Frank Hillebrandt Praktiken des Tauschens
Wirtschaft + Gesellschaft Herausgegeben von Andrea Maurer und Uwe Schimank ...
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Frank Hillebrandt Praktiken des Tauschens
Wirtschaft + Gesellschaft Herausgegeben von Andrea Maurer und Uwe Schimank Beirat: Jens Beckert Christoph Deutschmann Susanne Lütz Richard Münch Wirtschaft und Gesellschaft ist ein wichtiges Themenfeld der Sozialwissenschaften. Daher diese Buchreihe: Sie will zentrale Institutionen des Wirtschaftslebens wie Märkte, Geld und Unternehmen sowie deren Entwicklungsdynamiken sozial- und gesellschaftstheoretisch in den Blick nehmen. Damit soll ein sichtbarer Raum für Arbeiten geschaffen werden, die die Wirtschaft in ihrer gesellschaftlichen Einbettung betrachten oder aber soziale Effekte des Wirtschaftsgeschehens und wirtschaftlichen Denkens analysieren. Die Reihe steht für einen disziplinären wie theoretischen Pluralismus und pflegt ein offenes Themenspektrum.
Bisher erschienen: Andrea Maurer Handbuch der Wirtschaftssoziologie, 2008 Christoph Deutschmann Kapitalistische Dynamik. Eine gesellschaftstheoretische Perspektive, 2008 Andrea Maurer · Uwe Schimank Die Gesellschaft der Unternehmen – Die Unternehmen der Gesellschaft. Gesellschaftstheoretische Zugänge zum Wirtschaftsgeschehen, 2008 Richard Swedberg Grundlagen der Wirtschaftssoziologie, 2009
Frank Hillebrandt
Praktiken des Tauschens Zur Soziologie symbolischer Formen der Reziprozität
Band 2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Titelbild: Uwe Schimank/Ute Volkmann Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16040-5
„Ich habe Neigung und Lust, Eigenschaften und ihre Verknüpfungen unmittelbar von meinem Leben in ein anderes, von einem anderen Leben in meins, von meinen Büchern in andere, von anderen Büchern in meine zu übertragen. Es scheint mir, die Regeln, die auf das fremde Leben oder das fremde Buch einwirken, sind vergleichbar, ablösbar, ja sogar austauschbar. Aber das muss eine Täuschung sein. Die Logik des Lebens, die Logik der Bücher kann nicht nur aus ewigen Regeln bestehen, es muss auch solche geben, die im jeweiligen Leben, im jeweiligen Buch geboren sind, und diese können nicht einfach eins zu eins in andere Leben, in andere Bücher übertragen werden.“ (Ernst-Wilhelm Händler 2006: 272)
Inhalt
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Einleitung
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Praxistheorie 2.1 Sozialphilosophie der Praxis 2.2 Soziologie der Praxis als Analyse sozialer Kämpfe 2.3 Praxistheorie als allgemeine soziologische Theorie 2.3.1 Praxis als Gegenstand der Soziologie 2.3.2 Praxis und die Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität 2.3.3 Der Sinn und die symbolischen Formen der Praxis 2.4 Resümee: Paradigmen einer soziologischen Theorie der Praxis
9 19 21 38 49 50 58 71 83
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Praxistheorie des Tausches 3.1 Begriff des Tausches 3.2 Ware, Geld, Markt und Tausch 3.3 Gabe, Symbol, Reziprozität und Tausch 3.4 Die praktische Simultanität von Tauschlogiken 3.5 Praxisformen des Tausches 3.5.1 Die Sachdimension der Tauschpraxis 3.5.2 Die Sozialdimension der Tauschpraxis 3.5.3 Die Zeitdimension der Tauschpraxis 3.5.4 Die Vielfalt der Tauschpraxis 3.6 Resümee: Begriff, Theorie und Praxis des Tausches
91 93 100 126 156 163 165 180 206 214 234
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Schluss: Die Dynamik der Praxis und der Tausch
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Literatur
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Personenregister
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Einleitung
1 Einleitung
1 Soziologische Beschäftigungen mit dem Thema Tausch sind in der gegenwärtigen Theoriediskussion des Fachs selten geworden. So gehört etwa die breit angelegte Tauschtheorie von Peter M. Blau (vgl. 1992 [1964]) aus den 1960er Jahren inzwischen zur weniger bekannten Geschichte der Soziologie.1 Dabei ist der Tausch in der Gegenwartsgesellschaft allgegenwärtig. Nicht nur, dass wir alle fast täglich Geld gegen Gebrauchsgegenstände und Lebensmittel tauschen und unsere Arbeitskraft auf dem Arbeitmarkt anbieten und verkaufen, belegt diese Feststellung. Wir sind alle auch regelmäßig an geldlosen Tauschprozessen beteiligt, wenn wir etwa mit Kollegen am Arbeitsplatz Informationen austauschen oder sehr genau darauf achten, demjenigen oder derjenigen, der oder die uns ein Geburtstagsgeschenk gemacht hat, selbst zu seinem oder ihrem Geburtstag ein Geschenk zu machen. Der Tausch ist dabei nicht nur in seinem praktischen Vollzug, der sich nicht selten in höchst komplexer Form ereignet, für die soziologische Theoriebildung und Forschung interessant, denn er bleibt häufig nicht folgenlos für die Form der Reproduktion von Sozialität, weil durch Tauschprozesse soziale Beziehungen zwischen sozialen Akteuren entstehen und auf Dauer gestellt werden können, die neue Formen der Sozialität hervorbringen. Dies veranschaulicht eine Beobachtung, die Claude Lévi-Strauss (vgl. 1981: 115f.) um das Jahr 1950 herum in einem südfranzösischen Restaurant gemacht hat. Demnach sitzen sich hier regelmäßig einander fremde Gäste gegenüber und nehmen ihre Mahlzeiten ein, die sie vorher bei der Bedienung des Lokals bestellt haben und gewillt sind zu bezahlen, also durch Kauf zu erwerben. Soweit geschieht hier alles im Rahmen einer ökonomischen Transaktion und ist deshalb nicht weiter bemerkenswert. Denn eine Mahlzeit wird, wie es für die gegenwärtige Ökonomie typisch ist, gegen Geld getauscht, um das jeweilige Bedürfnis nach Nahrung zu stillen. Die soziale Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer kann dabei auf den Tausch begrenzt bleiben. Der Tausch von Waren (also hier der Mahlzeit) gegen Geld lässt prinzipiell keine Verpflichtungen zurück, weil mit dem Bezahlen des Geldes für die Ware der Tausch eindeutig abgeschlossen ist. Diese Unverbindlichkeit des Warentausches ist uns allen sehr vertraut, weil sie, wie bereits Georg Simmel (1989: 298ff.; 1992: 662 und öfter) im Einklang mit anderen Klassikern der Soziologie deutlich macht, eine der wichtigsten Charakteristika der Gegenwartsgesellschaft ist.
Peter P. Ekeh (vgl. 1974) bündelt die Diskussion des Tausches in den 1960er Jahren, indem er kollektivistische und individualistische Tauschtheorien voneinander unterscheidet, und bringt die Debatte um den Tausch dadurch zu einem vorläufigen Abschluss. Daran anschließend entstehen in Deutschland noch einige weitere Studien, die sich explizit um eine Soziologie des Tausches bemühen (vgl. etwa Clausen 1978 und Stentzler 1979), bevor die Diskussion fast vollständig versiegt. Inzwischen bahnt sich mit Bezug auf eine traditionell intensiv geführte Debatte in Frankreich (vgl. hierzu exemplarisch Caillé 2008) in der deutschen Soziologie eine Renaissance des Tauschthemas an, die aus einer verstärkten Auseinandersetzung mit dem Essay über die Gabe von Marcel Mauss (vgl. 1990) entspringt, auf den auch ich unten (3.3) ausführlich zurückkomme. Siehe hierzu aktuell die Beiträge in Adloff und Mau (2005a) und in Moebius und Papilloud (2006), sowie Moebius (2006), Hillebrandt (2006b; 2007a) und Adloff und Papilloud (2008).
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1 Einleitung
Bezüglich des Weins ereignet sich in dem südfranzösischen Restaurant jedoch etwas Seltsames: Niemand der Gäste schenkt sich aus den vor ihnen stehenden Weinflaschen selbst, sondern ausschließlich dem jeweiligen anderen Gast Wein ein. Während also die Mahlzeit niemandem anderen angeboten, also als persönlicher Besitz, der zuvor durch Kauf erworben worden ist, bewahrt wird, ist der Wein Gegenstand des Tausches zwischen den sich gegenseitig fremden Gästen. Diese kleinen Weingeschenke sind dabei, und das macht sie aus, obligatorisch. Ein Gast, der das Ritual des gegenseitigen Schenkens von Wein nicht kennt und deshalb nur sich selbst Wein einschenkt, wird von den anderen Gästen, die mit dem Ritual vertraut sind, durch dezente aber bestimmte Gesten darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der Verweigerung des Weingeschenks um ein grobes Fehlverhalten handelt. In der Praxis des gegenseitigen Weingeschenks ist somit eine auf dem ersten Blick schwer zu verstehende Verpflichtung wirksam, den Wein freiwillig zu verschenken (vgl. Caillé 2005: 178). Diese Verpflichtung ist hoch komplex, in ihr bündeln sich sehr unterschiedliche Gesichtspunkte – nämlich psychologische, soziale, normative, rechtliche – zu symbolischen Formen, die sich praktisch nicht entwirren lassen, weil sie nur durch ihre Bündelung wirksam werden können. Und würden die am Ritual beteiligten Akteure selbst nach ihren Motiven für die kleinen Weingeschenke befragt, würde der oder die Fragende gerade von den Gästen, die mit dem Ritual des gegenseitigen Weingeschenks eng vertraut sind, keine befriedigende Antwort erhalten. Die Komplexität des Rituals ist nur schwer in Worte zu fassen. Deshalb würde die Frage nach den eventuellen Gründen für das Ritual den an ihm beteiligten Akteuren sehr wahrscheinlich als unhöflich oder deplatziert erscheinen. Sie halten das Verschenken von Wein in einem Restaurant für selbstverständlich und können bzw. wollen es deshalb nicht hinterfragen. So wenig überraschend die beschriebene Praxis des gegenseitigen Verschenkens von Wein für die beteiligten Akteure ist, umso überraschender ist es für einen externen Beobachter dieser rituellen Praxis. Denn hier geschieht unter kalkulatorischem Gesichtspunkt etwas völlig Sinnloses: Wenn sich alle Gäste auf die Praxis des gegenseitigen Schenkens von Wein einlassen, und sie werden dazu offensichtlich durch bestimmte soziale Mechanismen verpflichtet, ist das quantitativ messbare Ergebnis dieser Tauschpraxis, dass alle Gäste etwa genauso viel Wein erhalten, als wenn sie alle nur an sich selbst gedacht und den Wein nicht untereinander getauscht hätten. Warum geschieht das gegenseitige Verschenken des Weins aber trotzdem regelmäßig zumindest in südfranzösischen Restaurants? Lévi-Strauss zeigt mit seiner Auslegung der von ihm beobachteten Szene die Richtung an, in die eine soziologische Antwort auf diese Frage zielen muss: „Jeder, der an dieser aufschlussreichen Szene beteiligt ist, hat letztlich nicht mehr erhalten, als wenn er sein eignes Quantum getrunken hätte. Ökonomisch gesehen hat niemand gewonnen und niemand verloren. Doch der springende Punkt ist, dass es beim Tausch um sehr viel mehr geht als um die ausgetauschten Dinge.“ (Lévi-Strauss 1981: 116; Hervorh. F.H.) Dieses „Mehr“ wird im hier angeführten Beispiel darin sichtbar, dass die Gäste, die sich zunächst einander fremd sind, durch die gegenseitigen Weingeschenke miteinander ins Gespräch kommen und zumindest für die Zeit ihres Zusammenseins im Restaurant in soziale Beziehungen zueinander treten. Die streng ritualisierten Weingeschenke, die sich die Restaurantgäste in Südfrankreich gegenseitig machen (müssen), erzeugen folglich neue Formen der Sozialität, sie bilden unter Umständen soziale Strukturen.
1 Einleitung
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Der soziologischen Theorie ist es bis heute nicht gelungen, das von Lévi-Strauss herausgestellte „Mehr“ der Tauschpraxis angemessen zu untersuchen. So findet die strukturale Anthropologie des scharfsinnigen Beobachters der südfranzösischen Restaurantszene die theoretische Erklärung für die hier praktisch werdenden Austauschprozesse, die sich mit einer ökonomischen Austauschtheorie nicht erklären lassen, letztlich in dem theoretischen Postulat einer generell wirksamen Norm der Reziprozität, die mental in den Akteuren verankert ist und sich nicht nur im gegenseitigen Austausch von Weingeschenken Ausdruck verschafft. Der mentale Strukturalismus nach Lévi-Strauss, dessen Einfluss auf die soziologische Theoriebildung kaum zu unterschätzen ist, sieht die Funktion von derartigen Praktiken der Reziprozität darin, den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu erzeugen. Auf diese Weise werden die dynamischen Aspekte von Tauschprozessen kurzerhand zugunsten einer universalen Erklärung ihrer Entstehung marginalisiert, indem ein generell wirksames Symbol der Reziprozität theoretisch konstruiert wird, ohne die Vielgestaltigkeit der im Tausch wirksam werdenden symbolischen Formen angemessen in den theoretischen Blick zu nehmen. Der Tausch erscheint hier als ein Epiphänomen der Reziprozität. Folglich sucht diese von Peter P. Ekeh (vgl. 1974) kollektivistisch genannte Tauschtheorie die Erklärungen für Tauschprozesse in überindividuellen Strukturen der Reziprozität, aus denen Praktiken des Tausches deduktiv abgeleitet werden (vgl. exemplarisch Gouldner 1984: 97ff.). Parallel dazu entwickeln sich akteurzentrierte Austauschtheorien, wie etwa die Verhaltenstheorie von George C. Homans (vgl. 1958), welche die Antriebe für den Tausch in vorgeblich ahistorischen Eigenschaften der tauschenden Akteure zu finden glauben. Diese Ansätze, die Ekeh (vgl. 1974) als individualistische Tauschtheorien bezeichnet, gelten dem methodologischen Individualismus (vgl. exemplarisch Coleman 1991: 46 und öfter; Esser 2000: 305ff.) als wichtige Referenzpunkte zur Entwicklung einer soziologischen Theorie der rationalen Handlungswahl. Die Erklärung für Tauschprozesse finden diese Theorien in einer nomologisch gefassten Rationalitätsidee des kalkulatorischen Abwägens von Kosten und Nutzen des Handelns, das als treibende Kraft jeder Sozialität und mithin auch des Tausches verstanden wird. Die symbolischen Formen des Tausches, also das von Lévi-Strauss identifizierte „Mehr“ von Tauschprozessen, werden in den beiden genannten Theoriesträngen zugunsten einer monokausalen Erklärung des Austausches marginalisiert. Oder anders gesagt: Für die Identifikation und Analyse der symbolischen Formen des Tausches stellen beide Theorierichtungen kein geeignetes Instrumentarium bereit, weil sie die Vielfältigkeit dieser symbolischen Formen entweder durch das theoretische Postulat einer generellen Norm der Reziprozität oder durch das theoretische Postulat einer generell wirksam werdenden Rationalität auf jeweils nur eine kulturelle Formung des Tausches reduzieren. Tauschprozesse werden mit anderen Worten deutlich zu voraussetzungsvoll definiert. Um derartige Verkürzungen der soziologischen Tauschtheorie zu vermeiden, steht im Mittelpunkt der hier verfolgten Untersuchung der Entwurf einer soziologischen Praxistheorie des Tausches. Das zentrale Augenmerk liegt dabei auf der Identifikation unterschiedlicher symbolischer Formen des Tausches, um auf diesem Wege eine kultursoziologische Fundierung der soziologischen Tauschtheorie zu ermöglichen. Dies erlaubt eine Bestimmung unterschiedlicher Praxisformen des Tausches, die als soziale Mechanismen mit strukturbildenden Effekten untersucht werden. Zur Analyse gerade auch dieser strukturierenden
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1 Einleitung
Wirkungen unterschiedlicher Tauschformen benötigt die soziologische Theorie ein praxistheoretisches Instrumentarium, das sich nicht an vereinheitlichenden Theorieprinzipien orientiert, sondern die Mannigfaltigkeit der symbolischen Formen des Tausches sichtbar macht. Nur ein solches Instrumentarium kann der Komplexität der Tauschpraxis gerecht werden, die sich bereits in der alltäglichen Restaurantszene in Südfrankreich manifestiert. Eine wichtige These der hier von mir verfolgten Praxistheorie des Tausches ist es folglich, dass ein derartiges Instrumentarium entwickelt werden kann, wenn sich die Soziologie des Tausches am Begriff der Praxis orientiert. Praxis steht als Begriff für ein soziologisches Theorieprogramm, das den methodologischen Individualismus ebenso wie den Strukturalismus überwinden will, indem bei der soziologischen Theoriebildung und Forschung von dem ausgegangen wird, was praktisch geschieht, ohne dabei hinter den Erkenntnisstand klassischer soziologischer Ansätze zurückzufallen. Diesen hohen Anspruch bringt Pierre Bourdieu, der prominenteste Vertreter einer am Praxisbegriff orientierten Soziologie, wie folgt zum Ausdruck: „Die Theorie der Praxis als Praxis erinnert gegen den positivistischen Materialismus daran, dass Objekte der Erkenntnis konstruiert und nicht passiv registriert werden, und gegen den intellektualistischen Idealismus, dass diese Konstruktionen auf dem System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen beruht, das in der Praxis gebildet wird und stets auf praktische Funktionen ausgerichtet ist.“ (Bourdieu 1987: 97)
Dieser von Bourdieu umrissene Ausgangspunkt soziologischen Theoretisierens und Forschens macht die Entwicklung einer neuen Form der soziologischen Theoriebildung nötig, die jenseits der „scholastischen Vernunft“ (Bourdieu 2001) eine praxisnahe Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit ermöglicht, indem sie den praktischen Sinn, der von den sozialen Akteuren erzeugt wird, in den Mittelpunkt der soziologischen Forschung stellt. Und gerade für die Praxisformen des Tausches, die hier zum Thema einer theoretischen Untersuchung gemacht werden sollen, ist die von Bourdieu vorgeschlagene Ausrichtung der Soziologie auf den praktischen Sinn der Praxis, der sich in kulturellen und symbolischen Formen Ausdruck verschafft, viel versprechend, um die bereits angesprochenen monokausalen Erklärungen für die Entstehung und Wirkung von Tauschprozessen zu überwinden. Ich gehe in meiner Untersuchung also ganz allgemein davon aus, dass die Genese von Praxisformen nicht mit einfachen Kausalmodellen erklärt werden kann. Diese Skepsis bezüglich kausaler Erklärungen von beobachtbaren Regelmäßigkeiten der Sozialität speist sich vor allem aus dem von Max Weber (vgl. 1980: 5f.) ausgehenden, die soziologische Wissenschaft wesentlich prägenden sinnorientiert-intentionalen Handlungsverständnis der verstehenden Soziologie, dem zufolge die Soziologie ein anderes, interpretatives Erklärungskonzept benötigt als die Naturwissenschaft, weil alle Formen der Sozialität nicht ohne Sinnadäquanz der an Sozialität beteiligten Akteure verstanden und deshalb nicht auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten, also auf „Kausaladäquanz“ (Weber) reduziert werden können.2
Siehe zur Rekonstruktion der klassischen Kontroverse zwischen erklärenden und verstehenden Ansätzen in der Soziologie, die als wichtiger Ausgangspunkt der Entwicklung der Soziologie zu einer wissenschaftlichen Disziplin angesehen werden muss, die diesbezüglichen Ausführungen von Andreas Reckwitz (2000: 98-117).
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Mit dem theoretischen Konzept des praktischen Sinns gelingt es der Praxistheorie, wie zu zeigen sein wird, diese grundlegende Einsicht der Soziologie für die kultursoziologische Theoriebildung zu nutzen, ohne dabei eine reine Kulturwissenschaft zu betreiben, die sich auf die Identifikation und Analyse symbolischer Formen beschränkt. Dagegen will die Praxistheorie als Kultursoziologie symbolische Formen als Katalysatoren von Praxis bestimmen, so dass mit ihr keine Kulturtheorie verfolgt wird, die Kultur lediglich als Text der Gesellschaft versteht. Die Praxistheorie strebt vielmehr eine Soziologie der Praxis an, die vielfältige Formen der Praxis, womit der Tausch als Praxisform eingeschlossen ist, in ihrer Entstehung und Reproduktion analysiert. Wird die Praxistheorie aus den genannten Gründen zum Ausgangspunkt der Entwicklung eines soziologischen Instrumentariums zur Erforschung der vielfältigen Tauschpraxis gewählt, stellt sich allerdings ein zentrales Problem: Eine Theorie, in der zur Analyse von Praxisformen der praktische Sinn in den Mittelpunkt der Soziologie gestellt wird, lässt sich nur schwer systematisieren. Sie kann sich nicht, wie bereits Ernst Cassirer (vgl. 1994: 96ff.) in seiner Kulturtheorie herausstellt, um Substanzbegriffe herum entfalten, mit denen ein statisches Bild der Sozialität erzeugt wird. Eine Praxistheorie muss einen anderen Weg der Systematisierung wählen, weil sie die Mannigfaltigkeit der symbolischen Formungen des praktischen Sinns nicht mit Substanzbegriffen verdecken, sondern erst sichtbar machen will. Ein derartiges Vorhaben, das Cassirer als „Form-Analyse“ (ebd.: 96) bezeichnet hat, birgt die Schwierigkeit, dass jede theoretische Systematisierung eine eigene, theoretische Logik erzeugt, die sich von der praktischen Logik, die mit der Theorie erfasst werden soll, konstitutiv unterscheidet. Sie steht, kurz gesagt, vor dem erkenntnistheoretischen Dilemma, Praxis als Theorie ausdrücken zu müssen. Diese erkenntnistheoretische Problematik, die sich nur schwer auflösen lässt, ist sicher der wichtigste Grund dafür, dass die Praxistheorie bisher noch nicht zu einer allgemeinen soziologischen Theorie systematisiert worden ist.3 In der primär makrosoziologisch angelegten Variante der Praxistheorie, die von Bourdieu als bisher am weitesten ausgearbeitete Spielart dieser Theorierichtung vorgelegt wird, findet sich eine Engführung der Theoriebildung auf Praxisformen der Macht- und Herrschaftsausübung, die eine Analyse anderer Praxisformen wie etwa den Tausch sehr stark einschränkt. Die von Bourdieu betriebene Fokussierung der Praxistheorie auf die Analyse und Erklärung der Reproduktion makrosozialer Ungleichheitsstrukturen verschenkt große Teile des sozialtheoretischen Potenzials der Praxistheorie. Sie eignet sich, so meine im Verlauf der Untersuchung zu belegende These, erst dann hervorragend zur Analyse von mikro-, meso- und makrosozialen Tauschprozessen, wenn sie als soziologische Theorie trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten systematisiert und dadurch aus ihrer herrschaftssoziologischen Engführung herausgeführt wird. Denn nur dadurch lässt sich das in der Praxistheorie bisher verborgene sozialtheoretische Potenzial zur Analyse der Tauschpraxis freilegen. Aus den beiden Problemstellungen, dass der Tausch trotz seiner Relevanz für die Sozialität inzwischen nur noch marginal oder vereinfachend zum Gegenstand soziologischer Forschung und Theorie gemacht wird und dass die Praxistheorie, in der ein viel verspre-
Erste, bisher allerdings noch fragmentarische Ansätze dazu finden sich bei Reckwitz (2003), Schatzki (1996), Reuter (2004), Hörning (2004) und anderen. Auf diese Arbeiten werde ich bei meinem eigenen Versuch zurückkommen, die Praxistheorie zu einer allgemeinen soziologischen Theorie weiterzuentwickeln.
