ethnische Minderheiten aktiv am Verfahren beteiligt. Die Beträge, um die es geht, bleiben jedoch sehr bescheiden: Auf die ganze Stadt umgerechnet sind es nur einige Euro pro Einwohner gegenüber einem kommunalen Haushalt von 1.800 Euro pro Einwohner. Die Situation in Płock ist hier durchaus vergleichbar. Allerdings sind bei dem polnischen Beispiel die Auswirkungen noch begrenzter, da nur ein Teil der finanzierten Projekte eine soziale Zielsetzung hat und die Beteiligten nicht aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen kommen. In diesem Fall trägt die Einrichtung von Bürgerhaushalten kaum zur Förderung sozialer Gerechtigkeit bei, auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass eine derartige Entwicklung angestoßen wird. Wenn man die rein konsultativ ausgerichteten Bürgerhaushalte in diese Analyse mit einbezieht, sieht die Situation nicht grundsätzlich anders aus. Die deutsche Gemeinde Emsdetten entspricht beispielsweise der zweiten hier beschriebenen Gruppe. Der Bürgerhaushalt verfügt nicht über einen eigenen Haushaltsposten, aber die in diesem Rahmen von den Bürgern vorgeschlagene und von der Stadtverwaltung akzeptierte Steuererhöhung brachte jährlich zusätzlich 610.000 Euro ein, mit denen öffentliche Leistungen gesichert werden konnten. Dennoch wurden diese neuen Mittel, die außerdem mit weniger als 20 Euro pro Einwohner bei einem kommunalen Haushalt von ca. 1.600 Euro pro Einwohner bescheiden blieben, nicht zwangsläufig den am meisten Benachteiligten gewidmet. Im elften Bezirk von Rom hingegen trug die Gleichbehandlung der Be-
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wohner der verschiedenen Stadtviertel eindeutig dazu bei, dass in die bis dahin sehr vernachlässigten Randgebiete investiert wurde. Diese werden nicht unbedingt von den ärmsten Bürgern bewohnt, doch wurde durch das Verfahren eine territoriale Umverteilung erwirkt, vergleichbar mit der in Córdoba. In PoitouCharentes hat die Regionalverwaltung durch den Bürgerhaushalt die wirtschaftlichen Disparitäten zwischen den Gymnasien entdeckt und investiert seit dem mehr Gelder in die benachteiligten Schulen. So hat auch dieses Verfahren einen indirekten, wenn auch nicht exakt messbaren, sozialen Effekt. In der spanischen Stadt Albacete konzentrierten sich in den ersten beiden Jahren (2002/2003) die Maßnahmen auf Randgruppen, besonders auf die am meisten stigmatisierte und verarmte Gruppe der Sinti und Roma. Die hier erzielten bemerkenswerten Erfolge beschränkten sich zwar auf einen sehr kleinen Kreis der Bevölkerung, doch konnten auch andere Gruppen indirekt von der verstärkten Aufmerksamkeit der öffentlichen Verwaltung gegenüber sozialen Problemen und von verbesserten Leistungen profitieren. In Bobigny hat vermutlich die zahlenmäßig starke Beteiligung der unteren Schichten im Bürgerhaushalt die Kommunalverwaltung in ihrer ehrgeizigen Sozialpolitik bestätigt und unterstützend gewirkt. In Europa kann nur die kleine italienische Stadt Grottammare eine mit den brasilianischen Bürgerhaushalten vergleichbare soziale Bilanz vorweisen. Zu Beginn des Prozesses richteten sich die Aufmerksamkeit der Verwaltung und die Anfragen der Bewohner ausschließlich auf die beiden peripheren Stadtviertel im Süden der Stadt Ischia I und II. Eine irrationale und chaotische Stadtplanung machte diese zu ‚Schlafstädten‘ mit stark anwachsender Bewohnerschaft, aber ohne kulturelle und soziale Infrastruktur, abgeschnitten vom Rest der Stadt und geprägt von wachsender sozialer und ethnischer Segregation. Die ersten Versammlungen für den Bürgerhaushalt wurden von den Bewohnern dieser Ortsteile nahezu überrannt. Sie forderten von der Kommunalverwaltung, sich mit ihren Problemen zu befassen, die Infrastruktur deutlich zu verbessern und gezielte Maßnahmen für die am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen in die Wege zu leiten. Schneller und selbständiger als in anderen Quartieren bildeten die Bewohner partizipative Beiräte. Obwohl der Beteiligungsprozess nicht auf klaren Regeln zur Umverteilung basierte und die Bewohner nicht direkt Entscheidungen über einen eigenen Fonds treffen konnten, reagierte die Stadtverwaltung schnell auf die dringendsten Anliegen. Die Bürgerbeteiligung führte zu einer sozialen Integration durch Umverteilung, so dass diese Ortsteile heute gegenüber den Vierteln im historischen Zentrum nicht mehr zurückstehen. Durch dieses Verfahren wurde das Gesamtbild der Gemeinde grundlegend verändert. Nach den positiven Entwicklungen in Ischia I und II hat dort die Beteiligung nachgelassen, während sie zugleich in anderen Vierteln anstieg, die aufgrund der anhaltenden städtischen und demographischen Expansion unter einer defizitären Infrastruktur leiden.
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III/3 Ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit?
Insgesamt gesehen können zwar soziale Auswirkungen der europäischen Bürgerhaushalte beobachtet werden, doch bleiben diese relativ bescheiden. Ihr Einfluss besteht in der Regel aus einer einmaligen Verbesserung der Situation einzelner, stark benachteiligter Bevölkerungsgruppen, nicht hingegen aus einer grundlegenden Veränderung des makrosozialen Gleichgewichts hinsichtlich mehr sozialer Gerechtigkeit. Diese ‚kleinen Schritte‘ oder auf bestimmte Bereiche beschränkten Fortschritte sind zwar nicht zu vernachlässigen, da sie auf lokaler Ebene eine Veränderungsdynamik in Gang setzen können. Man sollte sie jedoch auch nicht überschätzen. Je mehr sich die Fallbeispiele den Modellen der ‚partizipativen Demokratie‘ und des ‚community development‘ annähern, umso stärkere soziale Konsequenzen konnten beobachtet werden, auch wenn die empirische Bilanz insgesamt betrachtet enttäuschend bleibt. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, da kommunale Unternehmen meist nicht in den Bürgerhaushalt eingebunden werden, obwohl sie von großer Bedeutung für die lokale Politik sind. Die kleinen Städte Puente Genil in Spanien und, mit Einschränkungen, auch Groß-Umstadt in Deutschland sowie Bobigny und Poitiers in Frankreich (zwei Städte, in denen es in der öffentlichen ‚Anstalt für sozialen Wohnungsbau‘ einen eigenständigen Bürgerhaushalt gibt) stellen in dieser Hinsicht Ausnahmen dar – unabhängig von ihrer unterschiedlichen Einordnung in die hier aufgestellten Idealtypen der Partizipation. Da die kommunalen Unternehmen ihr Geld wesentlich flexibler ausgeben können als die öffentliche Verwaltung, werden durch ihre Nichtbeachtung in den meisten Verfahren des Bürgerhaushalts viele Möglichkeiten verspielt. Sie sind zudem in strukturschwachen Regionen, wie z.B. in Ostdeutschland, aufgrund einer fehlenden privaten Wirtschaft oftmals die größten Sponsoren [Killian/Richter/Trapp, 2006]. Dies wirft übrigens Licht auf ein weiteres wichtiges Problem. Die in der Regel von politischen Mandatsträgern geleiteten bzw. kontrollierten Unternehmen stehen unter wachsendem ökonomischem Druck, unter dem zunehmend auf Kosten der Kunden gearbeitet werden muss. Wie lassen sich diese Unterschiede zu Lateinamerika erklären? Zunächst ist festzustellen, dass diese für die Bürgerhaushalte gemachten Beobachtungen in noch stärkerem Maß auch auf andere partizipative Verfahren in Europa zutreffen – auch auf solche, die den Bürgern eine große Entscheidungskompetenz zusprechen. Den Berliner Bürgerjurys153 wurden beispielsweise in der ersten Pilotphase 40 Euro pro Einwohner zugeteilt, wobei sich diese Zahl nur auf die Stadtviertel bezog, in denen jeweils eine Jury eingerichtet wurde – Bürgerhaushalte dagegen betreffen in der Regel die ganze Stadt. In La Roche-sur-Yon, der Stadt in Frankreich, die Quartiersbeiräte besonders stark fördert, stehen durch diese Beiräte über 7,40 Euro pro Einwohner zur Verfügung. In der Stadt Ut-
153 Siehe Teil 1, Kapitel 1.3.
III/3.1 Eine Alternative zum Neoliberalismus?
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recht, deren interessantes Verfahren in Teil II vorgestellt wurde, erhält jeder Einwohner nur 2,52 Euro. Oft verfolgen die Initiatoren soziale Ziele mit dem Beteiligungsprozess. Gezielte Fördermaßnahmen im Sinne des affirmative action werden in der Tat häufig realisiert, aber nur in Ausnahmefällen kommt es zu einer sozialen Umverteilung. In der Regel bleiben die realen Ergebnisse im sozialen Bereich sehr bescheiden. Das Potential der Bürgerhaushalte scheint jedoch im Gegensatz zu den bisher beobachteten sozialen Effekten groß zu sein. Da sie den gesamten Haushalt umfassen können, führen sie weiter als begrenzte Maßnahmen. Letztere verändern strukturelle Ungleichheiten nur minimal, weshalb auch besser gestellte Bevölkerungsschichten am ehesten von öffentlichen Investitionen profitieren. 154 Bürgerhaushalte unterscheiden sich somit zwar von den meisten anderen partizipativen Verfahren, die entweder gar keine sozialen Ziele verfolgen oder nur in sehr begrenztem Maß Veränderungen herbeiführen. Ganz offensichtlich wurde dieses Potential bisher in Europa jedoch noch nicht wirklich ausgeschöpft. Dabei handelt es sich nicht unbedingt nur um Startschwierigkeiten. Anhand des Vergleichs lateinamerikanischer und europäischer Fallbeispiele kristallisieren sich fünf besonders wichtige Faktoren heraus, die Bürgerbeteiligung zu einem Instrument sozialer Gerechtigkeit machen (können): ein großer politischer Wille seitens der offiziellen oder zivilgesellschaftlichen Akteure zur Umsetzung sozialer Ziele; eine Diskussionen über zentrale Themen der Haushaltspolitik und die Bereitstellung von angemessenen Summen; eine transparente Vorgehensweise, die eine genaue Analyse der sozialen Effekte bei den jeweiligen Zielgruppen erlaubt; formale oder informelle Verteilungskriterien oder gezielte Maßnahmen zur Bevorzugung benachteiligter Bevölkerungsgruppen bei der Ressourcenverteilung; die soziale Mobilisierung dieser Gruppen, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, ihre Interessen zu vertreten und soziale Anerkennung zu erhalten. Diese fünf Kriterien müssen nicht alle erfüllt sein, damit die Bürgerbeteiligung wirkliche Ergebnisse zeigt. Je mehr dies jedoch der Fall ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine positive, sich selbst verstärkende Entwicklung ergibt. Allerdings sind in Europa diese Fälle eher selten. Anders als in Lateinamerika, wo nach gewonnenen Wahlen politische Vertrauensleute im größeren Umfang berufen werden können, fehlt es in der Verwaltung oftmals an einem breiten und gemeinsamen politischen Willen. 155 Und wie gezeigt wurde,
154 In dieser Hinsicht typisch sind Programme sozialer Stadtentwicklungspolitik, bei denen die Höhe der Beträge oft weitaus geringer ausfällt als in anderen Bereichen. 155 In Brasilien kann nach einem bestimmten Verfahren (spoils system) die kommunale Verwaltung einer Stadt wie Porto Alegre nach erfolgreichen Wahlen einige hundert engagierte Bürger an die Spitze der Verwaltung ernennen. Dies kann in einigen Fällen zwar professionelles Arbeiten hemmen, verhindert aber auch, dass der politische Wille in den Mühlen der Bürokra-
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III/3 Ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit?
ist bei manchen Partizipationsmodellen eine soziale Dimension auch gar nicht vorgesehen. In der Regel sind die zur Verfügung gestellten Beträge bescheiden, die Transparenz des Verfahrens lässt zu wünschen übrig und Kriterien der Umverteilung gibt es nur im Verfahren ‚Porto Alegre in Europa‘. Schließlich ist wie gesehen ein wesentlicher Unterschied zwischen Europa und Lateinamerika die schwache soziale Mobilisierung der unteren Schichten. Folglich ist es kaum verwunderlich, dass die Bürgerhaushalte auf unserem Kontinent sich, zumindest auf dem heutigen Stand und bezüglich der sozialen Dimension, kaum von anderen Beteiligungsprozeduren abheben.
2.
Weitere Entwicklungsperspektiven des Bürgerhaushalts
Ein weiterer Faktor, der bei der Analyse sozialer Effekte häufig vernachlässigt wird, ist die Tatsache, dass aufgrund der bestehenden Methoden der öffentlichen Haushaltsführung (und auch aufgrund traditioneller Denkweisen) oft gar nicht bestimmt werden kann, wer genau von den jeweiligen politischen Maßnahmen profitiert. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der Produkthaushalt, mittels dessen sich im Gegensatz zur herkömmlichen Buchhaltung die realen Kosten einer Dienstleistung ermitteln lassen, indem die Mittel aus den unterschiedlichen Finanzquellen zusammengefasst werden. Zusätzlich müssten diese Angaben allerdings noch nach sozialen Kriterien sortierbar sein, damit deutlich wird, welche Teile der Bevölkerung von den Ausgaben profitieren. Einer der interessantesten Versuche in diese Richtung ist die ab Ende der 1990er Jahre in Italien relativ weit verbreitete ‚soziale Haushaltsorientierung‘ (Bilancio Sociale). Bei diesem Ansatz geht es nicht nur um einen festen Sozialhaushalt, sondern es werden die sozialen Auswirken von Programmen und Maßnahmen verschiedener Bereiche gemessen und für den Bürger transparent gemacht. Auf diese Weise kann partizipativ evaluiert werden, ob die eingesetzten Mittel ihre Wirkung erreichen oder nicht. In den am weitesten fortgeschrittenen Fällen wie in Castel San Pietro Terme (nahe Rimini) arbeitet man an Methoden, mittels derer derartige Berechnungen nicht mehr außergewöhnliche Einzelfälle darstellen, sondern fester Teil der Verwaltungsroutine werden. Derartigen Methoden, die oft zur Förderung bestimmter Bevölkerungsgruppen geschaffen wurden, können auch für ökologische Maßnahmen verwendet werden. Venedig hatte beispielsweise in den Jahren 2004/2005 einen ‚sozialen und ökologischen Haushalt‘. Außerdem bietet sich ihre Verwendung zur Förderung der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern an.
tie zerrieben wird; es sorgt dafür, dass die Ziele auch mit und durch die Verwaltung umgesetzt werden können.
III/3.2 Weitere Entwicklungsperspektiven des Bügerhaushalts
303
Gender Mainstreaming Eine derartige Entwicklung wäre umso wichtiger, da in Europa Bürgerhaushalte fast nie zur Veränderung der sozialen Geschlechterbeziehungen beitragen. Während die Gleichberechtigung von Männern und Frauen immer bedeutender wird und immer mehr der Fortbestand der männlichen Dominanz in Politik, Wirtschaft, Kultur und Privatleben in Frage gestellt wird, scheinen die partizipativen Verfahren hier nur selten zu einer Verbesserung beizutragen. Frauen bringen sich jedoch überall aktiv in Beteiligungsprozesse ein. In fast allen von uns untersuchten Fällen stellen sie zwischen 30% und 50% der Teilnehmer – mit steigender Tendenz je länger die Verfahren bestehen. Obwohl noch lange keine gleiche Beteiligung erreicht ist und in vielen Fällen Männer öfter das Wort ergreifen oder leichter zu Delegierten ernannt werden, ist die Differenz zwischen den Geschlechtern vor allem angesichts des starken Ungleichgewichts im klassischen politischen System relativ gering. Manchmal wird beim Bürgerhaushalt die Beteiligung der Frauen durch besondere Maßnahmen gefördert. So wird in Pieve Emanuele, Sevilla oder im Berliner Bezirk Lichtenberg während der Veranstaltungen Kinderbetreuung angeboten. In der andalusischen Hauptstadt gibt es Programme, die eine Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt fördern und indirekt mit dem Bürgerhaushalt verbunden sind. Dennoch ist in den meisten Fällen und im Gegensatz zu Lateinamerika kein formales Verfahren vorhanden, um eine gleiche Beteiligung von Männern und Frauen zu garantieren. Bis auf wenige Ausnahmen kommt bei den Partizipationsverfahren eine annähernde Gleichstellung der Geschlechter eher zufällig zustande, was durch folgende Faktoren erklärt werden kann: Diese neuen Verfahren sind nicht von vornherein von Männern ‚beschlagnahmt‘ worden, die sich dann an ihre Positionen klammern würden. Zudem sind Positionen innerhalb von Beteiligungsverfahren mit weniger Macht verbunden als in der klassischen Politik, insbesondere in den Parteien. Schließlich sind die behandelten Themen oft alltagsnah und wenig ideologisch und stehen somit in engerem Bezug zum häuslichen Bereich und der Nachbarschaft, in denen Frauen oftmals gesellschaftlich aktiver sind. Paradoxerweise könnte aber gerade die Distanz der Partizipationsinstrumente von den Schaltzentralen der Macht eine Feminisierung der Politik begünstigen, indem sie den Frauen als Sprungbrett dienen. 156 Nicht zufällig versuchen mit Ségolène Royal in Frankreich und Hazel Blears in Großbritannien zwei Frauen, die Idee des Bürgerhaushalts auf nationale Ebene zu übertragen und ihr politisches Profil durch das Thema der Bürgerbeteiligung zu schärfen.
156 Systematische Studien müssten die Entwicklung der Rolle der Frauen in den Beteiligungsverfahren verfolgen und prüfen, ob dieses Engagement in eine langfristige Politisierung mündet. Vgl. in dieser Hinsicht die Pioniersarbeit von [Talpin, 2007].
304
III/3 Ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit?
In einer Reihe von Fallbeispielen beinhalten Maßnahmen zur Frauenförderung auch partizipative Verfahren. Besonders in Spanien wird in vielen Fällen der Bürgerhaushaltsprozess von einem Büro für Gleichstellung (Secretaría de la mujer, wörtlich ‚Sekretariat der Frau‘) aktiv begleitet und mitgestaltet. In einigen Kommunen (z.B. Albacete) wurde ein Frauen-Beirat eingerichtet. Viele Projekte sind darauf ausgerichtet, bestimmten Frauengruppen (z.B. mit Migrationshintergrund) zu helfen. Doch diese lobenswerten Initiativen betrachten einerseits häufig die Frauen als homogene Gruppe (was auch bei dem Ausdruck ‚Sekretariat der Frau‘ deutlich wird). Andererseits bleiben sie fast immer auf einzelne Bereiche beschränkt und führen selten zu einer umfassenden Politikausrichtung und zur Gleichberechtigung von Mann und Frau. Es ist frappierend, wie wenig bis heute in Europa Bürgerhaushalt und Gender Mainstreaming miteinander verbundenen werden. In den von uns untersuchten Fallbeispielen kam dies gar nicht vor – unabhängig von der Art des partizipativen Verfahrenstyps. Dies trifft auch auf Deutschland zu, wo Gender Budgeting in gewissen linken und alternativen Kreisen relativ ausführlich diskutiert wird. Beide Bewegungen haben sich jedoch grundsätzlich parallel entwickelt. Dies ist umso erstaunlicher, als beide Konzepte bestimmte Aspekte teilen, wie die Forderung nach einer transparenten Ressourcenverteilung oder die Einführung von Produkt- und Programmhaushalten. Die gegenseitige Ignoranz basiert folglich nicht auf einer strukturellen Ungeeignetheit des Bürgerhaushalts zur Förderung der Gleichberechtigung, sondern hat andere Ursachen: Erstens ist die Thematik des Gender Mainstreaming in Europa weniger in den Ländern verbreitet, wo die Bürgerhaushalte am weitesten entwickelt sind (dafür aber mehr in Ländern, die später als andere mit dem Bürgerhaushalt experimentiert haben, wie in Skandinavien). Zweitens gibt es in einigen politischen Kontexten nur sehr zurückhaltende Maßnahmen zur institutionellen Förderung der Gleichberechtigung. Die post-kommunistischen Länder beispielsweise sind hier eher zögerlich, da sie entweder wie in Frankreich relativ gleichgültig gegenüber feministischen Themen bleiben oder sich wie in Spanien mehr an der klassischen Frauenförderung orientieren. Drittens ist auch ein großer Teil der globalisierungskritischen Bewegung wenig daran interessiert, mithilfe verwaltungstechnischer Instrumente die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern. Im Gegenzug sind die Akteure, die die Idee des Gender Mainstreaming am meisten propagieren – die Europäische Kommission, der Europarat, bestimmte NROs oder über diese Thematik arbeitende Institute – kaum am Bürgerhaushalt interessiert. Diese Situation könnte sich mit einer wachsenden Zahl von Bürgerhaushalten und von Institutionen, die mit dem Gender Mainstreaming arbeiten, relativ schnell ändern, da dadurch mehr Verbindungen zwischen beiden Prozessen wahrscheinlicher würden. Während eine derartige Initiative in Berlin-Lichten-
III/3.2 Weitere Entwicklungsperspektiven des Bügerhaushalts
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berg bisher weitgehend wirkungslos blieb, beschlossen die Initiatoren des 2008 in Freiburg eingerichteten Bürgerhaushalts beide Prozesse zu koppeln. Damit zeichnet sich ab, dass Gender Mainstreaming auch für den Bürgerhaushalt in Deutschland wieder an Bedeutung gewinnen könnte, zumal es hierzulande sehr aktive Gender Budgeting-Initiativen gibt. Als Vorbild für Europa könnte in dieser Hinsicht auch Lateinamerika dienen. Auf Initiative von NROs, internationalen Organisationen und einigen feministischen Gruppen wurde dort die Förderung der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern von Anfang an als eines der Ziele der Bürgerbeteiligung formuliert. Eine derartige Zusammenführung ist in jedem Fall eine der wichtigsten Herausforderungen, denen sich die europäischen Verfahren in den nächsten Jahren stellen müssen. Die lokale wirtschaftliche Entwicklung zwischen drittem Sektor und Public Private Partnership Dieser große Unterschied zwischen Lateinamerika und Europa ist auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Auswirkungen der Beteiligungsprozesse zu beobachten. Dort begünstigen diese Maßnahmen oft die lokale wirtschaftliche Entwicklung und insbesondere das Aufkommen oder die Konsolidierung eines dritten Sektors (inklusive von Formen der Solidarökonomie). Dieser grenzt sich einerseits vom Staat ab, da er nicht zur öffentlichen Verwaltung gehört, andererseits von der Privatwirtschaft, da er keine kommerziellen Ziele verfolgt. In Europa kann der dritte Sektor ein sehr breites Feld vom Genossenschaftswesen über freie Träger bis zum assoziativen Sektor einnehmen. Er ist auf dem alten Kontinent weniger entwickelt als in den Ländern der Südhalbkugel und verfügt über keine sehr ausgeprägte rechtliche Grundlage. Wie im vorherigen Kapitel erläutert, können sich Beteiligungsverfahren an die Bürger als Mitgestalter politischer Maßnahmen richten, indem der Staat einige seiner Aufgaben auf den gemeinnützigen Sektor überträgt oder indem er von Bürgergruppen initiierte Aktivitäten, die von öffentlichem Interesse sind, finanziell unterstützt. Sobald sie derartige institutionelle Unterstützung erhalten, werden die Aktivitäten des dritten Sektors Teil eines partizipativen Verfahrens nach dem Modell des ‚community development‘. In der westlichen Welt findet man diese Konstellationen mehr oder weniger in allen Staaten, jedoch vor allem in den angelsächsischen Ländern. Inwieweit diese Aktivitäten öffentlich anerkannt werden und wie viele Mittel zur Verfügung stehen, hängt von den politisch Verantwortlichen ab und kann zum Teil auch in einer gemeinsamen Diskussion mit Vertretern des dritten Sektors ausgehandelt werden. Einige Verfahren des Bürgerhaushalts können hier Anwendung finden. Zum Beispiel diskutierten in Bradford die Delegierten der lokalen community-Gruppen die Projekte, die von einem stadtweiten Fonds unterstützt werden sollten. Weitere Beispie-
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III/3 Ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit?
