dtv
Georges Perec
Ein Mann der schläft Roman
Über den Dächern von Paris lastet brütend die Sommerhitze. In einer win...
101 downloads
1697 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
dtv
Georges Perec
Ein Mann der schläft Roman
Über den Dächern von Paris lastet brütend die Sommerhitze. In einer winzigen Dachkammer sitzt, umgeben vom Zubehör des Boheme- und Studentenlebens — einer Schale Nescafé, Zigaretten, einer rosa Plastikschüssel mit eingeweichten Socken — ein Student. Die soziologische Abhandlung auf den Knien lernt er für das ihm bevorstehende Examen. Doch am Morgen des Examens läutet zwar der Wekker, der junge Mann aber bleibt im Bett. Einfach so. Einfach so? Nein, denn was zunächst wie Trägheit und Lebensunfähigkeit Oblomowscher Prägung aussieht, ist recht eigentlich ein Experiment, ein mit Methode und analytischer Scharfsicht betriebener Wahnsinn, ein ganz und gar modernes Seelen-Abenteuer. *** Georges Perec, 1936 in Paris geboren und 1982 dort gestorben, Schriftsteller und Literaturkritiker, war Mitglied der »Werkstatt für potentielle Literatur« (»Ouvroir de littérature potentielle«). Diese Literatengruppe machte sich mit Experimenten quasimathematischer Ausrichtung von überbordendem sprachlichem Witz einen Namen. Perec war ein »Wortspieler, ein Humorist, ein Geschichtenjongleur, ein Bilderseher, ein Einsamer, ein Suchender, ein Maskenträger und ein Pessimist« (Till Müller-Edenborn).
Georges Perec
Ein Mann der schläft Roman Aus dem Französischen von Eugen Helmlé
Deutscher Taschenbuch Verlag
Vollständige Ausgabe Juli 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München www.dtv.de (C) 1967 Editions Denoël, Paris (C) der deutschsprachigen Ausgabe:1988, 2000 Manholt Verlag, Bremen Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagfoto: François Kollar ((C) Ministere de la Culture / France) Gesetzt aus der Bembo 11/13,25‘ (3B2) Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 3-423-12981-6.
Für Paulette In Memoriam J. P
Es ist nicht notwendig, daß du aus dem Hause gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden. Franz Kafka: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg
Sobald du die Augen schließt, beginnt das Abenteuer des Schlafs. Dem bekannten Halbdunkel des Zimmers, ein von Einzelheiten unterbrochener düsterer Raumkörper, in dem dein Gedächtnis mühelos die Wege erkennt, die du tausendmal zurückgelegt hast und die es vom undurchsichtigen Rechteck des Fensters aus nachzeichnet, wobei es den Waschtisch von einer Spiegelung, das Regal vom etwas helleren Schatten eines Buches aus auftauchen läßt und dadurch die schwärzere Masse der aufgehängten Kleidungsstücke stärker hervorhebt, folgt nach einer gewissen Zeit ein zweidimensionaler Raum, wie ein Bild ohne eindeutige Grenzen, das mit der Linie deiner Augen einen ganz kleinen Winkel bilden würde, als stünde es, nicht ganz senkrecht, auf deinem Nasenrücken, ein Bild, das dir zunächst einförmig grau oder eher neutral erscheinen mag, farb- und formlos, das aber wahrscheinlich ziemlich bald schon mindestens zwei Eigenschaften besitzt: die erste ist die, daß es sich mehr oder weniger eintrübt, je nachdem, ob du die Augenlider mehr oder weniger schließt, als hätte, genauer gesagt, die auf den Balken deiner Brauen ausgeübte Kontraktion,
wenn du die Augen schließt, die Wirkung, die Neigung der Ebene im Verhältnis zu deinem Körper zu verändern, so als bilde der Balken deiner Brauen das Scharnier und verändere folglich, obgleich diese Folge nicht beweisbar scheint, es sei denn durch Augenschein, die Dichte oder die Eigenschaft der Dunkelheit, die du wahrnimmst; die zweite ist die, daß die Fläche dieses Raumes überhaupt nicht gleichmäßig ist oder genauer, daß die Verteilung, die Aufteilung der Dunkelheit nicht auf homogene Weise geschieht: der obere Bereich ist sichtlich dunkler, der untere Bereich, der dir der nähere zu sein scheint, obgleich die Begriffe nah und fern, oben und unten, vorn und hinten natürlich schon aufgehört haben, völlig klar und eindeutig zu sein, ist einerseits viel grauer, das heißt, nicht viel neutraler, wie du zu glauben beginnst, sondern unzweifelhaft viel weißer und enthält oder trägt andererseits ein, zwei oder mehrere Arten von Beuteln, Kapseln, ein wenig die Vorstellung, die du dir zum Beispiel von einer Tränendrüse machst, mit schmalen, bewimperten Rändern, in deren Innerem sehr sehr weiße Blitze zucken, sich bewegen, sich winden, die manchmal ganz schmal sind, wie sehr feine Streifen, manchmal viel dicker, fast fett, wie Würmer. Diese Blitze, obgleich Blitze ein völlig unzutreffendes Wort ist, haben die seltsame Eigenschaft, daß sie nicht angeschaut werden können. Sobald du deine Aufmerksamkeit ein wenig zu stark auf sie richtest, und es ist fast unmöglich, das nicht zu tun, denn schließlich tanzen sie vor dir herum und alles übrige ist eigentlich kaum vorhanden, wirklich spürbar ist nur das Scharnier deiner Brauen und dieser sehr verschwommene, mehr oder weniger wahrnehmbare Raum, in dem sich die Dunkelheit ungleichmäßig ausdehnt,
doch sobald du sie anschaust, obgleich dieses Wort selbstverständlich nichts mehr sagen will, sobald du zum Beispiel versuchst, dich ein ganz klein wenig ihrer Form oder ihrer Substanz oder einer Einzelheit zu versichern, kannst du sicher sein, daß du dich mit offenen Augen vor dem Fenster wieder ndest, einem undurchsichtigen Viereck, das wieder zum Quadrat wird, obgleich dieser oder diese Beutel ihm in nichts gleichen. Hingegen erscheinen sie, und mit ihnen der mehr oder weniger schiefe, mit deinen Augenbrauen verbundene Raum, einige Zeit, nachdem du von neuem die Augen geschlossen hast, wieder, und wahrscheinlich haben sie sich von einem Mal zum andern nicht verändert. Dessen kannst du allerdings nicht ganz sicher sein, denn nach einer schwer abschätzbaren Zeit und obgleich dir noch nichts zu behaupten erlaubt, daß sie tatsächlich verschwunden sind, kannst du feststellen, daß sie merklich blasser geworden sind. Du hast es jetzt mit einer Art gestreiftem Grau in Grau zu tun, das immer noch zu diesem selben Raum gehört, der deine Brauen mehr oder weniger fortsetzt, nun aber, so könnte man meinen, derart verzerrt, daß er ständig nach links hinausgetragen wird; du kannst ihn anschauen, ihn erforschen, ohne das Gesamtbild zu zerstören, ohne ein unmittelbares Erwachen hervorzurufen, aber das ist völlig ohne Interesse. Auf der Rechten verschwindet etwas, im vorliegenden Fall ein Brett, mehr oder weniger hinten, mehr oder weniger oben, mehr oder weniger rechts. Natürlich ist das Brett nicht zu sehen. Du weißt nur, daß es hart ist, obgleich du nicht darauf liegst, weil du nämlich auf etwas sehr Weichem liegst, das dein eigener Körper ist. Darauf kommt es zu einer ganz und gar erstaunlichen Erschei-
nung: es gibt da zuerst drei Räume, die du durch nichts miteinander verwechseln könntest, deinen Bett-Körper, weich, waagrecht und weiß, dann der Balken deiner Brauen, der über einen grauen, unscheinbaren, schrägliegenden Raum herrscht, und schließlich das Brett, das unbeweglich ist und sehr hart obendrauf, parallel zu dir und vielleicht erreichbar. Es ist in der Tat klar, selbst wenn es das einzige ist, was klar ist, daß du einschläfst, wenn du auf das Brett kletterst, daß das Brett der Schlaf ist. Das Prinzip des Vorgangs ist so einfach wie möglich, obgleich dir alles zu denken gibt, daß du viel Zeit brauchen wirst: man müßte das Brett, den Körper, soweit zusammendrücken, bis sie nur noch ein Punkt sind, eine Murmel, oder man müßte, was aufs gleiche herauskommt, die ganze Schlaffheit des Körpers verringern, sie auf eine einzige Stelle konzentrieren, in einem Lendenwirbel zum Beispiel. Doch in diesem Augenblick stellt der Körper überhaupt nicht mehr die schöne Einheit von vorhin dar, er erstreckt sich in Wirklichkeit in alle Richtungen. Du versuchst nun, eine große Zehe oder deinen Daumen oder deinen Schenkel zum Zentrum zurückzubringen, aber jedesmal gibt es da eine Regel, die du vergißt. Nämlich die, daß du nie die Härte des Brettes aus den Augen verlieren darfst, daß du mit List vorgehen, deinen Körper heranbringen mußt, ohne daß er etwas merkt, ohne daß du selber es mit Sicherheit weißt, aber es ist zu spät, jedesmal längst schon zu spät und, merkwürdige Folge, der Balken deiner Brauen bricht entzwei und in der Mitte, zwischen deinen beiden Augen, als ob das Scharnier das Ganze zusammengehalten hätte und die ganze Kraft des Scharniers sich an dieser Stelle sammelte, taucht plötzlich ein präziser, unzweifelhaft bewuß-
ter Schmerz auf, den du sofort als den banalsten aller Kopfschmerzen erkennst.
Du sitzt mit nacktem Oberkörper, nur mit einer Schlafanzughose bekleidet in deiner Dachkammer auf der schmalen Bank, die dir als Bett dient, auf deinen Knien ein Buch von Raymond Aron Lektionen über die Industriegesellschaft, aufgeschlagen auf Seite hundertzwölf. Zuerst ist es nur eine Art Überdruß, Mattigkeit, als stelltest du ganz plötzlich fest, daß du seit langem, seit mehreren Stunden, das Opfer eines arglistigen, abstumpfenden Unbehagens bist, kaum schmerzhaft und doch unerträglich, der süßliche und erstickende Eindruck, keine Muskeln und keine Knochen zu haben, ein Sack Gips unter Gipssäcken zu sein. *** Die Sonne brennt auf die Zinkplatten des Dachs. Vor dir, in Augenhöhe, auf einem Regal aus weißem Holz, eine halbleere, etwas schmutzige Schale Nescafé, ein Paket Zucker, das zur Neige geht, eine Zigarette, die sich in einem Reklameaschenbecher aus falschem, weißem Opalglas selbst raucht. Im Nachbarzimmer geht jemand hin und her, hustet, zieht die Füße nach, verrückt Möbelstücke, zieht Schubladen auf. Ein Wassertropfen perlt beständig am Wasserhahn im Treppen ur. Die Geräusche der Rue Saint-Honoré steigen von ganz unten herauf. Vom Turm der Saint-Roch schlägt es zwei Uhr. Du schaust wieder hoch, du hörst auf zu lesen, aber du hast schon seit langem nicht mehr gelesen. Du legst das geöffnete Buch neben dich auf die Bank. Du streckst die Hand aus, du zerdrückst die Zigarette, die im Aschenbecher qualmt, du trinkst die Schale mit dem Nescafé aus: er ist nur noch lauwarm, zu süß, ein wenig bitter.
Du bist schweißgebadet. Du stehst auf, du gehst zum Fenster, das du schließt. Du drehst den Wasserhahn des winzigen Waschbeckens auf, du fährst dir mit einem feuchten Waschlappen über die Stirn, über den Nacken, über die Schultern. Arme und Beine angezogen, legst du dich in Seitenlage auf die schmale Bank. Du schließt die Augen. Dein Kopf ist schwer, deine Beine sind steif. *** Später kommt der Tag deiner Prüfung, und du stehst nicht auf. Es ist kein vorbedachtes Handeln, es ist übrigens gar kein Handeln, sondern ein Nichthandeln, ein Handeln, das du unterläßt, das du vermeidest. Du hast dich früh schlafen gelegt, dein Schlaf ist friedlich gewesen, du hattest den Wekker aufgezogen, du hast ihn läuten hören, du hast mindestens einige Minuten darauf gewartet, daß er läutet, bereits von der Hitze geweckt oder vom Licht oder vom Lärm der Milchmänner, der Straßenkehrer oder von der Erwartung. Dein Wecker läutet, du rührst dich überhaupt nicht, du bleibst im Bett liegen, du machst die Augen wieder zu. In den Zimmern nebenan beginnen andere Wecker zu läuten. Du hörst Geräusche von Wasser, Türen, die zugemacht werden, eilige Schritte im Treppenhaus. Die Rue Saint-Honoré ist allmählich erfüllt von Autolärm, Quietschen von Rädern, Gangschalten, kurzem Hupen. Fensterläden schlagen, die Geschäftsleute ziehen ihre eisernen Rolläden hoch. Du rührst dich nicht. Du wirst dich nicht rühren. Ein anderer, ein Doppelgänger, ein gespenstiges und gewissenhaftes Double macht, vielleicht, statt deiner die Gebärden, die du nicht mehr machst: er steht auf, rasiert sich, zieht sich
an, geht weg. Du läßt ihn ins Treppenhaus springen, auf die Straße laufen, im Flug den Autobus erwischen, zur festgesetzten Zeit atemlos, triumphierend an der Saaltür ankommen. Staatsexamen in allgemeiner Soziologie. Schriftliche Prüfung. Du stehst zu spät auf. Dort beugen sich eißige oder gelangweilte Gesichter nachdenklich über die Schreibpulte. Die vielleicht unruhigen Blicke deiner Freunde laufen auf deinem leer gebliebenen Platz zusammen. Du wirst nicht auf vier, acht oder zwölf Seiten sagen, was du über die Entfremdung, über die Arbeiter, über die Modernität und über die Freizeit, über die weißen Kragen oder über die Automatisation, über das Wissen um den andern, über Marx als Rivalen Tocquevilles, über Weber, den Feind Lukacs‘ weißt, was du darüber denkst, was du weißt, das man darüber denken muß. Auf jeden Fall hättest du nichts gesagt, denn du weißt nicht viel, und du denkst nichts. Dein Platz bleibt leer. Du wirst dein Staatsexamen nicht abschließen, du wirst nie mit einer Diplomarbeit oder einer Dissertation beginnen. Du wirst nicht mehr weiterstudieren. Wie jeden Tag machst du dir eine Schale Nescafé; wie jeden Tag gießt du ein paar Tropfen gezuckerte Dosenmilch hinzu. Du wäschst dich nicht, du ziehst dich kaum an. In einer rosa Plastikschüssel weichst du drei Paar Socken ein. Du wartest nicht vor dem Prüfungssaal, um dich nach den Themen zu erkundigen, die dem Scharfsinn der Kandidaten unterbreitet worden sind. ***
Du gehst nicht ins Bistro, in das die Gewohnheit dich wie jeden Tag, ganz besonders jedoch an diesem so außergewöhnlich ernsten Tag, hätte führen müssen, um deine Freunde zu treffen. Einer von ihnen wird am nächsten Tag die sechs Stockwerke hinaufsteigen, die zu deinen Zimmer führen. Du wirst seinen Schritt auf der Treppe erkennen. Du läßt ihn an die Tür klopfen, warten, läßt ihn nochmals klopfen, etwas stärker, über dem Rahmen nach dem Schlüssel suchen, den du so oft dagelassen hast, wenn du für ein paar Minuten weggegangen bist, um Brot zu holen oder Kaffee, Zigaretten oder die Zeitung oder die Post, läßt ihn nochmals warten, kraftlos klopfen, leise nach dir rufen, zögern, schwerfällig wieder hinuntergehen. Er ist später wiedergekommen und hat einen Zettel unter die Tür geschoben. Dann sind andere gekommen, am nächsten Tag, am übernächsten Tag, sie haben geklopft, sie haben nach dem Schlüssel gesucht, haben gerufen, haben Botschaften hereingeschoben. Du liest ihre Zettelchen und zerknüllst sie zu einer Kugel. Man trifft darauf Verabredungen mit dir, zu denen du nicht hingehst. Du bleibst auf deiner schmalen Bank liegen, die Arme hinterm Nacken, die Knie hochgezogen. Du betrachtest die Decke und entdeckst dort Risse, Schuppen, Flecken, Reliefs. Du willst niemanden sehen, du willst nicht reden, nicht denken, nicht ausgehen, dich nicht rühren. *** An einem Tag wie diesem, etwas später, etwas früher, entdeckst du ohne überrascht zu sein, daß etwas nicht funktioniert, daß du, um es einmal unvorsichtig auszudrücken, nicht
zu leben verstehst, es nie verstehen wirst. Die Sonne brennt auf die Bleche. Die Hitze in der Dachkammer ist unerträglich. Du sitzt da, eingezwängt zwischen Bank und Regal, ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien. Du liest schon lange nicht mehr. Deine Augen starren auf ein Regal aus weißem Holz, auf eine rosa Plastikschüssel, in der sechs Socken im Wasser vermodern. Der Rauch deiner im Aschenbecher vor sich hinqualmenden Zigarette steigt gradlinig, oder beinahe, nach oben und breitet sich in einer unbeständigen Fläche unter der Decke aus, die von winzigen Rissen gezeichnet ist. Etwas zerbrach, etwas ist zerbrochen. Du fühlst dich — wie soll man sagen? — nicht mehr unterstützt: etwas, das dich bisher, so schien dir, so scheint dir, gestärkt hat, wo es dir warm ums Herz wurde, das Gefühl deiner Existenz, deiner Bedeutung fast, der Eindruck, zur Welt zu gehören, in ihr eingebettet zu sein, fehlt dir langsam. Dabei gehörst du nicht zu denen, die ihre wachen Stunden damit zubringen, sich zu fragen, ob sie existieren und warum, woher sie kommen, was sie sind, wohin sie gehen. Du hast dich nie ernsthaft gefragt, wer zuerst da war, das Ei oder die Henne. Metaphysische Fragen haben die Züge deines edlen Gesichts nicht nennenswert zerfurcht. Doch nichts bleibt von dieser pfeilförmigen Flugbahn, von dieser Vorwärtsbewegung, in der du von jeher aufgefordert gewesen bist, dein Leben zu erkennen, das heißt, seinen Sinn, seine Wahrheit, seine Spannung: eine Vergangenheit, reich an fruchtbaren Erfahrungen, an gut behaltenen Lektionen, an strahlenden Kindheitserinnerungen, an augenscheinlichem, ländlichem Glück, an belebenden Seewinden, eine dichte, kompakte Gegenwart, straff wie eine Sprungfeder, eine
großzügige, verheißungsvolle, lockere Zukunft. Deine Vergangenheit, deine Gegenwart, deine Zukunft verschmelzen miteinander: sie allein sind die Schwere deiner Glieder, deine arglistige Migräne, deine Mattigkeit, die Hitze, das Bittere und Schale des Nescafés. Und wenn es für dein Leben eines Rahmens bedarf, so ist es nicht die majestätische Esplanade (in der Regel eine spektakuläre, perspektivische Illusion), wo die pausbäckigen Kinder der eroberungslustigen Menschheit herumtoben und zu ihrem Höhen ug starten, sondern, wie sehr du dich auch anstrengst, welche Illusion du noch hegen magst, dieser schlauchartige Verschlag, der dir als Zimmer dient, dieses zwei Meter zweiundneunzig lange und ein Meter dreiundsiebzig breite, mithin etwas mehr als fünf Quadratmeter große Loch, diese Mansarde, aus der du seit mehreren Stunden, mehreren Tagen nicht mehr herausgekrochen bist: du sitzt auf einer Bank, die zu kurz ist, als daß du dich nachts der ganzen Länge nach darauf ausstrecken könntest, zu schmal, als daß du dich ohne Vorsichtsmaßregeln umdrehen könntest. Du schaust, nun beinahe fasziniert, auf eine rosa Plastikschüssel, die nicht weniger als sechs Socken enthält. Du bleibst in deinem Zimmer, ohne zu essen, ohne zu lesen, fast ohne dich zu rühren. Du betrachtest die Schüssel, deine Knie, das Regal, deinen Blick in dem gesprungenen Spiegel, die Schale, den Lichtschalter. Du hörst auf die Geräusche der Straße, auf den Wassertropfen am Hahn im Treppenvorraum, auf die Geräusche deines Nachbarn, sein Räuspern, die Schubladen, die er aufzieht und zuschiebt, seine Hustenanfälle, das Pfeifen seines Wasserkessels. Du folgst an der Decke der schlängelnden Linie eines winziges
Risses, dem nutzlosen Weg einer Fliege, dem fast erkennbaren Fortschreiten eines Schattens. *** Dies ist dein Leben. Dies gehört dir. Du kannst eine genaue Inventur deines mageren Reichtums machen, die präzise Bilanz deines ersten Vierteljahrhunderts ziehen. Du bist fünfundzwanzig Jahre alt und hast neunundzwanzig Zähne, drei Hemden und acht Socken, einige Bücher, die du nicht mehr liest, einige Schallplatten, die du nicht mehr hörst. Du hast keine Lust, dich an was anderes zu erinnern, weder an deine Familie noch an dein Studium, weder an deine Liebschaften noch an deine Freunde, weder an deine Ferien noch an deine Pläne. Du bist gereist und hast nichts von deinen Reisen mitgebracht. Du sitzt da und willst nur warten, warten, bis es nichts mehr zu warten gibt: daß die Nacht kommt, daß die Stunden schlagen, daß die Tage dahingehen, daß die Erinnerungen verblassen. Du siehst deine Freunde nicht mehr. Du machst die Tür nicht mehr auf. Du gehst nicht hinunter, um deine Post zu holen. Du gibst die Bücher nicht zurück, die du in der Bibliothek des Pädagogischen Instituts ausgeliehen hast. Du schreibst deinen Eltern nicht. Du gehst erst bei Einbruch der Nacht aus dem Haus, wie die Ratten, die Katzen und die Ungeheuer. Du läufst ziellos durch die Straßen, du schleichst dich in die kleinen, schmuddeligen Kinos an den Grands Boulevards. Manchmal läufst du die ganze Nacht hindurch; manchmal schläfst du den ganzen Tag. ***
Du bist ein Müßiggänger, ein Schlafwandler, eine Auster. Die De nitionen variieren je nach den Stunden, den Tagen, doch die Bedeutung bleibt einigermaßen klar: du fühlst dich kaum geschaffen zum Leben, zum Handeln, zum Formen; du willst nur dauern, du willst nur das Warten und das Vergessen. Das moderne Leben schätzt solche Anlagen in der Regel wenig: du hast zu allen Zeiten um dich herum gesehen, daß man der Tat, den großen Plänen, der Begeisterung den Vorzug gab: dem nach vorne strebenden Menschen, dem Menschen mit dem Blick auf den Horizont, dem geradeaus schauenden Menschen. Klarer Blick, willensstarkes Kinn, sicherer Gang, eingezogener Bauch. Hartnäckigkeit, Initiative, Glanzleistung, Triumph zeichnen den allzu überschaubaren Weg eines allzu beispielhaften Lebens, zeichnen die sakrosankten Bilder vom Kampf ums Dasein. Die frommen Lügen, die die Träume all derer einlullen, die sich abstrampeln und im Dreck steckenbleiben, die verlorenen Illusionen der Tausende, die den Anschluß verpaßt haben, derer, die zu spät gekommen sind, derer, die ihren Koffer auf den Bürgersteig gestellt und sich draufgesetzt haben, um sich die Stirn abzuwischen. Aber du brauchst keine Entschuldigungen, keine Reue, keine Sehnsüchte mehr. Du verwirfst nichts, du lehnst nichts ab. Du hast aufgehört, voranzukommen, aber deshalb, weil du nicht vorankamst, du brichst nicht von neuem auf, du bist angelangt, du siehst nicht ein, was du fortan tun solltest: das unpassende Zusammentreffen eines Textes, von dem du den Faden verloren hast, mit einer Schale Nescafé von plötzlich allzu bitterem Geschmack und einer mit schwärzlichem Wasser gefüllten rosa Plastikschüssel, in der sechs Socken
