Atlan - König von Atlantis Nr. 465 Dorkh
Eine Handvoll Freiheit von Detlev G. Winter
Die Mission des Koordina...
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Atlan - König von Atlantis Nr. 465 Dorkh
Eine Handvoll Freiheit von Detlev G. Winter
Die Mission des Koordinators der Ewigkeit
Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie bisher alles überstanden haben, was Dorkh gegen sie aufzubieten hatte. Während Dorkh nun auf eine Reise ins Ungewisse geht, zusammen mit Atlan und seinen Gefährten, blenden wir im nächsten Atlan‐Band um und beleuchten ein anderes Geschehen in der Schwarzen Galaxis. Dieses Geschehen betrifft die Mission eines Koordinators der Ewigkeit, und dabei geht es um EINE HANDVOLL FREIHEIT …
Die Hauptpersonen des Romans: Tolfex ‐ Der Koordinator der Ewigkeit erfüllt einen Auftrag. Zwertelis ‐ Ein Intelligenzwesen unter den Bestien von Cyrsic. Faderkyhl ‐ Ein Noot mit einem Hang zur Neugier. Usmaender ‐ Der Havare lehnt sich gegen seinen Herrn auf. Yeers und Olken ‐ Zwei Verschwörer schöpfen Hoffnung.
PROLOG Irgendwo im Universum eine Sterneninsel, deren Sonnen extrem leuchtschwach sind und die Düsternis des Todes verbreiten: die Schwarze Galaxis, Sitz und Machtzentrum des Dunklen Oheims. Beherrscht von Unterdrückung, Haß und Sklaverei, bevölkert von ausgebeuteten, willenlosen Individuen, hierarchisch gegliedert in einzelne Reviere, verwaltet von grausamen Statthaltern, den Neffen. Ein Kosmos für sich, abgeschieden vom Rest der Welt, umfangen von einer Glocke aus Bosheit und Intrigen, aus Neid und Mißgunst, eingehüllt in eine Aura des Dunkels, durchdrungen von der Ausstrahlung des Bösen schlechthin. Und irgendwo im Zentrum des Grauens ein Gegenpol, die Essenz des Positiven, ein Hort des Guten, abgekapselter und isolierter Bereich der Hoffnung und der Zukunft, Spender immerwährenden Lebens. Ein dunkler Raum … Aus diesem Gefängnis gibt es kein Entkommen. Yeers und Olken wissen es. Aber sie können denken, reden, Initiative entwickeln – anders als die anderen, die nur noch Bruchstücke ihrer selbst sind, Fragmente früherer Persönlichkeiten. Ihr Geist ist scharf und rege. Sie stehen außerhalb der Masse, haben Ideen und einen großen Plan, zielstrebig eingeleitet und sorgsam durchdacht. Ihre Zuversicht war groß und blieb lange erhalten. Langsam änderte sich das. »Wir warten vergebens«, sagt Yeers. »Die Verbindung wird
unterbrochen bleiben.« »Wir können nur warten«, entgegnet Olken. »Nichts sonst.« »Wie lange noch? Wie lange willst du deine Sinne darauf verschwenden, das Objekt zu suchen, bevor du einsiehst, daß der Plan gescheitert ist?« »Es spielt keine Rolle. Dieser Ort ist zeitlos, es gibt keine Vergangenheit, keine Gegenwart und keine Zukunft. Wir können nicht ermessen, wieviel Zeit anderswo vergangen ist, seit wir das Signal empfangen haben. Sind es Stunden, Tage, Jahre? Vielleicht Jahrzehnte oder mehr? Es bleibt sich gleich. Wir müssen warten.« »Einen neuen Plan könnten wir entwickeln«, schlägt Yeers vor. »Von vorne beginnen.« »Es gibt keinen besseren Plan. Wir würden unsere Kräfte vergeuden und dabei vielleicht das nächste Signal überhören. Nein, wir müssen aufmerksam bleiben, um die Chance nicht zu verspielen.« »Sie ist längst verpaßt und wird nicht wiederkehren. Wie lange mag es schon her sein!« »Egal«, bekräftigt Olken. »In unserem Gefängnis gibt es keine Zeit. Wir müssen uns an anderen Maßstäben orientieren.« »An welchen?« »Das weiß ich nicht. Deshalb warte ich.« »Und wenn bereits Jahrmillionen vergangen sind? Wenn das Objekt längst nicht mehr existiert?« »Eine absurde Vorstellung«, meint Olken. Allmählich wird Yeers wütend. »Du merkst nicht, wie du dir widersprichst. Einerseits klammerst du dich an deine Theorie, daß der dunkle Raum keine Zeit aufweist, andererseits weist du die Vorstellung zurück, daß draußen viele tausend oder mehr Jahre vergangen sein könnten. Das paßt nicht zusammen.« »Ich habe von Anfang an gesagt, daß ich die Nichtexistenz der Zeit für ein subjektives Phänomen halte«, verteidigt sich Olken. »Es mag daran liegen, daß wir sie nicht empfinden oder messen können, daß wir keine Vergleichswerte haben. Aber schließlich reden wir miteinander, wir denken, planen und warten. Wir leben in den uns gesteckten Grenzen. Ohne den
Ablauf einer Zeit wäre das alles nicht möglich. Ich kann mir jedoch vorstellen, daß diese Zeit eine andere ist als sonstwo, daß dabei Paradoxa geschehen, deren Spanne und Auswirkungen wir nicht einmal erahnen können. Verstehst du, wie ich es meine?« »Nein«, bekennt Yeers ehrlich. »Vor allem ändert es nichts daran, daß der Kontakt erloschen ist und nicht wieder entstehen wird.« »Wir müssen Geduld haben.« »Mach dir nichts vor!« verlangt Yeers. »Im Grunde deiner Seele bist auch du überzeugt, daß der Plan gescheitert ist. Du versuchst diese Erkenntnis lediglich zu unterdrücken. Du klammerst dich an eine verwegene Hoffnung, damit du den Sinn deines Lebens nicht verleugnen muß.« Es sind harte Worte für Olken, und eine Weile schweigt er betroffen in der Zeitlosigkeit. Vielleicht hat Yeers recht. Vielleicht ist ihr Tun wirklich sinnlos. Die Erinnerung ist schwach und blaß, aber sie kriecht unerbittlich in Olkens Gedanken, und sie weckt die Zuversicht, die er eben begraben wollte, von neuem. Zwei Körperliche waren präpariert worden – der Produzent und der Bote. Der eine sollte das Objekt herstellen, der andere es transportieren. Zumindest der erste Teil des Planes schien gelungen, nicht ohne Komplikationen, aber dennoch zu ihrer Zufriedenheit. Ein einziges Mal empfingen Yeers und Olken das Zeichen. Ihre Freude war groß gewesen – doch bald darauf erlosch der Kontakt wieder. Seitdem herrscht Stille. Wie lange schon? Wie lange noch? »Wir wissen, daß der Herstellungsprozeß erfolgreich abgeschlossen wurde«, versucht Olken seine Haltung zu verteidigen. »Das Objekt existiert! Wir dürfen noch nicht aufgeben! Es wäre ein Verrat an den Interessen aller Lebewesen in dieser Galaxis.« »Du träumst«, wirft Yeers ihm vor. »Mit deinen Illusionen hilfst du niemandem, nicht einmal dir selbst.«
Olken schweigt. Er spürt selbst, wie einander widersprechende Ansichten ihn abwechselnd zu beherrschen suchen. Aber was soll er tun? Den Plan weiter verfolgen, weiter warten und hoffen, nur um schließlich einzusehen, daß er ein Fehlschlag war? Einen neuen Plan entwickeln und dabei das Risiko eingehen, das nächste Zeichen zu überhören? Stille und Dunkelheit beherrschen den zeitlosen Raum – nachdenkliche Stille und unversöhnliche Dunkelheit. Die Stimmung sinkt. Träge pulsieren Gedankenketten, unausgesprochene, aber wahrnehmbare Überlegungen. Natürlich ist der Plan gescheitert. Auch Olken weiß es. Zugeben will er es noch nicht. So viel Aufwand und Hoffnung haben sie investiert. Und alles war umsonst. Dann, plötzlich, unerwartet, überraschend – wie ein Blitz in der Dunkelheit und ein Schrei in der Stille … »Da ist es!« Yeers schreckt auf. Er vernimmt Olkens Worte, ohne sie zu registrieren. Euphorischer Aufruhr beherrscht ihn. Symbolisch beginnt der dunkle Raum für ihn zu leuchten. Fast empfindet er Ehrfurcht, gepaart mit Zufriedenheit und Genugtuung. »Das Zeichen …!« 1. Sehen, sprechen und befehlen konnte er. Er war in der Lage, andere Wesen von sich fernzuhalten, sie in gewissen Grenzen zu beeinflussen und ihre Gefühle zu manipulieren. Ihm zur Seite stand eine Heerschar von Robotern, die nur ihm gehorchten. Über eine Reihe von Bildschirmen konnte er die Vorgänge im Sternenschiff beobachten, konnte sich Außenaufnahmen und technische Daten, Ortungs‐ und Tasterimpulse überspielen lassen. Reden konnte er mit Hilfe synthetischer Stimmbänder, die durch ein kompliziertes, halb organisches System aktiviert wurden. Seine
Befehle erteilte er über eine Lautsprecheranlage, und über Funk wies er die Roboter an, die seine Anweisungen befolgten. Er hätte zufrieden sein können, denn trotz aller körperlichen Mängel besaß er die Macht. Dies war sein Schiff. Er allein bestimmte den Kurs und die durchzuführenden Manöver. Tatsächlich war er manchmal glücklich – wenn er sah, wie alles nach seinen Wünschen verlief, wenn er feststellte, wie jede Maschine und jedes Lebewesen an Bord sich seinen Ansprüchen unterordnete und ihm gehorchte. Ein anderes Mal dagegen konnte er sich selbst hassen, wenn ihm schmerzhaft deutlich wurde, daß er körperlich jedem anderen Geschöpf unterlegen war, daß er zwar denken und lenken, aber nicht handeln konnte. Ein Impuls jagte durch seine Nervenbahnen. Ein Sektor seines Gehirns war bestrebt, Spontaneität zu erzeugen, wollte ihn aufspringen und fahrige Gesten machen lassen. Seine Wangen hätten sich röten und seine Glieder zittern müssen. Aber nichts an seinem Äußeren veränderte sich. Er war verdammt zur Bewegungslosigkeit, unfähig, Gefühle und Gedanken in Gesten und spezifischen Verhaltensweisen auszudrücken. Er sah das Wesen, das auf dem Monitor abgebildet war, hörte dessen Worte und spürte, wie sein Innerstes aufgewühlt wurde. Aber er vermochte Enttäuschung und Wut nicht sichtbar zu übertragen. Nur schreien konnte er. »Sie ist … was?« Der Schatten auf dem Bildschirm bewegte sich etwas zur Seite. Es war Ausdruck der Verlegenheit. »Sie ist zerstört«, wiederholte er. »Sämtliche Daten sind vernichtet.« »Wie konnte das geschehen?« Der Kommandant der ZIEMEN sprach bereits ruhiger. »Wie ist das möglich?« »Verschiedene Umstände sind dafür verantwortlich«, erklärte der Scuddamore. »Zwei Fremde, deren Geist stark genug war, Länerths
Traumprojektionen zu widerstehen und sich sogar daraus zu befreien, haben das Mittlere Fort ins Chaos gestürzt.« »Was hat das mit der Kartei Gär zu tun!« rief der Kommandant. »Das Archiv befindet sich meines Wissens im Äußeren Fort.« »Das ist richtig …« »Rede, Scuddamore! Was hat sich sonst noch zugetragen?« »Unser Chefwissenschaftler, ein Mann namens …« »Quärnt, ich kenne ihn«, unterbrach der Kommandant ungeduldig. »Weiter!« »Nun – als wir befürchten mußten, daß die Unruhe, die die Fremden erzeugten, um sich greifen würde, hat er die Selbstvernichtung der Kartei vorbereitet. Obwohl die Daten, die im Äußeren Fort gespeichert waren, niemals ernsthaft in Gefahr gerieten, in unbefugte Hände zu gelangen, hat Quärnt in einem Moment der Panik den Zerstörungsimpuls abgesetzt.« Erbittert schloß der Kommandant die Augen. Er hatte sich von dem Abstecher nach Breisterkähl‐Fehr viel erhofft, und nun mußte er erfahren, daß die Kartei Gär, in der Daten über alle bekannten Völker des Marantroner‐Reviers gespeichert waren, nicht mehr existierte. Damit war er bei der Erfüllung seines Auftrags um ein gehöriges Stück zurückgeworfen worden. »Einer der Fremden war Atlan?« vermutete er. »So nannte er sich«, bestätigte der Scuddamore. Atlan, immer wieder Atlan! Der Name dieses Mannes schien mit dem Niedergang der Ordnung im Marantroner‐Revier in untrennbarem Zusammenhang zu stehen. Zweimal war der Kommandant ihm begegnet, beide Male hatte er geglaubt, den Fremden für alle Zeiten unschädlich gemacht zu haben, und beide Male hatte er sich getäuscht. »Wirst du uns abholen lassen?« fragte der Scuddamore und erinnerte den Kommandanten daran, daß er Wichtigeres zu tun hatte, als verpaßten Gelegenheiten nachzutrauern. »Nein«, sagte er. »Ihr solltet euch darum kümmern, daß die
Anlagen wieder instand gesetzt werden.« »Wir haben Schwierigkeiten«, bekannte der Scuddamore freimütig. »Einige stellen sich offen gegen uns und versuchen, unsere Aufbauarbeiten zu sabotieren. Die Situation nähert sich einer Revolte, und wir wissen nicht, wie lange wir noch im Sinn des Neffen werden handeln können.« »Das weiß man nirgendwo«, wies der Kommandant das Ansinnen ab. »Auf allen besiedelten Planeten des Reviers ergeben sich die gleichen Schwierigkeiten. Ihr müßt selbst sehen, wie ihr damit fertig werdet.« Der Schatten auf dem Bildschirm bewegte sich unruhig. »Warum greift Chirmor Flog nicht ein? Er hat doch die Macht, in seinem Herrschaftsbereich für Ruhe und Ordnung zu sorgen.« »Der Neffe ist verschollen«, eröffnete der Kommandant. »Wahrscheinlich ist er tot.« Wenn den Scuddamoren die Nachricht überraschte, so ließ er es sich nicht anmerken. Durch den Schattenschild, der seine wahre Gestalt verbarg, konnte man ohnehin nie sicher sein, was gerade in ihm vorging. »Und du?« setzte er abermals an. »Was ist mit dir? Ich erkenne an den Tasterbildern, die mir übermittelt werden, daß du kein Organschiff befehligst. Deine Einheit gehört der Flotte eines Koordinators der Ewigkeit an. Kann er nichts unternehmen?« »Nein«, sagte der Kommandant. »Warum nicht?« drängte der Scuddamore. Alle seine Worte deuteten darauf hin, daß auf dem Planeten wirklich die Hölle los sein mußte. »Warum will uns niemand helfen?« »Ich kann dir nicht helfen. Die ZIEMEN ist allein unterwegs. Sie gehört keinem Verband an.« »Und der Koordinator? Wo ist er?« Der Kommandant genoß den Moment des lauernden Schweigens, den er erzeugte, indem er die Antwort hinauszögerte. In diesem
Augenblick fühlte er wieder seine Überlegenheit, vergaß er alle körperlichen Mängel und kostete das Überraschungsmoment voll aus. Dann sagte er: »Ich bin der Koordinator.« * Seinen richtigen Namen hatte er längst vergessen. Er nannte sich Faderkyhl; das klang zumindest nootisch und mochte in etwa dem nahe kommen, wie man ihn früher angeredet hatte. Er machte sich nicht einmal die Mühe, den zweiten Namensbestandteil zu rekonstruieren. Es war auch nicht wichtig. Von jedem Volk hielt sich nur ein Vertreter an Bord des Sternenschiffs auf. Es gab einen Camagur, einen Krejoden, einen Tamater und etliche andere. Wie sie heißen, war zweitrangig. Zur Unterscheidung jedes einzelnen gereichte das jeweils unterschiedliche Äußere. Er, Faderkyhl, war der Noot. Er war zufrieden – mit sich, den Umständen, den anderen. Eine ungezwungene Fröhlichkeit beherrschte ihn, wenn er sich über belanglose Dinge unterhielt, wenn er allein oder in einer Gruppe durch die Lagerhallen spazierte, wenn ihm bewußt wurde, wie angenehm das Dasein hier an Bord im Gegensatz zu dem Konkurrenzkampf auf dem Boden eines Planeten war. Die Eintönigkeit des neuen Lebensrhythmus störte ihn nicht. Es machte ihm auch nichts aus, daß er der einzige Vertreter seiner Art an Bord war, daß es keinen weiblichen Noot gab, mit dem er sich hätte beschäftigen können. Für die Fortpflanzung mochten andere sorgen; er fühlte sich zu Höherem berufen. Er war auserwählt. Er ahnte, daß er einer großen Sache dienen würde, daß eine Bestimmung auf ihn wartete.
Was er nicht unterdrücken konnte, war seine Neugier. Die ZIEMEN war das Schiff eines Koordinators der Ewigkeit, sie war groß und geräumig, und fast überall durfte er sich frei bewegen. Nur der Bezirk, in dem sich der Koordinator selbst aufhielt, war für die übrigen Passagiere tabu. Niemand hatte den Kommandanten jemals zu Gesicht bekommen, niemand wußte, wer er war oder wie er aussah. Schon oft hatten Faderkyhl und seine Freunde darüber hitzige Gespräche geführt, aber niemand schien ernsthaft daran interessiert, das Geheimnis wirklich zu ergründen. Nur ihn trieb es immer wieder in die Nähe des Kommandobereichs. Meistens kehrte er frühzeitig um, weil ihm das, was er wissen wollte, plötzlich nicht mehr wichtig erschien. Diesmal jedoch hatte er sich zu weit vorgewagt. Schon früher war ihm aufgefallen, daß er immer, wenn er einen neuen Vorstoß unternahm, einige Meter weiter vorankam als beim letzten Versuch, bevor ihn der Drang nach Umkehr überwältigte. Er hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, hatte sich höchstens gesagt, daß sein Wissensdurst wohl doch geringer sei, als er sich selbst manchmal einbildete. Heute erfuhr er, daß es andere Gründe hatte. Der Korridor, den er entlangging, war unbelebt. Zu beiden Seiten waren Türen in die Wände eingelassen, hinter denen sich Ausrüstungsdepots und Lagerräume für technische Gerätschaften befanden. Faderkyhl interessierte sich nicht dafür. Er achtete nur auf die Leuchtplatten an der Decke, die eine angenehme Helligkeit verbreiteten und deren Anzahl dem Noot Maßstab dafür war, wie weit er diesmal in das Sperrgebiet vordrang. Weiter vorn erkannte er eine Kreuzung, und dahinter verschloß ein Schott den weiteren Weg. Faderkyhls Spannung wuchs, vermischt mit einem deutlichen Gefühl des Unbehagens. Es sah so aus, als sollte es ihm heute gelingen, sein Ziel zu erreichen. Hinter dieser Wand würde er dem Koordinator der Ewigkeit, dem Befehlshaber über die ZIEMEN,
gegenüberstehen. Unwillkürlich beschleunigte er seinen Schritt. Doch plötzlich hielt er wie vom Blitz gerührt inne. Alle Fröhlichkeit und Zuversicht fielen von ihm ab. Drohende Dunkelheit drängte sich in seine Gedanken. Als hätte er eine unsichtbare Mauer durchdrungen, änderte sich die Perspektive seines Blickfelds. Er sah nur noch Schwärze. Er hatte Angst. Etwas überschwemmte seinen Geist mit elementarer Wucht. Dies war nicht mehr die sich freundlich durchsetzende Einsicht, daß er gut daran täte umzukehren. Dies war eine massive Drohung, Ahnung schrecklicher Strafe. Er hatte eine Grenze passiert, deren Überschreiten ihm nicht gestattet wurde. Hier erwartete ihn nicht das angenehme, fröhliche Leben, nicht das Gespräch mit dem Kommandanten dieses Schiffes. Hier erwartete ihn der Tod. Keinen Schritt weiter würde er gehen. Als wollte er um Vergebung flehen, breitete er hilflos die Arme aus. Das Rauchhorn pulsierte schmerzhaft. Die Schuppen auf seiner Haut verloren ihre blaue Farbe und wurden blaß. Die Leere in seinem Hirn nahm zu. Wenn er noch lange hier stehenblieb, würde er den Verstand verlieren. Er taumelte zurück. Irgendwo waren Helligkeit, Sicherheit und Leben. Schmale Leuchtplatten schoben sich unter die Decke eines Korridors. Geschlossene Türen entstanden in massiven Wänden. Die Schwärze in seinen Sinnen schwand, als hätte jemand einen Vorhang zurückgezogen. Die Todesangst versiegte. Zitternd blieb Faderkyhl stehen. Nichts an der Umgebung hatte sich verändert. Friedlich und ruhig lag der Gang vor ihm, der in jene Bereiche führte, in denen er sich aufhalten durfte. Alles war wie sonst. Vielleicht war er selbst in diesen schrecklichen Sekunden ein anderer geworden. Allmählich kehrte seine gewohnte Fröhlichkeit zurück. Er fühlte sich wohl, wie von einem inneren Zwang befreit. Das Bedürfnis, dem Koordinator der Ewigkeit gegenüberzustehen, war völlig erloschen.