le aus diesem Bereich gibt es bisher kaum, da die politisch Verantwortlichen offensichtlich zögern, die für den assoziativen Sektor bestimmten Subventionen einer offenen und transparenten Diskussion zu unterwerfen – sie stellen auch ein wichtiges Instrument zur Sicherung der eigenen Unterstützung dar. Die Einrichtung partizipativer Public Private Partnerships ist eine weitere Möglichkeit, Partizipation und wirtschaftliche Entwicklung zu verknüpfen, steht aber aufgrund der dominanten, profitorientierten Logik der ersten Variante (Aufgabenübertragung im Sinn des community development) diametral entgegen. Wie gesehen ist die Idee relativ neu, Bürger in Public Private Partnerships einzubinden, denn bisher spielen sich die Diskussionen zwischen Unternehmen und der lokalen Verwaltung häufig in geschlossenen Zirkeln ohne jegliche Transparenz ab. Sie basiert auf der Überzeugung, dass die Einbindung von Bürgern in derartige Kooperationen deren Legitimität steigert und somit günstigere Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung bildet. Diese funktionalistische Überlegung kann auch mit dem Ziel verbunden sein, die öffentliche Verwaltung durch die Eingliederung neuer Akteure zu demokratisieren. Am Beispiel Płock wird augenfällig, wie ein Bürgerhaushalt dieses Typs aussehen kann – aber auch, dass sein tatsächlicher Einfluss in Europa bisher sehr beschränkt bleibt. Es ist schwer vorherzusagen, ob die partizipativen Public Private Partnerhips einen entscheidenden Aufschwung erleben oder ein randständiges Phänomen bleiben werden, sowie ob sie gegenüber dem auf Beteiligungsverfahren gestützten dritten Sektor Einfluss gewinnen können. Indirekt können andere Partizipationsmodelle eine gewisse Bedeutung für die lokale Wirtschaftsförderung bekommen, indem sie eine effektivere und besser legitimierte governance unterstützen und dadurch zu einem investitionsfreundlichen Klima beitragen. Auch ihrem Diskurs nach relativ linke Kommunen wie Saint-Denis oder Bobigny in Frankreich oder Porto Alegre in Brasilien sind aufgrund ihrer geographischen Lage und ihrer Infrastruktur attraktiv für privatwirtschaftliche Unternehmen. In der Hoffnung auf steuerliche Gewinne und positive soziale Entwicklungen bemühen sie sich auch aktiv um Investitionen. Dennoch spielt die Bürgerbeteiligung in Bobigny und Saint-Denis im Bereich der Wirtschaftsförderung nur eine marginale Rolle – mit Ausnahme von Formen der partizipativen strategischen Planung oder ähnlichen Prozessen, die in der Regel auf einer neokorporatistischen Logik beruhen. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um einen top-down-Prozess, der die betroffenen Akteure um die lokale Verwaltung versammelt. Sehr selten ist die strategische Planung an einen Bürgerhaushalt geknüpft. Die alle vier Jahre in Porto Alegre organisierten ‚Stadtkongresse‘ haben diese Funktion der Verbindung von Bürgerhaushalt und strategischer Planung nur teilweise erfüllt und insgesamt zu relativ enttäuschenden Ergebnissen geführt. In Santo André, einem Vorort von São Paulo, gibt es ein derartiges Verfahren (die Instanzen der partizipativen
III/3.2 Weitere Entwicklungsperspektiven des Bügerhaushalts
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strategischen Planung entsenden Delegierte, die am Rat des Bürgerhaushalts teilnehmen, und es stehen auch Fonds für langfristige Projekte zur Verfügung); dies bleibt jedoch eine Ausnahme.157 In Europa haben Städte wie Bobigny diesen Weg beschritten, jedoch mit allen Einschränkungen, die ein auf dem Paradigma der Bürgernähe basiertes Verfahren beinhaltet. Die andalusische Gemeinde Puente Genil ist die einzige in Europa, die – auf formaler Basis – strategische Planung und Bürgerhaushalt verbunden hat. Diese interessante Initiative kämpft jedoch mit vielen Schwierigkeiten, insbesondere auch angesichts der beschränkten Personalressourcen, die für die Organisation und Leitung zur Verfügung stehen. Nachhaltige Entwicklung Beteiligungsverfahren tragen letzten Endes offensichtlich mehr zur Förderung der Nachhaltigkeit als zur wirtschaftlichen Entwicklung im engeren Sinn bei. Die partizipative strategische Planung und die in bottom-up-Prozessen erarbeiteten Entwicklungspläne für ein bestimmtes Gebiet (z.B. ein Stadtviertel) haben in dieser Hinsicht häufig beträchtliche Auswirkungen. Denn im Gegensatz zu den privatwirtschaftlichen Akteuren, für die mehr und mehr der kurzfristige Profit im Mittelpunkt steht, und den Verwaltungsbürokraten, die sich häufig wenig sensibel für die Nebeneffekte des ‚Fortschritts‘ zeigen, sorgen sich die aktiven Bürger in der Regel um die mittelfristigen sozialen und ökologischen Konsequenzen ökonomischer Maßnahmen. Bürgerbeteiligung wurde seit Ende der 1980er Jahre zunehmend auch auf internationaler Ebene als zentraler Bestandteil für eine nachhaltige Entwicklung gefördert. Die Etablierung der Lokalen Agenda 21 im Rahmen der Strategie für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen anlässlich der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992 verdeutlicht diese Tendenz. Da die Verwaltung im Kontext dieses Verfahrens sehr verschiedene Akteure (von Unternehmen bis hin zu Vereinen) um sich sammelt, bildet es eine Variante zur partizipativen strategischen Planung und folgt ebenfalls dem neokorporatistischen Modell. 2004 hatten weltweit über 10.000 Kommunen auf freiwilliger Basis eine Lokale Agenda 21 verabschiedet. Meistens enthalten diese keine verpflichtenden Maßnahmen, so dass deren Einfluss von Kommune zu Kommune stark variiert – von einem Katalog guter Absichten bis zu einer kompletten Neuorientierung der Politik (z.B. in Calvià auf den Balearen). Einige Bürgerhaushalte haben bemerkenswerte Auswirkungen im Bereich der nachhaltigen Entwicklung. In dieser Hinsicht tritt wiederum besonders das
157 Unter den wenigen anderen Beispielen befinden sich Belo Horizonte in Brasilien oder Villa El Salvador in Peru, wo ebenfalls Partizipation, Planung und jährliche Haushaltsentscheidungen miteinander verknüpft werden.
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III/3 Ein Instrument der sozialen Gerechtigkeit?
Beispiel von Grottammare in Italien hervor, wo die von der Immobilienspekulation ausgelöste unkontrollierte Bauentwicklung dank des partizipativen Verfahrens gestoppt werden konnte. Dies gab den neuen lokalen Amtsinhabern genügend Legitimität und Argumente, um der Lobby der Baufirmen die Stirn zu bieten, der Aussicht auf hohe Einnahmen durch kommunale Steuern zu widerstehen und eine Reorientierung hin zu einer nachhaltigen Entwicklung durchzusetzen. Die Entwicklung dieser touristischen Stadt erinnert ein wenig an Calvià (Spanien), wo die Lokale Agenda 21 eine vergleichbare Rolle wie der Bürgerhaushalt in Grottammare gespielt hat. Dennoch handelt es sich hier um einen sehr speziellen Kontext, und der Bürgerhaushalt ist in dieser Beziehung wohl nicht das geeignetste Instrument, auch wenn er ein nützlicher Beitrag zur Lösung lokaler Probleme oder bestimmter Sachverhalte sein kann. Vielversprechender ist wohl eine Verknüpfung von Lokaler Agenda 21 und Bürgerhaushalt, so dass jährliche Haushaltsdiskussionen mit mittel- und langfristigen Überlegungen verbunden werden können. Puente Genil in Spanien und Groß-Umstadt in Deutschland sind die einzigen europäischen Kommunen, die diesen Weg beschritten haben. In letzterer wurde über mehrere Jahre versucht, Bürgerhaushalt und Lokale Agenda 21 miteinander zu verbinden. Auf den Versammlungen des Bürgerhaushalts wurden z.B. auch die Finanzen für nachhaltige Projekte aus der Agenda 21 vorgestellt. Allerdings gab es keine Prüfung des Haushalts hinsichtlich von Nachhaltigkeitskriterien bzw. wurden die Haushalte der Fachbereiche nicht nach Mitteln für die Lokale Agenda 21 untersucht. Beide Prozesse verliefen daher parallel und die Projektfinanzierungen für die Lokale Agenda 21 waren eher Mittel, Teilnehmer für den Bürgerhaushalt zu gewinnen. Auch in dieser Hinsicht gibt es noch viel Raum für kommende Entwicklungen.
Kapitel 4
Demokratisierung der Demokratie
Welche konkreten politischen Konsequenzen haben Bürgerhaushalte und andere Verfahren der Bürgerbeteiligung? In Porto Alegre gab es wie gesehen beachtliche Auswirkungen: deutliche Verringerung des Klientelismus, Aufkommen einer kooperativen Gegenmacht aus der Zivilgesellschaft heraus, Entstehung einer plebejischen Öffentlichkeit und Etablierung einer institutionalisierten vierten Gewalt, die sich auf ein partizipatives Verfahren stützt. Das von Parteien geprägte politische System wurde dadurch zwar nur geringfügig verändert. Nicht desto trotz handelt es sich in Porto Alegre wie bei den meisten Verfahren der Bürgerbeteiligung in Lateinamerika – selbst dort, wo nur ein kleiner Teil dieser Veränderungen beobachtet werden kann – selten um eine rein administrativ-institutionelle Angelegenheit, sondern sie sind Teil einer breiteren emanzipatorischen Bewegung zur Förderung der unteren sozialen Schichten. In diesem Sinne gehören die Ausbreitung von Bürgerhaushalten und der Linksruck der meisten südamerikanischen Staaten zu demselben Transformationsprozess, infolge dessen die unteren Schichten (häufig handelt es sich um Farbige oder Mestize) nach und nach mehr gesellschaftliche Anerkennung erreichen und den sie bisher diskriminierenden „internen Kolonialismus“ überwinden [Brisset u.a., 2006]. Die Bürgerhaushalte haben diesen politischen Wandel durchaus begünstigt. Sie haben den Versuchen einer bürgerorientierten Verwaltungsreformen Glaubwürdigkeit verliehen, der Idee einer anderen Politik ein konkretes Gesicht gegeben, einen Rückgang der Korruption bewirkt und zu einer Förderung der sozialen Bewegungen der unteren Schichten beigetragen. Umgekehrt hat der Aufschwung der institutionellen Linken entscheidend zur Verbreitung der Idee einer Bürgerbeteiligung am Haushalt und dessen vermehrter Umsetzung beigetragen. Abgesehen von ihren sozialen Auswirkungen sind die Bürgerhaushalte auf dem lateinamerikanischen Kontinent Teil einer grundlegenden Transformation der politischen Machtkonstellationen und der Beziehungen zwischen politischen Eliten und Bürgern. Trotz der großen Differenzen zwischen den einzelnen Fallbeispielen tragen sie folglich zweifellos zur Demokratisierung der Demokratie bei. Kann eine ähnliche Entwicklung, wenn auch in kleinerem Umfang, ebenso in Europa beobachtet werden?
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1.
III/4 Demokratisierung der Demokratie
Auf dem Weg zu einer deliberativen Demokratie?
Die bisherigen Ergebnisse legen eine eher skeptische Antwort auf diese Frage nahe. Bevor diese jedoch im Detail dargelegt wird, soll es zunächst um eine andere wichtige Dimension der lateinamerikanischen Bürgerhaushalte gehen. Wie bereits erwähnt, basiert die Partizipation am Haushalt dort in der Regel auf klaren und oft sehr komplexen Regeln. Die in Porto Alegre entstandene partizipative Demokratie ist eine Verfahrensdemokratie, was entscheidende Konsequenzen für ihre Verbreitung mit sich bringt. Beispielsweise verbinden die beiden PT-Bürgermeister Tarso Genro und Ubiratan De Souza [1998] in ihrem weltweit beachteten Buch über Porto Alegre eine ‚Bedienungsanleitung‘ zur Einführung von Bürgerhaushalten mit demokratietheoretischen Überlegungen. Das Beispiel Porto Alegre grenzt sich für die Autoren, aber auch in der Praxis, explizit vom partizipativen Populismus und den spontanen Initiativen partizipativer Demokratie der 1970er Jahre ab. In gewissem Sinne wird eine Antwort auf die Frage nach der Institutionalisierung von Partizipation gegeben, wie sie die Theoretiker der partizipativen Demokratie in den 1970er Jahren [Pateman, 1970; MacPherson, 1977; oder Poulantzas, 1978] gestellt haben. Ein rationales Verfahren Während den Bürgerhaushalten in Deutschland häufig ein recht klares Regelwerk zugrunde liegt, bevorzugt man in anderen Ländern (insbesondere Frankreich) oft eine ‚spontane‘ Form der Beteiligung. In Deutschland wie Frankreich haben jedoch Mandatsträger und Mitarbeiter der Verwaltung eine sehr dominante Rolle in der Vorbereitung und Durchführung des Verfahrens. Allerdings gibt es auch Ausnahmen, in denen Bürgern eine größere Rolle eingeräumt wird. Dies verdeutlichen die zwei folgenden Beispiele.158 Im Frühjahr 2004 fanden in zwei europäischen Städten im Abstand von einigen Wochen Arbeitssitzungen zur Ausarbeitung einer Charta guter partizipativer Praktiken statt. Die eine wurde von der Verwaltung des Großraums von Grenoble, die andere von der katalanischen Stiftung Bofill und der Provinzverwaltung (Diputació) von Barcelona organisiert. In beiden Fällen sollte die Charta auf der Grundlage von Vorarbeiten politischer Verantwortlicher und verschiedener Experten gemeinsam mit wichtigen lokalen Akteuren ausgearbeitet werden. In Grenoble waren dies zwischen 20 und 30 Mitglieder der ‚Kommission partizipative Demokratie‘ (Observatoire de la démocratie participative), größtenteils Vertreter lokaler Verbände und Lokalpolitiker; in Barcelona ein gutes Dutzend Teilnehmer der von der Provinzverwaltung und Autonomen Universität von Barcelona organisierten
158 Vgl zu diesem Abschnitt [Sintomer, 2004: 40-43].
III/4.1 Auf dem Weg zu einer deliberativen Demokratie?
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6. Internationalen Konferenz über Partizipation und nachhaltige Entwicklung. In beiden Fällen sollte keine endgültige Fassung der Charta entstehen, sondern verschiedene und konsensfähige Teilabschnitte herausgearbeitet werden. Die Sitzung dauerte in Grenoble zwei Stunden, in Barcelona eineinhalb. Ein professionelles Team (die Beraterfirma ELC2 bzw. Stiftung Bofill) bereitete jeweils die Diskussionen vor und leitete sie. Zur Animation der Debatten wurden zwei spezielle Methoden verwendet: in Grenoble das Rollenspiel „2koismelthon“ und in Barcelona die Methode „Delibera“.
Das Rollenspiel „2koismelthon“ Das Rollenspiel „2koismelthon“ (frei übersetzt: „Wo mischen wir mit?“) verläuft in drei Phasen. Zunächst werden jedem Teilnehmer Karten mit ersten, von den Organisatoren vorher ausgearbeiteten Beispielen für ‚gute Praxis‘ eines Beteiligungsverfahrens ausgeteilt. Danach trägt ein per Zufallswahl bestimmter Teilnehmer seine spontanen Ideen zu der Aussage auf seiner Karte vor. Ein nächster Teilnehmer kann seinerseits das Wort ergreifen, wenn sich von der Aussage auf seiner Karte eine Verbindung mit der des ersten Referenten herstellen lässt, und so fort. Sobald sich alle geäußert haben, beginnt die zweite Runde damit, dass jeder ausgehend von der vorangegangenen Debatte eine Frage auf eine Karte schreibt. Die Karten werden gemischt und jeder greift wahllos eine heraus. Eine per Los bestimmte Person muss nun auf die Frage, die sich auf ihrer Karte befindet, eine Antwort finden. Das Spiel beginnt von vorne, bis wiederum alle zu Wort gekommen sind. In der dritten Phase schreibt jeder Teilnehmer einen neuen Vorschlag auf eine Karte, den er anschließend der Gruppe vorstellt. Diese diskutiert, ergänzt, verwirft oder bewilligt ihn und erarbeitet so mithilfe der Diskussionsleitung, welche die Diskussionsergebnisse auf einer Flipchart festhält, die abschließenden Vorschläge. Ziel des Spiels ist es, neue Ideen und Vorschläge aus der Diskussion zu gewinnen. Die Diskussion ist gut moderiert und relativ belebt, wenn auch manchmal der Zusammenhang zwischen den einzelnen Beiträgen fehlt. Die Schwierigkeit besteht darin, einen Konsens über bestimmte Vorschläge zu finden, da verschiedene Vorstellungen von Partizipation existieren. Am Ende erstellen die Diskussionsleiter (und später die Verantwortlichen des Verfahrens) eine Synthese der Ergebnisse, was angesichts der unterschiedlichen Standpunkte keine einfache Aufgabe ist. Aber zumindest hat ausgehend von vorgegebenen Vorschlägen ein freier und fundierter Meinungsaustausch stattgefunden, und
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III/4 Demokratisierung der Demokratie
die Verantwortlichen haben die Möglichkeit, die Positionen der teilnehmenden Bürger kennenzulernen.
Die Methode „Delibera“ Die Methode „Delibera“ verläuft in zwei Phasen. Zu Beginn verteilen sich die Teilnehmer auf vier Arbeitsgruppen, um über 22 Vorschläge zu diskutieren. Danach kommen sie wieder im Plenum zusammen. Dort wird mithilfe farbiger Karten der Reihe nach über die verschiedenen Vorschläge abgestimmt. Grün bedeutet Zustimmung, bei Gelb sieht man mögliche Probleme und Diskussionsbedarf und mit Rot wird der Vorschlag abgelehnt. Mit der grauen Karte wird angezeigt, dass der Vorschlag nicht ganz verstanden wurde oder man keine Stellung beziehen will. Nach jeder Abstimmung können ein Kritiker und ein ‚Unentschlossener‘ ihre Sichtweise präsentieren, worauf gegebenenfalls die Reaktion eines Befürworters folgt. Ziel des Verfahrens ist es, einen möglichst großen Konsens über die Vorschläge zu erhalten. Die Diskussion ist lebhaft und sachlich. Sehr schnell wird festgestellt, dass sich die Vorschläge in Kategorien einordnen lassen. Die erste umfasst diejenigen, über die Konsens besteht oder welche die Zustimmung einer großen Mehrheit finden und somit nach einigen kleineren Verbesserungen prinzipiell in die Charta integriert werden können. Zur zweiten Kategorie zählen die Vorschläge, die offensichtlich schlecht formuliert sind und zu denen ein großer Teil der Teilnehmer keine Position beziehen will. In der Regel versuchen die Diskussionsleiter in diesem Fall, die Vorschläge im Sinne der Debatte umzuformulieren und stellen sie erneut zur Abstimmung. Einige Vorschläge haben daraufhin eine wesentlich größere Zustimmung als bei der ersten Runde erhalten und wechseln somit in die erste Kategorie. Die dritte Kategorie enthält die Vorschläge, die grundlegend überarbeitet werden müssen, da die Positionen darüber gespalten sind. Hier geht es in der Regel um gegensätzliche politische Auffassungen zur Partizipation. In diesem Fall müssen die Verantwortlichen entscheiden, ob sie diese kontroversen Thesen fallen lassen, sie überarbeiten, um einen größeren Konsens zu erreichen, oder sich für eine bestimmte politische Position entscheiden. Infolge der Debatte können auch weitere Vorschläge hinzugefügt werden.
In beiden hier beschriebenen Fällen wird besonders auf das hohe Niveau der Diskussion Wert gelegt, das deutlich über dem Durchschnitt vieler anderer par-
III/4.1 Auf dem Weg zu einer deliberativen Demokratie?
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tizipativer Instrumente liegt. Dennoch gibt es einen zentralen Unterschied zwischen beiden Verfahren: Zwar fassen sowohl in Grenoble als auch in Barcelona die Organisatoren die Ergebnisse der Diskussion zusammen; im französischen Fall geschieht dies jedoch ‚nach Gespür‘ auf Grundlage wenig formalisierter Diskussionsergebnisse, wohingegen das stärker formalisierte Verfahren im spanischen Fallbeispiel ermöglicht, mehrere Vorschlagstypen voneinander zu trennen. Falls zwischen bestimmten alternativen Thesen entschieden werden muss, sind hier die Kräfteverhältnisse der Abstimmung bekannt. Diese Beobachtung wird auch von anderen Arbeiten bestätigt, die zeigen, dass Ansichten über ‚gute Deliberation‘ sich von Ort zu Ort stark unterscheiden können [Talpin, 2007]. Grundsätzlich wird aber mehr und mehr auf die Organisation einer qualitätsvollen Deliberation und einem klar strukturierten Beteiligungsprozess Wert gelegt. Die Tendenz zur Ausarbeitung formaler Verfahren betrifft also nicht nur die lateinamerikanischen Bürgerhaushalte, sondern fast alle partizipativen Prozesse, die weltweit ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre entstanden sind.159 Diese praktischen Entwicklungen spiegeln sich auch in der politischen Theorie wieder, die insbesondere infolge der Arbeiten von Jürgen Habermas [1990, 1994] ausführlich die Idee einer Verfahrensdemokratie thematisiert hat. Dieser hat seit den 1980er Jahren Abstand genommen von einer allzu ‚spontanistischen‘ Interpretation des kommunikativen Handelns, das er im Jahrzehnt zuvor entwickelt hatte. Leitete Habermas zuvor die deliberative Rationalität unmittelbar aus den anthropologischen Strukturen ab, die mit dem pragmatischen Sprachgebrauch zusammenhängen, sieht er diesen Aspekt inzwischen nur noch als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung an. Zur Entfaltung einer deliberativen Rationalität sind nunmehr auch demokratische Institutionen und Verfahren erforderlich, in denen sich diese deliberative Rationalität materialisiert. Eine Reihe von Kritikern hat diese Entwicklung positiv aufgenommen, wobei sie auch die Notwendigkeit unterstreichen, noch weiter zu gehen. Demnach müsse die Diskussion so organisiert werden, dass die strukturell deformierenden Machtasymmetrien möglichst gering gehalten werden [Fraser, 1997; Phillips, 1995]. Die Deliberation sollte außerdem breiter konzipiert werden und neben der Argumentation und der logischen Beweisführung auch andere Kommunikationsregister wie den Erfahrungsbericht oder den Aufschrei moralischer Empörung beinhalten. Diese würden bestimmten Akteuren die aktive Teilnahme an den Debatten erleichtern und einen Meinungsaustausch bereichern, der als reiner Austausch von ‚sachlichen‘ Argumenten zu begrenzt wäre. Eine politische Deliberation in diesem Sinn ist ein Dialog, der Interessen, Werte und Identitäten hervorbringt, und lässt sich nicht auf eine strategische Konfrontation
159 In Deutschland hat diese Orientierung mit der Entwicklung der Planungszellen von Peter Dienel in den 1970er Jahren schon eine längere Tradition.