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chender Ansatz zur Erforschung der vielförmigen Tauschpraxis angelegt ist, bisher noch nicht hinreichend als allgemeine soziologische Theorie gefasst worden ist, ergeben sich die beiden zentralen, komplementär aufeinander bezogenen Ziele meiner hier verfolgten theoretischen Überlegungen zur Entwicklung einer Praxistheorie des Tausches: Das erste Ziel ist die Systematisierung der soziologischen Praxistheorie zu einer allgemeinen soziologischen Theorie, die sich auf alle Phänomenbereiche der Soziologie anwenden lässt. Das zweite, eng damit verbundene Ziel ist die Entwicklung einer soziologischen Praxistheorie des Tausches, in der die zuvor konturierten Paradigmen einer praxistheoretischen Soziologie angewendet werden, um die komplexe Tauschpraxis angemessen zu beschreiben und Erklärungen für das Zustandekommen und die Wirkung bestimmter Tauschformen zu erzielen. Die Untersuchung gliedert sich folglich in zwei Hauptkapitel. An diese Einleitung schließt das zweite Kapitel mit dem Titel „Praxistheorie“ an. Hier wird zunächst unabhängig vom Themenkomplex Tausch die Praxistheorie in ihren unterschiedlichen Ausprägungen mit dem Ziel diskutiert, die zentralen Paradigmen einer praxistheoretischen Soziologie zu konturieren. Der wichtigste Referenzpunkt ist dabei die umfangreiche Theorievorgabe Pierre Bourdieus, die vor dem Hintergrund einer am Begriff der Praxis orientierten Diskussion sozialphilosophischer Praxistheorien (2.1) nicht nur bezüglich ihres sozialtheoretischen Gehalts, sondern auch bezüglich ihrer wichtigsten Schwächen untersucht wird (2.2). Auf dieser Grundlage werden die zentralen Paradigmen einer soziologischen Theorie der Praxis allgemein bestimmt (2.3) und in einem resümierenden Abschnitt gebündelt (2.4). Diese Theoriearbeit liefert das Instrumentarium zur Entwicklung einer praxistheoretischen Soziologie des Tausches, die das Ziel des dritten Kapitels ist, dem Hauptteil der Untersuchung. Zur Entwicklung einer Praxistheorie des Tausches (Kapitel 3) entwerfe ich zunächst einen Begriff des Tausches, indem ich die zentralen Paradigmen der soziologischen Praxistheorie auf den Tausch beziehe, um ihn als Praxisform bestimmen zu können (3.1). Auf dieser Grundlage diskutiere ich die wichtigsten Thematisierungsformen des Tausches in der soziologischen Theorie, um eine reflexive Ausgangsbasis für eine praxistheoretische Soziologie des Tausches zu schaffen. Hier sehe ich zwei zentrale Thematisierungsstränge, die ich getrennt voneinander untersuche: Zum einen wird der Tausch in der soziologischen Theorie als Warentausch thematisiert, der eine wichtige Rolle spielt für die Reproduktion der modernen Ökonomie. Meine Auseinandersetzung mit dieser Sicht des Tausches macht der neuen Wirtschaftssoziologie den Vorschlag, Praxisformen des Tausches in neuer, kultursoziologischer Form in das Zentrum wirtschaftssoziologischer Forschung zu stellen, um ein genuin soziologisches Verständnis der ökonomischen Praxis der Gegenwartsgesellschaft zu erzielen (3.2). Zum zweiten sehe ich eine Thematisierungsweise des Tausches, die sich zentral um die Formen des Tausches herum entwickelt, die genuin nicht als Warentausch oder als ökonomischer Tausch verstanden werden können. Diese Theorierichtung, die gegenwärtig, wie bereits angedeutet, so etwas wie eine Renaissance erfährt, kristallisiert sich an einer Auseinandersetzung mit dem Essai sur le don von Marcel Mauss (vgl. 1990). Hier geht es um Formen des Gabentausches, die sich in Verbindung mit symbolischen Formen ereignen und eigentümlichen Praxisprinzipien entspringen. In der theoretischen Beschäftigung mit dem Gabenessay und seinen vielschichtigen und heterogenen Interpretationen geht es mir um die kultursoziologische Fundierung einer Praxistheorie des Tausches und nicht um den Entwurf einer „Kulturtheorie der Gabe“ (Moebius und Papilloud 2006), wie Mauss’ Unter-
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suchungen zum Gabentausch gegenwärtig häufig interpretiert werden (3.3). Nach diesen beiden Gängen durch die soziologische Theoriebildung des Tausches führe ich die beiden von mir in praxistheoretischer Ausrichtung diskutierten Theoriestränge zusammen, indem ich das Argument entfalte, dass sich in der gegenwärtigen Tauschpraxis eine Simultanität unterschiedlicher Tauschlogiken identifizieren lässt. Die regelmäßig zu beobachtende Dichotomisierung von Waren- und Gabentausch durch die soziologische Theorie ist folglich wenig hilfreich, um die Komplexität der Tauschpraxis angemessen in den soziologischen Blick zu nehmen (3.4). Dieses zentrale Zwischenergebnis der Theoriearbeit schafft eine breite Basis zur Identifikation und Analyse unterschiedlicher Praxisformen des Tausches, die sich als Mischformen der Logiken des Waren- und des Gabentausches bestimmen lassen, wenn die einzelnen Praktiken, aus denen der Tausch sich formt, mit den Mitteln einer kultursoziologischen Analyse der symbolischen Formen des Tausches auf die Sach-, Sozial- und Zeitdimension des Sinngeschehens bezogen werden (3.5). Am Ende des dritten Kapitels steht ein Resümee, das sich der Aufgabe stellt, die wichtigsten Ergebnisse einer praxistheoretischen Soziologie des Tausches zusammenfassend zu verdeutlichen (3.6). Im Schlusskapitel der Arbeit (Kapitel 4) führe ich die beiden von mir verfolgten Hauptziele der Untersuchung zusammen, indem ich den Ertrag einer praxistheoretischen Soziologie des Tausches für die soziologische Theoriebildung veranschauliche. Bevor ich mit der Umsetzung dieses Programms beginne, möchte ich den Entstehungszusammenhang des vorliegenden Buches kurz umreißen. Denn eine Praxistheorie der Erkenntnis, auf die ich im Abschnitt 2.2 genauer eingehen werde, weist mit Recht darauf hin, dass für die Produktion wissenschaftlicher Aussagen, also für die Praxis der Erkenntnisproduktion, nicht nur der im Programm der Untersuchung dargelegte Begründungszusammenhang, sondern auch der Entdeckungszusammenhang eine wichtige Rolle spielt. Dieser weist wissenschaftlicher Forschung die Richtung, weil er die Forschungspraxis rahmt und dadurch anleitet. Nicht nur persönliche Erkenntnisinteressen – die Praxistheorie fasziniert mich bereits seit einigen Jahren als viel versprechende Neuorientierung soziologischer Forschung –, sondern auch institutionelle Rahmungen haben die zentralen Ideen und Ziele auch der vorliegenden Forschungsarbeit angeleitet. Sie ist aus einer langjährigen Forschungstätigkeit im interdisziplinären Forschungsfeld Sozionik entstanden, das durch Thomas Malsch initiiert wurde. In dieser Forschungsrichtung, die im Grenzgebiet zwischen Soziologie und Informatik angesiedelt ist, wird soziologisches Wissen über die soziale Welt dafür genutzt, „intelligente“ Computertechnologien zu entwickeln. Ähnlich wie die Bionik biologische Funktionsweisen und Strukturen von Lebewesen unter dem Aspekt ihrer Übertragbarkeit auf technische Systeme untersucht, erforscht die Sozionik, inwieweit sich Vorbilder aus der sozialen Welt für eine Weiterentwicklung von Technologien künstlicher Intelligenz eignen und auf welche Weise sich informationstechnische Probleme nach dem Vorbild sozialer Problembewältigung lösen lassen. Die Sozionik soll dazu anregen, Forschungsdesiderate aus der Informatik zur Entwicklung von soziologischen Theorieelementen zu nutzen. In der so entstehenden sozionischen Forschungspraxis werden somit disziplinäre Unterschiedlichkeiten der epistemischen Kulturen von Informatik und Soziologie zur Irritation vertrauter Denkarten ge-
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nutzt, um neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu befördern (vgl. Beck und Hillebrandt 2006).4 Die Idee für eine soziologische Praxistheorie des Tausches entstand im Kontext des sozionischen Forschungsprojekts „Modellierung sozialer Organisationsformen in VKI und Soziologie“. Die hier von 1999 bis 2006 durchgeführten Untersuchungen befassten sich in der ersten Phase mit der Frage, wie die Praxistheorie Bourdieus für die Modellierung von Softwaresystemen der Verteilten Künstlichen Intelligenz genutzt werden kann. Die Arbeit an dieser Forschungsfrage, die durch empirische Studien zur Kooperationsbildung in der Transportwirtschaft flankiert wurde, ist der wichtigste Ausgangspunkt für das erste Ziel der hier verfolgten Überlegungen, die Praxistheorie zu einer allgemeinen soziologischen Theorie zu systematisieren. Denn die interdisziplinäre Analyse der Übertragbarkeit zentraler Konzepte der Praxistheorie Bourdieus in die Modellierung von Softwaresystemen zwingt zu einer mikrosoziologischen Weiterentwicklung der Bourdieuschen Theorievorgabe, die sich in zentralen Punkten auf die Analyse makrosozialer Ungleichheitsstrukturen fokussiert. In der Diskussion mit Computerwissenschaftlern stellte sich in diesem Zusammenhang der Phänomenbereich Tausch als ein zentraler Kristallisationspunkt für die mikrosoziologische Fundierung der Praxistheorie heraus, weil mechanische Tauschvorgänge zwischen Softwareeinheiten (Agenten) in Systemen der Verteilten Künstlichen Intelligenz grundlegende Mechanismen zur Reproduktion dieser Systeme sind (vgl. hierzu Alam et al. 2005). Der Versuch, diese im Kausalschema konzipierten, technischen Tauschmechanismen durch ein Konzept des Gabentausches, wie es von Bourdieu (vgl. 1987: 180ff.; 1998: 161ff.; 2001: 246ff.) in praxistheoretischer Perspektive vorgeschlagen wird, iterativ zu sozialen Mechanismen weiterzuentwickeln, um den Gabentausch dadurch in Experimenten der computergestützten Sozialsimulation untersuchen zu können (vgl. Hillebrandt et al. 2004; Alam et al. 2005), diente als Ideengeber für das zweite Ziel der hier von mir angestrebten Praxistheorie des Tausches, die soziologische Tauschtheorie auf eine praxistheoretische Basis zu stellen, um nicht nur der Komplexität, sondern auch den Strukturdynamiken der Tauschpraxis soziologisch gerecht werden zu können. Die Mitarbeit an dieser sozionischen Forschung führte Siehe für den Begriff der Sozionik u.a. Malsch et al. (1998), Malsch (2001), Florian und Hillebrandt (2004: 10f.). Weil das Forschungsfeld Sozionik, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im gleichnamigen Schwerpunktprogramm von 1999-2006 gefördert wurde, sehr jung ist und deshalb in der soziologischen Fachöffentlichkeit nicht sehr bekannt sein dürfte, bedarf es einer kurzen Erläuterung zur Entstehung der sozionischen Zusammenarbeit zwischen Soziologie und Informatik: Erst die Ausdifferenzierung der Informatik in unterschiedliche Forschungsschwerpunkte macht sie für die Soziologie als Kooperationspartner interessant. Denn während die klassische Forschung zur Künstlichen Intelligenz (KI) das menschliche Gehirn als Ort der Entstehung intelligenter Problemlösungen betrachtet und sich dem entsprechend bemüht, kognitive Fertigkeiten von Menschen technisch nachzubilden, geht die Verteilte KI (VKI) in den USA seit Beginn der 1980er Jahre und in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre davon aus, dass intelligente Lösungen komplexer Probleme häufig nicht das Werk individueller, sondern sozialer Intelligenz sind, also aus der Interaktion vieler handelnder Einheiten resultieren (vgl. hierzu Malsch 1998). Der VKI geht es deshalb darum, KIProgramme kooperationsfähig zu machen. Am deutlichsten findet sich dieses Entwicklungsziel auf dem Gebiet der Multiagentensysteme. Multiagentensysteme bilden das koordinierte Verhalten mehrerer künstlicher „Agenten“ ab. Als Agenten werden Software-Programme bezeichnet, die über bestimmte, von ihnen selbst gesteuerte Verhaltensweisen verfügen und in der Lage sind, ihre eigenen Aktionen mit denen anderer Agenten abzustimmen, um ein übergreifendes Problem zu lösen (vgl. Wooldridge 1999; Timm und Hillebrandt 2006: 257ff.). Inzwischen gibt es eine relativ umfangreiche Literatur zu sozionischen Forschungsergebnissen. Siehe hierzu u.a. Schimank (2005), Hillebrandt (2005) und die anderen Beiträge in Fischer et al. (2005) sowie Hillebrandt et al. (2004), Alam et al. (2005), Timm und Hillebrandt (2006).
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mich am Ende dazu, ein Forschungsstipendium bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu beantragen, das dankenswerter Weise bewilligt wurde. Diese zweijährige Förderung erlaubte es mir, die Erfahrungen und Ergebnisse aus der sozionischen Forschungsarbeit in ein soziologisches Theorieprojekt zu verwandeln. Viele Ideen, Argumente und Herleitungen der vorliegenden Arbeit gehen folglich implizit auf die Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Team von Forscherinnen und Forschern zurück. Für diese Zusammenarbeit bedanke ich mich bei den Kolleginnen und Kollegen des Forschungsprojektes „Modellierung sozialer Organisationsformen in VKI und Soziologie“, die sich auf das gewagte Experiment der sozionischen Forschung eingelassen haben und mir in vielen Diskussionen immer wieder neue Ideen für die soziologische Theoriebildung aufzeigten. Auf der informatischen Seite des Tandemprojektes waren dies unter anderem Michael Schillo, Shah Jamal Alam, Christian Hahn und Klaus Fischer vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken, die uns, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des soziologischen Projektteils, durch ihre Bereitschaft, sich auf soziologische Forschungsfragen einzulassen, dazu gezwungen haben, die soziologische Theorie so zu präzisieren, dass sie sich zur computertechnischen Modellbildung eignet. Dies ermöglichte neue Theorieperspektiven, die ohne diese interdisziplinäre Forschungsarbeit nicht möglich geworden wären und die implizit in die vorliegende Theoriearbeit eingeflossen sind. Darüber hinaus gilt mein besonderer Dank dem Leiter des soziologischen Projektteils, Michael Florian vom Institut für Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Hamburg-Harburg, der durch sein mutiges Engagement in einem bis dahin unbekannten Forschungsfeld die sozionische Theoriearbeit zur Weiterentwicklung der Praxistheorie erst ermöglichte und in einer außergewöhnlich fachkompetenten, kollegialen und freundschaftlichen Weise leitete. Auch den soziologischen Mitstreiterinnen in diesem Forschungsprojekt, Andrea Maria Dederichs, Kerstin Beck, Daniela Spresny und Bettina Fley, verdanke ich viele Anregungen für die vorliegende Arbeit. Darüber hinaus möchte ich es nicht versäumen, mich bei den studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Forschungsarbeit, namentlich bei Nicole Diekmann, Matthias Hambsch und Stefanie Schäfer, für ihre vielfältige Unterstützung zu bedanken. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn danke ich für die Gewährung eines Forschungsstipendiums und für die finanzielle Förderung der Publikation dieses Buches. Ferner danke ich Tobias Brändle für seine Unterstützung in der Endphase der Fertigstellung des Buches in Münster. Das deutsche akademische Feld sieht es bis heute vor, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf ihrem Weg zur Professur eine größere wissenschaftliche Arbeit als Habilitationsschrift einreichen. Diese Feldkonstellation führte mich im Jahr 2008 dazu, eine erste Fassung des vorliegenden Buches, die ich für die Publikation leicht überarbeitet habe, dem Fachbereich für Sozialwissenschaften der Universität Hamburg als soziologische Habilitationsschrift vorzulegen, wo sie 2009 als solche angenommen wurde. In diesem Zusammenhang danke ich Rolf von Lüde nicht nur für seine kollegiale Unterstützung, sondern auch für seine Hilfe in einer Phase, in der ich ohne sie nicht weiter gekommen wäre. Darüber hinaus gilt mein Dank Thomas Malsch für die stets gewinnbringende Betreuung der Arbeit sowie Uwe Schimank und Andreas Reckwitz für die konstruktive Begutachtung des Buches, die mir viele Anregungen gegeben hat, einige Stellen noch einmal zu überdenken und zu verbessern. Jörg Ebrecht danke ich für seine freundschaftliche Kritik und Unterstüt-
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zung. Nicht zuletzt, sondern vor allem möchte ich mich bei Ulrike Cleemann für all das Wichtige bedanken, das sich nicht in Worte fassen lässt.
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2 „Wenn man vor der Welt, wie sie ist, fliehen will, kann man Musiker werden, Philosoph, Mathematiker. Aber wie flieht man vor ihr, wenn man Soziologe ist? Es gibt Leute, die das schaffen. Man braucht nur mathematische Formeln zu schreiben, Spieltheorieübungen oder Computersimulationen durchzuexerzieren. Wenn man wirklich die Welt wenigstens ein bisschen so sehen und so über sie reden will, wie sie ist, dann muss man akzeptieren, dass man sich immer im Komplizierten, Unklaren, Unreinen, Unscharfen usw. und also im Widerspruch zu den gewöhnlichen Vorstellungen von strenger Wissenschaftlichkeit befindet.“ (Bourdieu 1988b: 282f.)
Die Begriffe Theorie und Praxis stehen sich häufig als unauflösliche Gegensätze gegenüber. Dem liegt die regelmäßige Erfahrung zugrunde, dass das, was in der Theorie schlüssig und logisch erscheint, sich in der Praxis nicht selten als unrealisierbar erweist. Die Kombination der beiden genannten Begriffe zum Begriff Praxistheorie scheint deshalb zunächst ein absurdes Vorgehen zu sein. Theorie und Praxis lassen sich nicht zusammenführen. Dieser Eindruck relativiert sich bei einem Blick auf die Geschichte soziologischer Forschung. In ihrer wissenschaftlichen Form setzt sie sich seit ihrer Entstehung mit der zentralen Frage auseinander, wie eine Theorie der Sozialität möglich ist, die methodisch genau das einfängt, was die Lebenswirklichkeit der Menschen ausmacht. Dafür ist die Einsicht Max Webers richtungweisend, dass sich die soziologische Forschung als „Wirklichkeitswissenschaft“ (Weber 1988: 170) nicht darin erschöpft, soziale Gesetzmäßigkeiten oder Erklärungen für soziale Mechanismen theoretisch zu konstruieren. Sie ist immer auch als Erfahrungswissenschaft zu begreifen, die sich mit dem subjektiv gemeinten Sinn zu befassen hat, mit dem die Akteure die Sozialität, von Max Weber als soziale Handlungen gefasst, versehen. Die soziologische Praxistheorie schließt an diese frühe Einsicht der verstehenden Soziologie Max Webers an (vgl. exemplarisch Bourdieu 2000a: 14). Sie will ein zu hohes Generalisierungsniveau vermeiden, indem theoretische Aussagen mit Hilfe des Praxisbegriffs auf die praktischen Bedingungen der Sozialität und des Lebens der sozialen Akteure bezogen werden. Die Faszination der Praxistheorie besteht darin, dadurch die landläufig als Gegensätze definierten Perspektiven des Strukturalismus und des methodologischen Individualismus mit Hilfe des Praxisbegriffs in einem neuen Paradigma der soziologischen Theoriebildung zusammenführen zu wollen, um die Soziologie von Einseitigkeiten und Verkürzungen zu befreien.1 Unübersehbar ist in diesem Zusammenhang: Der Begriff Praxis avanciert gegenwärtig zu einem paradigmatischen Schlüsselbegriff, um den Gegenstand der Soziologie als Wissenschaft neu zu bestimmen (vgl. Schatzki 2001). Er steht für ein sozialwissenschaftliches Erkenntnis- und Forschungsprogramm, das sozialtheoretische Engführungen überwinden will, indem induktive und deduktive Methoden der soziologischen Forschung zu einem neuen Konzept kombiniert werden. Der praxistheoretische Zugang zur Sozialität will dem “When considering the nature of social life, social theory has always availed itself of two master concepts, those of totality (whole) and the individual.” (Schatzki 1996: 1) Mit diesem Einleitungssatz seiner am Praxisbegriff orientierten Sozialtheorie benennt Theodore Schatzki das Spannungsfeld, dem die Praxistheorie entgehen will.
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Anspruch nach der Dynamik und den Regelmäßigkeiten der sozialen Welt gleichzeitig gerecht werden. Dies geschieht durch eine Verortung der Sozialtheorie jenseits der Verabsolutierung der subjektiven Perspektive der Sozialphänomenologie und jenseits der Verabsolutierung der objektiven Perspektive des Strukturalismus. Im Folgenden gilt es zu zeigen, warum sich gerade der Praxisbegriff für eine solche Neuformulierung der soziologischen Theorie eignet. Wenn der Praxisbegriff für ein neues, integratives Paradigma der soziologischen Theoriebildung stehen soll, ist zu fragen, was gerade diesen Begriff für diese Aufgabe qualifiziert. Das wichtigste Ziel der hier verfolgten Argumentation ist es deshalb, die Praxistheorie als allgemeine soziologische Theorie zu konturieren, um sie zur Analyse von Tauschformen einsetzen zu können. Dazu ist es notwendig, den Begriff der Praxis auf seinen Gehalt und seine theoretische Analysefähigkeit hin zu untersuchen.2 Zur Lösung dieser theoretischen Aufgaben muss zunächst gesehen werden: Der Begriff Praxis besitzt eine ungeheure Suggestivkraft, weil er in den unterschiedlichsten Zusammenhängen eingesetzt wird und wurde. Zur Konturierung eines soziologischen Praxisbegriffs, die das Ziel verfolgt, eine allgemeine Sozialtheorie der Praxis zu formulieren, ist es notwendig, zunächst die wichtigsten Kristallisationspunkte der (sozial)philosophischen Diskussion um den Praxisbegriff frei zu legen. Dadurch werden Missverständnisse im soziologischen Gebrauch des Begriffs vermieden. Werden nämlich die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs beleuchtet, zeigen sich die Anschlussstellen für eine allgemeine Soziologie, die sich am Praxisbegriff orientieren will. Deshalb gehe ich in einem ersten Schritt auf einige wichtige Spielarten der Praxisphilosophie ein, um einen soziologischen Begriff der Praxis zu konturieren (2.1). Daran schließt im zweiten Schritt eine grundlegende Diskussion und Kritik der prominentesten soziologischen Praxistheorie, der Kultursoziologie Bourdieus, an, die nicht in ihren Grundannahmen aber in ihrer primären Anwendung zu einseitig auf die sozial strukturierte Reproduktion sozialer Ungleichheit fokussiert ist, um als allgemeine soziologische Theorie Perspektiven auf andere Aspekte der Sozialität eröffnen zu können (2.2). Die Auseinandersetzung mit Bourdieu erlaubt es im dritten Schritt, die Praxistheorie über die Diskussion der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität sowie der Konzeption, wie sich praktischer Sinn in symbolischen Formen Ausdruck verschafft, als allgemeine soziologische Theorie zu reformulieren (2.3). Im Resümee dieses Kapitels wird das Potenzial der Praxistheorie für den im dritten Kapitel angestrebten Entwurf einer allgemeinen Soziologie des Tausches gebündelt (2.4).
Inzwischen wird nicht selten von einem „practice turn“ in den Sozialwissenschaften gesprochen (vgl. etwa Schatzki 2001), der sich darin zeigen soll, dass holistische und individualistische Konzepte der Soziologie überwunden werden, um eine neue, stärker an kulturellen Deutungsmustern orientierte Soziologie betreiben zu können. Siehe dazu neben den Beiträgen in Hörning und Reuter (2004) auch die ausführliche Diskussion von Andreas Reckwitz (vgl. 2000: 644ff.), in der so unterschiedliche Theoretiker wie Alfred Schütz, Erving Goffman, Charles Taylor, Michel Foucault und Pierre Bourdieu als Ausgangspunkte einer praxistheoretischen Soziologie vorgestellt werden. An dieser Aufzählung zeigt sich im Übrigen ein Wandel in der Rezeptionsgeschichte des Praxisbegriffs vom Marxismus hin zu einer allgemeinen Soziologie: Unter dem Titel Praxistheorie firmieren nämlich in den 1980er Jahren ausschließlich explizit marxistische Autoren wie Lefebvre, Castoriadis und andere, die Reckwitz um die letzte Jahrhundertwende für seine Theorie der Praxis nicht mehr berücksichtigt. Ganz anders hingegen die Studie von Rainer Schmalz-Bruns (vgl. 1989), die sich Ende der 1980er Jahre zur Dokumentation der Diskussion um die Praxistheorie ausschließlich auf den französischen Marxismus bezieht und deshalb, ganz im Gegensatz zu Reckwitz, kaum soziologische Aufmerksamkeit binden kann.
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2.1 Sozialphilosophie der Praxis Bei einer Suche nach signifikanten Verwendungen des Praxisbegriffs in der Sozialtheorie fällt zunächst auf, dass der Begriff in marxistischer Tradition für den Versuch steht, Theorie in praktischer Absicht zu formulieren (vgl. Habermas 1978: 9), die Theorie also als praktisch relevantes Ausdrucksmittel der Gesellschaft zu begreifen, um so die Differenz zwischen Theorie und Praxis zu überwinden. Es ist Karl Marx, der diese Differenz erstmals grundlegend in der zweiten Feuerbachthese reflektiert: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.“ (Marx 1969: 5)
Der Begriff Praxis, definiert als „sinnlich menschliche Tätigkeit“ (ebd.), steht im Frühwerk von Marx für den Versuch, das theoretische Denken mit der Lebenswirklichkeit der Menschen einer Gesellschaft zu verbinden. Mit dem Praxisbegriff will Marx dem PraktischSinnlichen der menschlichen Existenz, dem „Reichtum des Sinnlichen“ (Lefebvre 1972: 35) Geltung verschaffen und gleichsam verdeutlichen, dass jede Theorie über die Praxis selbst eine Form von Praxis ist. Damit wendet sich Marx gegen die scholastische Vorstellung, Philosophie sei nur durch eine grundsätzliche Distanz des Philosophen zum gewöhnlichen Leben möglich. Über eine Kritik des Idealismus versucht Marx diese, für ihn ideologische Form der Philosophie zu überwinden. Dem entsprechend heißt es in der achten Feuerbachthese: „Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“ (Marx 1969: 7)
Die von Marx entwickelte Kritik der politischen Ökonomie soll eine praktische, revolutionäre Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Produktion und des Klassenantagonismus auslösen. „Diese Praxis versteht Marx als Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie zugleich.“ (Habermas 1999: 323) Die Theorie und das alltägliche Leben, insbesondere in Form der Lebens- und Produktionsbedingungen, werden im Praxisbegriff zusammengeführt, um Philosophie von Ideologie zu befreien, was es nach Marx letztlich und ausschließlich erlaubt, die gesellschaftlichen Verhältnisse angemessen zu analysieren und zu transformieren. „Marx denkt von Anbeginn als Handelnder.“ (Lefebvre 1972: 26) Damit wird das Problem der Philosophie in wirkmächtiger Weise neu gestellt: Im Mittelpunkt steht jetzt nicht mehr die Frage, wie eine reine, von den gesellschaftlichökonomischen Verhältnissen abgelöste Form der Philosophie konsistent und widerspruchsfrei formuliert werden kann. Das Problem ist jetzt, wie eine praktisch relevante Analyse gerade dieser Verhältnisse ermöglicht werden kann, indem die Differenz zwischen der Praxis und der Theorie der Reflexion zugänglich gemacht wird. Marx geht es dem entsprechend um die systematische Analyse der die Lebenswirklichkeit der sozialen Akteure be-
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stimmenden gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse. Diese Analyse, also die von Marx formulierte Kritik der politischen Ökonomie, versteht sich als Teil der Praxis, die von ihr untersucht wird. Wenn sich die gesellschaftliche Praxis nach Marx jedoch wesentlich im grundlegenden gesellschaftlichen Antagonismus zwischen Lohnarbeit und Kapital, also in praktischen Kämpfen manifestiert, die in eine dialektisch-teleologisch angelegte Geschichtsphilosophie eingeordnet werden, gerät der Marxsche Praxisbegriff in die Nähe einer Sozialmechanik, die sich am Kausalschema orientiert. Die Praxis des Klassenkampfes erscheint als Motor einer auf das Ziel des Kommunismus determinierten Geschichte. Dieser Determinismus ist ein wichtiger Kristallisationspunkt für die kritische Auseinandersetzung mit dem Marxismus durch Cornelius Castoriadis. Seine Sozialphilosophie orientiert sich zwar an der von Marx grundlegend vorbereiteten Reflexion der Differenz zwischen Theorie und Praxis, kommt jedoch über eine Kritik der marxistischen Geschichtsphilosophie zu einer Bestimmung des Praxisbegriff, die den Fallen des Funktionalismus und des Determinismus entgehen will. Dies macht sie für die soziologische Konturierung des Praxisbegriffs interessant.3 Nach Castoriadis erfordert es der Marxismus, „alles in kausalen Begriffen zu fassen und gleichzeitig in Sinnbegriffen zu denken; indem er behauptet, die Geschichte sei eine einzige ungeheure Kausalkette, die zugleich eine einzige, ungeheure Sinnkette sei, verschärft er die Spannung zwischen beiden Polen derart, dass das Problem keiner rationalen Behandlung mehr zugänglich ist“ (Castoriadis 1984: 91). Es ist in Castoriadis’ Lesart des Marxismus vor allem die marxistische Geschichtsphilosophie, die überwunden werden muss, um eine der sozialen Wirklichkeit angemessene Theorie der Praxis formulieren zu können. Jede teleologische Denkweise zwingt dem Geschehen eine gesetzmäßige Vernunft auf, die in Form von historischen Notwendigkeiten formuliert wird. Dagegen betont Castoriadis die Kontingenz der Praxis, indem er das „Nicht-Kausale“ (Castoriadis 1984: 77) menschlicher Tätigkeit hervorhebt: Das Nicht-Kausale „erscheint nicht nur als ‚unvorhersehbares’, sondern als schöpferisches Verhalten (der Individuen, Gruppen, Klassen, ganzer Gesellschaften); nicht bloß als Abweichung von einem bestehenden, sondern als Setzung eines neuen Verhaltenstyps; als Institution einer neuen gesellschaftlichen Regel, Erfindung eines neuen Gegenstandes oder einer neuen Form“ (Castoriadis 1984: 77). Die Begründung hierfür findet er in der Aussage, dass das lebende Wesen mehr ist als „bloßer Mechanismus“ (ebd.), denn es ist nach Castoriadis in der Lage, nicht nur in neuartigen, sondern auch in immer wieder gleichen Situationen neuartige Antworten zu geben sowie neue Situationen zu schaffen. Dies ist der Grund dafür, dass die Geschichte nicht in deterministischen Schemata oder dialektischen Mustern gedacht werden kann. Wird die Kausalität für menschliche Praxis verworfen, weil sie als kontingent und unvorhersehbar Die Sozialphilosophie Castoriadis’ dient mir hier als ein besonders interessantes Beispiel dafür, wie der Marxismus kultur- und symboltheoretisch erweitert werden kann. Weitere Ansätze für diese breite Theorietradition entstehen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren vor allem im Umfeld der Cultural Studies und beziehen sich häufig auf Antonio Gramsci (vgl. 1967). Siehe hierzu vor allem Stuart Hall (1989), der die strukturalistische Variante des Marxismus, vor allem vertreten durch Louis Althusser, hinter sich lässt, indem er mit Gramsci kulturelle Praktiken als strukturierende Momente der Praxis herausarbeitet, und Lawrence Grossberg (1997), der den Ökonomismus des Marxismus dadurch zu überwinden sucht, dass er Kultur nicht nur als Ausdruck der ökonomischen Basis der Gesellschaft, sondern als wichtigen Bestandteil einer dynamischen Praxis fasst, sowie Ernesto Laclau (vgl. vor allem 1981: 176ff.), der über eine Dekonstruktion des Marxismus eine diskurstheoretische Erweiterung der Marx’schen Praxistheorie anstrebt. Ausgearbeitet findet sich dieser Versuch in Laclau und Mouffe (2000).