Er war ausersehen, einer übergeordneten Bestimmung zugeführt zu werden. Damit konnte er zufrieden sein – und jetzt, nachdem er das Grauen erahnt hatte, war er es auch. Er befand sich auf einem Sternenschiff. Der Steuermann war ein Koordinator der Ewigkeit. Der Koordinator war Tolfex. Mehr Wissens bedurfte es nicht, um glücklich zu sein. * Der Scuddamore wich einen Schritt zurück. Die Eröffnung, mit einem Koordinator der Ewigkeit zu sprechen, mußte ein Schock für ihn sein. Wahrscheinlich wurde er sich erst jetzt bewußt, daß er kein Bild von seinem Dialogpartner übermittelt bekam. »Warum willst du uns bei unserem Kampf gegen die Aufständischen nicht unterstützen?« fragte er, nachdem er sich wieder in der Gewalt hatte. »Du bist ein mächtiger Mann. Du könntest die Revolte niederschlagen. Auf dich würden sie hören.« »Du versprichst dir zuviel von meiner Anwesenheit«, widersprach Tolfex kühl. »Ich habe einen klar umrissenen Auftrag des Dunklen Oheims auszuführen und kann mich nicht um Nebensächlichkeiten kümmern. Außerdem brauche ich mein Schiff für andere Zwecke, als euch von Breisterkähl‐Fehr zu evakuieren. Euer Platz ist in den Forts.« »Wir werden unsere Stellungen nicht mehr lange halten können«, prophezeite der Scuddamore. »Die Loyalen brauchen Unterstützung von außen.« »Ihr werdet so lange durchhalten, bis ein neuer Neffe dieses Revier beherrscht«, verlangte Tolfex. »Wann wird das sein?« »Bald.« Bevor der andere ihn weiter drängen konnte, unterbrach Tolfex
die Verbindung. Er ertrug es nicht länger, den Scuddamoren jammern und betteln zu hören. Es widersprach allen Erfahrungen, die er bisher mit Vertretern dieser Kampftruppe gemacht hatte. Aber es zeigte ihm auch, daß seit dem Verschwinden des Neffen nichts mehr im Marantroner‐Revier seinen gewohnten Gang nahm. Die Verhältnisse waren so verwirrend und unübersichtlich, daß nicht einmal mehr die Scuddamoren damit zurecht kamen. Die Ordnung war zerstört. Es wurde Zeit, daß er seinen Auftrag erfüllte. Dabei war er sich darüber im klaren, daß noch etliche Schwierigkeiten auf ihn warten würden. Von jedem Volk, das im Marantroner‐Revier beheimatet war, sollte er ein ausgewachsenes und gesundes Exemplar an Bord nehmen und seiner Bestimmung zuführen. Das war nicht leicht. Wie in allen anderen Revieren, waren auch hier Angehörige vieler Arten zwangsweise auf andere Planeten umgesiedelt worden. Im Lauf der Jahre hatten sie sich der jeweiligen Umgebung angepaßt, waren zum Teil mutiert oder entartet und ließen von ihrer ursprünglichen Form oft kaum noch etwas erkennen. Daß der Dunkle Oheim nur an Vertretern der Stammvölker interessiert war, machte es für Tolfex doppelt schwer. Von den Speichern der Kartei Gär hatte er sich Unterstützung erhofft. Aber die Datenbank war vernichtet. Die Informationen, die er hatte abrufen wollen, existierten nicht mehr. Er würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen, wenn er nicht eine endlose Suche riskieren wollte. Die Zeit drängte. Je länger das Marantroner‐Revier verwaist blieb, desto größer wurde die Gefahr, daß sich die Verhältnisse überhaupt nicht mehr kontrollieren ließen. »Der Noot ist wieder unterwegs«, meldete ein Überwachungselement mit modulationsloser Stimme. »Er nähert sich der Sperrzone.« Tolfex schreckte auf. Beunruhigt richtete er den Blick auf einen Bildschirm, auf dem er den Weg des Echsenwesens verfolgen
konnte. Schon mehrmals hatte der Noot versucht, zu ihm vorzudringen, und es hatte den Anschein, daß er sich von der dumpfen Ausstrahlung des Koordinators jedesmal weniger beeindrucken ließ. Zielstrebig schritt er auf das Eingangsschott zu. Im Grunde war es ein alarmierender Vorgang. Tolfex hatte dafür gesorgt, daß sich alle Passagiere seines Schiffes fröhlich und zufrieden fühlten. Neugierde hätte nicht aufkommen dürfen, schon gar nicht jene sich ständig steigernde Immunität gegen die düstere Aura der Sperrzone. Tolfex schloß die Augen und konzentrierte sich. Ein für alle Mal wollte er dem Noot eine Lehre erteilen und ihm zeigen, was es bedeutete, sich in verbotenes Gebiet vorzustehlen. Er spürte Kraft in sich aufsteigen, maßlose, verzehrende Kraft. Mit der Macht seines Geistes schleuderte er sie dem Eindringling entgegen, hielt sich dabei noch zurück, damit er seinen Passagier nicht versehentlich tötete. Als er die Augen wieder öffnete, hatte sich der Noot bereits zurückgezogen. Er hatte seine Lektion gelernt. Vielleicht war sein Widerstand gegen die künstlich erzeugten Gemütsregungen, die unbewußte Auflehnung gegen unbeschwerten Frohsinn und kritiklose Zufriedenheit, damit endgültig niedergerungen. »Der Todesbote soll dem Noot folgen und ihn ständig im Auge behalten«, befahl Tolfex vorsichtshalber. »Über jedes ungewöhnliche Verhalten möchte ich sofort unterrichtet werden.« Durch ein Symbol auf einem Bildschirm wurde die Anordnung bestätigt. Hätte Tolfex die Fähigkeit zur Mimik gehabt, wäre ein Lächeln über sein Gesicht geglitten. Kraft seines Geistes war er in der Lage, die Stimmungen und Gefühle anderer zu manipulieren. Er hatte den Noot zurückgedrängt, ohne sich der mechanischen Gewalt eines seiner Roboter bedienen zu müssen. Es machte ihn stolz – doch zugleich spürte er wieder jenen verhaltenen Abscheu gegen sich selbst, als ihm die
Unvollkommenheit seines Organismus erneut bewußt wurde. Zur Abschreckung brauchte er den Todesboten, zur Ausführung manueller Arbeiten war er auf die Hilfe seiner Roboter angewiesen. Vieles vermochte er zu leisten. Bewegen konnte er sich nicht. Aus dem Speicherzentrum des Bordrechners ließ sich der Koordinator die Daten verschiedener Planeten überspielen, die außer Breisterkähl‐Fehr noch als Informationsquelle in Frage kommen könnten. Sehr groß war die Auswahl nicht, und er entschied sich schließlich für eine Welt, auf der genetische Versuche mit vielen unterschiedlichen Lebensformen unternommen wurden und die ein technisch‐wissenschaftliches Forschungszentrum beherbergte. Zwar war es auch dort zu unvorhergesehenen Zwischenfällen gekommen, doch hoffte Tolfex, daß die auf der Kunstwelt stationierten Scuddamoren noch über Unterlagen verfügten, die er so dringend benötigte. Auch das Rechenzentrum mochte noch intakt sein. »Wir nehmen Kurs auf Cyrsic, den zweiten Planeten der Sonne Ursolg«, bestimmte er. 2. Das glänzende Ding hing am Ende einer Liane und baumelte leicht im Wind. Es sah merkwürdig aus, und zunächst war Zwertelis nicht sicher, ob es eine Gefahr für sie bedeuten könnte. Vorsichtig näherte sie sich dem seltsamen Gewächs, einem mächtigen Stamm, der vor ihr in die Höhe ragte und von dessen Krone unzählige der grünen Fäden herabhingen. Je näher sie kam, desto stärker wurde ihr Interesse. Ihr erster Gedanke bestätigte sich. Es war tatsächlich ein Auge. Während es mit der Liane hin und her schwang, beobachtete es Zwertelisʹ Annäherung. Es verhielt sich wie ein Pendel, das die dauernde Veränderung des Blickwinkels durch ruckartige
Bewegungen einer schwarzen Pupille ausglich. Die Pupille war rund und von einer leuchtend blauen Iris umgeben, die in helles, glänzendes Gewebe eingebettet war. Zwertelis blieb stehen und musterte das Gebilde kritisch. Eine Pflanze, die über ein Organ zur optischen Wahrnehmung verfügte, war ungewöhnlich und stellte selbst im Dschungel von Cyrsic eine Kuriosität dar. Es war einer der sinnlosen Auswüchse jener genetischen und biologischen Experimente, die bis vor kurzem das Bild der künstlichen Natur auf diesem Planeten bestimmt hatten. Sinnlos deshalb, weil sich Zwertelis nicht vorzustellen vermochte, welchen Nutzen ein einzelnes Auge für einen fest verwurzelten Baum haben könnte. Keine der anderen Lianen war mit einem ähnlichen Organ ausgestattet. Selbst wenn das Gewächs irgendwo über ein Denkzentrum verfügte, das die vom Auge übermittelten Impulse verarbeitete, würde ihm das zu keinerlei Vorteil gereichen, weil er auf die äußeren Eindrücke nicht reagieren oder sich von der Stelle bewegen konnte. Zwertelis beschloß, sich nicht weiter um den Baum zu kümmern. So ungewöhnlich seine Erscheinung war, so wenig groß war auch die Wahrscheinlichkeit, daß sie einem Teil ihrer selbst gegenüberstand. Nur danach suchte sie. Alles andere interessierte sie im Moment nur am Rande. Sie wandte sich ab und wollte ihren Marsch fortsetzen, als sie im äußersten Winkel ihres Blickfelds eine schnelle, heftige Bewegung wahrnahm. Sofort erwachte der Instinkt für unmittelbar drohende Gefahr in ihr. Sie machte einen gewaltigen Satz nach vorn, landete in krachendem Unterholz und drehte sich blitzartig um. Das fadenförmige Gebilde mit dem Auge hatte sich vom Stamm des Baumes gelöst und sich mehrere Meter weit davongeschnellt. Zwertelis begriff, daß es mit der Pflanze selbst nichts zu tun hatte. Es hatte lediglich das ähnliche Aussehen der Lianen zur Tarnung benutzt. Jetzt schlängelte es sich geschmeidig über den Boden, den vorderen Teil zitternd in die Höhe gereckt und mit dem Auge
Ausschau haltend. Zwertelis wußte nicht, wie groß die Gefahr war, bei einem Kampf mit diesem Wesen zu unterliegen. Sie wollte es nicht darauf ankommen lassen. Flink ergriff sie die Flucht. Weit holte sie mit ihren vier langen Beinen aus und hetzte hakenschlagend durch das Gehölz. Sie entwickelte eine beträchtliche Geschwindigkeit, aber sie wußte, daß sie nicht sehr ausdauernd war. Bereits nach kurzer Zeit bekam sie Atemschwierigkeiten. Mehrmals blickte sie zurück, konnte jedoch durch die dichten Gewächse des Dschungels nicht erkennen, ob das seltsame Wesen ihr noch folgte. Ihre Pfoten platschten durch einen morastigen Tümpel, schwarze, stinkende Flüssigkeit spritzte hoch und befleckte ihr Fell. Dann, als sie sandigen Boden erreichte, auf dem nur wenige verkrüppelte Pflänzchen wuchsen, verlangsamte sie ihr Tempo. Schon waren ihre Kräfte weitgehend verbraucht, und wenn es dem fremden Wesen einfiel, sie durch den Morast zu verfolgen, hatte sie kaum noch Chancen, seinem Zugriff zu entgehen. Am Rand der Sandfläche entdeckte sie einige kümmerliche Büsche, die ihr als Deckung geeignet erschienen. Sie duckte sich tief, um sicher zu sein, nicht gesehen zu werden. Aufmerksam suchte sie die Umgebung ab. Ihre Ohren stellten sich witternd in die Höhe, um jedes ungewöhnliche Geräusch sofort zu registrieren. Die Härchen des Rückenfells zitterten. Zwertelis hatte Angst. Zahllose, unbekannte Gefahren lauerten in diesem Dschungel, und sie befürchtete, irgendwann durch einen plötzlichen Angriff zu sterben, ohne daß sie auch nur einen ihrer Abkömmlinge gefunden hatte. Sie lauschte. Die vielfältigsten Geräusche drangen zu ihr herüber. Zwitschernd, kreischend und fauchend offenbarte die Kunstnatur den Pulsschlag ihres manipulierten Lebens. Unterschiedlichste Formen und Farben bestimmten das äußere Bild des Planeten Cyrsic. Der Kampf aller gegen alle, die Auseinandersetzung ums
nackte Überleben waren die Grundlage jeglicher Existenz auf dieser Welt. Obwohl sie, im Gegensatz zu allen anderen Geschöpfen, über Intelligenz verfügte, war Zwertelis oft nur durch einen glücklichen Zufall dem Tod entgangen. Gespannt und fluchtbereit beobachtete sie die sandige Fläche, die ringsum von dichtem Pflanzenwuchs umsäumt war. Allmählich kehrten ihre Kräfte zurück. Sie erholte sich schnell von der momentanen Erschöpfung und faßte wieder Mut, denn es tat sich nichts. Dennoch durfte sie in ihrer Aufmerksamkeit nicht nachlassen, das hatte sie längst gelernt. Überall, hinter jedem Stamm, unter jedem Farn, mochten Feinde lauern, die es auf ihr Leben abgesehen hatten. Hinter ihr, am Ende der kleinen Lichtung, erhob sich eine dichte Wand riesiger Bäume, deren Kronen zum Teil ineinander verwachsen waren. Zwischen den Stämmen wuchsen Pilze und Gräser, hier und da auch farbenfrohes Buschwerk. Herabgefallene Blätter hatten eine feuchte Humusschicht gebildet. Nachdem sie sich durch einen Blick zurück davon überzeugt hatte, daß die lebende Liane tatsächlich nicht mehr auftauchte, drang sie in das Gestrüpp ein. Fast schien es ihr, als betrete sie eine andere Welt. Dämmriges Halbdunkel herrschte unter dem Blätterdach der Urwaldbäume. Die Luft war feucht und stickig und erschwerte das Atmen. Der Boden war so weich, daß sie tief mit den Pfoten darin einsank. Zwertelis hielt eine Weile inne, um sich an die Umgebung zu gewöhnen. Die Düsternis weckte seltsame Gefühle in ihr, und die faulige Luft war geeignet, sie zum Übergeben zu reizen. Sie würgte ein paarmal und sah sich dabei furchtsam um. Dann hatte sie ihre angeborene Abneigung gegen den Dschungel überwunden. Langsam ging sie weiter. Von überall her hörte sie die urtümlichen Laute verschiedener Tiere. In den Kronen der Bäume verfing sich der Wind und trug ein unheimliches Pfeifen zu ihr herab. Irgendwo in der Ferne rauschte
ein Wasserfall. Ein leises Raunen, das sich deutlich von den Hintergrundgeräuschen abhob, ließ Zwertelis zusammenfahren. Sie blieb stehen und rührte sich nicht, war bestrebt, nicht die kleinste Bewegung zu machen. Sie kannte die charakteristischen Laute jener Gattung, von der ein Vertreter hinter ihr aufgetaucht sein mußte. Es waren vergleichsweise winzige Tiere, die aber über so viel Kraft in den Kiefern verfügten, daß sie ihren Opfern mühelos die Kehle durchbeißen konnten. Sie besaßen die Fähigkeit, sich fast lautlos fortzubewegen und sich so unbemerkt in greifbare Nähe ihrer Beute zu schleichen. Nur zwei artbedingte Nachteile hatten diese kleinen Räuber. Sie waren blind, und sie stachelten den eigenen Jagdeifer mit jenem Raunen an, sobald sie sicher waren, daß es für das Opfer keine Gegenwehr mehr gab. Nachdem sie diese Eigenheiten erkannt hatte, fiel es Zwertelis nicht schwer, sich darauf einzustellen. Neben den fehlenden Augen ließ auch der Geruchssinn der Tiere zu wünschen übrig. Sie orientierten sich praktisch nur mit ihrem überaus fein ausgeprägten Gehör. Zwertelis wußte also, nachdem der Jäger sich durch einen knurrenden Laut bereits verraten hatte, daß nur noch absolute Bewegungs‐ und Geräuschlosigkeit sie retten konnte. Das kostete Nerven. Sie glaubte förmlich zu sehen, wie der Angreifer hinter ihr verunsichert lauschte und auf ein neues Lebenszeichen seiner Beute wartete. Winzige Insekten verkrochen sich in Zwertelisʹ Fell und erzeugten einen brennenden Juckreiz. Sie mußte sich zusammennehmen, daß sie das lästige Ungeziefer nicht abschüttelte oder sich kratzte. Sie hielt den Atem an und biß die Zähne aufeinander. Nichts hörte sie mehr von dem Räuber. Hatte er sich bereits verzogen, oder wartete er noch? Es war ein Vabanque‐Spiel, wie immer. Wenn sie sich jetzt umdrehte, und der Jäger war noch da, war es um sie geschehen. Sie beschloß, noch einen Moment zu warten, während sie von Insekten
zerstochen und der Juckreiz stärker wurde. Bis jetzt hatte sie immer ein Gespür dafür gehabt, wann die Gefahr vorüber war, aber in dieser düsteren Umgebung schienen sich die Dimensionen der Zeit und des Raumes zu verschieben. Der Zufall kam ihr schließlich zu Hilfe. Es raschelte an ihrer Seite, und der langgestreckte, haarlose Körper eines harmlosen Pflanzenfressers wälzte sich unter einem Farn hervor. Sofort erklang das siegesbewußte Raunen wieder, und Zwertelis beglückwünschte sich, daß sie so lange Geduld bewahrt hatte. Aufatmend schüttelte sie sich, als der kleine Räuber sich auf das ahnungslose Tier stürzte, es mit einem kräftigen Biß tötete und sich gierig über die erlegte Nahrung hermachte. Darüber vergaß er alles andere, was in seiner Umgebung vor sich ging. Zwertelis konnte sich ungefährdet entfernen. Wachsam Ausschau haltend, drang sie tiefer in das Dickicht ein. Ihre Suche ging weiter. * In dieser aus den Fugen geratenen Kunstwelt fühlte sich Zwertelis isoliert. Sie hielt sich für das einzige Wesen, das extrem friedfertig auf den Kontakt mit anderen Arten reagierte. Lieber ergriff sie die Flucht, als es auf einen mörderischen Kampf ankommen zu lassen. Wenn sie andere angriff oder tötete, dann höchstens in einer Situation, die ihr keine andere Wahl ließ, oder weil sie nicht allein von Beeren und Grünzeug leben konnte. Ihr Leben hatte sie der Suche nach ihren Kindern verschrieben, ohne sicher zu sein, daß sie jemals Erfolg haben würde. Wer waren ihre Nachkommen, wo waren sie, wie sahen sie aus? Sie wußte es nicht. Äußerlich ähnlich waren sie ihr wahrscheinlich nicht, aber vielleicht hatten sie etwas von ihrem zurückhaltenden Wesen mitbekommen. Es mochte das einzige Kriterium sein, das ihr als Anhaltspunkt dienen konnte.
Manchmal erschien ihr die Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatte, unlösbar. Zu reich war die Artenvielfalt auf Cyrsic, um mit Bestimmtheit sagen zu können, welche Lebensform erbbiologisch von einer anderen abstammte. Dennoch gab Zwertelis nicht auf. Rastlos durchstreifte sie den Kontinent, unermüdlich suchte sie weiter, begab sich wieder und wieder in tödliche Gefahr, um ihre Nachkommenschaft ausfindig zu machen. Dabei wußte sie selbst nicht, zu welchem Volk sie gehörte, wie sie früher ausgesehen hatte. Verschiedentlich glaubte sie sich an ein Leben vor dem jetzigen zu erinnern, daran, daß sie unter künstlichem Einfluß unzählige Abkömmlinge geboren hatte. Dann tauchten blasse Bilder der Vergangenheit vor ihrem geistigen Auge auf, Bilder aus einem früheren Dasein; und schwarze Schatten glitten auf sie zu, vor denen sie sich innerlich versteifte. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte einer von ihnen, aber die kühle Distanziertheit, mit der er sprach, strafte seine Worte Lügen. »Du wirst diesen Raum lebend und gesund wieder verlassen.« Zwertelis hätte ihm auch nicht geglaubt, wenn er seiner Stimme einen freundlicheren Akzent verliehen hätte. Auf dem Flug hierher hatte sie mitbekommen, daß das Ziel ihrer Entführung der Planet Cyrsic war. Von dort, aus dem Gul‐Goar‐Zentrum an der Küste des Binnenmeeres Sulumc, gab es keine Rückkehr. Überall im Marantroner‐Revier war bekannt, daß die Scuddamoren hier im Auftrag des Neffen Chirmor Flog neben technischen auch genetische Experimente durchführten, und niemand, den sie jemals nach Cyrsic gebracht hatten, war später wieder aufgetaucht. »Ihr lügt!« warf sie den Schattengestalten vor. Sie bäumte sich auf und versuchte die Fesseln zu zerreißen, mit denen sie an die Liege gekettet war. Es gelang ihr nicht. »Ihr wollt mich für eure teuflischen Machenschaften mißbrauchen!« »Es wird dir nichts geschehen«, versicherte ein Scuddamore. »Versuche dich zu entspannen.« »Nichts werde ich tun!« schrie sie in wilder Verzweiflung. »Was gibt
euch das Recht, ein denkendes Individuum zu quälen und es für eure widerlichen Versuche zu verwenden?« »Das Gesetz des Neffen«, erwiderte der Scuddamore kalt. »Da du nicht bereit bist, uns zu glauben und Einsichtigkeit zu zeigen, sind wir gezwungen, dein Bewußtsein für eine Weile auszuschalten.« Drohend rückten die Schatten näher und beugten sich über sie. Zwertelis schrie, ohne sich wehren zu können. Die Düsternis, die die Scuddamoren auch in psychischer Hinsicht ausstrahlten, schloß sich um sie wie die Pflanzenwelt des Dschungels, durch den sie sich bewegte. Noch war kein weiterer Angriff erfolgt, und sie wunderte sich, daß die Natur so lange ruhig blieb. Der Aufruhr von Flora und Fauna fand in fast genau abschätzbaren Zeiträumen statt, und sie überlegte, daß das lange Stillhalten ihrer Gegner eigentlich nichts Gutes bedeuten könnte. Sie war jedoch entschlossen, die Zeit der Ruhe zu nutzen, und verstärkte ihre Bemühungen, möglichst zügig voranzukommen. Bald aber spürte sie die Schwäche, die sich in ihr ausbreitete. Mit letzter Kraft kletterte sie den rissigen Stamm eines Baumes hinauf und legte sich in einer Astgabel nieder. Hier fühlte sie sich relativ sicher. Müdigkeit umfing sie, und während sie einschlief, kroch die Erinnerung wieder in ihr auf. Zwertelis war schwach und ausgelaugt, von einer gewissen Gleichgültigkeit beseelt, und die Stimmen der Scuddamoren drangen wie aus weiter Ferne in ihr Bewußtsein. »… aus Zellkulturen ihres jetzigen Körpers neue Wesen heranzüchten … nicht sehr gewagt, weil ihr Geist erhalten bleiben müßte … weiteres Experiment … Körper eines Tieres, um zu sehen, wie ein intelligentes Individuum damit zurechtkommt … sie es überlebt, ist das der Beweis, daß es nicht auf die äußere Erscheinung ankommt … nur den Intellekt … nicht mehr warten … dennoch größte Bedenken … endlich anfangen …« Es war das einzige, was Zwertelis aus ihrem alten Leben in das neue mit hinüber nahm. Tiefe Bewußtlosigkeit und süßes Vergessen umfingen sie. Als sie erwachte und die Dunkelheit langsam wich, war alles anders. Zunächst begriff sie nur, daß sie lebte. Dann fühlte sie sich gepackt und
von der Liege gehoben. Ein Scuddamore stellte sie behutsam auf die Füße. »Du bist frei, Zwertelis«, sagte er. Ungläubig blickte sie an dem Schattenwesen hoch. Etwas stimmte nicht, sie spürte es. Vage erinnerte sie sich daran, daß sie schon Scuddamoren gesehen hatte, die genauso groß waren wie sie. Mißtrauen erwachte in ihr, aber sie war noch nicht fähig, die Gedanken zu sortieren und die richtigen Schlüsse zu ziehen. Klein und unbedeutend kam sie sich vor, sehr klein … Sie machte einen Schritt nach vorn, um die erschlafften Muskeln zu trainieren. Doch ihr Körper gehorchte den motorischen Impulsen des Gehirns nicht vollständig. Ungeschickt torkelte sie umher, bis sie allmählich lernte, die vier Beine im richtigen Rhythmus zu belasten. Ein unbestimmter Eindruck sagte ihr, daß ihr das Laufen mit nur zwei Beinen erheblich leichter gefallen wäre. »Sie gewöhnt sich sehr schnell daran«, hörte sie die Bemerkung eines Scuddamoren. »Ich hätte geglaubt, daß die Umstellung länger dauert.« »Ja«, stimmte ein anderer zu. »Wir können zufrieden sein.« Zwertelis erkannte die volle Wahrheit noch immer nicht. Sie hatte sich verändert, nur das war sicher. Sie war klein, ging auf vier Beinen … was hatten die Scuddamoren mit ihr angestellt? War ihre Anatomie bis vor kurzem nicht völlig anders gewesen? War sie noch Zwertelis – oder irgend etwas? »Wer bin ich?« fragte sie leise. Selbst ihre Stimme, stellte sie erschrocken fest, besaß einen seltsamen, fremdartigen Klang. »Du bist Zwertelis.« Natürlich – das wußte sie selbst. Aber wer war sie wirklich? Die Überzeugung, daß eine gravierende Änderung bei ihr eingetreten war, wuchs beständig, aber je sicherer sie sich dessen wurde, desto unbedeutender erschien es ihr. Plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, diesen Raum so schnell wie möglich zu verlassen. Ringsum erhoben sich medizinischtechnische Geräte, es herrschte eine nüchterne, unpersönliche Sterilität. Sie fühlte sich eingeengt und bedrückt. Sie mußte fort. »Kann ich gehen?« fragte sie.