schwammen an einem allzu heißen Maitag hat genügt, hat fast genügt, daß etwas zerbricht, sich verändert, au öst und ans helle Tageslicht kommt — aber das Tageslicht ist nie hell in der Dachkammer in der Rue Saint-Honoré — diese enttäuschende Wahrheit, traurig und lächerlich wie eine Zipfelmütze, schwer wie ein Gaf ot-Wörterbuch: du hast keine Lust weiterzustudieren, dich zu wehren, anzugreifen. Deine Freunde sind es leid geworden und klopfen nicht mehr an deine Tür. Du gehst nicht mehr durch die Straßen, in denen du ihnen begegnen könntest. Du vermeidest die Fragen, den Blick desjenigen, den der Zufall dir bisweilen über den Weg laufen läßt, du lehnst das Glas Bier oder die Tasse Kaffee ab, wozu er dich einlädt. Allein die Nacht und dein Zimmer beschützen dich: die schmale Bank, auf der du liegenbleibst, die Decke, die du in jedem Augenblick neu entdeckst; die Nacht, wo es vorkommt, daß du, allein mitten in der Menge der Grands Boulevards, fast so etwas wie glücklich bist über den Lärm und die Lichter, die Bewegung, das Vergessen. Du brauchst nicht zu reden, nicht zu wollen. Du folgst dem Strom, der hin- und herwogt, von der République bis zur Madeleine, von der Madeleine bis zur République. *** Diagnosen zu stellen, gehört nicht zu deiner Gewohnheit, und du hast auch keine Lust dazu. Was dich verwirrt, was dich aufregt, was dir Angst macht, dich manchmal aber auch begeistert, ist nicht die Plötzlichkeit deiner Veränderung, sondern ganz im Gegenteil gerade das undeutliche, bedrückende Gefühl, daß es keine ist, daß sich nichts geändert hat, daß du immer so gewesen bist, selbst wenn du es erst heute weißt: dies
hier, im gesprungenen Spiegel, ist nicht dein neues Gesicht, es sind die Masken, die gefallen sind, die Hitze deines Zimmers hat sie zum Schmelzen gebracht, die Apathie hat sie abgelöst. Die Masken des rechten Wegs, die schönen Gewißheiten. Fünfundzwanzig Jahre lang hast du nichts gewußt von dem, was heute schon das Unerbittliche ist? Hast du in dem, was dir als Geschichte dient, nie Risse gesehen? Die stillen Zeiten, der Leerlauf. Der üchtige und stechende Wunsch, nicht mehr zu sehen, nicht mehr zu hören, still und unbeweglich zu bleiben. Die unsinnigen Träume der Einsamkeit. Ein Gedächtnisloser, der durchs Land der Blinden irrt: breite, leere Straßen, kalte Lichter, stumme Gesichter, über die dein Blick gleiten würde. Du wärst nie betroffen. *** Als ob unter deiner stillen, beruhigenden Geschichte eines braven Kindes, eines guten Schülers, eines offenen Kameraden, unter diesen offensichtlichen, allzu offensichtlichen Zeichen des Wachsens, des Reifens — die Bleistiftstriche auf den Türrahmen der Waschräume, die Zeugnisse, die langen Hosen, die ersten Zigaretten, das Brennen des Rasierapparats, der Schnaps, der Schlüssel unter der Fußmatte für den Ausgang am Samstagabend, die Entjungferung, die Lufttaufe, die Feuertaufe — seit allen Zeiten ein anderer, immer gegenwärtiger, immer ferngehaltener Faden gelaufen wäre, der jetzt das vertraute Tuch deines wiedergefundenen Lebens webt, die leere Szenerie deines verödeten Lebens, aufgetauchte Erinnerungen, feingesponnene Bilder dieser entschleierten Wahrheit, dieses so lange aufgehobenen Verzichts, dieses Appells zur Ruhe, beharrliche,
verschwommene Bilder, überbelichtete, fast weiße, fast tote, fast schon zu Fossilien gewordene Fotos: eine Provinzstraße, geschlossene Läden, glanzlose Schatten, in einem Kasernenraum umhersummende Fliegen, ein mit grauen Pferdedecken ausgelegter Salon, in einem Lichtstrahl schwebende Staubkörnchen, kahle Felder, Friedhöfe der Sonntage, Spazierfahrten im Auto. Ein Mensch, der an einem Donnerstagnachmittag mit abwesendem Blick, ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien, auf einer schmalen Bank sitzt. *** Du bist nur ein trüber Schatten, ein harter Kern aus Gleichgültigkeit, ein neutraler Blick, der die Blicke ieht. Mit stummen Lippen und erloschenen Augen wirst du nun in den Pfützen, in den Schaufensterscheiben, auf den leuchtenden Karosserien der Autos die üchtigen Spiegelungen deines Zeitlupenlebens wahrnehmen können. Deine abwesende Hand gleitet an dem Regal aus weißem Holz entlang. Das Wasser tropft am Wasserhahn im Treppenvorraum. Dein Nachbar schläft. Das schwache Schnaufen eines haltenden Taxis unterstreicht die Stille der Straße mehr, als daß sie sie bricht. Das Vergessen dringt in dein Gedächtnis ein. Nichts ist geschehen. Nichts wird mehr geschehen. Die Risse in der Zimmerdecke zeichnen ein unwahrscheinliches Labyrinth. *** Es gab diese inhaltslosen Tage, die Hitze in deinem Zimmer wie in einem Heizkessel, wie in einem Backofen, und
die sechs Socken, schlaffe Haie, schlafende Wale, in der rosa Plastikschüssel. Dieser Wecker, der nicht geläutet hat, der nicht läutet, der nicht läuten wird, um dich zu wecken. Du legst das aufgeschlagene Buch neben dich auf die Bank. Du streckst dich aus. Alles ist Schwüle, dumpfes Dröhnen, Apathie. Du läßt dich gleiten, du tauchst in den Schlaf ein.
Zuerst sind da Bilder, vertraute oder solche, die dich verfolgen; ausgebreitete Spielkarten, die du unaufhörlich in die Hand nimmst und wieder hinlegst, ohne daß es dir je gelingt, sie so zu ordnen, wie du es möchtest. Du hast den unangenehmen Eindruck, als müßte dir dieses Ordnen unbedingt gelingen, als hinge davon die Enthüllung einer wesentlichen Wahrheit ab, aber es ist immer dieselbe Karte, die du in die Hand nimmst und wieder in die Hand nimmst, die du hinlegst und wieder hinlegst, die du ordnest und wieder ordnest; Menschenmassen wogen hin und her, gehen treppauf treppab; Mauern umgeben dich, nach deren geheimem Ausgang du suchst, nach dem verborgenen Knopf, der die Wände zum Wanken bringt, die Decke davon iegen läßt; Formen zeichnen sich ab, verziehen sich, kommen wieder, verschwinden, kommen näher, verschwimmen, Flammen oder Frauen, die tanzen, Schattenspiele. *** Später Erinnerungen, denen es nicht mehr gelingt, sich einen Weg zu bahnen, Beweise, die nichts mehr beweisen, höchstens vielleicht, daß es einem Observatorium in Aberdeen, in Inverness tatsächlich gelungen ist, Signale aufzufangen, die von fernen Sternen gekommen sind: war es der große Andromedanebel oder die Konstellation von Goll und Burdach? Oder die corpora quadrigemina? Die sofortige, einleuchtende Lösung des Problems, das dich unaufhörlich beschäftigt hat: der Springer ist nie Herzkönig, es sei denn, der Zapfen ist abgezapft worden. Folgenlose Worte von verworrener Bedeutung kreisen um dich her. Welcher Mensch ist in welchem Kartenhaus eingesperrt? Welcher Faden? Welches Gesetz?
Man muß genau sein, logisch. Methodisch handeln. Man muß in einem gegebenen Augenblick um jeden Preis aufhören, nachdenken, die Lage genau abwägen können. Wenn es mitten in deinem Kopf einen See gibt, was nicht nur wahrscheinlich, sondern auch normal ist, obgleich man es nur mit aller Vorsicht behaupten kann, brauchst du eine gewisse Zeit, um ihn zu erreichen. Es gibt keinen Pfad, es gibt nie einen Pfad, und an den Ufern wirst du auf die Gräser achten müssen, die um diese Jahreszeit immer gefährlich sind. Es wird natürlich auch keine Boote geben, es gibt fast nie Boote, aber du kannst hindurchschwimmen. *** Später hat es selbstverständlich nie einen See gegeben. Du erinnerst dich ganz genau, daß es nie einen See gegeben hat. Dabei steht der Schlaf schon seit langem vor dir, näher als er je gewesen ist. Er hat seine gewöhnliche Form: die Kugel oder eher Blase, die große, sehr große, selbstverständlich durchsichtige, aber nicht gläserne Blase wäre eher von einer Seife, aber eine harte, überhaupt nicht fettige und nur wenig bröcklige Seife, oder vielleicht doch eher eine äußerst zarte, sehr gespannte Haut. Alle ihre Eigenschaften sind da, du brauchst sie nicht einmal zu suchen, um es zu wissen, das ist normal, es genügt, sie aufzuzählen: ganz oben wird die Blase rosig, vorn schuppt sie sich, seitlich versucht sie schwach zu atmen; der Rest gehört zu dem Kopfkissen, um das du dich gerollt hast und mit dem du durch den Druck gekoppelt bist, den du spielend leicht auf den Ring ausübst, den dein rechter Daumen und dein Zeige nger bilden. ***
Jetzt wird es weitaus schwieriger. Zunächst einmal wird klar, daß die Blase gemogelt hat; sie ist überhaupt nicht kugelförmig, sondern eher schförmig, spindelförmig; ferner ist sie von höchst mittelmäßiger Durchsichtigkeit, kaum durchsichtiger als das Kopfkissen; schließlich und vor allem ist sie ganz und gar nicht im Begriff, oben rosig zu werden. Das einzige, was vielleicht sicher ist, sind die Schuppungen, die sich sehr schnell vervielfacht haben, und der Atem, der zuerst schwach war und jetzt umfassend geworden ist. Das Lästigste aber ist die Temperatur des Ganzen, die rasch gestiegen ist und bald ein kritisches Stadium erreichen wird, wovon die immer zahlreicher werdenden Abblätterungen sicherlich ein Vorzeichen sind. *** Die Situation ist unangenehm. Es war ein Fehler von dir, daß du auf diese Einzelheiten geachtet hast, die nicht einmal gestimmt haben; ganz offensichtlich waren es nur Fallen und jetzt bist du unzweifelhaft im Innern des Kopfkissens gefangen, wo es so warm ist und so schwarz, daß du dich, nicht ohne eine gewisse Beunruhigung, fragst, wie du es anstellen wirst, um hier herauszukommen. Zum Glück be ndest du dich nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation; du weißt, daß es dir genügt, am Horizont eine Unebenheit zu entdecken oder einen Lichtschimmer in der Dunkelheit, einen See oder einen kühlen Ort, an den du dich hinschleichen kannst, und schon verspürst du erstaunliche Anlagen zum Schleichen. Aber du kannst suchen, wie du willst, es ist nichts vor dir, kein Horizont, kein Lichtschimmer, kein See, nichts, nur das Kopfkissen, schwarz, dick, erstickend.
Das überrascht dich nicht, du hattest es ein wenig erwartet. Du suchst hinter dir, und natürlich merkst du sofort, daß du nicht wirklich eingeschlossen warst, daß während dieser ganzen Zeit der Schlaf, der wirkliche Schlaf, hinter dir war, nicht vor dir, hinter dir, so erkennbar mit seinen langen, grauen Stränden, seinem eisigen Horizont, seinem schwarzen, von weißen oder grauen Lichtschimmern durchzuckten Himmel. Du erblickst ihn auf einen Schlag, du erkennst ihn sofort, aber es ist zu spät, um ihn zu erreichen, wie immer; es wird für ein andermal sein. Du wußtest es auch oder hättest es eben voraussehen müssen: man darf sich nie umdrehen, auf jeden Fall nicht so plötzlich, weil sonst alles zerbricht, bunt durcheinander iegt, dein Kopfkissen fällt und nimmt deine Wange mit, deinen Unterarm, deinen Daumen, deine Füße schlagen gegeneinander: das graue Fenster ndet ganz in deiner Nähe wieder seinen Platz, der Mansardenkerker bildet sich um und schließt sich wieder, du sitzt auf deiner Bank.
Später verläßt du Paris; du gehst nicht aufs Geratewohl irgendwo hin, du fährst zu deinen Eltern aufs Land, in die Nähe von Auxerre. Es ist ein etwas verschlafener, ausgestorbener Markt ecken, wohin sie sich zurückgezogen haben. Du hast hier einige Kindheitsjahre verbracht, einige Ferien. Die Reste einer Burg stehen hoch oben auf einer Anhöhe, unter der sich das Dorf erstreckt. Ein Seliger soll nicht weit von hier in einer Höhle gelebt haben, die man besichtigen kann. Auf dem Marktplatz, in der Nähe der Kirche, steht ein Baum, von dem es heißt, er sei vielhundertjährig. Du bleibst mehrere Monate da. Zu den Mahlzeiten hört ihr die Nachrichten, die Unterhaltungssendungen. Abends spielst du Belote mit deinem Vater, der gewinnt. Du legst dich sehr früh schlafen, vor deinen Eltern, gegen neun Uhr. Manchmal liest du die ganze Nacht über. Du hast in deinem Zimmer auf dem Speicher, ganz hinten in den Wäscheschränken, die Bücher wiedergefunden, die du als Fünfzehnjähriger gelesen hast, Alexandre Dumas, Jules Verne, Jack London, und die Berge von Krimis, die du bei jedem deiner vergangenen Aufenthalte angeschleppt hast. Du liest sie aufmerksam wieder, ohne eine Zeile zu überspringen, als hättest du sie völlig vergessen, als hättest du sie nie richtig gelesen. Du sprichst kaum mit deinen Eltern. Du siehst sie nur zu den Mahlzeiten. Morgens bleibst du im Bett liegen. Du hörst sie hin- und hergehen, die Treppe hinauf- und hinunterlaufen, husten, die Schubladen aufziehen. Dein Vater sägt Holz. Ein Lebensmittelhändler, der mit dem Auto von Haus zu Haus fährt, hupt am Tor. Ein Hund bellt, Vögel zwitschern, die Turmglocke läutet. Du liegst in deinem hohen Bett, das
Federbett reicht dir bis zum Kinn, und betrachtest die Balken an der Decke. Eine winzige Spinne mit grauem, fast weißem Bauch, webt ihr Netz in der Ecke eines Balkens. Du setzt dich an den mit einem Wachstuch bedeckten Küchentisch. Deine Mutter schenkt dir eine Schale Milchkaffee ein, schiebt das Brot, die Marmelade, die Butter zu dir hin. Du ißt schweigend. Sie erzählt dir von ihren Nieren, von deinem Vater, den Nachbarn, dem Dorf. Madame Theveneau hat ihren Bauernhof verpachtet. Der Hund der Moreaus ist eingegangen. Die Arbeiten an der Autobahn haben bereits begonnen. Du gehst ins Dorf hinunter, um für deine Mutter einige Besorgungen zu machen, Tabak für deinen Vater zu kaufen, Zigaretten für dich. Die Bauern sind aus dem ehemals großen Markt ecken ge ohen. Die Eisenbahn hielt hier, es gab einen Notar, einen Markt. Nur zwei Landwirtschaftsbetriebe sind übriggeblieben. Das Dorf ist jetzt von Rentnern bevölkert und von Städtern, die am Wochenende und in jedem Sommer für einen Monat herkommen und so die Bevölkerung der Wintermonate verdoppeln oder verdreifachen. Du gehst an den restaurierten Häusern vorbei: apfelgrün gestrichene Fensterläden, auf denen schmiedeeiserne Lilien angebracht sind, antiquarische Laternen, Lustgärten, Grotten aus Muschelwerk, in denen keine Gottheit wohnt, Paradiese der Sommerfrischler. Rechtsanwälte, Krämer, Beamte schneiden Hecken, harken den Kies, stauben die Blumenbeete ab, füttern die Gold sche. Auf dem Dorfplatz hängen die Mopeds und Vespas der Jüngsten in dichten Trauben zusammen. Die Kneipe ist voll. ***
Jeden Nachmittag brichst du zu einem Spaziergang auf. Du folgst zunächst der Straße und dringst dann jenseits eines verlassenen Steinbruchs in den Wald ein. Du hebst einen Ast auf, den du dir so gut du kannst zurechtstutzt. Du gehst an Feldern mit reifem Weizen entlang, du köpfst mit großen, ungeschickten Schlägen deines Stocks wilde Gräser. Du kennst weder die Namen der Bäume noch die der Blumen, der P anzen, der Wolken. Du setzt dich auf die Anhöhe eines Hügels, von wo aus dir das ganze Dorf erscheint: das etwas abseits gelegene Haus deiner Eltern mit seinen drei verschiedenfarbigen Dächern, die Kirche, das Schloß fast in Höhe deiner Augen, der Viadukt, durch den früher die Eisenbahn fuhr, das Waschhaus, die Post. Auf der weißen Landstraße ganz unten entfernt sich wie eine Galeone, die aus dem Hafen fährt, ein riesiger Lastwagen. Ein einzelner Bauer führt mitten auf seinem Acker seinen von einem Apfelschimmel gezogenen P ug. *** Vögel stoßen ihre Schreie aus. Gezwitscher, rauhe Rufe, Triller. Die großen Bäume zittern. Die Natur ist da, sie lädt dich ein und sie liebt dich. Du kaust Gräser, die du sofort wieder ausspuckst: die Landschaft inspiriert dich kaum, die Stille der Landschaft regt dich nicht auf und beruhigt dich nicht. Nur ein Insekt, ein Stein, ein herabgefallenes Blatt, ein Baum faszinieren dich manchmal: du sitzt manchmal stundenlang da, um einen Baum anzuschauen, ihn zu beschreiben, ihn zu sezieren: die Wurzeln, den Stamm, das Astwerk, die Blätter, jedes Blatt, jede Blattrippe, jeden Zweig immer wieder von neuem, das unendliche Spiel der gleichgültigen
Formen, das dein gieriger Blick erheischt oder hervorbringt: Gesicht, Stadt, Labyrinth oder Weg, Wappen und Spazierritte. Sowie sich deine Wahrnehmung verfeinert, geduldiger und fügsamer wird, explodiert der Baum und entsteht neu, tausend Nuancen von Grün, tausend identische und doch verschiedene Blätter. Du hast den Eindruck, als könntest du dein Leben vor einem Baum verbringen, ohne ihn auszuschöpfen, ohne ihn zu verstehen, weil du nie etwas verstanden hast, nur um ihn anzuschauen: alles, was du von diesem Baum sagen kannst, ist im Grunde nur, daß es ein Baum ist; alles, was dieser Baum dir sagen kann, ist, daß er ein Baum ist, Wurzel, dann Stamm, dann äste, dann Blätter. Du kannst keine andere Wahrheit von ihm erwarten. Der Baum hat dir keine Moral anzubieten, hat dir keine Botschaft zu überbringen. Seine Stärke, seine Majestät, sein Leben — wenn du noch irgendeinen Sinn, irgendeine Aufmunterung aus diesen alten Metaphern zu ziehen hoffst — sind immer nur Bilder, Pluspunkte, so sinnlos wie der Friede der Felder, wie die Tücke des Wassers, das schläft, die Tapferkeit der kleinen Pfade, die zwar nicht sehr hoch klettern, dafür aber ganz allein, das Lächeln der Hänge, wo die Trauben in der Sonne reifen. Deshalb fasziniert dich der Baum oder setzt dich in Erstaunen oder gibt dir Ruhe, wegen dieser unvermuteten, unvermutbaren Selbstverständlichkeit der Rinde und der äste, der Blätter. Vielleicht gehst du deshalb nie mit einem Hund spazieren, weil der Hund dich anschaut, dich bittet, mit dir spricht. Seine von Dankbarkeit feuchten Augen, sein Aussehen eines geschlagenen Hundes, seine Luftsprünge eines fröhlichen Hundes zwingen dich unaufhörlich, ihm den
nichtswürdigen Status eines Haustiers zu verleihen. Du kannst vor einem Hund so wenig neutral bleiben wie vor einem Menschen. Mit einem Baum jedoch wirst du nie einen Dialog führen. Du kannst nicht in Gegenwart eines Hundes leben, weil der Hund dich jeden Augenblick darum bitten wird, ihm zum Leben zu verhelfen, ihn zu futtern, ihn zu streicheln, Mensch für ihn zu sein, sein Herr zu sein, der Gott zu sein, der diesen Hundenamen donnert, auf den er hört und bei dem er sich sogleich auf den Bauch legen wird. Der Baum jedoch verlangt nichts von dir. Du kannst Gott der Hunde, Gott der Katzen, Gott der Armen sein, du brauchst dazu nur eine Leine, ein wenig Lunge, ein wenig Geld, aber du wirst nie der Herr des Baumes sein. Du wirst immer nur wollen können, ebenfalls ein Baum zu werden. *** Nicht etwa, daß du die Menschen haßt, warum solltest du sie hassen? Warum solltest du dich hassen? Wenn nur die Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung nicht von diesem unerträglichen Lärm begleitet wäre, wenn nur die wenigen, lächerlichen Schritte ins Tierreich nicht mit diesem ständigen Überdruß an Wörtern, an Plänen, an großen Aufbrüchen bezahlt werden müßten! Aber das ist zu teuer für Greifdaumen, für ein Aufrechtstehen, für die unvollkommene Drehung des Kopfes auf den Schultern: dieser Heizkessel, dieser Glutofen, dieser Bratrost, der das Leben ist, diese Milliarden von Mahnungen, Verführungen, Warnungen, Überschwenglichkeiten, Verzwei ungen, dieses Bad der Zwänge, das nie ein Ende ndet, diese ewige Maschine zum Produzieren, Zerkleinern,Verschlingen, die über Hinterhalte siegt,
die immer wieder und unaufhörlich von vorn beginnt, dieser sanfte Terror, der an jedem Tag, zu jeder Stunde deiner belanglosen Existenz herrschen will. *** Du hast kaum gelebt und doch ist alles schon gesagt, schon vorbei. Du bist erst fünfundzwanzig Jahre alt, aber dein Weg ist fertig vorgezeichnet. Die Rollen sind verteilt, die Etikette liegen bereit: vom Topf deiner frühen Kindheit bis zum Rollstuhl deiner alten Tage stehen alle Sitze da und warten, bis sie dran sind. Deine Abenteuer sind so genau beschrieben, daß der gewaltigste Aufruhr niemanden mit der Wimper zucken ließe. Selbst wenn du auf die Straße läufst und den Leuten die Hüte herunterschlägst, wenn du deinen Kopf mit Kehricht bedeckst, barfuß gehst, Manifeste veröffentlichst, mit dem Revolver auf irgendeinen Usurpator schießt, es wird sich nichts daran ändern: dein Bett im Schlafsaal des Altersheims ist bereits gerichtet, dein Gedeck auf dem Tisch der Poètes maudits bereits aufgelegt. Trunkenes Schiff, miserables Mirakel: Harrar ist eine Jahrmarktattraktion, eine Gesellschaftsreise. Alles ist vorhergesehen, alles ist bis auf die kleinsten Einzelheiten vorbereitet: die großen Regungen des Herzens, die kalte Ironie, die Zerrissenheit, die Fülle, das Fremdartige, das große Abenteuer, die Verzwei ung. Du wirst dem Teufel nicht deine Seele verkaufen, du wirst dich nicht mit Sandalen an den Füßen in den Ätna stürzen, du wirst nicht das siebte Weltwunder zerstören. Alles ist schon für deinen Tod bereitet: die Kanonenkugel, die dich dahinraffen wird, ist schon seit langem geschmolzen, die Klageweiber, die deinem Sarg folgen werden, sind schon bestimmt.