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beschrieben wird, verbietet sich eine Rekonstruktion der Praxis in Kausalbegriffen, mit wichtigen Konsequenzen für die Beobachtung und Beschreibung der Praxis: Jede Festlegung von Ordnungsmodellen ist ausgeschlossen, weil jede auch nur sukzessive Annäherung an eine fachlich rationale Ordnung, „die vorab in der Welt schon existiert“ (Castoriadis 1981: 11), im Kontext des nicht-kausalen Praxisbegriffs als illusionär gelten muss. Es gibt für Castoriadis keine Möglichkeit, sich einer Ordnung schrittweise zu nähern oder sie systematisch auszumessen. Wissenschaft ist demnach eine Form von Praxis, die bestimmte Aufgaben erfüllen kann, indem hier Techniken „des Experimentierens, Argumentierens, Schließens oder auch der Psychoanalyse“ (ebd.: 88) angewendet werden. Die dabei entstehende bzw. angewendete Theorie kann „immer nur ein lückenhaftes und bruchstückhaftes Moment der Aufklärung“ (ebd.: 89) sein, weil keine Theorie „ihre Gewissheit aus sich selbst [hat], nicht einmal die Mathematik“ (ebd.). Die Theorie, die wissenschaftlichen Techniken sowie die Logik sind für Castoriadis deshalb keine Werkzeuge an sich, sie bekommen ihren „Sinn erst dann, wenn sie in eine aufklärerische Praxis eingebettet werden, die über jede Logik und jede Theorie hinausweist und deren Kriterien nicht ohne weiteres gehorcht“ (ebd.: 89). Deshalb muss wissenschaftliche Praxis selbstreflexiv verfahren, um im Anschluss an Aristoteles Kategorien des Denkens zu entwickeln.4 Die von Castoriadis notierten Grenzen wissenschaftlichen Denkens bedeuten für ihn keinen Freibrief für Relativismus und Beliebigkeit. Sie werden vielmehr genutzt, um das Problem der Wissenschaftsgeschichte im Rahmen der wissenschaftlichen Selbstreflexion aufzugreifen (vgl. Joas 1992a: 148). Dazu schließt Castoriadis an die Kritik des Marxismus eine allgemeine Kritik der Sozialwissenschaften an, deren wichtigster Kristallisationspunkt der soziologische Begriff der Gesellschaft ist: „Schon wenn es gilt, ihren Gegenstand [der Soziologie, F.H.] zu fassen, tritt eine entscheidende Schwierigkeit auf: Bildet das Gesellschaftliche eine Wirklichkeitsebene für sich, und was verbirgt sich hinter diesem Wort? Oder ist das, was wir damit bezeichnen, nur eine Ansammlung verschiedenartiger Realitäten, und welcher?“ (Castoriadis 1981: 173)
Ein entscheidender Aspekt dieses Problems ist für Castoriadis die „Unmöglichkeit, das Gesellschaftliche auf das Individuelle zurückzuführen“ (ebd.). Der soziologische Zugang zur Gesellschaft kann daher nicht über eine Analyse der menschlichen Psyche gelingen. Er muss sich eines anderen Mittels bedienen, um Gesellschaft mit wissenschaftlichen Mitteln
Denken heißt für Castoriadis, dies sei der Vollständigkeit halber angemerkt, jedoch auch handeln; und zwar handeln mit einem Anderen (vgl. Castoriadis 1981: 89). Das Denken hat nur dann Sinn, wenn es in Handlungsbezüge eingebettet ist: „Dass man tatsächlich annehmen muss, es existierten überregionale Kategorien, denen ohne Rücksicht auf den Typus des betrachteten Gegenstandes überall derselbe volle Sinn zukommt, ist ... weder zufällig noch nebensächlich, sondern eine aus der innersten Organisation des herkömmlichen Denkens erwachsene Notwendigkeit. Dies bleibt selbst dann wahr, wenn dieses Denken jedem Gegenstandstyp eine besondere logische Organisation ausdrücklich zuzugestehen scheint. [...] Das herkömmliche Denken muss also in der Tat behaupten, der Ausdruck ‚ein‘ habe den nämlichen Sinn, gleichviel, ob es sich um einen Hilbert-Raum, eine Fabrik, eine Neurose, eine Schlacht, einen Traum, eine biologische Art, eine Bedeutung, eine Gesellschaft, einen Widerspruch, eine juristische Vorschrift, eine Ameise, eine Revolution oder ein Werk handelt. Es muss so tun, als habe ‚zugehören‘ in allen Bereichen und Instanzen, in denen man von einem ‚Zugehörigkeitsverhältnis‘ sprechen kann, dieselbe Bedeutung; und so fort. Nun sind diese Behauptungen augenscheinlich und unmittelbar falsch. Denn ‚ein‘ spielt nicht dieselbe Rolle in ‚ein Elektron‘, ‚eine große Liebe‘ oder ‚eine Feudalgesellschaft‘.“ (Castoriadis 1981: 187f.)
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fassbar zu machen. Eine Lösung dieses Problems sieht Castoriadis in der Beobachtung der gesellschaftlichen Sinnproduktion: „Natürlich kann keine Rede davon sein, die Gesellschaft im eigentlichen oder auch nur metaphorischen Sinne in ein ‚Subjekt’ zu verwandeln. Ausgehend von dem Imaginären, das unmittelbar an der Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens wuchert, können wir zwar in das Labyrinth der Symbolisierungen des Imaginären eindringen. Und wenn wir die Analyse weit genug vorantreiben, kommen wir zu Bedeutungen, die nicht für etwas anderes stehen, sondern gleichsam die letzten Strukturen sind, die die betreffende Gesellschaft der Welt, sich selbst und ihren Bedürfnissen auferlegt hat – Organisationsschemata, die den Rahmen möglicher Vorstellungen abstecken, die sich diese Gesellschaft zu geben vermag.“ (Castoriadis 1984: 245f.)
Der Begriff Gesellschaft wird auf die Sinnproduktion bezogen, weil Castoriadis es als Tatsache ansieht, „dass das gesellschaftlich-geschichtliche Feld niemals als solches, sondern immer nur über seine ‚Wirkungen’ zugänglich ist“ (Castoriadis 1984: 247). Gesellschaft und Sozialität erscheinen dann als symbolisch vermittelte Sinnzusammenhänge, die nur durch den Bezug auf einen imaginären Bedeutungshorizont entstehen können (vgl. Honneth 1990a: 134). Ganz in diesem Sinne hält Castoriadis eine Analyse der Sozialität nur für möglich, wenn gesehen wird, „dass die Welt, wie sie in ihrer Gesamtheit einer Gesellschaft gegeben ist, praktisch, affektiv und geistig in bestimmter Weise erfasst wird, dass ihr ein artikulierbarer Sinn auferlegt wird“ (Castoriadis 1984: 250). Castoriadis will demnach die Logik der gesellschaftlichen Sinnproduktion, die sich in Symbolbildung niederschlägt, analysieren, um eine Theorie der Praxis zu entwerfen. Dabei ist für ihn die Behauptung, „Sinn sei schlicht und einfach das Ergebnis einer Zeichenkombination“ (Castoriadis 1984: 237), nicht haltbar. Sinn ist immer etwas Imaginäres, das sich nicht in Gesetzmäßigkeiten erschöpft. Sinngebung ist konstitutiv mit der Einbildungskraft sozialer Akteure verbunden, also mit der Fähigkeit, den Dingen, Strukturen, Gesetzen und Mitakteuren spezifischen, individuell erzeugten Sinn zuzuschreiben. Deshalb lässt sich auch Praxis „nicht auf ein Zweck-Mittel-Schema zurückführen. Das Zweck-Mittel-Schema ist vielmehr gerade ein Kennzeichen technischer Tätigkeit, denn nur diese hat es mit einem wirklichen Zweck zu tun, einem Zweck (fin), der ein Ziel (fin) ist, der endlich und begrenzt ist und der als notwendiges oder wahrscheinliches Ergebnis angenommen werden kann“ (Castoriadis 1984: 129).
Praxis ist also für Castoriadis konstitutiv mit schöpferischen Aspekten verquickt. Sie versetzt die Welt mit Sinn, der ursprünglich imaginär ist und nicht von der äußeren Welt diktiert wird, sondern den Dingen der äußeren Welt ihren Platz zuweist. Die Ordnung der Welt ist folglich immer eine imaginäre Ordnung, die sich dynamisch wandeln kann, wenn das Imaginäre in neuer Form erzeugt wird. Derartige Veränderungen der gesellschaftlichen Sinn- und Symbolebene fasst Castoriadis mit dem Begriff der Praxis, der quasi mit dem Begriff der Revolution zusammenfällt. Denn Praxis erscheint als die ganz bestimmte Art des Handelns, „worin der oder die anderen als autonome Wesen angesehen und als wesentlicher Faktor bei der Entfaltung ihrer eigenen Autonomie betrachtet werden“ (ebd.: 128). Praxis wird mit der revolutionären Energie einer Gesellschaft gleichgesetzt, die sich auf die Herstellung einer autonomen Lebensführung und einer authentischen Selbstverwirklichung
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der Einzelnen in Solidarität und Freiheit bezieht. Praxis erscheint dadurch als ein besonderer, normativ definierter Handlungstyp, der die Kreativität des Handelns bezeichnet und auf ein utopisches Ziel gerichtet ist. Castoriadis setzt der marxistischen Dogmatik den ursprünglichen Sinn einer emanzipatorischen Praxis entgegen (vgl. Habermas 1985a: 382), indem er die revolutionäre Energie einer Gesellschaft in einem Praxisbegriff bündelt, der auf die imaginäre Symbolisierung und Sinnproduktion der Gesellschaft gerichtet ist. Der dadurch von ihm selbst reproduzierte Mythos der Revolution verstellt ihm den Blick auf die für eine soziologische Praxistheorie entscheidenden Fragen, ob Praxis nicht per se dynamisch gefasst werden muss und wie die Dynamik der Praxis bestimmt werden kann, wenn revolutionäre Tendenzen ausbleiben, die von Castoriadis selbst sehr voraussetzungsreich definiert werden. Denn auch ohne eine unwahrscheinliche Revolution ist die Dynamik der Praxis evident, was zur Analyse von Praxisformen nicht vernachlässigt werden darf. Ein soziologischer Begriff der Praxis kann mit anderen Worten das Praxisverständnis nicht auf eine Praxisform verengen, wie es in der Sozialphilosophie Castoriadis’ in Bezug auf Praxisformen der Revolution offensichtlich angestrebt wird. Einer soziologischen Theorie der Praxis kann es, anders gesagt, nicht nur um die Formulierung einer praktisch relevanten Theorie der Revolution gehen. Wird diese Schwäche seiner Theorie gesehen, können in Castoriadis’ sozialphilosophischem Gesellschaftsentwurf jenseits des Funktionalismus Anknüpfungspunkte für eine Theorie der Praxis gefunden werden: Die Hervorhebung der Bedeutung der gesellschaftlichen Symbolebene zur Identifikation von Praxisformen sowie die Betonung der prinzipiellen Kontingenz und Dynamik der Praxis, die sich nach Castoriadis nicht kausal rekonstruieren lässt, bieten gewinnbringende Anschlussstellen für eine Theorie der Praxis, wenn diese Annahmen für alle Praxisformen geltend gemacht werden. Dies lässt sich explizieren, wenn der Begriff der Praxis mit Grundannahmen einer allgemeinen Handlungstheorie korrespondiert wird. Dies erlaubt die Entwicklung eines soziologischen Praxisbegriffs, der sich zur Definition der Letztelemente der Sozialität als Praktiken eignet, der also die Konstruktion eines Instrumentariums zur Analyse der Sozialität ermöglicht. Charles Taylors Praxisphilosophie ist hierzu hilfreich, weil seine „interpretative Kulturtheorie“ (vgl. Reckwitz 2000: 484) deutlich grundlegender ansetzt als die Revolutionstheorie Castoriadis’. Taylor arbeitet sich nicht an einer Kritik des Marxismus ab und ist deshalb nicht wie Castoriadis bestrebt, die marxistische Theorie der Revolution zu präzisieren. Er stellt stattdessen die grundlegende Frage, warum menschliches Handeln nicht ursächlich auf Intentionen zurückgeführt werden kann und deshalb als Praxis bezeichnet werden muss. Folglich konturiert Taylor den Begriff Praxis im Kontrast zu rationalistischen und naturalistischen Theorien des Handelns, die er einer grundsätzlichen Kritik unterzieht. Nach Taylor gibt es keine radikale Wahl zwischen Handlungsalternativen. So genannte Handlungen sind immer auch Ausdruck des Selbst und der historischen, nicht artikulierbaren Erfahrung, die ein Handelnder gemacht hat. Wird etwa das Handeln bewertet, wird zwangsläufig auch das Selbst bewertet (vgl. Taylor 1988: 19). Anhand der Unterscheidung zwischen starker (qualitativer) und schwacher (quantitativer) Wertung wird die These plausibel gemacht, dass Handlungsoptionen sich nicht als objektivierbare Alternativen darstellen lassen und somit Handlungen nicht ausschließlich rational begründet werden können: „Der entscheidende Punkt bei der Einführung der Unterscheidung zwischen starken und
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schwachen Wertungen besteht in der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Arten des Selbst, mit denen sie jeweils verknüpft sind.“ (Ebd.: 20f.) Gemeint ist, dass sich die Handlungsoptionen aus einer Authentizität des Selbst ergeben können. Sie orientieren sich an individuell für richtig gehaltene Werte. Handlungen und Entscheidungen des Einzelnen sind also mit Wertungen verbunden, die sich deshalb nicht objektiv bestimmen lassen, weil sie sich im Selbst bilden und dadurch individuell verschieden sind. Dies meint der Begriff der starken Wertungen, der sich auf die dem Selbst eigene Weltsicht bezieht, die nicht generalisiert werden kann. Wir bewerten die Welt nach Taylor also nicht nur in einem Prinzip der Rationalität, sondern auch im Prinzip der Wertorientierung, das sich auf individuelle Überzeugungen stützt, die sich nicht quantitativ, sondern nur qualitativ bestimmen lassen. Handlungen sind auf diese wertende Weltsicht bezogen und können nur dann als authentisch gewertet werden, wenn sie dieser Weltsicht nicht widersprechen. Starke, qualitative Wertungen, die sich in der Praxis durch Handlungen manifestieren, beziehen sich auf die Authentizität des Selbst und müssen von schwachen, quantitativen Wertungen unterschieden werden, die sich ausschließlich auf eine praktisch mögliche Nutzenmaximierung beziehen. Dies verdeutlicht für Taylor, „dass wir keine Wesen sind, deren einzige authentische Wertungen nicht-qualitativer Natur sind, wie dies die utilitaristische Tradition nahe legt“ (ebd.: 21). Es gibt demnach keine objektiv bestimmbaren Wahlalternativen zwischen Handlungsoptionen, weil die Werte des authentischen Selbst, die das Handeln bestimmen können, individuell erzeugte Werte sind, also einem individuellen, unvergleichlichen und deshalb nicht generalisierbaren Selbstentwurf entstammen. Daraus folgt für Taylor: „Das Subjekt radikaler Wahl ist eine weitere Manifestation jener immer wiederkehrenden Figur, die unsere Kultur zu realisieren trachtet – das entkörperlichte Ego, das Subjekt, das alles Sein objektivieren kann, einschließlich seines eigenen Selbst, und das in radikaler Freiheit wählen kann. Aber dieses Versprechen des totalen Selbstbesitzes bedeutet in Wahrheit den totalen Selbstverlust.“ (Taylor 1988: 38)
Gegen den Utilitarismus formuliert Taylor die Einsicht, dass alle Praxis auf vielschichtige Bedingungen zurückgeführt werden muss. Diese Bedingungen lassen sich nicht allein und nicht vorrangig in den Intentionen der Akteure finden, sie sind eingebettet in die kulturellen Erscheinungsformen sowie in die inkorporierten Strukturen der Akteure, die sich im Verlauf der Praxis wandeln. Die von der utilitaristischen oder voluntaristischen Handlungstheorie aufgestellten Regeln des Handelns sind für Taylor keine Regelmäßigkeiten der Praxis. Diese Regelmäßigkeiten lassen sich nicht ahistorisch bestimmen, weil sie sich im Verlauf der Praxis wandeln und praktischen Anforderungen angepasst werden. Das Insistieren der Philosophie auf Wahlalternativen des Handelns hält Taylor für eine wenig reflektierte Erscheinungsform der modernen Kultur, die sich zwar für bestimmte Zwecke einsetzen lässt, die jedoch zur Aufklärung über die Praxis nur bedingt nützlich ist, weil sie die Bedingungen für Praxisformen zu einfach in Handlungsregeln der radikalen Wahlalternative sucht und zudem in das Innere von Subjekten verlegt, die dadurch als der Praxis enthoben erscheinen. Ebenso entschieden wie gegen den Utilitarismus einer am Subjektivismus orientierten Handlungstheorie wendet sich Taylor dagegen, die Bedingungen für Praxis ausschließlich
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in den Strukturen der Gesellschaft zu suchen, wie es strukturalistische Theorien der Praxis tun. Der tiefere Sinn dieser doppelten Kritik der soziaphilosophischen Tradition, der sie für die Soziologie höchst interessant macht, erschließt sich bei einer Betrachtung der von Taylor (vgl. 1988: 227ff.) vorgenommenen Interpretation des von Michel Foucault in seinem mittleren Werk entwickelten Verständnisses von Praktiken der Disziplin. Betrachtet man den von Foucault hier verwendeten Begriff Praktiken, drängt sich der Verdacht auf, dass in Bezug auf Praktiken der Herrschaft und der Disziplin eine mechanische, kausal rekonstruierbare Verkettung der Praktiken behauptet werden kann. Foucault konzentriert sich in seinen materialen Analysen (vgl. vor allem Foucault 1969; 1977) primär auf das Aufdecken moderner Machtpraktiken und verwendet hier sehr häufig den Begriff des Mechanismus, um die Mechanik der modernen Beziehungen zwischen Akteuren besonders zu betonen: „Man muss die Archäologie der Humanwissenschaften auf die Erforschung der Machtmechanismen gründen, die Körper, Gesten und Verhaltensweisen besetzt haben.“ (Foucault 1976: 111) In postulierten bzw. konstruierten Zusammenhängen, in denen strukturelle Bedingungen die Praxis fast vollständig bestimmen, ist nach Foucault offensichtlich eine Mechanik der Praktiken feststellbar. Dabei verweist die Foucaultsche Verwendung des Begriffs „Kräfteverhältnisse“ (Foucault 1978: 72) auf die Verortung der Macht in den Räumen zwischen den sozialen Akteuren, also in den Relationen der Positionen, die soziale Akteure besetzen. Foucaults Schlussfolgerung aus seiner Genealogie der sich in Kräfteverhältnissen manifestierenden Machtpraktiken ist bekannt: Praktiken der Disziplin beherrschen die gesamte Gesellschaft, weil sie in alle Bereiche des menschlichen Lebens eindringen. Für Foucault hat sich in der Moderne die Gesellschaft umfassend und irreversibel als Disziplinargesellschaft geformt (vgl. hierzu Hillebrandt 1997). Sie wird quasi als Metagefängnis verstanden, das alle denkbaren Kräfteverhältnisse mit den Praktiken der Disziplin ausfüllt: „In den Disziplinen kommt die Macht der Norm zum Durchbruch. Handelt es sich dabei um das neue Gesetz der modernen Gesellschaft? Sagen wir vorsichtiger, dass seit dem 18. Jahrhundert die Macht der Norm zu anderen Mächten hinzutritt und neue Grenzziehungen erzwingt [...]. Das Normale etabliert sich als Zwangsprinzip im Unterricht zusammen mit der Einführung einer standardisierten Erziehung und der Errichtung der Normalschulen; es etabliert sich in dem Bemühen, ein einheitliches Korpus der Medizin und eine durchgängige Spitalversorgung der Nation zu schaffen, womit allgemeine Gesundheitsnormen durchgesetzt werden sollen; es etabliert sich in der Regulierung und Reglementierung der industriellen Verfahren und Produkte.“ (Foucault 1977: 237)
Taylor weist nun darauf hin, dass sich Praktiken nicht auf Formen der Disziplinierung und Herrschaft begrenzen lassen. Er spricht der Genealogie Foucaults lediglich für diese Praxisformen eine gewisse Plausibilität zu: „Die Disziplinen (...), die diese neue Existenzweise [von Macht- und Herrschaftspraktiken; F.H.] hervorbringen, sind gesellschaftlicher Natur; sie sind die Disziplinen der Kaserne, der Schule, der Fabrik. Aufgrund ihres spezifischen Charakters eignen sie sich zur Beherrschung der einen durch die anderen. In diesen Zusammenhängen besteht das Einprägen eines Habitus der Selbstkontrolle häufig darin, dass den einen die Disziplin von den anderen aufgezwungen wird. Dies sind die Orte, an denen Herrschaftsformen durch ihre Verinnerlichung befestigt werden.“ (Taylor 1988: 200)
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In der Sicht Taylors wird der innere Zusammenhang von Naturbeherrschung und Herrschaft über den Menschen von Foucault prägnant beschrieben. Gegen die mechanische Verwendung des Begriffs der Praktiken betont Taylor jedoch berechtigterweise, dass es keine Deckungsgleichheit etwa zwischen den Regeln der Kaserne und der Praxis in der Kaserne geben kann. Richtig ist zwar: Praxisformen der Herrschaft bilden sich aus Praktiken in bestimmten Feldkonstellationen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Strukturen der Kaserne alle Praktiken in der Kaserne determinieren, wie es Foucault in seinem mittleren Werk noch suggeriert. Foucault selbst kann diese Suggestion nicht lange aufrechterhalten, weil er die Disziplinierung und Normalisierung der Einzelnen nicht für nützlich zur Reproduktion der Gesellschaft hält. Er sieht hier einen Destruktionsmechanismus, in dem des Reich der Freiheit letztlich vollständig verschwindet. Seine totale Kritik der Gegenwartsgesellschaft begreift, ähnlich wie der Marxismus und die Kritische Theorie, die modernen Disziplinar- und Normalisierungspraktiken als emergente und produktive, weil gesellschaftliche Dispositive wie das Gefängnis hervorbringende Strukturen, die über ihre Verselbständigung und massenhafte psychische Internalisierung individuelle Freiheit bis zur Unkenntlichkeit destruieren.5 Die Disziplinierungen und Normalisierungen der Einzelnen sind für Foucault also alles andere als Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheit. Die Genealogie der Disziplinargesellschaft hat schließlich das Ziel, die die Freiheit einschränkenden Strukturen der Gegenwartsgesellschaft zu entlarven und dadurch kritisierbar zu machen. Kritik ist dabei für Foucault „die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1992: 12). Deshalb muss Foucault seine eigene Annahme einer totalen Vergesellschaftung des Einzelnen durch die modernen Disziplinartechniken schon bald selbst in Frage stellen. Denn nur wenn es in der Gesellschaft und in den Individuen etwas gibt, „das durchaus nicht ein mehr oder weniger fügsamer oder widerspenstiger Rohstoff ist, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine umgepolte Energie, ein Entwischen“ (Foucault 1978: 204f.), kann sich die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden, überhaupt herausbilden. Taylor bezieht sich in seiner Kritik der Theorie der Disziplinargesellschaft auf derartige Aussagen Foucaults und kommt dabei zu folgendem Schluss: Foucaults Theorie „lässt außer Betracht – oder genauer, sie verdeckt – die Möglichkeit eines Wandels der Lebensformen, der als ein Schritt hin zu größerer Akzeptanz der Wahrheit begriffen werden kann und somit auch, unter bestimmten Bedingungen, als ein Schritt hin zu größerer Freiheit“ (Taylor 1988: 229). Die Foucaultsche Genealogie der Selbstpraktiken, die nach Taylors Kritik formuliert wird, nimmt mit anderen Begriffen genau diesen Gedanken auf (vgl. zur Dokumentation seiner späteren Philosophie Foucault 2004). Dies wird deutlich, wenn Foucault Praktiken der Macht von Praktiken des Selbst unterscheidet. Der Einzelne wird in Foucaults Spätwerk als fähig betrachtet, sich selbst zu erschaffen. Er kann den Disziplinar- und Normalisierungspraktiken der modernen Gesellschaft über seine Selbstpraktiken „entwischen“. Die Sichtweise, die moderne Gesellschaft forme den Menschen vollständig über Disziplinstrukturen, wird somit von Foucault selbst in Zweifel gezogen, indem er in seinem Spätwerk die modernen Selbstpraktiken in das Zentrum seiner Genealogie rückt. Über diesen Perspekti-
Wie diese von Marx ausgehende Denktradition der radikalen Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen auch durch die Produktion von literarischen Texten reproduziert wird, habe ich an anderer Stelle (vgl. Hillebrandt 2004a) am Roman „Gravity’s Rainbow“ von Thomas Pynchon nachgezeichnet.