»Du bist frei«, bekräftigte einer der Scuddamoren, »und kannst gehen, wohin du willst.« »Ich möchte nach …«, setzte sie an, doch dann versagte ihre Stimme. Sie wußte nicht mehr, woher sie kam, wie die Bezeichnung ihrer Heimatwelt lautete. Die Scuddamoren mußten ihr einen großen Teil der Erinnerung genommen haben. Verwirrt wandte sie den Kopf – und blickte auf eine glatte Fläche blanken, silbrig glänzenden Metalls, in der sich ihr Körper spiegelte. Sie war wirklich klein, stellte sie fest, keine achtzig Zentimeter hoch, und ihre anatomischen Merkmale waren ganz anders, als Zwertelis selbst es sich vorgestellt hatte. Sie war rundlich und durchgehend behaart. Das dichte Fell besaß auf dem Rücken und der Außenseite der vier Beine eine rote Färbung mit einer Reihe schwarzer Punkte entlang der Wirbelsäule; auf der Bauchseite und im Gesicht war es hellgrau. Rundliche Ohren lagen seitlich am Kopf an, und über einer schwarzen Stupsnase saßen große, honigfarbene Augen. Die Beine, die in sechszehigen Pfoten endeten, erschienen ihr im Verhältnis zum übrigen Körper viel zu lang, und die Mundpartie mit einem nur leicht nach hinten geschwungenen Gebiß verstärkte den Eindruck der Künstlichkeit, der Unvollkommenheit noch. Das war sie: Zwertelis! Ein Tier, zweifellos, mit einem Körper, der ihr nicht vertraut war, der künstlich geschaffen schien, aber ausgestattet mit dem wachen Geist eines Intelligenzwesens. Seltsamerweise fiel es ihr nicht schwer, sich so zu akzeptieren, wie sie jetzt war. Ändern konnte sie ohnehin nichts. Und wie der Name ihrer Heimat war, wo sie herkam … war es nicht unwichtig? Mochte es nicht vernünftiger sein, sich eine Aufgabe zu suchen, dem neuen Leben einen Sinn zu geben? Ruhig und gefaßt wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab. »Wo ist mein Zuhause?« »Es ist hier«, sagte ein Scuddamore. »Auf Cyrsic.« Jede andere Antwort hätte sie überrascht. Alles auf dieser Welt war künstlich geschaffen. Jede Pflanze, jedes Tier, selbst die Atmosphäre war
Produkt gezielter Manipulation. Auch sie, Zwertelis, gehörte jetzt dazu. Das Gul‐Goar‐Zentrum verließ sie ohne Groll. Sie würde zurechtkommen, dessen war sie sicher. Die Erinnerungen, die sie manchmal überfielen, schmerzten nicht. Es waren nur Bruchstücke, Fetzen eines anderen Lebens, Schlaglichter auf Vergessenes. Ihre Vergangenheit hatte sie verloren, und sie wußte, daß sie sie nie würde zurückholen können. Sie konzentrierte sich auf die Gegenwart, auf die Suche nach ihren Kindern, nach jenen Geschöpfen, die aus ihrem früheren Körper gezüchtet worden waren. Leicht war das nicht, weil die körperlichen Erscheinungsformen der auf Cyrsic lebenden Individuen allein keine gültigen Maßstäbe setzten. Eine weitere Schwierigkeit kam hinzu, mit der sie anfangs nicht gerechnet hatte. Sie hatte das Forschungszentrum in dem Glauben verlassen, auf Gleichgesinnte zu treffen, mit denen sie sich zusammentun konnte. Doch schon bald mußte sie feststellen, daß sie in dem Kunstdschungel offenbar das einzige Wesen war, das über Intelligenz verfügte. Niemand außer ihr besaß einen funktionierenden Verstand, und nachdem sie das erkannt hatte, nannte sie sich selbst die Denkende. Irgendwann, als sie gerade damit begonnen hatte, ihrer Suche ein bestimmtes Schema zugrunde zu legen, brach die Katastrophe über Cyrsic herein. Anscheinend hatten die Wissenschaftler im Gul‐Goar‐ Zentrum mit etwas experimentiert, dessen Handhabung sie selbst nicht verstanden. Von unbekannter Strahlung angeregt, verwandelte sich das Land in eine Hölle. Tiere und Pflanzen vergaßen ihren Lebensrhythmus und gebärdeten sich völlig unberechenbar. Allein Zwertelis blieb von dieser Entwicklung verschont, und sie hatte große Mühe, ihr Leben zu verteidigen. Seitdem geriet die Kunstnatur immer wieder aus den Fugen, in mehr oder weniger gleichmäßigen Zeitabständen. Je länger die Phase der Unruhe auf sich warten ließ, mit desto größerer Heftigkeit gestaltete sie sich schließlich. Zwertelis war deshalb keineswegs zufrieden, als sie auf ihrer Astgabel erfrischt und gestärkt erwachte
und ringsum immer noch alles ruhig schien. Die Zeit der Erholung währte nun schon bedenklich lange. Wenn sie zu Ende war, würden die Ereignisse sich überschlagen. Zwertelis blickte nach oben. Durch eine winzige Lücke im Blätterdach fiel ein schmaler Streifen blauen Lichtes. Sie schätzte, daß die Sonne im Zenit stand. Es war fast unerträglich heiß. Nur vereinzelt hörte sie den Schrei eines Tieres. In dieser stickigen Schwüle zogen es selbst die raublustigsten Bestien vor, sich einen halbwegs angenehmen Platz zum Ausruhen zu suchen. Es war eine günstige Zeit, weitgehend unbehelligt voranzukommen. Zwertelis kletterte den Stamm hinunter und machte sich auf den Weg. Eine unbestimmte Ahnung sagte der Denkenden, daß sie Aussichten hatte, heute das Ziel ihrer Suche zu erreichen … wenn die Natur so lange stillhielt. 3. »Da sitzen sie zusammen und hecken finstere Pläne aus«, lästerte der Zwerg, während er seinen Kugelkörper hüpfend durch den Eingang dirigierte. »Wird man neuerdings zu den Diskussionsrunden nicht mehr eingeladen?« »Du bist immer willkommen, Tamater«, versicherte Faderkyhl freundlich und machte eine einladende Geste. »Setz dich zu uns!« Mit allen vier Armen winkte der Zwerg ab. »Nicht doch! Wenn ihr Geheimnisse zu besprechen habt, will ich nicht stören.« Allein die Tatsache, daß er das Sprachorgan benutzte, das dem Zustand der Ruhe und Ausgeglichenheit vorbehalten war, bewies, daß er seine Entrüstung nur vortäuschte. Er wollte sich wichtig machen, weiter nichts. »Spiel nicht den Beleidigten«, sagte der Camagur und drehte den Kopf so, daß er den Zwerg trotz seines stark begrenzten Blickfelds
sehen konnte. Die Facetten seiner Augen leuchteten in allen Farben. »Der Noot und ich haben uns zufällig hier getroffen. Du hast keinen Grund, dich zurückgesetzt zu fühlen.« Dem Tamater reichte diese Aussage, um seine gespielte Haltung zu ändern. Er setzte sich mit seinen kurzen, dünnen Beinchen wieder in Bewegung und hüpfte auf die Freunde zu. Die Halle, in der sie sich befanden, hatte früher als Lagerraum Verwendung gefunden, aber das knappe Dutzend Passagiere an Bord der ZIEMEN hatte sie schnell zu einer Stätte der Begegnung umfunktioniert. Wenn es etwas zu besprechen gab oder man einfach der Einsamkeit entfliehen wollte, traf man sich hier. Da das ästhetische Empfinden jedes einzelnen naturgemäß sehr unterschiedlich war, hatte man darauf verzichtet, den Raum umzugestalten oder mit Einrichtungsgegenständen aus den eigenen Kabinen zu versehen. Man hatte ihn belassen, wie er war: weitgehend kahl, mit einigen leeren, unbenutzten Containern an den Wänden. Zwischen zweien dieser kastenförmigen Behälter entdeckte der Tamater den Unheimlichen. Beinahe hätte er ihn übersehen, denn er verbarg sich geschickt in dem schmalen Zwischenraum. Abrupt blieb der Zwerg stehen und schaute genauer hin, um sicherzugehen, daß er sich nicht täuschte. Er war keinem Irrtum aufgesessen. Da lauerte es, jenes unheimliche, stumme Wesen, das aus sechs tentakelbewehrten, ineinander verflochtenen Stangen bestand. Der Tamater richtete die Augen des Sehkranzes anklagend auf Faderkyhl. »Was soll das denn?« fragte er gedehnt. »Ist dem Alten endlich aufgefallen, daß du nicht normal im Kopf bist?« »Tu nicht so unschuldig!« fuhr der Noot ihn an. »Ihr habt alle gewußt, daß ich den Plan hatte, zu Tolfex vorzudringen. Keiner von euch hat ihn mir ausgeredet. Eure Neugier war genauso groß wie meine, nur hattet ihr nicht den Mut, etwas zu unternehmen.«
»Wozu auch!« gab der Tamater zurück. Jetzt benutzte er die zweite Sprechblase, die Hektik oder Aggressivität signalisierte. »Du siehst ja, was wir davon haben. Wir können nichts mehr tun, ohne daß dieses Ding hinter uns her schnüffelt.« »Der Todesbote beobachtet mich, niemanden sonst«, berichtigte Faderkyhl ruhig. »Du kannst unbesorgt sein.« Diese Auskunft stimmte den gelbhäutigen Zwerg schon wieder versöhnlicher. Er warf dem Todesboten einen scheuen Blick zu und trat dicht an Faderkyhl heran. »Hast du wenigstens etwas herausgefunden?« flüsterte er. »Nein«, antwortete der Noot. »Es ist auch nicht wichtig, wie Tolfex aussieht. Maßgebend ist nur, daß er uns sicher ans Ziel führen wird und uns unserer Bestimmung übergibt. Und das wird er tun.« Der Tamater hüpfte aufgeregt einen Schritt zurück. »Manchmal kann ich es kaum erwarten«, bekannte er. »So geheimnisvoll sich alles anläßt, bin ich doch froh, auf diesem Schiff zu sein und mit ihm durch die Galaxis zu fliegen.« »Das geht uns allen so«, sagte der Camagur. »Es ist aber kein Grund, sich aufzuführen wie ein Irrwisch.« »Es gibt Leute, die ihrer Freude temperamentvollen Ausdruck verleihen können«, erklärte der Tamater herablassend, während er weiter umhersprang. »Andere sitzen träge herum und geben nur ab und zu ein Lebenszeichen von sich, indem sie den Kopf etwas zur Seite neigen und gehässige Kommentare produzieren.« Der Camagur richtete sich zu seiner vollen Größe auf und hob langsam eines seiner Stelzenbeine. »Jetzt reicht es, du zänkischer Zwerg!« knurrte er drohend. »Noch ein freches Wort, und ich versetze dir einen Tritt, daß du dem Todesboten direkt in die Tentakel fliegst.« Es würde sich nie ergründen lassen, was den Tamater am meisten beeindruckte: die enorme Körpergröße des anderen, der starre Blick, das gemächlich pendelnde Bein oder die Aussicht, mit dem Stangenwesen in direkte Berührung zu kommen. Wie auch immer –
der Zwerg stellte seine Gebärden ein, produzierte einen krächzenden Ton der Verachtung und entfernte sich betont langsam und würdevoll. »Da geht er hin und ist beleidigt«, sagte Faderkyhl. Er sah dem Kleinen nach, der sein stolzes Gebaren nicht lange durchhielt. Noch bevor er in den Korridor vor der Lagerhalle eingebogen war und sich ihren Blicken entzogen hatte, begann er in gewohnter Weise, sich hüpfend fortzubewegen. »Hoffentlich haben wir ihn nicht gekränkt. Es würde mir leid tun.« »Er hat ein dickes Fell«, beruhigte ihn der Camagur. »Vor allem ist er ein exzellenter Schauspieler.« Auch der Noot vermochte sich nicht ernsthaft vorzustellen, daß zwischen den Passagieren der ZIEMEN jemals größere Differenzen auftreten könnten. Zu tief war die Zufriedenheit, die Fröhlichkeit, die unter ihnen herrschte. Seit sie hier zusammengekommen waren, benahmen sie sich wie alte Freunde oder gute Bekannte. Meinungsverschiedenheiten gab es selten, und wenn, waren sie so geringfügig, daß sie die Harmonie nicht störten. Sie waren eine Clique, die so schnell niemand auseinanderbringen würde. Nicht einmal die Gegenwart des Todesboten, den Tolfex auf ihn angesetzt hatte, beunruhigte Faderkyhl. Er wußte, daß er sich etwas zuviel herausgenommen hatte, und fand die Maßnahme des Koordinators durchaus berechtigt. Das Stangenwesen beobachtete ihn, das war alles, und es gab ihm durch seine Anwesenheit zu verstehen, daß weitere Verbotsübertretungen weniger nachsichtig geahndet werden würden. Aber der Noot hatte ohnehin nicht die Absicht, sich nochmals unbeliebt zu machen. Manchmal erschien ihm seine sorglose Heiterkeit ungewöhnlich und realitätsfremd, doch solche Anwandlungen pflegte er sogleich zu unterdrücken. Als der Boden leicht zu zittern begann und die Arbeitsgeräusche der Schiffsmaschinen sich geringfügig änderten, blickte er auf. »Die ZIEMEN verzögert«, stellte er fest. »Das bedeutet, daß wir
einen weiteren Planeten anfliegen.« Der Camagur machte eine zustimmende Geste. »Wahrscheinlich will Tolfex einen neuen Passagier aufnehmen.« * Die Mission stand unter einem schlechten Stern. Tolfex begriff es, als die Monitoren aufflammten und die ersten Bilder von Cyrsic übermittelten. Alles schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Das Gul‐Goar‐Zentrum lag in Trümmern. Vom Dschungel teilweise überwuchertes Gemäuer, geöffnete Schotte, Brandspuren und klaffende Lecks waren sichtbare Zeichen blinden Zerstörungswerks. Keines der Gebäude war mehr intakt. Die Hoffnung, daß das Rechenzentrum Gittzo noch brauchbare Daten liefern würde, war minimal. Tolfex wußte, daß auch für die auf Cyrsic herrschenden Zustände Atlan verantwortlich war. Dieser geheimnisvolle Fremde hatte überall, wo er auftauchte, Unruhe gesät und Tod und Vernichtung heraufbeschworen. Selbst ihm, dem Koordinator der Ewigkeit, war es nicht gelungen, den Rebellen auszuschalten. Die Erinnerung war klar und deutlich. Die letzte Begegnung mit Atlan, der sich selbst einen Arkoniden nannte, hatte er gehabt, als er den Gersa‐Predogg Achtpforg und 24 Scuddamoren aus dessen Gewalt befreit und den Aufrührer mit zweien seiner Freunde an Bord eines manövrierunfähigen Organschiffs zurückgelassen hatte. Durch mysteriöse Umstände war es dem Arkoniden gelungen, sich ins Rghul‐Revier durchzuschlagen und dort weitere Umtriebe zu starten. Tolfex war überzeugt, daß er immer noch am Leben war. Die Absicht, ihn zu verfolgen und schließlich doch noch zu stellen, hatte er jedoch aufgeben müssen, als der Dunkle Oheim den Befehl gab, in dessen Ausführung er hier war. Dies besaß Vorrang. Tolfex hatte Achtpforg und die Scuddamoren abgesetzt, war von seinem
Organschiff auf ein Sternenschiff übergewechselt und hatte sich seiner Aufgabe gewidmet. Jetzt zeigte sich, daß die Schatten seines Erzfeinds Atlan ihn überall verfolgten. Selbst hier, im Orbit um Cyrsic, hatte er keine Ruhe vor ihnen. In diesem Moment nahm er sich vor, sobald er den Auftrag des Dunklen Oheims erledigt hatte, die Spur des Arkoniden wieder aufzunehmen. Irgendwann und irgendwo würde er ihn aufspüren, und er würde ihn notfalls durch die gesamte Galaxis jagen, bis er ihn gestellt und vernichtet hatte. Sein Haß war grenzenlos, und nur die Bewegung, die er auf einem der Bildschirme wahrnahm, veranlaßte ihn, seine Gedanken wieder in nüchternere Bahnen zu lenken. Dort unten schienen noch Wissenschaftler zu leben, die dem Chaos entgangen waren. Vielleicht verfügten sie über Informationen, die ihm weiterhelfen konnten. Er bemühte sich, eine Funkverbindung zustande zu bringen, aber alles, was er auf den Monitor bekam, waren flirrende und rauschende Störungen. Es würde ihm nichts übrig bleiben, als einige seiner Roboter hinunterzuschicken, damit diese mit den Überlebenden Kontakt aufnehmen konnten. Über die Bildschirme verfolgte er die Aktion. Er sah seine stählernen Diener in Form schwarzer Punkte durch die Atmosphäre schweben und in unmittelbarer Nähe des Forschungszentrums niedergehen. Sofort nahmen sie die Suche auf, durchkämmten Teile des Dschungels und drangen in die Trümmer des Gul‐Goar‐ Komplexes ein. Die Aufnahmen, die Tolfex übermittelt bekam, führten ihm das ganze Ausmaß der Katastrophe deutlich vor Augen. Überall sah er Spuren sinnloser Zerstörung, zerfetzte Geräte, demolierte Aggregate, eingeschlagene Scheiben und zertrümmertes wissenschaftliches Material. In vielen Räumen hatten sich Pflanzen eingenistet. Verschiedene Tiere hausten in dunklen Nischen oder unter breiten Blättern; einige von ihnen waren derart aggressiv, daß
die Roboter Mühe hatten, sie abzuwehren. Draußen, im Dschungel, war die Situation eher noch schlimmer. Dauernd stürzten sich angriffswütige Kreaturen auf die Erkunder. Einer der Roboter verging in einer grellen Stichflamme, als er von drei Seiten gleichzeitig überfallen wurde. Einem anderen wurde von einer sich auf ihn stürzenden Bestie das kugelförmige Steuerzentrum weggerissen. Schon war Tolfex geneigt zu glauben, daß die Bewegung, die er vorhin wahrgenommen hatte, einer optischen Täuschung entsprungen war oder von einem der vielen Tiere stammte – da wurde überraschend ein Scuddamore aufgespürt. Er kroch aus einer Bodenhöhle, die durch sorgsam darüber geschichtetes Blattwerk vor neugierigen Blicken geschützt war, und bewegte sich zielstrebig auf den Roboter zu. Die Maschine blieb stehen und erwartete ihn. »Endlich!« war das erste, was er sagte. Der Schattenschild dämpfte seine Stimme, dennoch war Tolfex sicher, daß sie erleichtert klang. »Wir dachten schon, es würde sich niemand mehr um uns kümmern.« Auch hier wurde deutlich, wie viel die Scuddamoren unter dem Eindruck einer unvorhergesehenen, nicht mehr kontrollierbaren Entwicklung von ihrer unbeugsamen Härte und Selbstsicherheit verloren. Sie waren sture Befehlsempfänger, gedrillt auf absoluten Gehorsam, und das Ausbleiben von Anordnungen und Verhaltensmaßregeln verursachte einen inneren Konflikt, den sie allein nicht zu lösen vermochten. Plötzlich wurden sie weich, anfällig und ängstlich, warteten nur noch darauf, daß ihnen jemand sagte, was sie zu tun hatten. Fast zwangsläufig kam es dabei unter ihnen zu Differenzen, weil sie, auf sich alleine gestellt, gezwungen waren, eigene Initiative zu entwickeln, wenn sie überleben wollten, und dennoch keiner bereit war, Vorschläge oder Ideen eines anderen zu akzeptieren. Das war das Dilemma, dem sich momentan alle Scuddamoren im Marantroner‐Revier gegenübersahen. Es war der Grund, warum im Herrschaftsbereich Chirmor Flogs die
Ordnung allmählich zerbrach. »Kannst du Verbindung mit deinem Herrn aufnehmen?« hörte Tolfex den Scuddamoren fragen. Es klang gequält und ungeduldig. »Wir möchten mit ihm reden.« Der Koordinator schloß seine Überlegungen ab. Es hatte keinen Sinn, einer verlorenen Ordnung nachzutrauern oder sich in zunehmender Bestürzung über die geistige Labilität der Scuddamoren zu ergehen. Nur wenn er seinen Auftrag schnell und gewissenhaft erfüllte, würden sich die Zustände ändern lassen. Er schaltete sich direkt in das Kommunikationssystem des Roboters ein. »Du bist nicht allein?« ging er auf die letzte Frage des Scuddamoren ein. Die Membrane der Maschine übertrug seine gedachten Worte ins Garva‐Guva. »Natürlich nicht. Einige von uns haben durchgehalten und die Hoffnung auf Rettung nicht aufgegeben. Wir ahnten, daß uns der Neffe nicht im Stich lassen würde.« »Der Neffe lebt nicht mehr«, eröffnete Tolfex. Er sah keinen Grund, es zu verschweigen. Allerdings ertappte er sich dabei, daß es ihm eine geradezu animalische Freude bereitete, das Ableben Chirmor Flogs allen Wesen zu eröffnen, die in kritikloser Primitivität an die Allmacht des Revierherrschers glaubten. »Er kann euch nicht mehr helfen.« »Vielleicht kann es dein Herr? Laß uns mit ihm reden.« »Ich rede bereits mit dir«, sagte der Koordinator kühl, »über den Roboter, vor dem du stehst.« Die Verwirrung des Scuddamoren war nur kurz. »Wenn der Neffe nicht mehr lebt …«, fragte er zögernd, »wer regiert dann das Marantroner‐Revier?« »Niemand.« »Wer hat dich geschickt?« »Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen.« »Wer bist du?«
»Tolfex.« Hastig fuhr der Schatten einen Schritt zurück. »Tolfex …«, murmelte er beinahe ehrfürchtig. »Ein Koordinator der Ewigkeit …?« »Ja. Der bin ich.« Wieder verspürte der Koordinator heimliche Befriedigung. Auf allen Welten des Reviers war sein Name gefürchtet – so sehr, daß selbst die normalerweise hartgesottenen Söldner des Neffen vor einer Maschine zurückschreckten, die er benutzte, um sich verbal verständlich zu machen. Auch das entschädigte ihn für manchen eigenen Mangel, den er zu erdulden hatte. »Berichte, was auf Cyrsic geschehen ist«, verlangte er. Der Scuddamore fing sich schnell wieder und fügte sich der Autorität des Koordinators. Er schilderte die Versuche einiger Spezialisten, eine Apparatur zu entwickeln, die die Strahlung von Atlans Zellaktivator nachahmte. Die Experimente waren gescheitert. Anstatt eine heilende Wirkung zu entfalten, hatten die künstlichen Emissionen die Natur des Planeten in Aufruhr versetzt. Auch die Scuddamoren waren dem Einfluß erlegen und hatten sich wie Verrückte gebärdet. »Heißt das«, hakte Tolfex ein, »daß ihr das Gul‐Goar‐Zentrum selbst zerstört habt?« »Ja«, gab der Scuddamore zu. »Wir hatten jede Kontrolle über uns verloren. Wir wußten nicht mehr, was wir taten.« Damit wurde dem Koordinator klar, daß der Arkonide nicht in erster Linie für die Katastrophe verantwortlich war. An seinem Haß änderte es nichts. »Ihr werdet euch zu gegebener Zeit für eure Fehler verantworten müssen«, eröffnete er dem Scuddamoren. »Warum habt ihr, nachdem die Strahlung abgeklungen war, die Zerstörungen nicht beseitigt und Bemühungen zum Wiederaufbau unternommen? Material dazu ist in Fülle vorhanden. Statt dessen laßt ihr es zu, daß der Dschungel den Forschungskomplex überwuchert.«
»Seit dem Unglück«, versuchte sich das Schattenwesen zu verteidigen, »geschehen hier in regelmäßigen Zeitabständen Dinge, über die wir keine Kontrolle mehr haben. Die Natur spielt verrückt. Woran es liegt, daß die Verhältnisse sich nicht mehr normalisieren, wissen wir nicht, aber alle unsere Bemühungen haben sich als sinnlos erwiesen. Die angerichteten Zerstörungen sind zu groß, als daß wir sie beseitigen könnten, bevor die Umwelt wieder zuschlägt.« Es hörte sich an wie das schlechte Plädoyer eines mittelmäßigen Pflichtverteidigers am Obersten Gericht von Säggallo. Dennoch glaubte Tolfex dem Scuddamoren. »Wieviel Mann seid ihr noch?« wollte er wissen. »Fünf in dem Versteck, das auch ich benutze«, antwortete der Schatten bereitwillig. »Es ist aber anzunehmen, daß an anderen Orten sich weitere Überlebende verborgen halten.« »Gut. Ihr müßt zusehen, daß ihr weiter zurechtkommt. Ich werde dafür sorgen, daß euch so bald wie möglich Hilfe gewährt wird.« »Du willst uns nicht von hier fortholen?« fragte der Scuddamore mit hörbarer Panik in der Stimme. »Nein.« Bevor der andere sich zum Bittsteller erniedrigte, unterbrach Tolfex die Verbindung. Er sah den Scuddamoren vor dem Roboter auf und ab laufen, aber er hörte dessen Stimme nicht mehr. Er konnte nicht helfen und hatte keine Lust, sich in eine Diskussion darüber einzulassen. In seiner animalischen Angst und jäh enttäuschter Hoffnung stürzte sich das Schattenwesen auf die Maschine, die sich schweigend abwendete. Der harte Schlag eines stählernen Gelenks schleuderte es zurück, ließ es taumeln und zu Boden fallen. Es versank in einem dicken Teppich biegsamer Luftwurzeln. Schwerfällig richtete es sich auf, unschlüssig, was es tun sollte. Tolfex konzentrierte sich auf eine andere Szene. Mehrere Roboter waren inzwischen in das Rechenzentrum Gittzo vorgedrungen. Im
Vergleich zu anderen Räumen waren die Zerstörungen hier minimal. Einige Bedienungselemente waren zertrümmert, verschiedene Bildschirme eingeschlagen. Zehn oder zwölf Terminals schienen jedoch noch intakt zu sein. Der Koordinator beorderte die Roboter dorthin, damit sie versuchten, noch vorhandene Daten abzurufen. Der Erfolg war entmutigend. Die Informationen, die ihm überspielt wurden, waren von geringem Wert. Hauptsächlich bezogen sie sich auf langfristige Versuchsprogramme, die von den Wissenschaftlern eingegeben worden waren. Nirgendwo fand sich ein Hinweis auf die Urvölker des Marantroner‐Reviers. Viele Speicher lieferten nur bruchstückhafte oder sichtbar verfälschte Daten, andere waren völlig gelöscht. Äußerlich war Tolfex nicht fähig, eine Gefühlsregung zu zeigen. Innerlich begann er vor unterdrückter Wut zu beben. Bis jetzt war er einer Spur von Zerstörung und Gewalt gefolgt und hatte dabei nur Zeit verloren. Was sollte er noch tun, um den Auftrag ordnungsgemäß abzuwickeln? Würden die zwölf Exemplare, die er an Bord hatte, und einige weitere, von denen er wußte, daß sie die Urform des entsprechenden Volkes repräsentierten und die er in den nächsten Tagen aufzunehmen gedachte, den Dunklen Oheim zufriedenstellen? Nichts hatte er gewonnen durch seinen Abstecher hierher. Verbittert beobachtete er die Roboter, die sich aus dem Gul‐Goar‐ Komplex zurückzogen und sich wieder in das Sternenschiff einschleusten. Sein Blick wanderte über die vielen Bildschirme, die ihm das Innere der ZIEMEN zeigten. In den ausgedehnten Lagerhallen und den Einzelkabinen herrschte ausgeglichene Fröhlichkeit. Der Gemütszustand der Passagiere, den er künstlich herbeigeführt hatte, war stabil. Selbst Faderkyhl, der Noot, nahm von seinen unerlaubten Exkursionen neuerdings Abstand. Der Todesbote ließ ihn keinen Moment aus den Augen.