Warum solltest du auf die Gipfel der höchsten Berge steigen, wenn du nachher doch wieder herunter mußt, und wenn du dann wieder unten bist, wie schaffst du es, daß du nicht dein ganzes Leben lang davon erzählst, wie du es angestellt hast, um hinaufzuklettern? Warum solltest du so tun, als lebtest du? Warum solltest du weitermachen? Weißt du denn nicht schon alles, was dir zustoßen wird? Bist du nicht schon alles gewesen, was du sein solltest: der würdige Sohn deines Vaters und deiner Mutter, der tapfere kleine Pfad nder, der gute Schüler, der mehr hätte leisten können, der Jugendfreund, der entfernte Vetter, der schöne Soldat, der arme junge Mann? Einige Anstrengungen, nicht einmal einige Anstrengungen, nur noch einige Jahre, und du wirst die mittlere Führungskraft sein, der liebe Kollege. Ein guter Ehemann, ein guter Vater, ein guter Staatsbürger. Ein alter Kämpfer. Nach und nach wirst du wie ein Frosch die kleinen Sprossen des gesellschaftlichen Erfolgs erklimmen. Auf einer breiten, vielseitigen Palette kannst du dir die Persönlichkeit aussuchen, die deinen Wünschen am meisten entspricht, sie wird nach deinen Maßen sorgfältig neu geschaffen: wirst du dekoriert werden? Kultiviert sein? Ein Feinschmecker sein? Ein Herzensbrecher? Ein Tierfreund? Wirst du deine Freizeit damit zubringen, auf deinem ungestimmten Klavier Sonaten abzuschlachten, die dir nichts getan haben? Oder wirst du in einem Schaukelstuhl Pfeife rauchen und dir immer wieder sagen, daß das Leben auch gute Seiten hat? Nein. Du ziehst es vor, das fehlende Einzelteil des Puzzles zu sein. Du hältst dich raus. Du läßt dich vom Glück nicht anlächeln und setzt nicht alles auf eine Karte. Du spannst
den P ug vor die Ochsen, du wirfst die Flinte ins Korn, du verkaufst die Haut des Bären, den du nicht hast, du ißt deinen Weizen am Halm, du trinkst bis zur Neige, du legst die Schlüssel unter die Tür, du gehst, ohne dich umzudrehen. Du wirst nicht mehr auf die guten Ratschläge hören. Du wirst keine Allheilmittel verlangen. Du wirst deinen Weg gehen, du wirst die Bäume betrachten, das Wasser, die Steine, den Himmel, dein Gesicht, die Wolken, die Zimmerdekken, die Leere. Du bleibst beim Baum. Du verlangst nicht einmal vom Geräusch des Windes in den Blättern, daß es zum Orakel wird. *** Der Regen kommt. Du gehst nicht mehr aus dem Haus, kaum aus deinem Zimmer. Du liest den ganzen Tag laut vor dich hin und folgst dabei mit dem Finger den Zeilen des Textes, wie die Kinder, wie die Greise, bis die Wörter ihren Sinn verlieren, bis der einfachste Satz krummbeinig, verworren wird. Der Abend kommt. Du zündest das Licht nicht an, und du bleibst reglos an dem kleinen Tisch am Fenster sitzen, das Buch in den Händen, du liest nicht mehr, hörst kaum auf die Geräusche des Hauses, auf das Knarren der Balken, der Dielen, auf deinen Vater, der hustet, auf die gußeisernen Ringe, die auf dem Küchenherd wieder über die Feuerstelle geschoben werden, auf das Geräusch des Regens auf den Zinkregenrinnen, auf das Auto, das ganz in der Ferne auf der Landstraße vorüberfährt, auf das Hupen des Sieben-Uhr-Busses an der Biegung nahe des Hügels. ***
Die Sommerfrischler sind abgereist. Die Landhäuser sind abgeschlossen. Wenn du durchs Dorf gehst, bellen die wenigen Hunde bei deinem Vorüberkommen. Fetzen gelber Plakate auf dem Kirchplatz, neben dem Bürgermeisteramt, der Post, dem Waschhaus rufen noch zu Versteigerungen, zu Bällen, zu vergangenen Festen auf. *** Du gehst manchmal noch spazieren. Du machst wieder dieselben Wege. Du gehst durch die gep ügten Felder, die an deinen hohen Schuhen dicke Lehmsohlen zurücklassen. Du bleibst in den Sump öchern der Pfade stecken. Der Himmel ist grau. Nebelschwaden verhüllen die Landschaft. Rauch steigt aus einigen Schornsteinen auf. Dir ist trotz deiner gefütterten Jacke, deinen Schuhen, deinen Handschuhen kalt; du versuchst ungeschickt, eine Zigarette anzuzünden. *** Du machst größere Spaziergänge, die dich zu anderen Dörfern fuhren, durch Felder und Wälder. Du setzt dich an den langen Holztisch einer Kneipe mit Gemischtwarenhandlung, deren einziger Gast du bist. Man bringt dir eine Fleischbrühe oder einen geschmacklosen Kaffee. Dutzende von Fliegen kleben dicht an dicht auf dem Fliegenfänger, der noch in einer Spirale von dem Lampenschirm aus emailliertem Metall herabhängt. Eine gleichgültige Katze wärmt sich neben dem gußeisernen Ofen. Du betrachtest die Konservendosen, die Waschpulverpakete, die Schürzen, die Schulhefte, die schon alten Zeitungen, die bonbonfarbenen Postkarten, auf denen
Puppensoldaten in Versen die schönen Gefühle besingen, zu denen eine blonde Braut sie inspiriert, siehst dir den Fahrplan der Autobusse an, die Zahlen der Pferdewetten, die Ergebnisse der sonntäglichen Fußballspiele. *** Vogelschwärme ziehen sehr hoch am Himmel dahin. Auf dem Yonne-Kanal gleitet ein langer Kohlenschlepper mit metallblauem Rumpf, von zwei großen grauen Pferden gezogen, vorüber. Nachts kommst du über die Route Nationale zurück, aufheulende Autos kommen dir entgegen oder überholen dich, du wirst von Scheinwerfern geblendet, die, wie es einen Augenblick lang scheint, den Himmel anleuchten wollen, bevor sie sich auf dich stürzen.
Du kommst nach Paris zurück, und du ndest dein Zimmer wieder, deine Stille. Die Wassertropfen, die Menschenmenge, die Straßen, die Brücken; die Decke, die rosa Plastikschüssel; die schmale Bank. Der gesprungene Spiegel, in dem sich die Züge widerspiegeln, die dein Gesicht bilden. *** Dein Zimmer ist der Mittelpunkt der Welt. Diese Höhle, diese Dachkammer auf dem Hängeboden, die für immer deinen Geruch bewahrt, dieses Bett, in das du dich allein legst, das Regal, das Linoleum, die Decke, deren Risse, Schuppen, Flecken, Reliefs du hunderttausendmal gezählt hast, der Spülstein, der so klein ist, daß er einem Puppenmöbel gleicht, die Waschschüssel, das Fenster, die Tapete, von der du jede Blume, jeden Stengel, jedes Gerank kennst, von denen du als einziger behaupten kannst, daß sie sich trotz der fast unfehlbaren Vollkommenheit des Druckverfahrens nie völlig ähneln, der zersprungene Spiegel, der immer nur dein in drei ungleiche, sich leicht überlappende Teile zerstükkeltes Gesicht wiedergegeben hat, das du aus Gewohnheit schon fast nicht mehr siehst, von dem du selbst die Andeutung eines Stirnauges, die gespaltene Nase, den ständig verdrehten Mund vergißt, um dich nur noch an einen Streifen in Form eines Ypsilons zu erinnern, der aussieht wie die fast vergessene, fast verblaßte Narbe einer alten Wunde, Säbelhieb oder Peitschenhieb, die Bücherreihen, der Heizkörper, der Kofferplattenspieler in der granatfarbenen Kunstlederhülle: so beginnt und endet dein Reich, das die fast immer vorhandenen Geräusche, die allein dich mit der Welt verbinden, in konzentrischen Kreisen, als Freunde oder Feinde,
umgeben: der Wassertropfen, der am Hahn im Treppenvorraum perlt, die Geräusche deines Nachbarn, sein Räuspern, die Schubladen, die er aufzieht und zuschiebt, seine Hustenanfälle, das Pfeifen seines Wasserkessels, die Geräusche der Rue Saint-Honoré, das unaufhörliche Gemurmel der Stadt. Die Sirene eines Feuerwehrautos scheint von sehr weit auf dich zuzukommen, sich zu entfernen, zurückzukommen. An der Kreuzung der Rue Saint-Honoré und der Rue des Pyramides gibt der gleichmäßige Wechsel des Bremsens, Anhaltens, Gasgebens der Zeit fast ebenso sicher einen Rhythmus wie der unermüdliche Tropfen, wie der Glockenturm von Saint-Roch. Auf deinem Wecker ist es seit langem Viertel nach fünf. Er ist sicherlich während deiner Abwesenheit stehengeblieben, und du hast versäumt, ihn wieder aufzuziehen. In die Stille deines Zimmers dringt die Zeit nicht mehr ein, sie ist drumherum, ein permanentes Bad, noch gegenwärtiger, noch nachdrücklicher als die Zeiger eines Weckers, den du übersehen könntest, und doch leicht verdreht, verfälscht, ein wenig verdächtig: die Zeit vergeht, aber du weißt nie, wie spät es ist, die Glocken von Saint-Roch zeigen weder die viertel Stunden noch die halben Stunden noch die dreiviertel Stunden an. Der Wechsel der Verkehrsampeln an der Kreuzung der Rue Saint-Honoré und der Rue des Pyramides von Rot auf Grün ndet nicht jede Minute statt, der Wassertropfen fällt nicht jede Sekunde. Es ist zehn Uhr oder vielleicht elf, denn wie kannst du sicher sein, daß du richtig gehört hast, es ist spät, es ist früh, der Tag bricht an, die Nacht fällt herein, die Geräusche hören nie ganz auf, die Zeit bleibt nie völlig stehen, selbst wenn sie nur noch unmerklich ist: eine
winzige Bresche in der Mauer des Schweigens, verlangsamtes, vergessenes Gemurmel, Tropfen um Tropfen, fast verschmolzen mit dem Schlagen deines Herzens. *** Dein Zimmer ist die schönste aller einsamen Inseln, und Paris ist eine Wüste, die nie jemand durchquert hat. Du brauchst nichts anderes als diese Ruhe, diesen Schlaf, als diese Stille, als diese Apathie. Mögen die Tage auch beginnen und die Nächte aufhören, mag die Zeit dahingehen, dein Mund sich schließen, mögen die Muskeln deines Nackens, deines Kiefers, deines Kinns völlig schlaff werden, so schlaff, daß nur noch das Auf und Ab deines Brustkastens, das Schlagen deines Herzens von deinem geduldigen Weiterleben zeugen. *** Nichts mehr wollen. Warten, bis es nichts mehr zu warten gibt. Herumlaufen, schlafen. Dich von der Menge tragen lassen, von den Straßen. Den Gossen folgen, den Gittern, dem Wasser längs der Steilufer. Über die Kais gehen, die Mauern entlangstreifen. Seine Zeit verlieren. Aus jedem Plan, jeder Ungeduld heraustreten. Wunschlos sein, ohne ärger, ohne Aufruhr. Es wird im Strom der Zeit ein regloses, krisenloses, geordnetes Leben sein, das vor dir liegt: keine Unebenheit, keine Gleichgewichtsstörung. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahreszeit um Jahreszeit wird etwas beginnen, das nie ein Ende haben wird: dein P anzenleben, dein rückgängig gemachtes Leben.
Hier lernst du fortzudauern. Manchmal, Herr der Zeit, Herr der Welt, eine kleine, aufmerksame Spinne in der Mitte ihres Netzes, herrschst du über Paris: du regierst den Norden über die Avenue de l‘Opera, den Süden über die gewölbten Durchgänge des Louvre, den Westen und den Osten über die Rue Saint-Honoré. Manchmal versuchst du das rätselhafte Gesicht zu zerlegen, das das vielschichtige Spiel der Schatten und der Sprünge vielleicht auf einem Stück der Decke andeutet, Augen und Nase, oder Nase und Mund, eine Stirn, die kein Haar unterbricht, oder auch die genaue Zeichnung vom Rand einer Ohrmuschel, der Ansatz einer Schulter oder eines Halses. *** Es gibt tausend Arten und Weisen, die Zeit totzuschlagen, und keine gleicht der andern, doch sie kommen alle aufs gleiche heraus, tausend Arten, auf nichts zu warten, tausend Spiele, die du er nden und sofort wieder aufgeben kannst. Du mußt alles lernen, alles, was man nicht lernen kann: die Einsamkeit, die Gleichgültigkeit, die Geduld, das Schweigen. Du bist gezwungen, dich von allem zu entwöhnen: dich mit denen zu treffen, mit denen du so lange zusammengekommen bist, deine Mahlzeiten einzunehmen, deinen Kaffee an dem Platz zu trinken, den andere jeden Tag für dich freigehalten, manchmal für dich verteidigt haben, dich durch fade Freundschaften zu schleppen, die sich endlos überleben, im feigen, opportunistischen Groll von Liebschaften zu verharren, die sich au ösen. Du bist allein, und weil du allein bist, darfst du nie auf die Uhr sehen, darfst du nie die Minuten zählen. Du darfst deine
Post nicht eberhaft öffnen, du darfst nicht mehr enttäuscht sein, wenn du nur einen Werbeprospekt im Umschlag ndest, der dich auffordert, für die bescheidene Summe von siebenundsiebzig Franc ein Kuchenbesteck mit deinen Initialen oder die Schätze der westlichen Kunst zu erwerben. Du mußt vergessen zu hoffen, zu unternehmen, Erfolg und Ausdauer zu haben. Du läßt dich treiben, und das fällt dir fast leicht. Du vermeidest die Wege, die du zu lange gegangen bist. Du läßt die vergehende Zeit, die Erinnerung an Gesichter, an Telefonnummern, an Adressen, Lächeln, Stimmen verblassen. Du vergißt, daß du zu vergessen gelernt hast, daß du dich eines Tages gezwungen hast, zu vergessen. Du lungerst auf dem Boulevard Saint-Michel herum, doch ohne noch etwas zu erkennen, du achtest nicht auf die Schaufenster, und der hinauf- und hinunterziehende Strom der Studenten achtet nicht auf dich. Du gehst nicht mehr in die Kneipen, du suchst sie nicht mehr eine nach der andern mit sorgenvollem Gesicht auf, selbst in den Nebenräumen Ausschau haltend nach jemandem, den du schon vergessen hast. Du suchst niemanden mehr in den Schlangen, die sich alle zwei Stunden vor den sieben Kinos der Rue Champollion bilden. Du irrst nicht mehr ziellos im großen Hof der Sorbonne umher, du gehst nicht mehr in den langen Fluren auf und ab, bis die Vorlesungen zu Ende sind, du gehst nicht mehr in die Bibliothek auf der Suche nach Grüßen, Lächeln, Zeichen des Erkennens. *** Du bist allein. Du lernst gehen wie ein Mensch, der allein ist, lernst bummeln, umherschlendern, sehen, ohne hinzu-
schauen, hinzuschauen, ohne zu sehen. Du lernst die Durchsichtigkeit, die Unbeweglichkeit, die Existenzlosigkeit. Du lernst ein Schatten zu sein und die Menschen anzuschauen, als seien sie Steine. Du lernst sitzen zu bleiben, liegenzubleiben, stehen zu bleiben. Du lernst jeden Bissen gründlich zu kauen, in jedem Stückchen Nahrung, das du zum Munde führst, denselben ausdruckslosen Geschmack zu nden. Du lernst die Bilder, die in den Galerien ausgestellt sind, so zu betrachten, als seien es Wände, Decken, und die Wände, Dekken, als seien es Bilder, deren Dutzende, deren Tausende immer wieder neu begonnene Wege du unermüdlich verfolgst, unauslotbare Labyrinthe, ein Text, den niemand zu entziffern vermöchte, Gesichter in der Au ösung. *** Du stößt bis zur Ile Saint-Louis vor, du biegst in die Rue de Vaugirard ein, du gehst in Richtung Péreire, in Richtung Château-Landon. Du läufst langsam, du kehrst wieder um, du wischst die Schaufensterscheiben ab. Schaufenster von Drogisten, Elektrogeschäften, Kurzwarenhändlern, Trödlern. Du setzt dich auf die Brüstung des Pont Louis-Philippe und schaust zu, wie sich unter den Bögen ein Wirbel bildet und wieder au öst, siehst die trichterförmige Vertiefung, die sich vor den Strebepfeilern ständig auftut und wieder füllt. Etwas weiter weg fahren Wasserkutschen, Kähne vorbei, die mit der Zeit die Spiele des Wassers gegen die Pfeiler stören. Am Kai entlang verfolgen reglos dasitzende Angler mit den Augen das unerbittliche Abtriften der Schwimmer. ***
Von der Terrasse eines Cafés aus, vor einem Glas Bier oder einem schwarzen Kaffee sitzend, betrachtest du die Straße. Personenwagen, Taxis, Lieferwagen, Autobusse, Motorräder, Mopeds fahren in dichten Gruppen vorbei, nur von seltenen, kurzen Pausen voneinander getrennt: das ferne Spiegelbild der Ampeln, die den Verkehr regeln. Auf den Bürgersteigen ießen die steten, aber viel üssigeren Doppelströme der Passanten dahin. Zwei Männer, die gleichen Aktenmappen aus Kunstleder unter dem Arm, kreuzen sich mit dem gleichen müden Schritt; eine Mutter und ihre Tochter, Kinder, ältere Frauen mit Einkaufsnetzen, ein Soldat, ein Mann, mit zwei schweren Koffern beladen und wieder andere mit Paketen, mit Zeitungen, mit Pfeifen, mit Regenschirmen, mit Hunden, mit Bäuchen, mit Hüten, mit Kinderwagen, mit Uniformen, die einen laufen fast, die andern ziehen die Füße nach, bleiben vor Schaufenstern stehen, grüßen sich, trennen sich, überholen sich, gehen aneinander vorüber, Alte und Junge, Männer und Frauen, Glückliche und Unglückliche. An den Bushaltestellen ballen sich Menschengruppen zusammen, die ständig aufgelöst werden und sich neu bilden. Ein Plakatträger verteilt Prospekte. Eine Frau winkt den vorbeifahrenden Taxis vergebens mit großen Gebärden. Die Sirene eines Feuerwehrautos oder eines Unfallwagens kommt immer lauter werdend auf dich zu. Abschleppautos fahren wie der Wirbelwind vorüber, für wer weiß welche Unfälle herbeigerufen. Du weißt nichts von den Gesetzen, nach denen diese Leute, die sich nicht kennen und die du nicht kennst, in dieser Straße zusammenkommen, in der du zum ersten Mal in deinem Leben bist, in der du eigentlich nichts zu tun hast, höchstens diese Menge anzu-
schauen, die kommt und geht, sich beeilt, stehenbleibt: diese Füße auf dem Bürgersteig, diese Räder auf der Fahrbahn, was machen sie nur alle? Wo wollen sie hin? Wer ruft sie? Wer läßt sie zurückkommen? Welche Kraft oder welches Mysterium läßt sie abwechselnd den rechten, dann den linken Fuß mit einer Koordination übrigens, wie sie kaum wirksamer sein könnte, auf den Bürgersteig setzen? Tausende sinnloser Handlungen kommen im selben Augenblick im allzu engen Sehfeld deines fast neutralen Blicks zusammen. Sie strecken gleichzeitig ihre rechten Hände aus und drücken sie sich, als wollten sie sie zermalmen, sie geben mit ihrem Mund Botschaften von sich, die sichtlich ohne Sinn sind, sie verziehen ihre Wangen, ihre Nasen, ihre Augenbrauen, ihre Lippen, ihre Hände in alle Richtungen, unterstreichen ihre Reden mit ausdrucksvollem Mienenspiel; sie ziehen ihre Notizbücher hervor, sie überholen sich, sie grüßen sich, sie beschimpfen sich, sie beglückwünschen sich, sie rempeln sich an; sie gehen ihres Weges, ohne dich zu sehen und doch sitzt du wenige Zentimeter von ihnen entfernt auf der Terrasse eines Cafés und betrachtest sie ununterbrochen. Du läufst umher. Du er ndest dir Einteilungen von Straßen, Stadtteilen, Gebäuden: die verrückten Viertel, die ausgestorbenen Viertel, die Markt-Straßen, die Schlaf-Straßen, die Friedhof-Straßen, die kahlen Fassaden, die zerfressenen Fassaden, die angerosteten Fassaden, die versteckten Fassaden. Du streichst an den kleinen Grünanlagen vorbei, während dich laufende Kinder überholen, die ein Lineal aus Eisen oder Holz am Gitter entlanggleiten lassen. Du setzt dich auf die grüngestrichenen Lattenbänke mit den gußeisernen Fü-