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venwechsel wird deutlich, dass nicht alle humanen Dispositionen Produkte der Disziplinstruktur sind (vgl. Hillebrandt 2000: 203-209). In praxistheoretischer Perspektive ist diese Wende in Foucaults Werk ein Indiz dafür, dass die Annahme einer disziplinierenden und normalisierenden Integration der Gesellschaft durch die gesellschaftliche Determination der zu ihr in Beziehung stehenden Menschen auf sehr dünnem Fundament steht und letztlich nicht haltbar ist. Deshalb ist Taylor zuzustimmen, wenn er gegen den versteckten Strukturalismus der Foucaultschen Genealogie der Machtpraktiken sagt: „Der Struktur absolute Priorität einzuräumen macht genauso wenig Sinn wie der gleiche und konträre Irrtum des Subjektivismus, der dem Handeln als einer Art von totalem Neubeginn absolute Priorität einräumte.“ (Taylor 1988: 220)
Taylor erweist sich mit derartigen Formulierungen als Philosoph der Praxis, der jede strikte Festlegung auf theoretische Logiken und Gesetzmäßigkeiten zur Beschreibung der Praxis ablehnt. Ob diese Logik aus einer Subjektperspektive oder aus einer strukturalistischnaturalistischen Perspektive formuliert ist, macht für Taylor zunächst keinen Unterschied, weil es ihm auf das Prinzip ankommt, die Praxis nicht verstehen zu können, wenn man sie in enge, ahistorisch festgelegte Regel- und Gesetzessysteme zwingt. Strikte theoretische Regelsysteme, woher sie auch immer abgeleitet werden, reichen nicht, um ein angemessenes Verständnis der Praxis zu gewinnen. Auf eine einfache Formel gebracht heißt das: Wer die Regeln der Praxis zu kennen glaubt, kennt noch nicht die Praxis.6 Dieser Gedanke hat in der Philosophie spätestens seit Ludwig Wittgenstein Tradition. Wittgenstein (vgl. 1984: 345) hatte in seinem bekannten Regel-Regress-Argument in Bezug auf die Verwendung der Sprache darauf aufmerksam gemacht, dass das Folgen einer (Sprach)Regel Praxis ist, dass also die Regeln, wie sie logisch konstruiert und empirisch nachgezeichnet werden können, in ihrer Befolgung zwangsläufig geändert werden. Keine Regel lässt sich demnach praktisch umsetzen. Wenn die Regel praktisch wird, ändert sie sich unweigerlich. Als scheinbare Lösung dieses Problems können Regeln aufgestellt werden, wie Regeln zu befolgen sind, um weitere Regeln aufzustellen, wie diese Regeln wiederum befolgt werden müssen, usw. Die Differenz zwischen einer konsistent und logisch formulierten Regel und der praktischen Anwendung dieser Regel lässt sich dadurch nicht verwischen. Dieser Regel-Regress verdeutlicht, dass der Regel folgen immer etwas anderes ist als die Regel selbst (vgl. Brandom 2000a: 59ff.).7 Daraus lässt sich schließen: Ebenso wie eine Handlungstheorie, die das Handeln der sozialen Akteure methodisch aus deren regelgeleiteten, nomologisch bestimmten Intentionen ableitet, ins Leere laufen muss, läuft auch eine Strukturtheorie ins Leere, die das gesellschaftliche Geschehen aus den objektiven Strukturen der Gesellschaft quasi naturalistisch ableitet. Dennoch haben beide Sichtweisen, die sich im soziologischen und sozialphilosophischen Diskurs zumeist gegenseitig ausschließen, eine gewisse Berechtigung. Dies wird bei einem Blick auf Robert B. Brandoms breit angelegUnd umgekehrt gilt gleichsam: Wer die Praxis zu kennen glaubt, kennt nicht zwangsläufig auch die Regeln der Praxis. 7 So ist die Aussage Nr. 202 in Wittgensteins (1984: 345) Philosophischen Untersuchungen: „Darum ist ‚der Regel folgen’ eine Praxis“, zu verstehen. 6
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te Sozialphilosophie der Praxis deutlich. Brandom gilt neben Richard Rorty, Hilary Putnam, Donald Davidson und anderen als ein wichtiger Vertreter einer neuen pragmatischen Philosophie (vgl. exemplarisch die Beiträge in Sandbothe 2000), in der im Anschluss an William James, George H. Mead, John Dewey und Ludwig Wittgenstein nicht philosophische Prinzipien, sondern die Praktiken, also das, was praktisch geschieht, in den Mittelpunkt philosophischer Argumentation gestellt werden. Im Kontext dieses Theorieprogramms nutzt Brandom das Regel-Regress-Argument Wittgensteins zur Entwicklung eines Verständnisses von Praxis und Praktiken, indem er die aktive Verstrickung der sozialen Akteure in Praxis hervorhebt: „Entscheidend ist, dass es ein Erfassen einer Regel gibt, das keine Deutung (keine Interpretation) ist. Hier sollte man [...] von Praktiken sprechen – eine Regel zu erfassen, ohne sie zu interpretieren, heißt sie in der Praxis zu erfassen statt vermittels des Ersetzens eines Regelausdrucks durch einen anderen. Die meisten Fälle des Verstehens expliziter Behauptungen und des Befolgens expliziter Anweisungen sind so zu verstehen. Eine solche Regelanwendung kann richtig oder unrichtig vollzogen werden. Praktiken in diesem Sinne sind die elementare Form der Anerkennung, dass Performanzen normengeleitet sind. Doch nach dieser einschränkenden Redeweise sind nicht alle Praktiken ein Erfassen von Regeln. Es gibt Praktiken, die die Anerkennung von Normen einschließen, ohne dass überhaupt Regeln im Spiel sind, außer in dem Sinn, dass andere, die sich die Sache anschauen, vielleicht Regeln unterstellen können – deren Formulierungen den Praxisteilnehmern nicht zur Verfügung stehen.“ (Brandom 2000a: 120f.)
Auch wenn es im hier verfolgten Zusammenhang nicht um die sprachphilosophische Aufgabe Brandoms geht, im Anschluss an die Sprachphilosophie Davidsons den „Ursprung“ der normativen Dimension im Diskurs zu ermitteln (vgl. ebd.: 899), lassen sich die darauf ausgerichteten praxisphilosophischen Überlegungen Brandoms für eine allgemeine Praxistheorie fruchtbar machen. Denn an der hier zitierten, zentralen Aussage aus seiner am Pragmatismus orientierten analytischen Philosophie, die das Regel-Regress-Argument Wittgensteins radikalisiert, wird die Problematik einer Theorie der Praxis sichtbar. Praktiken können nicht ursächlich auf die Infragestellung oder Interpretation der impliziten und expliziten Regeln der Praxis durch die sozialen Akteure zurückgeführt werden. Sie können nicht nur ohne diese Reflexion entstehen, sondern kommen gar in der Regel ohne jede Interpretations- oder Deutungsleistung dieser Art aus. Nur ganz spezifische Formen der Praxis, etwa Formen der Meta-Kommunikation, sind mit interpretativer Reflexion der Regeln der Praxis verbunden. Alle Praktiken sind jedoch, wenn sie entstehen, mit kulturell geformtem Sinn verwoben, der durch die Deutungen der in Praxis verwickelten sozialen Akteure entsteht und reproduziert wird. Dies geschieht nach Brandom im Vollzug der Praxis, also dann, wenn Praktiken entstehen. Die Frage ist dann, mit welchen Kategorien diese Praktiken beobachtet werden können, ohne in die Fallen einer „logozentrischen Logik“ (Bourdieu) zu laufen. Nach Brandom sind jedenfalls die zur Beobachtung der Praxis aufgestellten Regeln und Kategorien nicht identisch mit den die Praxis anleitenden Regeln und Kategorien. Das Problem der Beobachtung von Praxis liegt für den neuen Pragmatismus nun genau darin, diese Differenz zu reflektieren, ohne dazu auf philosophische Prinzipien wie Wahrheit, Moral oder Ethik zurückzugreifen.
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Auch Taylor sieht diese Problematik und bezieht sich zur argumentativen Begründung der Praxisphilosophie wie Brandom explizit auf Wittgensteins Regel-Regress-Argument, indem er betont, dass die Praxis, einer aufgestellten Regel zu folgen, nicht die Regel erfüllt, sondern als eine subjektive Interpretation und Reinterpretation dessen betrachtet werden muss, was eine Regel beinhalten könnte (vgl. Taylor 1993: 57). Deshalb wird die Praxis unangemessen beschrieben, wenn ein theoretisches Regelsystem formuliert wird, das auf ahistorische Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien beruht. Als Konsequenz daraus zieht Taylor die bewusstseinsphilosophischen Bedeutungstheorien in Zweifel, die Bedeutungen in Begriffen der Repräsentation abhandeln und deshalb annehmen, dass ein Beobachter ein endgültiges Verständnis der Sprache und der in ihr enthaltenen Regeln entwickeln kann (vgl. Taylor 1988: 102f.). Begriffe können das Bewusstsein nicht repräsentieren, ebenso wenig wie sie die gesellschaftlichen Strukturen repräsentieren können. Für Taylor gibt es folglich keine objektiven Bedeutungssysteme, unter Bedeutungen versteht er die Sinndeutungen, die Akteure aus einer subjektiven Perspektive der Welt und sich selbst verleihen. Nur wenn diese Sinndeutungen expressiv werden, wenn sie also in Praktiken der Erzeugung und bzw. oder der Rezeption zu einer praktischen Vollzugswirklichkeit werden, kann davon ausgegangen werden, dass kulturelle Schemata welcher Art auch immer soziale Strukturen der Praxis symbolisieren. Hinter dieser Annahme steht die Einsicht Taylors, dass jede Praktik auf Ausdruck, auf Expressivität angewiesen ist. Deshalb können sich die Bedeutungszuschreibungen der Akteure in Symbolen Ausdruck verschaffen, so dass kulturelle Artefakte sich in symbolischer Form reproduzieren. Symbolische Formen sind auf Dauer praktisch relevant und können dem entsprechend als Spiegelungen von bestimmten sozialen Strukturen und Dynamiken der Praxis gefasst werden.8 Castoriadis hatte deshalb in seiner Praxisphilosophie, wie oben gezeigt, auf die Relevanz der Symbolwelt, von ihm „das Imaginäre“ genannt, zur Beschreibung der Gesellschaft hingewiesen. Taylor sieht wie Castoriadis die Notwendigkeit, diese symbolische Dimension der Praxis als Angelpunkt einer konkreten Theoriebildung über soziale Praktiken zu formulieren. Anders als Castoriadis reserviert Taylor den Praxisbegriff jedoch nicht für eine spezifische Form der gesellschaftlichen Dynamik. Nicht nur die revolutionäre Energie einer Gesellschaft, sondern die generelle gesellschaftliche Dynamik muss mit dem Praxisbegriff verdeutlicht werden. Der Weg dahin führt über die Analyse der symbolischen Dimension der Praxis, die Schlussfolgerungen auf bestimmte Praktiken und Praxisformen zulässt. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass sich Taylors Philosophie der Praxis als Kulturtheorie versteht, bzw. sich aus Kulturtheorien speist. Die Praxis wird nach Taylor durch die kontinuierliche Produktion und Rezeption von Symbolen kulturell ausgedrückt, wobei dieser Ausdruck nicht als außeralltägliche Hervorbringung einer Gesellschaft verstanden werden kann, sondern als die alltägliche Verdichtung von Sinngehalten zu kulturellen Werken und
Taylor (vgl. 1996: 730) macht dies unter anderem am Beispiel von Kunstwerken deutlich, die nur dann einen Symbolwert haben, wenn sie ein Eigenleben führen und dadurch „epiphanische“ Qualitäten entwickeln, also zu Symbolen werden. Letztlich löst Taylor das Problem, wie Praktiken sich angemessen analysieren lassen, nicht überzeugend (vgl. hierzu Reckwitz 2000: 502), weil er, soziologisch gesehen zu einfach, von einem kollektiven Hintergrundwissen der Praxis ausgeht und Kultur dadurch als kollektives Wertesystem versteht, das neben anderen Wertesystemen steht. Dies wird, wie Andreas Reckwitz (vgl. 2000: 503) überzeugend nachweist, bei einem Blick auf Taylors Einlassungen zum Multikulturalismus deutlich (vgl. Taylor 1997).
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Artefakten, ohne die eine Praxis nicht möglich ist. In diesem Sinne ist der Kulturbegriff eng mit dem Praxisbegriff verbunden, er wird aber nur dann zu einem gehaltvollen Begriff einer Sozialtheorie der Praxis, wenn er auf Praktiken verweist, wenn Kultur also praktisch relevant ist. Für eine soziologische Theorie der Praxis ist es an dieser Stelle der Argumentation nötig, den Kulturbegriff nicht nur auf den Praxisbegriff zu beziehen, sondern gleichsam eine Vorgehensweise zu entwickeln, wie mit diesem Begriff eine soziologische Bestimmung von Praktiken und Praxisformen im Sinne der hier bisher entwickelten Paradigmen vorgenommen werden kann.9 Dazu ist ein Blick auf Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen nützlich, die sich systematisch um einen praxisnahen Symbol- und Kulturbegriff bemüht. An einer zentralen Stelle sagt Cassirer zur Anlage seines Denkens: „Wenn alle Kultur sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam erweist, so besteht das Ziel der Philosophie nicht darin, hinter all diese Schöpfungen zurückzugehen, sondern vielmehr darin, sie in ihrem gestaltenden Grundprinzip zu verstehen und bewusst zu machen.“ (Cassirer 1973/I: 51)
Mit dieser Aussage erläutert Cassirer die von ihm als grundlegend angesehene Einsicht, dass das „Sein ... nirgends anders als im ‚Tun’ erfassbar“ (ebd.: 11) ist, mit der er in die Reihe der hier nachgezeichneten Praxisphilosophien eingefügt werden kann. Wichtig ist hier Cassirers Argument, dass sich Kultur nur dann fassen lässt, wenn sie wirksam wird, wenn sie sich also in symbolischen Formen ausdrückt. Es geht dann nicht darum, den Ursprung der Erscheinungsformen zu ergründen. Cassirer will dagegen das „gestaltende Grundprinzip“ der symbolischen Formen selbst analysieren. Das heißt: Er will die Gründe für ihre Wirksamkeit aufdecken und bewusst machen und betrachtet dies als neue Form der Philosophie. Diese will, ähnlich den Praxisphilosophien von Marx, Castoriadis, Wittgenstein und Taylor, die klassische, scholastische Vorstellung überwinden, philosophische Untersuchungen seien der Praxis grundsätzlich enthoben, weil zwischen Denken und Tun ein Hiatus bestehe, der sich im Denken nicht überwinden lässt.10 Cassirer will dagegen dem intellektuellen, wissenschaftlichen Denken die Möglichkeit erschließen, eine Theorie zu entwerfen, die sich mit den Alltagserfahrungen und Praktiken der sozialen Akteure auseinander setzt, ohne sie lediglich zum Gegenstand einer substan-
Die Klärung dieses Zusammenhangs ist in den Praxisphilosophien bisher nirgends überzeugend gelungen. Ansätze für Lösungen, auf die im Weiteren zurück zu kommen ist, finden sich allerdings bei Schatzki (1996: Kapitel 4) und Reckwitz (2000: Kapitel 7; 2003 passim), die sich zwar wesentlich auf sozialphilosophische Ansätze (insbesondere auch auf Taylor) beziehen, ihre eigenen Theorien, dies gilt besonders für Reckwitz, aber eher als soziologische Theorien der Praxis verstehen. 10 An dieser Stelle folge ich einer treffenden Einschätzung der Philosophiegeschichte durch Gunter Gebauer (2005: 138): „Seit der Antike wird das denkende Subjekt durch seine Distanz zur Welt gekennzeichnet. Der traditionellen Philosophie bedeuten die Menschen in ihrem Alltagsleben wenig. Sie sind nicht in das Denken versunken, sondern leben in der Zerstreuung; sie werden durch ihre Geschäfte, Lebensnotwendigkeiten, ihre natürlichen Triebe weitgehend am Denken gehindert. Allein die Philosophen sind aufgrund ihrer Kraft der Kontemplation und zurückgezogenen Lebensweise fähig, zwischen sich und der Welt mit ihren Angelegenheiten einen Graben zu legen und sich dauerhaft auf deren andere, von den Geschäften entfernte Seite zurückzuziehen.“ Siehe zu diesem Problem der neuzeitlichen Weltentfremdung philosophischen Denkens auch die grundlegenden Überlegungen von Hannah Arendt (1981: 244ff. und v. a. 249f.). 9
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ziellen Deskription zu machen. Dazu definiert er die per se vorhandene Differenz zwischen Theorie und Praxis als erkenntnistheoretisches Ausgangsproblem jeder theoretischen Begriffsbildung: Zwar soll es der Philosophie darum gehen, die praktisch relevanten symbolischen Formen zu identifizieren. Sie kann dies jedoch nur mit Hilfe einer Sprache, die sich von der Alltagssprache unterscheidet, weil sie wissenschaftliche Objektivierungen vornehmen muss. Um die Symbole bestimmen zu können, die sich zu einer praxisnahen Analyse eignen, bzw. die es lohnen, analysiert zu werden, benötigt die Philosophie eine objektivierende Sprache. Diese entwickelt Cassirer, indem er die Begriffe Kultur und Symbol mit dem Begriff der Form verbindet, um so relevante symbolische Formen identifizieren und analysieren zu können. Cassirer geht es folglich um eine systematische Begriffsbildung zur Analyse der Praxis. Die entscheidende Leistung seiner Philosophie, die sie für eine soziologische Theorie der Praxis höchst relevant macht, besteht in dem von Cassirer formulierten Versuch, der theoretischen Begriffsbildung eine neue, relationale Ausrichtung zu geben. Dieser Versuch setzt beim Begriff der Form an. Formen werden als „gewisse Weisen der ‚Objektivierung’“ (ebd.: 8) bezeichnet. Sie sind Mittel, etwas Einzigartiges, „Individuelles“ (ebd.) zu einem Allgemeingültigen zu erheben. Im kulturphilosophischen Bewusstsein der vorletzten Jahrhundertwende (vgl. hierzu ausführlich Lichtblau 1996), dass sich die Symbole der Kultur nicht objektiv fassen lassen, da sie sich im ständigen Fluss befinden, indem sie durch Gebrauch modifiziert und verändert werden, findet Cassirer im Begriff der Form die Möglichkeit, Objektivierungen vorzunehmen, die für eine analytische, wissenschaftliche Beschäftigung mit der „Wirklichkeit“ unumgänglich sind, da jede Erkenntnis sich der Objektivierung bedienen muss. Der Begriff der Form eignet sich dazu, wenn mit ihm die Dynamik der Symbolwelt nicht negiert wird. Formen sind deshalb nicht essenziell gedacht, sondern zielen auf die Verdichtung und den regelmäßigen Gebrauch von Sinngehalten. Denn nach Cassirer muss der prinzipiell chaotische und amorphe Prozess des Bewusstseins buchstäblich in Form gebracht werden, damit sich Wirklichkeit für soziale Akteure überhaupt erschließt. Durch Sprache erzeugte (symbolische) Formen ordnen den Bewusstseinsstrom und erreichen dadurch eine immer „schärfere ‚Distinktion’ der Bewusstseinsinhalte“ (Cassirer 1973/I: 238). Nur dadurch ergeben sich „für uns immer klarere Umrisse der Welt als eines Inbegriffs von ‚Gegenständen’ und ‚Eigenschaften’, von ‚Veränderungen’ und ‚Tätigkeiten’, von ‚Personen’ und ‚Sachen’, von örtlichen und zeitlichen Beziehungen“ (ebd.). Nur mittels symbolischer Formen „entstehen“ somit die Phänomene der Wirklichkeit, die sich deshalb nicht essenziell als Entitäten erfassen lassen, sondern nur durch Analyse des Symbolischen zugänglich sind (vgl. Wiechens 2000: 172). Form wird somit im Sinne von elementarer kultureller Formung verstanden, welche die „unendliche Mannigfaltigkeit“ (Weber 1988: 171) der Wirklichkeit nicht ordnet und einschränkt, sondern mit theoretischen Mitteln erst sichtbar macht. Symbolische Formen werden nun von Cassirer auf das Bewusstsein bezogen (vgl. etwa Cassirer 1973/I: 22; Wiechens 2000: 171f.). Durch diese bewusstseinsphilosophische Ausrichtung geraten die theoretischen Konstruktionen Cassirers in die Nähe des Spekulativen, weil kulturelle Formungen, also Symbole zu einfach mit Bewusstseinsformen kurz geschlossen werden. Das Symbol erscheint dann, und das ist für die Anthropologie von großer Bedeutung, als „Schlüssel zum Wesen des Menschen“, wie Cassirer (1996: 47ff.) insbesondere in seinem Spätwerk betont. An diese Idee Cassirers schließt Alfred Schütz (vgl. 1971: 313ff.)