Vielleicht, überlegte der Koordinator der Ewigkeit, wäre es sinnvoll, noch eine Weile im Orbit um Cyrsic zu bleiben. Mit vielen Wesen aus unterschiedlichen Völkern war hier experimentiert worden, ungezählte Lebensformen tummelten sich im Dschungel der Kunstwelt … Wenn der Zufall es wollte, konnte es ihm doch noch gelingen, aus seiner Anwesenheit Kapital zu schlagen. Aufmerksam beobachten mußte er, keinen Hinweis durfte er außer acht lassen – und wenn er Glück hatte, mochten sich einige Exemplare für seine Sammlung ausfindig machen lassen. Tolfex schöpfte wieder Zuversicht. Er wartete. 4. Die Stimmen des Dschungels waren fast völlig verstummt. Längst hatte die Sonne ihren höchsten Stand überschritten, aber unter dem Blätterdach der Urwaldriesen war es eher noch heißer geworden. Es herrschte Windstille, und die Wärme fing sich hier wie unter einer Glocke. Die Luft war stickig und mit Feuchtigkeit übersättigt. Unter diesen Umständen kam Zwertelis zwar unbehelligt voran, aber ihr Gang wirkte schwerfällig und träge. Aus allen Poren rann ihr der Schweiß, trübte den Blick und verklebte das Fell. Als sie vor sich einen Tümpel erkannte, erschien es ihr wie eine wohlwollende Geste des Schicksals. Das Wasser war klar und sauber. Offenbar wurde der kleine See von einer unterirdischen Quelle gespeist. Einige Stelzenvögel hatten sich am Ufer versammelt und hielten die Köpfe im farbenfrohen Gefieder verborgen. An der gegenüberliegenden Seite trank ein winziges Pelztier mit hastigen Schlucken. Zwertelis überlegte nicht lange. Sie gierte nach Kühlung und Erfrischung. Erwartungsvoll rannte sie los, stob durch eine Wolke tieffliegender Insekten, versuchte im letzten Moment, ihren Lauf zu
bremsen und rutschte über modernden Untergrund in den See hinein. Hoch spritzte das Wasser auf. Die Vögel, aus ihrer Ruhe aufgescheucht, hoben die Köpfe und bemühten sich mit flatternden Flügeln, das Gleichgewicht zu halten. Das Pelztier vollführte einen schnellen Satz und verschwand im Unterholz. Es war eine Wohltat. Zwertelis trank und prustete, wälzte ihren Körper herum und streckte die Beine von sich. Auf dem Rücken ließ sie sich eine Weile treiben, blickte entspannt nach oben, wo ein großer schwarzer Vogel dicht unter den Baumwipfeln seine Kreise zog. Sein Flügelschlag schien unregelmäßig, als würde die instinktgesteuerte Harmonie des Fluges durch irgend etwas gestört. Ein gequältes Krächzen entrang sich seiner Kehle, er verlor deutlich an Höhe. Aus dem Dickicht des Dschungels erscholl ein klagender Schrei. In der Ferne wimmerte ein Tier im Todeskampf. Die Denkende kannte die Zeichen. Es war soweit; die Natur geriet in Aufruhr. Schlagartig schwand Zwertelisʹ Wohlbehagen und machte panischer Angst Platz. Einen letzten Blick warf sie nach oben, erkannte die Absicht des Raubvogels und begann mit den Beinen zu rudern. Das Wasser wurde aufgewühlt, in schneller Bewegung strebten die Wellen von ihr weg. Dann spürte sie festen Boden unter den Pfoten, Sand und rutschige Blattreste erschwerten ihr den Stand, doch es gelang ihr, das Ufer zu erreichen. Kreischend schoß der schwarze Vogel herab, im Sturzflug tauchte er in den Tümpel ein, und sein langer Schnabel bohrte sich tief in den Grund. Hektisch peitschte er mit den Flügeln, bevor er endlich wieder freikam. Zwertelis begriff, daß ihr das Glück wieder einmal zur Seite gestanden hatte. Wäre sie nur eine Sekunde später an Land gekommen, hätte der Raubvogel keine Mühe gehabt, sie mit dem Schnabel aufzuspießen. Jetzt hatte er das Interesse an ihr freilich verloren. Er war anderweitig beschäftigt und selbst in einen Überlebenskampf verstrickt. Die Buntgefiederten, eben noch
friedlich schlummernd, hatten sich auf ihn gestürzt. Die Denkende sah ein wütend schreiendes, zuckendes Knäuel aus dünnen Beinchen, gefiederten Leibern und spitzen Schnäbeln. Grünliche Körperflüssigkeit breitete sich auf dem Boden aus, einzelne Federn stoben in die Höhe. Der Dschungel erwachte zu grausamem Leben. Ringsum erhob sich wildes Rufen, Klagen und Schreien; akustische Äußerungen von Angriff und Verteidigung, von Verfolgung und Flucht, Sieg und Niederlage, von heftigen Auseinandersetzungen, leidenschaftlichen Kämpfen und qualvollem Sterben. Als käme ein seichter Wind auf, begannen Bäume und Kleinpflanzen zu zittern, bewegten sich Blätter und Lianen in unruhigem Takt. Vergessen waren drückende Luft und lähmende Hitze, vergessen die lauernde Ruhe des frühen Nachmittags. Mit elementarer Wucht brach das Chaos über Cyrsic herein. Einen Moment lang fühlte sich Zwertelis von angstvoller Unentschlossenheit ergriffen. Sie wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte, sah sich schnell um, drehte sich im Kreis. Überall quirlende Bewegung, bebendes Erwachen beutegieriger Natur. Noch blieb sie von einem Angriff verschont, aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Schleier der rohen Gewalt sich über sie senkte. Irgendwo ein schwarzer Schatten, der aus der Düsternis des Urwalds hervorbrach, ein röhrender, blutgieriger Schrei. Zwertelis fuhr instinktiv zur Seite. Der massige Körper flog an ihr vorbei, prallte zu Boden und verfing sich zuckend zwischen den schnappenden Kiefern eines riesigen, aus dem Unterholz kriechenden Reptils. Damit war der Bann gebrochen. Zwertelis löste sich aus ihrer Starre und ergriff die Flucht. In der Ferne schimmerte blasses Licht durch das Dickicht. In diese Richtung wandte sie sich, weil sie hoffte, den Dschungel dort am ehesten verlassen zu können. Ihre Schnelligkeit, das wußte sie, war ihre einzige Waffe. Aber sie war
wirkungsvoll. Daß sie noch am Leben war, verdankte sie nur der Tatsache, daß sie auch bei einem überraschenden Angriff blitzartig ausweichen und sich mit rasenden Schritten aus dem Staub machen konnte. Natürlich, wenn die Natur verrückt spielte, war auch das nicht immer gewährleistet. Selbst harmlos aussehende Pflanzen erwachten in dieser Zeit zu unheimlichen Leben und konnten zu einer tödlichen Gefahr werden. Zwertelis war zu größter Aufmerksamkeit und Wachsamkeit gezwungen. Sie wich einem Pulk umherpeitschender Lianen aus, die ein sechsbeiniges Tier umklammert hielten. Hinter sich hörte sie ein pfeifendes Geräusch. Sie schlug einen Haken und spürte den Luftzug, als ein Flugsaurier mit trägem Flügelschlag an ihr vorbeirauschte. Er flog schräg nach oben, krächzte wütend, weil er die sicher geglaubte Beute verfehlt hatte, streifte mehrere Äste und segelte taumelnd durch die Krone eines Baumes. Zwertelis hastete weiter. Schon merkte sie, wie ihre Kräfte erlahmten. Die Anstrengung und die brütende Hitze setzten ihr zu. Mehrmals rutschte sie auf dem feuchten Untergrund aus und hatte Mühe, schnell wieder auf die Beine zu kommen. Eine fette Schlange, die sich ihr züngelnd entgegenreckte, schleuderte sie mit einem harten Tritt zur Seite. Brennender Schmerz breitete sich in ihr aus, als sich ein übermäßig großes Insekt surrend in ihrer Haut feststach. Aufrecht gegen einen Baumstamm gelehnt, schabte sie es aus dem Fell. Unter ihr bebte der Boden. Blätter, abgebrochene Äste und Moder wölbten sich nach oben, dicke Brocken schimmeligen Erdreichs flogen meterweit davon, biegsames Wurzelwerk löste sich und peitschte wild durch die Luft. Ein heftiger Schlag schleuderte Zwertelis zur Seite. Sie schrie auf, sah ein feuerrotes Gebilde, das sie für eine Pflanze gehalten hatte, ungelenk auf sich zutappen. Neue Kraft, von Todesangst freigesetzt, breitete sich in ihr aus. Sie raffte sich auf und floh. Der gellende Schrei einer sterbenden Kreatur
drang ihr durch Mark und Bein und trieb sie weiter an. Überall war Chaos, überall waren tosende Geräusche und fließende Bewegung. Tiere, ineinander verkeilt und verbissen, fliehend, Beute schlagend, kämpfend, mordend. Pflanzen, sich wiegend, aufbäumend, wandernd, jagend. Inmitten der Turbulenzen sie, Zwertelis, unbeeinflußt, normal geblieben, sehend, ausweichend, Rettung suchend. Durch den Tumult einer aufgewühlten und sämtlicher Fesseln entledigten Natur raste sie weiter, schwitzend, keuchend und mit letzter Kraft. Der Lichtschimmer vor ihr wurde deutlicher. Da war ihre Chance, den Aufruhr hinter sich zu lassen. Sie hetzte darauf zu, war einen Moment lang unachtsam und wurde von einem heftigen Schlag von den Beinen gerissen. Sie hörte gieriges Knurren, roch den heißen, stinkenden Atem des Angreifers und blickte, als sie sich herumwälzte, in leuchtende, rote Augen. Voller Panik jaulte sie auf. Eine Reihe scharfer Zähne senkte sich auf sie herab, suchte ihre Kehle und stieß kraftvoll zu. Sie spürte nichts. Eine unkontrollierte, nicht vom Verstand gesteuerte Bewegung ihrer Läufe hatte die Bestie zur Seite gedrückt und den tödlichen Biß in faulendes Blattwerk gelenkt. Energisch zappelnd, löste sie sich aus der Umklammerung und jagte davon. Nicht mehr lange, und sie würde erschöpft zusammenbrechen. Nur die Aussicht, diesen Hexenkessel bald verlassen zu können, hielt sie noch aufrecht. Sie stolperte über eine Luftwurzel, die sich ihr in den Weg warf, und landete weich auf einem großen, schalenförmig nach oben gekrümmten Blatt. Sie wußte, was geschehen würde, und schnellte sich mit einem gewaltigen Satz davon. An den Rändern des Blattes bildeten sich scharfe Stacheln, die sich langsam, aber unerbittlich nach innen und unten senkten. Eine tödliche Falle, der jedes Lebewesen zum Opfer fiel, das nicht schnell genug reagierte. Zwertelis raste an einer kleinen Quelle vorbei, deren klares Wasser zum Gegenstand der Auseinandersetzung dreier unterschiedlich
gearteter Tiere geworden war. Sie sprang über ein Knäuel ineinander verflochtener Schlangen und hetzte einen Hügel hinab. Immer deutlicher wurde der Lichtschein, und etwas sagte ihr, daß sie dort Sicherheit finden würde. Sie spürte die Müdigkeit und die Schlappheit, die sich in ihren Muskeln ausbreitete, während die entsetzlichen Schreie des gewaltsamen Todes allmählich leiser wurden. Dann, kaum noch unerwartet, stand sie am Rand einer Lichtung, inmitten eines schüssel‐förmigen Tales. Erschöpft hielt sie inne. Unbewußt erfaßte sie, daß sie hier mit keinem Angriff zu rechnen hatte. Sie ließ das Bild auf sich einwirken, schöpfte neuen Mut – und spürte die friedliche Euphorie, die auf sie einstürmte. Sie war nicht fähig, sich ihrer Schwäche hinzugeben und auszuspannen, abzuschalten. Was sie sah, machte sie zittern. Sie stand nur da, fassungslos, und beobachtete. Es gab kaum einen Zweifel. Sie war am Ende ihrer Suche. Sie hatte ihre Kinder gefunden. * Ein ovaler Platz tat sich vor ihr auf, umsäumt von hoch aufragenden, zum Teil überhängenden Felsblöcken, die weite, groteske Schatten warfen. Steinbrocken bedeckten den Boden, zwischen ihnen wuchsen verkrüppelte Bäumchen, Kletterpflanzen und saftig‐grünes Moos. Hundert oder mehr Tiere, Vertreter unterschiedlichster Arten, tummelten sich friedlich auf der Lichtung. Etwa die Hälfte von ihnen waren schwarzgelb getigerte Räuber, die die Fähigkeit der vierfachen Verwandlung beherrschten und mit denen Zwertelis bereits mehrfach schmerzhafte Erfahrung gemacht hatte. Hier lagen sie ruhig beisammen im Sonnenlicht. So viel Ruhe und Friedlichkeit ging von dieser Szene aus, daß Zwertelis von Rührung übermannt wurde. Dies mußten ihre
Abkömmlinge sein. Sie kämpften nicht miteinander, griffen niemanden an; sie bildeten eine stille Oase inmitten eines aufgewühlten, mörderischen Dschungels. Warum hatte sie diesen Ort nicht eher ausfindig gemacht? Langsam und andächtig, alle Schrecken, die sie bis hierher begleitet hatten, vergessend, bewegte sie sich über eine natürliche Treppe aus unregelmäßigen Sandsteinplatten hinab. Einige Tiere hoben die Köpfe und sahen ihr entgegen. Das wohlige Knurren einer der getigerten Bestien ließ sie zusammenfahren, aber die Angst schwand schnell wieder. Hier drohte keine Gefahr, hier herrschte träge Ausgeglichenheit. Sie spürte die Aura des Wohlbehagens, die über dem Talkessel lag, eine sanfte, unaufdringliche Schwingung … Sie bewegte sich zwischen behaglich ausgestreckten, dürren Leibern hindurch, und die ersten Zweifel stiegen in ihr auf. Zumindest die getigerten Tiere kannte sie als gefährliche, reißende Bestien. Niemals konnten diese Räuber aus ihrer Zellmasse hervorgegangen sein, und ihre Friedlichkeit erschien Zwertelis, je länger sie darüber nachdachte, rätselhaft. Wurden sie von den anderen beeinflußt? Es fiel ihr auf, daß fast alle Exemplare, die sich hier aufhielten, abgemagert waren; sie litten Hunger und hatten nicht die Kraft, sich selbst Nahrung zu beschaffen. Zwertelisʹ Euphorie schwand schlagartig. Etwas stimmte nicht! Diese Kreaturen verhielten sich ganz und gar unnatürlich, geradezu widersinnig, sie waren faul und träge, unfähig, die Instinkte zur Erhaltung ihres Lebens zielgerichtet einzusetzen. Sie sah ein massiges, gehörntes Rind, einen reinen Fleischfresser, wie sie wußte, das lustlos und müde an einer Wurzel nagte. Ein Pelztier, auf das sie zutrat, blickte sie aus halb geschlossenen Lidern desinteressiert an. Ein anderes Wesen, dessen arttypisches Merkmal lange, herabhängende Ohren waren, erhob sich schwerfällig, trottete einige Schritte, bis es einen schattigen Platz gefunden hatte, und ließ sich dort mit quälend langsamen Bewegungen nieder. Zunehmende Unruhe erfüllte Zwertelis. Mittlerweile war sie
sicher, daß sie keineswegs ihre Kinder vor sich hatte, sondern einfach Tiere, die durch einen unbekannten Einfluß zu friedlicher Bequemlichkeit gezwungen wurden. Dennoch fühlte sie eine gewisse Verantwortung für diese Geschöpfe, die ohne Hilfe nicht mehr lebensfähig schienen. Aber was konnte sie tun? Sollte sie versuchen, für die Bedauernswerten Nahrung zu beschaffen und sich dabei selbst in tödliche Gefahr begeben? Sie war kein Geschöpf, das die Fähigkeit besaß, ein Futtertier problemlos zu töten oder mit einer widerspenstigen Beute fertig zu werden. Ihre Stärke lag in schneller Flucht, nicht in zielgerichtetem Angriff. Sie würde ihren phlegmatischen Schützlingen kaum eine echte Unterstützung sein. Sie wollte helfen – aber wie sollte sie es anstellen? Hilflos und in aufkommender Ratlosigkeit drehte sie sich um sich selbst. Aus weiter Ferne hörte sie die kreischenden Töne eines Dschungels, der sich noch immer nicht beruhigt hatte. Aus dem dichten Gehölz am Rand der Lichtung brach ein massiger Sechsbeiner. Aufgepeitscht durch die Verhältnisse im Dschungel, schlitterte er haltlos die Sandsteintreppe entlang und auf Zwertelis zu. Sie wich einige Schritte zurück. Der Bulle warf wild den Schädel in den Nacken, schnaubte laut und drohend, röhrte danach geradezu jämmerlich, knickte in den Knien ein und streckte sich wohlig auf einem warmen Felsen aus. Zwertelis sah es, aber sie begriff nichts. Ihr Kombinationsvermögen war überfordert. Ein geheimnisvoller Umstand, den sie nicht verstandesmäßig zu erfassen vermochte, zwang die wildesten Bestien auf dieser Lichtung zu absoluter Friedfertigkeit, zu trägem Dahindämmern … als legten sie sich hier zur Ruhe, um ohne das Bedürfnis nach Fressen und Trinken auf den Tod zu warten, der sich schleichend über sie senkte. Dies konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Warum verspürte sie selbst nicht ebenfalls das Bedürfnis, sich faul in die Sonne zu legen und der Dinge zu harren, die auf sie zukommen mochten? Wodurch wurde der unheilvolle Einfluß ausgelöst, gegen den sie
offenbar immun war? Sie war ratlos und durcheinander. Wieder ging sie einige Schritte, beobachtete aufmerksam die Reaktionen, die sich in müden Blicken und interesselosen Gesten erschöpften. Sie spürte Verbitterung und Wut in sich aufkeimen. Ohne nachzudenken, packte sie einen kleinen Stein und schleuderte ihn in die Menge. Einige Tiere sprangen auf und wichen zur Seite, um sich gleich darauf wieder wohlig auszustrecken. Zwertelisʹ Zorn nahm zu. Unwillig schüttelte sie den Kopf, als einige Wassertropfen auf sie herabfielen. Es fing an zu regnen, aber das registrierte sie kaum. Es wurde trüb, die Sonne begann sich hinter dichten Wolken zu verstecken. Wind kam auf, der ihr das Fell zerzauste. Sie achtete nicht darauf. Sie hatte nur noch den Wunsch, diese trägen Geschöpfe aus ihrer Lethargie zu reißen. Sie schleuderte einen weiteren Stein, mit dem gleichen negativen Erfolg. Sie schrie, krächzte, trampelte und warf. Es half nichts. Nicht einmal der einsetzende Regen vermochte die Tiere aufzurütteln. Sie schüttelten die Köpfe, als ihr Fell durchnäßt war, dann betteten sie ihre Schädel zwischen die Vorderläufe und dösten weiter vor sich hin. Die Denkende war der Verzweiflung nahe. Hilflos stand sie im Regen und dem zunehmenden Sturm, spürte nagenden Mutterinstinkt in sich und vermochte doch nichts zu unternehmen. Verzweifelt griff sie in die Mulde eines Felsens, packte einen weiteren Stein und hob die Pfote zum Wurf … Ein unerklärlicher Trieb ließ sie zögern. Dicke Tropfen peitschten ihr ins Gesicht, scharfer Wind blies von der Seite – und die Tiere begannen drohend zu knurren und zu fauchen. Erschreckt hielt sie inne und legte den Stein unsicher in die Mulde zurück. Sofort machte sich wieder wohlige Behaglichkeit unter den Bestien breit. Sie verstand es nicht, aber eine Ahnung beschlich sie. Abermals ergriff sie den Stein und zog sich blitzschnell an den Rand der Sandsteintreppe zurück. Die Reaktion der Tiere war bemerkenswert. Wie auf ein geheimes Kommando erhoben sie sich und trotteten
Zwertelis nach. Sie streckte die Pfote aus, in der sie den Stein hielt, und sofort wurden die antriebslosen Kreaturen wieder friedlich. Dieses Objekt, das sie mehr oder weniger zufällig durch den Griff in die Mulde eines Felsens ergattert hatte, schien für die seltsame Stimmungslage in diesem Tal verantwortlich zu sein. Sie hob die Pfote und betrachtete sich den Stein genauer. Er wies eine hell‐dunkle Maserung auf, war rund und hatte eine polierte Oberfläche … und er verströmte ein Gefühl; ja, das war es! Zwertelis verspürte plötzlich den Drang, noch selbständiger zu werden, als sie es ohnehin war, sie fühlte eine unstillbare Sehnsucht nach Weite und Unabhängigkeit. Dieser Stein, kaum größer als die Innenfläche ihrer Pfote, weckte Emotionen in ihr, die sie zwar kannte, die ihr aber in dieser Intensität fremd waren. Alle denkbaren positiven Werte beinhaltete der Stein, ja, er war Inbegriff und Widerschein der … Freiheit! Es fiel ihr schwer, den Blick abzuwenden und sich auf die Tiere zu konzentrieren. Plötzlich wußte sie, wie sie ihnen helfen konnte. Wenn sie den emotionsgeladenen Stein wegschaffte, entführte, würden die Individuen auf der Lichtung zu ihrem gewohnten Lebensrhythmus zurückfinden, sie würden jagen, Beute reißen, sich Nahrung beschaffen und selbst für ihren Fortbestand sorgen. Sie brauchten keine Unterstützung! Sie brauchten die Freiheit und die Unabhängigkeit von diesem kleinen, handtellergroßen Objekt! Ihre eigene Sicherheit durfte Zwertelis dabei natürlich nicht außer acht lassen. Sie war sich darüber im klaren, daß die Tiere über sie herfallen würden, sobald sie sich mit dem Stein entfernte. Noch war sie sich unschlüssig, wie sie es anstellen sollte. Vielleicht half ihr die Witterung. Der Regen wurde immer stärker, und der Wind heulte kraftvoll durch das Tal. Dichte Wolken erzeugten eine düstere Trübe. Ob das die Bestien wirkungsvoll ablenken konnte, vermochte sie nicht zu sagen, aber sie würde es versuchen. Laut toste der Sturm, als sie, den unheilvollen Stein in der Pfote, sich abwandte und die Sandsteintreppe emporstieg. Sie hörte das