ßen in Form von Löwentatzen. Alte körperbehinderte Wächter halten einen kleinen Schwatz mit Kindermädchen eines anderen Alters. Mit der Spitze deines Schuhs zeichnest du auf den kaum sandigen Boden Kreise, Quadrate, ein Auge, deine Initialen. *** Du entdeckst die Straßen, durch die nie ein Auto kommt, in denen niemand zu wohnen scheint, in denen es keine anderen Geschäfte gibt als einen Gespensterladen, eine Maßschneiderin mit ihrem mit Spitzenvorhängen bespannten Schaufenster, in dem seit jeher dieselbe fahle, von der Sonne ausgebleichte Schaufensterpuppe, derselbe Karton mit Modeknöpfen, dieselben, immerhin ein Datum tragenden Modeschnitte ausgestellt worden zu sein scheinen, oder ein Matratzenmacher, der seine Bettfedern anbietet, seine kugelförmigen, olivenkernförmigen, spindelförmigen Bettfüße, seine verschiedenen Roßhaar- und Zwillichqualitäten, oder ein Schuhmacher in seiner Ecke, die ihm als Schusterbude dient und deren Tür ein Vorhang ist aus achen, auf Nylonfäden aufgereihten Plastikkorken in allen Farben. *** Du entdeckst die Passagen: die Passage Choiseul, die Passage des Panoramas, die Passage Jouffroy, die Passage Verdeau mit ihren Händlern von Modelleisenbahnen, von Pfeifen, Straßjuwelen, Briefmarken, ihren Schuhputzern, ihren Würstchenbuden. Du liest, eine nach der anderen, die vergilbten Visitenkarten, die im Schaufenster eines Graveurs ausgestellt sind: Dr. Raphaël Crubellier, Stomatologist, Di-
plomé de la Faculté de Médicine de Paris, nur nach Verabredung, Marcel Emile Burnachs, S. A. R. L. Alles für den Teppich, Monsieur und Madame Serge Valène, n, Rue Lagarde, 21407 35; Treffen des Vereins der Ehemaligen Schüler des Collège Geoffroy Saint-Hilaire, Menü: Die Wonnen des Meeres auf Gletscherbett, Périgord-Block mit schwarzen Perlen, die silbrige Schöne aus dem See. *** Im Jardin du Luxembourg schaust du den Rentnern zu, die Bridge, Belote oder Tarock spielen. Auf einer Bank in deiner Nähe schaut ein mumi zierter Greis unbeweglich, mit geschlossenen Füßen, das Kinn auf den Knauf seines Stockes gestützt, den er mit beiden Händen umklammert, stundenlang vor sich ins Leere. Du bewunderst ihn. Du suchst sein Geheimnis, seine Schwäche. Aber er scheint unangreifbar. Er muß stocktaub, halbblind und vielleicht gelähmt sein. Aber er sabbert nicht einmal, er bewegt nicht die Lippen, er blinzelt kaum mit den Augen. Die Sonne dreht sich um ihn: vielleicht besteht seine einzige Wachsamkeit darin, seinem Schatten zu folgen; er hat wohl seit langem vorgezeichnete Anhaltspunkte; seine Verrücktheit, falls er verrückt ist, besteht vielleicht darin, sich für das Zifferblatt einer Sonnenuhr zu halten. Er gleicht einer Statue, aber er hat gegenüber Statuen den Vorteil, daß er aufstehen und weggehen kann, wenn er es wünscht. Er gleicht auch einem Menschen, trotz seines Kopfes, der eher der eines Vogels ist, trotz seiner Hose, die ihm bis zum Brustbein reicht, trotz seiner Schleifen-Krawatte für Volksschüler, aber er hat den anderen Menschen gegenüber den Vorteil, daß er stundenlang
unbeweglich bleiben kann wie eine Statue, ohne sichtbare Anstrengung. So weit möchtest du es auch bringen, aber wahrscheinlich steht deine äußerste Jugend der Berufung zum Greis im Wege, du verlierst zu schnell die Geduld: gegen deinen Willen bewegt sich dein Fuß auf dem Sand, deine Augen irren umher, deine Finger verschränken und lösen sich unaufhörlich. Du gehst wieder aufs Geratewohl dahin, du verirrst dich, du drehst dich im Kreis. Du setzt dir manchmal lächerliche Ziele; Daumesnil, Clignancourt, den Boulevard Gouvion Saint-Cyr, das Postmuseum. Du gehst in die Buchhandlungen und du blätterst in Büchern, ohne sie zu lesen. Du gehst in die Gemäldegalerien und machst gewissenhaft deine Runde, bleibst vor jedem Bild stehen, den Kopf nach rechts geneigt, das Auge zugekniffen, du trittst näher, um den Titel oder das Datum oder den Namen des Malers zu lesen, du trittst zurück, um besser sehen zu können. Du trägst dich beim Hinausgehen mit einem großen, unleserlichen Namenszug und einer falschen Adresse ins Gästebuch ein. *** Du setzt dich in die hinterste Ecke einer Kneipe, du liest Zeile um Zeile, systematisch, Le Monde. Es ist eine ausgezeichnete Übung. Du liest die Titel der ersten Seite, »Streiflicht«, die Auslandsmeldungen, die Rubrik Verschiedenes auf der letzten Seite, die Anzeigen: Stellenangebote, Stellengesuche, Vertretungen, Geschäftsübernahmen, Grundstücke, Bauernhöfe, Besitzungen, Wohnungen (Verkauf), Wohnungen (im Bau be ndlich), Wohnungen (Kauf), Ladenlokale, Vermietungen aller Art, Kapitalmarkt, Vereine, Kurse
und Privatunterricht, Verpachtungen, Autos, Garagen, Tiere, Gelegenheitskäufe, Verschiedenes; die Empfänge, die Geburten, die Verlobungen, die Hochzeiten, die Todesanzeigen, die Danksagungen, die Versteigerungen, die Besuche und Vorträge, die Promotionen; die Kreuzworträtsel, die du fast auswendig kennst (nicht katholisch, wenn man ihn tauft: Wein; Artikel des Todes:1* der; sind unzertrennlich, sobald sie geschlagen werden: Eier; seine Existenz geht der Essenz voraus: Oetker;), die Wettervorhersagen; die Rundfunkprogramme, die Fernsehprogramme, die Theater- und Kinoprogramme, die Börsenkurse, die Rubriken Tourismus, Soziales, Wirtschaft, Gastronomie, Literatur, Sport, Wissenschaft, Theater, Universität, Medizin, Pädagogik, Religion, Lokales, Luftfahrt, Städtebau, Seefahrt, Alltagsrecht, Gewerkschaft; die Seiten für die Frau; das Feuilleton, die Weltpolitik, die Nachrichten aus dem Ausland, die französische Politik, die Kurznachrichten, die großen Aufsätze in Fortsetzungen, die sich über drei oder vier Nummern hinziehen, die Beilagen, die einem bestimmten Land, einer Region, einem Produkt gewidmet sind, die Reklameseiten. Fünfhundert, tausend Informationen sind unter deinen so gewissenhaften und so aufmerksamen Augen vorübergezogen, daß du sogar die Au agenhöhe der Nummer wahrgenommen und einmal mehr nachgeprüft hast, daß sie von gewerkschaftlich organisierten Arbeitern hergestellt und vom BVP und vom OJD kontrolliert wird. Aber dein Gedächtnis hat sorgfältig darauf geachtet, keine dieser Informationen zu behalten: du hast mit dem gleichen fehlen1* Im Deutschen nicht nachvollziehbares Wortspiel: »l‘article de la mort« heißt soviel wie »im Sterben lieben«
den Interesse gelesen, daß die Aktien von Pont-à-Mousson schwach notiert sind, daß der Stahl Einbußen erleidet, daß die Tendenz an der New Yorker Börse freundlich ist, daß man der Erfahrung der ältesten Immobilienkreditbank Frankreichs mit ihrem Netz von Spezialisten Vertrauen schenken muß, daß der Taifun Barbara in Florida für drei Milliarden Schäden verursacht hat, daß Jean-Paul und Lucas stolz darauf sind, die Geburt ihrer kleinen Schwester Lucia anzuzeigen: Le Monde lesen heißt nur eine Stunde, zwei Stunden zu verlieren oder zu gewinnen; es heißt, wieder einmal zu ermessen, wie gleichgültig dir alles ist. Die Hierarchien, die Vorlieben müssen zunichte werden. Du kannst dich immer noch darüber verwundern, daß die letzten Endes nach sehr einfachen Regeln erfolgte Kombination von etwa dreißig typographischen Zeichen imstande ist, täglich diese Tausende von Botschaften hervorzubringen. Doch warum solltest du sie zu deiner Nahrung machen, warum solltest du sie entziffern? Dir kommt es nur darauf an, daß die Zeit verrinnt und daß nichts an dich herankommt; bedächtig lesen deine Augen die Zeilen, eine nach der anderen. Der Gleichgültige steht der Welt weder unwissend noch feindlich gegenüber. Es ist nicht dein Anliegen, die gesunden Freuden des Analphabetismus wiederzuentdecken, sondern zu lesen, ohne einer bestimmten Lektüre ein Vorrecht gegenüber einer anderen einzuräumen. Es ist nicht dein Anliegen, nackt zu gehen, sondern bekleidet zu sein, ohne daß das notwendigerweise Raf nement oder Nachlässigkeit mit einschließt; dein Anliegen ist es nicht, dich verhungern zu lassen, sondern nur, dich zu ernähren. Nicht etwa, daß du diese Handlungen in aller Unschuld begehen willst, denn
Unschuld ist ein furchtbar großes Wort: du willst sie nur einfach, wenn dieses »einfach« einen Sinn haben kann, auf neutralem, eindeutigem, wertfreiem Boden lassen, einem Boden, der vor allem nicht zweckmäßig ist, denn das Zweckmäßige ist der schlimmste aller Werte, der heimtückischste, der kompromittierendste, aber offenkundig, faktisch, unerbittlich; es gibt dazu nur zu sagen: du liest, du bist angezogen, du ißt, du schläfst, du gehst, das sind Handlungen, Gebärden, aber keine Beweise, kein Wechselgeld: deine Kleidung, deine Nahrung, deine Lektüre werden nicht mehr an deiner Stelle reden, du wirst sie nicht mehr überlisten können. Du wirst ihnen nicht die anstrengende, die unmögliche, die tödliche Aufgabe anvertrauen, dich darzustellen. Wenn du jetzt an der Theke in der Petite Source oder in der Biere oder bei Roger la Frite etwas ißt, dann ist es ein wenig das, was die Psychophysiologen eine »Nahrungsaufnahme« nennen: du nimmst ein- oder zweimal am Tag, selten öfters, eine ziemlich genau errechenbare Mischung von Proteiden und Glykosiden in Form eines Stücks gegrillten Rind eischs, aus siedendem Öl geschöpften Kartoffelstreifen und einem Glas Rotwein zu dir. Es handelt sich um ein Steak, manchmal auch Beefsteak oder sogar Bistèque genannt, aber ganz gewiß nicht um ein Tournedos, um Fritten, die niemand zu Pommes pailles weihen würde, um ein Glas Rotwein, dessen Herkunftsbezeichnung zu kontrollieren, niemandem in den Sinn käme. Doch dein Magen macht keinen Unterschied mehr, wenn er je einen gemacht hat, und dein Gaumen ebensowenig. Die Sprache ist widerstandsfähiger gewesen: du hast einige Zeit gebraucht, bis das Fleisch aufhörte, dünn, zäh, faserig zu sein, die Fritten ölig
und weich, der Wein trüb und sauer, bis diese ungeheuer abwertenden Eigenschaftswörter, anfänglich Träger trauriger Bedeutungen, Beschwörer von Armenmahlzeiten, von Nahrung für Clochards, von Volkssuppen, von Vorstadtkirmes, allmählich ihre Substanz verlieren, und damit auch die Traurigkeit, die Armut, das Elend, die Not, die Schande, die unauslöschlich damit verbunden waren — dieses zu Fritieröl gewordene Fett, diese Fleisch gewordene Zäheit, diese zu Wein gemachte Säure — aufhören, dich zu treffen, dich zu zeichnen, genauso wie umgekehrt die edlen Zeichen der Fülle, des Schlemmens, des Feierns, diese genauen Gegenstücke, aufhören, dich zu überzeugen: die blutige und zarte Dicke der Charolais-»Stücke«, der Rinder lets, der Spezial-Entrecôtes aus den Hallen, die goldfarbene Knusprigkeit der streichholzdünnen Pommes pailles, der Pommes soufés, der Pommes Dauphine, das Bukett der großen Weine in ihrem Korb. Keine heilige Energie, kein göttlicher Nektar füllen von nun an deinen Teller und dein Glas. Kein Ausrufezeichen begleitet deine Mahlzeiten. Du ißt Fleisch und Fritten, du trinkst Wein. Der unüberwindliche Abstand, der das Rinderkotelett von La Vilette vom »Steak mit Fritten« trennt, das du fast täglich, kaum daß du hereingekommen bist, beim Kellner an der Theke der Petite Source bestellst, hat keine Macht mehr über dich.
Ob schönes Wetter ist oder schlechtes, ob Regen fällt oder die Sonne scheint, ob der Wind in Böen bläst oder sich kein Blättchen an den Bäumen bewegt, ob das Morgengrauen die Laternen auslöscht, ob die Dämmerung sie wieder anzündet, ob du in der Menge verloren oder allein auf einem einsamen Platz bist, du gehst immer noch vor dich hin, du bummelst immer noch umher. Du er ndest dir lange, komplizierte Gänge, gespickt mit Verboten, die dich zu großen Umwegen zwingen. Du gehst dir die Denkmäler ansehen. Du zählst die Kirchen, die Reiterstatuen, die Pissoirs, die russischen Restaurants. Du gehst dir die Bauarbeiten an den Seineufern nahe der Stadttore ansehen, die wie gep ügte Äcker aufgerissenen Straßen, die Kanalisationen, die Gebäude, die abgerissen werden. *** Du kehrst in dein Zimmer zurück und du läßt dich auf deine zu schmale Bank fallen. Du schläfst mit offenen Augen, wie die Idioten. Du zählst und ordnest die Risse in der Dekke. Das Zusammenspiel der Schatten und der Flecken und die Anpassungs- und Orientierungsvariationen deines Blikkes erzeugen langsam, mühelos, Dutzende neu entstehender Formen, zerbrechliche Anordnungen, die du nur für einen Augenblick zu erfassen vermagst und sie auf einen Namen festlegst: Viole, Virus, Villa, Viper, Visage, bevor sie sich au ösen und alles von neuem beginnt: das Erscheinen einer Gebärde, einer Bewegung, einer Silhouette, Andeutung eines leeren Zeichens, das du größer werden läßt, ein Zufall, der deutlicher wird: ein Auge, das dich anstarrt, ein Mann, der schläft, ein Wirbel, das leichte Schaukeln von Segelschiffen,
ein Stück Baum, ein explodierter, erhalten gebliebener, wiedergefundener kleiner Zweig, aus dessen Innerem der Punkt um Punkt deutlicher werdende Entwurf eines Gesichts auftaucht, das kaum verschieden ist von dem von vorhin, dunkler vielleicht oder aufmerksamer, ein schwebendes Gesicht, in dem du, ohne sie zu sehen, die Ohren, die Augen, den Hals, die Stirn suchst, jedoch nur die Spur eines zweideutigen Lächelns ndest und sogleich wieder vergißt, den Schatten eines Nasenlochs, den die — schimp iche oder ruhmvolle, wer weiß? — Spur einer Narbe vielleicht verlängert. *** Oft spielst du allein Bridge. Du teilst die Karten aus, du versuchst die jede Woche in Le Monde veröffentlichten Aufgaben zu lösen, aber du bist ein mittelmäßiger Spieler und deinem Spiel fehlt es an Eleganz: du hast keine Ahnung vom Hochreizen, von Verlustkarten, von Abwurfzwang. Du hast dir eines Tages eine ungewöhnliche Blattverteilung vorgestellt, bei der einer Mannschaft, die nur zwei Trümpfe in der Vorhand und der Hinterhand hatte, ein As und einen Buben, trotz heftiger Gegenwehr ein Großschlemm gelang, und zwar dank einer allzu schönen Verteilung der Figurenstiche und der Längenstiche; dann, nachdem diese Aufgabe gelöst war, nachdem du festgestellt hast, daß der fragliche Schlemm um so uninteressanter war, als er nicht ankündbar war, und daß dieses Spiel keine Gelegenheit zur Finesse bot, hast du vom Bridge nicht mehr viel erwartet. Du bist den verführerischen Freuden der Patience verfallen. Du breitest auf deiner Bank vier Reihen mit je dreizehn Karten aus und nimmst dir vier Asse heraus. Das Spiel
besteht nun darin, die achtundvierzig verbleibenden Karten unter Ausnutzung der durch die Entfernung der Asse entstandenen Lücken zu ordnen; das geschieht so, daß du in die durch Entfernen der Asse entstandenen Lücken die Karten einrangierst, die der Folge nach dort hingehören: ist also hinter dem Karo-Buben durch Entfernen des Asses eine Lücke entstanden, so legst du dorthin die Karo-Dame. Freie Plätze hinter den Assen besetzt du mit der Zwei der entsprechenden Farbe, der Drei, der Vier und so fort. Du mußt vermeiden, daß du hinter den Königen freie Plätze bekommst, dorthin kannst du nämlich nichts legen, weil der König die letzte Karte der Familie darstellt. Das Glück spielt bei dieser Patience fast keine Rolle. Du kannst lange vorher schon den Augenblick voraussehen, in dem du mit deinen vier entstandenen Lücken auf Könige stoßen und mithin verlieren würdest, wenn du in der Reihenfolge spielen wolltest; aber du kannst dich gerade einer Lücke bedienen, dann einer anderen, auf die erste zurückkommen, die dritte besetzen, die vierte, wieder die zweite. Es ist jedoch selten, daß du Erfolg hast: es kommt immer ein Augenblick, wo das Spiel nicht mehr weitergeht, wo du, weil die Hälfte oder ein Drittel der Karten bereits ausgelegt ist, keine Lücken mehr füllen kannst, ohne damit einen König zu entblößen. Grundsätzlich bist du zu zwei weiteren Versuchen berechtigt: es genügt, die bereits ausgelegten Karten liegen zu lassen und die anderen, nachdem du sie gemischt hast, neu zu verteilen. Aber du nutzt selten diese beiden Chancen; kaum erscheint dir das Spiel kompromittiert, raffst du auch schon alle Karten zusammen, mischst sie zwei- oder dreimal, breitest sie von neuem aus, zu einem neuen Versuch.
Du mischst die Karten, du breitest sie aus, du nimmst die vier Asse weg, du betrachtest das Spiel. Du fängst ein wenig aufs Geratewohl an und achtest nur darauf, nicht allzu schnell einen König zu entblößen. Nach und nach kommt Ordnung in das Spiel, Zwänge tauchen auf, Möglichkeiten treten zutage: hier ist eine Karte bereits an ihrem Platz, hier erlaubt die Bewegung einer einzigen, auf einen Schlag fünf, sechs einzuordnen, dort kann sich ein König, der dich stört, nicht rühren. Du hast fast nie Erfolg. Manchmal mogelst du, kaum, selten, immer seltener. Was für dich zählt, ist nicht der Sieg, denn was sollte dein Sieg schon bedeuten; wenn es aber nur darum geht, die Götter auf deine Seite zu bekommen, so gibt es so viele einfachere Arten, ihr Wohlwollen zu gewinnen. Aber du spielst immer öfter, immer länger, manchmal den ganzen Nachmittag oder schon gleich nach dem Aufstehen oder bis zum Morgen und nicht einmal, nicht einmal mehr, um die Zeit totzuschlagen. In diesem Spiel ist etwas, das dich fasziniert, mehr noch vielleicht als die Wasserspiele an den Brücken, als die Labyrinthe an der Zimmerdecke, als die kaum undurchsichtigen winzigen Reisige, die langsam auf der Ober äche deiner Hornhaut abtreiben. Je nach ihrem Platz, je nach dem Augenblick gewinnt jede Karte eine fast erregende Dichte. Du schützt, du zerstörst, du konstruierst, du kombinierst, du entwirfst Plan um Plan: eine nutzlose Übung, eine durch nichts sanktionierte Gefahr, ein lächerliches Ordnen: achtundvierzig Karten fesseln dich an dein Zimmer und du bist fast glücklich, daß eine Zehn an ihrem Platz ist, daß sich ein König nicht gegen dich erheben kann oder fast unglück-
lich, daß alle deine langsamen Berechnungen beim gleichen unmöglichen Ergebnis enden. Als ob diese einsame, stumme Strategie deinen einzigen Weg darstellte, deine einzige Daseinsberechtigung geworden wäre.