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zur Entwicklung eines phänomenologisch fundierten Symbolbegriffs an, der nicht so sehr in bewusstseins-, sondern in sozialwissenschaftlicher Perspektive die „mannigfaltigen Wirklichkeiten“ (vgl. ebd.: 237) in der sozialen Welt sichtbar machen will. Wird die bewusstseinsphilosophische und anthropologische Konstruktion der Kulturtheorie mit Hilfe einer Korrespondenz der Philosophie Cassirers mit soziologischen Denkfiguren wie denen Schütz’ überwunden, kann mit Christine Magerski (vgl. 2005: 124f.) gesagt werden, dass symbolische Formen nicht primär Strukturen des Bewusstseins sozialer Akteure, sondern zuerst „Ausdruck oder Kristallisation anhaltender Praxis“ (ebd.: 125) sind, die sich nur aus der Relation zwischen zwei Polen der Sozialität, inkorporierte und objektivierte Sozialität (dazu unten mehr), erschließen lassen. Dies ist auch die Richtung, in die Pierre Bourdieu Cassirers Philosophie weiter entwickeln möchte: „Wir müssen … die unterschiedlichen Arten der ‚Welterzeugung’ auf die sie ermöglichenden ökonomischen und sozialen Bedingungen zurückführen, das heißt über die ‚Philosophie der symbolischen Formen’ im Sinne Cassirers hinaus zu einer differentiellen Anthropologie der symbolischen Formen fortschreiten“ (Bourdieu 2001: 27). Mit einer in dieser Weise soziologisch fundierten Anthropologie der symbolischen Formen im Anschluss an die Begriffsbildung Cassirers eröffnet sich jedenfalls als erstes der Blick auf das Problem, dass sich eine Theorie der Praxis immer nur in Reflexion der Differenz zwischen Theorie und Praxis formulieren lässt. Mit Cassirers Philosophie wird nämlich offensichtlich, dass eine wissenschaftliche Objektivierung zur Produktion von Erkenntnissen nicht nur notwendig ist, sondern auch notwendigerweise erkenntnistheoretisch reflektiert werden muss. Denn auch wissenschaftliche Praxis ist auf die Bildung von Formen angewiesen, um Ordnung in die prinzipiell chaotische Mannigfaltigkeit der, wie Cassirer den Phänomenbereich der Philosophie nennt, „Wirklichkeit“ bringen zu können. Dabei kann nicht verkannt werden, dass sich wissenschaftliche Theorie zur Bildung von Begriffen einer objektivierenden Sprache bedienen muss. Diese unterscheidet sich von der Sprache des Alltags durch die Möglichkeit, ihre eigene Formbildung, also ihre Objektivierungen erkenntnistheoretisch reflektieren zu können, was sie als Theorie über die Praxis qualifiziert. Wenn dabei der Begriff der Form relational gedacht ist, lässt sich die epistemologische Reflexion theoretischer Begriffsbildung in die Konstruktion von wissenschaftlichen Objektivierungen einbeziehen, indem die beiden Seiten der Relation, aus der die symbolischen Formbildungen des Alltags entstehen, definiert werden.11 Cassirer löst dieses definitorische Problem nicht, indem er die beiden Seiten der Form lediglich essenziell bestimmt. Er macht vielmehr darauf aufmerksam, dass wissenschaftliche, insbesondere naturwissenschaftliche Erkenntnis formal in der Konstruktion von Relationen entsteht und führt hier die Mathematik als prägnantes Beispiel für wissenschaftliches Denken in Relationsbegriffen an (vgl. etwa Cassirer 2000: 1ff.; 1973/III: 474ff.). Damit macht Cassirer auf zwei für die hier verfolgte Argumentation wichtige Aspekte aufmerksam: Eine objektivierende Sprache muss zum einen nicht zwangsläufig in ahistorischen Essenzbegrif11 Nur so können nach meiner Einschätzung Aussagen, wie die folgende, die für Cassirers Philosophie typisch sind, verstanden werden: „Die Philosophie symbolischer Formen [will] nicht von vornherein eine bestimmte dogmatische Theorie vom Wesen der Objekte und ihren Grundeigenschaften aufstellen, sondern statt dessen, in geduldiger kritischer Arbeit, die Arten der Objektivierung erfassen und beschreiben, wie sie der Kunst, der Religion, der Wissenschaft eigen und für diese charakteristisch sind.“ (Cassirer 1969: 209)
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fen, sondern kann auch in Relationsbegriffen formuliert werden. Zum zweiten schränkt eine an Relationen orientierte Begriffsbildung die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit nicht ein, sondern macht sie vielmehr erst sichtbar. Denn das Denken in Relationen vermeidet die substanzielle Festlegung auf endgültige Phänomene, die dann als Dinge erscheinen, die in ein Schema eingeordnet werden. Dagegen empfiehlt Cassirer dem Denken eine Umstellung von Ding- bzw. Substanzbegriffen auf Relationsbegriffe. Sie bringen, wie Cassirer am Beispiel des Formelbegriffs der Mathematik nachweist, Mannigfaltigkeit hervor, während empirische Substanzbegriffe diese Mannigfaltigkeit lediglich nachbilden wollen: „Die mathematischen Begriffe, die durch genetische Definition, durch die gedankliche Feststellung eines konstruktiven Zusammenhangs entstehen, scheiden sich von den empirischen, die lediglich die Nachbildung irgendwelcher tatsächlicher Züge in der gegebenen Wirklichkeit der Dinge sein wollen. Wenn im letzteren Fall die Mannigfaltigkeit der Dinge an und für sich vorhanden ist und nur auf einen abgekürzten, sprachlichen oder begrifflichen Ausdruck zusammengezogen werden soll, so handelt es sich im ersteren umgekehrt darum, die Mannigfaltigkeit, die den Gegenstand der Betrachtung bildet, erst zu schaffen, indem aus einem einfachen Akt der Setzung durch fortschreitende Synthese eine systematische Verknüpfung von Denkgebilden hervorgebracht wird.“ (Cassirer 2000: 11)
Die relationale Begriffsbildung erlaubt es nach Cassirer, mit theoretischen Mitteln Vielfältigkeit hervorzubringen. Relationale Formbegriffe sind nämlich nicht kategorisierend, sondern generativ, weil sie diverse Inhalte, die ohne sie verdeckt bleiben würden, erst erzeugen. Wenn beispielsweise die Relation zwischen zwei Positionen im sozialen Raum begrifflich gefasst wird, erzeugt das all die Inhalte, die innerhalb der Relation angesiedelt werden können. Schon deshalb ist der aus Cassirers Philosophie abgeleitete Vorschlag, in Relationen zu denken, für eine soziologische Theorie der Praxis richtungweisend. Darüber hinaus macht das relationale Denken die erkenntnistheoretischen Probleme einer soziologischen Theorie der Praxis sichtbar und bringt sie dadurch einer Lösung näher. Denn Cassirers Theorie der Begriffsbildung zeigt: Eine Soziologie der Praxis muss ihr begriffliches Instrumentarium breit reflektieren, um die Vielschichtigkeit der Praxisformen nicht mit Substanzbegriffen zu verdecken, sondern vielmehr mit Relationsbegriffen generativ zu erzeugen. Eine tragfähige Basis einer soziologischen Praxistheorie entsteht folglich nur dann, wenn eine sich an Relationen orientierende Begriffsbildung als eines ihrer konstitutiven Elemente eine epistemologische Reflexion vorsieht. Diese Reflexion muss auf die Grundannahmen der Praxistheorie bezogen werden, die sich aus der hier vorgenommenen Rekonstruktion der Verwendungen des Praxisbegriffs in der Sozialphilosophie wie folgt bestimmen lassen: (1) Wie die Nachzeichnung der marxistischen Begriffsverwendung zeigen sollte, steht der Begriff Praxis zuerst für die Einsicht, dass das Geschehen, das mit dem Praxisbegriff beschrieben wird, sich von der Logik einer Theorie unterscheidet. Daraus lässt sich die Reflexion der Differenz zwischen Theorie und Praxis als notwendige Bedingung einer praxistheoretischen Soziologie ableiten. (2) Darüber hinaus steht der Praxisbegriff, wie an Castoriadis’ Praxisphilosophie deutlich werden sollte, für die Einsicht, dass das praktische Geschehen dynamisch und kontingent ist
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und deshalb keinen feststehenden Gesetzen gehorcht und nicht ahistorisch und essenziell gefasst werden kann. Praxis ist, wie Castoriadis verdeutlicht, mit schöpferischen Elementen verbunden, weil sie, wenn sie geschieht, als Prozess gefasst werden muss, der etwas Neues hervorbringt. Daraus lässt sich die Notwendigkeit ableiten, dass die Dynamik der Praxis reflektiert und jenseits von Funktionalismus und Determinismus beschrieben werden muss. (3) Des Weiteren zeigt Castoriadis die Bedeutung des Sinn-Begriffs zur Analyse der Praxis auf. Jede Praxis ist mit der (Re)Produktion von Sinn durch die in Praxis verwickelten Akteure verbunden. Die Gesellschaft erscheint dann als symbolisch vermittelter Sinnzusammenhang. Die Sinnproduktion bildet das, wie Castoriadis es nennt, Imaginäre der Gesellschaft, das sich mit funktionalistischen oder teleologischen Mitteln der Theoriebildung nicht erfassen lässt. Dennoch ist dieses Imaginäre der Praxis für Castoriadis der Ansatzpunkt einer Praxistheorie, da sich Praxisformen nur über eine Analyse der sich in kulturellen Symbolen verdichtenden Sinngehalte erschließen lassen. Eine Praxistheorie kann deshalb die Analyse der kulturellen Verdichtungen einer Gesellschaft nicht ignorieren. Sie muss einen Weg finden, aus dem Vollzug der Praxis kulturelle und symbolische Formen zu entwickeln, um die Verkettung von Praktiken zu Praxisformen erklären zu können. Praxis erscheint in dieser Begriffsfassung als Vollzugswirklichkeit, die sich nur kultursoziologisch erschließt. (4) Die theoretischen Mittel dazu finden sich, wie an Charles Taylors Praxisphilosophie deutlich werden sollte, nicht in einer utilitaristischen oder voluntaristischen Handlungstheorie: Die Bedingungen der Praxis können methodisch nicht ausschließlich aus den regelgeleiteten, nomologisch bestimmten Intentionen sozialer Akteure abgeleitet werden, weil diese Intentionen nicht bedingungslos festgelegt werden können. Sie sind selbst abhängig von sozialen Bedingungen, weil Akteure nicht als von der Praxis enthobene Individuen mit ahistorischen Eigenschaften betrachtet werden können. Akteure sind zwar in Praxis verwickelt und unter bestimmten Umständen gar schöpferisch an ihr beteiligt, sie handeln jedoch weder ausschließlich in Kosten-Nutzen-Kalkulationen noch verfügen sie über naturalistisch festlegbare Intentionen. Im Umkehrschluss gilt für Taylor gleichsam, wie unter anderem an seiner Foucault-Interpretation deutlich wird, dass die Bedingungen für Praxis nicht allein auf die sozialen Strukturen zurückgeführt werden können, die die Entstehung von Praktiken rahmen. Taylor lehnt in seiner Philosophie der Praxis jede Festlegung auf theoretische Logiken und Gesetzmäßigkeiten zur Beschreibung der Praxis ab. Er weist den Praxistheorien einen Ort jenseits des rationalistischen Subjektivismus und des naturalistischen Strukturalismus zu, weil sich die Praxis nicht verstehen lässt, wenn man sie mit Hilfe von engen, ahistorisch festgelegten Regelsystemen untersucht. (5) Mit Taylor wird zudem deutlich, dass es eine Differenz gibt zwischen den theoretischen Logiken zur Beschreibung der Praxis und der Logik der Praxis selbst: Handlungstheorien, die von nomologisch festgelegten Eigenschaften und Intentionen der sozialen Akteure auf die Logik der Praxisformen schließen, verkürzen das Praxisverständnis ebenso wie Strukturtheorien, die diesen Schluss aus ahistorisch festgelegten Gesetzmäßigkeiten der Sozialität ziehen. Daraus ergeben sich zwei zentrale Leitmotive einer Praxistheorie: Ebenso wie soziale Akteure nicht als voraussetzungslose Individuen mit naturalistischen Eigenschaften defi-
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niert werden können, kann auch die Praxis selbst nicht als voraussetzungsloses Geschehen gefasst werden. Sie ist ebenso wie die sozialen Akteure immer in soziale Strukturen eingebettet. Dies heißt jedoch nicht, dass die Praxis oder die sozialen Akteure ausschließlich durch die sozialen Strukturen determiniert werden, weil sich soziale Strukturen ständig durch Praxis erneuern müssen. (6) Mit Hilfe des Regel-Regress-Arguments Wittgensteins und zentraler diesbezüglicher Aussagen der Praxistheorie Robert B. Brandoms konnte weiter verdeutlicht werden, dass sich die Logik der Praxis, also das, was tatsächlich geschieht, nicht aus theoretischen Regelsystemen ableiten lässt. Wenn nämlich bereits das praktische Befolgen einer Regel die Regel verändert, Regeln sich also nicht endgültig festlegen lassen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Praxis den von der Theorie aufgestellten Regelsystemen anpasst. Dies macht auf die grundsätzliche Problematik aufmerksam, dass eine Theorie der Praxis ein erkenntnistheoretisch reflektiertes Instrumentarium benötigt, um nicht in die Falle einer vorschnellen Gleichsetzung von theoretischer und praktischer Logik zu laufen. (7) Das zentrale, aus den bisher dargelegten Thesen ableitbare Argument einer Theorie der Praxis ist, dass sich soziale Wirklichkeit mit theoretischen Mitteln nicht direkt erschließen lässt und aus diesem Grunde nicht monokausal rekonstruiert werden kann. Deshalb rekurrieren sozialphilosophische Praxistheorien auf Paradigmen, die mit Begriffen wie Kultur, Symbol, Repräsentation und Form bezeichnet werden. Diese Paradigmen berücksichtigen, dass soziale Akteure die soziale Praxis beobachten, bewerten und mit Sinn ausstatten. Diese Deutungen, Bewertungen und Sinnkonstruktionen finden Ausdruck in kulturellen und symbolischen Formen, die zur Analyse der Praxis berücksichtigt werden müssen. Praxis lässt sich also nicht direkt erschließen, weil sie immer bereits mit kulturellen Zusatzdeutungen ausgestattet ist, nämlich mit dem, was Weber den subjektiv gemeinten Sinn genannt hat. Deshalb ist ein wesentlicher Bestandteil von Instrumentarien der Praxistheorien ein kultursoziologisches Element, das sich auf die Analyse der Alltagskultur zur Identifikation von Praktiken und Praxisformen bezieht. (8) Cassirers kulturtheoretisch angelegte Philosophie der symbolischen Formen verdeutlicht schließlich, dass jede wissenschaftliche Theorie der Praxis Objektivierungen vornehmen muss, weil sie sich nur dadurch von Alltagstheorien über die Praxis unterscheidet. Diese Objektivierungen können jedoch im Hinblick auf die zuvor genannten Paradigmen einer Theorie der Praxis nicht in differenzlosen Begriffen formuliert werden, sondern basieren auf relationalen Begriffen, die die Vielschichtigkeit bzw. Mannigfaltigkeit der Praxisformen nicht verdecken, sondern erst sichtbar machen. Während nämlich differenzlose Begriffe darauf abzielen, die Substanz eines Gegenstandes ahistorisch zu bestimmen, um Gegenstände der Forschung als Objekte kategorisieren zu können, zielen relationale Begriffe darauf, den Wirklichkeitsraum, der zwischen den beiden Polen einer Relation vorstellbar ist, für die wissenschaftliche Forschung zu erschließen. Eine relationale Begriffsbildung kann folglich die Ansprüche, die mit dem Praxisbegriff impliziert sind, einlösen, wenn mit ihr eine Soziologie der Praxis entwickelt wird, die sich zur fachspezifischen Konturierung ihres Instrumentariums an den hier herausgearbeiteten Leitvorstellungen der Praxisphilosophie
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orientiert. Auf diese Weise werden die Möglichkeiten und Grenzen einer Objektivierung der Praxis reflexiv. Das umfangreiche Werk Pierre Bourdieus eignet sich als Ausgangspunkt einer so verstandenen soziologischen Theorie der Praxis, weil hier die von mir herausgearbeiteten Einsichten der Praxisphilosophie reflektiert und soziologisiert werden: Bourdieu stellt die Reflexion der Möglichkeiten einer soziologischen Theoriebildung an den Anfang seiner Soziologie, um auf diese Weise eine Theorie der Praxis zu entwickeln, die die Differenz zwischen der Logik der Praxis und der Logik der Theorie handhabbar macht. Diese breit angelegte Theorievorgabe enthält einige wichtige Kernaussagen, hinter die eine praxistheoretisch ausgerichtete Soziologie nicht zurückfallen kann. Die Soziologie Bourdieus muss jedoch an einigen zentralen Punkten präzisiert und systematisiert werden, um die zentralen Paradigmen einer soziologischen Theorie der Praxis bestimmen zu können. Der folgende Abschnitt verfolgt daher die Ziele, die zentralen Schwachpunkte der Praxistheorie Bourdieus deutlich zu machen, um so ihren Kern frei zu legen. Dies schafft die Basis zur systematischen Weiterentwicklung der an macht- und herrschaftssoziologischen Fragestellungen ausgerichteten Praxistheorie Bourdieus zu einer allgemeinen soziologischen Theorie der Praxis.
2.2 Soziologie der Praxis als Analyse sozialer Kämpfe Bourdieu reflektiert in Anlehnung an den von Marx in den Feuerbachthesen formulierten Praxisbegriff die Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion, um eine Soziologie der Praxis zu entwickeln. Im Kontext dieser Reflexion konfrontiert Bourdieu (vgl. 2001) das philosophische Denken mit einer radikalen Kritik an seinen scholastischen Grundlagen, nach denen sich Aussagen über die soziale Welt nur durch tiefes Sinnieren der Philosophen erzielen lassen (vgl. ebd. vor allem S. 28-45).12 Daran konturiert er sein eigenes Erkenntnisprogramm, das jenseits der „scholastischen Vernunft“ (Bourdieu) angesiedelt sein soll. Zudem geht es ihm bereits in seinen frühen Arbeiten um einen Bruch mit der „Spontanphilosophie“, also mit den alltäglichen Bewertungen der sozialen Welt, die, wie Bourdieu behauptet, ihrem Konstitutionsprinzip nach unreflektiert sind (vgl. für viele Textstellen Bourdieu 1974: 36). Sein Versuch der Konstruktion einer neuen, explizit soziologischen Erkenntnistheorie, die das „scholastische Prinzip“ der Philosophie ebenso hinter sich lassen will wie die „Spontanphilosophie“, orientiert sich in einem ersten Schritt an der marxistischen Idee, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur als Praxis verstanden werden kann und dass sie deshalb mit Hilfe der von Marx vorbereiteten Relation zwischen Theorie und Praxis reflektiert werden muss (vgl. etwa Bourdieu 1976: 137; 2002a: 28). Wenn alle soziologische Theoriebildung immer auch als eine spezifische Form von Praxis verstanden wird, ist es notwendig, die Bedingungen für diese soziologische Praxis in die Theoriebildung einfließen zu lassen.
12 Bourdieus Werk ist jedoch nicht als „soziologische Transformation der Praxisphilosophie“, wie Hans Joas (1997) Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung, auf die auch hier gelegentlich zurückzukommen sein wird, bezeichnet hat, zu verstehen. Die Bezüge auf die (Sozial)Philosophie, etwa auf Wittgenstein, sind jedoch in Bourdieus Texten immer wieder deutlich zu vernehmen, auch wenn Bourdieu diese Bezüge nicht immer hinreichend kenntlich macht.
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Die Soziologie ist als Disziplin des akademischen Feldes anzusehen. Deshalb muss sie nach Bourdieu zur erkenntnistheoretischen Fundierung soziologischer Analysen der Praxis eine Meta-Soziologie anstreben, die ihre eigenen wissenschaftlichen Einsichten und Errungenschaften durch epistemologische Wachsamkeit, die durch eine Soziologie der Soziologie entwickelt werden kann, wieder in die wissenschaftliche Praxis einzubringen hat. Zur Durchführung einer so verstandenen Reflexion soziologischer Forschungs- und Erkenntnispraxis, die eine epistemologische Skepsis gegenüber theoretischer Begriffsbildung impliziert, orientiert sich Bourdieu an Relationen, wozu er sich durch Cassirers relationales Denken hat inspirieren lassen.13 Relationales Denken unterscheidet sich von Alltagstheorien über die soziale Welt schon dadurch, dass in Alltagstheorien regelmäßig differenzlose Begriffe verwendet werden, um Stellung zur sozialen Welt zu beziehen, um sie letztlich zu bewerten. Relationales Denken vermeidet diese primär kategorisierende Begriffsbildung, die in der alltäglichen Praxis für bestimmte Zwecke eingesetzt wird. Erst durch diese soziologische Reflexion unterscheidet sich soziologische Erkenntnis von Alltagsvorstellungen über die soziale Welt. Eine derartige soziologische Denkweise kann mit einer Formulierung von Anthony Giddens als „Kunst des Misstrauens“ (Giddens 1999: 4) gegenüber den alltäglich formulierten Gewissheiten über die soziale Welt verstanden werden. Durch die Konstruktion relationaler Begriffe verfremdet die soziologische Denkweise das Alltagsbewusstsein. So löst sie sich von den „vertrauten Routinen unseres alltäglichen Handelns“ (ebd.). Dies kann gelingen, wenn das dem Alltagsbewusstsein Selbstverständliche durch eine Relationierung mit anderen Möglichkeiten prinzipiell als unwahrscheinliche Ausformung der Praxis gefasst wird, obwohl oder gerade weil sich die auf diese Weise reflektierten Praxisformen im Alltag regelmäßig ereignen. Nach Bourdieu muss für die Produktion von wissenschaftlichen Aussagen zusätzlich berücksichtigt werden, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse, die in den erkenntnistheoretisch konstruierten Relationen entstehen – von Bourdieu als „Objektivierungen der sozialen Welt“ bezeichnet –, wiederum symbolische Ausformungen der alltäglichen Wissenschaftspraxis sind, die im akademischen Feld der wissenschaftlichen Produktion von theoretischen Aussagen entstehen. Dazu schreibt Bourdieu: „Eigentlich muss man der ganzen akademischen Tradition der Soziologie mit ständigem Zweifel und immerwährendem Misstrauen begegnen. Daher auch der double bind, der jedem Soziologen, der diesen Namen überhaupt verdient, dauernd droht: Ohne die Denkwerkzeuge, die er von seiner Tradition her hat, ist er nichts, ein bloßer Amateur, ein Autodidakt, ein Spontansoziologe […]; mit diesen Werkzeugen aber schwebt er ständig in Gefahr, Fehler zu machen, riskiert ständig, die naive Doxa des common sense einfach durch die Doxa des akademischen common sense zu ersetzen, die unter dem Namen Wissenschaft einfach nur eine Transkription des Common-sense-Diskurses gibt.“ (Bourdieu 1996: 279f.)
13 Die „relationale Denkweise, die sich ja auch auf Marx berufen kann, [hat] systematischen Ausdruck bei Ernst Cassirer gefunden, dessen Analysen des Denkens der modernen Mathematik und Physik mir geholfen haben, die Grundlagen eines relationalen Denkens in den Sozialwissenschaften zu formulieren.“ (Bourdieu 1993a: 91) Und an anderer Stelle heißt es: „Das Denken in Relationen (eher als in Strukturen), das, wie Cassirer gezeigt hat, das der ganzen modernen Wissenschaft ist […], kann auf die sozialen Wirklichkeiten nur um den Preis eines radikalen Bruches mit der Alltagsvorstellung von der sozialen Welt angewandt werden.“ (Bourdieu 1999: 289f.)
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Bourdieu sieht nun, dass sich das akademische Feld, also der Ort im sozialen Raum, an dem wissenschaftliche Aussagen und Stellungnahmen produziert werden, wie alle anderen Felder auch, durch die hierarchisch zueinander in Beziehung stehenden Positionen auszeichnet, die in ihm umkämpft sind. Der Kampf um Positionen geschieht hier vor allem durch wissenschaftliche Stellungnahmen. Das Denken in differenzlosen Begriffen erscheint Bourdieu als eine bedeutsame Form des scholastischen Prinzips, weil es Stellungnahmen ermöglicht, die allgemeine Gesetzmäßigkeiten postulieren. Eine auf diese Weise der Praxis enthobene Theorie neigt dazu, die Praxis mit Gesetzmäßigkeiten zu erfassen und erzeugt dadurch einen Wahrheitsanspruch, der im wissenschaftlichen Feld zum Kampf um den sozialen Vorteil eingesetzt werden kann. Dies lässt sich am Begriff der Rationalität verdeutlichen: Eine soziologische Theorie, die den Rationalitätsbegriff unreflektiert in monokausaler Weise benutzt, reicht zur Analyse der Praxis nicht aus, weil sie der Analyse von gesellschaftlichen und anderen sozialen Prozessen vor allem dann nicht gewachsen ist, wenn es um das Aufdecken von komplexen Zusammenhängen der Sozialität gehen soll. Einfache, unreflektierte Theorien der Sozialität, die mit monokausalen Denkfiguren arbeiten, wie etwa die Rational Choice Theorie, die aus der ahistorischen Festlegung von Intentionen sozialer Akteure soziale Prozesse kausal erklären will, eignen sich lediglich zur Beschreibung eines sehr kleinen Ausschnittes der Sozialität, etwa wenn sich Entscheidungen, eine sehr spezifische und unwahrscheinliche Form sozialer Praxis, kausal auf ihre Wirkungen hin rekonstruieren lassen. Attraktiv werden solche Theorien dadurch, dass sie Gesetzmäßigkeiten der Sozialität aus ihren differenzlosen Grundannahmen ableiten können, für die ein Absolutheitsanspruch postuliert wird. Für einen bestimmten Ausschnitt der Sozialität lassen sich so Kausalgesetze konstruieren, die jedoch mit dem Anspruch formuliert werden, sie hätten Gültigkeit für alle Formen der Praxis. Die sozialen Gesetze entwickeln sich so zu Formen der Erklärung der Praxis, ohne zu reflektieren, dass sich Praxisformen nicht allein durch diese Gesetzmäßigkeiten erklären lassen. Die so vorgenommene Arbeit an einfachen Erklärungsmodellen entspricht aber der Logik der Praxis des wissenschaftlichen Feldes, in dem es zur Erlangung und Verteidigung der hier zu besetzenden Positionen darauf ankommt, allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung sozialer Prozesse aufzustellen. Ganz ähnlich verfahren deshalb auch Strukturtheorien der Soziologie. Sie leiten aus von ihnen postulierten Strukturen Gesetzmäßigkeiten der Sozialität ab, die im weiteren Verlauf des soziologischen Diskurses naturalisiert werden, um als Erklärungsmodelle verwendet werden zu können. Diese Praxis dient nach Bourdieu aber lediglich der Reproduktion des scholastischen Prinzips und erzeugt kein besseres Verständnis der Sozialität, sondern lediglich eine wissenschaftliche Entfremdung von der sozialen Welt, die als notwendige Abstraktion verklärt wird. Dieses scholastische Praxisprinzip entsteht nicht zufällig. Es ist ein Bestandteil der objektivierten Geschichte und ist deshalb Produkt des Zusammenwirkens von Objektivierung und Habitualisierung wissenschaftlicher Praxisprinzipien, welche die Produktion wissenschaftlicher Aussagen bedingen und sich nur historisch verstehen lassen. Das Prinzip der Wissenschaften ist also nicht die Aufdeckung verborgener Strukturen, sondern eine Kultur der Gelehrsamkeit zu bedienen, die sich nur historisch verstehen lässt. Diesbezüglich belegt Marian Füssel (vgl. 2006) in seiner breit angelegten historischen Studie zur Entstehung der „Gelehrtenkultur“ in der frühen Neuzeit, die sich an Bourdieus Praxisverständnis orientiert,
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wie ritualisierte Praxisformen an den frühneuzeitlichen Universitäten entstehen, die das scholastische Praxisprinzip der akademischen Wissenschaften erzeugen und reproduzieren. Spezielle „Einsetzungssriten“ (Bourdieu 2005b: 111) wie etwa die Promotion, die bis heute dramatisch inszeniert werden, zwingen die Akteure der Wissenschaft dazu, wissenschaftliche Stellungnahmen zu produzieren, die sich durch einen eigensinnigen Sprachstil von den Praxisformen des übrigen Alltags deutlich unterscheiden. Dadurch dass die Akteure bei der Promotionsfeier symbolisch von allen anderen Akteuren unterschieden werden, die sich nicht promovieren können, wird aus ihnen symbolisch eine besondere Form sozialer Akteure. Deshalb spielt bei Einsetzungsritualen, wie Füssel detailliert an mehreren Beispielen aus der frühen Neuzeit nachweist, „die Verleihung bestimmter Zeichen, der signa academica, … eine zentrale Rolle“ (Füssel 2006: 133). Diese Zeichen symbolisieren in Verbindung mit der Dramatisierung ihrer Übergabe die besondere Stellung, die Akademiker im Vergleich zu allen anderen einnehmen und der sie sich jetzt durch ihre Taten als würdig erweisen müssen. Das scholastische Praxisprinzip ist hierfür eine geeignete Form, durch dass sich die Wissenschaftler bis in die Gegenwart im Sprachstil sowie in der Gestik und Mimik von den anderen Akteuren abgrenzen können. Auch wenn Füssel zeigt, dass diese Praxisformen in der frühen Neuzeit noch sehr heterogen umgesetzt werden, kann doch gesagt werden, dass mit der Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaften eine besondere Form der Habitualisierung wissenschaftlicher Akteure entsteht, indem die Gelehrtenkultur als symbolische Praxis inszeniert wird und sich auf diese Weise zu einer alltäglichen Erfahrung der mit Wissenschaft befassten Akteure formt. Dadurch entsteht an den Universitäten ein akademischer Habitus, der sich gerade dadurch auszeichnet, in gelehrter und nicht in alltäglicher Form über die Gegenstände der Wissenschaften zu sprechen, also eine Abstraktion von der übrigen Alltagskultur zu institutionalisieren. Die Praxis der Gelehrsamkeit generiert Routinen im akademischen Feld, so dass die für akademisches Denken konstitutive Abstraktion von der übrigen Alltagskultur nicht mehr mit dem primären Ziel geschieht, die in der Alltagskultur repräsentierte Praxis angemessen zu erforschen. Diese Entfremdung geschieht vielmehr mit dem Ziel, als Wissenschaftler im akademischen Feld bestehen zu können, was den Akteuren des akademischen Feldes nur dann gelingt, wenn sie einen akademischen Habitus inkorporieren. Dieser langwierige und komplexe Prozess der Genese eines akademischen Habitus ermöglicht eine Reproduktion der modernen Wissenschaften in den scholastischen Prinzipien der abstrahierenden Weltentfremdung. Das objektiv betrachtet absurde Prinzip der modernen Wissenschaft, sich von ihrem Gegenstand so weit wie möglich zu entfernen, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu produzieren, kann nur dann zum herrschenden Interesse, zur herrschenden „Illusio“ der wissenschaftlichen Praxis werden, wenn es auf einen akademischen Habitus trifft, der die historische Genese des Prinzips verkennt, indem es zum Bestandteil des praktischen Sinns der Akteure geworden ist. Dann erzeugt das wissenschaftliche Feld seine „eigene Form von illusio im Sinne eines Sich-Investierens, Sich-Einbringens in das Spiel, das die Akteure der Gleichgültigkeit entreißt und sie dazu bewegt und disponiert, die von der Logik des Feldes her gesehen relevanten Entscheidungen zu treffen“ (Bourdieu 1999: 360). Die Illusio als „stillschweigende Anerkennung der Spieleinsätze“ (Bourdieu 1989: 399) ist notwendige Bedingung der Reproduktion des wissenschaftlichen Feldes, weil sie als Spiel-Sinn „die verinnerlichte Form der Notwendigkeit des Spiels“ (ebd.)