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III/4 Demokratisierung der Demokratie
reduzieren, in der die Gesprächsteilnehmer nur eine instrumentelle Verwendung von Sprache praktizieren. Im dritten Kapitel des ersten Teils wurde eine empirische Definition der deliberativen Qualität eines Beteiligungsverfahrens aufgestellt. Auf Grundlage der kritischen Auseinandersetzung mit Habermas, anderen Autoren und unseren Analysen können deren verschiedene Elemente nun drei allgemeinen Prinzipien zugeordnet werden.160 ARGUMENTATIONSPRINZIP: Grundlage der demokratischen Debatte bildet der Austausch von Argumenten. Diskussionsverfahren sollten so organisiert werden, dass die besten Argumente von den Diskussionsteilnehmern entwickelt werden können und man von einer rein aggregativen Konzeption der Legitimität, d.h. der simplen Addition individueller Standpunkte, Abstand nimmt. Dafür ist wichtig, dass sich die Diskussionen am Gemeinwohl orientieren und sich nicht auf die Verteidigung partikularer Interessen beschränken. Um dies zu erreichen bedarf es selbstverständlich ausreichender Diskussionszeit und möglichst umfassender Informationen für die Teilnehmer. Zudem darf die symbolische Dimension der Diskussion nicht außer Acht gelassen werden, da diese niemals ein reiner Austausch von Argumenten sein kann. Deshalb müssen andere diskursive Register wie der Erfahrungsbericht zugelassen sein. Hinter diesen sollten jedoch kognitive und normative Inhalte stehen, die in einem anderen Rahmen oder zu einem anderen Zeitpunkt ebenfalls mit Argumenten gerechtfertigt werden könnten. Für die Deliberation sind klare Verfahrensregeln notwendig, die eindeutig die jeweilige Verantwortung zuteilen, Konflikte oder Meinungsverschiedenheiten schlichten können und eine vernünftige Zusammenfassung der Debatten ermöglichen. Die Anwesenheit kompetenter Diskussionsleiter trägt dazu bei, dass die Diskussion auf die behandelten Themen konzentriert bleibt und sich nicht in Randthemen verliert. Außerdem ermöglicht die professionelle Moderation auch die Debatte über technische Fragen, ohne einer übermäßigen Technokratisierung zu verfallen und ohne die Laien mit hoch spezialisiertem Vokabular zu überfordern. INKLUSIONSPRINZIP: Die Diskussion muss offen sein für möglichst viele – im Idealfall für alle – potenziell von der Entscheidung Betroffenen. Sie sollte auf einer ausgewogenen Beteiligung aller sozialen Gruppen beruhen. In dieser Hinsicht sind Diskussionen in kleinen Gruppen und die Anwesenheit von Diskussionsleitern, die das Ziel einer Beteiligung aller Teilnehmer verfolgen, sehr wichtig. Leiten gewählte Vertreter der lokalen Exekutive die Sitzung, besteht die
160 Diese Klassifizierung orientiert sich an den drei , die Loïc Blondiaux [2005: 126-127] entwickelt hat.
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Gefahr, dass sie die Debatte monopolisieren und sie zu sehr zugunsten ihrer eigenen Position lenken. Doch die deliberative Qualität eines partizipativen Verfahrens ist besser, wenn sich die Diskussion nicht nur zwischen Politik/Administration und den Bürgern abspielt, sondern sich auch zwischen den Bürgern entwickeln kann. ÖFFENTLICHKEITSPRINZIP: Die Deliberation beinhaltet auch ein Öffentlichkeitsprinzip, in dem Sinn, dass eine gewisse Transparenz im Verlauf der Diskussion selbst und in der Rechenschaft über die Ergebnisse notwendig ist. Transparenz und Rechenschaft sind Teil der diskursiven Qualität eines demokratischen partizipativen Prozesses, der sich dadurch von klientelistischen oder lobbyistischen Praktiken abhebt. Beurteilt man die deliberative Qualität der europäischen Bürgerhaushalte anhand dieser Kriterien, erhält man ein sehr gemischtes Bild. In den hier näher untersuchten Fallbeispielen ist sie insbesondere dort schwach, wo die Bürgerbeteiligung auf einen sehr kurzen Zeitraum beschränkt ist, wie z.B. in vielen deutschen Bürgerhaushalten (vier von insgesamt zwanzig Fällen). In zwei Beispielen ist sie recht hoch, weil sich die Diskussion in einem Bürgerhaushaltsrat oder ähnlichem Gremium auf einen längeren Zeitraum erstreckt – das Musterbeispiel hierfür ist Albacete. In anderen Städten muss die deliberative Qualität als mittelmäßig eingestuft werden. In Frankreich beispielsweise beeinträchtigt die mangelnde Formalisierung der Verfahren eine gute deliberative Qualität. In Sevilla, Bradford oder Berlin-Lichtenberg kann die Möglichkeit zur Abstimmung durch die Bürger die Nachteile einer sehr knapp bemessenen Diskussionszeit nicht aufwiegen. Sehr häufig wirkt sich das Fehlen von (kompetenten) Diskussionsleitern negativ auf den Verlauf der Debatten und das Verfahren generell aus. Immer wieder bleiben die Beiträge der verwaltungspolitischen ‚Experten‘ für Laien unverständlich und machen somit einen echten Argumentationsaustausch unmöglich. Trotz dieser Einschränkungen ist die deliberative Qualität der Bürgerhaushalte insgesamt beachtenswert. In einigen Fällen, wie in Berlin-Lichtenberg, reagiert man inzwischen auch auf die bestehenden Defizite. So wurden dort z.B. die Möglichkeiten der Diskussion in den stadteilbezogenen Bürgerversammlungen durch thematische Unterforen verbessert. Ebenso sieht ein neues, aber noch nicht praktiziertes Konzept der Berliner Grünen einen Bürgerhaushalt mit tiefergehenden Diskussionen vor, indem zwischen den Ebenen Stadtteil und Gesamtbezirk unterschieden wird und mit Bürgerjurys bzw. Arbeitsgruppen entsprechende Diskussionsinstrumente zur Verfügung gestellt werden [Herzberg/Schruoffeneger, 2009].
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Deliberative oder partizipative Demokratie? Sind wir daher Zeugen der allmählichen Entstehung einer deliberativen Demokratie? Um diese Frage zu beantworten, müssen Parallelen und Unterschiede zwischen den beiden in der Bedeutung sehr nahen Begriffen partizipative und deliberative Demokratie aufgezeigt werden. Nach der geläufigsten Definition, die von der angelsächsischen politischen Philosophie in Anlehnung an die Philosophen John Rawls und Jürgen Habermas aufgestellt wurde, basiert die deliberative Demokratie auf den drei Grundprinzipien, die wir als Kriterien der deliberativen Qualität erwähnt haben – allerdings mit einer enger gefassten Bedeutung. Das Diskussionsprinzip beschränkt sich demnach auf einen dialogischen Austausch von Argumenten. Die im Inklusionsprinzip geforderte Öffnung kann sich nach dieser Minimalinterpretation beispielsweise auch auf eine sozial repräsentative Gruppe beschränken und muss sich nicht auf die tatsächliche Beteiligung der größtmöglichen Anzahl von Betroffenen erstrecken. Schließlich wird auch das Öffentlichkeitsprinzip relativiert, indem die deliberativen Verfahren auch hinter geschlossenen Türen stattfinden können. Hier wird eine Spannung zwischen den beiden Konzepten deutlich. Beurteilt man die Demokratie aus der Perspektive der Deliberation, könnte dies dazu führen, die Bedeutung der Partizipation zu relativieren – denn umso größer die Zahl der Teilnehmer ist, umso schwieriger gestaltet sich eine qualitätsvolle Deliberation. Umgekehrt könnte man meinen, dass der Imperativ einer möglichst großen Partizipation das Prinzip der Deliberation in Frage stellt; zumindest Revolutionen oder soziale Bewegungen basieren auf Prinzipien, die sich stark von denen der deliberativen Demokratie unterscheiden. Dennoch ist die Deliberation eng mit der Idee der Öffentlichkeit verbunden, deren Grenzen a priori schwer festzulegen sind. Gleichzeitig kann sich die Partizipation langfristig nur schwer etablieren, wenn sie ausschließlich auf Widerstand oder erzwungener Einigkeit basiert. Folglich scheint sie auf eine Ergänzung durch Formen der Deliberation angewiesen zu sein. Nichts desto weniger betonen einige theoretischen Ansätze die Gegensätze zwischen den beiden Konzepten. Engels hat das Bild einer kommunistischen Gesellschaft entworfen, in der die politische Deliberation gleichzeitig mit der „politischen Regierung über Menschen in eine Verwaltung von Dingen“ aufgeht [Engels, 1962: 241]. Diese Überlegungen sind heute sicherlich diskreditiert, aber in jedem Fall war die Deliberation nicht immer ein Schlüsselelement der partizipativen Demokratie. Denn während die Verfechter der deliberativen Demokratie durchaus die Bedeutung der Bürgerbeteiligung hervorheben, schließen sie oft zugleich die Bürger von der Beschlussfassung aus, zu der weiterhin allein die gewählten Vertreter ermächtigt sind. Dagegen bestehen die Vertreter der partizipativen Demokratie darauf, dass auch den normalen Bürgern eine gewisse Entscheidungsgewalt übertragen werden soll. Jon Elster vertritt anhand von
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Untersuchungen der französischen und nordamerikanischen verfassungsgebenden Versammlungen am Ende des 18. Jahrhunderts die Position, dass eine geschlossene Versammlung das Niveau der argumentativen Auseinandersetzung anhebe, während öffentliche Debatten eher zu kompromisslosen Schlagabtauschen neigten [Elster, 1991]. Aus seinem Standpunkt wäre eine Forderung nach begrenzt zugänglichen Beteiligungsverfahren abzuleiten, also Delegiertengremien oder die Verwendung des Losverfahrens anstelle offener Bürgerversammlungen. Habermas selbst argumentiert, dass sein Konzept der Verfahrensdemokratie gesellschaftspolitisches Engagement in den Hintergrund stellt [Habermas, 1996], während die Partizipationstheorien genau darauf basieren. Nicht zuletzt ist der soziale Konflikt ein zentrales Element der Theorien der partizipativen Demokratie, während er in denen der deliberativen Demokratie nur eine zweitrangige Rolle spielt. Verstärkt werden diese Konflikte noch dadurch, dass selten beide Konzepte von denselben Akteuren verwendet werden und sie oft zur Bezeichnung sehr unterschiedlicher Verfahren dienen. Einige deliberative Gremien (z.B. Geschworenengerichte oder Sachverständigenräte) führen ihre Debatten hinter verschlossenen Türen und lehnen sogar eine beobachtende Teilnahme der Bürger ab. Umgekehrt basieren Verfahren wie offene Einwohnerversammlungen oder Bürgerentscheide nicht auf deliberativen Methoden. Dies erschwert eine mögliche Synthese beider Konzepte. Einige überzeugte Verfechter der partizipativen Demokratie halten die deliberative Demokratie für zu technokratisch; umgekehrt werfen viele Anhänger der deliberativen Demokratie der partizipativen Demokratie vor, die Bildung einer aufgeklärten Meinung zu verhindern. Diese unterschiedlichen Auffassungen werden anhand der jeweiligen Definitionen von Öffentlichkeit, plebejische Öffentlichkeit und hybride Foren deutlich.161 Diese Auseinandersetzungen in Theorie und Praxis basieren auf tieferliegenden Kontroversen über die normativen Grundlagen der Demokratie. Viele Theoretiker und Praktiker versuchen eine Synthese, indem sie die deliberative Qualität partizipativer Prozesse bzw. die Bedeutung der Partizipation in deliberativen Methoden analysieren, beide Begriffe konzeptuell miteinander zu verbinden versuchen oder gemischte Partizipationsverfahren entwickeln. Ihnen zufolge ist ein Zusammenwirken der verschiedenen Legitimationsformen – Repräsentation, Partizipation und Deliberation – notwendig, um den Demokratien eine neue Dynamik zu verleihen. Auch wenn Projekte wie der Bürgerhaushalt von Porto Alegre, die von ihm inspirierten Verfahren in Lateinamerika und die Weltsozialforen empirische Beispiele für eine derartige Entwicklung bilden, steht den Bemühungen zur Etablierung eines einheitlichen Konzepts noch ein weiter Weg bevor.
161 Siehe die Definitionen der Begriffe im Glossar.
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Partizipation und Populismus Bevor der mögliche Beitrag der europäischen Bürgerhaushalte zu dieser Synthese erörtert wird, soll der Zusammenhang von Partizipation und Populismus untersucht werden. Im ersten Teil dieses Buches stellten wir fest, dass häufig ein Machtzuwachs des Bürgermeisters mit der Einrichtung von Beteiligungsverfahren einhergeht. Die Frage stand im Raum, ob dieser Zusammenhang lediglich Ausdruck einer zunehmend auf Charisma basierenden Personalisierung der Politik ist und lediglich zu Formen der Scheinbeteiligung führt oder umgekehrt (auch) die Durchführung ‚seriöser‘ Beteiligungsverfahren zulässt. Aufgrund der vorangehenden theoretischen Überlegungen und angesichts des im zweiten Teils skizzierten, empirischen Panoramas soll nun hierauf eine Antwort versucht werden. Kritiker von Partizipationsverfahren werfen diesen vor, zusammen mit den Medien und Meinungsumfragen dem Aufkommen einer Publikumsdemokratie (die auf der Zustimmung zu charismatischen Persönlichkeiten basiert) bzw. dem Populismus Vorschub zu leisten, die der demokratischen Rationalität von Parlamenten oder Parteien klar unterlegen seien bzw. diese sogar bedrohen. Mehrere Argumente scheinen diese These zu untermauern. Zweifellos ist die Verbreitung von Verfahren der Bürgerbeteiligung und von Formen der plebiszitären Demokratie Teil ein und derselben Entwicklung, die zugleich auch von der Schwächung der Parteien und der legislativen Organe auf allen Ebenen geprägt ist. Im Übrigen umgehen Politiker teilweise selbst diese klassischen Instrumente der Interessenartikulation, indem sie direkt an die öffentliche Meinung appellieren und gleichzeitig die Entstehung von Beteiligungsinstrumenten unterstützen. Tony Blair z.B. hat in Großbritannien die Verbreitung von Beteiligungsverfahren unterstützt, während er gleichzeitig die Kommunen unter starker Vormundschaft hielt und unter seinem Vorsitz die Labour-Partei einen starken Rückgang der Mitglieder verzeichnete. Die französische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal hat sich 2006/2007 klar vom Apparat der Sozialistischen Partei gelöst und sich auf die öffentliche Meinung, auf Sympathisanten, neue Mitglieder und partizipative Verfahren verschiedenster Art gestützt. Bundespräsident Horst Köhler hat sich nach seiner Wiederwahl 2009 für mehr Bürgerbeteiligung ausgesprochen. Er erwähnte insbesondere die Direktwahl des Staatsoberhaupts so wie die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden auf Bundesebene, z.B. bei Verfassungsänderungen. Auf lokaler Ebene gibt es manchmal Probleme zwischen Bürgermeistern, die einen Bürgerhaushalt einrichten, und dem Gemeinde- bzw. Stadtrat. Besonders kompliziert ist in dieser Hinsicht die Situation in Deutschland. Im Pilotprojekt des Landes Nordrhein-Westfalen und der Bertelsmann Stiftung war die Zustimmung des Rats notwendig für die Aufnahme der Kommune in das Pilot-
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verfahren. Durch diese Hürde ist es in vielen Fällen erst gar nicht zu einem Bürgerhaushalt gekommen, weil das Gremium einen Machtverlust fürchtete und sich gegen das Projekt stellte. In wenigen Fällen (wie in Rheinstetten und Marzahn-Hellersdorf) war der Rat zuerst mit der Einführung eines Bürgerhaushalts einverstanden, hat sich dann aber gegen das Verfahren und gegen den Bürgermeister gestellt. Fast immer werden derart innovative Verfahren von der Exekutive initiiert, während die lokale Legislative nur eine zweitrangige oder marginale Rolle spielt und in der Regel den größten Widerstand leistet. 162 In den von uns untersuchten Städten gab es keinen Fall, in dem ein Bürgerhaushalt vom Gemeinde- bzw. Stadtrat gegen den Bürgermeister durchgesetzt wurde. Auch wenn sich eine Verbindung zwischen Legislative und Instrumenten der Beteiligung erst noch entwickeln muss, sind Bürgerhaushalte und andere Partizipationsverfahren keineswegs Teil einer Publikumsdemokratie. Trotz all ihrer Unzulänglichkeiten tragen diese Verfahren in Europa in der Regel zu einer umfassenderen Meinungsbildung der Bevölkerung bei, ohne eine Form der plebiszitären Manipulation darzustellen. Ihre durchschnittliche deliberative Qualität ist zwar unzureichend und ihr Einfluss auf die Beschlussfassung häufig sehr beschränkt, doch sie sind dennoch ein entscheidendes Element für die Entwicklung einer stärker deliberativen Demokratie. Ihre Verfahrensrationalität steht im Gegensatz zu Meinungsumfragen, in denen Bürger unmittelbar auf Fragen antworten müssen, die sie sich oft noch nie so gestellt haben und auf deren Formulierung sie keinen Einfluss hatten.163 Einige Autoren sehen Bürgerhaushalte und andere Partizipationsprozesse als Bestandteil einer „kooperativen Demokratie“, die sich sowohl von der klassisch repräsentativen Demokratie als auch von der direkten Demokratie unterscheide [Holtkamp/Bogumil/Kißler, 2006; Bogumil/Holtkamp, 2000]. Dieser Ansatz ist jedoch nicht unproblematisch. Denn ihm zufolge gehören zur direkten Demokratie einerseits die direkte Wahl des Chefs der Exekutive, des Bürgermeisters, und andererseits Referenden und Bürgerentscheide, weil sie effektive Beschlüsse durch die Bürger ermöglichen. Verfahren wie Bürgerhaushalte seien dagegen der kooperativen Demokratie zuzuordnen, da sie nur konsultativen Charakter haben. Wie gesehen können die europäischen Bürgerhaushalte jedoch in einigen Fällen auch die Übertragung von (formalen oder de facto) Entschei-
162 Dies betrifft übrigens nicht nur Europa, sondern auch fast alle lateinamerikanischen Fallbeispiele, bei denen die nach dem präsidentiellen System von den Bürgern direkt gewählte kommunale Exekutive häufig ‚partizipative Unterstützung‘ gegenüber der lokalen Legislative sucht. 163 Lediglich auf anderen Kontinenten und in einem ganz anderen, politischen Kontext, wo Staat und partizipative Institutionen der Zivilgesellschaft nicht klar voneinander zu trennen sind und die Beteiligungsverfahren nicht auf klar definierten Regeln basieren, kann in einigen Fällen von ‚partizipativem Populismus‘ gesprochen werden.
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dungskompetenzen an die Bürger beinhalten. Des Weiteren wird eine analytische Trennung von kooperativer und direkter Demokratie dadurch erschwert, dass zur letzteren sowohl die Direktwahl des Bürgermeisters als auch Bürgerentscheide gezählt werden.164 Damit kommt es zur Vermischung von drei verschiedenen Prozessen: Plebisziten, bei denen ein Regierender dem Volk eine Vertrauensfrage stellt; Referenden, bei denen auf Initiative ‚von oben‘ das Volk direkt über eine strittige Frage entscheiden soll; und Volksinitiativen, bei denen die Volksabstimmung durch einen ‚bottum-up‘-Prozess ausgelöst wird, indem ein Teil der Wählerschaft zur Annahme oder Ablehnung einer politischen Entscheidung aufruft. Insgesamt werden also zwei unterschiedliche Prinzipien auf eine Ebene gestellt: vom Volk direkt gefasste Beschlüsse, welche die direkte Demokratie im engeren Sinne auszeichnen,165 und die Designierung des Chefs der Exekutive durch das Volk, der anschließend Entscheidungen im Namen der Bürger trifft. In freier Anlehnung an Max Weber [1990] lassen sich die Direktwahl des Bürgermeisters und allgemeiner solche Mechanismen, die eine direkte Beziehung zwischen den Bürgern und ihren politischen Repräsentanten herstellen, als Elemente der charismatischen Herrschaft interpretieren. Partizipative und deliberative Verfahren versuchen dagegen die Herrschaft der politischen Repräsentanten einzugrenzen – oder anders gesagt, der Entfremdung aufgrund der Delegation der wesentlichen Entscheidungsgewalt an eine von den Bürgern abgekoppelte, politische Klasse entgegenzuwirken. Die Beteiligungsverfahren können damit einen Beitrag leisten, die Diagnose von Benjamin Constant zur repräsentativen Demokratie zu widerlegen, nach der nicht das wahlberechtigte Volk regiere, sondern es seine Souveränität nur hin und wieder ausübe, um sie zugleich wieder abzugeben [Constant, 1986]. Allerdings ist die deliberative und partizipative Qualität der bestehenden Instrumente bei weitem noch nicht ausreichend, und allgemein gesprochen steht die Überwindung der Entfremdung zwischen Bevölkerung und politischer Klasse durch Beteiligungsverfahren bisher nur im Bereich des potenziell Möglichen. Grundsätzlich gilt, dass für eine grundlegende Veränderung der Politik ein weitergehender Transformationsprozess erforderlich ist.
164 Diese Idee findet man zwar auch bei französischen Verfassungsrechtlern wieder, welche die Fünfte Republik aufgrund der direkten Präsidentschaftswahlen als ‚semi-direkt‘ bezeichnen, ist angesichts der historischen Erfahrungen in Antike und Moderne aber problematisch [Niepel, 2008; Finley, 1987, 1986; Manin, 2007]. 165 Dass in einem Referendum oder einer Volksinitiative die letzte Entscheidung beim Volk liegt, verhindert natürlich nicht eine Beeinflussung durch Kampagnen von Parteien, Interessensgruppen und Verbänden [Voutat, 2005; Papadopoulos, 1998].
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Ein governo largo?