Es ist Nacht. Einige wenige Autos rasen vorbei. Der Wassertropfen perlt am Hahn im Treppenvorraum. Dein Nachbar ist still, abwesend vielleicht oder schon tot. Du liegst angekleidet auf deiner Bank, die Hände hinterm Nacken verschränkt, die Knie hochgezogen. Du schließt die Augen, du öffnest sie. Virus- oder Mikrobenformen, im Innern deines Auges oder auf der Ober äche deiner Hornhaut, schlängeln sich langsam von oben nach unten, verschwinden, kommen plötzlich ins Zentrum zurück, kaum verändert, Scheiben oder Blasen, Hälmchen, gewundene, verdrehte Fäden, deren Verbindung so etwas wie ein Fabeltier zeichnet. Du verlierst ihre Spur, du ndest sie wieder; du reibst dir die Augen, und die Fäden explodieren, vermehren sich. *** Zeit vergeht, du wirst schläfrig. Du legst das Buch aufgeschlagen neben dich auf die Bank. Alles ist verschwommen, schwirrend. Dein Atem ist erstaunlich gleichmäßig. Ein kleines, schwarzes, wahrscheinlich unwirkliches Tierchen schlägt eine unvermutete Bresche in das Labyrinth der Risse an der Decke. Du läufst Tag und Nacht durch die Straßen. Du gehst in die Stadtteilkinos, in denen ein durchdringender Geruch nach Desinfektionsmitteln herrscht, du ißt an Theken belegte Brötchen, aus Tüten Pommes frites, du gehst über Jahrmärkte, du spielst am Flipper, du gehst in die Museen, auf die Märkte, in die Bahnhöfe, in die Lesesäle der Bibliotheken, du betrachtest dir die Schaufenster der Antiquitätenhändler in der Rue Jacob, der Glaswarenhändler in der
Rue du Paradis, der Möbelhändler auf dem Faubourg SaintAntoine. *** Im Laufe der Stunden, der Tage, der Wochen, der Jahreszeiten löst du dich von allem, machst dich von allem frei. Du entdeckst, manchmal fast mit einer Art Trunkenheit, daß du frei bist, daß nichts auf dir lastet, daß dir nichts gefällt und nichts mißfällt. Du ndest in diesem verschleißfreien Leben, das keine andere Aufregung kennt als diese spannenden Augenblicke, die dir die Karten verschaffen oder gewisse Geräusche, gewisse Schauspiele, die du für dich gibst, ein fast vollkommenes, faszinierendes, manchmal von neuen Erregungen aufgeblähtes Glück. Du kennst eine totale Ruhe, du bist in jedem Augenblick geschont und beschützt. Du lebst in einer glückseligen Parenthese, in einer Leere voller Verheißungen, von denen du nichts erwartest. Du bist unsichtbar, offen, durchsichtig. Du existierst nicht mehr: eine Folge von Stunden, eine Folge von Tagen, das Vorüberziehen der Jahreszeiten, das Verrinnen der Zeit, du lebst fort, ohne Fröhlichkeit und ohne Traurigkeit, ohne Zukunft und ohne Vergangenheit, einfach so, selbstverständlich, wie ein Wassertropfen, der am Hahn einer Wasserstelle in einem Treppenvorraum perlt, wie sechs Socken, die in einer rosa Plastikschüssel eingeweicht sind, wie eine Fliege oder wie eine Auster, wie eine Kuh, wie eine Schnecke, wie ein Kind oder wie ein Greis, wie eine Ratte.
Manchmal zeichnet die Dunkelheit zunächst die ungenaue Form eines Pikas: vor dir ist ein Punkt, von dem aus zwei Linien ent iehen, die sich voneinander entfernen und nach einer langen Kurve wieder zu dir zurückkommen. *** Später ist es ein Ozean, eine schwarze See, auf der du schwimmst, als sei deine Nase die Kante oder besser der Vordersteven eines riesigen Dampfers. Alles ist schwarz. Es ist nicht Nacht, nicht dunkel, die ganze Welt ist schwarz, ganz natürlich schwarz, wie auf dem Negativ eines Fotos, und weiß oder vielleicht grau sind nur die Wellen, die dein Dahingleiten zu beiden Seiten deiner Nase aufwühlt, an deinen Augen entlang, die vielleicht die Bordwände des Schiffes sind, dort, wo sich früher das Pikas abzeichnete, als wäre es nur das Vorspiel zu diesem Kielwasser gewesen, eine weißliche, schlängelnde Spur, die du vor dir ziehst, während du über das schwarze Wasser gleitest. Das Wasser umgibt dich von allen Seiten, ein schwarzes, unbewegliches Meer, außergewöhnlich ach, nicht einmal phosphoreszierend, und doch hast du den Eindruck, daß du jede Einzelheit entdecken könntest, die kleinste Wolke noch, wenn da ein Himmel wäre, das kleinste Stückchen Land, wenn es einen Horizont gäbe. Aber da ist nur das Meer und du bist ganz und gar Vordersteven, der mühelos, geräuschlos, vibrationslos die weißen, tiefen Spuren deines Dahingleitens zieht, wie eine P ugschar, die einen Acker umwühlt. Doch bald schon ist irgendwo darüber, wie in einer Kartusche, als ob eine Leinwand auftauchte und darauf nun das Negativ eines Kino lms projiziert werden würde, das-
selbe Schiff noch einmal da, doch diesmal von oben gesehen, in voller Größe, und du, du stehst auf der Brücke in einer etwas romantischen Haltung an die Reling gelehnt oder eher ans Schandeck. Lange Zeit bleibt der zweigeteilte Eindruck absolut klar und deutlich, und wenn dich überhaupt etwas irritiert, dich beunruhigt, so ist es die Tatsache, daß es dir nicht mehr gelingt herauszu nden, ob du zuerst der Vordersteven bist, der allein über die schwarze See gleitet und weiße Wellen aufwühlt, und dann, fast gleichzeitig, so etwas wie das Bewußtsein, dieser Vordersteven zu sein, das heißt, obendrüber, das ganze Schiff, dessen unbeweglicher, in einer etwas romantischen Haltung an die Reling gelehnter Passagier du bist, oder ob da im Gegenteil zuerst das über die schwarze See gleitende Schiff ist mit dir als einzigem Passagier, der an der Kommandobrücke lehnt, dann, maßlos vergrößert, ein einziges Detail dieses Schiffes, der Vordersteven, wie er die Fluten durchfurcht und auf beiden Seiten zwei weiße, dicke Wellen aufwühlt, die aber vielleicht etwas zu gut gezeichnet sind, um wirklich Wellen zu sein, es sind eher Falten, Faltenwürfe, die etwas Majestätisches, fast Verlangsamtes haben. Lange schwimmen die beiden Schiffe, der Teil und das Ganze, deine Vordersteven-Nase und dein Dampfer-Körper, zusammen dahin, ohne daß dir irgend etwas erlaubt, sie zu trennen: du bist gleichzeitig der Vordersteven und das Schiff und du auf dem Schiff. Dann entsteht ein erster Widerspruch, aber das ist vielleicht nur eine optische Illusion, die auf den Unterschied der Ebenen und der Perspektiven zurückzuführen ist: es scheint dir, daß das Schiff langsamer fährt, immer langsamer, vielleicht ein wenig so, als
sähest du es mit immer größerem Abstand aus immer größerer Höhe, dabei lehnst du an der Reling, du wirst überhaupt nicht kleiner, du bleibst immer gleichbleibend sichtbar, und der Vordersteven schwimmt immer schneller, er gleitet nicht mehr, er schießt auf dem schwarzen Wasser dahin, wie eine Barkasse oder gar wie ein Motorrennboot und keineswegs mehr wie ein Liniendampfer. Darauf, und das ist sofort viel schwerwiegender, als wüßtest du, aus Erfahrung vielleicht, daß das, was sich da gerade bildet, der Anfang vom Ende ist, weil du nie langer als einige Augenblicke, als einige Sekunden, die Intensität dessen ertragen kannst, was sich da ankündet, obgleich sich noch nichts gezeigt hat, allerhöchstem vielleicht ein Vorzeichen, ein Indiz, dessen Bedeutung nicht einmal ganz sicher ist, und von dem du jetzt Aufklärung verlangst in der vergeblichen Hoffnung, alles bliebe so lange wie möglich unscharf, weil, wie du weißt, bereits das Erwachen auf dich lauert, und gerade deine Ungeduld hat es herbeigeführt, und alle deine Anstrengungen, es hinauszuzögern, beschleunigen es nur noch mehr, darauf entsteht, wie jedesmal, nicht langsam genug, ein zugleich aufregender und peinlicher, wunderbarer und hoffnungsloser Eindruck, sofort allzu genau, sehr schnell stechend und fast schmerzhaft; die absurde oder eigentlich noch nicht ganz absurde Gewißheit, daß du dieses Bild schon einmal gesehen hast, daß es eine wirkliche, in allen ihren Einzelheiten genaue Erinnerung ist: die See war schwarz, das Schiff fuhr langsam auf der schmalen Fahrrinne dahin und ließ zu beiden Seiten weiße Schaumgarben aufspritzen, du lehntest auf der Kommandobrücke des Promenadendecks in der etwas romantischen Haltung an der
Reling, die den Passagieren aller Schiffe eigen ist, wenn sie Luft schöpfen und dabei den Möwen zuschauen, und du hattest genau das gleiche Gefühl wie das, das du jetzt hast, obwohl du jetzt gar kein Gefühl hast, höchstens dies gefährliche, immer gefährlicher werdende, gleichzeitig um die Unmöglichkeit und die Eigensinnigkeit einer solchen Erinnerung zu wissen. *** Später, viel später, bist du vielleicht mehrere Male wach geworden, hast dich auf die rechte Seite gedreht, auf die linke Seite, hast dich auf den Rücken gelegt, auf den Bauch, vielleicht hast du sogar das Licht angeknipst, vielleicht hast du eine Zigarette geraucht, später, viel später, wird der Schlaf zu einer Zielscheibe, oder besser, du wirst die Zielscheibe des Schlafs. Vor dir oder genauer, vor deinen Augen, manchmal mehr links, manchmal mehr rechts, nie in der Mitte, bildet sich eine Myriade kleiner, weißer Punkte, die mit der Zeit etwas Katzenhaftes zeichnen, einen im Pro l gesehenen Pantherkopf, der näherkommt, der immer größer wird und dabei einem leuchtenden Punkt Platz macht, der dicker wird, zur Raute, zum Stern wird, auf dich zuschießt, sehr schnell, dir im letzten Augenblick ausweicht und rechts an dir vorbeisaust. Das Phänomen wiederholt sich mehrere Male, regelmäßig: zuerst nichts, dann kaum leuchtende Punkte, ein Pantherkopf, der sich abzeichnet, dann ganz deutlich wird, sich brüllend vergrößert und dabei zwei scharfe Fangzähne entblößt, dann ein funkelnder, fast glänzender Punkt, der anschwillt, Raute, Stern, dann Lichtkugel, die auf dich zukommt, dir im Augenblick noch ausweicht und so nahe an
dir vorbeisaust, daß du fast geglaubt hast, sie zu berühren, sie zu spüren, sie zu hören, dann von neuem nichts mehr, lange nichts mehr, weiße Punkte, der Kopf des Panthers, der Stern, der größer wird und dich streift. Dann nichts, lange nichts oder aber, später, manchmal, irgendwo, etwas wie ein weißes Gestirn, das explodiert ...
Mit der Zeit wird deine Kälte sagenhaft. Deine Augen haben ihren Glanz verloren, deine Gestalt hat etwas Abfallendes, Hängendes bekommen. Eine Heiterkeit ohne Verdruß, ohne Bitterkeit zeichnet sich in deinen Mundwinkeln ab. Du gehst durch die Straßen, unberührbar, beschützt von dem ausgewogenen Verschleiß deiner Kleider, von der Neutralität deiner Schritte. Du hast nur noch erlernte Gebärden. Du sprichst nur noch die Worte aus, die unbedingt notwendig sind. Du verlangst: »einen Kaffee«, »einmal zweite Reihe«, »ein Steak mit Fritten und ein Glas Rotwein«, »ein Glas Bier«, »eine Zahnbürste«, »einen Notizblock«. Du zahlst, du steckst ein, du nimmst Platz, du verzehrst. Du nimmst Le Monde vom Stapel und legst zwei Zwanzigcentimesstücke in die Schale des Zeitungsverkäufers. Du sagst nie bitte, guten Tag, danke, auf Wiedersehen. Du entschuldigst dich nicht, du fragst nicht nach dem Weg. Du läufst herum, läufst herum, läufst herum. Du gehst. Alle Augenblicke haben den gleichen Wert, alle Räume ähneln sich. Du hast es nie eilig, du verirrst dich nie. Du schaust nicht auf den Uhren nach der Zeit. Du hast keinen Schlaf. Du hast keinen Hunger. Du gähnst nie. Du brichst nie in Gelächter aus. Du gehst nicht einmal mehr bummeln, denn nur die können bummeln gehen, die sich die Zeit dazu stehlen, die kostbaren Minuten, die sie sich mit viel Kopfzerbrechen von ihren Stundenplänen abknapsen. Anfangs hast du dir deine
Wege ausgesucht, du hast dir Ziele gesetzt, dir komplizierte Rundreisen ausgedacht, die sich, ohne daß du es wolltest, wie die Reisen des Odysseus ausmachten. Du hast, nach so vielen anderen, eine Wallfahrt zu Saint-Julien le Pauvre unternommen, du bist in der Nähe des Eingangs zu den Katakomben im Kreis gegangen, du hast dich unter den Eiffelturm gestellt, du bist auf die Spitze einiger Denkmäler gestiegen, du bist über alle Brücken gegangen, bist an den Steilufern der Seine entlangmarschiert, hast alle Museen besucht, Guimet, Cernuschi, Carnavalet, Bourdelle, Delacroix, Nissim de Camondo, das Palais de la Découverte, das Aquarium des Trocadero, du hast die Rosen von Bagatelle gesehen, Montmartre am Abend, die Hallen in aller Herrgottsfrühe, die Gare Saint-Lazare bei Büroschluß, die Place de la Concorde am 15. August mittags. Doch daß ein Ziel touristisch, kulturell oder auch enttäuschend, albern oder sogar provozierend war (die Rue de la Pompe, die Rue des Saussaies, die Place Beauvau, der Quai d‘Orfèvres) hinderte es nicht daran, ein Ziel zu sein, das heißt eine Spannung, ein Wille, eine Erregung. Dein Tourismus, selbst wenn er trotz der fernen Erinnerung an die Surrealisten enttäuschend und lächerlich war, blieb eine Quelle der Wachsamkeit, der Zeiteinteilung, des Raummaßes. So suchst du dir auch nicht mehr deine Filme aus, sondern gehst einfach ins erstbeste Kino, das abends in der Zeit zwischen acht, neun oder zehn Uhr auf deinem Weg liegt, wobei du im Zuschauerraum nur der Schatten eines Zuschauers bist, der Schatten eines Schattens, der zuschaut, wie auf einem länglichen Rechteck verschiedene Schatten- und Lichtkombinationen auftauchen und verschwinden und immer
wieder dasselbe Abenteuer andeuten: Musik, Verzauberung, Erwartung; so suchst du dir auch nicht mehr deine Mahlzeiten aus, du unternimmst nie mehr den Versuch, sie zu variieren, die annähernd dreihundert Kombinationen alle auszuprobieren, die dir an der Theke der Selbstbedienungsgaststätte Petite Source für fünf Einfrancstücke, ein Drittel deiner täglichen Barschaft, die in deiner Hosentasche klimpert, angeboten werden; so suchst du dir auch nicht mehr die Stunde des Schlafs aus, deine Lektüre, deine Kleider ... Du läßt dich gehen, du läßt dich mitziehen; es genügt schon, daß die Menge die Champs-Elysees hinauf- oder hinuntergeht oder daß ein grauer Rücken, der einige Meter vor dir herläuft, in eine graue Straße einbiegt; oder ein Licht oder das Fehlen eines Lichts, ein Geräusch oder das Fehlen eines Geräuschs, eine Mauer, eine Gruppe, ein Baum, Wasser, ein Hauseingang, Gitter, Plakate, P astersteine, ein Fußgängerübergang, ein Schaufenster, ein Lichtsignal, ein Straßenschild, die Karotte eines Tabakladens, der Stand eines Kurzwarenhändlers, eine Treppe, ein Sternplatz ... *** Du gehst oder du gehst nicht. Du schläfst oder du schläfst nicht. Du läufst die sechs Stockwerke hinunter, du steigst sie wieder hinauf. Du kaufst Le Monde oder du kaufst sie nicht. Du ißt oder du ißt nicht. Du setzt dich, du streckst dich aus, du bleibst stehen, du begibst dich in den Zuschauerraum eines Kinos. Du zündest dir eine Zigarette an. Du überquerst eine Straße, du überquerst die Seine, du bleibst stehen, du setzt den Weg fort. Du spielst am Flipper oder du spielst nicht. ***
Manchmal bleibst du drei vier fünf Tage in deinem Zimmer, du weißt es nicht. Du schläfst fast ununterbrochen, du wäschst deine Socken, deine Hemden. Du liest einen Kriminalroman wieder, den du zwanzigmal gelesen, zwanzigmal vergessen hast. Du löst das Kreuzworträtsel in einer alten, herumliegenden Nummer von Le Monde. Du breitest auf deiner Bank vier Reihen mit je dreizehn Karten aus, du nimmst die Asse weg, du legst die Herzsieben hinter die Herzsechs, die Kreuzacht hinter die Kreuzsieben, die Pikzwei an ihren Platz, den Pikkönig hinter die Pikdame, den Herzbuben hinter die Herzzehn. *** Du ißt Marmelade auf dem Brot, solange du Brot hast, dann auf Zwieback, wenn du welchen hast, dann ißt du sie mit einem kleinen Löffel aus dem Glas. *** Du streckst dich auf deiner schmalen Bank aus, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, die Knie hochgezogen. Du schließt die Augen, du öffnest sie. Verdrehte, gewundene Fäden kommen langsam von oben nach unten auf der Ober äche deiner Hornhaut herab. Du zählst und ordnest die Risse, die Schuppen, die Abblätterungen der Decke. Du betrachtest dein Gesicht in dem gesprungenen Spiegel. *** Du sprichst nicht allein vor dich hin, noch nicht. Du heulst nicht, vor allem das nicht.
Die Gleichgültigkeit hat weder Anfang noch Ende; sie ist ein unwandelbarer Zustand, ein Gewicht, eine Trägheit, die nichts zu erschüttern vermag. Botschaften der Außenwelt gelangen zweifellos noch zu deinen Nervenzentren, aber keine globale Antwort, die die Totalität des Organismus ins Spiel zu bringen vermöchte, scheint Gestalt annehmen zu können. Nur elementare Re exe verbleiben noch: du gehst nicht über die Straße, wenn die Ampel auf Rot steht, du schützt dich vor dem Wind, um deine Zigarette anzuzünden, du ziehst dich an den Wintermorgen wärmer an, du wechselst das Hemd, die Strümpfe, die Unterhosen und das Unterhemd ungefähr einmal wöchentlich, und die Bettlaken etwas weniger als zweimal im Monat. Die Gleichgültigkeit löst die Sprache auf, verwischt die Zeichen. Du bist geduldig, und du wartest nicht, du bist frei, und du wählst nicht, du bist verfügbar und nichts mobilisiert dich. Du bittest um nichts, du forderst nichts, du drängst nichts auf. Du hörst, ohne je zuzuhören, du siehst, ohne je hinzuschauen: die Risse in der Decke, die Dielen des Fußbodens, die Zeichnung der Fliesen, die Falten um deine Augen, die Bäume, das Wasser, die Steine, die vorbeifahrenden Autos, die Wolken, die am Himmel Formen von Wolken zeichnen. *** Du lebst jetzt im Unerschöp ichen. Jeder Tag setzt sich zusammen aus Schweigen und Geräuschen, aus Lichtern und Dunkelheiten, aus Tiefen, aus Warten, aus Schaudern. Es kommt nur darauf an, daß du dich noch einmal verlierst, für immer, jedesmal etwas mehr, daß du ziel- und endlos umherirrst, daß du den Schlaf ndest, einen gewissen Frieden
des Körpers: Verzicht, Überdruß, Lähmung, Willenlosigkeit. Du gleitest dahin, du läßt dich gehen, du gibst auf: die Leere suchen, sie iehen, gehen, stehenbleiben, dich hinsetzen, zu Tisch gehen, die Ellbogen aufstützen, dich ausstrecken. Automatengebärden: aufstehen, dich waschen, dich rasieren, dich anziehen. Ein Kork auf dem Wasser: abgetrieben werden, der Menschenmenge folgen, umherbummeln: im Sommer in der dichten Stille, bei geschlossenen Fensterläden, ausgestorbenen Straßen, aufgeweichtem Asphalt, dem fast schwarzen Grün der unbeweglichen Blätter; im Winter im kalten Licht der Schaufenster, der Straßenlaternen, der Nebelschwaden vor den Türen der Kneipen, der schwarzen Stümpfe der abgestorbenen Bäume. *** Du kehrst in billigen Kneipen ein, in Bistros, Pinten, Trinkstuben ohne Lichter, in denen es nach Essig und nach Schmutz riecht. Du gehst durch schmierige Gassen, an Bretterzäunen entlang, von denen zerfetzte Plakate herunterhängen, der Place Charles Michels und der Rue Château-Landon entgegen. Du setzt dich in den Grünanlagen und in den Parks auf die Bänke, wie ein Pensionär, wie ein Greis, aber du bist erst fünfundzwanzig Jahre alt. Du gehst in die Hotels und wartest dort in der Empfangshalle, auf einem Kanapee aus Kunstleder sitzend, du schaust zu, wie die Leute kommen und gehen, du liest die Prospekte, die Kataloge, die Plakate, du liest die Touristenfaltprospekte, Paris bei Nacht, Kreuzfahrten nach Indien, die herumliegenden Illustrierten: Das Echo des französischen Hotelgewerbes, die Zeitschrift des Touring-Club de France; du liest die Zeitungen, die vor
den Druckereien oder den Redaktionen in den Kästen hängen: Le Monde, Le Figaro, Capital, La Vie française. Du lungerst in den Stadtbibliotheken herum, du füllst ein Formular aus, du liest Geschichtsbücher, gelehrte Werke, die Memoiren von Staatsmännern, Alpinisten, Pfarrern. Du läufst über die Bürgersteige, du schaust in die Rinnsteine, in die mehr oder weniger breiten Lücken, die die am Bordstein geparkten Autos voneinander trennen. Du ndest dort Murmeln, kleine Spiralfedern, Geldmünzen, manchmal Handschuhe, eines Tages eine Brieftasche, mit etwas Geld, Papieren, Briefen, Photos, die dir fast die Tränen in die Augen getrieben haben. Du schaust den Kartenspielern im Jardin du Luxembourg zu, den großen Wasserspielen am Palais de Chaillot, du gehst sonntags in den Louvre, durchquerst alle Säle, ohne dich irgendwo aufzuhalten, bleibst schließlich vor einem einzigen Bild oder einem einzigen Gegenstand stehen: dem Porträt eines unglaublich energischen Renaissancemenschen, mit einer ganz kleinen Narbe über der Oberlippe, links, links für ihn, rechts für dich, oder aber vor einem Stein mit Eingravierungen, einem kleinen ägyptischen Löffel, vor dem du eine Stunde, zwei Stunden stehenbleibst, bevor du, ohne dich umzudrehen, weitergehst. *** Unaufhörliches, unermüdliches Gehen. Du gehst wie ein Mensch, der unsichtbare Koffer trägt, du gehst wie ein Mensch, der seinem Schatten folgt. Gehen eines Blinden, eines Schlafwandlers. Mit mechanischen Schritten gehst du endlos weiter, bis du vergißt, daß du gehst.