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ist. Soziologische Theorien, die mit einem einfachen Erklärungsanspruch auftreten und Naturgesetze der Sozialität aufstellen, sind in Bourdieus Sicht somit nicht mehr als eine wirkmächtige kulturelle Repräsentation des wissenschaftlichen Feldes. Im Kontext derartiger Theorien entsteht eine Doxa des gesunden wissenschaftlichen Menschenverstandes. Sie besteht aus den Leitsätzen, dass der Gegenstand wissenschaftlicher Forschung objektiv erfasst werden kann und dass sich die Welt in Kausalgesetzen rekonstruieren und erklären lässt. Diese Doxa befördert und festigt die Illusio der sozialen Akteure im akademischen Feld und erlaubt so die Bildung des scholastischen Prinzips und mithin eine Reproduktion des wissenschaftlichen Feldes im Kontext des hier vorherrschenden Interesses an der Abstraktion.14 Ähnlich der spontanen Wissenschaft des Alltags ist somit auch die akademische Wissenschaft in der Regel nicht auf sich selbst reflektiert, wenn sie Aussagen produziert. Denn die wissenschaftliche Objektivierung wird nicht daraufhin reflektiert, ob mit ihr der Vollzug der Praxis angemessen analysiert wird. Die Reflexion geschieht vielmehr regelmäßig unter dem Gesichtspunkt, ob sie im wissenschaftlichen Feld zur Mehrung der Anerkennung und damit zur Vergrößerung des sozialen Vorteils eingesetzt werden kann. Deshalb ist eine Soziologie der Soziologie, die dies aufdecken kann, für Bourdieu „ein integraler Bestandteil der Soziologie, und sie ist unentbehrlich für jede Infragestellung sowohl der Illusion des absoluten Wissens, die der Position des Wissenschaftlers inhärent ist, als auch der besonderen Form, die diese Illusion je nach der Position bekommt, die der Wissenschaftler im Raum der wissenschaftlichen Produktion einnimmt“ (Bourdieu 1988b: 273). Für die soziologische Praxistheorie, wie sie Bourdieu vertritt, ist folglich eine Meta-Soziologie der Soziologie die einzige Möglichkeit, die Dispositionen der soziologischen Akteure, die ihre Erkenntnisproduktion in nicht unerheblichem Maße bestimmen, in erkenntnistheoretischer Absicht zu reflektieren. Interessant ist für eine derartige Erkenntnistheorie offensichtlich der Habitus soziologischer Akteure, ihre historisch generierten Dispositionen, die sie als inkorporierte Geschichte in die Forschung unbewusst hineintragen. Dies ist gemeint, wenn sich Bourdieu gegen die scholastische Vernunft wendet, die Erkenntnisse nur durch tiefes Sinnieren über die Welt gewinnt, was für einen typischen und prägenden Ausdruck des historisch gewachsenen und sich ständig reproduzierenden Habitus des modernen Intellektuellen gehalten wird, der sich über die „Illusion der unmittelbaren Erkenntnis“ (Bourdieu) konstruiert. Diese und ähnliche „Präkonstruktionen“ (Bourdieu 1996: 274) der Erkenntnis, „die als unbewusste Konstruktionswerkzeuge fungieren“ (ebd.), müssen erkannt werden. Deshalb muss sich der praktische Sinn hinter der Praxis der Produktion wissenschaftlicher Aussagen durch „epistemologische Wachsamkeit“ auszeichnen.15 Bourdieus „konstruktivistischer Strukturalismus“ versucht diese Wachsamkeit, die sich durch realen, praktischen Zweifel (vgl. Bourdieu 1996: 269ff.) an den tradierten Mitteln
14 Die „praktische Erkenntnis der sozialen Welt [gehorcht] einer Tendenz zum Reduktionismus: Sie greift auf klassifikatorische Etiketts zurück, die soziale Gruppen oder als Gesamtheit verstandene Gruppen von Eigenschaften bezeichnen oder markieren, ohne dabei eine Kenntnis ihrer eigenen Grundlagen einzuschließen.“ (Bourdieu 1988a: 50) 15 „Wird das Universum, in dem Forschung betrieben wird, selbst zum Forschungsgegenstand, lassen sich die dabei gewonnenen Einsichten als Instrumente der reflexiven Erkenntnis der sozialen Bedingungen und Grenzen wissenschaftlicher Arbeit unmittelbar wieder in diese einsetzen – und diese reflexive Erkenntnis macht ein Hauptmoment epistemologischer Wachsamkeit aus.“ (Bourdieu 1988a: 52)
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der soziologischen Erkenntnisproduktion auszeichnet, mit Hilfe einer Objektivierung der wissenschaftlichen Objektivierung zu erreichen, die sich als teilnehmende Objektivierung im Dauerzustand soziologischer und epistemologischer Reflexivität versteht (vgl. Schultheis 2002: 136f.). Bourdieu reicht es dabei nicht, logisch konsistente Theoriegebäude zu errichten, ohne sich „in der Küche der Empirie seine Hände zu beschmutzen“ (Bourdieu zit. n. Wacquant 1996: 61). Denn die theoretische Logik darf nicht mit der praktischen Logik verwechselt werden, weil letztere sich nicht auf die erstere reduzieren lässt.16 Theoretische Aussagen müssen folglich mit empirischen Daten auf den Vollzug der Praxis bezogen werden. Bourdieus Theorieverständnis ist demnach nicht logozentrisch: „Begriffe wie Habitus, Praxis usw. hatten unter anderem die Funktion, daran zu erinnern, dass es ein praktisches Wissen gibt, eine praktische Erkenntnis, die ihre eigene Logik hat, nicht reduzierbar auf die Logik der theoretischen Erkenntnis; dass in gewissem Sinne die Akteure besser über die soziale Welt bescheid wissen als die Theoretiker; und dennoch daran festzuhalten, dass sie nicht wirklich bescheid wissen und dass die Arbeit des Wissenschaftlers darin besteht, dieses praktische Wissen explizit zu machen.“ (Bourdieu 1988b: 275)
Der Ausgangspunkt allen Theoretisierens ist für Bourdieu folglich die empirische Beobachtung der Praxis, deren Vollzug sich in den kulturellen Repräsentationen der Praxis widerspiegelt, die von den sozialen Akteuren ausgehen und reproduziert werden. Die dabei in Schwingung gebrachte Relation zwischen praktischer und theoretischer Logik führt Bourdieu zu den Grundannahmen seiner soziologischen Forschung: „Wie es dem Bild entspricht, das man sich gemeinhin von ihr macht, setzt die Soziologie sich zum Ziel, die verborgensten Strukturen der verschiedenen sozialen Welten, aus denen das gesellschaftliche Universum besteht, und letztlich die für deren Reproduktion verantwortlichen ‚Mechanismen’ zum Vorschein zu bringen.“ (Bourdieu 2004b: 13)
Eine objektivierende Objektivierung kann sich damit allerdings aus den genannten erkenntnistheoretischen Gründen nicht zufrieden geben, weil eine Aufdeckung der verborgenen Strukturen einer logozentrischen Theoriebildung entsprechen würde. Deshalb ist die Erforschung von objektiven Strukturen, die mit einer logozentrischen Theorie systematisch beschrieben werden können, unauflöslich mit der Erforschung habitualisierter Strukturen verbunden, die sich nicht aus einer theoretischen, sondern vielmehr aus einer praktischen Logik speisen. „Ihre ganze explikative [erklärende, F.H.] Kraft und deskriptive Richtigkeit erlangt die Analyse der Strukturen und ‚Mechanismen’ allerdings nur dadurch, dass sie die Ergebnisse der Analyse der Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata miteinbezieht, die die Akteure ... in ihren Urteilen und Praktiken verwenden“ (ebd.).
16„Die Praxis hat eine Logik, die nicht die der Logik ist, und folglich läuft man bei jeder Anwendung der logischen Logik auf die praktischen Logiken Gefahr, die Logik, die man beschreiben möchte, mit Hilfe des Instruments, das man zu ihrer Beschreibung verwendet, zu zerstören.“ (Bourdieu 1998a: 146f.)
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An diesen beiden Aussagen wird deutlich, dass sich Bourdieu zur Entwicklung seiner Erkenntnistheorie aus dem gesamten Fundus der soziologischen Klassik bedient, um dadurch in der Soziologie übliche Dichotomisierungen zwischen Extrempositionen hinter sich lassen zu können. Der Gegenstand seiner Soziologie, das zu objektivierende Objekt, ist „die Relation zwischen zwei Realisierungen des historischen Handelns“ (Bourdieu und Wacquant 1996: 160). Gefragt wird danach, wie innerhalb der Relation zwischen dem Habitus als „Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Körper“ (ebd.) und dem Feld als „Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Sachen oder in die Mechanismen, die gewissermaßen die Realität von physischen Objekten haben“ (ebd.), Praxisformen entstehen. Um eine Theorie der Erzeugungsmodi der Praxisformen zu entwickeln (vgl. Bourdieu 1976: 164), müssen die Praktiken analysiert werden, die in dieser Relation entstehen. Dies kann gelingen, wenn beide Seiten der Relation, Habitus und Feld, analysiert und aufeinander bezogen werden. Erst durch diese Relationierung können die Alltagsvorstellungen über die soziale Welt gehaltvoll in die wissenschaftliche Analyse der Praxis einbezogen werden, weil sie nicht als objektive Wahrheit verklärt, oder als unwissenschaftliche Formen der Welterkenntnis marginalisiert werden. Folglich geht die Praxistheorie mit dem Habituskonzept zunächst vom sozialen Akteur aus, um das Entstehen der Sozialität zu erklären, denn Praxis ist nicht ohne die inkorporierten Dispositionen sozialer Akteure möglich. Das heißt: Die alltäglichen Stellungnahmen und Dispositionen zur sozialen Welt erscheinen in der Praxistheorie als Angelpunkte der Analyse von Praxisformen. Dabei wird gesehen, dass Akteure nicht intentional handeln, sondern an der Entstehung von Praxisformen beteiligt sind. Diese Beteiligung wird durch die Inkorporierung von Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen möglich, die Bourdieu mit dem Habitusbegriff zusammenführt. Akteure inkorporieren Handlungsdispositionen, um bestimmte Formen der Praxis initiieren zu können. Ihre Dispositionen können deshalb keinem außerhalb der Sozialität liegenden Prinzip folgen. Stattdessen versehen die Akteure ihre Aktivitäten mit praktischem Sinn, der nur aus ihren Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen (Habitus) entstehen kann, die sie im Verlauf ihrer Lebenspraxis inkorporiert haben. Das Prinzip der Praxis ist für Bourdieu also weder im Subjekt noch in einem Milieu oder einer anderen sozialen Aggregation zu suchen, die auf den Akteur so etwas wie eine mechanische Kausalität ausübt. Das Prinzip der Praxis liegt nicht in materiellen oder symbolischen Zielen des Handelns, ebensowenig wie es in den Zwängen der Formen der objektivierten Geschichte begründet liegt. Es beruht vielmehr auf einer Relation, „auf dem Zusammenspiel der in Gestalt von Strukturen und Mechanismen ... dinglich objektivierten Geschichte und der in Gestalt des Habitus den Körpern einverleibten Geschichte“ (Bourdieu 2001: 193; vgl. Bourdieu und Waquant 1996: 160; Bourdieu 1976: 165). Erst wenn zwischen diesen beiden Formen der Sozialität „eine Beziehung fast magischer Teilhabe besteht“ (Bourdieu 2001: 193), entstehen Aktivitäten, die Praxis generieren. Während Bourdieu mit der Habitustheorie die Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungsund Handlungsdispositionen als habitualisierte Formen inkorporierter Sozialität fasst, entfaltet er mit Hilfe der Feld- und Raumtheorie den Begriff der objektivierten Sozialität, der von ihm als zweiter Bedingungskomplex der Praxis eingeführt wird.17 Feld meint in Bourdieus
17 Dies ist schon deshalb bemerkenswert, weil Bourdieu unter den Begriff der objektivierten Sozialität, oder, wie er häufiger formuliert, der objektivierten Geschichte neben den objektivierten Relationen zwischen Positionen regelmä-
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Begriffsfassung „ein Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen, die ‚unabhängig vom Bewusstsein und Willen der Individuen‘ bestehen, wie Marx gesagt hat“ (Bourdieu und Wacquant 1996: 127). Die Relationen zwischen den Positionen oder Stellungen in einem Feld erzeugen die „Determinierungen, denen die auf ihnen befindlichen Akteure […] unterliegen“ (ebd.; Hervorh. F.H.). In einer Art „Sozialtopologie“ (vgl. Bourdieu 1985: 9), die die objektive Sozialstruktur thematisiert, werden Felder durch das Eingrenzen der Relationen zwischen den Positionen eines Feldes nicht substanziell, sondern formal als Kräftefelder bestimmt. Die Relationen zwischen den Positionen eines Feldes, die unabhängig von den Dispositionen der sozialen Akteure existieren, bestimmen nach Bourdieu in hohem Maße die Praktiken, die in einem Feld entstehen. Mit diesem Argument stellt Bourdieu die theoretischen Weichen seiner Praxistheorie, denn es führt ihn letztlich zu der für ihn entscheidenden Frage, wie soziale Akteure „relative Positionen in einem Raum von Relationen einnehmen, die, obgleich unsichtbar und empirisch stets schwer nachzuweisen, die realste Realität ... und das reale Prinzip des Verhaltens der Individuen und der Gruppen darstellen“ (Bourdieu 1998: 48; Hervorh.: F.H.). Das heißt: Das „Wirkliche“ der Praxis sind die objektiven Relationen zwischen Positionen des sozialen Raums und seiner Felder (vgl. Wagner 2003: 206). Deshalb wird in der Sicht Bourdieus genau diese Problematik des sozialen Raums in ihm selbst relevant. Die Akteure, deren Habitus entscheidend durch die relationalen Strukturen des sozialen Raums geprägt sein sollen, nehmen dem sozialen Raum gegenüber Standpunkte ein, „die – häufig Ausdruck ihres Willens zu seiner Veränderung oder seinem ursprünglichen Erhalt – von den Positionen abhängen, die sie darin einnehmen“ (Bourdieu 1982: 277). Folglich ist der praktische Sinn der sozialen Akteure für Bourdieu nicht mehr als eine Spiegelung der relationalen Beziehungen der unterschiedlichen Positionen im sozialen Raum, in dem „Stellenwechsel und Ortsveränderungen nur um den Preis von Arbeit, Anstrengungen und vor allem Zeit zu haben sind“ (Bourdieu 1985: 13). Diese unmissverständlichen Postulate, die sich in allen Arbeiten Bourdieus regelmäßig ohne genauere Begründung finden, formen den Anspruch, über die Entwicklung einer neuen soziologischen Erkenntnistheorie eine wissenschaftliche Analyse der Strukturen sozialer Machtdynamik zu ermöglichen, also die ganze Vielfalt der Erscheinungsformen von Macht begreifbar zu machen, indem sie als verborgene Mechanismen der Praxis analysiert werden. Dies gelingt über eine Soziologie des Unterschieds zwischen sozialen Positionen, die die praktische Konstitution von Unterscheidungen (Distinktionen) als Reproduktionsbedingungen von Ungleichheitsstrukturen hervorhebt. Die Praxis erzeugende Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität wird mit anderen Worten deutlich zu voraussetzungsreich an den objektivierten Strukturen des sozialen Raums und seiner Felder entfaltet, indem die objektiven Relationen zwischen sozialräumlichen Positionen als die allein wirksamen Strukturierungsmomente der Praxis festgeschrieben werden. Deshalb sind für Bourdieu die Relationen zwischen sozialen Positionen letztlich die konstitutiven Momente aller Praxis. Dadurch aber, dass die relationalen Positionen, die die Raum- und Feldstrukturen prägen, als das entscheidende Prinzip jeder Praxis vorgestellt werden, erscheinen Praxisßig so unterschiedliche Aspekte wie Dinge (Maschinen, Bücher, Monumente, Gebäude), Sitten, Mechanismen, Regeln und Institutionen subsumiert (vgl. etwa Bourdieu 1997: 28; Bourdieu und Wacquant 1996: 164 und öfter), ohne diese Aspekte gehaltvoll zu entfalten. Darauf wird zur Weiterentwicklung der Praxistheorie unten (2.3.1) noch genauer zurück zu kommen sein.
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formen, die in der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität entstehen, nahezu ausschließlich als Kämpfe um den Erhalt bzw. die Erlangung bestimmter Positionen im sozialen Raum. Dabei wird durchaus gesehen, dass sich der mehrdimensionale soziale Raum nicht nur durch soziale Ungleichheit strukturiert, sondern auch durch die Ausdifferenzierung sachlich unterschiedlicher und durch Beobachtung der Praxis unterscheidbarer Felder, deren Praxisformen jeweils für sich genommen einer ganz spezifischen Logik gehorchen. Das Konzept des sozialen Raums wird mit anderen Worten in der Feldtheorie für spezifische Felder konkretisiert, in denen voneinander unterscheidbare Interessen wirksam sind, die sich in einem spezifischen praktischen Sinn spiegeln. Bourdieu leugnet also nicht das Vorhandensein von in sachlicher Hinsicht unterschiedlichen Feldern (das Feld der Kunst, das akademische Feld, das politische Feld, das ökonomische Feld, das religiöse Feld etc.), begreift diese verschiedenen Kräfte-Felder jedoch ganz im Sinne seiner Grundannahmen zur objektivierten Sozialität in erster Linie als Kampf-Felder, d.h. sie werden bezogen auf die dort wirksamen Mechanismen zur Reproduktion von Ungleichheitsstrukturen untersucht. In den Kräftefeldern herrschen nach Bourdieu unterschiedliche Spielregeln und Spieleinsätze, die sich aus den unterscheidbaren Interessen der einzelnen Felder ergeben. Zur Mitwirkung innerhalb eines Feldes benötigen die sozialen Akteure die Verfügbarkeit über spezifische Formen von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Das Volumen des Kapitals bestimmt die Position, die soziale Akteure in einem Feld einnehmen. Nur dadurch, dass die sozialen Akteure eines Feldes den Spielsinn des Feldes als ihren praktischen Sinn ansehen, kann die Praxis des Feldes kontinuieren. Die sozialen Akteure eines Feldes müssen mit anderen Worten die Regeln des Spiels als legitim ansehen (illusio). Dies geschieht nur deshalb, weil objektivierte Sozialität, hier verstanden als Struktur der Relationen von Positionen in einem Feld, und inkorporierte Sozialität, hier verstanden als Habitus, der sich durch die Teilnahme des sozialen Akteurs an der Praxis des Feldes konstituiert, eine Komplizenschaft eingehen. Darüber hinaus ereignen sich nach Bourdieu die Beziehungen zwischen den Feldern durch die Interdependenzen innerhalb eines Feldes der Macht, das auch als herrschende Klasse beschrieben wird. Hier bestimmen die Interessen an der Wahrung der Definitionsmacht die Formen der Praxis. Jedes Kampffeld höherer Aggregation ist mit diesem Feld der Macht verquickt. Die Macht – verstanden als Fähigkeit zur herrschenden Bestimmung über das Feld – entsteht durch die Praxis der symbolischen Verdoppelung der Sozialstruktur des Kräftefeldes. Symbolische Verdoppelung meint, dass die für eine bestimmte Position relevanten Kapitalien, die sich nach Bourdieu objektiv bestimmen lassen (kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital), mit Hilfe soziokultureller Praktiken bewertet werden, so dass symbolisches Kapital – verstanden als Machtressource – entsteht. Dieses symbolische Kapital zeichnet sich durch allgemeine Akzeptanz aus. Herrschaft in einem Feld legitimiert sich demnach, indem die höheren Positionen symbolisch als legitim definiert werden, so dass sie mit Definitionsmacht ausgestattet sind. Deshalb fragt Bourdieu danach, wie in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, die er als Kampffelder mit unterscheidbaren Interessen bezeichnet, auf der Basis von Ungleichheitsstrukturen symbolische Klassifikationskämpfe
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um Positionen und die Definitionsmacht geführt werden.18 Alle Praxis ist nach Bourdieu folglich auf die Positionen bezogen, die hierarchisch zueinander in Relation stehen. Seine Analysen verdeutlichen und erklären deshalb nicht mehr aber auch nicht weniger als spezifische Machtstrukturen, die sich in unterschiedlichen Feldern dauerhaft reproduzieren. Die Intention der gesamten Praxistheorie Bourdieus ist letztlich auf diese herrschaftssoziologische Frage ausgerichtet, wie er in einem seiner letzten Bücher bekennt: „In der Tat habe ich mich über das, was man das Paradox der doxa nennen könnte, schon immer gewundert. Die Tatsache, dass die Weltordnung, so wie sie ist, mit ihren Einbahnstraßen und Durchfahrverboten, im eigentlichen wie im übertragenen Sinne, ihren Verpflichtungen und Sanktionen grosso modo respektiert wird und dass es nicht zu mehr Zuwiderhandlungen oder Subversionen, Delikten und ‚Verrücktheiten’ kommt [...]. Oder dass sich, was noch erstaunlicher ist, die bestehende Ordnung mit ihren Herrschaftsverhältnissen, ihren Rechten und Bevorzugungen, ihren Privilegien und Ungerechtigkeiten, von einigen historischen Zufällen abgesehen, letzten Endes mit solcher Mühelosigkeit erhält und dass die unerträglichsten Lebensbedingungen so häufig als akzeptabel und sogar natürlich erscheinen können.“ (Bourdieu 2005: 7)19
Diese von Bourdieu hervorgehobene Aussage drückt die Intention und Ausrichtung seiner Form von Praxistheorie sehr genau aus. Bourdieu geht es in jeder Hinsicht um die Frage, wie Macht- und Herrschaftsstrukturen entstehen und sich reproduzieren. Der Machtbegriff wird zum zentralen Begriff der Praxistheorie, weil die objektiven Relationen zwischen Positionen in Feldern des sozialen Raums für Bourdieu hierarchisch zueinander in Beziehung stehen und deshalb letztlich auf Macht beruhen. Obwohl für eine allgemeine soziologische Theorie evident sein sollte, dass nicht alle Praxis über den Machtmechanismus gesteuert wird, orientiert sich Bourdieu dennoch in erster Linie an der Sozialdimension, nämlich an der hierarchisch konstruierten Positionierung der sozialen Akteure zueinander, um das Entstehen von Praxisformen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit und von Herrschaftsverhältnissen zu erklären (vgl. u. a. Kieserling 2004: 129; Nassehi 2004: 172f.; Bohn 2005: 68). Deshalb ist nicht nur die Untersuchung der sachlichen Differenzierung von Praxisformen in der Praxistheorie Bourdieus bisher defizitär, sondern auch die Entfaltung der Praxistheorie zu einer allgemeinen soziologischen Theorie. Fasst man, wie es hier geschehen soll, den Tausch als eine spezifische Praxisform, die sich von Praxisformen der Herrschaft, der sozialen Delegation und anderen unterscheidet, kann eine Konkretisierung der Praxistheorie 18 „Jedes Feld … ist ein Kräftefeld und ein Feld der Kämpfe um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes.“ (Bourdieu 1998c: 20) 19 Diese Intention und Ausrichtung der Bourdieu’schen Praxistheorie ist ein wichtiger Grund dafür, dass sie bisher insbesondere in der deutschen Rezeption nur sehr selten auf andere Praxisformen als die der Macht- und Herrschaftsausübung angewendet wird. Vgl. dazu beispielhaft die Beiträge in Bittlingmayer et al. (2002), die sich ausschließlich auf die Macht- und Herrschaftssoziologie Bourdieus konzentrieren, oder die Studie von Franz Schultheis und Kristina Schulz (2005), die das „Elend der Welt“ (Bourdieu et al. 1997) ohne jeden theoretischen Anspruch für Deutschland kopiert. Richtungweisend für diese typisch deutsche Rezeptionsgeschichte sind die Interpretationen der Praxistheorie Bourdieus als Theorie sozialer Ungleichheit durch Hans-Peter Müller (1992: 238ff.) und Sighard Neckel (1991). Dass die Auseinandersetzung mit der Praxistheorie außerhalb Deutschlands sehr früh durchaus den anderen Weg genommen hat, die Theorievorgaben Bourdieus zu einer allgemeinen soziologischen Theorie zu systematisieren, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Siehe hierzu u. a. die Beiträge in Calhoun et al. (1993). Eine Auseinandersetzung mit der umfangreichen Sekundärliteratur, die Bourdieus Soziologie auch in Deutschland immer deutlicher zu einem Forschungsfeld formt, findet sich bei Hillebrandt (2008b).
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insofern gelingen, als die Entstehung und Reproduktion von sachlich voneinander zu unterscheidenden Praktiken sowie die strukturierende Wirkung dieser Praktiken analysiert und erklärt werden können. Dazu muss die Praxistheorie Bourdieus jedoch an entscheidenden Punkten weiterentwickelt werden, um sie als allgemeine soziologische Theorie zu konturieren, die sich auf alle Formen der Sozialität anwenden lässt. Was ihr dazu fehlt, ist eine exakte begriffliche Bestimmung der Praktiken als elementare Operationen, durch deren Vollzug Sozialität entsteht. Die Voraussetzungen für diese Bestimmung sind zwar in Bourdieus Theorie weitgehend bereits angelegt. Erst die Verengung der Praxistheorie auf Verhältnisse der Unter- und Überordnung von Akteuren, die sich auf bestimmten Positionen in unterscheidbaren sozialen Feldern befinden, verstellt jedoch den Blick auf die Praktiken, die sich nicht primär auf die Sozialdimension der Praxis beziehen lassen. Weil die Theorie Bourdieus mit anderen Worten letztlich „eine Fusion von Sozialität und Macht betreibt“ (Bohn 2005: 67), indem sie den Kampf um bestimmte Positionen allen anderen Formen der Praxis prinzipiell voraus setzt, ist sie in dem Zustand, wie sie uns von Bourdieu hinterlassen wird, zu eng gefasst, um als allgemeine Soziologie angesehen werden zu können. Dieses Manko der Praxistheorie Bourdieus zeigt sich konkret in seiner Verwendung von ökonomischen Begriffen zur Definition des allgemeinen Gegenstandes der Soziologie. In einem Text zur Soziologie der Ökonomie schreibt Bourdieu beispielhaft: „Gut ersichtlich ist daher, dass die Ökonomie derart in das Soziale eingebettet ist, dass man, so legitim für die Analyse benötigte Abstraktionen auch sind, deutlich vor Augen haben muss, dass der wahre Gegenstand einer wahrhaften Ökonomie der Praktiken letzten Endes nichts anderes ist als die Ökonomie der Produktions- und Reproduktionsbedingungen der Agenten und Institutionen ökonomischer, kultureller und sozialer Produktion und Reproduktion, das heißt, der Gegenstand der Soziologie in seiner vollständigsten und allgemeinsten Definition.“ (Bourdieu 2002a: 35; Hervorh. F.H.)