wilde, protestierende Brüllen hinter sich, duckte sich angstvoll in der Erwartung eines wütenden Angriffs, nahm aus den Augenwinkeln schwarze Gebilde wahr, die sich aus den Wolken herabsenkten und eine Barriere zwischen ihr und den aufgebrachten Bestien herstellten. Grelle Blitze fauchten durch die Düsternis des Unwetters. Einige Tiere wurden, mit verbranntem Fell und häßlichen, blutenden Wunden, zurückgeschleudert, überschlugen sich und prallten gegen Artgenossen. Ein einziger, kollektiver Aufschrei ging durch die Menge. Zwertelis fühlte sich vom Sturm gepackt und weggedrückt. Krampfhaft hielt sie den Stein umklammert. Sie wagte kaum, sich umzusehen. In Strömen niederprasselnder Regen versperrte ihr die Sicht. Nur Schatten sah sie, undeutliche Schemen, und sie hörte, durch das Heulen des Windes, die klagenden Schreie sterbender Freunde, sterbender Kinder …! Unbändige Wut begann sie zu beherrschen. Es wurde ihr klar, daß irgend jemand versuchte, sie zu unterstützen, aber die Mittel, die derjenige anwandte, stießen sie ab. Leid, Schmerz und Tod verbreitete er um sich. Stählerne Wesen hielten die Meute von ihr ab, und aus ihren Armen schossen grelle Strahlen vernichtender Energie. Zwertelis würgte vor unterdrücktem Abscheu. Aus den Wolken senkte sich ein riesiger, mehrzackiger Stern herab. Ohne lange nach einer Erklärung zu suchen, wußte sie, daß die wahnsinnige Vernichtungsaktion von diesem Gebilde ausging. Haß empfand sie, nichts sonst. Sie preßte sich gegen einen Felsen. Hilflos und verbittert erkannte sie durch einen rauschenden Vorhang niederstürzenden Wassers die Tiere, die eben noch zufrieden vor sich hin gedöst hatten und jetzt von metallenen Monstren erbarmungslos niedergemetzelt wurden. Den Sog, der sie erfaßte und ihr das Gefühl vermittelte, leicht wie eine Feder zu schweben, nahm sie bewußt kaum wahr. Sie war blind und taub und erschüttert. Sicher, die Bestien hätten sie verfolgt und
angegriffen, weil sie den wohltätigen Stein entführen wollte. Aber sie hätte sich zu verteidigen gewußt, zumindest auf defensive Weise. Sie wäre geflohen, irgendwohin, und keiner der Räuber hätte sie eingeholt. Was jetzt geschah, war unnötig und grausam. Düstere Witterung vermischte sich mit grellen, geradlinigen Todesstrahlen, während Zwertelis sich unaufhaltsam dem Sternenschiff näherte. Längst hatte sie den Boden unter den Pfoten verloren. Ohne sich wehren zu können, schwebte sie diesem unheimlichen Instrument der Macht und der Vernichtung entgegen. Der düstere Stern wuchs und wurde größer. Wasser peitschte schmerzhaft gegen ihren Körper, heftiger Wind zerrte an Fell und Gliedern. Aber der Zugstrahl war stärker. Irgendwo erkannte sie eine Öffnung, in die sie unerbittlich hineintrieb. Noch immer hielt sie den Stein mit der seltsamen Ausstrahlung fest umklammert. Sie taumelte, als sie, Sturm und Regen hinter sich lassend, auf hartem Untergrund aufsetzte. Licht flammte auf und blendete sie kurzzeitig. Aus der Wand schob sich eine schwere Platte, die die direkte Verbindung zur Außenwelt unterbrach. Fast geräuschlos schloß sich das Schott. Stille senkte sich über Zwertelis, unheimliche, drückende Stille. Sie war allein. Zitternd stand sie inmitten eines leeren, kalten Raumes, dessen Bedeutung sie nur unbewußt erfaßte. Eine schemenhafte, fast verschüttete Erinnerung sagte ihr, daß sie sich im Innern eines Raumschiffes befand, eines Instruments, das der Beförderung von Personen und Lasten durch die Weiten des Alls diente. Derjenige, der das Fahrzeug befehligte, hatte, aus welchen Gründen auch immer, ihre Rettung vor einer Meute aufgebrachter Raubtiere veranlaßt. Erleichterung empfand sie nicht. Verwirrt und erschöpft war sie, und sie fühlte sich jeder Freiheit und Eigeninitiative beraubt. Der Besitzer des Schiffes hatte sie aus ihrer gewohnten Umgebung in eine von metallenen Wänden und technischen Geräten geprägte Sicherheit gebracht, die sie zumindest als zweifelhaft einstufte. Und er war mit unangebrachter
Grausamkeit gegen jene Geschöpfe vorgegangen, die gleich ihr den Planeten Cyrsic bevölkerten und für die sie sich in gewissem Maß verantwortlich fühlte. Der nagende Haß in ihr vertiefte sich. Je länger sie in dieser beleuchteten Kammer stand und über die Geschehnisse nachdachte, desto stärker wurde das Verlangen nach Rache. Sie durfte den Tod ihrer Kinder nicht ungesühnt lassen, selbst wenn sie ihr eigenes Leben dafür aufs Spiel setzte. Sie richtete sich auf und tappte unbeholfen einige Schritte umher. Das steinerne Objekt hielt sie fest in einer Vorderpfote. Etwas bohrte in ihr, suchte nach einem Ventil, nach einem Weg, sich zu entladen. Aber sie konnte nichts tun. Weder besaß sie die Mittel, ihren Rachedurst zu befriedigen, noch vermochte sie etwas zu unternehmen, das die jetzige Situation, dieses hilflose Eingeschlossensein, änderte. Sie war gezwungen abzuwarten, während das Gefühl immer stärker wurde, sie müßte innerlich explodieren. Übermächtig drängte sich der Wunsch auf, gegen eine Wand zu laufen und sich selbst Schmerz zuzufügen, sich abzureagieren. Der Boden unter der Denkenden begann leicht zu zittern. Erschrocken hielt sie in ihrem ungestümen Bewegungsdrang inne. Insgeheim war sie für die Ablenkung dankbar. Sie erfaßte, daß das Sternenschiff beschleunigte und offensichtlich im Begriff stand, Cyrsic zu verlassen und in den Weltraum vorzustoßen. Zu ihrem Haß gesellte sich die Angst. Wohin führte ihr Weg? Besaß sie überhaupt eine Chance, die Kunstwelt, die ihre Heimat geworden war, jemals wiederzusehen? Sie wußte es nicht, ebensowenig, wie sie sich darüber schlüssig war, was man überhaupt mit ihr vorhatte. Sie konnte nicht davon ausgehen, daß ihrer Rettung uneigennützige Motive zugrunde lagen. Wieder befiel sie das Verlangen, irgend etwas zu tun, um ihren seelischen Zustand zu bessern. Statt dessen mußte sie weiter
ausharren und auf eine Aktion des Kommandanten warten, Haß und Angst tiefer in sich hineinfressen. Gequält drehte sie sich im Kreis, biß die Zähne aufeinander, daß ihr die Augen tränten, schrie … »Fürchte dich nicht.« Wie ein körperlicher Schlag traf sie die Stimme. Nach langer Zeit hörte sie erstmals Worte, die ihrer Muttersprache entstammten, die sie verstehen konnte und die einen Sinn ergaben. Vergessen war plötzlich alles, was sie eben noch bedrückt hatte. Bebend stand sie da und lauschte. »Ich habe dich an Bord geholt, um dich auf eine wichtige Aufgabe vorzubereiten. Du brauchst keine Angst zu haben, denn für dich beginnt ein neuer, würdevoller Abschnitt in deinem Leben. Einer meiner Diener wird sich gleich um dich kümmern und dir eine Unterkunft zuweisen.« Zwertelis war verwirrt. Von dem, was die Stimme sagte, begriff sie kaum etwas, höchstens soviel, daß der Sprecher sich bemühte, sein Wohlwollen und seine guten Absichten kundzutun. Noch war sie nicht soweit, ihm vorbehaltlos zu glauben. Eine verschwommene Ahnung von List und Heimtücke beschlich sie. »Du wirst auf der ZIEMEN viele neue Freunde finden. An nichts soll es dir fehlen. Dein Leben wird glücklich und zufrieden werden.« Es klang eine Spur zu theatralisch, um echt und ehrlich gemeint zu wirken. Zwertelisʹ Mißtrauen wuchs. Sie war fast sicher, daß sie über die wahren Umstände getäuscht, daß ihr eine an der Realität vorbei zielende Zufriedenheit suggeriert werden sollte. Sie würde wachsam sein müssen. »Wer bist du?« fragte sie und wunderte sich über die ruhige Gelassenheit, die sie mit einemmal verspürte. »Man nennt mich Tolfex«, antwortete die Stimme bereitwillig. »Und ich möchte, daß du dich als mein Gast fühlst.«
5. Nur kurze Zeit hatte Tolfex das kleine Pelzwesen zu beobachten brauchen, bevor er sicher war, daß es über eine beachtliche Portion Intelligenz verfügte. Zu sehr unterschied sich sein Verhalten von dem der anderen Tiere, zu sehr waren seine Aktionen von instinktüberlagernden, folgerichtigen Überlegungen geprägt. Die Tatsache, daß der neue Passagier den Koordinator nach seiner Identität befragte, bestätigte die Vermutung. »Wie nennt sich das Volk, dem du angehörst?« wollte er wissen, nachdem es ihm gelungen war, die Spannung, unter der das Wesen stand, weitgehend abzubauen. »Ich weiß es nicht. Über meine Vergangenheit habe ich nur wenig genaue Erinnerungen.« »Kennst du deine Eltern oder andere Vertreter deiner Art?« »Nein.« »Was weißt du von dir?« »Nicht viel. Ich bin Zwertelis, das einzige Geschöpf im Dschungel von Cyrsic, das über die Fähigkeit des Denkens verfügt. Ich glaube, daß ich viele Nachkommen habe, aber ich weiß nicht, wer und wo sie sind. Das ist alles.« »Gut«, beendete Tolfex den kurzen Dialog. »Wir werden uns später genauer darüber unterhalten. Zunächst kannst du dich etwas ausruhen und von den Strapazen erholen.« Die Auskünfte Zwertelisʹ bedeuteten für den Koordinator einen Rückschlag. Er konnte nicht sicher sein, daß er mit dem Pelzwesen den Vertreter eines Urvolks des Marantroner‐Reviers aufgenommen hatte. Die Informationen, die er von der Denkenden erhielt, waren ungenau und bruchstückhaft, zudem hatte er den Eindruck, daß sie ihm – bewußt oder unbewußt – wichtige Einzelheiten verschwieg. Dennoch beschloß er, sie an Bord zu behalten. Er vertraute darauf, daß der Dunkle Oheim sich in seinem Machtbereich besser
auskannte als er, Tolfex, im Revier des Chirmor Flog. Der Beherrscher der Schwarzen Galaxis würde zu unterscheiden wissen, welche Wesen an Bord der ZIEMEN er für die Aufgabe gebrauchen konnte und welche nicht. Während das Sternenschiff dem nächsten Ziel zustrebte, beobachtete der Koordinator, wie Zwertelis von einem Roboter in ihre Unterkunft begleitet wurde. Sie bewegte sich ungelenk, weil sie in einer Vorderpfote eine Steinkugel hielt und sich deshalb zum Laufen nur dreier Beine bedienen konnte. Wäre ihm die Fähigkeit zur Mimik gegeben gewesen, hätte Tolfex nachsichtig gelächelt. Bei aller Intelligenz, über die das Pelzwesen verfügte, konnte es sich anscheinend nicht von diesem primitiven Fetisch trennen. Es mochte ihn für einen Glücksbringer halten, den es nicht aus der Hand geben wollte. Er machte sich keine weiteren Gedanken darüber. In ihrer Kabine angelangt, erteilte der Roboter der Denkenden letzte Instruktionen, informierte sie darüber, daß sie sich auf dem Schiff bis auf einen bestimmten Bereich frei bewegen dürfe und den Kontakt mit den anderen Passagieren pflegen solle. Dann zog er sich zurück und überließ Zwertelis sich selbst. Eines gewissen Unbehagens vermochte sich Tolfex nicht zu erwehren. Nachdem sie sich in der Schleusenkammer zunächst gebärdet hatte, als wollte sie alles in ihrer Nähe kurz und klein schlagen, verhielt sich Zwertelis nun extrem unterwürfig und ruhig. Dabei gab sie mit keiner Geste zu erkennen, daß sie jene emotionalen Schwingungen, die alle anderen in ihren Bann schlugen, überhaupt wahrnahm. Vielmehr hatte er den Eindruck, daß sie ihre Gelassenheit nur vortäuschte, daß sie innerlich anders fühlte, als sie nach außen hin zu erkennen gab. Aber das war ein zweitrangiges Problem. Falls sich die Denkende ähnlich aufsässig verhalten sollte wie vor kurzen der Noot, besaß Tolfex die Mittel, sie gefügig zu machen. Immerhin, darüber war er sich klar, würde er ein wachsames Auge auf sie werfen müssen, um
sich vor unliebsamen Überraschungen zu wappnen. Er spielte sogar mit dem Gedanken, den Todesboten auf sie anzusetzen, verwarf ihn jedoch schnell wieder. Nachdem Zwertelis erst seit wenigen Minuten den Verhältnissen an Bord der ZIEMEN ausgesetzt war, würde sie von der Anwesenheit des Stangenwesens möglicherweise so verschreckt sein, daß der Integrationsprozeß empfindlich gestört wurde. Wie jeder Passagier, brauchte auch sie eine gewisse Zeit der Eingewöhnung, die Tolfex ihr lassen wollte. Erst danach durfte er sich ein Urteil über ihr Verhalten erlauben. Außerdem hatte er Wichtigeres zu tun, als ständig hinter jemandem herzuspionieren. Er stand unter Zeitdruck, und wenn er den Auftrag des Dunklen Oheims mangels ausreichender Informationen schon nicht gewissenhaft erfüllen konnte, so wollte er doch alle Anstrengungen unternehmen, die Ausführung so perfekt wie irgend möglich zu gestalten. »Zielgebiet ist erreicht«, meldete eine Überwachungseinheit. »Die Landung kann vorbereitet werden.« Tolfex vergaß alle Sorgen und skeptischen Überlegungen, die ihn eben noch beschäftigt hatten. Die Daten, über die die Positronik der ZIEMEN verfügte, würden zumindest ausreichen, noch einige wichtige Exemplare an Bord zu nehmen. Ob dem Dunklen Oheim das Material genügen würde, blieb dahingestellt, aber der Koordinator war nicht bereit, die Mission abzubrechen und einen Mißerfolg ins Zentrum der Schwarzen Galaxis zu melden. Damit hätte er sein eigenes Versagen zugegeben und eine empfindliche Strafe riskiert. Er konzentrierte sich auf die bevorstehende Landung und die Aufnahme eines weiteren Passagiers. Daß er währenddessen unheilvolle Entwicklungen übersah, die innerhalb des Schiffes vor sich gingen, bemerkte er erst, als es längst zu spät war.
* Es war Zufall, daß der Zwerg den Versammlungsraum zu einem Zeitpunkt betrat, als wiederum lediglich Faderkyhl und der Camagur beisammensaßen. In seiner hüpfenden Gangart bog er in die Halle ein und blieb ruckartig stehen, als er die beiden erblickte. »Das Schicksal meint es nicht gut mit mir«, beklagte er sich lauthals. Einen scheuen Blick warf er in Richtung der Container, bei denen während des letzten Zusammentreffens der Todesbote gelauert hatte. Jetzt war die Stelle leer. »Man könnte meinen, ihr wärt die einzigen Lebewesen auf diesem Schiff.« »Stell dich nicht so an«, sagte Faderkyhl mürrisch. »Wenn du die anderen sprechen willst, dann geh in deren Kabinen und laß uns in Ruhe.« Der Tamater machte eine abwehrende Geste. »Keine Aufregung, Freunde. So war es nicht gemeint.« »Dein Glück!« versetzte der Camagur knurrend. »Andernfalls hätte ich mir überlegen müssen, ob ich dich gewaltsam aus diesem Raum befördern oder deine Sprechblasen so stark beschädigen sollte, daß du sie nie mehr benutzen kannst.« »Ihr seid sehr aggressiv«, jammerte der Tamater, während er sich wieder in Bewegung setzte. Natürlich wußte er, daß die Anfeindungen keineswegs ernst gemeint waren. Unmittelbar vor den Freunden blieb er stehen und sah sich abermals aufmerksam um. Dann, als er den Todesboten nirgends entdecken konnte, sagte er: »Ich habe interessante Neuigkeiten, die ich euch nicht vorenthalten wollte.« Schweigen breitete sich aus. Faderkyhl hatte sofort erfaßt, daß das kindische Verhalten des Tamaters damit zusammenhing, daß er nicht wußte, ob sich das gefürchtete Stangenwesen noch in der Nähe aufhielt. Erst als er sicher war, daß der Todesbote sie nicht mehr überwachte, war er bereit, sein Hiersein zu begründen. Jetzt wartete er offenbar darauf, daß ihn jemand aufforderte, sein Wissen
preiszugeben, denn er blickte abwechselnd von einem zum anderen, ohne sich weiter zu äußern. »Und?« machte er schließlich, als er merkte, daß keiner der Freunde auf seine geheimnisvollen Andeutungen eingehen würde. Faderkyhl betrachtete gelangweilt die Decke. »Und – was?« »Wollt ihr nicht hören, was ich zu berichten habe?« drängte der Zwerg. »Natürlich wollen wir es hören«, versicherte der Camagur scheinheilig. »Wir dachten, deine Neuigkeiten seien so verblüffend, daß du eine gewisse Zeit brauchtest, dich zu sammeln.« Der Tamater schien einzusehen, daß er sich den Zorn der anderen zuziehen würde, wenn er sein Wissen weiterhin in kleinen Bröckchen servierte. »Nun …«, stotterte er, »… in gewisser Weise sind sie das auch. Tolfex hat nämlich einen neuen Passagier an Bord gebracht.« »Das war zu erwarten«, entgegnete Faderkyhl mit erzwungener Ruhe. Allmählich ging ihm die Wichtigtuerei des Zwerges auf die Nerven. »Was ist daran so ungewöhnlich?« Dem Tamater gelang es nicht länger, die Freunde auf die Folter zu spannen. »Ich habe die Neue gesehen und kurz mit ihr gesprochen«, sprudelte es aus ihm heraus. »Sie nennt sich Zwertelis, und ich bin sicher, daß sie keinem Volk angehört, das mir bekannt wäre.« »Auch das ist kein Umstand, der deine Aufregung erklärt«, hielt ihm der Camagur vor. »Es gibt so viele Völker im Marantroner‐ Revier, daß wir unmöglich alle kennen können.« »Das ist auch nicht das Wichtigste«, fuhr der Zwerg eifrig fort. »Vielmehr ist mir aufgefallen, daß sich Zwertelis unzufrieden fühlt. Versteht ihr! Sie ist nicht glücklich darüber, daß sie hier ist und einer großen Aufgabe dienen darf. Sie ist nicht fröhlich und ausgelassen wie wir, sondern sehr ernst und verschlossen.« »Sie muß sich erst einleben«, vermutete der Camagur leichthin.
Dem Noot warf er einen spöttischen Blick zu. »Andere haben dafür auch eine Weile gebraucht.« Faderkyhl ging, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, nicht auf den Seitenhieb ein. Durch die Aussage des Tamaters fühlte er sich seltsam berührt. Er selbst hatte lange genug gezweifelt und sich nur unter beträchtlichen Schwierigkeiten der allgemeinen Fröhlichkeit untergeordnet. Der Wunsch, aus dem Schema auszubrechen und sich selbst zu verwirklichen, war selten geworden und ließ sich leicht unterdrücken. Er hatte das Leben an Bord akzeptiert und war zufrieden damit. Ja, er nahm für sich in Anspruch, glücklich zu sein. Doch jetzt, nachdem er seine Persönlichkeit soweit gefestigt hatte, tauchte ein neuer Passagier auf, der anscheinend mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte wie anfangs er. Ohne sie überhaupt gesehen zu haben, entwickelte er Sympathie für Zwertelis. Ihr Verhalten, wie der Tamater es beschrieb, gab Faderkyhl zu denken. Irgendwo in ihm erwachte der leise Verdacht, daß die Verhältnisse auf der ZIEMEN keine natürliche Ursache hatten. Noch war er nicht in der Lage, diese verschwommene Ahnung zu präzisieren und einzuordnen. Noch war er jener Zufriedenheit verhaftet, die er empfand, seit der unsinnige Drang, den Koordinator der Ewigkeit zu sehen und zu sprechen, erloschen war. »Ich werde mit ihr reden«, beschloß er spontan. »Vielleicht können ihr die Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe, helfen, die Größe unserer Bestimmung zu begreifen und ihre Unzufriedenheit abzulegen. Ich hoffe, daß ich sie überzeugen kann.« Der Tamater sprang begeistert in die Höhe. »Deine Einstellung ist phantastisch«, lobte er. »Ich habe jedoch damit gerechnet, daß du so reagieren würdest und Zwertelis deshalb gebeten, uns hier zu besuchen.« »Für meine Begriffe nimmst du dir etwas zu viel heraus«, warf ihm der Camagur vor. »Du kannst nicht über Faderkyhls Kopf hinweg bestimmen, mit wem er wann zu reden hat.«
»Aber ich dachte …« »Hör dir das an, Faderkyhl! Er hat gedacht!« Aus starren Facetten funkelte der Camagur den Zwerg an. »Was hättest du getan, wenn du uns hier nicht angetroffen hättest?« »Ich rechnete damit, daß ihr hier seid. Außerdem …« »Nichts außerdem! Ebensogut hätte Faderkyhl sagen können, er wolle mit der Neuen nichts zu tun haben. Was dann?« Der Tamater fühlte sich sichtlich in die Enge getrieben. Dennoch fuhr er in seiner Verteidigung fort. »Ich weiß, daß ich eigenmächtig gehandelt habe«, gab er zu. »Aber ich hätte nicht geglaubt, daß ihr daraus ein umwälzendes Problem macht. Wir alle, auch Zwertelis, gehören der Gemeinschaft an, und …« Er verstummte, als die, von der die Rede war, den Versammlungsraum betrat. Gespannt beobachtete Faderkyhl das Pelzwesen. Zwertelis bewegte sich langsam und unsicher und blickte sich scheu um. Es war deutlich, daß sie sich in dieser Umgebung fremd fühlte. Sie wirkte gehemmt, zumal sie das plötzliche Schweigen der Anwesenden vermutlich gegen sich auslegte. Schließlich wandte sie sich an den Tamater, dem sie bereits einmal begegnet war. »Ihr hattet Streit wegen mir«, sagte sie ruhig. »Ich habe draußen, auf dem Korridor, ein wenig davon mitbekommen.« »Es ging nicht um dich«, wehrte der Zwerg ab. Den anderen warf er bitterböse Blicke zu. »Sie haben sich lediglich über die Art und Weise aufgeregt, wie ich …« »Es ist schon gut«, unterbrach Zwertelis und wandte sich um. »Ich wollte mich euch nicht aufdrängen.« »Bleib hier!« rief Faderkyhl ihr nach. »Wir haben wirklich nichts gegen dich. Du gehörst in unsere Gemeinschaft wie jeder andere auch.« Zwertelis zögerte, aber sie sagte nichts. Sie war unsicher, wie sie das Verhalten der drei interpretieren sollte.