Inwiefern haben die europäischen Bürgerhaushalte tatsächliche Auswirkungen auf das klassische Parteiensystem, wenn sie wie gesehen nicht als Instrumente der Publikumsdemokratie gelten können? Inwieweit fördern sie eine autonome Zivilgesellschaft? Bieten sie eine neue Ausdrucks- und Aktionsplattform für untere Gesellschaftsschichten und soziale Bewegungen? Um diese Fragen zu beantworten, muss je nach Modell (oder sogar je nach Fallbeispiel) differenziert werden. Am wahrscheinlichsten ist eine Verbindung von unkonventioneller Mobilisierung und Beteiligung am institutionellen politischen System im Modell ‚partizipative Demokratie‘. Umgekehrt besteht im Modell ‚community development‘ die Tendenz, klassische Politik durch Beteiligungsverfahren zu ersetzen. Das Risiko der Instrumentalisierung der Partizipation zu Legitimierungszwecken ist in der ‚bürgernahen Demokratie‘ sehr groß, während in der ‚partizipativen Modernisierung‘ und der ‚partizipativen PPP‘ Bürgerbeteiligung eher zur reinen Verwaltungsmaßnahme ohne großen Einfluss auf die Politik wird. Insgesamt kann kein positiver Effekt der europäischen Bürgerhaushalte auf die Wahlbeteiligung festgestellt werden.166 Entgegen der Hoffnungen von vielen politisch Verantwortlichen, bewirken diese nur selten eine Erhöhung der Wahlbeteiligung [Rey, 2005; Blanco/Font, 2005]. In manchen Fällen geht sie sogar zurück, wobei sich Bürgerhaushalte auch in dieser Hinsicht nicht von anderen partizipativen Verfahren unterscheiden. Es lässt sich demnach keine eindeutige Tendenz hinsichtlich der Wahlbeteiligung ausmachen, wobei ein Bürgerhaushalt grundsätzlich kein besseres Abschneiden der kommunalen Regierung im Amt garantiert.167 Er scheint hingegen wie eine Art Vergrößerungsglas zu wirken, das durch seine Transparenz die Erfolge, aber auch die Schwierigkeiten der regierenden Mehrheit sichtbar werden lässt. Darüber hinaus ist es weder in Brasilien/Lateinamerika noch in Europa zu einer grundsätzlichen Transformation des politischen Systems durch die Einrichtung von Bürgerhaushalten gekommen. Ganz abgesehen von diesen Einschränkungen sind Bürgerhaushalte keine beliebig von der Regierungsmehrheit manipulierbaren Verfahren. In Porto Alegre nutzten nach 2004 die Anhänger der ehemaligen Regierung der Arbeiterpartei (PT) und andere Akteure der Zivilgesellschaft den Bürgerhaushalt, um den neu-
166 Es ist ohnehin schwierig, diesen Faktor isoliert zu betrachten. Eine weitergehende Untersuchung müsste einen quantitativen Vergleich mit Städten ohne Bürgerhaushalt einschließen, um verlässliche Zahlen zu liefern. 167 Eine systematische Analyse der Wahlergebnisse ist schwierig, weil es nur eine geringe Anzahl von Bürgerhaushalten gibt, die über mehrere Jahre existieren.
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III/4 Demokratisierung der Demokratie?
en Bürgermeister anzufechten. In Saint-Denis wurde 2004 die gemeinsame Sitzung des Stadtrats und des Bürgerhaushaltes zum Schauplatz einer deutlichen Kritik an der kommunalen Exekutive. Ebenso werden im Bürgerhaushalt von Sevilla regelmäßig politische Auseinandersetzungen auch zwischen den beiden linken Koalitionspartnern des Stadtrats ausgetragen. Dass derartige Konflikte nicht häufiger auftreten, liegt zum Teil daran, dass die Initiatoren bzw. politischadministrativen Verantwortlichen in den meisten Fällen an den Debatten teilnehmen und diese dadurch in gewissen Maß kontrollieren können. 168 Außerdem sind die Bürgerhaushalte oft sehr jung und werden regelmäßig infolge eines politischen Wechsels wieder abgeschafft. Und schließlich wird die parteipolitische Vereinnahmung von den beteiligten Bürgern negativ wahrgenommen. Letzteres lässt sich unabhängig vom spezifischen lokalen Kontext auch für andere Verfahren verallgemeinern. Offensichtlich scheinen partizipative Verfahren einen von den Parteiapparaten unabhängigen Typ von Politisierung zu erfordern, so dass Versuche der politischen Vereinnahmung häufig ziemlich heftige Reaktionen bei den Teilnehmern hervorrufen.169 Als neuartiges Projekt zwischen Imagepolitik und Identitätsstiftung haben die Bürgerhaushalte vor allem bestimmte traditionelle politische Akteure beeinflusst. Dies gilt insbesondere für manche Sozialdemokraten und post-kommunistische Strömungen, die sich nach dem Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismus neu orientieren mussten. So konnten einige Parteigruppierungen mithilfe der Bürgerhaushalte ihren Willen zur Erneuerung und ihre Bereitschaft zu neuen Experimenten unter Beweis stellen und so auch auf nationaler Ebene sichtbar werden. Obwohl dies für ‚von oben‘ initiierte Verfahren auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, ist der Einfluss von Bürgerhaushalten auf die politische Kultur der Zivilgesellschaft wesentlich spürbarer als im Bereich der Parteipolitik. Die mobilisierten Bürger und Vereine machen sich im Großteil der untersuchten Fälle die angebotenen Beteiligungsmöglichkeiten zu Nutze, verstärken ihren Einfluss auf die aktuelle Politik, vervielfältigen ihre Kontakte mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren und erweitern ihre Kenntnisse über die Funktionsweise des politisch-administrativen Systems. Allerdings kann man daraus nicht automatisch auf eine Vertiefung der Demokratie durch die Entstehung oder die Stärkung von Gegengewalten schließen, denn der Grad der Autonomie der Zivilgesellschaft ist je nach Verfahren und von einem Fallbeispiel zum nächsten sehr unterschiedlich. Gestärkt wurde die Zivilgesellschaft vor allem in
168 Abgeschreckt von den oben zitierten Vorkommnissen entschied die Exekutive von SaintDenis, das Experiment einer gemeinsamen Sitzung von Rat und Bürgerhaushalt nicht zu wiederholen. 169 Eine Ausnahme bilden Referenden infolge von Volksinitiativen, da hier die Parteien oft eine wesentliche Rolle spielen.
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Spanien, in Städten wie Albacete, Sevilla oder Córdoba. In anderen Fällen wie in Puente Genil ist diese Autonomie zwar verfahrenstechnisch garantiert, die zivilgesellschaftlichen Akteure beteiligen sich aber nicht derart am Bürgerhaushalt, dass sie ihr Einflusspotential stärken könnten. In Orten wie beispielsweise Grottammare ermöglicht trotz diesbezüglich sehr vager Regelungen umgekehrt eine organisierte und autonome Zivilgesellschaft, die Strukturen des Bürgerhaushalts ‚von unten‘ zu beeinflussen. In Frankreich und in Deutschland ist dagegen die Autonomie der Zivilgesellschaft auf sozialer wie verfahrenstechnischer Ebene in der Regel sehr beschränkt. Ebenso wenig ist das Verhältnis von einem institutionellen Verfahren wie dem Bürgerhaushalt und sozialen Bewegungen eindeutig zu bestimmen. Wie bereits erwähnt, fordert in Europa keine bedeutende soziale Bewegung die Etablierung von Bürgerhaushalten. Auch existiert hierfür kein Lobbying ‚von unten‘, wie es sich in Deutschland durch den Druck zivilgesellschaftlicher Akteure zur vermehrten Initiierung von Volksentscheiden bzw. Bürgerbegehren äußert. Außerdem sind die sozialen Bewegungen, insbesondere die Globalisierungskritiker, im Großteil der europäischen Bürgerhaushalte nicht aktiv beteiligt, und dies wird sich in absehbarer Zeit wohl kaum ändern (nur in einigen italienischen Städten haben soziale Bewegungen eine wichtige Rolle gespielt). Einige dieser Strömungen sind gegen die Idee der partizipativen Demokratie an sich, weil diese keinen radikalen Umsturz der aktuellen Machtstrukturen anstrebt, oder weil umgekehrt ihre eigene autoritäre Struktur sich nicht mit der Logik der Partizipation vereinbaren lässt. Meistens machen die einmal etablierten Bürgerhaushalte jedoch das politisch-administrative System durchlässiger für die Bedürfnisse der Bürger, insbesondere für Vereine und Verbände. In einigen Fällen treffen so bestehende bottom-up-Bewegungen auf ursprünglich von oben initiierte top-down-Maßnahmen. Eine derartige Zusammenarbeit lässt sich aus unterschiedlichsten Gründen auch bei anderen Partizipationsinstrumenten beobachten. Entweder ist schon vorher eine gut organisierte und unabhängige Zivilgesellschaft vorhanden, es findet sich eine engagierte Person, die diese Verbindung herstellt oder sie entsteht durch eine günstige Gelegenheit für diese oder jene soziale Bewegung. Die Offenheit des Verfahrens und die formellen Garantien für die Autonomie der beteiligten Akteure sind demnach für ein stärkeres Engagement der Zivilgesellschaft von Vorteil. In weniger als einem Viertel der Fallbeispiele begünstigten die europäischen Bürgerhaushalte die Entstehung einer kooperativen Gegenmacht. Am häufigsten geschieht dies in den Modellen ‚partizipative Demokratie‘ oder ‚community development‘, wenn auch in wesentlich geringerem Ausmaß als in Porto Alegre. Der politische Einfluss der Bürger ist zusätzlich dadurch begrenzt, dass eine kooperative Gegenmacht nicht zwangsläufig mit einem empowerment der benachteiligten Gruppen einhergeht. In Europa engagieren sich nicht die
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unteren Schichten oder outsider in den partizipativen Verfahren, sondern eher Mitglieder der Mittelschicht. Die Bürgerhaushalte bilden dabei keine Ausnahme, selbst wenn bei ihnen etwas mehr Beteiligte aus unteren Schichten kommen als bei anderen Partizipationsinstrumenten. Deshalb kann man auch nur in sehr geringem Maße und in nur wenigen Städten die Entstehung einer plebejischen Öffentlichkeit beobachten. Der Import dieses Instruments aus Porto Alegre wirkt also in nur sehr eingeschränktem Maß der Entfremdung der unteren Schichten vom politischen System entgegen. Zugleich ist die allmähliche Entstehung einer vierten Gewalt in bestimmten europäischen Bürgerhaushalten zu konstatieren. Vor allem gilt dies für Italien und Spanien, wobei nur auf der iberischen Halbinsel die Bezeichnung presupuesto participativo für die meisten Akteure eine Beschlussfassung durch die Teilnehmer des Partizipationsprozesses bedeutet. Zwar bleibt hier der Einfluss der vierten Gewalt in Anbetracht der relativ beschränkten Entscheidungskompetenzen weit hinter derjenigen der drei anderen Gewalten zurück. Dennoch ist die vierte Gewalt trotz ihres geringen Ausmaßes nicht Teil der bestehenden Institutionen der repräsentativen Demokratie. Grundsätzlich gilt jedoch, dass letztere ein Entscheidungsmonopol der unabhängigen gewählten Repräsentanten gegenüber ihren Bürgern beinhaltet, über das die Delegierten des Bürgerhaushalts oder die mobilisierten Bewohner in öffentlichen Versammlungen nicht verfügen. Selbst wenn es dort auch Formen der Repräsentation gibt, so sind diese anders beschaffen: Sie basieren auf Delegierten, die entweder mit der Zufallsmethode ausgewählt wurden, ein semi-imperatives Mandat innehaben oder de facto auf die einstimmige Unterstützung der Basis angewiesen sind. Insgesamt gesehen sind diese Ansätze einer vierten Gewalt beim Bürgerhaushalt relativ marginal, so dass sie sich in diesem Punkt nur teilweise von anderen partizipativen Verfahren in Europa abheben. Doch die zukünftige Entwicklung ist völlig offen. War vor (und teilweise selbst nach) den modernen demokratischen Revolutionen der Platz der Parlamente nicht ebenso problematisch? Zum heutigen Zeitpunkt befinden sich die Bürgerhaushalte folglich auf halbem Weg zwischen einer deliberativen Neuorientierung der repräsentativen Demokratie und dem Aufkommen einer echten partizipativen Demokratie, welche die Institutionen des repräsentativen Regierungssystems mit einer vierten Gewalt kombiniert und mithilfe derer die Bürger direkt oder über Delegierte Entscheidungen treffen können. Dem Bürgerhaushalt wie allen anderen Beteiligungsverfahren gemeinsam ist die Idee, die Entscheidungsprozesse auf normale Bürger zu erweitern. Die normativen Theorien dieser Art scheinen jetzt schon sehr weit entwickelt, während die Praxis zögerlich und mit unterschiedlichen Ergebnissen folgt. Die hierarchische Pyramide der Beschlussfassung existiert immer noch, aber sie bekommt zunehmend Konkurrenz durch horizontale Netzwerke. Nach den klassischen, organizistischen Metaphern wird – wie von
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Durkheim – der Staat als Gehirn der Gesellschaft und die anderen Institutionen als Glieder des sozialen Organismus bezeichnet. Heute vergleichen Autoren wie Antonio Negri und Michael Hardt die gesamte Gesellschaft mit einem Gehirn in Form einer koordinierten Neuronenmasse, die als Netzwerk ohne identifizierbares Zentrum funktioniert [Hardt/Negri, 2004]. Kann diese Metapher auch auf die Bürgerhaushalte und darüber hinaus auf andere partizipative Verfahren angewandt werden? Insbesondere Aktivisten aus dem links-alternativen Spektrum zweifeln daran. Ihnen zufolge gruppieren sich auch die am weitesten entwickelten Beispiele immer um einen zentralen Staat, der zwar konsultiert, diskutiert und verhandelt oder sogar gewisse Entscheidungen delegiert, jedoch stets die oberste Regulierungsinstanz und der Schiedsrichter im Konfliktfall bleibt. Diese Kritiker stellen der institutionellen Partizipation radikaldemokratische Modelle entgegen, wie sie beispielsweise in einigen globalisierungskritischen Gruppierungen oder bei open-source-Softwareprogrammen Ausdruck finden. Selbst wenn es einen wahren Kern gibt, muss diese Perspektive doch in ihrer Radikalität relativiert werden. Einerseits sind Bürgerhaushalte und die anderen institutionellen Strukturen der Bürgerbeteiligung nur Elemente einer viel breiteren administrativen und politischen governance. Beschränkt man die Perspektive auf die kommunale Ebene und die unmittelbaren Ergebnisse, bleibt die Entscheidungsgewalt ganz eindeutig bei den lokalen Mandatsinhabern. Betrachtet man hingegen mit mehr Abstand die Entscheidungsketten, die vor einer konkreten politischen Maßnahme liegen, verschieben sich die Machtverhältnisse jedoch zugunsten der Bürger. Umgekehrt findet sich auch in den scheinbar demokratischsten und kooperativsten Netzwerken eine ungleiche Verteilung von Macht, Informationen und Handlungsmöglichkeiten. Folglich ist es ebenso verkehrt, Beteiligungsverfahren zu idealisieren wie sie als einflusslose Mechanismen am Rande des politischen Systems zu betrachten. Sie leisten einen Beitrag zu neuen möglichen Regierungsformen, deren Entwicklungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Der in den italienischen Kommunen des Mittelalters und der Renaissance geschaffene Begriff des governo largo scheint für eine Analyse dieses Prozesses durchaus geeignet [Röcke, 2005; Bacqué/Rey/Sintomer, 2005]. Die ‚breite Regierung‘ der Florentiner Republik unterschied sich von der ‚engen Regierung‘ (governo stretto) einer aristokratischen und despotischen Macht. Doch auch erstere war nicht Synonym für eine echte Demokratie, denn in Florenz waren die unteren Schichten aus der Bürgerschaft ausgeschlossen und wurden institutionell nur unter den sehr kurzen revolutionären Perioden anerkannt, ebenso wie die Frauen, die außerhalb der institutionellen Politik bleiben mussten. Die für diese Zeit relativ große Beteiligung der Bürger am öffentlichen Leben und an der Selbstverwaltung der Kom-
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mune verhinderte nicht, dass die eigentliche Macht in der Regel von einer recht beschränkten Elite ausgeübt wurde.170 Dennoch gab es ständig Kontroversen über die Bestimmung derjenigen Bürger, die aktiv ihre bürgerschaftlichen Rechte ausüben und an der Selbstverwaltung teilnehmen durften. Zu Beginn der Renaissance stand das politische Regime der Florentiner Republik in starkem Gegensatz einerseits zu den sich etablierenden absolutistischen Regimen, andererseits zu den oligarchischen Republiken, die wie in Venedig ein für allemal den Kreis derer definiert hatten, die würdig genug zur Teilnahme an der Beschlussfassung galten. Natürlich besteht ein großer Unterschied zwischen dem sozialen, kulturellen und politischen Kontext der Florentiner Republik und den aktuellen Bestrebungen zur Institutionalisierung der Partizipation. Doch gleichen letztere nicht in gewissem Sinne einem governo largo im Gegensatz zum governo stretto der klassischen repräsentativen Regierungssysteme, selbst wenn sich nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung beteiligt171 und man weit entfernt von einer echten Selbstverwaltung bleibt? Während das repräsentative Regierungssystem dazu neigt, die Demokratie auf die Ausübung des Wahlrechts zu reduzieren und die restlichen Entscheidungen einer geschlossenen Elite zu überlassen, erweitern die partizipativen Verfahren tendenziell den Kreises derjenigen, die an wichtigen Diskussionen und der Entscheidungsfindung teilnehmen können (auch wenn er im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung meistens sehr beschränkt bleibt). Dies kann als eine Antwort darauf gesehen werden, dass der Anspruch einiger Mandatsträger auf die alleinige Entscheidungsmacht zunehmend an Glaubwürdigkeit verliert, das politische System sich nicht mehr von den Forderungen und Bedürfnissen der Bürger abschotten kann und deliberative Beteiligungsprozesse immer mehr an Bedeutung gewinnen. Diese Prozesse bilden ein Gegengewicht zu plebiszitären Mechanismen, zur Politik als Spektakel und zu Formen von governance, in denen Unternehmen oder Expertenkomitees einen dominanten Einfluss ausüben. Dennoch – so haben die Ausführungen in diesem Kapitel gezeigt – führen sie nicht automatisch zu einer Demokratisierung der Demokratie.
170 Wie es der Florentiner Historiker und Intellektuelle Giovanni Cavalcanti nüchtern sagte, haben trotz der Tatsache, dass viele Personen durch das Losverfahren öffentliche Ämter inne hatten, nur wenige von ihnen an der tatsächlichen Regierung der Stadt teilgenommen: „Molti erano eletti agli ufficii, e pochi al governo“ [Giovanni Cavalcanti, Istorie Fiorentine, F. Polidori, Florence, 1838, I: 77, zitiert in Najemy, 1982: 311]. 171 In der Regel liegt die Zahl der teilnehmenden Bürger bei 2% bis 3% der erwachsenen Bevölkerung oder sogar darunter.
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Stadtplanung, Architektur und Innenausstattung
Welche Tragweite haben Verfahren der Bürgerbeteiligung in Europa heute? Inwiefern ruft ihre zunehmende Institutionalisierung Veränderungen hervor und wie weit werden diese gehen? Auf der Basis unserer Untersuchungen können wir nun die drei in der Einleitung formulierten Interpretationen zur Entwicklung und Bedeutung der Bürgerhaushalte besser beurteilen. Nach den Vertretern der ersten ermöglichen die Bürgerhaushalte eine Demokratisierung der Demokratie und stellen einen konkreten Schritt auf dem Weg zu einer ‚anderen Welt‘ dar. Die Anhänger der zweiten Interpretation warnen, dass die institutionalisierte Partizipation aufgrund von Vereinnahmung, Routine und Instrumentalisierung vor allem dem etablierten politischen System dient. Partizipative Demokratie sei eine persönliche Angelegenheit von einigen Politikern, die nach neuen Legitimationsformen suchen; bestenfalls sei mit ihr eine Modernisierung der Verwaltung möglich. Schließlich gibt es eine intermediäre Position, bei der Partizipation und Deliberation als normativer Bezugspunkt und als Quelle neuer Praktiken gedacht werden. Durch eine Kombination von Kritik und Rechtfertigung soll dabei ein neuer Geist in den demokratischen Institutionen etabliert werden. Da die aufgezeigten Fallbeispiele meist noch nicht sehr lange bestehen, ist die existierende Datengrundlage nicht ausreichend zur Formulierung eindeutiger Urteile bezüglich der drei genannten Positionen. Einige Hypothesen sollen dennoch aufgestellt werden. 1.
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Nach bisherigen Erkenntnissen ist die erste Interpretation heutzutage bestenfalls ein frommer Wunsch, schlimmstenfalls eine ideologische Selbstrechtfertigung. Die Bürgerhaushalte stellen in Europa im Moment keine Alternative zur neoliberalen Globalisierung dar. Sie bewirken keine signifikante gesellschaftliche Anerkennung der unteren Schichten und sind nur ein schwaches Instrument zur Förderung sozialer Gerechtigkeit. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich kaum von anderen Partizipationsinstrumenten. Dies liefert möglicherweise auch eine wichtige Erklärung für die Tatsache, dass die Bürgerhaushalte in Europa bisher keine starke Bewegung ‚von unten‘ hervorgerufen haben.172 Die zweite, halb realistische, halb zynische Interpretation, nach der Bürgerbeteiligung vor allem zur Rechtfertigung des bisherigen politischen Systems dient, erscheint ebenfalls völlig ungeeignet, um der weit komplexeren Realität gerecht zu werden. Schließlich sind erstens Veränderungen in der
172 Die Initiatoren der ersten Bürgerhaushalte haben die Verknüpfung von Partizipation mit Gender Mainstreaming sowie wirtschaftlicher und nachhaltiger Entwicklung vernachlässigt. In dieser Hinsicht sind andere Beteiligungsverfahren weiter entwickelt und könnten in Zukunft eine wichtige Vorbildfunktion auch für Bürgerhaushalte spielen.
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III/4 Demokratisierung der Demokratie?
Verwaltung zugunsten der Bürger zu verzeichnen, wissen zweitens die betroffenen Bürger sich die anfangs ‚von oben‘ initiierten Prozeduren zu Nutze zu machen, und haben drittens die Beteiligungsverfahren mindestens ebenso großen politischen Einfluss auf die Zivilgesellschaft wie auf die Mandatsträger. Darüber hinaus kann auch die rein strategische Unterstützung von Beteiligungsprozessen als Dienst des Lasters an der Tugend gesehen werden, da es den zunehmenden Druck auf gewählte Repräsentanten im Zuge der Fortentwicklung der demokratischen Legitimität verdeutlicht. Bestätigt sich somit die dritte Interpretation, die einen ‚neuen Geist‘ in den Institutionen der repräsentative Demokratie in Aussicht stellt? Die Antwort fällt gemischt aus. Die europäischen Bürgerhaushalte basieren je nach idealtypischem Modell und Entstehungskontext auf sehr unterschiedlichen Prinzipien und führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Mit den Bürgerhaushalten und anderen Beteiligungsinstrumenten ist etwas in Bewegung gekommen, aber die Tragweite und die Richtung der Entwicklungen sind alles andere als eindeutig.