Bourdieus so formulierte Gegenstandsbestimmung generalisiert in gesellschaftstheoretischer Perspektive, für sein Ziel einer Entzauberung von makrosozialen Macht- und Herrschaftsstrukturen schlüssig, das Vokabular der Ökonomie, um es zur Analyse der gesellschaftlichen Kampf- und Kräftefelder – also nicht nur des ökonomischen Feldes – zu respezifizieren (vgl. Kieserling 2004: 128ff.). Mit dieser Übergeneralisierung eines spezifischen Vokabulars, das als eines unter vielen anderen verstanden werden muss, handelt sich Bourdieu das Problem ein, alle Praxis in Konkurrenzbegriffen reformulieren zu müssen. Den an Praxis beteiligten Akteuren wird quasi ontologisch (vgl. Dreyfus und Rabinow 1993: 39) unterstellt, sie würden in jeder Praxis um sozialen Vorteil kämpfen, weil dies die sozialen Feld- und Raumstrukturen, als Formen der objektivierten Sozialität, von ihnen verlangen. Aus dieser agonalen Grundannahme leitet Bourdieu die praxisgenerierenden Eigenschaften inkorporierter und objektivierter Sozialität ab. Praxis erscheint dann als Ökonomie der Praktiken, in der Variabilität und Dynamik nur innerhalb der Grenzen des Kampfes um den sozialen Vorteil vorstellbar sind. Die von Bourdieu untersuchten Praxisformen sind dann
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nichts anderes als Formen dieses Kampfes um den sozialen Vorteil, die soziologische Theorie wird dadurch auf eine „Analytik der Kämpfe“ (Schwingel 1993) reduziert.20 Wichtig ist an dieser Stelle: Hinter dem hier nachgezeichneten Theorieproblem Bourdieus verbirgt sich, so meine These, nichts anderes als die Überbetonung eines Strukturmerkmals der modernen Gesellschaft. Die Grundkonstruktion der Praxistheorie, mit Hilfe der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität das Entstehen von Praktiken und Praxisformen beschreiben und erklären zu wollen, zwingt logisch nicht dazu, Macht- und Herrschaftsstrukturen als Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung zu wählen und dadurch alle Praxis als Kampf beschreiben zu müssen. Werden die beiden Seiten der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität differenzierter gefasst – wie hier im nächsten Abschnitt durchgeführt –, wird sichtbar, dass nicht alle Praxis in Kräftefeldern ausschließlich als ein Kampf um soziale Vorteile verstanden werden kann. Sieht man dies, können die Formen der sozialen Ungleichheit, die die Praxis in Feldern mitbestimmen, ebenso sichtbar gemacht werden, wie die unterschiedlichen Sachbezüge der Praktiken in den unterschiedlichen Kräftefeldern, die sich zu sachlich unterschiedlichen Praxisformen verketten können. Kampffelder erscheinen dann als Praxisfelder, weil sie nicht ausschließlich eine Praxis der Über- und Unterordnung von sozialen Akteuren generieren, sondern als Formen der Sozialität angesehen werden können, die nicht zuletzt auch systematische Verkettungen von Praktiken zu Praxisformen hervorbringen, die sich in sachlicher Hinsicht deutlich voneinander unterscheiden und nicht primär aus Macht- und Herrschaftsverhältnissen heraus entstehen. Dieses sozialtheoretische Potenzial der Praxistheorie, das sich nur erschließt, wenn die Praxistheorie deutlich allgemeiner ansetzt als es in Bourdieus Version geschieht, möchte ich im nächsten Abschnitt zur Vorbereitung einer soziologischen Praxistheorie des Tausches, die den Tausch nicht ausschließlich als Bestandteil der Reproduktion von Macht- und Herrschaftsstrukturen begreift, an der von Bourdieu selbst als grundlegend formulierten Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität herausarbeiten.21
2.3 Praxistheorie als allgemeine soziologische Theorie Zur Weiterentwicklung der soziologischen Praxistheorie Bourdieus zu einer allgemeinen soziologischen Theorie, die sich auf alle Formen der Praxis anwenden lässt, gehe ich in drei Hauptschritten vor: Im ersten Schritt werde ich Praxis als allgemeinen Gegenstand der Soziologie bestimmen. Dazu muss nicht nur die primäre Ausrichtung der Praxistheorie Bour-
20 Dass dies eine wichtige Konsequenz der Wahl eines ökonomischen Vokabulars zur Entwicklung einer soziologischen Theorie ist, wird in der Diskussion der Bourdieuschen Theorie immer wieder herausgestellt. Vgl. speziell dazu Lebaron (2004), der nicht nur die unterschiedlichen Positionen der Diskussion der an der Ökonomie orientierten Begriffswahl durch Bourdieu sehr knapp zusammenstellt (vgl. ebd.: 87f.), sondern auch die Ursprünge dieser Begriffswahl durch Bourdieu an seinen frühen Studien zur Sozialstruktur Algeriens nachzeichnet (vgl. ebd.: 88f.). 21 Bourdieu spricht, wie schon mehrfach dokumentiert, fast immer von inkorporierter und objektivierter Geschichte. Ich bevorzuge hier den Begriff der Sozialität, um den soziologischen Gehalt dieser Unterscheidung deutlicher hervorzuheben. Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass inkorporierte und objektivierte Sozialität als Formen der geschichtlichen Genese und Abspeicherung von Sozialität verstanden werden.
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dieus auf Praxisformen des Kampfes um soziale Positionen relativiert werden. Darüber hinaus bedarf es dazu einer grundlegenden Bestimmung der Sozialität als emergente Verkettung von Praktiken zu Praxisformen (2.3.1). Daran anschließend verdeutliche ich, wie mit Hilfe der von Bourdieu eingeführten Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität die Genese von Praktiken und Praxisformen theoretisch bestimmt werden kann und welches sozialtheoretische Potenzial diese Bestimmung birgt. Dies erlaubt die genauere, nicht auf die Praxisform des Kampfes verengte Charakterisierung dessen, was als Praxis bezeichnet wird, also eine modifizierte Gegenstandsbestimmung der Soziologie (2.3.2). Im dritten Hauptschritt werde ich die so vorgenommene Gegenstandsbestimmung einer Soziologie der Praxis kultursoziologisch fundieren, weil dies die theoretische Identifikation von Praktiken ermöglicht. Dazu muss der Begriff des praktischen Sinns methodisch konturiert werden, indem er mit dem Begriff der symbolischen Form systematisch auf die zuvor diskutierte Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität bezogen wird (2.3.3).
2.3.1
Praxis als Gegenstand der Soziologie
Die allgemeine Theoriefähigkeit der soziologischen Praxistheorie erweist sich als erstes darin, ob sie den Gegenstand der Soziologie in neuer, andere Theorieangebote übertreffender Weise begrifflich fassen kann. Die Frage ist, ob eine praxistheoretische Gegenstandsbestimmung möglich ist, die dem Anspruch gerecht werden kann, den Unterschied zwischen der Logik der Praxis und der Logik der Theorie zu reflektieren und gleichzeitig theoretische Aussagenzusammenhänge über die Praxis zu ermöglichen, die nicht auf Macht- und Herrschaftsstrukturen der Sozialität begrenzt sind. Zur Bestimmung des allgemeinen Gegenstandes der Soziologie definiert Anthony Giddens, neben Bourdieu der einflussreichste Vertreter einer am Begriff der Praxis orientierten Soziologie, Handeln „als den Strom tatsächlichen oder in Betracht gezogenen ursächlichen Eingreifens von körperlichen Wesen in den Prozess der in der Welt stattfindenden Ereignisse“ (Giddens 1984: 90; Hervorh. weggelassen), und stellt fest, dass ein so gefasster Handlungsbegriff „direkt mit dem Begriff der Praxis verbunden“ (ebd.) ist. Denn von Giddens so genannte festgelegte Handlungen sind für ihn „menschliche Praktiken als eine fortlaufende Reihe ‚praktischer Tätigkeiten’“ (ebd.). Mit dieser Definition macht Giddens auf die Notwendigkeit aufmerksam, ein Verständnis der elementaren Ereignisse der Sozialität jenseits des Handlungsbegriffs zu entwickeln. Der Handlungsbegriff wird von Giddens zwar beibehalten, er relativiert ihn aber dadurch, dass er die Letztelemente der Sozialität als Praktiken fasst, die sich als Ereignisse miteinander verketten. In letzter Konsequenz, die Giddens in seiner Definition nicht eingeht, kann Sozialität generell als Praxis bestimmt werden, um so jeden, auch impliziten Essentialismus von Handlungstheorien zu vermeiden. Dies erlaubt eine Bestimmung der Praxis als emergente Verkettung von Praktiken, wie von Giddens angedeutet, und macht es zudem obsolet, die soziologische Praxistheorie durch die Verwendung eines ökonomischen Vokabulars auf eine macht- und herrschaftszentrierte Definition der Praxis zu begrenzen, wie es Bourdieu suggeriert. Deshalb kann im Anschluss an Bourdieu und Giddens als Grundthese der praxistheoretischen Soziologie festhalten werden, dass sich die Entstehung und Reproduktion der Praxis nicht auf ein extrasozietales Prinzip zurückführen lässt. Durch diese Festlegung
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möchte ich die Praxistheorie von anderen prominenten Ansätzen in der Soziologie unterscheiden, die sich zur Bestimmung der Sozialität auf Prinzipien wie Rationalität, Intentionalität oder allgemeine Gesetzmäßigkeiten beziehen, die nicht Bestandteil der Sozialität selbst sind. Dagegen vertritt die Praxistheorie in der erkenntnistheoretischen Bestimmung des Gegenstandes der Soziologie als Praxis die wissenschaftstheoretisch begründete Ansicht, dass sich Praktiken nur in Referenz auf Praktiken bilden können und dass die operative Verkettung dieser Letztelemente der Sozialität zu Praxisformen nur verstanden werden kann, wenn die Gründe für diese Verkettungen in den Beschaffenheiten der Sozialität selbst gesucht werden. Die Sozialität wird folglich als eine Realität sui generis begriffen, die sich aus sich selbst heraus strukturiert und eigenen Strukturierungsprinzipien unterliegt. Der unverkennbare Akteurbezug der Praxistheorie spricht zunächst gegen diese Gegenstandsbestimmung der Soziologie als emergente Verkettung von Praktiken. Denn Akteure und ihre Dispositionen werden in der soziologischen Akteur- und Handlungstheorie etwa des methodologischen Individualismus konstitutiv nicht als Bestandteile, sondern als extrasozietale Bedingungen der Sozialität gesehen, wobei der allgemeine Gegenstand der Soziologie als „die fortlaufende wechselseitige Konstitution von sozialem Handeln und sozialen Strukturen“ (Schimank 2000: 9; Hervorh. weggelassen) definiert wird. Handeln wird mit beabsichtigtem Handeln gleichgesetzt und sinnhaftes Handeln steht als Begriff für das beabsichtigte Ergebnis des Handelns. Der Ursprung der Zwecke des Handelns wird anthropologisch als gegeben vorausgesetzt, indem unterstellt wird, Akteure handeln, um bestimmte, ihnen bewusste Ziele zu erreichen, die ihren Nutzen mehren, und wählen die Mittel des Handelns dementsprechend aus. Es wird nicht geprüft, wie Handlungsdispositionen entstehen. Absichten, Gründe und Motive des Handelns werden aus essenziell festgelegten Intentionen des Handelns deduktiv abgeleitet, indem Rationalität zur Mehrung des individuellen Nutzens als das leitende Prinzip jeder Handlung vorausgesetzt wird. Die Handlungsintentionen werden ahistorisch bestimmt, sie erscheinen als etwas, dass dem Handeln ursächlich vorausgeht. Soziologische Theorie gerät so schnell zu einer Theorie der Wahlhandlungen, die dann ausschließlich damit beschäftigt ist, Handlungs-Phänomene, die nicht mit dem Rationalitätsmodell erklärt werden können, in die Theorie der Rationalität einzuordnen, indem Theoretiker der rationalen Handlungswahl, wie etwa Hartmut Esser (vgl. exemplarisch 2001: 162f.), mit Begriffen wie „Frames“, „Habits“ oder „Scripts“ die Bedingungen für das Wahlhandeln der Akteure komplexer im Hinblick auf die je subjektive Nutzenerwartung modellieren, ohne, was überzeugender wäre, das die Theorie leitende Rationalitätsprinzip aufzugeben (vgl. Wahl 2000: 134ff.; Hitzler 2006: 232). Wenn der Rationalitätsbegriff gegen alle Plausibilität gerettet werden soll, ist der Ausweg oft nur noch mit Hilfe von anthropologischen Grundannahmen, die für eine soziologische Theorie deutlich zu viel voraussetzen, zu haben, wie die folgende Aussage Jon Elsters (1987: 140), die in diesem Zusammenhang für sich selbst spricht, beispielhaft zeigt: „Um das spezifisch Menschliche vollständig zu charakterisieren, bedarf es wenigstens dreier Merkmale. Der Mensch kann rational sein, in dem Sinne, dass er bewusst auf jetzige Gratifikationen zugunsten zukünftiger verzichtet. Der Mensch ist oft nicht rational und zeigt stattdessen Willensschwäche. Auch wenn der Mensch oft nicht rational ist, weiß er, dass er irrational ist, und kann sich selbst binden, um sich vor der Irrationalität zu schützen.“
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Die Rationalität wird ahistorisch als anthropologische Eigenschaft sozialer Akteure bestimmt. Eine an derartigen Grundannahmen orientierte Handlungstheorie ist lediglich in der Lage, einen sehr kleinen Ausschnitt der Praxis einigermaßen plausibel zu beschreiben, nämlich Praxisformen, die sich auf den Modus der Reflexion gründen (vgl. Giddens 1984: 193). Erst wenn Akteure gezwungen sind, ihre Handlungen zu reflektieren, werden sie ihre Handlungsmotive und -intentionen eingrenzen, oder besser konstruieren, indem sie ihren Handlungen Rationalität unterstellen, die sich in der effektiven Erreichung der Ziele ihrer vermeintlichen Wahlhandlungen niedergeschlagen haben soll. Einzelne Handlungsschritte werden retrospektiv unter dem Gesichtspunkt der Effizienz der Zielerreichung ausgewählt und in eine logische Beziehung zueinander gestellt. Dies geschieht etwa dann, wenn Akteure danach gefragt werden, wie sie einen bestimmten Beruf ergriffen haben, oder warum sie sich in diesem Moment an einem bestimmten Ort befinden. Soziologische Handlungstheorien verfahren zur Rekonstruktion von Sozialität ganz ähnlich wie Akteure in derartigen Situationen, indem sie Handlungen aus der Perspektive eines von den Akteuren erreichten Ziels betrachten und daraus schließen, dass in effizienter Weise Handlungen miteinander verkettet worden sind, um dieses Ziel zu erreichen. Der Handlungsmodus der Reflexion wird folglich retrospektiv auf die sich im Zeitverlauf ereignenden Handlungen angewendet, ohne zu sehen, dass die Verkettung der einzelnen Akte, die vom Theoretiker unter dem Gesichtspunkt der Zielerreichung sozialer Akteure selektiv ausgewählt und als Entscheidungen der sozialen Akteure beschrieben werden, auch anderen Prinzipien als dem der Rationalität und der Entscheidungsalternative gehorcht haben könnte. Eine Praxistheorie wird sich deshalb nicht an einem ahistorisch und differenzlos gefassten Begriff der Rationalität orientieren, sie wird vielmehr versuchen, auch die Analyse des Handlungsmodus’ der Rationalität vom Essentialismus zu befreien, indem sie die Genese rationaler Praxisformen analysiert und auf die Situationen der Praxis bezieht, in denen diese Praxisformen regelmäßig zustande kommen. Dann wird schnell deutlich, dass Rationalität eine Praxisform ist, die sich nur in ganz spezifischen Feldstrukturen, nämlich vorrangig in Organisationen und anderen Bereichen der Erwerbsarbeit bildet, in denen eine Reflexion der Praxis institutionalisiert ist. Hier werden Verkettungen der Praxis regelmäßig als rational beschrieben, obwohl selbst in diesen Zusammenhängen evident ist, dass eine rationale Verkettung von Praktiken zur Durchsetzung bestimmter Ziele unmöglich ist (vgl. hierzu Pfeiffer 2004: 173ff.). Ein an Substanzbegriffen orientiertes Akteurkonzept wird folglich die Aufgabe nicht lösen können, Handlungsfolgen, die regelmäßig von bestimmten Akteuren als rational und reflexiv beschrieben werden, als eigenartige, höchst seltene Formen der Praxis im Vergleich zu anderen Praxisformen zu analysieren, weil hier ein vermeintlicher Operationsmodus der Praxis, nämlich Rationalität, als Handlungsprinzip generalisiert wird, um eine zwar schlüssige, aber, wie mit der Praxistheorie gesagt werden muss, praxisferne Theorie der Sozialität zu konstruieren, weil die Logik einer ganz bestimmten, am Rationalitätsprinzip orientierten Theorie mit der Logik der Praxis kurzerhand gleichgesetzt wird.22 22 Soziologische Handlungstheorien in der Spielart des methodischen Individualismus’ versuchen durch die Typologisierung von Akteur-Arten, die als Akteurmodelle beschrieben werden, dieses Theorieproblem zu lösen (vgl. hierzu einführend Schimank 2000 passim). Homo sociologicus, homo oeconomicus, emotional man und Identitätsbehaupter (so die Palette Schimanks) werden modellhaft konstruiert, ohne das Problem der essentialistischen Begriffsbildung
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Der Akteurbegriff der Praxistheorie wendet sich gegen diese Form der Begriffsbildung, die in den prominentesten Akteur- und Handlungstheorien der Soziologie gepflegt wird: Mit Hilfe des Bourdieu’schen Habituskonzepts lässt sich die Akteurtheorie soziologisieren, indem Akteure als „sozialisierte Körper“ (Bourdieu 2005: 18; 1997: 64; vgl. Bourdieu 1987: 135) begriffen werden, deren Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsdispositionen (Habitus) als Bedingungen für die Entstehung von Praktiken nur aus der Sozialität, also aus der Praxis selbst entstehen können. Die inkorporierte Sozialität des Habitus, die sich im Körper von Akteuren, oder in den, wie es an anderer Stelle heißt, „biologischen Individuen“ (Bourdieu und Waquant 1996: 160), manifestiert, ist in der Praxistheorie als Effekt der sozialen Dynamik gefasst. Denn die Geschichte der Sozialität wird nicht nur in den Institutionen, Positionen, Relationen und Dingen objektiviert. Sie wird zudem von den sozialen Akteuren inkorporiert, so dass sich unterschiedliche und unterscheidbare Habitusformen als strukturierende Hintergrundstrukturen der Praxis bilden, die die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen der Akteure bestimmen. Akteure verfügen daher nicht, wie es Handlungstheorien in unterschiedlicher Weise immer wieder betonen, über ein Handlungsrepertoire, das ahistorisch in ihnen angelegt ist. Sie sind zur Bildung ihrer Dispositionen, die nicht als geschichtslose Intentionen gefasst werden, konstitutiv auf die Sozialisation durch die Praxis angewiesen. Bourdieu betont diesen Umstand, um die Bedingungen für die Entstehung von Praktiken und Praxisformen nicht nur in den Feld- und Raumstrukturen, sondern auch in den Akteurstrukturen zu finden (vgl. Bourdieu 1987: 127). Dies ist der tiefere Sinn der bereits oben ausgeführten Relationierung zwischen objektivierter Sozialität (Feld) und inkorporierter Sozialität (Habitus) durch Bourdieu. Mit dieser Relation umgeht und überwindet die Praxistheorie, hier der Luhmannschen Systemtheorie sehr ähnlich, eine handlungstheoretische Bestimmung der Sozialität, indem nicht Handlungen, sondern Praktiken als Letztelemente bestimmt werden, die sich nur aus der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität bilden können. Diese Praktiken gelten einer generellen Theorie sozialer Praktiken (vgl. Reckwitz 2003) nicht als intentionale Handlungen.23 Die Praxistheorie strebt als soziologische Theorie keine Analyse der geistigen, mentalen oder psychischen Welt oder der ahistorisch geltenden Strukturen der Sozialität an. Für eine Analyse sozialer Praktiken, die eine Erklärung der Verkettung von Praktiken zu Praxisformen einschließt, rekonstruiert die Praxistheorie kulturelle Schemata, Artefakte und Wis-
damit zu lösen. Denn in allen Modellen erscheint der Akteur als Nutzenmaximierer. Aus dieser Annahme werden im Kontext der deduktiven Methode Eigenschaften der Akteure abgeleitet, die dann als ursächliche Bedingungen für bestimmte Handlungen festgelegt werden. Einen anderen, meines Erachtens deutlich mehr versprechenden Vorschlag zur Weiterentwicklung der Handlungstheorie unterbreitet Hans-Joachim Schubert. Zunächst ohne ein einheitliches Akteurkonzept vorauszusetzen, stellt er die verschiedenen Typen des Handelns – strategisches, normorientiertes, wertorientiertes, kommunikatives und kreatives Handeln –, die in den unterschiedlichen Theorieansätzen der Soziologie verwendet werden, tabellarisch zusammen (vgl. Schubert 2006: 294), um dann zu untersuchen, welche Erklärungskraft sie im Hinblick auf die Analyse der gesellschaftlichen Integration und des sozialen Wandels entfalten können. Dabei wird allen fünf Handlungstypen ein gleich hohes Gewicht zur Analyse der Sozialität zugeschrieben. 23 Eine in Deutschland einflussreiche, voluntaristische Interpretation der Praxistheorie findet sich bei Axel Honneth (1990b), der seine Interpretation an der Verwendung von „ökonomischen Zentralbegriffen“ (ebd.: 179) durch Bourdieu festmacht. Dabei verkennt Honneth die hier von mir dargelegten Argumente, die Bourdieu dazu bewegen, seine Sozialtheorie gerade nicht als Handlungstheorie, sondern als Praxistheorie zu formulieren. Unklar ist diesbezüglich auch die Auseinandersetzung mit Bourdieu durch Hans-Peter Müller (vgl. 2005), der zwar von Handlungen als Letztelemente des Bourdieu’schen Praxisverständnisses spricht, Bourdieus Theorie aber als „Praxeologie“ bezeichnet.
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sensordnungen, die als mental verankerte, von körperlich vorfindbaren Akteuren inkorporierte Deutungsmuster interpretiert werden. Die den Akteuren äußerlichen kulturellen Muster haben eine Bedeutung nur dadurch, dass ihnen innerhalb körperlich-mentaler Praktiken der Produktion und Rezeption, die als soziale Praxisformen gefasst werden müssen, Bedeutungen zugeschrieben werden. Nicht die vorgebliche Intentionalität von sozialen Akteuren, sondern die praktisch relevante Produktion von kulturellen Repräsentationen sowie die praktisch relevante Rezeption kondensierter Kulturmuster durch mit Habitus ausgestatteten Akteuren gelten als wichtige Rahmenbedingungen der Entstehung und dynamischen Reproduktion von Praktiken. Nur durch die Beobachtung dieser Elementarteilchen der Sozialität erschließt sich die Praxis konstitutierende kulturelle und symbolische Komponente einzelner Praktiken. Mit diesem Argument wird die Emergenz sozialer Praktiken betont, deren Entstehungs- und Reproduktionsbedingungen sich nicht in einer körperlich-mentalen Umwelt der Praxis befinden (vgl. ähnlich Reckwitz 2003: 289). Praktiken gelten der Praxistheorie somit als Ereignisse, die operativ aufeinander bezogen sind und in ihrer regelmäßigen Verkettung als Praxisformen gefasst werden. Sozialisierte, mit Habitus ausgestattete, in vielfältiger Form zueinander positionierte Akteure müssen in dieser Theorieanlage als ein Bedingungsgeflecht der Praxis gefasst werden. Akteure sind deshalb der Praxis nicht ursächlich voraus gestellt, sie sind als mit Habitus ausgestattete Körper Komponenten der durch die Praxis selbst hervorgebrachten Bedingungsstrukturen der Entstehung und Verkettung von Praktiken. Die Sozialität gehorcht somit keinen Gesetzen, die außerhalb der Sozialität gesucht und gefunden werden können. Die praxistheoretische Akteurperspektive, die eine Sensibilität für den praktischen Sinn der Akteure voraussetzt, lässt sich folglich mit den Prinzipien einer allgemeinen soziologischen Theorie vermitteln, die Sozialität als Realität sui generis begreift.24 Im Kontext einer so präzisierten Gegenstandsbestimmung der Praxistheorie lässt sich jetzt fragen, welche Praxisformen sich als spezifische Formen der Verkettung von Praktiken identifizieren lassen, wie Praktiken, die sich in sachlicher Hinsicht unterscheiden, gehaltvoll
24 Hier sehe ich (vgl. Hillebrandt 2006a) den Ansatzpunkt für ertragreiche Vermittlungschancen zwischen der Theorie autopoitischer sozialer Systeme Luhmanns und der Praxistheorie: „Der mangelnde Akteurbezug systemtheoretischer Erklärungen gesellschaftlicher Differenzierung“ (Schimank 1985), der bereits früh angemahnt wurde, lässt sich mit Hilfe einer Korrespondenz der Systemtheorie mit der Praxistheorie in neuer Weise thematisieren. Während eine am nomologisch begründeten Rationalitätskonzept ausgerichtete Kritik an Luhmanns These von der Irrreduzibilität der Sozialität im Kontext der systemtheoretischen Begrifflichkeiten zwangsläufig ins Leere laufen muss, weil sich keine adäquaten Anschlussstellen handlungstheoretischer Akteurkonzepte im Theoriesystem Luhmanns finden lassen, lässt sich der Akteurbezug der Praxistheorie, der auf der Basis der These von der Sozialität als Realität sui generis formuliert wird, mit der Systemtheorie vermitteln. Was spricht dann noch dagegen, die Frage zu stellen, welche Formen sozialisierter Körper benötigt werden, damit die Funktionssysteme sich reproduzieren können? Was spricht dann noch dagegen, einen Blick auf die Praxisformen der Funktionssysteme zu werfen, die sich, was auch die Theorie autopoitischer sozialer Systeme kaum bestreiten kann, nur dann reproduzieren können, wenn es Akteure gibt, die der funktionssystemspezifischen Praxis einen praktischen Sinn abgewinnen können? Durch solche, praxistheoretisch gestellte Fragen lässt sich die fasst schon leidenschaftliche Ablehnung empirischer Forschung durch Luhmann relativieren, weil sich beispielsweise die empirische Forschungsfrage aufwerfen lässt, inwiefern die von Luhmann theoretisch konsistent konstruierten Funktionssysteme tatsächlich die Lebenswirklichkeit der sozialen Akteure bestimmen (vgl. hierzu erste Überlegungen bei Burzan und Schimank 2004). Über eine so verstandene Vermittlung zwischen Luhmann und Bourdieu lassen sich die zwei Soziologien der vertikalen und horizontalen Differenzierung (vgl. dazu u. a. die Beiträge in Schwinn 2004 sowie als Zusammenfassung Hillebrandt 2001), also die Ungleichheitstheorie und die Theorie sozialer Differenzierung, in einer Weise miteinander vermitteln, die zum Vorteil für die soziologische Theoriebildung ist.
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beschrieben und analysiert werden können und wie beispielsweise Praxisformen des Tausches in sachlicher Hinsicht von Praxisformen der Herrschaft unterschieden werden können. Durch die Bearbeitung derartiger Fragen lassen sich oft herausgestellte Erklärungsdefizite der Bourdieuschen Praxistheorie bewältigen, die sich vor allem darauf beziehen, dass ihr bisher ein angemessenes Konzept der sachlichen Differenzierung von Praxisformen weitgehend fehlt. Eine auf dieses Problem ausgerichtete Erweiterung der Praxistheorie kann gelingen, wenn in praxistheoretischen Gesellschaftsanalysen die nicht zu verkennenden Einflüsse der sachlichen Differenzierung von Praxisformen auf die Entstehung und Reproduktion von sozialen Praktiken angemessen und systematisch als Entstehungs- und Reproduktionsbedingen der Praxis berücksichtigt werden. Für die allgemeine soziologische Theoriebildung ist an der hier entwickelten Gegenstandsbestimmung der Soziologie als Praxis, die in der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität entsteht, von zentraler Bedeutung, dass mit ihr eine auf differenzlosen Begriffen fußende Theorie, die Sozialität substanziell bestimmen will, vermieden wird.25 Das relationale Denken erlaubt eine Konzeption der Praxis als dynamische Verkettung von Praktiken, die sich als aufeinander rekurrierende Ereignisse bilden müssen, damit Praxis entstehen und sich reproduzieren kann. Diese Bestimmung der Praxis als Realität sui generis wird dabei nicht, wie es in der Gegenstandsbestimmung der Soziologie als Kommunikation durch die Luhmannsche Systemtheorie geschieht, mit dem Fallenlassen des Akteurkonzepts bezahlt. Die klassische, mindestens bis auf Durkheim zurückverfolgbare Emergenzthese der Soziologie, dass sich Sozialität nur aus der Sozialität heraus erklären lässt, wird durch die Relationierung von inkorporierter und objektivierter Sozialität neu formuliert und verliert dadurch ihren oft kritisierten tautologischen Charakter (vgl. etwa Bohnen 1994). Denn durch die Kopplung einer relationalen Begriffsbildung an den Praxisbegriff wird es möglich, die Akteurperspektive innerhalb einer Emergenzthese und dadurch jenseits der Handlungstheorie neu zu formulieren. Obwohl Sozialität, also Praxis, als eigenständige Ebene der Realität beschrieben wird, werden die Akteure nicht zu bloßen Zuschauern sozialer Prozesse degradiert, sondern sind in aktiver Weise an der Entstehung von Praktiken als Letztelemente der Sozialität beteiligt, eben weil sie als sozialisierte Körper mit Habitus selbst Produkte der Praxis sind. Mit einer solchen Theorieanlage können die in der Praxisphilosophie formulierten Ansprüche an den Begriff der Praxis, wie sie oben hergeleitet sind, auch in einer Soziologie der Praxis eingelöst werden. Denn die schon von Marx formulierte Differenz zwischen einer Theorie über die Praxis und der Praxis selbst, die von Castoriadis hervorgehobene Dynamik und imaginäre Sinngebundenheit der Praxis, die von Taylor hergeleiteten kulturtheoreti25 Mustafa Emirbayer (1997: 281f.) unterscheidet zwischen relationalen und substanziellen Ansätzen in der Soziologie und hält diese Kategorisierung für das Hauptunterscheidungsmerkmal gegenwärtiger soziologischer Theorien: „Sociologists today are faced with a fundamental dilemma: whether to conceive of the social world as consisting primarily in substances or in processes, in static ‚things’ or in dynamic, unfolding relations. […] The key question confronting sociologists in the present day is not ‘material versus ideal’, ‘structure versus agency’, ‘individual versus society’, or any of the other dualisms so often noted; rather, it is the choice between substantialism and relationalism.” Substantialismus findet sich nach Emirbayer (vgl. ebd.: 281) unter anderem in Theorien des rationalen Akteurs sowie in normativen, holistischen und strukturalistischen Theorien. Bourdieu und Luhmann werden von Emirbayer (vgl. ebd.: 287f., FN 8) beide zu Recht als relationale Theorien gesehen, die sich zur Analyse der Sozialität relationaler Begriffe bedienen, um Sozialität als einen sich selbst strukturierenden Prozess fassen zu können.