»Weißt du«, versuchte der Camagur das Eis zu brechen, »bei uns sind kleine Streitigkeiten an der Tagesordnung. Sie haben nichts zu bedeuten. Wir vertreiben uns die Zeit damit, und außerdem macht es einfach Spaß, den Winzling zu ärgern.« »Ach, so ist das!« ereiferte sich der Tamater und wedelte empört mit allen vier Armen. »Wenn ihr das Bedürfnis habt, euch zu amüsieren, fangt ihr einfach einen Streit mit mir an. Aus Gründen vielleicht, die überhaupt nicht der Rede wert sind?« Der Camagur produzierte ein Geräusch, das seine Erheiterung ausdrückte. »Natürlich! Wenn du zu blöd bist, es zu merken, und noch darauf eingehst …« »Das ist unerhört! Faderkyhl, was sagst du dazu? He, Faderkyhl, ich rede mit dir!« Der Noot winkte ab. Zwertelis stand einige Schritte von ihm entfernt und verfolgte das Geplänkel verständnislos. Mittlerweile schien sie begriffen zu haben, daß solche Reibereien tatsächlich nichts zu bedeuten hatten. Dennoch wirkte sie noch nicht gelöst. »Warum hast du Angst vor uns?« fragte Faderkyhl offen. Der Tamater und der Camagur erstarrten. Von dieser Warte hatten sie das Verhalten der Bepelzten noch nicht betrachtet. »Ich habe keine Angst.« Wie unter einem inneren Zwang schüttelte Zwertelis den Kopf. »Es … es ist etwas anderes.« Plötzlich fürchtete sich Faderkyhl davor, weiter mit ihr zu reden. Er ahnte, daß das Gespräch Verschüttetes oder Unterdrücktes abermals an die Oberfläche des Denkens befördern würde. Das war gefährlich und konnte ihn, wie bereits früher, in einen seelischen Zwiespalt stürzen. Er wußte es, wußte, daß er besser schweigen sollte – und dennoch … »Was?« drängte er. »Was ist es?« »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, mit euch darüber zu sprechen.« Der Tamater hüpfte zu ihr und legte ihr einen seiner Arme auf das
Fell. »Heraus damit!« forderte er gutgelaunt. »Wenn du Probleme hast, werden wir versuchen, dir zu helfen.« Zwertelis löste sich aus seinem Griff. Wieder wirkte sie unentschlossen und ängstlich. »Ihr alle«, sagte sie zögernd, »seid ungewöhnlich fröhlich und macht einen zufriedenen Eindruck. Das stört mich, weil ich selbst ganz anders empfinde.« »Was ist daran so ungewöhnlich?« fragte der Camagur. »Wir dienen einer großen Aufgabe, und das macht uns glücklich. Wir haben keinen Grund, unzufrieden zu sein. Auch du wirst das bald erkennen und froh sein, daß du die Reise der ZIEMEN mitmachen darfst.« »Du hast mich falsch verstanden. Ich meine, es bedrückt mich, daß ihr so denkt und solche Dinge sagt, obwohl …« Sie verstummte. Faderkyhl glaubte, alles in ihm müsse sich zusammenziehen. Er wollte aufspringen und aus dem Versammlungsraum stürmen. Es wäre besser für ihn gewesen, aber etwas bannte ihn auf den Platz. Er wünschte, taub zu sein, und wollte doch hören, was Zwertelis noch zu sagen hatte. Sie kannte eine Wahrheit, die alle anderen nicht zu sehen in der Lage waren, die er selbst verdrängt und begraben hatte, die ihm unwichtig erschien. Irgendwann in den nächsten Sekunden würde sie sie aussprechen. Der Noot hatte Angst davor, wahnsinnige Angst. Sein Leben, seine Zufriedenheit, sein Glück … er wußte nicht, warum, er wußte nur, daß das kleine Pelzwesen mit wenigen Worten alles zerstören konnte. Eine letzte Hoffnung, daß keiner seiner Freunde auf die geheimnisvollen Andeutungen eingehen würde … Der Tamater zerstörte sie: »Obwohl was?« Faderkyhl schloß die Augen, zitternd, bebend. Der dunkle Mantel über der Erkenntnis flatterte in einem stürmischen Wind, aber er
hob sich noch nicht. Wie sich Zwertelis auch äußerte, sie würde nicht mehr als einen winzigen Zipfel lüften können. Selbst das war zu viel. Der Noot wollte schreien, aber er war wie gelähmt. Seine Augen tränten, das Rauchhorn begann schmerzhaft zu pochen. Irgend etwas wollte mit Macht aus ihm herausdrängen und seine Fesseln sprengen. Er mußte dagegen ankämpfen, es unterdrücken, in Zaum halten … »Merkt ihr denn nicht«, hörte er Zwertelisʹ leise Stimme, »daß auf diesem Schiff das Böse nistet?« * Laut hatte Faderkyhl aufgelacht. Wie eine riesige, schäumende Woge war die Erleichterung über ihm zusammengeschlagen. Noch immer spürte er die erstaunten Blicke der anderen auf sich ruhen. Weder der Camagur noch der Tamater hatten wissen können, was in ihm vorgegangen war. Sie starrten ihn verständnislos an und fielen schließlich in den Heiterkeitsausbruch mit ein. »Ihr seid blind!« hatte Zwertelis geschrien, enttäuscht und verärgert. »Ihr träumt mit offenen Augen!« »Ich will es dir erklären«, hatte der Noot ihr nachgerufen, aber sie war nicht darauf eingegangen. Mit einigen schnellen Sätzen hatte sie den Versammlungsraum verlassen. »Jetzt ist sie böse«, war der Kommentar des Tamaters gewesen. »Du hast es mit ihr verdorben, Faderkyhl.« »Ich werde zu ihr gehen und mich entschuldigen.« Daß Zwertelis sich verbittert von ihnen abgewandt hatte, vermochte er gut zu verstehen. Erst kurze Zeit hielt sie sich an Bord der ZIEMEN auf. Sie konnte noch nicht wissen, daß der Bereich, in dem der Koordinator der Ewigkeit lebte, durch eine düstere Aura gegen unbefugte Eindringlinge geschützt war. Sie wertete diese Ausstrahlung als etwas Böses, Negatives und würde erst noch
lernen müssen, sie in der richtigen Relation zu sehen. Auch seine Reaktion konnte sie naturgemäß nicht begreifen. Sie wußte nicht, was in ihm vorgegangen war und daß seine Erleichterung darüber, daß sie lediglich Dinge wiedergab, die er längst kannte und akzeptiert hatte, sich in befreitem Lachen niedergeschlagen hatte. Er würde versuchen, ihr das zu erklären. Er war zuversichtlich, daß sie seine Entschuldigung annehmen würde. Selten hatte er sich so gelöst und heiter gefühlt wie jetzt, als er in den Korridor einbog, der zur Unterkunft des Pelzwesens führte. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen dabei. Zwertelis hatte es gut mit ihnen gemeint, und ihnen war nichts Besseres eingefallen, als sie mit triefendem Spott zu überschütten. Voller Gram mußte sie in ihrer Kabine hocken, während er sie in bester Laune besuchte. Aber darauf durfte er keine Rücksicht nehmen. Er war bestrebt, zwischen diesem Wesen, das ihm so sympathisch war, und sich ein gutes Verhältnis aufzubauen, und ein solches Vorhaben duldete keinen Aufschub. Außerdem wollte er ihre Einstellung, auf der ZIEMEN sei das Böse zu Hause, durch ein klärendes Gespräch so schnell wie möglich ausräumen. Dennoch wurde sein Schritt langsamer, je weiter er sich Zwertelisʹ Unterkunft näherte. Erste Zweifel stiegen in ihm auf, ob er sie würde überzeugen können. Wieder spürte er jene nagende Beklemmung, die ihm vorhin bereits zu schaffen gemacht hatte. Es gelang ihm nicht, sie völlig auszuschalten oder zu unterdrücken. Eine Erkenntnis, die verschüttet war – machtvoll bäumte sie sich auf. Er hatte geglaubt, diesen inneren Zustand überwunden zu haben, doch jetzt begriff er, daß es in Zusammenhang mit dem Pelzwesen etwas gab, das er nicht zu erfassen vermochte, das ihn quälte und peinigte und ihm jegliche Unbekümmertheit nahm. Schweigend stand Faderkyhl vor der Tür und versuchte sich zu sammeln. Er wollte umkehren und fühlte sich auf den Fleck
gebannt. Er wagte es nicht, weiterzugehen. Er konnte weder vor noch zurück. Wenn er diesen Raum betrat, würden sich sein Leben und seine Ideale ändern. Er spürte es, aber er wußte nicht, warum und wie. Wenn er es nicht tat, wenn er sich abwandte und umkehrte, würde er fortan glücklich auf seine Bestimmung warten, aber immer in dem Gefühl, nicht er selbst zu sein, einen maßgebenden Teil seines Egos freiwillig zu unterdrücken. Was sollte er tun? Warum gab es niemanden, der ihm die Entscheidung abnahm? Er hatte Angst. Angst, die Wahrheit zu begreifen, wie immer sie aussehen mochte? Angst, ein anderer zu werden, so oder so? Nein, es war etwas anderes. Vielleicht Unsicherheit, vielleicht das Unvermögen, die Zusammenhänge zu durchschauen. Er stand an einem Scheideweg, und welche Richtung er auch einschlug, sie konnte falsch sein. Wie gelähmt verharrte er auf dem Fleck, starrte die Tür an, die in Zwertelisʹ Kabine führte. Bebend schloß er die Augen. Er konnte nicht mehr zurück. Schon einmal hatte er geglaubt, der Lösung ganz nahe zu sein, und doch war es ihm nicht gelungen, den Schleier vor der Erkenntnis wegzuziehen. Mit ungestümer Heiterkeit hatte er alles vor sich selbst verdeckt und verborgen. Jetzt drängte es erneut an die Oberfläche, und Faderkyhl wußte, daß es sich nie mehr völlig zurückdrängen ließ, daß es immer und jederzeit in ihm nagen und bohren würde. Das vollkommene Glück, das er erhoffte, würde sich nie realisieren lassen … Ein Ruck ging durch den Noot, als er die Tür öffnete und die Unterkunft des Pelzwesens betrat. Unnatürliche Ruhe breitete sich in ihm aus, als er sah, daß Zwertelis nicht hier war. Dennoch fühlte er sich nicht erleichtert. Aufmerksam blickte er sich um. Noch war er nicht am Ziel. Noch hatte er das, was seine Unruhe auslöste, nicht entdeckt.
Das Unheimliche in ihm wühlte weiter, wie das glühende Magma seiner Heimatwelt Trimor, das kraftvoll den Weg durch einen schmalen Schacht suchte und aus dem Krater eines Vulkans brennend hervorschoß. Faderkyhl sah eine Schlafstatt, eine Sitzgelegenheit, sanitäre Einrichtungen, einen Schrank für Kleidungsstücke, eine Ablagefläche – und den Stein … Ein Schlag traf ihn, ein Schlag, der alles wegfegte, was ihm bisher wichtig gewesen war, der die verborgensten Seiten seiner Seele nach außen kehrte, der ihm Schmerz und wohliges Empfinden zugleich vermittelte, der die Erkenntnis offenbarte und den düsteren Schleier über der Wahrheit wie in einem Sturmwind davonfegte. Faderkyhl schrie auf. Gebannt starrte er auf den Stein, unfähig, den Blick abzuwenden. Der Zwiespalt, der ihn beherrscht hatte, war erloschen. Sein Leben erhielt einen anderen Sinn, es begann neu – jetzt und hier. Noch wußte er nicht, ob er glücklich war, ob er darüber zufrieden sein sollte und innere Ausgeglichenheit finden würde. Aber es gab etwas, das schwerer wog, das ihn für alles entschädigte und ihm neuen Mut und unbändige Zuversicht verlieh. Er war frei! * Die Andersartigkeit verschiedener Lebewesen mochte die vielfältigsten Ursachen haben. In den meisten Fällen ergaben sich Differenzen und voneinander abweichende Anschauungen jedoch daraus, daß zwei oder mehr Individuen das gleiche Ding aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachteten und infolgedessen gegensätzliche Urteile darüber abgaben. Während sie ziellos im Schiff umhergelaufen war, hatte sich
Zwertelis diesen Grundsatz immer wieder ins Gedächtnis zurückgerufen. Dennoch wußte sie weniger als zuvor, woran sie war. Spürten die anderen das Böse nicht, das dieses Schiff beherrschte, verdrängten sie es oder taten sie es einfach als unwichtig ab? Oder war sie selbst so vom Haß auf den Kommandanten geblendet, daß sie etwas wahrzunehmen glaubte, das nicht wirklich existierte? Erst als sie einsah, daß sie so schnell keine Antwort darauf finden würde, machte sie sich auf den Rückweg zu ihrer Kabine. Nach den aufreibenden Ereignissen der vergangenen Stunden und Tage brauchte sie Ruhe und Entspannung, deshalb war sie froh, daß sie keinem weiteren ihrer Mitpassagiere begegnete. Sie mußte Abstand gewinnen und sich erholen, geistig ebenso wie körperlich. Vielleicht gelang es ihr dann besser, die anderen zu verstehen und die Verhältnisse objektiv einzuordnen. Schon von weitem sah sie, daß die Tür zu ihrer Unterkunft offen stand. Dort fiel ein Streifen hellen Lichts auf den nur schwach beleuchteten Korridor. Augenblicklich vergaß sie alle Pläne, die die Zukunft betrafen, und versuchte, sich auf die unerwartete Situation einzustellen. Jemand war in den ihr zugewiesenen Lebensbereich eingedrungen. In welcher Absicht war er gekommen? Suchte er etwas, wollte er spionieren oder nur mit ihr reden? Leise und vorsichtig ging sie weiter. Wer es auch sein mochte, der sich Einlaß verschafft hatte, sie wollte ihm ihre Annäherung nicht vorzeitig verraten. Falls er feindliche Absichten hatte, konnte sie ihn durch eine überraschende Aktion vielleicht vertreiben. Wachsam spähte sie um den Türrahmen in den Raum hinein. Da stand Faderkyhl, der Noot, am ganzen Körper zitternd, die wuchtigen Schultern leicht nach vorn gebeugt und fasziniert den Stein anstarrend, den sie von Cyrsic mitgebracht hatte. »Was tust du hier?« fragte sie scharf, während sie auf ihn zutrat. Faderkyhl schreckte auf und sah sich verwirrt um, als wüßte er
nicht genau, wo er sich befand. »Ich … ich wollte mit dir reden, weil …« Zwertelis war sicher, daß er sich seit vorhin verändert hatte. Etwas an ihm war völlig anders. »Warum?« hakte sie nach. »Weil du mich ausgelacht hast?« Entschuldigend breitete Faderkyhl die Arme aus. »Deshalb, ja …« Er wirkte hilflos und total verwirrt, fast wie eine ständig unterdrückte Kreatur, die auf dem Weg war, ihr eigenes Ich zu begreifen, ihre Persönlichkeit zu entfalten. Eine irrwitzige Ahnung dessen, was mit dem Noot geschehen sein könnte, schoß Zwertelis durch den Kopf, und ein eisiger Schauer jagte ihr den Rücken entlang. »Jetzt scheint dir nicht mehr zum Lachen zumute zu sein«, stellte sie fest. »Eher das Gegenteil.« »Das ist wahr«, bestätigte Faderkyhl. Allmählich schien er sich zu beruhigen, die neu gewonnenen Eindrücke zu verarbeiten. »Ich habe plötzlich eingesehen, daß du recht hattest. Ja, auf diesem Schiff lebt etwas Böses, das uns nicht wohlgesinnt ist. Wir alle schweben in großer Gefahr.« »Trotzdem seid ihr glücklich und zufrieden …« »Nicht mehr. Ich habe erkannt, daß wir uns geirrt haben, daß wir getäuscht werden sollen.« »Von wem?« Als erwartete er von dort Hilfe, richtete Faderkyhl den Blick abermals auf den marmornen Stein. Kurz straffte sich seine Gestalt, dann begann er wieder zu zittern. »Von Tolfex … vielleicht?« Zwertelis richtete sich auf und ergriff zart den Arm des Noots. »Hör zu, Faderkyhl. Du bist verwirrt und weißt nicht, was mit dir vorgeht. Du solltest dich zur Ruhe legen und allein über alles nachdenken. Danach wirst du dich besser fühlen.« Die Augen des Echsenabkömmlings wurden trüb.
»Ich habe nie in meinem Leben gewußt, was Freiheit bedeutet«, flüsterte er ergriffen. »Jetzt bin ich plötzlich frei – aber ich kann noch nichts damit anfangen.« »Du wirst es lernen«, versicherte Zwertelis. »Wir können später darüber reden. Geh jetzt, bitte.« Schwerfällig und träge, als fürchte er sich, diesen Ort zu verlassen, wandte Faderkyhl sich ab. Eine Weile blickte Zwertelis ihm nach, dann verschloß sie den Eingang zu ihrer Unterkunft. Sie brauchte nicht lange zu überlegen, was die unerwartete Wandlung in der Einstellung des Noots verursacht hatte. Es gab keinen Zweifel. Sie ergriff den Stein und betrachtete ihn von allen Seiten. Auf Cyrsic hatte die Ausstrahlung dieses Gebildes wilde Bestien in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, und hier, auf der ZIEMEN, war sie dafür verantwortlich, daß Faderkyhl das Joch der mentalen Beeinflussung abstreifen und zu sich selbst finden konnte. Wahrscheinlich blieb auch sie, Zwertelis, nur deshalb von der allgemeinen, existenzverachtenden Fröhlichkeit an Bord verschont, weil die Aura der Marmorkugel lange genug auf sie eingewirkt hatte. Das alles erfaßte und begriff sie – aber sie verstand es nicht. Wie war es möglich, daß eine leblose Steinkugel eine spürbare Ausstrahlung verströmte, einen Widerschein von Freiheit und Unabhängigkeit …? Und mehr noch … Sie wollte den Blick abwenden, als sie einsah, daß sie aus eigener Überlegung die Antwort nicht finden würde. Doch eine unheimliche Kraft zwang sie, den Stein weiter anzustarren. Es gelang ihr nicht, sich davon zu lösen. Sie merkte nicht, wie ihre Pupillen sich weiteten und ihr Körper zu zittern begann. Das Bild verschwamm vor ihren Augen. Aus dem Zentrum eines grauen Nebels schält sich ein winziger Punkt von absoluter Schwärze. Etwas dringt behutsam und doch mit
unwiderstehlicher Macht auf sie ein. Auf einer unfaßbaren Ebene verschmilzt sie mit dem Fremden, wird eins mit ihm,… Irgendwo wispern Stimmen, vertrauenerweckende, sanfte Stimmen. Zwertelis versteht nicht, was sie sagen. Sie weiß nicht, wo sie herkommen und was sie bedeuten. Hört sie sie, oder sind sie in ihr? Suchen sie Kommunikation, oder vermitteln sie allein durch ihre Gegenwart Wissen? Für einen Moment verliert die Denkende ihre Identität. Sie ist ein kleiner, schwarzer Punkt inmitten eines wallenden Nebels der Desorientierung, umgeben und durchdrungen von raunendem, unverständlichem Flüstern. Sie ist ein dunkler Raum, ist Yeers und Olken und nichts von alledem. Doch so plötzlich, wie er zustande gekommen ist, bricht der Kontakt wieder ab. Das Bild wurde klar. In ihrer Kabine stand Zwertelis und betrachtete verwirrt die Marmorkugel, die sie auf so geheimnisvolle Weise in ihren Bann geschlagen hatte. War es ein Traum gewesen? Wirklichkeit? Daß der Stein ein Geheimnis in sich barg, hatte sie längst erfaßt. Doch jetzt, nach diesem seltsamen, unbewußten Erlebnis, war sie sich plötzlich darüber im klaren, daß das Objekt an einen bestimmten Ort gebracht werden mußte, daß es ein Ziel dafür gab, an dem allein es seine vorbestimmte Wirkung zum Wohle aller Völker entfalten konnte. Eine Ahnung dessen jedoch, wie sie die Kugel an das Ziel transportieren sollte, wo der Bestimmungsort überhaupt lag, war ihr nicht zuteil geworden – noch nicht. 6. »Du weißt, daß du einer großen Aufgabe dienen wirst?« »Ja.« »Du bist glücklich?«
»Ja.« »Du kennst das Ziel?« »Ich bin mir bewußt, daß dort mein Glück erst die Vollkommenheit erlangen wird.« »Gut.« Noch einmal musterte Tolfex genau das kantige Gesicht mit den stechenden, tiefliegenden Augen, das auf einem Monitor wiedergegeben wurde. Es sagte nichts über den Gemütszustand und die innere Verfassung seines Trägers aus. Erst jetzt, nach der kurzen Befragung, war er sicher, daß er dem Havaren vertrauen konnte. »Höre zu, Usmaender«, sagte er. »An Bord der ZIEMEN befinden sich viele Lebewesen, die so denken wie du und die die Vervollkommnung ihrer Zufriedenheit als das höchste Gut einschätzen. Es gibt jedoch zwei Individuen, deren Verhalten mich beunruhigt und mich zweifeln läßt, ob sie das große Ziel noch vor Augen haben. Das sind Zwertelis und der Noot. Ich möchte, daß du sie beobachtest und die Wahrheit über ihr Denken ergründest.« »Meine Fähigkeiten sind nicht sehr ausgeprägt«, warf Usmaender ein. »Ich weiß nicht, ob ich die Aufgabe zu deiner Zufriedenheit erfüllen kann.« »Du wirst es versuchen«, verlangte Tolfex, »und mir so bald wie möglich Bericht erstatten.« An der Art, wie er den Kopf bewegte, erkannte er, daß der Havare eine unterwürfige Haltung einnahm. »Ich tue, was du befiehlst«, bekräftigte Usmaender. Zufrieden schaltete der Koordinator ab. In den vergangenen Tagen war er zunehmend unruhiger geworden. Manchmal überkam ihn der drängende Wunsch, sich zu bewegen – Nervenimpulse seines Gehirns, die keinen funktionierenden Empfänger fanden. Dann wollte er aufspringen und im Schiff umherlaufen, wollte sich unter die Passagiere mischen, mit ihnen reden und sie aushorchen, sich einen
persönlichen Eindruck verschaffen, der nicht durch die Sterilität der Überwachungsanlagen verzerrt wurde. Wahrscheinlich hätte er schnell herausgefunden, was ihn am Verhalten Zwertelisʹ und Faderkyhls störte, ob die beiden sich wirklich seltsam benahmen, oder ob er sich das vielleicht nur einbildete. Doch Tolfex blieb starr. Nichts an ihm rührte sich, die Augen ausgenommen, die alles aufmerksam beobachteten, was um ihn herum vor sich ging. Er wußte, daß es nicht genug war. Etwas hatte er übersehen in den letzten Stunden oder Tagen. Zu sehr hatte er sich auf seine Aufgabe konzentriert, hatte alle Planeten, deren Daten ihm zugänglich waren, angeflogen und weitere Exemplare in seine Sammlung ursprünglicher Lebensformen aufgenommen. Erst jetzt, als die Mission fast abgeschlossen war – in dem Rahmen zumindest, in dem er sie zu erfüllen vermochte –, war er auf das veränderte Verhalten der zwei Passagiere aufmerksam geworden. Faderkyhl – er lachte nicht mehr, trieb keine Späße mehr, äußerte grüblerische Gedanken und wurde von den anderen deswegen mehr und mehr gemieden. Zwertelis – sie war schon immer ruhig gewesen, doch jetzt kapselte sie sich völlig ab, suchte keinerlei Kontakt mit anderen Passagieren und hielt sich fast nur noch in ihrer Unterkunft auf. Etwas war mit ihnen geschehen. Etwas schien die Fröhlichkeit, die Zufriedenheit und die Gedanken an die Erfüllung des Glücks aus ihren Seelen verdrängt zu haben. Es war gefährlich und konnte das große Ziel, das er mit seiner Mission vorbereiten half, ernsthaft gefährden. Soweit durfte es nicht kommen. Insgeheim beglückwünschte sich Tolfex, daß der Havare, den er an Bord genommen hatte, ein Wahrheitsfinder war, nicht etwa ein Universalredner oder ein mit sonstigen Fähigkeiten ausgestattetes Mitglied dieses Volkes. Kraft seines Geistes vermochte Usmaender die Gedanken anderer Lebewesen zu erfassen und deren Sinn zu begreifen, und wenn er es halbwegs geschickt anstellte, konnte er wertvolle Hinweise liefern, wie das beunruhigende Verhalten des
Noots und der Denkenden einzustufen war. Von seinem Urteil würde es abhängen, ob der Koordinator sein Mißtrauen vorläufig begrub oder angemessene Gegenmaßnahmen einleitete. Selbst konnte Tolfex nichts tun, um sich eine schlüssige Meinung zu bilden. Er konnte nur beobachten, und das war in diesem Fall zu wenig. Wieder war er auf die Hilfe anderer angewiesen. Er besaß Befehlsgewalt und Macht, aber er war nicht fähig, die geringfügigste manuelle Tätigkeit auszuüben. Es schmerzte ihn und steigerte abermals seine Unzufriedenheit mit sich, seine Selbstverachtung, den schleichenden Haß gegen die eigene Person. So wie er selbst niemals Gnade gegenüber anderen walten ließ, war er den Fesseln eines grausamen Schicksals verhaftet, das seinerseits keine Gnade kannte – und während er auf Usmaenders Bericht wartete, begann er sich zu fragen, was ihn eigentlich noch leben ließ. Waren es seine grenzenlose Autorität, die Macht, die Loyalität zum Dunklen Oheim, das tröstende und schmeichelhafte Gefühl seiner momentanen Wichtigkeit … oder einfach die körperliche Unfähigkeit, dieses erbärmliche Dasein aus eigener Kraft zu beenden? * Nie hätte Faderkyhl erwartet, in diesem abgeschiedenen Sektor des Sternenschiffs ausgerechnet dem tamatischen Zwerg zu begegnen. Der Korridor, den er entlangging, war nur schwach beleuchtet und wirkte ungepflegt, gerade so, als sei er seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Eine dichte, unberührte Schicht grauen Staubes bedeckte den Boden, die Schotte an den Seitenwänden standen offen, und an einigen Stellen türmten sich Abfälle und ausrangierte Maschinenteile. Der Noot fühlte sich in dieser Umgebung keineswegs wohl, aber sie mochte ihm helfen, endlich die erhoffte Besinnung zu finden. Seit
dem Erlebnis in Zwertelisʹ Unterkunft befand er sich in ständigem inneren Zwiespalt. Noch war seine neuentdeckte Persönlichkeit nicht ausgeprägt und gefestigt genug, um die Erkenntnis, daß er und alle anderen mißbraucht und manipuliert wurden, als Tatsache hinzunehmen und zu verkraften. Noch war er nicht fähig, seine individuelle Freiheit in dem gebotenen Maß zu schätzen und als positiven Wert einzuordnen. Nicht immer war er glücklich über seine Wandlung. Sie hatte ihn zum Außenseiter werden lassen, der den Kontakt mit den anderen, den Unfreien, sorgsam mied. Manchmal fragte er sich, warum er, nachdem er die Kabine der Denkenden verlassen hatte und dem hypnotischen Bann der Marmorkugel entronnen war, nicht wieder von jener allgemeinen Fröhlichkeit befallen wurde. Lag es daran, daß er sich schon früher gegen die künstlich erzeugte Euphorie gewehrt hatte, daß er erst nach dem Kontakt mit der schrecklichen Aura des Koordinators seine unbewußten Zweifel und seine Neugier verdrängt hatte? Besaß er eine geringfügige natürliche Immunität, die erst durch den Stein von Cyrsic gefestigt worden war? Faderkyhl fand keine Antwort. Er wußte nicht, was er mit sich und seiner Freiheit anfangen sollte. Er suchte die Einsamkeit. Allein wollte er sein, um mit sich und seinen Gedanken ins reine zu kommen, deshalb hatte er den Weg in die unbelebten Regionen des Sternenschiffs eingeschlagen. Um so ärgerlicher war er, als er hinter sich tappende Schritte vernahm. Der gelbhäutige Zwerg hüpfte an ihm vorbei und stellte sich ihm in den Weg. Faderkyhl blieb stehen und machte eine zornige Geste. »Was willst du? Hat man nirgends Ruhe vor dir?« »Ich bin dir gefolgt«, sagte der Tamater gelassen, als sei es der selbstverständlichste Vorgang, den er sich denken konnte, »weil ich alleine mit dir reden wollte.« »Tolfex schickt dich«, argwöhnte der Noot. »Du sollst mich
aushorchen, weil ihm meine Schweigsamkeit nicht paßt. Du kannst ihn beruhigen. Ich bin so normal, wie man nur sein kann.« »Du redest Unsinn! Ich bin aus eigenem Antrieb gekommen.« »Das kannst du erzählen, wem du willst«, fuhr Faderkyhl ihn an, »aber nicht mir.« Ohne den Kleinen weiter zu beachten, setzte er seinen Weg fort. Doch wenn er geglaubt hatte, den Tamater zur Umkehr zu bewegen, sah er sich getäuscht. Der Zwerg folgte ihm beharrlich. »Wir alle sind beunruhigt darüber, daß du in letzter Zeit so nachdenklich und sentimental geworden bist«, plapperte er hinter ihm her. »Das entspricht nicht deiner Art, Faderkyhl, und deshalb sind wir auf den Gedanken gekommen, du könntest Probleme haben, die du alleine nicht bewältigen kannst. Wir haben beschlossen, dir unsere Hilfe anzubieten. Deshalb bin ich hier.« »Dann bestelle den anderen meinen aufrichtigen Dank und sieh zu, daß du verschwindest«, forderte Faderkyhl, ohne sich umzusehen. »Ich brauche eure Hilfe nicht.« Der Tamater ließ sich nicht abschütteln. »Du bist zornig und verbittert«, rief er, »und ich werde nicht eher gehen, bis du mir gesagt hast, woran es liegt und wer daran schuld ist.« Auf dem Absatz wirbelte Faderkyhl herum und stoppte den Lauf des kugelförmigen Körpers, indem er fest zupackte und ihn so hoch hob, daß der Sehkranz des anderen mit seinen Augen eine Linie bildete. Überrascht schrie der Zwerg auf und zappelte wild mit den Beinen. »Hör gut zu, Quälgeist!« knurrte Faderkyhl mit deutlicher Drohung in der Stimme, während der Tamater sich wehrlos in seinen Armen wand. »Ich habe dir gesagt, daß ich mit niemandem reden möchte, weder mit dir noch mit sonst jemand. Mein Gemütszustand geht nur mich etwas an. Nicht einmal Tolfex hat sich da einzumischen! Ich will alleine sein, und wenn du das nicht akzeptieren willst, wird es mir notfalls mit Gewalt gelingen, dich
von der Ernsthaftigkeit meines Wunsches zu überzeugen.« Seine Augen blitzten. Der Tamater verhielt sich plötzlich ganz ruhig. »Du haßt uns …!« stieß er entsetzt hervor. Faderkyhl kam sich vor, als habe ihm jemand einen harten Gegenstand gegen den Schädel geschmettert. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er eine massive Drohung ausgesprochen hatte, die er keineswegs spaßig gemeint hatte. Verwirrt setzte er den Zwerg ab. »Nein …«, murmelte er betroffen. »Nein, ich hasse euch nicht.« Ruhig stand der Tamater vor ihm. Er hatte sich schnell gefangen und die aufflackernde Angst abgeschüttelt. »Wen dann?« fragte er gefaßt. »Tolfex …?« »Tolfex?« wiederholte Faderkyhl leise. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Wie hatte er so heftig reagieren können, weil einer seiner Freunde ihm Unterstützung anbot? War es deshalb, weil sie alle vom Koordinator der Ewigkeit beeinflußt wurden? »Tolfex … vielleicht.« »Warum?« hakte der Tamater kompromißlos nach, als spüre er, welche Gedanken den Noot quälten. »Warum haßt du ihn?« Faderkyhl starrte ihn an. Erstmals wurde ihm klar, daß die Freiheit zu denken auch die Freiheit der Gefühle einschloß: die Freiheit, zu achten, zu lieben – und zu hassen. Er durfte sich nicht verstecken hinter hemmenden Schranken, die längst niedergerissen waren. Er mußte sich bekennen zu dem, was in ihm vorging. Nur dann war er wirklich frei. »Er … betrügt uns!« brach es aus ihm heraus, so laut und heftig, daß der Tamater erschrocken einen Schritt zurückwich. »Er macht uns glauben, daß wir zur Erreichung des absoluten Glücks ausersehen sind, dabei verkörpert er das Böse an sich und wird uns in die schrecklichste aller Höllen führen, wenn wir ihm weiter blind folgen.« Seltsamerweise fühlte sich Faderkyhl erleichtert nach diesen Worten. Sie hatten ihm Luft verschafft und wiederum einen Teil
seines eigentlichen Selbst freigelegt. Die Reaktion des Tamaters überraschte ihn nicht. »Du redest wirr«, warf ihm der Zwerg vor, während er sich Schritt für Schritt zurückzog, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Du weißt nicht, was du sagst.« Er hatte Angst, das war deutlich. Er fürchtete sich vor einem Freund, der nach seiner Ansicht dabei war, den Verstand zu verlieren. Natürlich, er stand weiterhin unter Tolfexʹ Einfluß, und Faderkyhl war weit davon entfernt, ihm deswegen Vorhaltungen zu machen. Aber der Noot war auch nicht bereit, weiter Rücksicht zu nehmen. Er mußte an sich selbst denken. »Ich weiß genau, was ich sage«, erwiderte er scharf. »Ich kenne einen Teil der Wahrheit. Hast du dir einmal überlegt, warum von jedem Volk nur ein Exemplar an Bord der ZIEMEN ist? Kannst du mir erklären, worin das vollkommene Glück, das Tolfex uns verspricht, liegen soll?« Der Tamater streckte abwehrend die Arme von sich. »Faderkyhl!« Seine Stimme klang beschwörend, flehend. »Du steckst in einer seelischen Krise und machst dafür den Koordinator der Ewigkeit verantwortlich. In deinem Wahn unterstellst du ihm entsetzliche Dinge. Dabei – der Dunkle Oheim ist mein Zeuge! – hat er uns ausersehen, die Erfüllung zu erfahren.« »Du bist ein Narr! Ihr alle seid Narren! Ihr sonnt euch in einer ausgeglichenen Zufriedenheit, die von Tolfex künstlich hervorgerufen wird, um sich euer Wohlwollen und eure Untertänigkeit zu erhalten. Ich empfehle euch, Zwertelis, die Denkende, zu besuchen. Warst du nicht der erste, der sich um sie kümmerte? Geh in ihre Unterkunft, Tamater, und du wirst sehen, daß ich recht habe!« Der Zwerg wich einen weiteren Schritt zurück. Es war eine nicht sonderlich elegante Art, die Flucht vor etwas anzutreten, was das eigene Begriffsvermögen überforderte.