Um die Analyse weiter zu führen, können wir uns auf eine analytische Differenzierung zu Transformationen in der Politik von Peter Hall [1993] stützen. Bei einer Transformation ersten Grades verändern sich die Ausmaße der Aktivitäten, aber die verwendeten Instrumente und die verfolgten Ziele bleiben die gleichen. Zum Beispiel wird mehr Geld in ein Programm investiert, aber es handelt sich um eine routinemäßige Anpassung politisch-administrativer Maßnahmen. Auf dem zweiten Niveau werden zwar neue politische Instrumente eingeführt, aber die verfolgten Ziele bleiben die gleichen. Meistens handelt es sich auch hier um eine interne Veränderung der Bürokratie. Der dritte Grad impliziert einen Wandel der politischen Ausrichtung und Strategie und nicht nur die Änderung der Intensität, mit der die politischen Maßnahmen durchgeführt werden oder die Einführung neuer Instrumente bei gleich bleibenden Zielen. Eine derartige Veränderung kann nicht aus der Verwaltungsroutine hervorgehen, sondern entsteht aufgrund von außerordentlichen Umständen, wenn größere Probleme scheinbar nicht mehr mit den bestehenden Ansätzen bewältigt werden können. Sie ist verbunden mit einer breiten gesellschaftlichen Debatte, die über den engen Kreis der politischen und administrativen Entscheidungsträger hinaus geht und bringt eine Verschiebung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse mit sich. Es handelt sich hierbei nicht nur um einen Lernprozess (learning process), sondern auch um einen Prozess der Veränderung der Machtverhältnisse (empowering process) zugunsten einiger Gruppen auf Kosten anderer.173 Nur in
173 Learning process und empowering process werden in der Regel von zwei verschiedenen Strömungen in den Sozialwissenschaften vertreten, die Peter Hall versucht zusammenzuführen.
III/4.3 Stadtplanung, Architektur und Innenausstattung
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diesem Fall kann man von einer politischen Transformation im vollen Wortsinn sprechen. Nach diesen Kriterien stellt die Einführung der Bürgerhaushalte in Europa nur im Idealtyp ‚Porto Alegre in Europa‘ ein wirklich neues Instrument gegenüber den vorherigen Verfahren und damit eine Veränderung zweiten Grades dar. Interessanter erscheint es jedoch, die auf Deliberation und Partizipation basierenden Veränderungen im politischen Raum in ihrer Gesamtheit zu analysieren, an denen Bürgerhaushalte, neben anderen Verfahren, beteiligt sind. Die Einführung von neuen und innovativen Beteiligungsinstrumenten ist nach der Unterscheidung von Hall eindeutig eine Transformation zweiten Grades im Verhältnis zu klassischen Politikansätzen. Fraglich ist, ob die Veränderungen auch den dritten Grad eines politischen Paradigmenwechsels erreichen bzw. zu einem Wandel der normativen Rahmen kollektiven Handelns führen. Geht es hier um eine politische oder rein administrative Transformation? Impliziert sie eine Veränderung der Machtverhältnisse? Die Antwort muss selbstverständlich je nach Kontext und Partizipationsmodell differenziert werden. Jedes Modell beruht teilweise auf neuen Paradigmen im Verhältnis zu vorherigen Politikansätzen. Dennoch hat der Großteil der normativen Rahmen seine tieferen Wurzeln in der Geschichte der zeitgenössischen Demokratien. In der Nachkriegszeit bzw. in den 1960er Jahren haben sich der ‚Neokorporatismus‘ und das ‚community development‘ institutionalisiert. Die ‚bürgernahe Demokratie‘ stabilisiert sich ab den 1980er Jahren, wohingegen die ‚partizipative Modernisierung‘ und die ‚partizipative Demokratie‘ ihr heutiges Gesicht im Laufe der 1990er Jahre erhalten. Der Begriff des ‚partizipativen Public Private Partnership‘ setzt sich um das Jahr 2000 durch. Insgesamt gesehen führen diese ideologischen und institutionellen Veränderungen zu sehr deutlichen – jedoch unterschiedlich ausgerichteten – Verschiebungen der Machtverhältnisse. Wie gesehen kann man nur in den Fallbeispielen der Modelle ‚partizipative Demokratie‘ und ‚community development‘ das Aufkommen einer kooperativen Gegenmacht der Zivilgesellschaft beobachten. Umgekehrt haben nur in den Fallbeispielen, die zum ‚partizipativen Public Private Partnership‘ zählen, wirtschaftliche Akteure einen direkten Einfluss auf das politisch-administrative Handeln. John Parkinson [2004] bedient sich zur Klassifizierung von Partizipationsinstrumenten folgender Metapher: Beteiligungsverfahren können sich mit strukturellen Fragen, dem housing, befassen, sich mit dem building, d.h. wichtigen aber nachrangigen Problemen beschäftigen oder sich auf das painting konzentrieren, also auf nachgelagerte und relativ marginale Themen. Er fügt hinzu, dass die englischen Partizipationsverfahren zu oft die Diskussion des painting in den Mittelpunkt stellen, um das building und housing möglichst in den Hintergrund zu rücken. In Anlehnung an diese Metapher könnte man sich fragen, ob sich die Bürgerhaushalte in Europa und institutionelle Verfahren der Bürger-
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III/4 Demokratisierung der Demokratie?
beteiligung allgemein mit Problemen der Stadtplanung, der Architektur eines Hauses oder der Innenausstattung beschäftigen. Die europäischen Bürgerhaushalte befassen sich in fast allen Fällen mit painting oder building, aber nur sehr selten mit housing. Dies hängt auch damit zusammen, dass ihre Einflusssphäre in der Regel auf die lokale Ebene beschränkt ist. Berücksichtigt man die Gesamtheit der partizipativen Verfahren der letzten zwei Jahrzehnte fällt die Diagnose jedoch positiver aus. Trotz zum Teil massiver Widerstände modifizieren sie nach und nach das Selbstverständnis und die Funktionsweise der traditionellen Verwaltung. Die politischen Auswirkungen sind hingegen weniger klar erkennbar. Die Ära der ungeteilten Dominanz der Parteiapparate gehört wohl der Vergangenheit an, und eine Demokratie, die auf mehr partizipativen und deliberativen Elementen basiert, gewinnt an Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig und parallel dazu entwickeln sich jedoch auch Formen der Publikumsdemokratie und einer stark technokratischen governance. Im sozialen Bereich beschränken sich die partizipativen Verfahren im Wesentlichen auf die Innenausstattung (painting) oder vernachlässigen diese Dimension vollkommen. Das ist eine ihrer größten Schwächen in Europa und darin liegt auch die größte Differenz zu zahlreichen lateinamerikanischen Beispielen.
Schluss: Eine realistische Utopie
Abschließend soll eine Gesamtbilanz der Bürgerhaushalte in Europa und durch sie auch der zahlreichen anderen, sich schnell verbreitenden Verfahren zur Bürgerbeteiligung gezogen werden. Wie kann der Import des Bürgerhaushalts von Porto Alegre nach Europa erklärt werden, und warum erscheint er für eine wachsende Zahl von Akteuren immer attraktiver? Inwieweit kann man von einer europäischen Konvergenz in Hinsicht auf die bestehenden Partizipationsverfahren sprechen und was sind diesbezüglich die deutschen Besonderheiten? Welche wesentlichen Schlüsse lassen sich aus dieser breit angelegten Analyse ziehen? Eine europäische Dynamik? Unsere Überlegungen aus dem ersten Teil zu den Faktoren, welche die Verbreitung der Bürgerhaushalte in Europa begünstigen, haben sich weitgehend bestätigt. Das Innovationspotential des Verfahrens macht es attraktiv für Verantwortliche in Politik und Verwaltung, welche die Notwendigkeit erkannt haben, ihr Image und ihre Praktiken zu erneuern. Bei Bürgerhaushalten geht es zudem um ‚den Nerv des Krieges‘: die öffentlichen Finanzen. Darüber hinaus helfen sie möglicherweise, über die eigene Kirchturmspitze hinauszuschauen, indem sie Diskussionen über die allgemeine politische Orientierung zwischen den Bürgern fördern. Für die Linken, die sich des Themas in Europa angenommen haben, hat der Bürgerhaushalt das ‚Gütesiegel‘ der Globalisierungskritiker. Er lässt sich aber auch in die Modernisierungsbestrebungen der öffentlichen Verwaltung einordnen, was die Aufmerksamkeit einiger Kommunalpolitiker der entgegengesetzten politischen Orientierung erklärt. Der Bürgerhaushalt hat das Interesse verschiedenster nationaler und europäischer Gruppierungen auf sich gezogen. Die Globalisierungskritiker waren die ersten, doch sie bekamen sehr früh Gesellschaft von den Modernisierern, die sich am New Public Management orientieren, den Wissenschaftlern, die sich mit den Perspektiven der deliberativen und partizipativen Demokratie beschäftigen, den Planungsbüros und privaten Beraterunternehmen, die hier einen viel versprechenden Markt wittern, internationalen Organisationen und Institutionen wie der UNO, der Weltbank, der OSZE oder den EU-Programmen URBACT und URB-AL sowie nicht zuletzt der britischen Regierung.
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Schluss: Eine realistische Utopie
Es ist nicht verwunderlich, dass durch diese derart heterogenen Akteure sehr unterschiedliche Verfahren und Partizipationsmodelle entstanden sind. Zugleich haben sie aber ohne Zweifel zum Erfolg der Bürgerhaushalte beigetragen. Ebenso spielt dieser Faktor in der Verbreitung der institutionellen Verfahren der Bürgerbeteiligung allgemein eine wichtige Rolle. Die empirische Bilanz der ersten Fallbeispiele des Bürgerhaushalts ist durchwachsen und erklärt für sich alleine nicht das exponentielle Wachstum dieses Verfahrens, das aller Wahrscheinlichkeit nach in den nächsten Jahren anhalten wird, da es Teil einer weltweiten Verbreitung von Instrumenten der Beteiligung ist. Wenn auch auf anderem Niveau, erinnert diese Entwicklung an das Aufkommen des Wohlfahrtsstaates im letzen Jahrhundert. Entstanden ist dieser aus dem unwahrscheinlichen Zusammenschluss der Arbeiterbewegung, welche eine Revolution der Gesellschaft zum Ziel hatte, konservativen Strömungen, die diese Entwicklung unbedingt verhindern wollten, von Staatsmännern, die zur Sicherung ihrer Macht und der ihrer Nation das breite Volk hinter sich zu bringen suchten, von christlich-karitativen Strömungen oder auch der Bewegungen, welche die rückständigen und gesundheitsschädlichen Lebensbedingungen verbessern wollten. Daraus ging, zumindest in den westlichen Ländern, ein New Deal hervor – ein gemeinsamer Nährboden, auf dem vom sozialdemokratischen über den liberalen bis zum konservativen Modell sehr unterschiedliche Varianten des Sozialstaats errichtet werden konnten [Esping-Andersen, 1990]. Vergleichbar mit dieser Entwicklung drängt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ‚Partizipation‘ als obligatorisches Thema für Politik und Verwaltung auf. Die Entwicklung der institutionellen Partizipation verläuft nicht isoliert, sondern geht einher mit der Etablierung anderer Prozesse: 1.
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politischen partizipativen Wahlkämpfen, wie beispielsweise jüngst der von Barak Obama; hier hat ‚partizipativ‘ jedoch eine ganz andere Bedeutung als im Rahmen von Bürgerhaushalten, da es sich in erster Linie um eine direkte Beteiligung der Bürger in der Wahlkampagne jenseits der Grenzen des Parteiapparats handelt; die Entstehung zahlreicher neuer sozialer Bewegungen, die auf horizontalen Koordinationsformen basieren; das Aufkommen neuer Formen von governance von der kommunalen bis hin zur globalen Ebene.
Außerhalb der politischen Sphäre spiegelt sich diese Entwicklung in der allmählichen Entstehung einer Netzwerkgesellschaft auf internationaler Ebene wider. In diesem allgemeinen Rahmen gibt es einige Modeeffekte, infolge derer viele partizipative Verfahren mehr der Imagepolitik dienen als wirkliche politische Innovationen bringen. Trotz allem werden immer öfter die Diskurse auch in die konkrete Praxis umgesetzt. Hierbei handelt es sich nicht um ein vorübergehen-
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des Phänomen, sondern – so lautet die hier vertretene These – um einen grundlegenden Wandel. Dennoch muss man daran erinnern, dass abgesehen vom allgemeinen Beitrag der europäischen Bürgerhaushalte zur Modernisierung des öffentlichen Dienstes die konkreten Auswirkungen sehr unterschiedlich sind (dies gilt umso mehr für Beteiligungsverfahren in ihrer Gesamtheit). Im Bereich des Bürgerhaushalts gibt es verschiedenste Modelle von Partizipation, die von ‚partizipativer Demokratie‘ über die ‚bürgernahe Demokratie‘, die ‚partizipative Modernisierung‘, die ‚partizipative öffentlich-private Kooperation‘, das ‚community development‘ bis zum ‚Neokorporatismus‘ reichen. Zugleich werden immer neue Mischformen geschaffen, die einzelne Aspekte der verschiedenen Modelle miteinander verbinden. Diese institutionellen Neuerungen sind stark vom politischen Kontext und den existierenden, politischen und gesellschaftlichen Traditionen geprägt, was die Wirtschafts- und Politikwissenschaftler ‚Pfadabhängigkeit‘ (path-dependency) nennen. Bisher ist nicht davon auszugehen, dass diese zahlreichen Varianten eines Tages zu einem einzigen Modell zusammengeführt werden, denn eine Vereinheitlichung erscheint weder möglich noch wünschenswert. Der scheinbare Konsens der verschiedenen Initiatoren partizipativer Verfahren ist daher eher oberflächlich. Trotz der Unterschiede hinsichtlich der Ausrichtung auf verschiedene Modelle sind auch Gemeinsamkeiten zu beobachten. Ziele und Ausgangspunkte mögen oft sehr unterschiedlich sein, aber die eingeschlagene Richtung ist zumindest teilweise dieselbe. Dies erinnert wiederum an die Entwicklung der verschiedenen Sozialstaatsmodelle während der letzten zwei Jahrzehnte [Pallier, 2002]. Ein Grund hierfür liegt darin, dass zumindest auf europäischer Ebene ähnliche Rahmenbedingungen vorliegen. Erstens gibt es keine glaubwürdige Alternative zur repräsentativen Demokratie, die jedoch mit einem Legitimationsdefizit kämpft. Zweitens stellen Prozesse der Globalisierung und Regionalisierung die klassischen politischen Systeme in Frage. Drittens befindet sich die traditionelle Bürokratie in der Krise, die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen wird zunehmend kritisiert, aber ein Großteil der Bürger kritisiert auch die ungeteilte Herrschaft des Marktes. Dieser gemeinsame Kontext macht die Akteursnetzwerke, welche die partizipativen Neuerungen vorantragen und verbreiten, gegenseitig sehr durchlässig und vereinfacht die Zirkulation von Wissen, Methoden und Verfahren. Daher gibt es teilweise Übereinstimmungen in den normativen Rahmen, die dem Wandel jeweils zugrunde liegen. Ignoriert man die verwirrende Begriffspluralität, überschneiden sich die normativen Grundlagen der partizipativen Verfahren in mindestens vier Bereichen. Einerseits wächst die Überzeugung, dass die Effektivität der öffentlichen Verwaltung mit der Nähe zu den Bürgern sich verbessert, und dass auch die institutionelle Politik eine größere Bürgernähe etablieren sollte. Andererseits nehmen immer mehr Akteure wahr, dass die komplexen Probleme der modernen
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Gesellschaft eine Form von technischer Demokratie erfordern, und sei dies nur in ihrer Minimalversion, der Einbeziehung von Nutzerwissen. Drittens wird zunehmend deutlich, dass autokratische Regierungsmethoden ins Hintertreffen geraten. Aus Gründen der politischen Opportunität (Vermeidung von Legitimitätskrisen) sowie aus normativen Gründen (Verstärkung des demokratischen Charakters politischer Systeme) erscheint es daher unumgänglich, Bürger in die neuen netzwerkartigen Regierungsformen einzubeziehen – während gleichzeitig elitengestützte Versionen der repräsentativen Demokratie sowie der klassische Parlamentarismus an Glaubwürdigkeit verlieren. Schließlich argumentiert eine wachsende Zahl von Akteuren und Analysten, dass zur Steigerung der Effektivität und Legitimität mehr deliberative Elemente in die Demokratie integriert werden müssen, indem vermehrt Instanzen zur Diskussion öffentlicher Angelegenheiten geschaffen werden. Neben der Stärkung der Öffentlichkeit und der vermehrten Schaffung von Expertenkomitees gehören auch partizipative Verfahren zu den Maßnahmen, mittels derer diese Ziele erreicht werden sollen. Das Ideal einer partizipativen Demokratie Anhand unserer Untersuchung wird die Vielfalt der Rahmenbedingungen und der Probleme der Bürgerhaushalte und anderer Beteiligungsverfahren in Europa deutlich. Dadurch wird es auch sehr schwierig bzw. unmöglich, eine normative Empfehlung für das ‚beste‘ Partizipationsmodell zu formulieren. In der Tat müssen bei der Diskussion der Vor- und Nachteile der Verfahrenstypen und der allgemeinen Typologie der Bürgerbeteiligung in Europa immer die konkreten Rahmenbedingungen berücksichtigt werden (dies betrifft Bürgerhaushalte, aber auch andere institutionelle Verfahren wie zum Beispiel Wahlsysteme oder die Art des Konfliktmanagements bei Tarifkonflikten). Aufgrund der Zwänge der Pfadabhängigkeiten gibt es keine Ideallösung, kein perfektes Modell, das alle Probleme lösen könnte. Dies wird besonders deutlich, wenn man beispielsweise nach den besten konkreten Verfahren der Bürgerbeteiligung fragt, die Repräsentativität beurteilen will oder das Verhältnis von Deliberation und Partizipation erörtert. Die objektiven Herausforderungen und die Vielfalt der Rahmenbedingungen machen es unmöglich, sich auf ei n legitimes Modell endgültig festzulegen, sondern es gibt mehrere, teilweise widersprüchliche Modelle, zwischen denen in der Praxis lediglich Kompromisse gemacht werden können. Das Ideal einer partizipativen Demokratie ist eine realistische Utopie: Einerseits markiert es einen idealen Horizont, auf den man hinsteuern kann, andererseits handelt es sich um eine reale, schon im Gang befindliche Bewegung, die noch vertieft werden kann und die gerechter und effektiver erscheint als andere aktuelle Tendenzen. Wir verfügen bereits jetzt über einige Orientierungspunkte auf dem Weg zu diesem Ideal, auch wenn diese relativ abstrakt bleiben: die
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Wiederbelebung der Bürgerschaft, um den Unterwerfungsmechanismen einer ungerechten politischen und sozialen Ordnung entgegenzutreten [Balibar, 1997, 1998]; die Etablierung einer gemischten Verfassung, welche die repräsentative Demokratie mit Formen der direkten Demokratie verbindet, die in einer vierten Gewalt institutionalisiert werden; die Förderung einer autonomen Zivilgesellschaft, um das Aufkommen einer kooperativen Gegenmacht zu ermöglichen; die Durchsetzung der Gleichheit aller Bürger vor der Politik unabhängig von ihrer sozialen Herkunft; die Förderung des gesellschaftspolitischen Engagements, das dem Ideal der Selbstverwaltung, von dem sich die modernen Demokratien zu weit entfernt haben, einen neuen Aufschwung geben kann; die Verbesserung der deliberativen Qualität bei öffentlichen Diskussionen und bei der Entscheidungsfindung sowie die Einbeziehung technischer und wissenschaftlicher Fragen in die Debatten; die Verwendung der Bürgerbeteiligung als einem Instrument der sozialen Gerechtigkeit, denn die politische Emanzipation braucht Unterstützung durch bürgerschaftliche Bewegungen, welche die Verteilung der Macht, der Reichtümer und der Anerkennung in Frage stellen. Diese allgemeinen Orientierungspunkte lassen sich nicht zu einem Modell zusammenfügen. Das Ideal einer partizipativen Demokratie muss immer im Plural gedacht werden, denn je nach Ausgangspunkt und zu überwindenden Hürden kann der aufgezeigte Horizont sehr unterschiedlich sein. In einem gegebenen Kontext hindert dies jedoch nicht daran, im Hinblick auf dieses Ideal empirische und normative Grenzen auszuloten und pragmatische Lösungen zu ihrer Überwindung vorzuschlagen. In Bezug auf die Situation in Deutschland bedeutet dies an erster Stelle, die bestehenden Grenzen der Beteiligungsverfahren zu analysieren. Im zweiten Teil des Buches ist deutlich geworden, dass Bürgerhaushalte bisher nur wenig zu einer Modernisierung der Verwaltung beigetragen haben, soziale Fragestellungen eine untergeordnete Rolle spielen, es nicht genug Raum gibt für eine fundierte Diskussion zwischen den Teilnehmern und grundsätzlich eine Dominanz von Politik und Verwaltung in der Konzeption und Organisation der Verfahren zu verzeichnen ist. Letzteres führt dazu, dass Bürgerhaushalte nur schwach in der Bürgerschaft verankert sind, sie keine vierte Gewalt darstellen und kein Ort der kooperativen Gegenmacht sind. Die geringe Bedeutung politischer Fragestellungen lässt sich zum Teil mit den besonderen Ursprüngen des Bürgerhaushalts in Deutschland erklären: Sie gehen nicht zurück auf Porto Alegre, sondern auf Christchurch in Neuseeland. Erstaunlich ist die Tatsache, dass die Initiatoren in Deutschland die Verfahren des Bürgerhaushalts nicht so konzipiert haben, dass das breite Nutzerwissen der Bürger zur Verwaltungsmodernisierung, dem ursprünglich wichtigsten Ziel, verwendet werden kann. Positiv hervorzuheben ist die in der Regel sehr umfassende und gut durchdachte Organisation der Verfahren (inklusive der Verwendung vom Losverfahren zur Beteiligung der Bürger und der Erstellung