Gründlicher Bummler, vollendeter Nachtschwärmer, Ektoplasma, aus dem selbst ein wehendes Bettuch nur mit Mühe ein Gespenst zu machen vermöchte, ein Gespenst, das nicht einmal die kleinen Kinder erschrecken würde. Unermüdlicher Marschierer, durchquerst du jeden Abend Paris von einem Ende zum andern, tauchst aus dem schwarzen Loch deines Zimmers, deiner verfaulten Treppen, deines stillen Hofes auf, hinter den weiten Zonen des Lichts und des Lärms, der Opera, den Grands Boulevards, den ChampsElysees, Saint-Germain, Montparnasse, dringst du in die tote Stadt ein, in Richtung Péreire oder Saint-Antoine, in Richtung Rue de Longchamp, Boulevard de l‘Hôpital, Rue Oberkampf, Rue Vercingétorix. *** Kneipen, die die ganze Nacht geöffnet sind. Du bleibst stehen, nahezu unbeweglich, einen Ellbogen auf die Glastheke gestützt, eine dicke, durchsichtige Platte mit abgerundeten Rändern, die mit Kupferbolzen am Beton des Sockels befestigt ist, halb nach einem Flipper umgewandt, an dem sich drei Seeleute festgebissen haben. Du trinkst Rotwein oder einen Espresso. *** Leben ohne Überraschung. Du bist geschützt. Du schläfst, du ißt, du gehst, du lebst weiter vor dich hin, wie eine Laborratte, die ein unbekümmerter Forscher in ihrem Labyrinth vergessen hat und die nun morgens und abends, ohne sich je zu irren, ohne jemals zu zögern, den Weg zu ihrer Futterkrippe nimmt, nach links, dann nach rechts biegt, zweimal
auf ein Pedal mit roten Kreisen tritt, um ihre Essensration in Form von Brei zu bekommen. Keine Hierarchie, keine Vorliebe. Deine Gleichgültigkeit ist ruhig und unbewegt: ein grauer Mensch, für den das Grau keinerlei Eintönigkeit beschwört. Nicht unsensibel, sondern neutral. Das Wasser zieht dich an wie der Stein, wie die Dunkelheit, wie das Licht, wie die Wärme, wie die Kälte. Es gibt nur dein Gehen und deinen Blick, der sich niederläßt und weiterwandert und nicht auf das Schöne, nicht auf das Häßliche, nicht auf das Vertraute, nicht auf das Überraschende achtet, der sich immer nur die Kombination von Formen und Lichtern merkt, die sich unaufhörlich und überall bilden und au ösen, in deinem Auge, an den Decken, zu deinen Füßen, am Himmel, in einem gesprungenen Spiegel, im Wasser, im Stein, in den Menschenmengen. Plätze, Avenuen, Grünanlagen und Boulevards, Bäume und Gitter, Männer und Frauen, Kinder und Hunde, Erwartungen, Gewimmel, Fahrzeuge und Schaufenster, Gebäude, Fassaden, Säulen, Kapitelle, Bürgersteige, Gossen, Sandsteinp aster, das unter dem feinen Regen glänzt, grau oder fast rot oder fast weiß oder fast schwarz oder fast blau, Schweigen, Schreie, Lärm, Menschenmassen der Bahnhöfe, der Kaufhäuser, der Boulevards, Straßen schwarz von Leuten, Seinekais schwarz von Leuten, verlassene Straßen der Augustsonntage, Morgen, Abende, Nächte, Tagesgrauen und Abenddämmerungen. Du bist jetzt der anonyme Herr der Welt, der, über den die Geschichte keine Macht mehr hat, der, der den Regen nicht mehr fallen spürt, der die Nacht nicht mehr kommen sieht. Du kennst nur deine eigene Gewißheit: die deines Lebens, das weitergeht, deines Atems, deines Schrittes, deines Atems.
Du siehst die Leute kommen und gehen, siehst die Menge und die Dinge sich bilden und sich au ösen. Du siehst im winzigen Schaufenster eines Kurzwarenhändlers eine Vorhangstange, an der deine Augen plötzlich haftenbleiben: du gehst deinen Weg: du bist unzugänglich.
Die Begegnung deines Auges mit dem Kopfkissen erzeugt einen Berg, einen ziemlich weichen Abhang, einen Quadranten oder eher einen Kreisbogen, der sich im Vordergrund abzeichnet, dunkler als der übrige Raum. Dieser Berg ist nicht interessant; er ist normal. Im Augenblick ist dein Geist mit einer Aufgabe beschäftigt, die du eigentlich erledigen müßtest, die du aber nicht genau zu de nieren vermagst; es hat den Anschein, als handele es sich um eine an sich nicht sehr wichtige Aufgabe, die vielleicht auch nur der Vorwand, die Gelegenheit ist, nachzuprüfen, ob du den Code kennst; du nimmst zum Beispiel an, und das läßt sich sofort nachprüfen, daß die Aufgabe darin besteht, deinen Daumen oder auch deine Hand zum Kopfkissen zurückzuziehen: aber ist es wirklich deine Sache, das zu tun? Bist du nicht durch deine Stellung in der Hierarchie, durch deine Dienstjahre von dieser Fron befreit? Diese Frage ist selbstverständlich viel wichtiger als die Aufgabe selber, und du hast nichts, um sie zu lösen, du hast nicht geglaubt, daß du so lange danach noch Rechenschaft dieser Art ablegen müßtest. Übrigens stellst du fest, je länger du darüber nachdenkst, daß das Problem noch komplizierter ist, es geht nicht darum, in Erfahrung zu bringen, ob du deinen Daumen je nach deiner Tätigkeit, deinem Dienstgrad, deinen Dienstjahren zum Kopfkissen zurückziehen mußt, sondern eher um dies: du wirst in jedem Fall früher oder später deinen Daumen zum Kopfkissen zurückziehen müssen, aber oben drüber, wenn du genügend Dienstjahre hast, unten drunter, wenn du sie nicht hast, und du hast natürlich nicht die geringste Ahnung, was deine Dienstjahre angeht, die dir beachtlich erscheinen, aber vielleicht doch nicht beachtlich genug. Viel-
leicht hat man, um dir diese Frage zu stellen, genau den Augenblick gewählt, in dem niemand, nicht einmal der unbestechlichste Richter, gefahrlos behaupten könnte, daß du genügend Dienstjahre hast oder nicht. *** Die Frage könnte sich auch wegen deiner Füße oder wegen deiner Schenkel stellen. In Wahrheit ist sie ohne Bedeutung: das wirkliche Problem ist das des Kontakts. Es gibt grundsätzlich zwei Arten von Kontakten: die deines Körpers mit den Bettlaken, was deinen linken Schenkel, deinen rechten Fuß, deinen rechten Unterarm, einen Teil deines Bauches angeht, ein Kontakt, der Verbindung, Osmose, Verdünnung ist; und der deines Körpers mit sich selber, dort, wo dein Fleisch auf dein Fleisch stößt, dort, wo dein linker Fuß sich auf deinen rechten Fuß legt, dort, wo die Knie sich treffen, dort, wo dein Ellbogen deinem Magen trotzt; diese Kontakte sind spitz, warm oder kalt oder warm und kalt. Natürlich kann man, fast gefahrlos, die ganze Operation umkehren und behaupten, daß das Gegenteil zutrifft, daß der linke Fuß sich unter dem rechten Fuß, der rechte Schenkel unter dem linken Schenkel be ndet. Am allerklarsten dabei ist natürlich, daß du nicht liegst, weder auf der rechten noch auf der linken Seite, die Beine leicht angezogen, während die Arme das Kopfkissen umschlingen, sondern daß du mit dem Kopf nach unten hängst, wie eine Fledermaus, die ihren Winterschlaf hält oder eher wie eine reife Birne an einem Birnbaum: das heißt, daß du jeden Augenblick fallen kannst, was du übrigens nicht weiter störend ndest, da dein Kopf durch das Kopfkissen voll-
kommen geschützt ist, aber dennoch ist es deine P icht, dieser Gefahr, und wäre sie noch so gering, auszuweichen. Doch wenn du die Möglichkeiten, die du kennst, Revue passieren läßt, wirst du bald feststellen, daß die Situation ernster ist, als du sie zunächst eingeschätzt hast, und wäre es auch nur, weil der Verlust der waagerechten Lage sich nur selten günstig auf den Schlaf auswirkt. Du mußt dich also dazu entschließen zu fallen, auch wenn du voraussiehst, daß das gar nicht so angenehm sein wird, man weiß nämlich nie, wann man aufhört zu fallen, vor allem aber weißt du nicht, wie du es anstellen sollst, um zu fallen, und erst, wenn du nicht daran denkst, fängst du an zu fallen, und wie könntest du nicht daran denken, da du doch gerade daran denkst? Das ist etwas, das nie jemand ernsthaft in Erwägung gezogen hat, obwohl es nicht ohne Bedeutung ist: es müßte Texte über dieses Thema geben, sichere Texte, die dir erlauben würden, solchen Situationen, die sehr viel häu ger vorkommen, als man im allgemeinen annimmt, ins Auge zu sehen. *** Dreiviertel deines Körpers sind in deinen Kopf ge üchtet; dein Herz hat sich in deiner Augenbraue niedergelassen, wo es sich völlig akklimatisiert hat, wo es wie etwas Lebendiges schlägt, im Höchstfall vielleicht ein klein wenig schneller. Du mußt an deinen Körper appellieren, die Integrität deiner Glieder, deiner Organe, deiner Eingeweide, deiner Schleimhäute nachprüfen. Du möchtest gern alle diese Teile, die deinen Kopf überfüllen und belasten, aus ihm vertreiben, und gleichzeitig bist du froh darüber, daß du so viel wie möglich gerettet hast, denn alles übrige ist verloren, du hast kei-
ne Füße mehr, keine Hände mehr, deine Wade hat sich vollkommen ver üssigt. *** Das alles wird immer komplizierter: zunächst einmal müßtest du deinen Ellbogen wegnehmen, und in dem so freigewordenen Raum könntest du wenigstens einen Teil deines Bauches unterbringen, und so fort, bis du einigermaßen wieder zusammengesetzt bist. Aber das ist erschreckend schwierig: es gibt Teile, die fehlen und andere, die doppelt sind, andere, die maßlos dick geworden sind, andere, die absolut verrückte Gebietsansprüche stellen: dein Ellbogen ist mehr Ellbogen denn je, du hattest vergessen, daß man derart Ellbogen sein kann, ein Fingernagel hat den Platz deiner Hand eingenommen. Und selbstverständlich suchen sich die Henkersknechte immer diesen Augenblick aus, um einzugreifen. Der eine stopft dir einen Schwamm voller Kreide in den Mund, der andere verstopft dir die Ohren mit Watte: einige Brettschneider haben sich auf deinen Leibeshöhlen niedergelassen; ein Pyromane zündet deinen Magen an, sadistische Schneider quetschen dir die Füße zusammen, ziehen dir einen zu kleinen Hut über den Kopf, zwängen dich in einen zu engen Mantel, erdrosseln dich mit ihrer Krawatte: ein Schornsteinfeger und sein Gehilfe haben ein Seil mit dicken Knoten in deine Luftröhre hinabgelassen, und trotz lobenswerter Bemühungen gelingt es ihnen nicht, es herauszuziehen. Sie kommen fast jedesmal. Du kennst sie gut. Du bist fast beruhigt. Wenn sie da sind, ist der Schlaf nicht mehr fern. Sie werden dich ein wenig quälen, aber sie werden bald müde
und lassen dich in Ruhe. Sie tun dir weh, das ist klar, aber du bist völlig losgelöst von deinem Schmerz, wie von allen Gefühlen, die du emp ndest, allen Gedanken, die durch dich hindurchgehen, allen Eindrücken, die du wieder hast. Du siehst ohne Erstaunen, daß du erstaunt bist, ohne Überraschung, daß du überrascht bist, ohne Schmerz, daß Henkersknechte über dich herfallen. Du wartest, daß sie sich beruhigen. Du überläßt ihnen gern die Organe, die sie wollen. Du siehst sie aus der Ferne, wie sie sich deinen Bauch, deine Nase, deine Kehle, deine Füße gegenseitig streitig machen. *** Aber oft, so oft, tappst du damit in die letzte Falle. Dann entsteht das Schlimmste. Es steigt langsam, unmerklich hoch. Zuerst ist alles ruhig, zu ruhig, normal, zu normal. Alles scheint sich nie wieder bewegen zu müssen. Aber anschließend weißt du es, fängst an, es zu wissen, mit einer immer unerbittlicheren Gewißheit, daß du deinen Körper verloren hast, oder genau genommen nicht, du siehst ihn, nicht weit von dir, aber du wirst ihn nie erreichen. Du bist nur mehr ein Auge. Ein ungeheueres, starres Auge, das alles sieht, sowohl deinen kraftlosen Körper wie dich selber, den schauend Angeschauten, als hätte es sich in seiner Höhle umgedreht und betrachtet dich, ohne etwas zu sagen, dich, dein Inneres, dein schwarzes, leeres, meergrünes, erschrecktes, ohnmächtiges Inneres. Es schaut dich an und nagelt dich fest. Du wirst nie aufhören, dich zu sehen. Du kannst nichts tun, du kannst dir nicht entgehen, du wirst es nie können; selbst wenn es dir gelänge, so tief einzuschlafen, daß kein Rütteln, kein Ruf, keine Brandwunde dich zu wek-
ken vermöchte, gäbe es immer noch dieses Auge, dein Auge, das sich nie schließen wird, das nie einschlafen wird. Du siehst dich, du siehst dich dich sehen, du betrachtest dich dich betrachten. Selbst wenn du wach werden würdest, bliebe dein Blick völlig gleich, unwandelbar. Selbst wenn es dir gelänge, dir Tausende, Milliarden Augenlider hinzuzufügen, gäbe es dahinter immer noch dieses Auge, um dich zu sehen. Du schläfst nicht, aber der Schlaf wird nicht mehr kommen. Du bist nicht wach geworden, und du wirst nie wieder wach werden. Du bist nicht tot, und selbst der Tod vermöchte dich nicht zu befreien.
Frei wie eine Kuh, wie eine Auster, wie eine Ratte! *** Aber die Ratten suchen nicht stundenlang den Schlaf. Die Ratten schrecken nicht aus dem Schlaf hoch, von panischer Angst ergriffen, in Schweiß gebadet. Die Ratten träumen nicht, und was kannst du gegen die Träume ausrichten? *** Die Ratten knabbern nicht an ihren Fingernägeln, und vor allem nicht methodisch, stundenlang, bis das Ende ihrer Krallen nur noch eine einzige Wunde ist. Du reißt das Horn bis zur Mitte des Nagels ab und verletzt dabei die Stellen, wo er ans Fleisch festgewachsen ist; du reißt die abgestorbene Haut auf der ganzen Länge des Fingerglieds ab, bis das Blut zu perlen beginnt, bis dir die Finger stundenlang so weh tun, daß dir selbst die kleinste Berührung derart unerträglich ist, daß du nichts mehr anfassen kannst und deine Hände in abgekochtes Wasser tauchen mußt. Aber die Ratten ippern nicht, soviel du weißt. Du preßt dich stundenlang, nächtelang, wütend, eberhaft an den Apparat. Du keuchst, über das Gerät gebeugt, begleitest den Abprall der Stahlkugel mit einem heftigen Stoßen der Hüften. Du wirst wütend auf die Stahlfedern, die Lichter, die Zahlen. Frauen, deren Lider aufklappen, deren Fächer sich senken. Du kannst nicht gegen ein tilt kämpfen. Du kannst spielen oder nicht spielen. Du kannst kein Gespräch anfangen, du kannst ihn nicht sagen lassen, was er dir nicht zu sagen ver-
möchte. Du kannst dich noch so an ihn pressen, an ihm keuchen, das tilt bleibt unemp ndlich für die Freundschaft, die du für ihn emp ndest, für die Liebe, die du suchst, für die Begierde, die dich zerreißt. Sechstausend Punkte, obgleich viertausend ausreichen, werden dich nur noch stärker quälen, dich nur noch etwas tiefer hineinziehen. *** Du läufst durch die Straßen, du gehst in ein Kino; du läufst durch die Straßen, du gehst in eine Kneipe; du läufst durch die Straßen, du betrachtest die Seine, die Metzgereien, die Züge, die Plakate, die Leute. Du läufst durch die Straßen, du gehst in ein Kino, in dem du einen Film siehst, der dem gleicht, den du gerade eben gesehen hast, die gleiche alberne Geschichte, die von einem viel zu intelligenten Herrn erzählt wird, voller Liebenswürdigkeit und Musik, und dann die Pause, die Werbe lme, die du zwanzigmal, hundertmal gesehen hast, ein Dokumentar lm über die Sardinen oder über die Sonne, über Hawaii oder über die Nationalbibliothek, die Vorschau eines Films, den du bereits gesehen hast und den du dir wieder ansehen wirst, der Film, den du gerade gesehen hast und der noch einmal von vorn anfängt, mit seinem zerstückelten Vorspann, dem Strand von Etretat, dem Meer, den Möwen, den Kindern, die im Sand spielen. *** Du gehst aus dem Haus, du läufst durch die allzu hell erleuchteten Straßen. Du steigst wieder in dein Zimmer hinauf, du ziehst dich aus, du gleitest unter die Bettdecke, du löschst das Licht, du schließt die Augen. Es ist die Stunde, in
der sich allzu schnell entkleidete Traumfrauen um dich herumdrängen, es ist die Stunde, in der du dich mit hundertmal gelesenen Büchern dumm und blöde liest, in der du dich immer wieder hin- und herdrehst, hundertmal, ohne Schlaf zu nden. Es ist die Stunde, in der du, die Augen weit geöffnet in der Dunkelheit, mit der Hand am Fuß der schmalen Bank auf der Suche nach einem Aschenbecher, nach Streichhölzern, nach einer letzten Zigarette tastend, ruhig das Ausmaß deines Unglücks mißt. Jetzt stehst du nachts auf. Du läufst durch die Straßen, du kletterst in den Bars auf die Hocker, im Rosebud, in Harry‘s Bar, oder du setzt dich in der Rue Saint-Honoré, fast deinem Zimmer gegenüber, ins Franco-Suisse, oder du läßt dich an einem Tisch in einer der Kneipen bei den Hallen nieder und bleibst dort stundenlang, bis zum Schluß, vor einem Bier oder einer Tasse schwarzen Kaffee oder einem Glas Rotwein sitzen. Du schaust zu, wie die anderen kommen und gehen, die Metzgergesellen, die Fleuristen, die Zeitungsverkäufer, die Nachtschwärmer, die einsamen Säufer, die Nutten. *** Du bist allein und läßt dich treiben. Du gehst durch die öden Avenuen, streifst an verkrüppelten Bäumen entlang, an kahlen Fassaden, schwarzen Toreinfahrten. Du gehst durch die unerschöp iche Häßlichkeit von Batignolles, von Pantin. Du hast keine anderen Begegnungen als die mit Wallace-Brunnen, die seit langem versiegt sind, mit schmierigen Kirchen, aufgeworfenen Baugruben, fahlen Mauern. Die Grünanlagen, deren Gitter dich einkerkern, die Schlammpfützen, die um die Kanallöcher herum stehen, die monströsen Fabrik-
tore. Unter den metallenen Fußgängerbrücken des Europaviertels stoßen die Damp okomotiven Fetzen weißen Rauchs in die Luft. Am Boulevard Barbes und an der Place Clichy schauen ungeduldige Menschenmengen zum Himmel. Du wirst den Zauberkreis der Einsamkeit nicht durchbrechen. Du bist allein, und du kennst niemanden; du kennst niemanden, und du bist allein. Du siehst, wie die anderen zusammenwachsen, sich zusammendrängen, sich schützen, sich umschlingen. Aber du bist mit erloschenem Blick nur ein durchsichtiges Gespenst, ein mauerfarbener Aussätziger, eine bereits ihrem Staub zurückgegebene Gestalt, ein besetzter Platz, dem sich niemand nähert. Du zwingst dich zur Hoffnung auf unwahrscheinliche Begegnungen. Aber Leder, Kupfer, Holz glänzen nicht für dich. Lichter und Geräusche werden nicht für dich gedämpft. Du bist allein, trotz des schwer werdenden Rauchs, trotz Lester Young oder Coltrane, allein in der wattierten Wärme der Kneipen, in den leeren Straßen, in denen deine Schritte dröhnen, im halbwachen Einverständnis der Bistros, die allein noch offengeblieben sind. Es gibt Feinde, denen du dich nur ein einziges Mal stellen wirst, nur so lange, bis du das kalte Zischeln versteinerter Schlangen erkennst, wiedererkennst, nur um rechtzeitig den Rückzug anzutreten, eisig vor Einsamkeit und Ungeduld, verloren, verraten von deinem Blick, dem immer schärferen, immer sinnloseren Erfassen der geringsten Einzelheiten: einer Haarlocke, dem Schatten eines Glases, der beweglichen Andeutung einer sich selbst rauchenden Zigarette, das letzte Zittern einer zwei ügligen Tür, die sich wieder schließt. Nichts entgeht dir, aber du begreifst nichts, höchstens, aber