»Zwertelis! Hat sie dir deine Zweifel eingeredet! Gut, ich werde mich um sie kümmern. Vielleicht kann ich sie eher überzeugen als dich.« »Versuche es«, knurrte der Noot zornig. »Du wirst der nächste sein, der lernt, sich selbst zu erkennen.« Immer noch ging der Tamater langsam rückwärts. Erst als er abschätzen konnte, daß die Entfernung zwischen ihm und dem Echsenabkömmling groß genug war, sich bei einem Angriff rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, sagte er: »Sollte es dir einfallen, wieder normal zu werden, kannst du dich gerne wieder mit uns zusammentun. Wir sind nicht nachtragend.« Faderkyhl hob einen Arm, als wollte er einen unsichtbaren Gegenstand werfen. »Scher dich weg!« schrie er aufgebracht. »Ich will dich nicht mehr sehen!« Der Tamater würdigte ihn keines weiteren Blickes. Schweigend drehte er sich um und lief davon. Faderkyhl blieb alleine zurück, stand zitternd in einem düsteren Korridor, an dessen Decke nur jede dritte Leuchtplatte mattes Licht spendete. Erst jetzt merkte er, wie sehr ihn der Streit mit dem Zwerg erregt hatte. Alles, was ihn bewegte und was die anderen nicht zu begreifen in der Lage waren, hatte er herausgeschrien und einem zuverlässigen Freund dabei bitter Unrecht getan. Er schämte sich dafür, denn weder dem Tamater noch sonst jemand war das blinde Vertrauen in Tolfexʹ Versprechungen anzulasten oder vorzuwerfen. Sie alle waren manipuliert, und es war egoistisch und selbstgefällig, sie deswegen anzugreifen. Aber der Noot spürte auch, daß ihn sein Zornausbruch befreit hatte, daß er selbstsicherer geworden war und den bislang unbekannten Zustand der Freiheit mit allen seinen Konsequenzen begriff. Plötzlich wurde ihm klar, daß er diese Freiheit nicht für sich allein in Anspruch nehmen durfte, sondern daß er verpflichtet war, alles zu tun, damit auch die anderen in ihren Genuß kamen. Noch
hatte er keine Vorstellung, wie er es bewerkstelligen sollte, doch er war entschlossen, zu handeln, sobald ihm eine brauchbar erscheinende Idee einfiel. Allmählich entspannte sich Faderkyhl. Er wurde immer ruhiger. Als er sich schon anschickte, in seine Unterkunft zurückzukehren, hörte er abermals Schritte. An der schleichenden Gangart erkannte er, daß es keiner seiner Freunde sein konnte, der sich im Halbdunkel herumtrieb. Es mußte jemand sein, der die Absicht hatte, ihm aufzulauern oder ihn heimlich zu beobachten. Die Schritte verstummten. Wäre der Fremde um den Bruchteil einer Sekunde eher stehengeblieben, hätte der Noot seine Anwesenheit nicht bemerkt. So aber hatte er sich verraten. Faderkyhl rührte sich nicht. Er starrte in die Richtung, aus der er die Geräusche vernommen hatte, aber in dem Dämmerlicht vermochte er nichts zu erkennen. Vielleicht war er auch nur einem Streich seiner Nerven aufgesessen und hatte sich getäuscht. Dennoch glaubte er förmlich spüren zu können, daß er in Gefahr schwebte, daß ein Unbekannter sich irgendwo versteckt hatte, um ihm nachzuspionieren. Der Todesbote! schoß es Faderkyhl durch den Kopf. Tolfex mußte längst bemerkt haben, daß er sich seltsam verhielt, daß etwas mit ihm nicht stimmte, und die logische Konsequenz daraus war, daß er das Stangenwesen abermals auf ihn ansetzte. Unerbittlich kroch die Angst in ihm hoch. Der Todesbote war ein unnachgiebiges, gefährliches Geschöpf, gegen das er nicht die geringste Überlebenschance besaß. Andererseits … Faderkyhl begann sich zu fragen, warum er nicht längst angegriffen worden war. Der Koordinator der Ewigkeit hatte kein Geheimnis daraus gemacht, wie er vorzugehen gedachte, falls der Noot sich erneut gegen ihn stellte. Der Todesbote hätte mit ihm kurzen Prozeß machen können. Nein, es mußte jemand anders sein, der ihm im Halbdunkel auflauerte, vielleicht sogar einer seiner Freunde, der in ihm einen
Hemmschuh auf dem Weg zum vollkommenen Glück sah und ihn beseitigen wollte. Die Angst in ihm schwand. Er wußte, daß er den meisten Passagieren der ZIEMEN – den Todesboten ausgenommen – körperlich überlegen war. Er würde sich nicht verstecken oder den Rückzug antreten und warten, was der andere unternahm. Er würde seinerseits angreifen und sein Leben und seine Freiheit zu verteidigen wissen. Seine Freiheit zu verteidigen wissen … Freiheit … Freiheit … Faderkyhl schloß entsetzt die Augen. Wie ein fernes Echo hallten die eigenen Gedanken in ihm nach. Er begriff es mit schockierender Plötzlichkeit. Diese Gedanken gehörten ihm nicht mehr allein. Irgend etwas schob sich fast unmerklich in seinen Geist, suchend und sondierend, behutsam seine Überlegungen nachvollziehend. Eine unheimliche Kraft drang in ihn und nahm alle mentale Substanz in sich auf. Nur die Wahrheitsfinder aus dem Volk der Havaren besaßen diese Fähigkeit. Faderkyhl wurde ausgehorcht, von einem Telepathen und auf hinterlistigste Weise. Er konnte sich nicht dagegen wehren, höchstens, indem er den Fremden angriff. Wieder vernahm er Schritte, hastig und unregelmäßig diesmal. Natürlich, der Havare hatte seine Absicht erkannt und schickte sich an, die Flucht zu ergreifen. Aber er würde ihm zuvorkommen. Er sah den Schatten, der sich aus einer Nische des Korridors löste, und setzte ihm nach, weit und kräftig ausholend. Rasch schrumpfte die Distanz zu dem Spion. Gleich würde er ihn eingeholt haben. Faderkyhl war sich darüber im klaren, daß er seine Gedanken nicht abschalten oder unterdrücken konnte. Bei jeder Aktion, und sei sie noch so spontan und impulsiv, entstanden die Impulse in seinem Gehirn, die das Denken ausmachten. Der Havare würde sie aufnehmen und verstehen können. Aber es nutzte ihm nichts. Er mochte gewußt haben, daß der Noot ihn angreifen würde, bevor dieser seinen Entschluß in die Tat umgesetzt hatte. Trotzdem konnte er keinen Nutzen daraus ziehen.
Faderkyhl war schneller. Er erreichte den Flüchtenden und riß ihn im Sprung zu Boden. Der Havare schrie auf. Faderkyhl kam als erster wieder auf die Beine, packte den dürren, knochigen Körper mit beiden Krallenhänden, zog ihn hoch und drängte ihn gegen die Wand. Grüne Augen blickten ihn aus tiefen Höhlen verschüchtert an. »Tolfex hat dich geschickt, um mich auszuhorchen!« machte der Noot seinem Zorn lautstark Luft. »Aber er hat sich getäuscht. Ich bin frei, und ich werde frei bleiben!« »Du bist dir deiner sehr sicher«, sagte der Havare, und in seine Augen trat ein tückischer Glanz. »Aber du überschätzt dich. Was du vorhast, wird mich nicht beeindrucken.« »Warte es ab!« Innerlich triumphierte Faderkyhl. Er hatte den Havaren in seiner Gewalt. Der Wahrheitsfinder konnte seine Gedanken lesen, soviel er wollte. Der befreienden Macht der Marmorkugel würde er nicht widerstehen können. * Usmaender wußte, was ihn erwartete. Noch bezweifelte er, daß der ominöse Stein, der in den Gedanken des Noots herumspukte, ihm etwas anhaben konnte, aber völlig sicher war er sich dessen nicht. Ohne daß er in der Lage war, sich körperlich zur Wehr zu setzen, zog Faderkyhl ihn mit sich, der seine mittlerweile erworbenen Kenntnisse über die Konstruktion der ZIEMEN dadurch unter Beweis stellte, daß sie niemandem auf ihrem Weg begegneten. Vor einem Schott blieben sie schließlich stehen. Der Noot öffnete es und stieß den Havaren in den dahinter liegenden Raum. Ein vierbeiniges Pelzwesen blickte ihm entgegen. Usmaender erfaßte Verwirrung und Überraschung, die Zwertelisʹ Gedanken beherrschten. Sie wußte nicht, was der unerwartete Besuch zu
bedeuten hatte. »Zeig ihm den Stein!« rief Faderkyhl. Den Arm des Havaren hielt er weiter fest umklammert. »Mein Freund hier möchte die Wahrheit kennenlernen.« Usmaender wand sich in dem Griff, aber er kam nicht frei. Wortlos griff die Denkende nach einem kugelförmigen Gebilde, das sie unter einem Tuch verborgen hatte, und streckte es ihm auf einer Pfote entgegen. Andere, prominente und erfahrene Mitglieder seines Volkes hätten dem Widerschein der Freiheit vielleicht widerstehen können, Aislander etwa, oder Verkonder. Er, Usmaender, war zu jung und unbedarft, hatte die eigenen Fähigkeiten gerade erst erkannt und sie noch lange nicht zur Perfektion ausgebaut. Dem Einfluß der Marmorkugel erlag er sofort. Augenblicklich entspannte er sich. Er merkte, daß der Noot ihn losließ, während Fröhlichkeit, Zufriedenheit und Glückserwartung von ihm abfielen wie der Schatten einer fremden Gewalt, die den Blick auf das Licht versperrt und sich nun entfernt hatte. Alles streifte er ab, was ihm bisher wichtig erschienen war. Er trieb in den Fluten eines unbekannten, offenen, freien, erlösenden Ozeans, genoß das Gefühl der Unabhängigkeit, diesen völlig neuen Eindruck, der ihm immer weniger fremd und ungewöhnlich erschien. Stimmen drangen auf ihn ein, wispernde, geheimnisvolle Stimmen. Anders als Zwertelis war er, dessen Begabung es war, die Gedanken Fremder aufzufangen, in der Lage, die Botschaft zu verstehen. Er erkannte die unschätzbare Bedeutung, die der Marmorkugel innewohnte. Das Flüstern in seinem Gehirn wurde deutlicher. Noch war der Kontakt einseitig und unwirklich … »Ringwelt …« stammelte der Havare, unbewußt das wiedergebend, was ihm auf mentaler Basis über Lichtjahre hinweg mitgeteilt wurde. »Die Kugel muß zur Ringwelt transportiert werden …«
Die eigene Stimme hörte Usmaender wie aus weiter Ferne, aber sie half ihm, seine Verwirrung niederzukämpfen. Der Ozean, in dem er schwamm, verdichtete sich und nahm faßbare Konturen an. Er stand in einer Kabine des Sternenschiffs ZIEMEN, wurde von zwei Wesen beobachtet, die gleich ihm die psychische Freiheit erlangt hatten, und hörte fremde Stimmen, die sich um Kommunikation bemühten. Das heillose Durcheinander in seinen Gedanken schwand zusehends und machte nüchterner Überlegung Platz. Immer besser gelang es ihm, sich zu konzentrieren und seine telepathischen Fähigkeiten einzusetzen, um auf geistiger Ebene ein Gespräch zustande zu bringen. Er wußte, wie wichtig es für die Zukunft der Schwarzen Galaxis und ihrer Völker war … Faderkyhl verfolgte das Geschehen verständnislos. »Was heißt das: Die Kugel muß zur Ringwelt gebracht werden?« fragte er, während er die Denkende und den Havaren abwechselnd ansah. »Was will er damit sagen?« »Sei still!« zischte Zwertelis. »Wir werden es bald erfahren.« Im Gegensatz zu dem Noot ahnte sie, was die anhaltende Starre des Wahrheitsfinders bedeutete. Sie selbst hatte vor kurzem über die Marmorkugel eine Botschaft empfangen, wenn auch undeutlich und ohne die Möglichkeit, darauf einzugehen. Anscheinend gelang es Usmaender, den schwachen Kontakt auszubauen und zu intensivieren. Man mußte ihm Zeit lassen, alles zu verarbeiten. Endlich, nach einer langen Zeit drückenden Schweigens, löste sich der Havare aus der Trance. Seine silbernen Kieferbacken mahlten knirschend aufeinander. Er vermied es, die Gedanken der anderen zu lesen, die plötzlich Freunde für ihn waren. Einen Schritt trat er auf Zwertelis zu und streckte auffordernd einen Arm aus. »Gib mir die Kugel«, bat er ruhig. Hastig zog die Denkende die Pfote zurück. »Wozu willst du sie haben?« fragte sie mit leisem Mißtrauen. »Was hast du erfahren?« »Ich weiß jetzt, daß ein schreckliches Schicksal auf uns wartet«,
sagte Usmaender. »Aber ich habe Dinge gehört, deren Sinn mir noch unklar ist. Deshalb will ich zu Tolfex vordringen und ihn mit der Ausstrahlung der Marmorkugel konfrontieren. Vielleicht erfahre ich dann von ihm die ganze Wahrheit.« »Es gibt keinen Weg, der zu Tolfex führt«, mischte sich Faderkyhl ein. »Seine Aura ist so stark, daß niemand zu ihm vordringen kann. Ich habe es versucht und bin gescheitert.« »Deshalb brauche ich den Stein«, bekräftigte der Havare. »Er hat mir zur Freiheit verholfen, und er wird mich auch vor der bösen Ausstrahlung des Koordinators schützen. Gibst du ihn mir?« Noch immer zögerte Zwertelis. Der Gedanke, das wertvolle Instrument aus der Hand zu geben, bereitete ihr Unbehagen. »Ich werde dich begleiten«, beschloß sie spontan. »Und ich mache zur Bedingung, daß du uns sagst, was du von den Stimmen erfahren hast.« Der Blick der grünen Augen wurde stechend. »Die Kugel muß zur Ringwelt gebracht werden«, wich Usmaender aus. »Allerdings habe ich keine Ahnung, wo dieser Ort zu suchen ist und …« »Das meine ich nicht«, unterbrach Zwertelis ärgerlich. »Du weißt mehr, als du uns sagen willst.« »Du hast erfahren, welche Bestimmung auf uns wartet«, ergänzte Faderkyhl. »Das wollen wir hören.« Der Havare sah ein, daß er sich unglaubwürdig machte und mit keiner Unterstützung rechnen durfte, wenn er das Geheimnis nicht preisgab. Er hatte kein Recht, die Information, die er erhalten hatte und die ihn mit unerklärlichem Grauen erfüllte, zu unterschlagen. Eine unkontrollierte Reaktion der beiden mußte er in Kauf nehmen. »Wir sind ausersehen«, sagte er, »der Entstehung eines neuen Neffen beizuwohnen.« 7.
Die ZIEMEN befand sich auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort. Tolfex hatte den Befehl zum Aufbruch gegeben, obwohl ihm die Lösung seiner Aufgabe nicht vollständig gelungen war. Aber er wußte, daß er den Auftrag so gut ausgeführt hatte, wie es ihm die besonderen Umstände im Marantroner‐Revier gestatteten. Der Dunkle Oheim würde ihm die Anerkennung nicht versagen und seine Bemühungen zu schätzen wissen. Von den Strapazen der vergangenen Tage ausgelaugt und müde, hatte der Koordinator sich zur Ruhe begeben. Auch er, ein Wesen, das nicht fähig war, seinen Standort zu wechseln, das in der Starre lebte und nicht mehr als ein Fragment seiner selbst darstellte, bedurfte der Entspannung. Das Gehirn – Zentrum seiner Existenz, Empfänger von Informationen und Sender von Befehlen, Schaltzentrale eines komplexen Überlebensmechanismus – mußte sich erholen, mußte Eindrücke verarbeiten, geistige Energie sammeln, abschalten. Die Kontrollelemente, die rund um seinen Lebensbereich gruppiert waren, würden ihn rechtzeitig warnen, falls etwas Unvorhergesehenes geschah. Tolfex schlief fest und scheinbar traumlos – und er verpaßte abermals eine Entwicklung von unschätzbarer Tragweite. Als ihn der Impuls einer Überwachungseinheit aus dem Schlaf riß, ahnte er noch nicht, daß er den Fortgang tödlicher Ereignisse nicht mehr aufhalten konnte. »Usmaender und Zwertelis nähern sich der Sperrzone«, lautete die sachliche Meldung. Tolfexʹ Blick suchte den Bildschirm, auf dem die entsprechende Szene wiedergegeben wurde. Die beiden ungleichen Wesen bewegten sich jenen Korridor entlang, den schon Faderkyhl benutzt hatte, um zu ihm vorzudringen. Das allein war kein Grund zur Besorgnis. Der Havare hatte einen klar umrissenen Befehl, und es war denkbar, daß er den Koordinator aufsuchen wollte, um Bericht zu erstatten. Es war auch verzeihlich, daß er den Raum, der zur
Kommunikation zwischen Passagieren und Kommandant diente, unbeachtet ließ und offenbar den direkten Kontakt suchte. Und daß die Denkende bei ihm war, mochte eine Erklärung darin haben, daß Zwertelis sich aufsässig benommen hatte und als Gefangene vorgeführt werden sollte, auch wenn sie sich relativ frei bewegte. Nein, es war etwas anderes, was Tolfexʹ Gedanken für einen Moment lähmte und ihn entsetzt auf den Monitor starren ließ. Die Membranen, die vom Sprachenzentrum eines Gehirns gesteuert wurden, produzierten einen unmodulierten, krächzenden Laut. Das Bedürfnis, aufzuspringen, einen Körper zu bewegen, Nervosität und Unsicherheit in Gesten auszudrücken und durch physische Taten abzubauen, wurde übermächtig. Was er wahrnahm, durfte es nicht geben – nicht auf diesem Schiff, nicht in seiner unmittelbaren Nähe! Zwertelis und Usmaender drangen in die Verbotene Zone ein, als existiere sie nicht! Zügig kamen sie voran. Sie gingen aufrecht und geradlinig, wirkten überaus sicher und gefaßt. Nichts deutete darauf hin, daß sie die Ausstrahlung des Koordinators überhaupt wahrnahmen, geschweige denn, davon beeinflußt wurden. Tolfexʹ Unruhe stieg ins Unermeßliche. Hier geschahen Dinge, die er nicht begriff, die er nicht kontrollieren konnte. Er empfand Angst. Der Impuls, sich zurückzuziehen, versiegte im Nichts. Furchtlos und unbeeindruckt näherten sich der Havare und die Denkende dem Schott, das die Befehlszentrale abriegelte. Die Roboter oder den Todesboten hätte er auf sie hetzen können, aber in seiner momentanen Verwirrung war er nicht fähig, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Er stand wie unter einem Schock, sah, daß etwas Unerhörtes vor sich ging und war doch weit davon entfernt, die Tatsachen anzuerkennen und sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Etwas lähmte seinen Geist. Etwas, das in so hohem Maß positiv war, daß blankes Entsetzen über ihn hereinbrach.