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einer allgemein verständlichen Haushaltsbroschüre) sowie ihre Evaluierung (entsprechende Fragebögen werden von den Verwaltungen selbst erarbeitet oder es werden externe Evaluatoren beauftragt). Die politische Dimension, die bei einer öffentlichen Diskussionen von Haushaltsfragen notwendigerweise vorhanden ist, wird hingegen übersehen bzw. stark vernachlässigt. Man vermeidet zu klären, was man aus politischer Sicht mit einem Bürgerhaushalt erreichen möchte. So dient dieses Verfahren vor allem der Information, der Legitimation von Entscheidungen der Mandatsträger sowie dem Stadtmarketing. Eine direktdemokratische Beteiligung der Bürger am Haushalt mag vielen Bürgern und Entscheidungsträgern in Deutschland erst einmal suspekt erscheinen. Die starke Verwurzelung des Repräsentationsgedankens hierzulande erschwert eine positive Beurteilung von Partizipationsverfahren, die durch die Übertragung von Entscheidungskompetenzen oder auch schlicht durch die Diskussion über so zentrale Fragen wie den kommunalen Haushalt, über die den Bürgern ‚eigentlich‘ zugedachte Rolle hinausgeht. Auf der anderen Seite verfügen die Bürger in den Kommunen nahezu aller Bundesländer über die Möglichkeit, einen verbindlichen Bürgerentscheid zu initiieren – während in vielen anderen europäischen Länder derartige Instrumente rein konsultativ sind (darunter sind auch Spanien und Italien, wo die Bürger im Bürgerhaushalt weitreichende Kompetenzen übertragen bekommen). Zwar sind in Deutschland von solchen Abstimmungen gerade Haushaltsfragen meist ausgeschlossen, aber andere zentrale Themen der lokalen Politik können durchaus auf die Tagesordnung gesetzt werden. Somit ist auch im gewissen Maße nachvollziehbar, weshalb ehrenamtliche Gemeindevertreter nicht noch mehr Einfluss verlieren wollen. Der Bürgerhaushalt wird von ihnen als eine Bedrohung wahrgenommen, auch wenn es basierend auf den Erfahrungen der anderen Länder dafür keinen Anlass gibt – zumal die Entscheidungsbereiche klar eingegrenzt werden könnten. Der gegenwärtige Kontext der immer noch nachwirkenden kommunalen Finanzkrise ist ein zusätzlicher Faktor, der die Verbreitung von Idee und Praxis des Bürgerhaushalts in Deutschland erschwert. In Zeiten der knappen Ressourcen Macht abzugeben ist vermutlich schwieriger als in Zeiten der Prosperität. Dennoch wäre vielleicht gerade in angespannten Zeiten ein deutlicherer Wandel bisheriger Praktiken notwendig. Wir sehen drei zentrale Herausforderungen an die Bürgerhaushalte in Deutschland: eine bessere Verbindung von Partizipation und Modernisierung, eine Integration sozialer Fragestellungen und die Stärkung der politischen Dimension der Bürgerhaushalte. In Bezug auf den ersten Punkt hat sich herausgestellt, dass sich insbesondere die geringe deliberative Qualität vieler Fallbeispiele negativ auf die potenzielle Rolle der Partizipation bei der Modernisierung auswirkt. Um tatsächlich das Wissen der Bürger aktiv zu nutzen, muss es auch genügend Möglichkeiten der Diskussion geben, damit die Bürger überhaupt Lösungsvorschläge o. ä. erarbeiten können. Zwei-
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tens würde es ganz neue Entwicklungsperspektiven in Deutschland geben, wenn man Bürgerhaushalte z.B. stärker mit den bestehenden Programmen der sozialen Stadtentwicklung bzw. mit der Ebene der Stadtviertel überhaupt verbinden würde. Gerade letzteres bietet die Chance einer Aufgabenübertragung, indem Bürger über quartiersbezogene Angelegenheiten beraten und entscheiden. Die Fachbereiche könnten entlastet werden, wenn sie einen Teil ihrer Gelder den Bürgern (zur begleiteten) Selbstverwaltung übergeben. Eine andere Variante zur Stärkung der sozialen Dimension bestünde darin, systematischer Bürgerhaushalt und Gender Mainstreaming miteinander zu verknüpfen. Bezüglich der dritten Herausforderung, der Stärkung der politischen Dimension von Bürgerhaushalten, steht der Sinn des Verfahrens insgesamt auf dem Spiel, wenn es als reine Verwaltungspraxis gedacht und praktiziert wird. Die zunehmende Verlegung des Verfahrensschwerpunkts auf das Internet scheint hier ambivalente Wirkungen zu zeigen. Während es zu einer größeren Effizienz des Partizipationsprozesses beitragen kann, sind die Autonomie der Teilnehmer und die Voraussetzungen zur Entstehung einer Gegenmacht nicht ohne weiteres gewährleistet. Es ist etwas anderes, einige kritische Emails zu erhalten als sich der geballten Kritik in einer öffentlichen Versammlung zu stellen. Der Bürgerhaushalt ist ein politisches Instrument, das potenziell zu einer Demokratisierung von Haushaltspolitik beitragen kann. Es als solches zu thematisieren und versuchen zu realisieren ist für die zukünftigen Entwicklung in Deutschland von zentraler Bedeutung. Entwicklungen in diese Richtung aus Berlin-Lichtenberg, Köln oder Freiburg im Breisgau sind positiv, gehen aber noch nicht weit genug und müssten auch an anderen Orten Verwendung finden. Die Wahlverwandtschaften von Modernisierung und Partizipation Welche allgemeinen Schlussfolgerungen können am Ende dieser Studie gezogen werden? Von den vielen Fragen, die angesprochen wurden, möchten wir abschließend zwei Aspekte unterstreichen, die uns besonders wichtig erscheinen. Im Gegensatz zur Situation in Lateinamerika fördern die europäischen Bürgerhaushalte bisher nur am Rande die soziale Gerechtigkeit, die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern sowie die Mobilisierung der unteren Schichten. Dies ist eine ihrer hauptsächlichen Schwächen und ihre zentrale Herausforderung. Diesbezüglich unterscheiden sie sich auch nicht grundsätzlich von anderen bestehenden Verfahren der Bürgerbeteiligung. Bleibt zu hoffen, dass der Einfluss der Modelle ‚partizipative Demokratie‘ und ‚community development‘ wächst, die in dieser Hinsicht die günstigste Bilanz aufweisen. Die Schwäche der europäischen Bürgerhaushalte im sozialen Bereich macht sie jedoch im Vergleich zu Lateinamerika nicht zu einem reinen Negativbeispiel. Wir möchten hier die zentrale Hypothese aufstellen, dass die Bedeu-
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tung der Bürgerhaushalte Europas nicht darin liegt, dass sie möglicherweise eines Tages die unteren Schichten mobilisieren und die soziale Gerechtigkeit fördern werden. Die aktuelle Situation weist nicht in diese Richtung und es werden wahrscheinlich auch in naher Zukunft nur wenige Verfahren die Aspekte Partizipation, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung der Geschlechter miteinander verbinden. Die europäischen Bürgerhaushalte können jedoch dazu beitragen, Alternativen zur neoliberalen Globalisierung aufzuzeigen, indem sie der öffentlichen Verwaltung helfen sich zu modernisieren, sich neu zu legitimieren und sich als unverzichtbares Werkzeug einer demokratischen Politik zu behaupten. In der Zeit der globalen Finanzkrise und der Infragestellung eines deregulierten Kapitalismus ist dieser Beitrag nicht unerheblich. Es gibt eine Wahlverwandtschaft zwischen Bürgerpartizipation und der Modernisierung der öffentlichen Verwaltung. Beide Prozesse bedingen sich gegenseitig und bei ihrem Zusammentreffen beeinflussen sie sich wechselweise. Der Begriff der Wahlverwandtschaft kommt aus der mittelalterlichen Alchemie und wurde von Goethe in seinem gleichnamigen Roman und von Max Weber in seinem Werk „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ verwendet. Er beinhaltet, dass sich unterschiedliche Elemente gegenseitig anziehen, bei Zusammentreffen zerlegen und zu einem neuen Ganzen zusammenfügen. Ihr Verhältnis basiert nicht auf einer linearen Beziehung von Ursache und Wirkung, sondern auf einem Kreislauf, dessen zwei Komponenten gleichzeitig Ursache und Wirkung ihrer jeweiligen Transformationen sind. Die Hypothese einer Wahlverwandtschaft zwischen partizipativen Verfahren und der Modernisierung des öffentlichen Sektors stützt sich auf konkrete Argumente. Wie gesehen fördern beispielsweise die Bürgerhaushalte die Einführung neuer Methoden in der öffentlichen Buchhaltung (Produkt- und Programmhaushalt), während diese ihrerseits die Grundlage für eine bessere und detailliertere Diskussion zwischen Verwaltung, Politik und Bürgerschaft bilden. In gleicher Weise trägt die Bürgerbeteiligung zu einer offeneren und reaktionsfähigeren Verwaltung bei. Auf einer darüber hinausgehenden Ebene wäre es möglich, eine Kultur der Evaluation gewinnbringend mit Feedback- und Kontrollmechanismen der Kunden zu verbinden. Ebenso macht es Sinn, bei Diskussionen zu langfristigen Planungen oder zur nachhaltigen Entwicklung alle betroffenen Parteien einzubeziehen. Diese empirischen Ergebnisse aus unserer Untersuchung gehen in die Richtung der Wahlverwandtschafts-Hypothese – auch wenn es sich in der Tat um eine Hypothese und nicht um eine wissenschaftlich fundierte Aussage handelt. Um diese Annahme besser zu stützen wäre es zum Beispiel interessant, die Einführung von Bürgerhaushalten in Städten, Regionen und Staaten mit starker Modernisierungstendenz zu verfolgen und umgekehrt die Modernisierung dort zu beobachten, wo sich die Bürgerhaushalte stark verbreitet haben.
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Unsere Überlegungen zur Wahlverwandtschaftshypothese gehen jedoch noch weiter. Ausgehend vom Bürger als Nutzer öffentlicher Dienstleistungen könnte die Verwaltungsmodernisierung in der Partizipation eine Basis der sozialen Unterstützung finden, die es ihr erlaubt, sich gegenüber dem Widerstand der Verwaltung und der zunehmen Dominanz von Marktkriterien durchzusetzen. In diesem Sinne könnten die Effekte einer erfolgreichen Reform der Binnenstruktur der Verwaltung durch eine größere Nähe zu den Nutzern öffentlicher Dienstleistungen verstärkt werden. Umgekehrt wird die Beteiligung für die Teilnehmer attraktiver, wenn die betroffene Verwaltung ihrerseits funktionell und transparent ist. Des Weiteren könnten deliberative Partizipationsverfahren, die sich in einer transparenten Arbeitsweise der Verwaltung spiegeln, eine ideologische Einflussnahme der Politik auf die Verwaltung oder die Entstehung von Klientelismus zurückdrängen. Die Etablierung einer technischen Demokratie, die Laien mit einbezieht, trägt zudem zur Demokratisierung der öffentlichen Entscheidungen bei und ist von Vorteil bezüglich der Lösung komplexer Probleme. Dies gilt auch für Beteiligungsverfahren, die wie z.B. in Porto Alegre von einer starken zivilgesellschaftlichen Bewegung getragen werden. Die engagierten Bürger sollten sich bewusst sein, dass Partizipationsverfahren in einer modernisierten öffentlichen Verwaltung eine größere Wirkung erzielen können, da z.B. Vorschläge und Prioritäten schneller und besser umgesetzt werden. Umgekehrt profitiert die Modernisierung des öffentlichen Sektors davon, nicht unhinterfragt Marktkriterien zu übernehmen oder sich nicht mit internen Reformen zufrieden zu geben. Viel Handlungsspielraum ginge verloren, würde sich die Partizipation ausschließlich auf die Kundenrolle beziehen und nicht auch auf den dahinter stehenden Bürger, dem es zusteht, Prioritäten zu artikulieren und über die anstehenden Fragen mitzuverhandeln und zu entscheiden. Durch diese Stärkung der Politik gegenüber der Technokratie und der Verbindung von Demokratie und Effektivität kann eine positive Wechselwirkung zwischen Bürgerbeteiligung und Verwaltungsmodernisierung entstehen, die über rein managementorientierte Ansätze hinaus ein grundlegendes politisches Potential hat. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Bürgerhaushalte als exemplarisches Beispiel, das besonders gut die gegenwärtigen Herausforderungen und Probleme der Bürgerbeteiligung widerspiegelt. Partizipative Verfahren sind weder ein vollkommen randständiges Phänomen, noch bilden sie die Avantgarde einer allgemeinen Entwicklung. Sie sind Teil einer Entwicklung mit mehreren Ebenen und unterschiedlichen Richtungen, wie sie in anderen Bereichen ebenfalls zu finden ist. Auch die europäischen Gesellschaften sind von widersprüchlichen – autoritären, technokratischen und partizipativen – Tendenzen geprägt, so dass letztere nur eine mögliche Entwicklungsmöglichkeit darstellen. Sie sind Teil des entstehenden, deliberativen und partizipativen Imperativs, der die Entwicklung eines ‚neuen Geistes‘ in der öffentlichen Verwaltung unter-
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stützt und sich auch in der Praxis zunehmend verankert. Für die Zukunft der partizipativen Tendenz wäre die Verbindung von Beteiligungsverfahren und sozialen Bewegungen sowie eine stärkere Kopplung mit Prozessen der Verwaltungsmodernisierung entscheidend; ob es jedoch dazu kommen wird ist ungewiss. Zudem bezeugen die Vielfalt und die divergierenden Funktionslogiken der Partizipationsverfahren, dass die weitere Entwicklung sehr unterschiedliche Formen annehmen kann. Die Zukunft bleibt offen, aber es gibt vielversprechende Ansätze, mit denen die Entwicklung in Richtung einer bürgerorientierten Modernisierung, der Vertiefung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit gestärkt werden kann.
Glossar
Accountability: Der englische Begriff accountability muss im Deutschen paraphrasiert werden. Er bezeichnet die Rechenschaftspflicht über Handlungen und Entscheidungen gegenüber Personen, die von diesen betroffen sind, die am Entscheidungsprozess teilhaben und/oder die von den jeweiligen Entscheidungsträgern repräsentiert werden sollen. Die Rechenschaftspflicht ist grundlegendes Charakteristikum einer Demokratie und findet sich auch bei den ĺBürgerhaushalten wieder. Im letzteren Fall wird accountability mit Rechenschaft übersetzt. Wird der Begriff allgemein benutzt, kann auch im Deutschen der englische Begriff des accountability verwendet werden. Agenda 21: Beteiligungsverfahren, das im Rahmen der Strategie für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen anlässlich der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992 ins Leben gerufen wurde. Die Prozedur beruht auf einer Kooperation zwischen der lokalen Verwaltung mit sehr unterschiedlichen Akteuren (von Unternehmen bis hin zu Vereinen). Damit stellt es eine Variante der partizipativen strategischen Planung dar und folgt auch dem neokorporatistischen Modell der Beteiligung. 2004 hatten weltweit über 10.000 Kommunen auf freiwilliger Basis eine ĺ Lokale Agenda 21 verabschiedet. Meistens enthalten diese keine verpflichtenden Maßnahmen, so dass deren Einfluss von Kommune zu Kommune stark variiert – von einem Katalog guter Absichten bis zu einer kompletten Neuorientierung der Politik. Aktive Bürger: siehe ĺBürger, Typen von Assoziative Demokratie: Von Tocqueville beeinflusstes Demokratiemodell, in dem die demokratische Legitimation und Stärke umso größer ist, je stärker sich die ĺZivilgesellschaft entwickelt. Autonomer Quartiersrat: siehe ĺQuartiersbeirat. Benchmarking: Dieser aus der Wirtschaft stammende Ausdruck bezieht sich auf einen Kosten-/Leistungsvergleich zwischen Einheiten, die wie Kommunen für die Bereitstellung von Dienstleistungen oder Produkten zuständig sind. Benchmarking dient der Identifizierung von best practices, d.h. der Prozeduren,
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Glossar
die am besten den Anforderungen nach ĺEffektivität und ĺEffizienz entsprechen und als Modellbeispiele dienen können. In diesem Sinne kann benchmarking auch auf Verfahren der Bürgerbeteiligung bezogen werden. Obwohl es theoretisch gesehen zu einer Verbesserung der öffentlichen Verwaltung beitragen soll, ist das benchmarking nicht unumstritten. Die zu messenden Leistungen sind oft nicht einheitlich definiert, so dass ein direkter Vergleich keine zuverlässigen Daten liefert. Im Rahmen von Produktĺhaushalten ist z.B. ein Vergleich zwischen Kommunen nur dann möglich, wenn die Produkte identisch definiert und verbucht werden. Best practices: siehe ĺbenchmarking Bottom-up: siehe ĺtop-down Bürger, Typen von: Partizipative Verfahren können sich an Bürger als Teil einer sozialen Gruppe (Frauen, Jugendliche, Kinder, Senioren, Behinderte, Ausländer) oder auch an ‚organisierte‘ Bürger richten, beispielsweise Mitglieder von Vereinen, Verbänden oder Gewerkschaften. Die Adressaten sind außerdem oft ‚aktive‘ (oder mobilisierte) Bürger, die freiwillig an den für alle offen stehenden Versammlungen teilnehmen. Immer häufiger sollen auch ‚einfache‘, zufällig ausgewählte Bürger miteinbezogen werden, da sie statistisch einen repräsentativeren Ausschnitt der Bevölkerung widerspiegeln. Schließlich können sich die Verfahren in Form von Referenden und Bürgerentscheiden an die Gesamtheit der Bürger richten. Bürgerhaushalt (portug. Orçamento Participativo; span. presupuesto participativo; ital. bilancio partecipativo; engl. Participatory Budgeting; frz. budget participatif): Allgemein gesprochen können sich bei einem Bürgerhaushalt Bürger an der Gestaltung und Verteilung öffentlicher Gelder beteiligen. Für eine genauere Definition der Bürgerhaushalte in Europa müssen fünf weitere Kriterien herangezogen werden. 1. 2.
3.
Der ĺHaushalt und/oder andere finanzielle Angelegenheiten werden explizit angesprochen und diskutiert. Bei einem kommunalen Bürgerhaushalt ist die Ebene des Stadtviertels nicht ausreichend, sondern das Verfahren bezieht sich auf die gesamte Kommune/Stadt bzw. einen dezentralisierten Bezirk mit einem eigenen gewählten Vertretungsorgan und untergeordneter Verwaltung. Es handelt sich um ein auf Dauer angelegtes und regelmäßiges Verfahren. Eine einzelne Versammlung oder ein ĺReferendum über ein Haushaltsthema stellen noch keinen Bürgerhaushalt nach der hier verwendeten Definition dar.
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4. 5.
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Der Prozess beinhaltet gewisse Formen der öffentlichen Diskussion innerhalb von spezifischen Versammlungen oder Foren. Die Organisatoren müssen Rechenschaft in Bezug darauf ablegen, inwieweit die im Verfahren geäußerten Vorschläge aufgegriffen und umgesetzt wurden (siehe ĺaccountability).
Bürgerkommune: In Deutschland hat sich Ende der 1990er Jahre ein Leitbild für die lokale Demokratie entwickelt, dessen Ziel es ist, Verwaltungsmodernisierung und Partizipation miteinander zu verbinden. Den Bürgern sollen demnach bessere Dienstleistungen und politische Mitsprachemöglichkeiten angeboten werden, gleichzeitig werden sie aber auch zu ehrenamtlicher Tätigkeit angehalten. Dementsprechend wurden von Jörg Bogumil, Lars Holtkamp und Gudrun Schwarz Beteiligungsrollen des Bürgers als ĺKunde, ĺMitentscheider und ĺMitgestalter entworfen. Inzwischen ist das Leitbild weit verbreitet. Oft wird die Einführung von Bürgerämtern oder neuen Partizipationsmöglichkeiten mit Verweis auf das Leitbild Bürgerkommune legitimiert. Dabei hat sich in der Praxis herausgestellt, dass entgegen des ursprünglichen Anspruchs, der auch Formen direkter Demokratie vorsah, die Beteiligung der Bürger auf dem Prinzip des ĺ‚selektiven Zuhörens‘ basiert und sie über wenig Autonomie verfügen. Bürgernahe Demokratie: Dieser insbesondere in Frankreich verbreitete Begriff (démocratie de proximité) findet auch in vielen anderen Ländern eine konzeptuelle Entsprechung, darunter neighbourhood democracy in Großbritannien, ‚bürgernahe Verwaltung‘ in Deutschland, pieni demokratia (‚kleine Demokratie‘) in Finnland, wijkaanpak (‚Quartiersansatz‘) in den Niederlanden. Sein Hauptcharakteristikum ist die geographische Nähe und die kurzen Kommunikationswege zwischen politischen und administrativen Akteuren einerseits und den Bürgern andererseits, wobei jedoch die Entscheidungsgewalt ausschließlich bei ersteren bleibt. Die bürgernahe Demokratie stützt sich auf informelle Regeln und lässt der ĺZivilgesellschaft nur eine sehr begrenzte Autonomie. Wesentlich ist dafür das Prinzip des ĺ‚selektiven Zuhörens‘. Die bürgernahe Demokratie ist eine der hier aufgestellten ĺIdealtypen der Bürgerbeteiligung. Community: Der im Englischen sehr vieldeutige und weit gefasste Begriff community bezeichnet allgemein gesprochen eine Gruppe von Bürgern, die durch ein gemeinsames Zugehörigkeitsgefühl verbunden ist, insbesondere in Bezug zu einem bestimmten Territorium. In der Stadt- oder Lokalpolitik bezieht er sich z.B. auf Nachbarschaftsinitiativen, lokale Interessenvereine oder auch auf alle Bewohner eines bestimmten Gebiets. Eine ethnische Konnotation erhält der Begriff community nur indirekt aufgrund der Konzentration ethnischer Minderheiten in bestimmten Vierteln.
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Community development verweist auf wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Aktivitäten, die in Gebieten mit vorwiegend sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen nicht vom Staat oder dem Markt, sondern von den Bewohnern selbst getragen werden. Dabei geht es in der Regel entweder um Aktivitäten, die aus der Bürgerschaft kommen oder um die Delegierung bestimmter öffentlicher Leistungen an lokale Gruppen, beispielsweise mithilfe von ĺGemeinwesenfonds. Community development in einem engeren Sinne bildet einen der hier vorgeschlagenen sechs ĺIdealtypen der Bürgerbeteiligung. Die Beteiligung der Bürger betrifft hier insbesondere die eigenständige Realisierung von Projekten. Der Kontext ist geprägt von einer Trennung zwischen einer schwachen Kommunalverwaltung und dem Partizipationsprozess, wobei letzterer von einer ausgeprägten ĺbottom-up (und nicht nur ĺtop-down) Bewegung getragen wird. Die ĺvierte Gewalt und die ĺkooperative Gegenmacht, die in diesem Modell entstehen, sind aufgrund der geringen Handlungskapazitäten der lokalen Verwaltung kaum mit diesen verbunden. Dies ist auch der Grund dafür, warum sich dieser Idealtyp vom Modell der ĺpartizipativen Demokratie unterscheidet. Dekonzentration: siehe ĺDezentralisierung Deliberation: Anders als im Deutschen war die ursprüngliche Bedeutung von délibération im Französischen gleichbedeutend mit Beschlussfassung und dies blieb auch die nahezu ausschließliche Bedeutung in der portugiesischen und italienischen Sprache. Im modernen Sinn, der vor allem in der politischen Philosophie und im angelsächsischen Sprachraum präsent ist, bezieht sich Deliberation auf eine Diskussion, die auf Grundlage von Argumenten geführt wird (diese Diskussion muss nicht zu einer Entscheidung führen). Wir verwenden das Wort im angelsächsichen und nicht im alltagssprachlichen deutschen Sinne, wo deliberativ ein Synonym von konsultativ ist. Deliberation kann entweder als Kommunikationsform verstanden werden, in der sich das beste Argument durchsetzt (wie z.B. eine wissenschaftliche Diskussion), oder als ein Überzeugungsprozess, bei dem Emotionen, der Sprachstil und die ‚Inszenierung‘ der Diskussion ebenso wichtig sind wie die eigentlichen Argumente (ähnlich wie in Aristoteles’ „Theorie der Rhetorik“). Deliberative Demokratie: Das Konzept der deliberativen Demokratie, das von der angelsächsischen, politischen Philosophie in Anlehnung an die philosophischen Schriften von John Rawls und Jürgen Habermas aufgestellt wurde, bezieht sich auf die englische Definition des Begriffs ĺDeliberation. Es basiert auf drei Grundprinzipien. 1.
Argumentationsprinzip: Grundlage der demokratischen Debatte bildet der Austausch von Argumenten. Deshalb müssen Verfahrensweisen zur He-
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2. 3.