zu spät, immer zu spät, die Schatten, die Spiegelungen, die Verwerfungen, das Ausweichen, das Lächeln, das Gähnen, die Müdigkeit oder die Verlassenheit. *** Das Unglück ist nicht auf dich herabgestürzt, ist nicht über dich hereingebrochen, es ist langsam in dich eingedrungen, es hat sich fast sanft eingeschlichen. Es hat sorgfältig dein Leben durchtränkt, deine Gebärden, deine Stunden, dein Zimmer, wie eine lang verhüllte Wahrheit, eine Selbstverständlichkeit, die man nicht wahrhaben wollte; hartnäckig und geduldig, zäh, erbittert, hat es Besitz ergriffen von den Rissen in der Decke, den Falten deines Gesichts in dem gesprungenen Spiegel, den ausgebreiteten Karten; es ist im Wassertropfen am Hahn der Wasserstelle im Treppenvorraum heruntergelaufen, es hat mit jeder Viertelstunde am Glockenturm von Saint-Roch gedröhnt. Die Falle, das war dieses manchmal fast erhebende Gefühl, dieser Stolz, diese Art Trunkenheit; du hast geglaubt, daß du nur die Stadt brauchst, ihre Steine und ihre Straßen, die Menschenmengen, die dich mitreißen, daß du nur ein Stück von der Theke der Petite Source, einen Sitz in einer der vordersten Reihen in einem Vorstadtkino brauchst, daß du nur dein Zimmer, deine Höhle, deinen Kä g, deinen Fuchsbau brauchst, in den du jeden Tag zurückkehrst, von dem aus du jeden Tag aufbrichst, diesen fast magischen Ort, an dem sich von nun an nichts mehr deiner Geduld anbietet, nicht einmal mehr ein Riß in der Decke, nicht einmal mehr eine Maserung im Holz des Regals, nicht einmal mehr eine Blume auf der Tapete. Wieder einmal breitest du auf deiner
schmalen Batik die zweiundfünfzig Karten aus, wieder einmal suchst du die unwahrscheinliche Lösung eines gestaltlosen Labyrinths. Du hast deine Macht verloren. Du vermagst der langsamen Abtrift der Kügelchen und der Reisige auf der Oberäche deiner Hornhaut nicht mehr zu folgen. Kein Gesicht, keine siegreiche Reitergruppe, keine Stadt am Horizont lassen sich durch die Risse und Schatten hindurch erraten. Die Falle: diese gefährliche Illusion — wie soll man es ausdrücken? —, unüberwindbar zu sein, der Außenwelt keine Angriffs ächen zu bieten, unberührbar, mit offenen, vor sich hinschauenden Augen dahinzugleiten, alles zu erfassen, selbst die kleinsten Einzelheiten, und nichts zu behalten. Ein wacher Schlafwandler, ein sehender Blinder. Ohne Gedächtnis sein, ohne Angst. Aber es gibt keinen Ausweg, kein Wunder, keine Wahrheit. Panzer, Harnische. Seit jenem drückenden Tag, an dem alles angefangen, an dem alles aufgehört hat. Du streifst an den schmutzigen Mauern nsterer Straßen entlang, schlägst mit deiner rechten Hand gegen die Steine der Freitreppen, die Backsteine der Fassaden. Du setzt dich mit baumelnden Beinen über die Seine, um stundenlang in den unbestimmbaren Wirbel zu schauen, den der Bogen einer Brücke verursacht. Du nimmst die vier Asse deiner zweiundfünfzig ausgebreiteten Karten aus dem Spiel. Wie oft hast du die gleichen verstümmelten Bewegungen gemacht, die gleichen Strecken zurückgelegt, die nirgendwo hinführen? Du hast keine andere Hilfe als deine Dreigroschenzu uchtsorte, deine dümmliche Geduld, die tausendundeinen Umwege, die dich jedesmal an deinen Ausgangspunkt zurückbringen.Von
den Parks zu den Museen, von den Kneipen in die Kinos, von den Seineufern zu den Parkanlagen, in die Wartesäle auf den Bahnhöfen, die Empfangshallen der großen Hotels, die billigen Kaufhäuser, die Buchhandlungen, die Galerien, die Metrogänge. Die Bäume, die Steine, das Wasser, die Wolken, der Sand, der Backstein, das Licht, der Wind, der Regen: allein deine Einsamkeit zählt: was du auch tust, wohin du auch gehst, alles, was du siehst, ist ohne Bedeutung, alles, was du tust, ist sinnlos, alles, was du suchst, ist falsch. Es gibt nur die Einsamkeit, die du früher oder später immer wieder vor dir ndest, freundschaftlich oder unheilvoll; du bleibst jedesmal allein, hil os der Einsamkeit ausgesetzt, verwirrt oder verstört, verzweifelt oder ungeduldig. Du hast aufgehört zu sprechen, und nur das Schweigen hat dir geantwortet. Aber wann wirst du diese Worte wieder nden, diese Tausende, diese Millionen von Worten, die dir im Hals steckengeblieben sind, die unzusammenhängenden Worte, die Freudenschreie, die Liebesworte, das törichte Lachen? *** Jetzt lebst du im Entsetzen des Schweigens. Aber bist du nicht der Schweigsamste von allen? *** Die Ungeheuer sind in dein Leben eingetreten, die Ratten, deinesgleichen, deine Brüder. Die Dutzende, die Hunderte, die Tausende von Ungeheuern. Du machst sie aus ndig, du erkennst sie an unmerklichen Zeichen, an ihrem Schweigen, in ihrem uchtartigen Aufbruch, an ihrem iehen-
den, unsteten, erschreckten Blick, der sich abwendet, wenn er deinem begegnet. Das Licht leuchtet noch mitten in der Nacht aus den Mansardenfenstern ihrer häßlichen Zimmer. Ihre Schritte dröhnen in der Nacht. Die Ratten sprechen nicht miteinander, sie schauen sich nicht an, wenn sie sich begegnen. Aber du weißt diese alterslosen Gesichter, diese zerbrechlichen oder schlaffen Gestalten, diese runden, grauen Schultern Stunde um Stunde in deiner Nähe, du folgst ihrem Schatten, du bist ihr Schatten, du gehst in ihren Schlupfwinkeln ein und aus, du hast die gleichen Zu uchtsorte, die gleichen Heimstätten, die nach Desinfektionsmittel stinkenden Vorstadtkinos, die Grünanlagen, die Museen, die Kneipen, die Bahnhöfe, die Metrostationen, die Hallen. Hoffnungslosigkeiten, die wie du auf Bänken sitzen und unaufhörlich den gleichen unvollkommenen Kreis in den staubigen Sand zeichnen und wieder auslöschen, Leser von in Papierkörben gefundenen Zeitungen, Umherrirrende, die sich von Wetterunbilden nicht aufhalten lassen. Sie haben die gleichen Wege wie du, alle genauso sinnlos, genauso mühsam, genauso hoffnungslos kompliziert. Sie bleiben wie du an den Metrostationen vor den Stadtplänen stehen, sie essen, an den Seineböschungen sitzend, ihre Milchbrötchen. Verbannte, Parias, Ausgeschlossene, Träger unsichtbarer Sterne. Sie streifen mit gesenkten Köpfen, hängenden Schultern, verkrampften Händen an den Mauern entlang, krallen sich an den Steinen der Fassaden fest, müde Gebärden von Besiegten, von Staubfressern. Du folgst ihnen, du spionierst ihnen nach, du haßt sie: in ihren Dachkammern sitzende Ungeheuer in Socken, die ihre
Füße über angefaulte Stufen schleppen, Ungeheuer mit den meergrünen Augen von Lampreten, Ungeheuer mit mechanischen Gebärden, Unsinn redende Ungeheuer. Du verkehrst mit ihnen, du begleitest sie, du bahnst dir einen Weg durch sie hindurch: die Schlafwandler, die Hohlköpfe, die Greise, die Idioten, die Taubstummen mit den bis in die Augen herabgezogenen Baskenmützen, die Trunkenbolde, die Vergreisten, die sich räuspern und versuchen, das stoßweise Zittern ihrer Wangen und ihrer Augenlider zurückzuhalten, die Bauern, die sich in die große Stadt verirrten, die Witwen, die Heimtückischen, die Urahnen, die Schnüf er. *** Sie sind zu dir gekommen, sie haben dich am Arm gekrallt. Als ob du, in deiner eigenen Stadt verlorener Unbekannter, immer nur anderen Unbekannten begegnen könntest; als ob du, ein Einsamer, alle anderen Einsamen auf dich zustürzen sähest. Als ob nur jene, für die Dauer eines Glases Rotwein, das man an derselben Theke trinkt, einander begegnen könnten, die nie reden, die nur mit sich selber reden. Die alten Verrückten, die besoffenen alten Weiber, die Erleuchteten, die Emigranten. Sie klammern sich ans Revers deiner Jacke, an deine Rockschöße, an deine Ärmel, sie schnauben dir ihren Atem ins Gesicht. Mit kleinen Trippelschritten kommen sie zu dir, mit ihrem freundlichen Lächeln, ihren Prospekten, ihren Zeitungen, ihren Fahnen, die jämmerlichen Kämpfer für große, dumme Interessen, die Knochenmasken, die gegen die Kinderlähmung, den Krebs, die Elendswohnungen, die Armut, die
Hemiplegie, die Blindheit in den Krieg ziehen, die traurigen Sänger, die für ihre Kameraden Almosen sammeln, die geschlagenen Waisenkinder, die Tischtücher verkaufen, die eischlosen Witwen, die die Haustiere beschützen. Sie alle, die dich ansprechen, dich zurückhalten, dich manipulieren, dir ihre armselige Wahrheit ins Gesicht spucken, ihre ewigen Fragen, ihre guten Werke, ihren wahren Weg. Die Plakatträger des wahren Glaubens, der die Welt retten wird. Kommt zu ihm, die ihr beladen seid. Jesus hat gesagt, ihr, die ihr nicht sehet, denkt an die, die sehen. Die erdfarbenen Teints, die durchgescheuerten Kragen, die Stotterer, die dir ihr Leben erzählen, von ihren Gefängnissen, ihren Wohnheimen, ihren verschobenen Reisen, ihren Krankenhäusern. Die alten Volksschullehrer, die die Orthographie reformieren möchten, die Rentner, die glauben, sie hätten ein unfehlbares System erfunden, um Altpapier zu verwerten, die Strategen, die Astrologen, die Brunnensucher, die Quacksalber, die Zeugen, alle jene, die mit ihren xen Ideen leben; die heruntergekommenen Subjekte, die Wracks, die harmlosen, senilen Ungeheuer, mit denen die Wirte ihren Schabernack treiben und ihnen die Gläser so voll gießen, daß sie sie nicht zum Munde führen können, die alten Schachteln im Pelzmantel, die sich ihren Likör hinter die Binde gießen und dabei versuchen, würdevoll zu bleiben. Und alle die andern, die Schlimmen, die Glückseligen, die Schlauen, die Selbstzufriedenen, jene, die zu wissen glauben, die so wissend lächeln, die Fettleibigen und die Junggebliebenen, die Milchhändler, die Ordensgeschmückten; die lustigen Lebemänner, die Vorstadtstenze, die Wohlhabenden, die Armleuchter. Die Ungeheuer, die auf ihr gutes Recht po-
chen, die dich zum Zeugen anrufen, scharf ins Auge fassen, Erklärungen von dir verlangen. Die Ungeheuer mit ihren kinderreichen Familien, mit ihren Ungeheuerkindern, ihren Ungeheuerhunden; die Tausende von Ungeheuern, die von Ampeln gestoppt werden, die auf Rot stehen; die kläffenden Weiber von Ungeheuern; die Ungeheuer mit Schnurrbart, mit Weste, mit Hosenträgern, die Touristenungeheuer, die vor häßlichen Denkmälern waggonweise ausgeladen werden, die Ungeheuer im Sonntagsanzug, die ungeheuerliche Menschenmenge. Du läufst dahin, aber die Menge trägt dich nicht mehr, die Nacht beschützt dich nicht mehr. Du gehst immer noch und nach wie vor, ein unermüdlicher, unsterblicher Marschierer. Du suchst, du wartest. Du läufst in der Fossilstadt herum, weiße, intakte Steine verputzter Fassaden, erstarrte Mülleimer, leere Stühle, auf die sich gerade die Hausmeisterinnen gesetzt haben; du läufst in der toten Stadt herum, verlassene Gerüste neben aufgebrochenen Häusern, Brücken, die im Nebel, im Regen verschwinden. Verfaulte Stadt, gemeine, häßliche Stadt. Traurige Stadt, traurige Lichter in den traurigen Straßen, traurige Clowns in den traurigen Varietés, traurige Schlangen vor den traurigen Kinos, traurige Möbel in den traurigen Kaufhäusern. Schwarze Bahnhöfe, Kasernen, Flugzeughallen. Die düsteren Bierhallen, von denen auf den Grands Boulevards eine neben der anderen steht, die entsetzlichen Schaufenster. Laute oder menschenleere, fahle oder hysterische Stadt, aufgeschlitzte, ausgeplünderte, be eckte Stadt, von Verboten, Gittern, Türschlössern überzogene Stadt. MassengrabStadt: die verkommenen Hallen, die als Trabantenstädte
verkleideten Barackenviertel, die Slums im Herzen von Paris, der unerträgliche Horror der Bullenboulevards, Boulevard Haussmann, Boulevard Magenta, Boulevard de Charonne. *** Wie ein Gefangener, wie ein Verrückter in seiner Zelle. Wie eine Ratte, die im Labyrinth den Ausgang sucht. Du durchläufst Paris in allen Richtungen. Wie ein Ausgehungerter, wie ein Botschafter, der einen Brief ohne Adresse überbringen soll. Du wartest, du hoffst. Die Hunde haben sich an dich gewöhnt und auch die Kellnerinnen, die Kellner, die Platzanweiserinnen, die Kassiererinnen an den Kinokassen, die Zeitungsverkäufer, die Busschaffner, die Invaliden, die auf die menschenleeren Säle der Museen aufpassen. Du kannst ohne Befürchtung reden, sie werden dir jedesmal mit gleichmäßiger Stimme antworten. Ihre Gesichter sind dir jetzt vertraut. Sie identi zieren dich, sie erkennen dich wieder. Sie wissen nicht, daß diese einfachen Grüße, dieses Lächeln nur, dieses gleichgültige Kopfnicken genau das ist, was dich jeden Tag rettet, dich, der du den ganzen Tag darauf wartest, als seien sie die Belohnung für eine ruhmreiche Tat, über die du zwar nicht reden kannst, die sie aber fast erraten. *** Dann versuchst du manchmal verzweifelt, deinem schwankenden Leben das Halseisen einer unfehlbaren Disziplin anzulegen. Du machst Ordnung, du räumst dein Zimmer auf, du stellst ein Budget auf, berechnest genau Einnahmen und
Ausgaben: 500 Franc monatlich sind deine ganze Barschaft, abzüglich 50 Franc für dein Zimmer, bleiben dir 15 Franc pro Tag, die folgendermaßen aufgeteilt werden: ein Päckchen Gauloises 1,35 eine Schachtel Streichhölzer 0,10 ein Mittagessen 4,20 ein Kinoplatz 2,50 ein Trinkgeld für die Platzanweiserin 0,20 Le Monde 0,40 eine Tasse Kaffee 1,00 Es verbleiben dir noch 5 Franc 25 für eine zweite Mahlzeit, die aus einem Rosinenbrot oder einem halben Baguette besteht, für eine weitere Tasse Kaffee, für die Metro, für den Autobus, die Zahnpasta, die Wäsche. Dein Leben läuft ab wie eine Uhr, als sei es, um dich nicht zu verlieren, um nicht unterzugehen, das beste Mittel, dir lächerliche Aufgaben zu stellen, alles im voraus zu beschließen, nichts dem Zufall zu überlassen. Damit dein Leben in sich geschlossen, glatt und rund ist wie ein Ei, damit deine Gebärden durch eine unerschütterliche Ordnung, die alles für dich entscheidet, die dich trotz allem beschützt, xiert sind. Du ordnest deine Wege mit einer lobenswerten Strenge. Du kundschaftest Paris Straße um Straße aus, vom Parc Montsouris bis zu den Buttes-Chaumont, vom Palais de la Defense bis zum Kriegsministerium, vom Eiffelturm bis zu den Katakomben. Du nimmst jeden Tag zur gleichen Zeit die gleiche Mahlzeit ein. Du besuchst die Bahnhöfe, die Museen. Du trinkst deinen Kaffee im selben Café. Du liest die Zeitung von fünf bis sieben.
Du legst deine Kleider zusammen, bevor du schlafen gehst. Du machst jeden Samstag gründlich dein Zimmer sauber. Du machst jeden Morgen dein Bett, du rasierst dich, du wäschst deine Socken in einer rosa Plastikschüssel, du wichst deine Schuhe, du putzt dir die Zähne, du spülst deine Kaffeetasse aus und trocknest sie ab, stellst sie an die immer gleiche Stelle auf dem Regal. Du reißt jeden Morgen zur gleichen Minute an der gleichen Stelle auf die gleiche Weise die gummierte Steuerbanderole ab, mit der dein tägliches Päckchen Gauloises verschlossen ist. Die Ordnung deines Zimmers. Dein Stundenplan. Du erlegst dir kindliche Verbote auf. Du trittst nicht auf die Fugen der Bürgersteigplatten. Du respektierst den Kreisverkehr, die Parkverbote. Du erträgst es nicht, zu früh oder zu spät zu kommen. Du möchtest dir alle fünfundvierzig Minuten eine deiner Zigaretten anzünden. Als ob du ständig vom kleinsten Nachgeben erwarten würdest, daß es dich auf der Stelle zu weit fortreißt. Als ob du dir ständig sagen müßtest: es ist so, weil ich es so gewollt habe, ich habe es so gewollt, sonst bin ich tot.
Manchmal hörst du ganze Abende lang zu, halb auf deiner schmalen Bank ausgestreckt, als einziges Licht den fahlen, schwachen Schein, der durchs Mansardenfenster kommt und den lediglich, fast regelmäßig, die rötliche Glut deiner Zigarette aufhellt, wie dein Nachbar hin- und hergeht. Die Wand, die eure beiden Zimmer trennt, ist so dünn, daß du fast seinen Atem hörst, daß du ihn noch hörst, wenn er in Socken herumschlurft. Du versuchst oft, dir seinen Gang vorzustellen, sein Gesicht, seine Hände, sein Alter, seine Gedanken, versuchst dir vorzustellen, was er tut. Du weißt nichts von ihm, du hast ihn nie gesehen, höchstens, daß du ihm vielleicht eines Tages im Treppenhaus begegnet bist, dich an die Wand gedrückt hast, um ihn vorbeizulassen, doch ohne zu wissen, ohne behaupten zu können, daß er es war. Du versuchst übrigens auch gar nicht, ihn zu sehen, du öffnest deine Tür keinen Spalt, wenn du ihn in den Treppenvorraum gehen hörst, um seinen Wasserkessel am Hahn der Wasserstelle zu füllen, du ziehst es vor, ihn zu hören und ihn dir auf deine Weise zu erschaffen. Du weißt nur, daß sein Zimmer viel größer ist als das deine, weil er sich darin bewegen kann, weil er sich darin bewegen muß, um sein Fenster zu erreichen oder sein Bett oder seine Tür oder seine Schränke, während du, von der Mitte deines Zimmers aus, die Füße eng zusammengestellt, mit den Händen jeden beliebigen Punkt erreichen kannst, das Fenster, die Tür, das kleine Lavabo, die Kleiderablage, die rosa Plastikschüssel, das Regal. Seinem etwas rauhen Husten, seinem Räuspern, seinen etwas schleppenden Schritten nach zu urteilen, muß er alt sein, ohne daß nun sein Alter unbedingt für seine Einsamkeit verantwortlich gemacht werden muß, denn, wie du,
empfängt er nie jemanden in seinem Zimmer, als ob diese letzte Etage des Gebäudes, deren einzige Bewohner deines Wissens ihr beide seid, seit kurzem so etwas wie eine Gefahr darstellte für die Sicherheit jener, die früher einmal hätten versucht sein können, hier heraufzukommen. Auch sein mehr als ritueller Stundenplan hat mit seinem Alter nichts zu tun. Der würde nämlich eher darauf hinweisen, daß er, wiederum ein wenig wie du, ein Gewohnheitsmensch ist, vermutlich jedoch etwas ausgeglichener als du. Er verläßt sein Zimmer täglich, selbst sonntags, am späten Vormittag und kommt regelmäßig bei Einbruch der Nacht zurück, als richte sich seine Tätigkeit, ob sie nun einträglich ist oder nicht, nach dem Tageslicht, ohne der Stunde Rechnung zu tragen: bis Weihnachten ist er jeden Tag etwas früher nach Hause gekommen, er kommt jetzt jeden Tag etwas später nach Hause. Du glaubst, daß er iegender Händler ist, Verkäufer von Krawatten, die in einem Regenschirm angeboten werden oder eher noch Vorführer irgendeines Wundererzeugnisses, das Hühneraugen, Flecken, Warzen oder Krampfadern entfernt oder besser noch ein kleiner Kurzwarenhändler, der an seinem Stand, einem auf vier verstellbaren Metallfüßen stehenden offenen Koffer, den Gaffern auf den Grands Boulevards Kämme, Feuerzeuge, Feilen, Sonnenbrillen, Schutzhüllen, Schlüsselbunde anbietet. Diese Vermutung beruht vor allem auf der Tatsache, daß, wenn er in seinem Zimmer ist, seine Hauptbeschäftigung darin besteht, morgens wie abends Schubladen aufzuziehen und zuzuschieben oder zuzuschieben und aufzuziehen, als hätte er jeden Morgen vor dem Weggehen ein beachtliches Warenlager mitzunehmen und jeden Abend nach der Tagesarbeit wegzuräumen.