Nichts von dem, was in seiner Nähe geschah, war seinem Verstand mehr zugänglich. Er spürte den drängenden Einfluß einer grausamen Macht, die ihm in allen Belangen überlegen war. Plötzlich wußte er, daß es keine Rettung für ihn gab, wenn es den Eindringlingen gelang, das Schott zu öffnen. Schutzlos würde er jenem geheimnisvollen Etwas ausgesetzt sein. Es würde ihn töten. Innerlich bäumte er sich auf, versuchte, das Unvermeidliche abzuwenden. Konzentrieren konnte er sich nicht mehr. Er war nicht mehr fähig, seine geistige Kraft zu sammeln, zu bündeln, zielgerichtet einzusetzen. In einem einzigen, panischen Impuls stieß er alles von sich, was ihm an negativer Energie innewohnte, blind und unüberlegt. Es war zu spät. Unerbittlich griff das Fremde weiter nach ihm und begann ihn auszulaugen. Wie durch einen Schleier erkannte er auf dem Monitor, daß Zwertelis sich zurückzog. Sie schien dem psionischen Ausbruch erlegen zu sein. Usmaender aber ging weiter. Mit ihm näherte sich das Verderben. Tolfex konnte nichts mehr tun. Verzweifelt schrie er nach dem Todesboten – letzte Hoffnung, doch noch einen Sieg davonzutragen. Aber als das Schott sich öffnete, wußte er, daß auch das Stangenwesen ihm nicht mehr helfen konnte. Mit entsetzlicher Macht schlug ihm der Widerschein der Freiheit entgegen, umspülte seine Gedanken, fraß sich ätzend und brennend in seinen Geist. Es war das letzte, was er bewußt wahrnahm. Tolfex starb. * »Wie mag er aussehen?« fragte Zwertelis, während sie neben dem Havaren in den Hauptkorridor einbog. »Niemand von uns hat ihn je zu Gesicht bekommen.« Usmaender sah sich aufmerksam um und stellte fest, daß ihnen
von keiner Seite Gefahr drohte. Erst dann antwortete er. »Gerüchte besagen, daß er keinen Körper besitzt oder zumindest diesen nicht gebrauchen kann. Er hat sich noch nie in der Öffentlichkeit gezeigt. Die Koordinatoren der Ewigkeit sind eine Macht, die stets aus dem Hintergrund operiert und deren sorgsam gehütetes Geheimnis noch niemand hat lüften können.« »Dann werden wir die ersten sein.« »Noch sind wir nicht am Ziel«, dämpfte Usmaender die Erwartungen seiner Begleiterin. »Wir werden nicht ohne weiteres zu Tolfex vordringen können. Er wird uns längst bemerkt haben und bereits Gegenmaßnahmen einleiten.« »Ich habe keine Angst vor ihm«, versicherte Zwertelis. »Der Noot hat mir erzählt, daß Tolfex von einer bösartigen Aura umgeben ist, die jeden ungebetenen Besucher von ihm fernhält. Ich spüre sie zwar, aber sie macht mir nichts aus.« Usmaender antwortete nicht. Er war bei weitem nicht so zuversichtlich wie die Denkende. Die Tatsache, daß sie nicht massiv angegriffen wurden, weckte eher sein Mißtrauen. Die Marmorkugel, die er in der Hand hielt, dämpfte die Ausstrahlung des Koordinators so weit, daß sie sich lediglich als kaum wahrnehmbarer Druck im Gehirn äußerte. Das erklärte jedoch nicht, warum nicht Roboter erschienen, um die Eindringlinge aufzuhalten. Vor ihnen tauchte bereits das Schott auf, das den Eingang in die Kommandozentrale markierte. Usmaenders Unruhe wuchs. Die unheilvolle, drohende Schwingung, die wie eine düstere Glocke über diesem Bereich des Sternenschiffs schwebte, wurde deutlicher. Er blieb stehen, als ihm auffiel, daß Zwertelis ihren Schritt verlangsamte. »Wenn es dir zuviel wird, solltest du umkehren«, sagte er. »Ich bin robuster als du und kann die Ausstrahlung des Koordinators besser ertragen.« Die Denkende schüttelte sich unwillig. »Ich gehe weiter.« Es klang bestimmt, aber nicht sehr überzeugt.
Die Strahlung schien ihr mehr zu schaffen zu machen, als sie zugeben mochte. »Ich will Tolfex sehen und hören, was er uns zu sagen hat.« »Du mußt es wissen. Ich hoffe nur, daß dir dein falscher Stolz nicht zum Verhängnis wird.« Mit jedem Meter, den sie weiter vorankamen, wuchs der Druck. Er war aber nicht stark genug, sie aufzuhalten. Die Marmorkugel schützte sie, wirkte wie ein Schwamm, der das bösartige Fluidum in sich aufsog und von ihrem Geist fernhielt. Noch immer erfolgte kein Angriff. Allmählich war auch Usmaender davon überzeugt, daß sie den Kommandobezirk ungehindert erreichen würden. Dann geschah es. Schlagartig und sprunghaft verstärkte sich die Intensität der düsteren Aura. Wie ein schwarzer, undurchdringlicher Schatten schoß das Böse auf die Eindringlinge zu, brandete ihnen machtvoll entgegen. Tolfex wehrte sich. Die Denkende, die bis jetzt tapfer mitgehalten hatte, schrie auf und fuhr zurück. Wie unter körperlichen Schmerzen krümmte sie sich zusammen. »Lauf!« rief Usmaender. »Bring dich in Sicherheit! Ich komme allein zurecht.« Er vermochte nicht mehr festzustellen, ob sie seiner Aufforderung Folge leistete. Seine Perspektive verzerrte sich. Höllische Glut und eisige Kälte breiteten sich gleichzeitig in ihm aus – die Glut der Vernichtung und die Kälte des Todes, die grelle Lichtfülle einer Sonne und die bodenlose Schwärze ihres unwirklichen Kerns. Mit aller Kraft versuchte Usmaender, dagegen anzukämpfen. Krampfhaft umklammerte er die Marmorkugel. Ein blasser Streifen konturreicher Wirklichkeit durchbrach die Mauer des psionischen Angriffs. Irgendwo sah er, verschwommen und undeutlich, das Schott, hinter dem Tolfex residierte. Taumelnd hielt er darauf zu, während schwarze Blitze ihm entgegenschlugen.
Vier, höchstens fünf Meter durch ein Feuer, das den Geist zerstörte und jeden Gedanken niederbrannte. Der Öffnungsmechanismus, zum Greifen nah und doch unendlich weit entfernt. Die Marmorkugel, stützend, neutralisierend, aufrichtend. Drei Meter … zwei … Usmaender war am Ende. Er spürte nichts mehr, fühlte nur, wie der Tod mit kalten Fingern nach ihm griff. In einem letzten, aufbäumenden Impuls warf er sich nach vorn. Sein dürrer Körper fiel gegen die Kontaktplatte, die beiden Hälften des Schottes fuhren zischend auseinander. Nur noch unbewußt bewegte sich der Havare, torkelte zur Seite, stolperte durch die Öffnung, streckte die Hand mit der Marmorkugel weit von sich. Durch das Chaos seiner Empfindungen brach ein entsetzlicher, gellender Schrei. Jemand starb. Weit riß Usmaender die Augen auf, sah verschwommen einen kuppelförmigen Raum mit unzähligen Bildschirmen an den Wänden. In der Mitte des Raumes ein wannenähnliches Behältnis, in dem ein unförmiges, graues Gebilde schwamm. Der Havare ging in die Knie, von Entsetzen und Fetzen aufkeimenden Mitleids geschüttelt. Das war Tolfex, der Koordinator der Ewigkeit! Nicht mehr als ein riesiger, häßlicher Organklumpen, bloßgelegte Gehirnmasse, die durch zahlreiche Auswüchse mit mechanischen Apparaturen verbunden war, die der Lebenserhaltung und der Befehlsaufnahme dienten. Zwei große, brechende Augen starrten Usmaender kalt und unbeweglich an. Der Havare rührte sich nicht. Das Grauen hatte ihn gepackt und ließ ihn auch jetzt, als die schwarze Ausstrahlung versiegte und die Macht des Bösen von ihm abfiel, nicht los. Tolfex hatte ein entsetzliches Schicksal zu erdulden gehabt. Jetzt war er tot, von der Marmorkugel, die den Widerschein der Freiheit verströmte, besiegt. War es die Erlösung für ihn gewesen? Niemand würde es je erfahren.
Lange verharrte Usmaender stumm, auf Knie und Hände gestützt, die Silberbacken schmerzhaft gegeneinander gepreßt, zitternd und erschüttert. Zwertelis näherte sich ihm, nachdem sie erfaßt hatte, daß die drohende Aura erloschen war, und sprach auf ihn ein. Er antwortete nicht. Erst als er hastige Schritte hörte, richtete er sich auf. Instinktiv spürte er, daß abermals Gefahr drohte. Durch das geöffnete Schott stürmte der Todesbote in den Raum. Zwertelis kreischte und sprang voller Angst in die Nische zwischen zwei Aggregatblöcken. Usmaender sah, daß das Stangenwesen auf ihn zueilte, öffnete die Hand, in der er die Marmorkugel hielt … Der Todesbote blieb stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Barriere gerannt. Die stangenförmigen Gliedmaßen sanken träge zu Boden, lösten sich voneinander und gaben ein ovales, von innen heraus leuchtendes Gebilde frei. Konvulsivische Zuckungen liefen durch die einzelnen Segmente, sie krümmten sich zusammen, die lederartige Haut wurde rissig und platzte an mehreren Stellen auf. Das eiförmige Zentralorgan pulsierte nur noch schwach, dann wurde es trüb und stellte jede Bewegung ein. Wie gelähmt beobachtete Usmaender die Szene. Fast fürchtete er sich vor der reinigenden, durch und durch positiven Kraft, die dem kaum faustgroßen Objekt innewohnte. Prüfend wog er die Marmorkugel in der Hand. »Ich weiß nicht, was dieser Stein noch bewirken kann«, sagte er zu Zwertelis, die schüchtern aus ihrem Versteck hervorkam. »Ich weiß nur, daß wir ihn zu dem Ort seiner Bestimmung bringen müssen – um jeden Preis!« 8. Wenn man in eine Arbeit vertieft ist, die Geduld, Sachverstand und Fingerspitzengefühl erfordert, kann sich das kleinste Geräusch oder
die geringfügigste Störung nervenbelastend auswirken. Wird man gar von jemandem angesprochen, der eine freundliche und sachliche Antwort erwartet, kann es leicht geschehen, daß man an den Rand eines Wutausbruchs getrieben wird. Faderkyhl machte diese Erfahrung, als er nach stundenlanger Tüftelei den Erfolg seiner Bemühungen endlich absehen konnte. Einen nootischen Fluch ausstoßend, warf er das Werkzeug beiseite und kroch schwerfällig hinter dem Geräteturm hervor. Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und bedachte den gelbhäutigen Zwerg mit einem grimmigen Blick. Der Tamater schien zu merken, was er angerichtet hatte, denn er wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. »Kommst du zurecht?« fragte er kläglich. »Jetzt nicht mehr«, antwortete Faderkyhl gedehnt und lehnte sich betont lässig gegen die Wand. »Ich hoffe, du hast eine einleuchtende Begründung dafür, daß du mich in der wichtigsten Phase meiner Arbeit störst.« »Nun …«, setzte der Tamater an und fuchtelte beschwichtigend mit den Armen, »ich wollte mich bei dir entschuldigen.« Faderkyhls Stimme klang lauernd. »Wofür?« »Als wir uns zuletzt begegneten«, sagte der Zwerg, »habe ich dir vorgeworfen, du seist verrückt. Ich glaubte, du hättest den Verstand verloren. Heute weiß ich, daß du einer der ersten warst, die die Wahrheit erkannt haben. Ich habe dir Vorwürfe gemacht, die ich hiermit zurücknehme.« Augenblicklich legte der Noot sein theatralisches Gebaren ab. Er merkte, wie aufrichtig der Tamater es meinte, und ein Gefühl der Scham stieg in ihm auf, weil er seinerseits nicht auf die Idee gekommen war, sich für sein ungebührliches Verhalten zu entschuldigen. »Du hast keinen Grund, nach einer Rechtfertigung zu suchen«, sagte er. »Im Gegenteil. Ich hätte wissen müssen, daß ihr alle noch
unter dem Einfluß des Koordinators standet und nur in den Bahnen denken und fühlen konntet, die er zuließ. Mein Verhalten dir gegenüber war töricht.« Der Zwerg schien kaum glauben zu wollen, was er hörte. Unsicher wippte er auf und ab. »Dann bleiben wir Freunde?« erkundigte er sich schüchtern. »Natürlich«, bekräftigte Faderkyhl. »Das ist gut«, sagte der Tamater so undeutlich, als wisse er nicht, ob er Rührung oder Zufriedenheit empfinden sollte, »das ist sehr gut. Dann kann ich dir etwas ausrichten, ohne daß du auf mich losgehst?« Sofort witterte Faderkyhl Hinterhältiges. Er kannte den Tamater gut genug, um zu wissen, daß dessen Naivität oft nur gespielt war. Dahinter verbargen sich Listigkeit und ein gerüttelt Maß an Schläue. »Von wem?« fragte er mit mißtrauisch zusammengekniffenen Lidern. »Vom Camagur. Er hat eine Botschaft für dich, die ich überbringen soll.« Faderkyhl ließ bedächtig die Arme baumeln. »Nur zu!« ermunterte er den Gelbhäutigen. »Was hat er mir zu sagen?« »Er läßt dir ausrichten, daß er mit seiner Arbeit bereits fertig ist. Du mögest dich gefälligst beeilen, damit nicht noch mehr Verzögerungen entstehen.« Der Noot schloß die Lider vollständig. Im Bruchteil einer Sekunde vergegenwärtigte er sich, wer letztlich dafür verantwortlich war, daß er seine Tätigkeit hatte unterbrechen müssen. Dann riß er die Augen weit auf, bückte sich blitzschnell und griff nach einem Werkzeug. Drohend schwenkte er es über dem Kopf. »Jetzt aber raus!« Mit der freien Hand deutete er auf den Ausgang. »Sieh zu, daß du fortkommst!« »Du bist ungerecht …« »Raus!«
Entsetzt sprang der Tamater in die Höhe und hüpfte kreischend davon. »Und bestelle dem Camagur«, schrie Faderkyhl ihm aufgebracht nach, »wenn er zu feige ist, mir seine unverschämten Botschaften selbst zu überbringen, soll er sie tunlichst für sich behalten! Die Zeiten, in denen Feigheit eine anerkennenswerte Charaktereigenschaft war, sind vorbei!« Er wußte nicht, ob der Tamater alles mitbekommen hatte, denn der hatte sich blitzartig aus dem Staub gemacht. Es war ihm auch egal. Innerlich mußte er schmunzeln. Die harmlosen Reibereien zwischen dem Camagur, dem Zwerg und ihm waren ein Teil jener aufmunternden und erfrischenden Fröhlichkeit, die sie in ihr neues Leben mit übernommen hatten. In ein freies Leben, das sie dem Einfluß einer faustgroßen Marmorkugel verdankten. * Der Tod des Koordinators der Ewigkeit hatte weitreichende Folgen gehabt. Die düstere Aura um das Steuerzentrum der ZIEMEN und die künstlich herbeigeführte Zufriedenheit unter den Passagieren waren erloschen. Sämtliche Roboter an Bord, die allein auf Tolfexʹ psionische Impulse programmiert waren, hatten ihre Arbeit eingestellt. Desaktiviert verharrten sie in den Positionen, die sie zuletzt innegehabt hatten, ohne länger eine Bedrohung zu sein. Auch der Autopilot hatte seine Arbeit eingestellt. Das Sternenschiff war in das Normalkontinuum zurückgetaucht und trieb seitdem antriebslos durch den Raum. Die Verwirrung und Unsicherheit der Passagiere legten sich nur langsam. Nachdem der Einfluß des Koordinators erloschen war, erkannten sie deutlich, daß sie nur knapp einem schrecklichen Ende entronnen waren, das unter der lächelnden Maske des
vollkommenen Glücks auf sie gewartet hatte. Sie wurden sich schmerzhaft bewußt, in welchen lebensfeindlichen Umständen sie ihr Dasein fristeten. Mit der geistigen Unabhängigkeit, die ihnen plötzlich zuteil wurde, vermochten sie zunächst nichts anzufangen. Sie waren, jeder für sich, von ihren Völkern isoliert und gezwungen, mit artfremden Lebewesen zurechtzukommen. In der Freiheit war dies für viele doppelt schwer. Es war Usmaender zu verdanken, daß er die unterschiedlichen Interessen schließlich doch noch auf einen Nenner brachte. In einer Versammlung konfrontierte er die Passagiere mit der Marmorkugel und brachte ihnen in einer langen Rede bei, daß sie ihre Rettung allein diesem Objekt zu verdanken hätten. Die positive Kraft des Steins tat ein übriges. Ausnahmslos alle Lebewesen an Bord schlossen sich dem Vorhaben an, die Kugel an den Ort zu bringen, an dem sie offenbar dringend benötigt wurde. Viele von ihnen besaßen genügend Kenntnisse auf dem Gebiet der Raumfahrttechnik, um sich zuzutrauen, die desaktivierten Steuer‐ und Antriebsaggregate wieder in Gang zu bringen. Entschlossen machten sie sich an die Arbeit. Sie mußten die ZIEMEN unter Kontrolle bekommen, wenn sie nicht zusehen wollten, wie das Schiff ziellos durch den Raum trieb und zu ihrer aller Grab wurde. Der Noot war der letzte, der den Abschluß seiner Bemühungen an die Zentrale meldete. Usmaender bestätigte knapp und sah Zwertelis an, die neben ihm stand und die vergangenen Aktionen aufmerksam verfolgt hatte. »Ich kann nur hoffen«, sagte er, »daß alles reibungslos funktioniert. Wenn nicht, sind wir verloren.« »Du mußt es riskieren.« Der Havare machte eine zustimmende Geste. Ohne daß er sich darum beworben hatte, war er von den anderen stillschweigend als Kommandant akzeptiert worden. Zum Teil mochte dies der Marmorkugel zu verdanken sein, die sich in seinem Besitz befand.
Zum anderen Teil lag es an seiner Entschlußkraft und der Fähigkeit, seinen umfassenden Überblick zielgerichtet anzuwenden. Glücklich war er nicht in seiner Rolle. Sie bürdete ihm ein hohes Maß an Verantwortung auf, das bei einem Scheitern des Planes sehr schwer zu ertragen sein würde. Aber er war nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Zu viel stand auf dem Spiel. »Achtung!« rief er in das Mikrofon. In jedem Winkel des Sternenschiffs war seine Stimme jetzt zu hören. »Probelauf!« Er betätigte Schalter und berührte Kontaktplatten. Tief unter ihm erwachten mächtige Aggregate zu simuliertem Leben. Die Schiffszelle begann zu zittern, Wellen dumpfer Vibrationen zogen durch die einzelnen Decks. »Ist das normal?« fragte Zwertelis unruhig. »Ja.« Aufmerksam beobachtete Usmaender die Kontrollanzeigen. Bis jetzt hielten sich die Werte in den Grenzen, die von einwandfrei funktionierenden Triebwerken erwartet werden durften. Nicht die geringste Störung trat auf. Der Havare betätigte eine weitere Schaltung. Die Maschinenleistung fuhr auf Maximallast hoch und erzeugte ein donnerndes Dröhnen. Weiterhin blieben die Anzeigen im unteren Bereich der Toleranzgrenze. »Probelauf beendet«, gab Usmaender bekannt, während er die Leistung der Aggregate stufenweise drosselte. »Ich habe mich bei euch allen zu bedanken, meine Freunde. Durch eure Arbeit habt ihr dafür gesorgt, daß wir nun in der Lage sind, die ZIEMEN manuell zu steuern. Wir können den Bestimmungsort anfliegen!« Bevor er die Reaktion der anderen übertragen bekam, unterbrach er die Rundumschaltung. Eine Spur von Stolz begann sich in ihm zu regen – Stolz, daß eine Anzahl unterdrückter Lebewesen den Weg in die Freiheit gefunden hatte, daß sie in der Lage gewesen waren, ein manövrierunfähiges Schiff in einen gebrauchsfähigen Zustand zu versetzen.
Doch das befriedigte ihn nicht. Es gab noch genügend Probleme, deren Lösung in unerreichbarer Ferne zu liegen schien. Eines davon sprach Zwertelis offen aus. »Wir können das Sternenschiff bedienen«, sagte sie und blickte den Havaren aus großen Augen an. »Aber wohin sollen wir uns wenden?« Usmaender griff nach der Marmorkugel, die vor ihm auf einer Konsole lag. Nachdenklich hob er sie auf und streckte sie der Denkenden in der hohlen Hand entgegen. »Dieses Objekt, das du an Bord gebracht hast, kann zum Symbol der Freiheit und der Unabhängigkeit werden, wenn es dorthin transportiert wird, wo es gebraucht wird. Im Moment ist der Kontakt sehr schwach, aber ich bin sicher, daß wir irgendwann erfahren werden, wohin wir uns wenden müssen.« »Die Ringwelt …«, sinnierte Zwertelis. »Ist sie das Ziel?« »Sicher. Nach allem, was wir bisher erfahren haben, gibt es keine andere Antwort.« »Wie erreichen wir sie? Was erwartet uns dort?« Usmaender schüttelte unwillig den Kopf und steckte die Marmorkugel in eine Tasche seiner Kombination. »Noch wissen wir es nicht«, sagte er bedrückt. »Aber vielleicht erfahren wir es schneller, als uns lieb ist.« EPILOG Ein dunkler Raum … Eine Enklave inmitten der Schwarzen Galaxis, geprägt von Zeitlosigkeit und erfüllt von Bruchstücken vergangener Persönlichkeiten. Nur Yeers und. Olken stehen außerhalb der Masse. Sie haben Ideen und einen großen Plan, zielstrebig eingeleitet und sorgsam durchdacht. Ihre Zuversicht war groß und blieb lange erhalten. Geduldig warteten sie, doch erst, als die Resignation sie zu erfassen begann, empfingen sie es wieder:
»Das Zeichen …« Seitdem blieb die Verbindung bestehen. Sie schöpften neue Hoffnung. Die Kräfte, die dem Objekt zufließen, sind noch schwach, aber sie geben die Gewißheit, daß zumindest ein Teil des Plans aufgegangen ist. »Du hattest recht«, sagt Yeers, während er die Euphorie niederkämpft, die ihn zu überschwemmen droht. »Hätten wir nicht gewartet, hätten wir uns selbst um die Früchte unserer Arbeit betrogen.« »Der laute Quahrt hat seine Aufgabe erfüllt«, bestätigt Olken zufrieden. »Er hat das Objekt hergestellt und in unserem Sinn präpariert. Wir wußten es, seit wir das Zeichen das erste Mal empfingen.« »Trotzdem hat es lange gedauert, bis die Verbindung wieder zustande kam.« »Es muß ein fast unglaublicher Zufall sein«, argwöhnt Olken. »Das ist kein Wunder«, hält ihm Yeers entgegen. »Auf seinen eigenen Wunsch haben wir seinen Namen verändert und jede Erinnerung an seine Vergangenheit blockiert. Er und wir wollten damit erreichen, daß er sich nicht unbewußt verrät. Statt dessen hat unsere Maßnahme wahrscheinlich dazu geführt, daß er auch seinen Auftrag vergaß.« »Es war nicht beabsichtigt.« »Natürlich nicht. Dennoch können wir von Glück sagen, daß wir das Objekt auch ohne die Hilfe des Boten wiedergefunden haben.« Eine Weile herrscht Schweigen in dem dunklen, zeitlosen Raum. In ihrem Eifer haben Yeers und Olken Fehler gemacht. Sie haben ein Wesen gesucht, das dafür Sorge tragen sollte, das Objekt an seinen Bestimmungsort zu bringen, aber die Spur des Boten haben sie verloren. Wenn das Geschöpf, das sich Zwertelis nannte, nicht zufällig darauf gestoßen wäre, hätten sie die Marmorkugel niemals wiedergefunden. »Es ist zu spät, über Versäumnisse nachzugrübeln«, nimmt Olken den Dialog erneut auf. »Das Schicksal hat uns dazu verholfen, den Kontakt zu dem Objekt und seinen Eigentümern wieder herzustellen. Damit haben wir die Chance, daß der Plan doch noch aufgeht.« »Du meinst«, erkundigt sich Yeers skeptisch, »die Finder seien in der
Lage, das Ziel zu erreichen?« »Ich hoffe es«, sagt Olken. »Sie verfügen über ein funktionstüchtiges Raumschiff, sind unabhängig und bleiben von der Ausstrahlung der Schwarzen Galaxis unbeeinflußt.« »Aber sie kennen das Ziel nicht …« »Das Ziel ist die Ringwelt. Wir müssen dafür sorgen, daß sie erfahren, auf welchem Weg man dorthin gelangt.« ENDE Weiter geht es in Atlan Band 466 von König von Atlantis mit: Ein Tunnel nach Lamur von Hubert Haensel