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rausbildung der besten Argumente organisiert werden, so dass man sich von einer rein aggregativen Konzeption der Legitimität, d.h. der simplen Addition individueller Standpunkte, entfernt. Inklusionsprinzip: Die Diskussion muss offen sein für möglichst viele, im Idealfall für alle potenziell von der Entscheidung Betroffenen. Öffentlichkeitsprinzip: Die Deliberation muss auch Momente der öffentlichen Diskussion beinhalten.
Nach dieser Definition weist die deliberative Demokratie gewisse Gemeinsamkeiten mit der ĺpartizipativen Demokratie auf. In der Tat kann die ĺDeliberation nur dann ihre Rationalität voll entfalten, wenn alle betroffenen Parteien einbezogen werden. Anderseits führen Partizipationsverfahren nur dann zu vernünftigen Ergebnissen, wenn sie sich auf eine breite öffentliche Diskussion stützen. Zudem ist die ĺDeliberation eng mit einer ĺÖffentlichkeit verbunden, deren Grenzen a priori schwer festzulegen sind, wohingegen Partizipationsinstrumente sich langfristig nur schwer etablieren, wenn sie ausschließlich auf Widerstand bzw. erzwungener Einigkeit basieren. Allerdings beinhaltet die ĺpartizipative Demokratie auch Formen der Massenbeteiligung, wie großangelegte Bürger- oder Vollversammlungen, die das Zustandekommen einer qualitätsvollen Diskussion nahezu unmöglich machen. Einige vertreten sogar die Meinung, dass eine gute ĺDeliberation nur in kleinen Gruppen, manchmal sogar hinter geschlossenen Türen, stattfinden kann, so dass die Zahl der Teilnehmer und die Rolle der öffentlichen Meinung fast zwangsweise reduziert werden muss. Und schließlich bringen die Verfechter der deliberativen Demokratie häufig hervor, dass diese nur eine Ergänzung der ĺrepräsentativen Demokratie bildet, indem sie den Regierenden eine klare Entscheidungsfindung erleichtert. Die Verfechter der ĺpartizipativen Demokratie bestehen dagegen darauf, dass Bürger ohne politisches Mandat eine gewisse Entscheidungskompetenz übertragen bekommen. Dezentralisierung: Im Zuge der Dezentralisierung überträgt eine höhere staatliche Ebene einen Teil ihrer Kompetenzen auf untere staatliche Ebenen in Verbindung mit neuen Entscheidungsbefugnissen, einer eigenen Verwaltungsstruktur und einer unabhängigen, in der Regel gewählten, politischen Führung. Unter Dekonzentration versteht man hingegen einen rein geographischen Transfer eines Teils der zentralen Verwaltungsdienste in ausgelagerte Strukturen, um sie näher zu den Bürgern zu bringen. Hierbei wird jedoch der Entscheidungsprozess nicht grundlegend verändert und die zentrale Ebene behält die alleinige Entscheidungskompetenz.
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Direkte Demokratie: Politisches System, in dem das Volk direkt die Macht ausübt und sie nicht an Repräsentanten delegiert. Die institutionellen Mechanismen der direkten Demokratie sind die Generalversammlung, das Losverfahren (in dem Sinn, dass es in einer kleinen Gemeinschaft die regelmäßige Rotation der Aufgaben und der Ämter garantiert), und das ĺReferendum. Eine semidirekte Demokratie basiert entweder auf Delegierten mit semi-imperativem Mandat oder auf Verfahren, in denen eine repräsentative per Losverfahren bestimmte Gruppe von Bürgern unter sehr günstigen Bedingungen diskutieren und entscheiden kann, stellvertretend für eine potenzielle Versammlung des ganzen Volkes. Dritter Sektor: Wirtschaftssektor, der sich einerseits vom Staat abgrenzt, da er nicht von den Regelungen der öffentlichen Verwaltung betroffen ist, andererseits von der Privatwirtschaft, da er keine kommerziellen Ziele verfolgt. In Europa kann ‚dritter Sektor‘ ein sehr breites Feld vom Genossenschaftswesen bis zum assoziativen Sektor bezeichnen. In Großbritannien unterscheidet man oft zwischen dem community sector (lokale Verbände und Freiwilligenorganisationen) und dem voluntary sector (Vereine, ĺNROs und Wohlfahrtsverbände, die bei bestimmten Projekten als externe Akteure (‚von außen‘) in die Stadtviertel kommen, aber auch jenseits der mikro-lokalen Ebene agieren. Letztere Gruppe wird in Deutschland als ‚freie Träger‘ bezeichnet, wenn sie als Dienstleister für die Kommune tätig ist. Ebenen der Partizipation/Partizipationsleiter: Die Idee der Ebenen der Partizipation besteht nach einem Artikel von Sherry R. Arnstein von 1969 darin, auf einer ansteigenden Skala die potenzielle Intensität der Partizipation anzuzeigen, die von schlichter Manipulation über Information, Konsultation, Partnerschaft und Delegierung von Macht bis zur Kontrolle durch die Bürger gehen kann. Der Vorteil dieser Skala ist ihre Einfachheit, was aber auch gleichzeitig ihr größter Nachteil ist: Sie basiert auf nur einer Dimension und berücksichtigt nicht, dass die Bürger in verschiedenen ĺRollen an Beteiligungsverfahren teilnehmen können. E-democracy: Der Begriff hat zwei mögliche Bedeutungen. Er kann sich, erstens, auf die Demokratisierung des Zugangs zu neuen elektronischen Kommunikationsmitteln beziehen. Häufiger wird damit jedoch, zweitens, die Idee verbunden, dass diese Kommunikationsmittel zu einem neuen Zeitalter der Demokratie führen, das geprägt ist von mehr Kommunikation zwischen Entscheidungsträgern und Bürgern, von mehr Interaktivität und von mehr horizontalen und netzartigen Verbindungen nach dem Vorbild des Internets. Meistens überschätzen diese wenig kritischen Visionen die Möglichkeiten der Kommunika-
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tionstechniken und berücksichtigen zu wenig deren unauflösliche Verschränkung mit sehr widersprüchlichen soziopolitischen Dynamiken. Dennoch ist der Begriff interessant, da er den Fokus auf die neuen Interaktionsmöglichkeiten auf Grundlage der elektronischen Medien richtet. In Deutschland wird zwischen edemocracy und e-government unterschieden. Während ersteres eine Demokratisierung im oben beschriebenen Sinn bedeutet, geht es bei dem zweiten Begriff darum, dass Verwaltungsangelegenheiten via Internet erledigt werden können. Dies reicht von der Bereitstellung von Informationen über das Herunterladen von Dokumenten und Anträgen bis hin zur digitalen Unterschrift. Effektivität (effectiveness): Tatsache, dass Entscheidungen umgesetzt werden und konkrete Wirkungen nach sich ziehen. Effizienz (efficiency): Ausführung von Aufgaben bei einem guten Verhältnis zwischen materiellem, finanziellem und personellem Aufwand und den daraus hervorgegangenen Resultaten. E-government: siehe ĺe-democracy ‚Einfache‘ Bürger: siehe ĺBürger, Typen von Empowerment: Der Begriff empowerment beschreibt einen Lernprozess, in dessen Rahmen sich Menschen benachteiligter Bevölkerungsschichten mehr Macht und Fähigkeiten aneignen, um stärker selbstbestimmt und autonom agieren zu können. Es gibt zwei verschiedene Lesarten des Begriffs: eine antagonistische Interpretation, bei der die gesellschaftlichen Kräfte- und Machtverhältnisse und deren notwendige Veränderung im Mittelpunkt stehen, und eine eher konsensuelle Perspektive, die den Machtzugewinn bestimmter Bevölkerungsteile durch interne Lernprozesse erreichen will und weniger durch die Veränderung der Kräfteverhältnisse gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen. Gemeinwesenfonds: siehe ĺQuartiersfonds Gender Budgeting: siehe ĺGender Mainstreaming Gender Mainstreaming: Die politischen Maßnahmen der Frauenförderung sind traditioneller Weise auf bestimmte Zielgruppen ausgerichtet: Hausfrauen, Mütter mit kleinen Kindern, Migrantinnen, Angestellte oder ‚die‘ Frau im Allgemeinen. Mit dem Gender Mainstreaming, erstmals bei der dritten WeltFrauenkonferenz der UNO in Nairobi 1984 erwähnt und 1995 anlässlich einer weiteren Konferenz in Peking offiziell proklamiert, sollen die Probleme an der Wurzel gepackt werden. Ziel ist, die traditionelle Rollenverteilung in Frage zu
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stellen bzw. abzuschaffen und dadurch in allen Bereichen der Gesellschaft eine Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern herzustellen. Maßnahmen im Sinne des Gender Mainstreaming unterstützen einerseits Initiativen, die sich an Frauen und Männer gleichermaßen richten, wie zum Beispiel die Ausweitung der Elternzeit auf Väter. Andererseits analysieren sie systematisch politische Maßnahmen und Verfahren hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf Männer und Frauen sowie deren spezifische Bedürfnisse. So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob die Förderung der Teilzeitarbeit oder die Einführung eines Betreuungsgeldes für Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen, die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung verfestigt. Gender Budgeting ist ein wichtiger Bestandteil dieses Politikansatzes. Hier geht es um die Frage, inwiefern die öffentlichen Gelder beiden Geschlechtern zugute kommen bzw. die klassische Rollenverteilung verstärken oder abschwächen. Gender Mainstreaming erfordert somit bereichsübergreifende Maßnahmen und die Einführung von neuen statistischen Kennzahlen und Buchhaltungssystemen wie Produkt- oder ProgrammĺHaushalte. Gender Mainstreaming, das vor allem von feministischen Bewegungen und internationalen Organisationen (insbesondere UNO, Europarat) proklamiert wurde, wird zwar in öffentlichen Diskussionen zunehmend aufgegriffen, jedoch selten in die Praxis umgesetzt. Gesamtheit der Bürger: siehe ĺBürger, Typen von Governance: Governance ist zugleich ein kognitiver und normativer Begriff, der zur Beschreibung laufender Prozesse und zur Benennung wünschenswerter Entwicklungen von politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern ebenso verwendet wird wie von Wissenschaftlern. Aus politischer Perspektive ist dieses Konzept mit mindestens vier Bedingungen zu verknüpfen: Von governance kann gesprochen werden, wenn 1. 2. 3.
verschiedene öffentliche Akteure an einer politischen Handlung beteiligt sind, es ein formalisiertes ĺPublic Private Partnership gibt, die Arbeitsweise der öffentlichen Hand einem pragmatischen und experimentellen Ansatz folgt (und es nicht um die schlichte Umsetzung von Entscheidungen der jeweils höheren Hierarchieebene geht); d.h. es werden bei der Ausführung von Aufgaben oder Projekten neue Formen der Kooperation mit privaten Partnern oder Organisationen des ĺdritten Sektors erprobt, die auf diese Weise auch einen Teil der Entscheidungskompetenz erhalten; und
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wenn der Entscheidungsprozess mehr als früher auf informelle Weise funktioniert, d.h. sich in Teilen von den klassischen Instanzen der ĺrepräsentativen Demokratie löst (und insbesondere von der Legislative).
Wenn alle vier Bedingungen erfüllt sind, kann von einem Übergang von government – verstanden als autoritär agierende und der neuen Komplexität der Gesellschaften nicht angepasste ‚Regierung‘ – zur governance gesprochen werden. Kritische Ansätze beanstanden, dass bei Formen der governance die Souveränität der Bürger in dem Maße eingeschränkt werde als die Macht der demokratisch gewählten Versammlungen zugunsten von Lobbyisten geschwächt wird. Der Begriff der ‚partizipativen governance‘ meint, dass Bürger als legitime Akteure betrachtet werden und mittels verschiedener innovativer Verfahren am Entscheidungsprozess beteiligt sind. Die Thematik der governance scheint heute die Idee des ĺNeokorporatismus abgelöst zu haben. Während es jedoch bei letzterem eine zentrale Rolle des Staates bei der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Kräfte gibt, ist diese Funktion in den meisten governance-Theorien eher privaten Unternehmen vorbehalten. Haushalt: In der klassischen Kameralistik (kameraler Haushalt) werden als Ergebnis von Verhandlungen, die auf Zahlen des Vorjahres beruhen, den einzelnen Fachbereichen der Verwaltung Budgets zugewiesen. Dabei werden jeweils Personal-, Betriebs- und Investitionskosten angeführt. Eine genaue Berechnung der Kosten für eine einzelne Dienstleistungen ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich, da das benötigte Geld oft aus verschiedenen Bereichen und Kapiteln des Haushaltsplans kommt. Einen genau umgekehrten Weg gehen die neuen Buchführungsmethoden, die unterschiedliche Kostenarten zusammenführen, indem sie öffentliche Leistungen als Produkte definieren. Die Transparenz eines solchen Produkthaushalts erlaubt abgesehen von der betriebswirtschaftlichen ĺEffizienz genauere Vorgaben der Politik auf die Funktionsweise der Verwaltung und eine größere ĺresponsiveness im Rahmen von Prozessen der Bürgerbeteiligung. Noch mehr kann erreicht werden, wenn einzelne Produkte zu größeren, mehrere Verwaltungsebenen umfassende Programme gebündelt werden (Armutsbekämpfung, nachhaltige Entwicklung) und man auf dieser Weise die Prioritäten des öffentlichen Sektors eindeutiger definieren kann. Ohne die Einführung dieser neuen Rechnungssysteme ist es unwahrscheinlich, dass der ĺBürgerhaushalt zu einer grundlegenden Demokratisierung der Haushaltspolitik beitragen kann. Haushaltskreislauf: Der Haushaltskreislauf umfasst die Ausarbeitung, die Verabschiedung und die Umsetzung des Budgets sowie des Rechenschaftsberichts. Der ĺBürgerhaushalt betrifft in der Regel die Ausarbeitung des Budgets, kann sich aber auch auf andere Phasen beziehen.
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Hybrides Forum: Dieser Begriff bezeichnet Verfahren, in denen Akteure mit unterschiedlichen Kompetenzen und Status-Positionen zusammenkommen und repräsentiert somit die Idee der ĺtechnischen Demokratie. Er hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Idee der ĺÖffentlichkeit, unterscheidet sich davon aber durch folgende Aspekte: die Heterogenität der Status-Positionen der teilnehmenden Akteure hat hier einen konstitutiven Charakter (es gibt auch Formen der Öffentlichkeit, in denen Akteure mit demselben sozialen Status partizipieren); es geht um den Austausch unterschiedlicher Wissensformen; die Diskussionen betreffen insbesondere wissenschaftliche und technische Fragen; die Versammlungen eines hybriden Forums können auch hinter verschlossenen Türen stattfinden; schließlich ist das Ziel in der Regel die Etablierung eines Konsens, wohingegen der öffentliche Raum meistens von Konflikten geprägt ist. Idealtypen der Bürgerbeteiligung: Das vorliegende Werk schlägt sechs verfahrensbasierte Idealtypen der Bürgerhaushalte in Europa vor: Porto Alegre in Europa, bürgernahe Partizipation, Konsultation öffentlicher Finanzen, privat/öffentlicher Verhandlungstisch, Gemeinwesenfonds auf Quartiers- und Stadtebene und Partizipation organisierter Interessen. Sie verweisen auf sechs allgemeiner ausgerichtete, ebenfalls idealtypische Modelle der Partizipation: ĺpartizipative Demokratie, ĺbürgernahe Demokratie, ĺpartizipative Modernisierung, ĺpartizipative öffentlich-private Kooperation (partizipatives PPP), ĺcommunity development und ĺNeokorporatismus. Kameralistik: siehte ĺHaushalt Kontrolleur: siehe ĺRollen der Bürger bei der Verwaltungsmodernisierung Kooperative Gegenmacht (countervailing power): Kooperative Gegenmacht bezieht sich nicht auf die institutionelle Gewaltenteilung, sondern auf die Ebene tatsächlicher sozialer Macht. Der von Archon Fung und Erik Olin Wright eingeführte Neologismus countervailing power grenzt sich im Englischen von der ‚Gegenmacht‘ (counter-power) ab und beinhaltet zwei Bestandteile. Um countervailing power handelt es sich zum einen, wenn eine tatsächliche Autonomie der ĺZivilgesellschaft gegenüber den institutionellen Vertretern besteht und wenn, allgemeiner gesprochen, bestimmte Mechanismen dafür sorgen, die Macht und politischen Vorrechte der normalerweise dominierenden ĺsozialen Gruppen zu schwächen oder ausschalten. Zum anderen beruht countervailing power auf der Idee, dass Konflikte anstelle einer offenen Konfrontation kooperativ beigelegt werden können. Die ĺvierte Gewalt begünstigt die Entstehung einer kooperativen Gegenmacht, ist jedoch keine notwendige oder hinreichende Voraussetzung. Umgekehrt kann eine kooperative Gegenmacht die tatsächlichen Wirkungen der ĺvierten Gewalt verstärken, bildet jedoch – da sich die ĺvierte
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Gewalt auf Institutionen stützt – ebenfalls keine hinreichende oder notwendige Voraussetzung. Kunde: siehe ĺRollen der Bürger bei der Verwaltungsmodernisierung Lokale Agenda 21: Partizipationsverfahren, das im Rahmen einer Strategie für eine nachhaltige Entwicklung von den Vereinten Nationen anlässlich der Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio 1992 initiiert wurde. 2004 hatten weltweit über 10.000 Kommunen auf freiwilliger Basis eine Lokale Agenda 21 verabschiedet. Diese enthalten in der Regel keine verpflichtenden Maßnahmen. Mitentscheider: siehe ĺRollen der Bürger bei der Verwaltungsmodernisierung Mitgestalter: siehe ĺRollen der Bürger bei der Verwaltungsmodernisierung Neokorporatismus: Der Begriff des Neokorporatismus, der in den 1970er und 1980er Jahren sehr verbreitet war, dient dazu, Strukturen der Interessenvermittlung zu beschreiben, die außerhalb des parlamentarischen politischen Systems und der Parteien existieren. Das System der Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Verhandlungen oder auch die Versorgungsleistungen durch Wohlfahrtsverbände sind typische Beispiele für neokorporatistische Verfahrensmodi. Der Staat wählt hier die Bereiche aus, in denen er seine Kompetenzen an die Sozialpartner abgibt, und bestimmt die dazu ermächtigten Organisationen, die zwischen Individuen und Staat eine Mittlerfunktion übernehmen. Die Einrichtung neokorporatistischer Strukturen ist mit der Entwicklung des Sozialstaats verbunden. Sie setzen den autoritären Tendenzen des Korporatismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Ende, repräsentieren eine Art dritten Weg zwischen Staatssozialismus und klassischem, liberalen Kapitalismus sowie eine Möglichkeit, die Schwächen der ĺrepräsentativen Demokratie auszugleichen (z.B. die mangelnde Kommunikation zwischen politischem System und Gesellschaft oder der faktische Ausschluss der unteren Bevölkerungsschichten aus politischen Ämtern). In Deutschland ist der Korporatismus auf kommunaler Ebene traditionell sehr ausgeprägt. Soziale Dienstleistungen (Kindergärten, Altenpflege, Behindertenarbeit etc.) werden dort in erster Linie nicht von der öffentlichen Hand, sondern von den ‚freien Trägern‘ übernommen. Diese sind auch laut Gesetz mit Sitz und Stimme im Kinder- und Jugendausschuss des Gemeinderates vertreten. Der Neokorporatismus ist einer der in diesem Buch vorgeschlagenen ĺIdealtypen der Bürgerbeteiligung. Hierbei organisiert die lokale Verwaltung selbst die Beteiligung organisierter Gruppen, sozialer Träger und verschiedener lokaler Institutionen. Es wird eine Konzertation mit den ‚entscheidenden Kräften‘ angestrebt ebenso wie die Etablierung eines breiten Konsenses, in dem die Interes-
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sen, Werte und das Anerkennungsstreben verschiedener Teile der Gesellschaft zum Ausgleich kommen. Neoweberianischer Staat: Dieses unter anderem von Geert Bouckaert, Christopher Pollit und Helmut Wollmann entwickelte Konzept geht von einer Konvergenz der Verwaltungsmodernisierung in Europa aus. Trotz den unterschiedlichen Ausprägungen des ĺNew Public Management gibt es in allen Ländern ähnliche Reformmaßnahmen wie ĺDezentralisierung, Einführung von betriebswirtschaftlichen Kriterien, Outsourcing, Stärkung lokaler Institutionen oder Bürgerbeteiligung. Diese haben zu einer Überwindung der klassischen Bürokratie geführt und eine neoweberianische Verwaltung (als Grundlage des neoweberianischen Staates) geschaffen, die den Anforderungen nach ĺEffizienz auf der einen Seite und der Kundenzufriedenheit auf der anderen gerecht wird bzw. werden soll. Die öffentliche Verwaltung ist dabei nicht mehr allein mit der Bereitstellung von Dienstleistungen beauftragt, sondern an ihre Seite treten private Akteure wie auch freie Träger. Allerdings bleibt der öffentliche Dienst weiterhin im Vordergrund und verschwindet nicht vollständig, wie angesichts einer zeitweiligen Dominanz neoliberaler Reformen befürchtet worden ist. Eine Reihe von Verwaltungswissenschaftlern zweifeln jedoch daran, dass diese Umstellung in Deutschland tatsächlich gelungen ist. Anstelle von einer Synthese alter und neuer Verwaltungspraktiken gehen sie von einer Koexistenz aus. Darüber hinaus sind in manchen Bereichen auch Entwicklungen in Richtung der alten Verwaltungspraxis zu beobachten. New Public Management: Seit zwei bis drei Jahrzehnten bestehen in Form von der Einführung betriebswirtschaftlicher Kriterien umfassende Reformbestrebungen in der traditionellen öffentlichen Verwaltung. Dabei wird erstens auf Marktmechanismen, die Einführung von Rentabilitätskriterien, die Auslagerung gewisser Aufgabenbereiche und die Konkurrenz zwischen privaten und öffentlichen Dienstleistern, die Verbreitung von ĺPublic Privat Partnership und mitunter auch auf die weitgehende Aufgabenübertragung auf private Akteure zurückgegriffen. Ein zweiter Bereich besteht in der Modernisierung der Binnenstruktur der Verwaltung. Dies geschieht durch die Reduzierung der hierarchischen Ebenen, die Umstellung der Buchhaltung mit einem Schwerpunkt auf betriebswirtschaftliche Methoden wie Produkt- oder ProgrammĺHaushalten, die fachbereichsübergreifende Zusammenarbeit und neue Formen der Personalverwaltung, die eine Anpassung an eine individuelle Karriereplanung erlauben. Drittes Element der Modernisierung, das allerdings erst später hinzugekommen ist, bildet die Bürgernähe, bei der die Beteiligung der Bürger in der Rolle als ĺKunden zur ĺEffizienz der Verwaltung beitragen soll. Dies geschieht unter anderem durch Feedback-Karten für ĺKunden, Qualität-Chartas, Kundenräte,