Vielleicht braucht er seinen offenen Koffer, bedient sich seiner als Nachttisch oder um daran zu schreiben oder zu Abend zu essen: du stattest ihn mit etwas feierlichen, etwas lächerlichen Zügen aus: er legt ein besticktes Tischtuch, das von einem früheren Vermögen übriggeblieben ist, auf seinen Koffer, stellt einen armseligen Leuchter dazu, in dem minderwertige Kerzen stecken, legt ein Tafelgedeck auf, das identisch ist mit denen, die er vielleicht verkauft, das heißt, daß es aus einem Becher und einem Teller aus rosa Plastik und einem Satz Aluminiumbestecken besteht, die sich ineinanderschieben lassen, wobei der Löffel sich der Gabel und die Gabel dem Messer anpaßt. Alle drei Teile werden zusammengehalten von einer Niete in Form eines Kragenknopfs, die am Löffel befestigt ist und durch Gabel und Messer hindurchführt und an dem ein Lederring hängt; als ob, genau besehen, dieser Koffer, dessen Existenz bei weitem nicht gesichert ist, auf Grund einer seltsamen Verwirrung deines Geistes am Tag Verkaufsstand und bei Nacht Picknick-Koffer sein könnte. Dabei ist nicht einmal sicher, ob dein Nachbar überhaupt zu Abend ißt, denn du hörst nie das Brutzeln der Innereien, der Kalbsnieren, die seine Lieblingsspeisen sein dürften. Du weißt nur mit einiger Gewißheit, daß er seinen Wasserkessel am Hahn der Wasserstelle im Treppenvorraum füllt (denn wenn sein Zimmer auch größer ist als das deine, so hat es doch kein ießendes Wasser) und daß er ihn auf einen Kocher stellt, dessen Funktionsweise dir unbekannt ist, der aber von ziemlich primitiver Art sein muß, nach der Zeit zu urteilen, die der Wässerkessel braucht, bis er anfängt zu pfeifen, das heißt, bis das Wasser kocht. ***
Du kannst horchen wie du willst, die Ohren aufsperren, das Ohr an die Wand halten, am Ende weißt du fast nichts. Je mehr die Genauigkeit deiner Wahrnehmung zunimmt, so hat es den Anschein, um so mehr nimmt die Gewißheit deiner Deutungen ab. Kein Zweifel, er macht ständig Schubladen auf und zu, aber selbst das ist nicht erwiesen, denn nichts spricht dagegen, daß er vielleicht aus einem Grund, den du nicht kennst oder auch nur, um dich zu täuschen, einfach zwei Bretter gegeneinander-reibt oder daß er vielleicht wirklich eine oder mehrere Schubladen auf- und zumacht, jedoch wegen nichts, das heißt, ohne etwas hineinzulegen, ohne etwas herauszuholen, nur um Lärm zu machen oder weil er das Geräusch von Schubladen mag, die auf-und zugemacht werden. Kein Zweifel, er geht jeden Tag am späten Vormittag aus dem Haus, aber du bist nicht immer da, um dich dessen zu vergewissern, und ebenso gehst du manchmal bei Einbruch der Dunkelheit aus dem Haus, bevor er zurück ist; vielleicht tut er sogar nur so, als ginge er aus dem Haus, geht die Treppe hinunter, um dann so leise wieder heraufzukommen, daß du, trotz aller Bemühungen, seiner Gegenwart nicht mehr gewahr werden kannst. Kein Zweifel, er holt sein Wasser im Treppenvorraum, kein Zweifel, sein Wasserkessel pfeift, wenn das Wasser kocht: aber vielleicht ist er es, der pfeift, wie soll man das wissen? Und doch gehört dir manchmal sein Leben, seine Geräusche sind dein, weil du ihnen lauschst, auf sie wartest, weil sie dich am Leben erhalten, wie der Wassertropfen, die Glocken von Saint-Roch, der Straßenlärm, die Geräusche der Stadt. Es ist dir ziemlich gleichgültig, ob du irrst oder deutest oder er ndest. Es genügt dir, daß du ihn zum Kurzwarenhändler
gemacht hast, damit er es ist, mit seinem zusammenlegbaren Koffer, seinen Kämmen, seinen Feuerzeugen, seinen Sonnenbrillen. Er lebt das unbedeutende Leben, das du ihn leben läßt und verschwindet, kaum daß er aus deinem Blickwinkel geraten ist, ist tot, sobald der Schlaf dich übermannt, in der übrigen Zeit dazu verurteilt, seinen Wasserkessel mit Wasser zu füllen, zu husten, die Füße nachzuschleifen, seine Schubladen auf- und zuzumachen. *** Aber vielleicht gehörst du, ohne es zu wissen, auch ihm, eine stumme Symbiose? Vielleicht ist er wie du, der du auf sein Husten lauerst, auf sein Pfeifen, seine Schubladengeräusche, und das Geräusch der Tasse, die du aufs Regal stellst, das Knittern der Zeitungen, die du immer wieder zur Hand nimmst, das Schleifen der Karten, die du auf deiner kleinen Bank über- und untereinanderlegst, deine Wassergeräusche, dein Atem sind für ihn, zusammen mit dem Wassertropfen, dem Glockenturm, dem Straßenlärm, den Geräuschen der Stadt, das dichte Gewebe der Zeit, die dahinießt, des Lebens, das bleibt. Vielleicht versucht er verzweifelt dich kennenzulernen, vielleicht deutet er endlos jedes wahrgenommene Zeichen: wer du bist, was du tust, du, der du die Zeitungen zerknitterst, der du mehrere Tage nicht aus dem Haus gehst oder mehrere Tage außer Haus bleibst, ohne heimzukommen? *** Aber du machst so wenig Lärm! Er kann deine Gegenwart nur ahnen, und wenn er darauf achtet, so deshalb, weil er
Angst hat, weil du ihn beunruhigst: er ist wie dieser alte Dachs, der in seinem Bau nie genügend geschützt ist, der ganz in seiner Nähe ein Geräusch hört, das auch nie leiser wird, das nie aufhört. Er versucht sich zu schützen, er versucht ungeschickt, dir Fallen zu stellen, dich glauben zu machen, daß er mächtig ist, daß er dich nicht fürchtet, daß er nicht zittert: aber er ist so alt! Er hat nur noch die Kraft, unaufhörlich immer wieder sein Geld zu zählen, ständig sein Versteck zu wechseln. *** Es mißfällt dir nicht, du Dummkopf, manchmal zu glauben, daß du ihn faszinierst, daß er wirklich Angst hat: du bemühst dich, so lange wie möglich stillzubleiben; aber du kratzt mit einem Stück Holz, einer Feile, einem Bleistift oben an der Wand, die eure beiden Zimmer voneinander trennt, ein winziges, nerventötendes Geräusch dabei erzeugend. Oder du möchtest ihm, von einer plötzlichen Sympathie ergriffen, plötzlich heilsame Botschaften hinüberschicken, mit der Faust an die Wand pochen, ein Schlag für A, zwei Schläge für B...
Jetzt hast du keine Zu uchtsorte mehr. Du hast Angst, du wartest darauf, daß alles aufhört, der Regen, die Stunden, der Strom der Autos, das Leben, die Menschen, die Welt, daß alles zusammenbricht, die Wände, die Türme, die Fußböden und die Decken; daß die Männer und die Frauen, die Greise und die Kinder, die Hunde, die Pferde, die Vögel einer nach dem andern auf die Erde fallen, gelähmt, verpestet, epileptisch; daß der Marmor zerbröckelt, daß das Holz zu Staub zerfällt, daß die Häuser still einstürzen, daß sintutartige Regenfälle die Malereien au ösen, die Zapfen hundertjähriger Schränke auseinandergehen lassen; daß ein ammenloses Feuer an den Stufen der Treppen knabbert; daß die Straßen genau in der Mitte einstürzen und das offene Labyrinth der Kloaken freilegen; daß Rost und Nebel über die Stadt herfallen. *** Manchmal träumst du, daß der Schlaf ein langsamer Tod ist, der dich überwältigt, eine zugleich sanfte und furchtbare Anästhesie, eine glückliche Nekrose: die Kälte steigt an deinen Beinen, an deinen Armen hoch, steigt langsam, stumpft dich ab, vernichtet dich. Deine große Zehe ist ein ferner Berg, dein Bein ein Fluß, deine Wange ein Kopfkissen, du wohnst ganz und gar in deinen Daumen, du schmilzt dahin, du rinnst wie Sand, wie Quecksilber. Du bist nur noch ein Sandkorn, ein zusammengeschrumpftes Menschlein, eine kleine, haltlose Sache ohne Muskeln, ohne Knochen, ohne Beine, ohne Arme, ohne Hals, durcheinandergeratene Füße und Hände, riesige Lippen, die dich verschlingen.
Du wächst ungeheuer, du explodierst, du stirbst, rissig, versteinert: deine Knie sind harte Steine, deine Schienbeine Stahlträger, dein Bauch ist Packeis, dein Geschlecht eine Schwitzkammer, dein Herz ein Kochkessel. Dein Kopf ist eine Heide, über die der Nebel herabfällt, leichte Schleier, dicke Tücher, ein schwerer Mantel…
Deine Augenbrauen heben sich, ziehen sich zusammen; deine Stirn kann sich in Falten legen, deine Augen starren dich an. Dein Mund öffnet sich und schließt sich wieder. *** Du schaust dich aufmerksam im Spiegel an, und selbst wenn du dich ganz aus der Nähe betrachtest, ndest du dein Gesicht besser (das liegt allerdings am Abendlicht und daran, daß du die Lichtquelle hinter dir hast, so daß nur der Flaum, der den Rand deiner Ohren bedeckt, wirklich beleuchtet ist), als es deiner eigenen Kenntnis nach ist. Es ist ein reines Gesicht, harmonisch modelliert, fast schön in den Konturen. Das Schwarz der Haare, der Augenbrauen und der Augenhöhlen springt wie etwas Lebendiges aus der Masse des Gesichts heraus, das etwas Abwartendes hat. Der Blick ist keineswegs verwüstet, keine Spur davon, aber er ist auch nicht kindlich, er ist eher unglaublich energisch, falls er nicht ganz einfach beobachtend ist, da du dich gerade beobachtest und du dir Angst machen willst. Welche Geheimnisse suchst du in deinem gesprungenen Spiegel? Welche Wahrheit in deinem Gesicht? Dieses runde, ein wenig aufgeschwemmte, fast schon pausbäckige Gesicht, diese Augenbrauen, die zusammenstoßen, diese winzige Narbe über deiner Lippe, diese etwas kugeligen Augen, diese unregelmäßig gesetzten Zähne voll gelben Zahnsteins, diese vielfachen Auswüchse, Pickel, Muttermale, schwarzen Punkte, Warzen, Mitesser, schwärzlichen oder bräunlichen Schönheits ecken, aus denen ein paar Haare kommen, unter den Augen, auf der Nase, unter den Schläfen. Wenn du näher herantrittst, stellst du fest, daß deine
Haut erstaunlich gestreift, gefurcht, runzlig ist. Du kannst jede Pore, jede Anschwellung sehen. Du betrachtest, du untersuchst deine Nasen ügel, deine aufgesprungenen Lippen, die Wurzeln deiner Haare, die geplatzten Äderchen, die das Weiße deiner Augen mit Rot durchziehen. *** Manchmal gleichst du einer Kuh. Deine kugeligen Augen bekunden kein Interesse für das, was ihnen begegnet. Du siehst dich im Spiegel und das ruft kein Gefühl in dir wach, nicht einmal das, was aus der einfachen Gewohnheit entstehen könnte. Dieses eher rindviehhafte Spiegelbild, das die Erfahrung als das sicherste Bild deines Gesichts zu identizieren gelehrt hat, scheint keine Sympathie für dich zu emp nden, zeigt kein Erkennen, als ob es, sobald es dich wiedererkennt, sorgfältig darauf achten würde, keine Überraschung zu zeigen. Du kannst nicht im Ernst annehmen, daß es dir böse ist, nicht einmal, daß es an etwas anderes denkt. Nein, wie eine Kuh, wie ein Stein oder wie Wasser hat es dir einfach nichts Besonderes zu sagen. Es schaut dich aus Hö ichkeit an, weil du es anschaust. Du ziehst die Augenwinkel breit, um wie ein Chinese auszusehen, du schneidest mit aufgerissenen Augen ein paar Grimassen: bist der Einäugige mit dem schiefen Mund, der Affe mit der Zunge unter der Oberlippe oder der Unterlippe, mit hohlen Backen, mit aufgeblasenen Backen, aber ob die Kuh im gesprungenen Spiegel nun chinesisch ist oder ob sie Grimassen schneidet, sie läßt alles mit sich geschehen und reagiert nicht. Ihre Folgsamkeit ist so selbstverständlich, daß sie dich zuerst einmal beruhigt, bevor sie dich beun-
ruhigt, denn am Ende wird diese Folgsamkeit fast störend. Vor einem Mann oder vor einer Katze kannst du die Augen niederschlagen, weil der Mann und die Katze dich ansehen, und weil ihr Blick eine Waffe ist (und vielleicht ist das Wohlwollen eines Blickes sogar die schlimmste aller Waffen, die nämlich, die dich entwaffnet, während der Haß nichts bewirkt hätte), aber schließlich gibt es nichts Unhö icheres, als die Augen vor einem Baum oder vor einer Kuh oder vor deinem Spiegelbild niederzuschlagen. Früher einmal, in New York, einige hundert Meter von den Felsenriffen entfernt, an die die letzten Wellen des Atlantiks schlagen, hat sich ein Mensch sterben lassen. Er war Schreiber bei einem Juristen. Hinter einem Wandschirm versteckt, blieb er an seinem Pult sitzen und verließ es nie. Er ernährte sich von Ingwerbiskuits. Durchs Fenster betrachtete er eine Mauer aus schwarz gewordenen Backsteinen, die er fast mit der Hand hätte berühren können. Es war sinnlos, ihn um irgend etwas zu bitten, noch einmal einen Text zu lesen oder auf die Post zu gehen. Weder Drohungen noch Bitten hatten eine Wirkung auf ihn. Am Ende wurde er fast blind. Man mußte ihn fortjagen. Er ließ sich im Treppenhaus des Gebäudes nieder. Man ließ ihn einsperren, aber er setzte sich in den Gefängnishof und verweigerte die Nahrungsaufnahme.
Du bist nicht tot, und du bist nicht vernünftiger. Du hast deine Augen nicht der Glut der Sonne ausgesetzt. Die beiden alten, zweitklassigen Schauspieler sind nicht gekommen, um dich abzuholen, sie haben sich nicht an dich gehängt, um mit dir eine solche Einheit zu bilden, daß man einen von euch nicht hätte überfahren können, ohne auch die beiden andern zu vernichten. Die barmherzigen Vulkane haben sich nicht um dich bemüht. Was für eine wunderbare Er ndung der Mensch doch ist! Er kann sich in die Hände blasen, um sie aufzuwärmen, und er kann auf seine Suppe blasen, damit sie abkühlt. Er kann, falls er sich nicht allzu sehr davor ekelt, ganz vorsichtig irgendeinen Käfer zwischen Daumen und Zeige nger nehmen. Er kann P anzen züchten und seine Nahrung, seine Kleidung, einige Drogen daraus gewinnen, sogar Parfüme, die dazu dienen, seinen unangenehmen Geruch zu verdekken. Er kann die Metalle hämmern und Pfannen daraus machen (was ein Affe nicht machen könnte). Wie viele Beispiele preisen deine Größe, dein Leid! Wie viele Robinsons, Roquentins, Meursaults, Leverkühns! Die guten Punkte, die schönen Bilder, die Lügen: das ist nicht wahr. Du hast nichts gelernt, du bist nicht imstande, Zeugnis abzulegen. Das ist nicht wahr, glaub ihnen nicht, glaub den Märtyrern, den Helden, den Abenteurern nicht! Nur die Dummköpfe sprechen noch ohne Gelächter vom MENSCHEN, vom TIER, vom CHAOS. Das lächerlichste Insekt braucht zum Überleben die gleiche, wenn nicht gar eine noch größere Energie als sie wer weiß noch welcher Flieger, Opfer der wahnsinnigen Fahrpläne, die eine Fluggesell-
schaft durchsetzte, der anzugehören, er auch noch stolz war, aufwenden mußte, um einen Berg zu über iegen, der bei weitem nicht der höchste war. *** Die Ratte ist in ihrem Labyrinth wahrer Bravourstücke fähig: wenn man die Pedale, auf die sie treten muß, um an ihre Nahrung zu kommen, genau mit der Klaviatur eines Flügels oder dem Pult einer Orgel abstimmt, kann man erreichen, daß das Tier einigermaßen anständig »Jesus meine Freude« spielt und nichts verbietet die Annahme, daß sie dabei das größte Vergnügen emp ndet. Aber für dich, armer Dädalus, gab es kein Labyrinth. Deine Tür, unechter Gefangener, stand offen. Kein Wächter stand davor, kein Wachhabender am Ende des Korridors, kein Großinquisitor an der kleinen Gartentür. *** Auf den Grund kommen bedeutet gar nichts. Weder auf den Grund der Verzwei ung noch auf den Grund des Hasses, des äthylhaltigen Verfalls, der stolzen Einsamkeit. Das allzu schöne Bild des Tauchers, der mit einer kräftigen Paddelbewegung des Fußes wieder an die Wasserober äche kommt, ist dazu da, dich notfalls daran zu erinnern, daß der, der gefallen ist, ein Anrecht auf alle Ehren hat: die Barmherzigkeit Gottes erstreckt sich ebenso auf ihn wie auf die Bewohner des Himmels, denen er Nahrung gibt. Die Sünder wie die Taucher sind dazu geschaffen, die Absolution zu erhalten. ***
Aber keine umherirrende »Rahel« hat dich aus dem wie durch ein Wunder verschont gebliebenen Wrack der »Péquod« aufgelesen, damit du nun ebenfalls, eine andere Waise, Zeugnis ablegst. *** Deine Mutter hat deine Sachen nicht gestopft. Du gehst nicht zum millionsten Mal fort, um die Wirklichkeit der Erfahrung zu suchen oder in der Schmiede deiner Seele das ungeschaffene Bewußtsein deines Geschlechts zu hämmern. Kein antiker Ahne, kein antiker Handwerker wird dir heute, noch sonst jemals beistehen. *** Du hast nichts gelernt, höchstens, daß die Einsamkeit nichts lehrt, daß die Gleichgültigkeit nichts lehrt: es war ein Köder, eine faszinierende Illusion voller Fallen. Du warst allein, das ist alles, und du wolltest dich beschützen; du wolltest, daß zwischen dir und der Welt die Brücken für immer abgebrochen werden. Aber du bist so wenig und die Welt ist ein so großes Wort: du bist immer nur durch eine große Stadt geirrt, bist nur an einigen Kilometern Fassaden entlanggestrichen, an Schaufenstern, an Parks und Kais. *** Die Gleichgültigkeit ist sinnlos. Du kannst wollen oder nicht wollen, was liegt schon daran! Du kannst eine Partie Flipper spielen oder nicht, irgend jemand wird auf jeden Fall ein Zwanzigcentimesstück in den Schlitz des Apparats stecken. Du magst glauben, daß du eine entscheiden-
de Tat vollbringst, wenn du täglich die gleiche Mahlzeit zu dir nimmst. Aber deine Weigerung ist sinnlos. Deine Neutralität hat nichts zu sagen. Deine Trägheit ist ebenso furchtlos wie dein Zorn. Du glaubst, gleichgültig durch die Avenuen zu laufen, in die Stadt abzutreiben, dem Weg der Menge zu folgen, das Spiel der Schatten und der Risse zu durchschauen. Aber nichts ist geschehen: kein Wunder, keine Explosion. Jeder abgelaufene Tag hat nur deine Geduld ausgewaschen, die Heuchelei deiner lächerlichen Anstrengungen deutlich gemacht. Die Zeit hätte völlig stehenbleiben müssen, aber niemand ist stark genug, um gegen die Zeit zu kämpfen. Du hast zwar vermocht, zu mogeln, hast Krumen, Sekunden gewinnen können: aber die Glocken von Saint-Roch, der Wechsel der Ampeln an der Kreuzung der Rue des Pyramides und der Rue Saint-Honoré, das unsichtbare Fallen des Wassertropfens am Hahn der Wasserstelle im Treppenvorraum haben nie aufgehört, die Stunden, die Minuten, die Tage und die Jahreszeiten zu messen. Du hast zwar so getan, als hättest du sie vergessen, du bist nachts umhergelaufen, hast am Tag geschlafen. Aber du hast sie nie ganz täuschen können. *** Lange hast du deine Zu uchtsorte erbaut und zerstört: die Ordnung oder die Untätigkeit, das Sichtreibenlassen oder den Schlaf, die nächtlichen Runden, die neutralen Augenblicke, die Flucht der Schatten und der Lichter. Vielleicht könntest du dir noch lange etwas vorlügen, verblöden, dich in Widersprüche verstricken. Aber das Spiel ist aus, vorbei das große Fest, die trügerische Trunkenheit des aufgehobe-
nen Lebens. Die Welt hat sich nicht gerührt, und du hast dich nicht geändert. Die Gleichgültigkeit hat dich nicht anders gemacht. Du bist nicht tot. Du bist nicht verrückt geworden. *** Das Unheil existiert nicht, es ist anderswo. Die kleinste Katastrophe hätte vielleicht genügt, um dich zu retten; du hättest alles verloren, du hättest etwas zu verteidigen gehabt, hättest Worte zu sagen gehabt, um zu überzeugen, um aufzuwühlen. Aber du bist nicht einmal krank. Weder deine Tage noch deine Nächte sind in Gefahr. Deine Augen sehen, deine Hand zittert nicht, dein Puls ist regelmäßig, dein Herz schlägt. Wärest du häßlich, wäre deine Häßlichkeit vielleicht faszinierend, aber du bist nicht einmal häßlich, du bist kein Buckliger, kein Stotterer, kein Einarmiger, kein Einbeiniger, ja, du hinkst nicht einmal. *** Kein Fluch lastet auf deinen Schultern. Du bist vielleicht ein Ungeheuer, aber kein Ungeheuer der Höllen. Du brauchst dich nicht zu winden, du brauchst nicht zu heulen. Keine Prüfung wartet auf dich, kein Felsbrocken des Sisyphus, kein Becher wird dir hingehalten und sofort verweigert werden, kein Rabe will dir an die Augäpfel, keinem Geier wurde als unverdauliche Strafarbeit auferlegt, morgens, mittags und abends an deiner Leber zu futtern. Du brauchst dich nicht vor deine Richter zu schleppen, und um Gnade zu schreien, um Mitleid zu ehen. Niemand verdammt dich, und du hast
dir nichts zuschulden kommen lassen. Niemand schaut dich an, um sich sofort entsetzt wieder von dir abzuwenden. *** Die Zeit, die über allem wacht, hat gegen deinen Willen eine Lösung gebracht. Die Zeit, die die Antwort kennt, ist weitergegangen. Es ist ein Tag wie dieser hier, ein wenig später, ein wenig früher, an dem alles neu beginnt, an dem alles beginnt, an dem alles weitergeht. *** Hör auf zu reden wie ein Mensch, der träumt. *** Schau! Schau sie an! Sie sind Tausende und Abertausende, schweigsame Wachposten, unbewegliche Erdbewohner, längs der Kais stehend, der Uferböschungen, längs der im Regen ertränkten Bürgersteige der Place Clichy, mitten in einer Ozeanträumerei, und sie warten auf den Nieselregen, auf die Brandung der Gezeiten, auf den rauhen Ruf der Seevögel. Nein. Du bist nicht mehr der anonyme Herr der Welt, der, über den die Geschichte keine Macht hatte, der, der den Regen nicht fallen spürte, der die Nacht nicht kommen sah. Du bist nicht mehr der Unzugängliche, der Reine, der Durchsichtige. Du hast Angst, du wartest. Du wartest an der Place Clichy, daß der Regen aufhört zu fallen.