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Delegation öffentlicher Aufgaben bis hin zum ĺcommunity development, Versammlungen zwischen Experten, politischen Verantwortlichen und Bewohnern sowie der Nutzung neuer Technologien. Während in der ursprünglichen Ausrichtung des New Public Management vor allem neoliberale Ideen vorherrschen, wurden in den skandinavischen Ländern und Deutschland auch sozialliberale und sozialdemokratische Varianten dieser Reformrichtung entwickelt, in denen dem Staat eine größere und positive Rolle zukommt. In Deutschland z.B. hat die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) Anfang der 1990er Jahre ein „Neues Steuerungsmodell“ zur Reform der öffentlichen Verwaltung vorgeschlagen. In dem darauf folgenden Reformprozess wurden allerdings eher einzelne Bausteine der Binnenmodernisierung (Personalwesen, Produkthaushalt etc.) umgesetzt als die gesamte Breite des neuen Modells. NRO/Nichtregierungsorganisation: Nichtregierungsorganisationen grenzen sich von öffentlichen Verwaltungsstrukturen ebenso ab wie von Unternehmen und verfolgen gemeinnützige und keine kommerziellen Ziele. Sie unterscheiden sich auch von Organisationen, die zwar nicht staatlich, aber dennoch von der Verwaltung oder Regierung abhängig sind (QUANGOs = quasi non governmental organizations). Der englische Begriff NGO (Non Governmental Organization) ist sehr breit und umfasst in der Regel auch Vereine und Verbände. In Deutschland kann man nur von NRO sprechen, wenn die Organisationen einen über die lokale Ebene hinausgehenden Aktionsrahmen haben, insbesondere wenn sie humanitäre Ziele verfolgen und auf internationaler Ebene tätig sind. Öffentlichkeit: Nach der Theorie von Jürgen Habermas bezieht sich der Begriff der Öffentlichkeit in seiner politischen Lesart auf die historische Entstehung eines offenen Diskussionsraumes, in dem die Handlungen und Entscheidungen des Staates Kritik und Rechtfertigungsdruck ausgesetzt werden. Die gebildeten Bürger diskutieren hier im Interesse des Gemeinwohls, wobei sie ihre persönlichen Einstellungen und Interessen ablegen und sich in den Diskussionen die besten Argumente durchsetzen. Diese Idee der Öffentlichkeit wurde aus mehreren Gründen kritisiert: Erstens lässt sie andere minoritäre Öffentlichkeiten (vor allem die ĺ‚plebejische‘) außer Acht; zweitens ignoriert sie die massive Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen (insbesondere der Frauen); drittens wird kein Beweis dafür geliefert, dass Personen unberücksichtigt ihrer Partikularinteressen tatsächlich Entscheidungen zum Wohle der Allgemeinheit treffen; viertens schließt sie einige Themen von der öffentlichen Debatte aus, die als ‚privat‘ gelten (wie die ‚soziale Frage‘ oder die patriarchale Familie); schließlich geht sie von einer zu rationalen Vorstellung von öffentlicher Diskussion aus und unterschätzt dementsprechend die rhetorische und theatralische Natur öffentlicher Debatten. Unabhängig von der genauen Definition ist jedoch das
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Aufkommen der Öffentlichkeit eindeutig an die Festigung republikanischer und demokratischer politischer Systeme gebunden – eine Entwicklung von der Tragweite ähnlich der Etablierung des modernen bürokratischen Staates. Ombudsmann: Person mit der Aufgabe, die Rechte der Bürger gegenüber einer Verwaltungsstruktur zu vertreten. Organisierte Bürger: siehe ĺBürger, Typen von Parteiendemokratie: siehe ĺPublikumsdemokratie Partizipative Demokratie: Generell kennzeichnet die partizipative Demokratie, dass sie zusätzlich zu den klassischen Mechanismen der ĺrepräsentativen Demokratie Formen der ĺdirekten Demokratie enthält, durch die nicht gewählten Bürgern (oder ihren Delegierten mit einem semi-imperativen Mandat) eine gewisse Entscheidungskompetenz übertragen wird. In diesem Buch ist die partizipative Demokratie einer der sechs ĺIdealtypen der Bürgerbeteiligung in Europa. Sie bezieht sich auf Beteiligungsverfahren, in denen die ĺZivilgesellschaft eine ausgeprägte Form der ĺkooperativen Gegenmacht darstellt, basierend auf der Mobilisierung freiwilliger, aktiver Bürger und der Wahl von Delegierten mit semi-imperativem Mandat. In der partizipativen Demokratie erlauben die von Bürgern und Entscheidungsträgern gemeinsam erarbeiteten Verfahrensregeln die Entstehung einer ĺvierten Gewalt, wobei Partizipation und soziale Gerechtigkeit eng aneinander gekoppelt sind. In manchen Ländern, darunter Frankreich oder Italien, wird der Begriff der partizipativen Demokratie zur Bezeichnung der meisten Verfahren verwendet, die auf irgendeine Weise Bürger am Entscheidungsprozess beteiligen. In Deutschland hingegen verweist man eher auf das Leitbild der ĺBürgerkommune, wenn es um das Thema Partizipation geht. Partizipative Modernisierung: Die partizipative Modernisierung ist einer der hier definierten ĺIdealtypen der Bürgerbeteiligung. In diesem Falle ist Partizipation nur eine Dimension einer umfassenden Reform der Verwaltung, bei der diese nicht ausschließlich durch Privatisierungen modernisiert werden soll. Dieses Modell ist wenig politisiert, beinhaltet eine reine Konsultation der Bürger und bezieht sich auf die partizipativ ausgerichteten Strömungen des ĺNew Public Management. Planungszelle: Ein Verfahren, bei dem sich im Auftrag der öffentlichen Verwaltung eine per Zufallsauswahl bestimmte Gruppe von Bürgern (15 bis 20 Personen) für einige Tage versammelt, um ein vorgegebenes Thema zu erörtern und Vorschläge zu unterbreiten. In Spanien ist dieses Modell unter dem Namen Consejo Ciudadano (Bürgerrat) oder Núcleo de Intervención Participativa (An-
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laufstelle für Partizipation) bekannt, in anderen Ländern als Bürgerjury bzw. dem englischen Begriff citizen jury. Plebejische Öffentlichkeit: Der Begriff bezeichnet Diskussionsräume für sozial benachteiligte Schichten, die parallel zu denen des aufgeklärten Bürgertums im 18. Jahrhundert und danach immer wieder im Lauf der Geschichte der modernen Demokratien existierten. Die plebejische Öffentlichkeit übernimmt einige Merkmale der bürgerlichen ĺÖffentlichkeit, insbesondere die Idee eines öffentlichen und diskursiven Austausches, um kollektive Entscheidungen zu legitimieren oder zu kritisieren. Es gibt aber auch wichtige Unterschiede: die Bindung der plebeijischen Öffentlichkeit an emanzipatorische Bewegungen untergeordneter Schichten, die diskutierten Themen – allen voran die ‚soziale Frage‘ – und die Diskussionsformen, die sich aufgrund des sozialen Hintergrunds der Teilnehmer von den bürgerlichen Diskussionen der Salons zugunsten anderer Ausdrucksformen wie des persönlichen Erfahrungsberichtes absetzen. In diesem Sinn ist das Konzept der plebejischen Öffentlichkeit eng mit der Idee der ĺpartizipativen Demokratie verbunden, wie wir es hier definieren. Produkthaushalt: siehe ĺHaushalt Programmhaushalt: siehe ĺHaushalt Public Private Partnership/Öffentlich-private Kooperation: Die Kooperationen zwischen öffentlichen Einrichtungen und privaten Unternehmen im Rahmen eines bestimmten Projekts haben sich seit der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre und dem Zusammenbruch des ‚real existierenden Sozialismus‘ vervielfältigt. Besonders verbreitet sind sie in den angelsächsischen Staaten und den Ländern der Südhalbkugel. Sie erscheinen besonders günstig in Zeiten öffentlicher Finanzierungsschwierigkeiten, um zusätzliches Kapital durch den Markt zu gewinnen und durch dessen Beteiligung eine größere ĺEffizienz der öffentlichen Leistungen zu erreichen. In den 1980er und 1990er Jahren wurde das Public Private Partnership in die Maßnahmenkataloge fast aller internationalen Organisationen eingeschrieben. Doch der oftmals begrenzte Erfolg dieser wirtschaftspolitischen Ansätze und die damit einhergehende steigende Ungleichheit rufen regelmäßig Widerstand hervor. Um diesen Bedenken zu begegnen und sie zu entschärfen, wird seit einigen Jahren zunehmend versucht, zivilgesellschaftliche Organisationen an diesen Prozessen zu beteiligen. Das daraus entstehende partizipative Public Private Partnership zählt zu den hier vorgeschlagenen ĺIdealtypen der Bürgerbeteiligung. Dabei sind die Bürger allerdings nur ein Akteur neben Unternehmen und öffentlicher Verwaltung, während in der Regel die privatwirtschaftlichen Partner den Ton angeben und die Politik nur einen kleinen Handlungsspielraum behält.
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Publikumsdemokratie: Nach Bernard Manin kann die Geschichte der ĺrepräsentativen Demokratie (gouvernement représentatif) durch drei aufeinander folgende Idealtypen analysiert werden. Im ersten, dem Parlamentarismus (démocratie des notables oder parlamentarisme), gibt es eine kleine, sich aus den oberen Bevölkerungsschichten rekrutierende Führungselite und das Parlament steht im Zentrum der demokratischen Praxis. In der zweiten, der Parteiendemokratie (démocratie partidaire), wird das Volk durch die Massenparteien in das politische System integriert. Im dritten Idealtyp, der Publikumsdemokratie oder öffentlichen bzw. medialen Demokratie, geht die Schwächung der klassischen institutionellen Mediationsorgane einher mit dem Aufkommen der Medien als neuem Zentrum des politischen Systems. Dabei setzen sich diejenigen Repräsentanten durch, die diese neuen Kommunikationsformen zu meistern oder zu beeinflussen wissen. Gegen diese gegenwärtige Verbreitung der Publikumsdemokratie richten sich jedoch die Entwicklung von Beteiligungsverfahren und Expertenkomitees sowie das Aufkommen neuer Formen von partizipativer ĺgovernance. Wenn die Publikumsdemokratie auch Elemente von Beteiligungsverfahren integriert, so beinhalten diese Prozeduren keine Autonomie für die Teilnehmer, es gibt keine qualitätsvolle ĺDeliberation und Formen der ĺGegenmacht (counter power) können nicht entstehen. Es besteht daher ein Unterschied zwischen Prozessen wie ĺPlanungszellen oder ĺBürgerhaushalten und politischen Podiumsdiskussionen in Fernsehsendungen, in denen in wachsendem Maße per Zufall ausgewählte Bürger ihre Meinung kundtun dürfen. Quartiersbeirat: Quartiersbeiräte sind von der Verwaltung geschaffene Beteiligungsformen, die von dieser gewisse Kompetenzen im Rahmen des Stadtviertels zugesprochen bekommen. Sie fördern die Kommunikation zwischen politischen oder administrativen Entscheidungsträgern und Bürgern (Bewohner des Stadtviertels) und bilden somit ein Forum für Diskussionen, Beschwerden und Anfragen. Unabhängig von der Verwaltung sind dagegen die von den Bewohnern selbst organisierten ‚autonomen Quartiersräte‘, die Stellung zu Problemen auf mikro-lokaler Ebene beziehen. Auch lokale Vereine agieren unabhängig von der Verwaltung und befassen sich mit den verschiedensten Themen, die mitunter über die Ebene der Stadtviertel hinausgehen können. Quartiersfonds: Mit den Quartiersfonds werden Bürgern kleinere Summen zur Verfügung gestellt, um Projekte auf mikro-lokaler Ebene des Stadtviertels zu verwirklichen. Die Verwendung des Begriffs ist allerdings sehr ungenau. In diesem Forschungsprojekt bezeichnet er nur Verfahren, in denen die Bürger über die vorgelegten Projekte entscheiden, während die Verwaltung anschließend die Realisierung übernimmt. Die Quartiersfonds unterscheiden sich damit
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von Gemeinwesenfonds, bei denen die Bürger selbst die Projekte mit dem zur Verfügung gestellten Geld durchführen. Referendum: Man kann zwischen drei Arten von Referenden unterscheiden: 1. 2. 3.
Plebiszite als ‚von oben‘ initiierte Verfahren, in welchen die Bürger sich für oder gegen einen politischen Verantwortlichen aussprechen; klassische Referenden über legislative Maßnahmen – wie im Falle der Abstimmung über die Annahme der europäischen Verfassung; Bürgebegehren und Bürgerentscheide, die durch eine Bewegung ‚von unten‘, in der Regel durch Unterschriftensammlungen, initiiert werden.
Diese Prozesse erlauben, die Gesamtheit der Bürger in die Beschlussfassung einzubeziehen. In den meisten Ländern spricht man nur dann von einem Referendum, wenn das Verfahren für die letztendliche Entscheidung verbindlich ist. Repräsentative Demokratie: Die Entstehungszeit der repräsentativen Demokratie geht auf das 18. Jahrhundert zurück, als mit den französischen und amerikanischen Revolutionen das absolutistische System abgeschafft und die Grundlagen für eine demokratische Regierungsform gelegt werden (ursprünglich war diese Regierungsform jedoch nicht demokratisch, da ein Großteil der Bevölkerung über keine politischen Rechte verfügte). Bernard Manin definiert den Begriff der repräsentativen Demokratie („repräsentative Regierung“ = gouvernement représentatif im frz. Original) durch vier Kriterien: Wahl der Regierenden in regelmäßigen Abständen durch die Bürger; Unabhängigkeit der Gewählten in ihrer Beschlussfassung; Meinungsfreiheit; Erforderlichkeit einer öffentlichen Diskussion im Rahmen des Entscheidungsprozesses. In diesem Sinne ist die repräsentative Demokratie ein gemischtes Regime – einerseits oligarchisch, da die Regierenden die wesentliche Entscheidungsgewalt beanspruchen, andererseits demokratisch, da die Vertreter gewählt werden und die Bürger auf sie durch die öffentliche Meinung Druck ausüben können. Verschiedene Modelle der repräsentativen Demokratie haben sich nach Manin im Laufe der Geschichte abgelöst (ĺPublikumsdemokratie). Für Anhänger der ĺpartizipativen Demokratie ist eine Konzeption von Demokratie, die ausschließlich auf dem Repräsentationsgedanken beruht, zu reduktionistisch. Stattdessen geht es ihnen darum, das repräsentative Regierungssystem durch Elemente der ĺdirekten Demokratie zu bereichern. Responsiveness: Unter der responsiveness der Verwaltung versteht man ihre Fähigkeit, schnell und angemessen auf Anfragen der Bürger zu antworten, insbesondere im Rahmen von Beteiligungsverfahren.
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Rollen der Bürger bei der Verwaltungsmodernisierung: Man kann auf analytischer Ebene mehrere Rollen der Bürger im Rahmen von Partizipationsverfahren unterscheiden. 1.
2.
3. 4.
Als Kunden interessieren sie sich ausschließlich für die Qualität der erbrachten Dienstleistungen und mischen sich nicht in die Art und Weise ihres Zustandekommens ein. Während im Französischen klar zwischen Nutzer (usager) und Kunde (client) unterschieden wird (der erste Begriff wird traditionell verbunden mit öffentlichen Dienstleistungen, der zweite hingegen mit privatrechtlichen Unternehmen), gibt es in anderen Sprachen entweder nicht so stark gegensätzliche Begriffspaare oder es wird, wie im Deutschend, nur ein Wort verwendet (Kunde); Als Mitentscheider sind sie an der Aufstellung der angebotenen Leistungen oder geplanten Projekte beteiligt, wobei sie mehr oder weniger intensiv am Entscheidungsprozess teilhaben können (auf diesen Fall beziehen sich in der Regel die ĺEbenen der Partizipation); Als Mitgestalter nehmen sie an der Umsetzung der Projekte oder Leistungen teil oder führen sie sogar eigenverantwortlich aus; Schließlich können sie als Kontrolleure oder Gutachter eine Funktion ausüben, die normalerweise internen Verwaltungsmitgliedern, externen Institutionen (wie dem Rechnungshof) oder Treuhändern vorbehalten ist.
‚Selektives Zuhören‘: Der Begriff beschreibt Partizipationsverfahren, bei denen Verwaltungsmitarbeitern oder politischen Mandatsträgern die Aufgabe zukommt, die Ergebnisse der Diskussion zusammenzufassen, ohne dabei an bestimmte Verfahrensregeln gebunden zu sein. Folglich werden häufig nur die Vorschläge berücksichtigt, die den Ansichten und Projekten der Entscheidungsträger entsprechen. Dieses Vorgehen ist charakteristisch für das Modell der ĺbürgernahen Demokratie, kann jedoch auch in der ĺpartizipativen Modernisierung und in ĺneokorporatistischen Ansätzen der Partizipation beobachtet werden. Im Gegensatz dazu steht die ĺdirekte Demokratie, in der die Meinungsäußerungen der Bürger zu verbindlichen Entscheidungen führen. Dennoch kann auch bei rein konsultativen Verfahren das selektive Zuhören zum Teil überwunden werden, wenn die Teilnehmer die Möglichkeit haben, ihre Vorschläge zu hierarchisieren und somit eine eigene Bilanz der Diskussion zu ziehen. Zugleich müsste aber gesichert sein, dass die Entscheidungsträger rechtfertigen, welche dieser Empfehlungen sie befolgen bzw. welche sie ablehnen (Prozess der ĺaccountability). Soziale Gruppen: siehe ĺBürger, Typen von
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Stakeholder: Dieses besonders auf Anregung internationaler Organisationen immer häufiger verwendete Konzept bezeichnet alle Personen oder Institutionen, die von einem Problem betroffen oder möglicherweise daran beteiligt sind, unabhängig von Ihrer Verantwortung und ihren Rechten im juristischen Sinne. Der Begriff wird häufig (aber nicht immer) in Bezug auf ĺorganisierte Akteure verwendet und impliziert, dass diese Akeure untereinander und in Bezug auf ihre jeweiligen Interessen verhandeln, nicht jedoch unbedingt zum Nutzen des Gemeinwohls. Technische Demokratie: Dieser von den französischen Wissenschaftlern Michel Callon, Patrick Lascoumes und Yannick Barthe geprägte Begriff beinhaltet, dass der traditionell bestehende, doppelte Machttransfer von den Bürgern an gewählte Repräsentanten als auch an Experten in Verwaltung und Wissenschaft überwunden wird. Diese Sichtweise berücksichtigt die Theorien der ĺpartizipativen Demokratie, auch wenn ihre stärksten Thesen aus der Geschichte und Soziologie der Wissenschaft und der Soziologie des Risikos (ausgehend der Schriften von Ulrich Beck) stammen. Den Autoren zufolge sind Wissenschaft und Technik in ein komplexes System eingebunden, so dass die in diesen Bereichen getroffenen Entscheidungen immer auch von gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst sind. Zudem verläuft der technische Neuerungsprozess keineswegs gradlinig. Er beinhaltet vielmehr Phasen der Rückkoppelung, die von der Erprobung bis zur Massenproduktion reichen. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, ist die Einrichtung ĺ‚hybrider Foren‘ (forums hybrides) wünschenswert, an denen sich Akteure mit unterschiedlichen Kompetenzen und Status-Positionen beteiligen. Die technische Demokratie zielt somit nicht darauf ab, die Unterschiede zwischen den Kompetenzen zu nivellieren; sie fordert vielmehr die Zusammenführung unterschiedlich gelagerter Formen des Wissens und der unterschiedlichen Standpunkte sowie einen kooperativen Ansatz, der sowohl die technische als auch die ethische und die politische Sichtweise mit einbezieht. Politische Entscheidungen sind technischen Zwängen unterworfen, die in manchen Fällen erst nach und nach bei der Umsetzung von Projekten deutlich werden. Eine sich daraus ergebende Anpassung der Projekte ist aber nicht nur mit technischen Fragen verbunden, sondern sie erfordert auch zahlreiche ‚kleine‘ Entscheidungen und Festlegungen, die ihrerseits soziale und politische Auswirkungen haben. Die Einbeziehung von Bürgern erscheint deshalb in diese ĺ‚hybriden Foren‘ notwendig, da sie andere Wissens- und Erfahrungshorizonte einbringen als Wissenschaftler, Verwaltungsmitarbeiter oder Politiker. Zudem ist dies eine politische Notwendigkeit, da die Beteiligung von Laien dazu beiträgt, technische Probleme zu enttechnokratisieren, deren gesellschaftliche Bedeutung hervorzuheben und den Bürgern die Macht zu geben, elementare kollektive Entscheidungen zu beeinflussen. Dies ist in einer Zeit, in welcher der
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Einfluss von Wissenschaft und Technik immer mehr zunimmt, von zentraler Bedeutung. Top-down: Partizipative Verfahren werden top-down genannt, wenn sie durch institutionelle Akteure, also ‚von oben‘, veranlasst werden. Sie stehen so im Gegensatz zu bottom-up Prozessen, Initiativen ‚von unten‘, die von sozialen Bewegungen oder Akteuren der ĺZivilgesellschaft initiiert werden. Vierte Gewalt: Dieser Begriff lässt sich in die Theorien zur Gewaltenteilung einordnen. Diese haben sich seit dem 18. Jahrhundert in erster Linie mit der ĺrepräsentativen Demokratie befasst, weshalb ihnen auch für die Analyse der gegenwärtigen Entwicklungen im Bereich der Bürgerpartizipation die notwendige heuristische Tiefe fehlt. Schließlich haben wir es, wenn auch in einem sehr anfänglichen Stadium, mit der Entstehung einer vierten Gewalt zu tun, wenn Bürger ohne politisches Mandat an der Entscheidungsfindung partizipieren. Dies geschieht entweder direkt (bei ĺReferenden oder einer Generalversammlung), über kleine, per Losverfahren zusammengesetzter Gruppen (ĺPlanungszellen), oder über Delegierte, die einer strengen Kontrolle durch die Basis unterliegen (ĺBürgerhaushalte, ĺcommunity development). Diese vierte Gewalt ist mit den drei klassischen Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) verbunden. Ihre Entstehung zeugt von einer Entwicklung, die deutlich über eine einfache Konsultation oder eine dialogische und deliberative Reformulierung der ĺrepräsentativen Demokratie hinausgeht. Sie trägt zur Herausbildung einer ĺpartizipativen Demokratie bei, in der die Strukturen des repräsentativen Systems mit Formen der ĺdirekten oder halbdirekten Demokratie verbunden werden, weshalb man hier auch von der Entstehung einer gemischten Regierungsform sprechen kann. Es geht hier nicht um eine vierte Gewalt im Sinne häufig gehörter Sätze wie „die Medien stellen eine vierte Gewalt dar“. In diesem Fall handelt es sich um eine Macht, die die Medien lediglich de facto ausüben, jedoch nicht um eine institutionalisierte vierte Gewalt, wie sie in Form von Beteiligungsprozessen entstehen kann. Zivilgesellschaft: Der klassische Begriff der bürgerlichen Gesellschaft wurde in mindestens zwei Varianten verwendet. In der traditionellen Definition schließt die bürgerliche Gesellschaft alle organisierten Kräfte ein, die nicht Teil des Staates sind, insbesondere Unternehmen und andere privatwirtschaftliche Akteure. In der zweiten Definition, angelehnt an Tocqueville und Gramsci, bezieht sie sich auf eine Sphäre, die neben dem wirtschaftlichen wie institutionellpolitischen System besteht und auf den Aktivitäten und Zusammenschlüssen der Bürger in der ĺÖffentlichkeit beruht. Im Deutschen wird der Begriff der Zivil-
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gesellschaft seit drei bis vier Jahrzehnten ausschliesslich in Bezug auf diese zweite Variante verwendet.
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