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schen Einsichten in die Sinnproduktion der sozialen Akteure, die aus dem Regel-RegressArgument Wittgensteins abgeleitete Einsicht in die Grenzen der Festlegung von theoretischen Gesetzmäßigkeiten sowie das daraus ableitbare Paradigma, dass sich die Formen der Praxis nicht direkt, also monokausal erschließen lassen, sondern immer mit der Interpretation der von Akteuren produzierten Sinngehalte verbunden sind, können in soziologische Paradigmen überführt werden. Denn wenn die Sozialität als Praxis definiert wird, die in der Relation zwischen sozialisierten Akteuren mit Habitus und objektivierten Formen der Sozialität entsteht, wird der sozialphilosophische Praxisbegriff soziologisiert, was eine Gegenstandsbestimmung der soziologischen Wissenschaft ermöglicht, die sich gegen die weit verbreitete Vorstellung wendet, Sozialität lasse sich mit der Verwendung von kategorisierenden Begriffen, die nicht relational gewonnen werden, hinreichend genau bestimmen. Mit der Verwendung von relationalen Begriffen zur Bestimmung von Sozialität lässt sich dagegen erkennen, dass Praxis nur als Prozess verstanden werden kann, dass jede Praxis also dynamisch ist und kategorisierende Begriffe deshalb ungeeignet sind, Praxis zu erfassen. Die Letztelemente der Sozialität, Praktiken, werden formal definiert, ohne dabei, wie es in der soziologischen Systemtheorie geschieht, das Akteurkonzept ersatzlos fallen zu lassen, oder, wie es in handlungstheoretischen Ansätzen geschieht, aus essenziell festgelegten Eigenschaften von sozialen Akteuren direkt auf die Formen der Sozialität zu schließen. Dem gegenwärtigen soziologischen Theorieprogramm steht damit eine Definition der Letztelemente der Sozialität zur Verfügung, die die Stärken unterschiedlicher Ansätze der soziologischen Theoriebildung – etwa der Systemtheorie und der Handlungstheorie – in sich vereint, indem sie deren Schwächen überwindet. Denn Praktiken sind zum einen, wie die Luhmannschen Kommunikationselemente sozialer Systeme, rekursiv aufeinander bezogen, weil sie nur in Verkettung mit bereits geschehenen Praktiken entstehen, und sie sind zum anderen, wie die sozialen Handlungen der soziologischen Handlungstheorien, eng mit sozialen Akteuren verwoben, deren durch die Praxis erzeugten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsdispositionen als wichtige Bedingungen der Entstehung von Praktiken angesehen werden müssen. Mit einem so verstandenen, soziologischen Praxisbegriff werden die Verkürzungen der Handlungs- und Strukturtheorien überwunden, weil Praxis als Verkettung von Praktiken zu Praxisformen verstanden wird. Praktiken sind folglich zuerst Ereignisse, deren Entstehung zwar auf Akteureigenschaften und Struktureigenschaften zurückgeführt wird. Diese Eigenschaften werden jedoch nicht wie in der Handlungstheorie oder in einer Strukturtheorie substanziell, sondern relational bestimmt. Inkorporierte und objektivierte Sozialität sind konstitutiv zwei Seiten einer Relation, deren eine Seite nicht ohne die andere Seite vorstellbar ist. Darüber hinaus sind beide Seiten dieser Relation jeweils nur in Relation zur aktuellen Praxis denkbar, die wiederum zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität entsteht. Denn nur in aktualisierter, momentan sich ereignender Praxis sind bestimmte, für das Entstehen von Praktiken benötigte Aspekte objektivierter und inkorporierter Sozialität relevant. Folglich ist in letzter Konsequenz das relationale Bedingungsgeflecht zwischen inkorporierter Sozialität, aktuellen Praktiken und objektivierter Sozialität das Thema einer praxistheoretisch ausgerichteten Soziologie. Dies soll die Abbildung 1 veranschaulichen.
2 Praxistheorie Abbildung 1:
57 Die Dynamik der Praxis26
In diesem komplexen Bedingungsgeflecht müssen prinzipiell alle Bestandteile variabel gesetzt werden, um Verkürzungen in der Bestimmung von Praktiken, die sich zu Praxisformen verketten können, zu vermeiden. Nicht nur die Praxisformen, sondern auch die Bedingungen für die Entstehung von Praxisformen können so in hohem Maße dynamisch modelliert werden, was den Eigenschaften der Sozialität am ehesten gerecht zu werden vermag. Folglich stellt sich im Paradigma eines soziologischen Praxisbegriffs das zentrale Problem jeder soziologischen Theoriebildung wie folgt: Praxis ist zum einen eingebettet in soziale Strukturen, sie geschieht nicht voraussetzungslos. Zum anderen ist Praxis aber nicht als Apparatur zu verstehen, die sich immer in gleicher Weise, also deterministisch reproduziert, denn sie ist mit Akteuren verknüpft, die sich nicht als mechanische Apparaturen modellieren lassen. Die Praxistheorie weicht diesem klassischen Problem der Soziologie, das man als Akteur-Struktur-Problem bezeichnen könnte, nicht aus, indem sie es strukturalistisch oder akteurtheoretisch auflöst (siehe hierzu nur Giddens 1984: 193ff.). Die Soziologie der Praxis zeichnet sich gerade darin aus, dieses Problem in den Mittelpunkt der Erforschung von Praktiken und Praxisformen zu stellen, indem es als Relation zwischen inkorporierter Sozialität (Akteur) und objektivierter Sozialität (Struktur) neu formuliert wird. Eine theoretische Durchdringung dieser Relation, die sich jetzt anschließt, verdeutlicht das sozialtheoretische Potenzial einer Bestimmung der Sozialität als Praxis.
26 Die Abbildung der Dynamik der Praxis ist angeregt durch die graphische Darstellung sozialer Lernprozesse in Organisationen durch Michael Florian und Bettina Fley (vgl. 2004: 86).
58 2.3.2
2 Praxistheorie Praxis und die Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität
Der Gehalt einer praxistheoretischen Neuformulierung des Ausgangspunktes der soziologischen Theoriebildung zeigt sich erst dann, wenn die Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität Erklärungen für die Entstehung von Praktiken generieren kann, die über handlungs- und strukturtheoretische Erklärungen hinaus führen. Die Charakteristika von Praktiken müssen folglich aus dieser Relation abgeleitet werden, deren beiden Seiten als Formen verfestigter Geschichte definiert sind. Diese werden für die soziologische Forschung nur dann relevant, wenn sie Praktiken erzeugen, wenn sie also durch Praktiken aktiviert werden. Dieses dynamische Moment der Relation ist eben nur denkbar, wenn zuvor ihre beiden Seiten definitorisch und begrifflich genau gefasst werden. So lassen sich beliebige Aussagen vermeiden. Denn nur ein klares Verständnis der Ermöglichungsbedingungen von Praktiken kann die theoretische Festlegung von Praxisformen aus dem Reich des Spekulativen herausführen, indem verdeutlicht wird, dass Praxis nicht voraussetzungslos entsteht, weil sie in ihrer Entstehung auf Inkorporierungen und Objektivierungen der Sozialität bezogen ist. Setzt man zur Gegenstandsbestimmung der Praxistheorie an einem allgemeinen Begriff der Praktik an, der innerhalb der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität angesiedelt ist, wird im Kontext des Begriffs der inkorporierten Sozialität ein zentrales Problem jeder soziologischen Theoriebildung sichtbar, das sich mit der Frage fassen lässt, wie die Formen der Praxis, die sich aus der Verkettung von Praktiken bilden, körperlich, mental und emotional verankert sind, wie also körperliche, mentale und emotionale Aspekte, die mit dem Begriff der inkorporierten Sozialität bezeichnet sind, als zentrale Bedingungen der Entstehung und Reproduktion von Sozialität verstanden werden können. Die Praxistheorie will diese Formen inkorporierter Sozialität ausdrücklich nicht marginalisieren, denn die Habitustheorie, die den Begriff der inkorporierten Sozialität konkretisiert, bezieht sich gerade auf den körperlichen, mentalen, sinnlichen und emotionalen Bedingungskomplex von Praktiken und Praxisformen. Diese Akteureigenschaften – Emotionalität, Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Mentalität – werden in der gegenwärtigen soziologischen Theoriebildung regelmäßig marginalisiert, weil sie angeblich nur Anlass für Spekulationen und nicht für konsistente Aussagenzusammenhänge bieten. Dadurch gerät die körperliche und emotionale Involviertheit von Akteuren in Praxis weitgehend aus dem Blick der soziologischen Forschung. Inzwischen wird dies nicht selten als ein wichtiges Manko soziologischer Theoriebildung bezeichnet. So revidiert beispielsweise Klaus Wahl (vgl. 2000) über eine grundlegende Kritik der „soziologischen Vernunft“ die Körpervergessenheit der Soziologie27: 27 Dass es inzwischen eine Wiederentdeckung des materialen Körpers in der soziologischen Theoriebildung gibt, wird gegenwärtig häufig betont (vgl. nur Schroer 2005). Dieses neue Interesse, das sich nicht so sehr auf die disziplinierende Anordnung der Körper im physischen Raum nach Foucault (vgl. 1977: 173-219; vgl. dazu kritisch Treiber und Steinert 2005: v. a. 89-118), sondern an der materialen Körperlichkeit als konstitutiven Bestandteil der Entstehung und Reproduktion von Sozialität orientiert, führt zu einer Reinterpretation von klassischen Ansätzen etwa bei Marcel Mauss (vgl. 1978), Helmuth Plessner (vgl. 1982) und Erving Goffman (vgl. 1969: 19ff). Insbesondere Vertreter und Vertreterinnen einer Soziologie der Praxis sehen im Körper einen wichtigen Begriff, um die Sozialität als Praxis zu definieren (vgl. etwa Schatzki 1996a; Reckwitz 2003; Hirschauer 2004; Reuter 2004a). Neben dem diskurstheoretischen Körperkonzept von Judith Butler (vgl. v. a. 1995: 49-84 und 129-162) ist ein wichtiger Ausgangspunkt dieser Form von Neubestimmung des Körpers nicht selten das Habituskonzept Bourdieus, auf das ich gleich ausführlich zurückkomme.
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„Ein Großteil der Soziologie sieht im Menschen immer noch primär ein Kulturwesen, gesteuert von Werten, Normen und vernünftigem Nachdenken. Weitgehend vergessen wird dabei das Naturwesen Mensch mit Körperlichkeit und Emotionen, aber auch der eigentümliche Zwischenbereich zwischen Natur und Kultur, Antrieben und Ethik: das verhaltensmotivierende Unbewusste.“ (Wahl 2000: 15)
Nach Wahl (vgl. ebd.) besteht die zentrale Schwäche der meisten soziologischen Konzepte darin, eine Rationalisierung, Kulturalisierung oder Zivilisierung der Gesellschaft zu postulieren, die sich im Laufe eines Modernisierungsprozesses immer mehr auch im Bewusstsein der sozialen Akteure durchsetzt. Mit der Praxistheorie wird diese Schwäche weitgehend überwunden, denn Praxisformen entstehen nach ihr nicht nur im Fahrwasser einer zunehmenden Rationalisierung und Verstetigung von Normen und Werten, sie lassen sich nicht ausschließlich auf die kognitive Struktur der sozialen Akteure zurückführen. Praktiken sind immer mit Poesis verbunden, weil in jeder Praktik körperliche, mentale, sinnliche und emotionale Komponenten aktiviert werden. Damit löst sich die Praxistheorie von einem handlungstheoretischen Akteurkonzept: Akteure werden, wie Stefan Hirschauer (vgl. 2004: 88) hervorhebt, als „Partizipanden“ der Praxis gefasst. Sie sind durch ihre körperliche Präsenz wichtige Elemente des Vollzugs der Praxis. Und diese Präsenz ist nicht an vorab festgelegten Eigenschaften von Akteuren gebunden, die als Intentionen in der Kognition der Akteure verortet werden. Die Präsenz der Pratizipanden ist durch eine körperliche Verstrickung in eine ablaufende Praxis gegeben. Die sozialisierten Körper sind „unvermeidlich eingeschlossen in den Vollzug sozialer Phänomene“ (ebd.: 89), der von der Praxistheorie als Praxis bezeichnet wird. Dies ist ein zentrales Konzept der Praxistheorie, weil es nicht nur eine akteurzentrierte, sondern auch eine holistische Soziologie der Kultur zur Identifikation von sozialen Praxisformen vermeidet. Werden die sozialisierten Körper als Partizipanden der sich vollziehenden Praxis verstanden, können sie nicht in einen Zusammenhang funktionaler Notwendigkeiten verortet werden. Denn die Aktivitäten, die von den sozialisierten Körpern ausgehen, lassen sich nicht allein aus theoretischen Grundannahmen deduktiv ableiten. Die in der Praxis vorhandene körperliche Inhärenz zu identifizieren und soziologisch zu erforschen, stellt somit eine wichtige Herausforderung für die praxistheoretische Fassung des Verhältnisses von Körper und Praxis dar. Eine Soziologie der Praxis kann dabei nicht von strukturalistischen und holistischen Vorannahmen ausgehen. Sie muss vielmehr einen Begriff des Körpers finden, der die aktiven Momente der Partizipation sozialisierter Körper erfassen kann, ohne diese von den „Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004) ausgehenden Aktivitäten aus theoretischen Vorannahmen über die kognitive und psychische Beschaffenheit von Akteuren abzuleiten. Dies ist nicht zuletzt für einen praxistheoretischen Begriff des Tausches von zentraler Bedeutung. Die Überwindung holistischer Ansätze hilft, die häufig zu beobachtende Verkürzung des Tausches auf seine ökonomischen und als rational verklärten Komponenten zu überwinden. Denn die Praxistheorie betont, dass Akteure in die Praxis involviert sind, und das heißt, dass sie nicht nur mit ihrem Bewusstsein, sondern auch als Körper, die sozialisiert sind, Praktiken initiieren.28 28 Genau genommen muss der Begriff des Akteurs in einer praxistheoretisch ansetzenden Soziologie fallen gelassen werden, weil er die handlungstheoretischen Grundannahmen suggeriert, die von der Praxistheorie mit Hilfe des hier verfolgten Körperkonzepts zurückgewiesen werden. Ich behalte ihn, wie bereits im gesamten Verlauf des hier vorge-
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Diese Initiierung von Praktiken möchte ich, wie bereits angedeutet, in Anlehnung an Hannah Arendts (vgl. 1981) Verwendung des Begriffs Vita Aktiva als Poesis (vgl. auch Hörning 2004: 19) bezeichnen, die innerhalb der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität entsteht. Damit soll in Abgrenzung zum Begriff der Handlung unterstrichen werden, dass Akteure nicht nur mit ihrem Bewusstsein an der Entstehung von Praktiken beteiligt sind, sondern auch mit ihrem Körper, was die Emotionalität und andere, dem Bewusstsein in der cartesianischen Tradition entgegen gestellte Aspekte ausdrücklich einschließt. Die Poesis sozialer Akteure, die im Verlauf der Praxis Neues schafft, ist jedoch ganz im Sinne Arendts keine ursprüngliche Schöpfungskraft, weil sie nicht anders als sozial bedingt gefasst werden kann. Der Habitus als inkorporierte Sozialität ist es, der die Praktiken in Korrespondenz zu objektivierten Schemata der Sozialität generiert. Die aktive Komponente der Praxis, also das Entstehen von Praktiken durch die Poesis sozialer Akteure, ist jedenfalls nicht nur auf das Bewusstsein oder die Vernunft bzw. Unvernunft der Akteure zurückzuführen, sondern auf die komplexen Strukturen des Habitus als inkorporierte Sozialität. „Genau dies ist die Funktion des Begriffs Habitus: Er gibt dem Akteur eine generierende und einigende, konstruierende und einteilende Macht zurück und erinnert zugleich daran, dass diese sozial geschaffene Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu schaffen, nicht die eines transzendentalen Subjekts ist, sondern die eines sozial geschaffenen Körpers, der sozial geschaffene und im Verlauf einer räumlich und zeitlich situierten Erfahrung erworbene Gestaltungsprinzipien in der Praxis umsetzt.“ (Bourdieu 2001: 175)
Wichtig ist an dieser Aussage, deren Grundannahme von einem Großteil der gegenwärtigen Sozialisationstheorien mehr oder weniger geteilt wird, dass die Theorie des Habitus nicht nur die mentalen Verkörperungen der Sozialität abbilden, sondern auch die emotionalen, dem Bewusstsein der Akteure häufig verschlossenen Komplexe der inkorporierten Sozialität als konstitutiv für die Aktualisierung und Erzeugung von Praktiken begreifen will. Der Habitus ist nämlich nicht als psychisches System gefasst, sondern als inkorporierte „zweite Natur“ des sozialen Akteurs, die alle Aspekte und eben nicht nur das Bewusstsein der menschlichen Existenz bestimmt: „Vermag der Habitus als Operator zu funktionieren, der den Bezug zu den beiden Relationssystemen [zwischen Praxis und Struktur und zwischen Praxis und Habitus; F.H.] in der und durch die Hervorbringung der Praxis praktisch herstellt, so weil er zu Natur gewordene Geschichte ist, die als solche negiert, weil als zweite Natur realisiert wird: In der Tat gibt das ‚Unbewusste’ niemals etwas anderes wieder als das Vergessen der Geschichte, das die Geschichte selbst vollzieht, indem sie die objektiven Strukturen, die sie erschafft, in jenen Quasi-Naturen, als welche die Habitusformen zu verstehen sind, verkörpert.“ (Bourdieu 1976: 171)
legten Textes, dennoch bei, weil er zum einen nicht mit Exklusivanspruch von einer soziologischen Theorierichtung vereinnahmt werden kann und weil er zum anderen auf die Aktivität hinweist, die von den Partizipanden der Praxis zweifellos ausgeht. Der Akteurbegriff muss aber in praxistheoretischer Perspektive neu gefasst werden, damit er nicht in handlungstheoretischer Weise missverstanden wird.
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Der Begriff der inkorporierten Sozialität wird mit dem Habitusbegriff inhaltlich konturiert, indem dieser „das systematische Funktionieren des sozialisierten Körpers“ (Bourdieu 1997: 64) zum Ausdruck bringt. Dazu gehört, dass Habitusstrukturen als inkorporierte Sozialität abhängig davon sind, wie lange ein bestimmtes Verhältnis zu einer bestimmten Welt von Wahrscheinlichkeiten angedauert hat (vgl. Bourdieu 1987: 120). Das Habituskonzept impliziert mit anderen Worten ein Konzept der Sozialisation sozialer Akteure.29 „Da er [der soziale Akteur; F.H.] die (biologische) Eigenschaft hat, der Welt gegenüber offen, also ihr ausgesetzt zu sein und somit von ihr formbar, durch die materiellen und kulturellen Lebensbedingungen, in die er von Anfang an gestellt ist, modellierbar, unterliegt er einem Sozialisationsprozess, aus dem die Individuation selbst hervorgeht, wobei die Singularität des ‚Ich’ sich in den gesellschaftlichen Beziehungen und durch sie herausbildet.“ (Bourdieu 2001: 172)
Dieser Sozialisationsprozess – von Bourdieu mit offensichtlichen Bezügen zu George Herbert Meads Sozialpsychologie beschrieben – muss als Inkorporierung eines Systems von Dispositionen des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens, Bewertens und Handelns verstanden werden. Dieser Komplex von Dispositionen ist mit den emotionalen, kognitiven und mentalen Strukturen der sozialen Akteure unentwirrbar verflochten. Es geht in einem praxistheoretischen Sozialisationsverständnis folglich nicht ausschließlich um die Psychogenese, wie sie Norbert Elias in seiner Theorie der Zivilisation formuliert, ebenso vermeidet es die Praxistheorie, Sozialisation als Bildung einer geglückten, für die Reproduktion der Gesellschaft funktionalen Identität zu interpretieren, wie es in der sozialpsychologischen Tradition der Soziologie häufig vertreten wird. Die Praxistheorie begreift Sozialisation als dynamischen, nicht abschließbaren Prozess der Habitusgenese. Die Sozialisation als Inkorporierung von Dispositionen ist also nicht nur auf die Psyche sozialer Akteure verengt, ebenso wie sie nicht primär auf eine von außen als abschließbar bestimmte Identität sozialer Akteure ausgerichtet sein kann. Habitus bezieht sich als Begriff auf Psyche und Körper des sozialen Akteurs. Der Prozess der Habitusgenese muss zum einen ganz im Sinne der meisten aktuellen Sozialisationskonzepte als produktive psychische Verarbeitung der Realität durch die sozialen Akteure verstanden werden. Er muss jedoch zusätzlich als das Einschreiben von Handlungs-, Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsdispositionen in die Körper der sozialen Akteure begriffen werden. Nur weil sich Dispositionen in den Körper einschreiben, sind sie nach Bourdieu (1976: 200) „geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden“. Die Dispositionen des Habitus sind aufgrund ihrer Verinnerlichung in Psyche und Körper eng mit den Emotionen sozialer Akteure verbunden. Deshalb ist der Habitus so wichtig für die Praxisgenese: Akteure, die Praxis initiieren, sind emotional an den Habitus gebunden, ohne diese Bindung reflektieren zu müssen. Deshalb bezeichnet Bourdieu den Habitus auch als zweite Natur des sozialen Akteurs, die sich eben nicht wie ein Gewand ablegen lässt. Der sich im Habitus einschrei29 Ullrich Bauer (vgl. 2004: 72ff.) fasst die wichtigsten Implikationen einer am Begriff des Habitus orientierten Sozialisationsforschung zusammen, übersieht aber gerade die Impulse, die eine Sozialisationsforschung durch das Körperkonzept der Praxistheorie gewinnen kann. Da die Sozialisationsforschung nicht im Mittelpunkt meiner Untersuchung steht, kann ich hier nicht weiter darauf eingehen. Vgl. zur Grundlegung der Sozialisationstheorien Geulen (1977) und, aktueller, Hurrelmann (2002). Für die hier verfolgte Argumentation reicht es, Sozialisation sehr allgemein als dynamischen Prozess der Inkorporierung von Habitusstrukturen zu verstehen.
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bende Komplex von Dispositionen wird nur dadurch zum Prinzip der Praxisbeteiligung von sozialen Akteuren, weil alle Akteure zu ihrer individuellen Reproduktion auf die Dispositionen des Habitus angewiesen sind, die sich fest in die Körper sozialer Akteure einschreiben. Und erst diese Einbeziehung des Körpers in die Festlegung der Formen von Habitualisierungen, die zur Bildung von diversen Dispositionen im sozialen Akteur führen, vermeidet es, diese Dispositionen als vom Bewusstsein beliebig steuerbare Eigenschaften zu begreifen, wie es in der cartesianischen Tradition immer wieder geschehen ist (vgl. Schmidt 2004: 61). Die Habitusgenese muss folglich als das Einschreiben einer Hexis (Körperbeschaffenheit, Körperhaltung, Körperform, Körperausdruck) in die Körper der sozialen Akteure verstanden werden. Dies schließt die Aspekte der Emotionalität mit ein, die entscheidend an Körper und Psyche von Akteuren gebunden sind. Der Habitusbegriff ist dadurch nicht auf Bewusstseinsprozesse verengt. Der Begriff der inkorporierten Sozialität impliziert mit anderen Worten einen differenzierten Begriff des Körpers, der nicht nur als Speicher, sondern auch als Ausdruck der Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen sozialer Akteure gefasst wird. Diese drücken sich in unterschiedlichen Formen aus. Es sind nicht nur die Haltungen und Erscheinungsformen des Körpers, sondern auch die kulturellen Zusatzdeutungen des biologischen Individuums, die den Habitus sichtbar machen. So wird der Abschluss einer Berufsausbildung, dem eine langjährige, sehr spezifische Formung des Habitus vorausging, durch Initiationsriten symbolisiert. Die Primärsozialisation eines Akteurs in einer wohlhabenden Umgebung drückt sich nicht nur in der Haltung des Körpers aus, sondern findet ihre symbolische Repräsentation in der Art des Sprechens und anderen kulturellen Formen der Stilisierung des Lebens. Die langjährige Berufstätigkeit in einer bestimmten Organisation formt den Habitus und drückt sich häufig in der Art der Arbeitskleidung oder im Arbeitsstil aus. So wirken ältere Mitarbeiter in der Regel, wie es in Mitarbeiterkreisen häufig heißt, „routinisierter“ oder auch „gelassener“, was sich nicht nur in der Körperhaltung, sondern auch in der Art der Durchführung von Arbeitsschritten zeigen kann. Schon hier wird deutlich, dass alle Formen des Habitus, wenn sie sich Ausdruck verschaffen, wiederum Gegenstand habitualisierter Bewertungen sind. Sie sind mit zum Teil hochkomplexen Formen des praktischen Sinns verbunden, die es dem soziologischen Beobachter ermöglichen, Formen des Habitus zu identifizieren und zu klassifizieren. Die Formen des Habitus erzeugen regelmäßig Praxiseffekte, weil sie Anlass zur Produktion von praktischem Sinn sind. Ihrerseits aktiv werden die durch Sozialisation geformten, in die Körper eingeschriebenen und durch kulturelle Formen ausgedrückten Komponenten des Habitus dann, wenn sie auf eine Situation treffen, in der sie aktiviert werden können, so dass Praktiken entstehen. Die Situation ist nicht nur durch die Anwesenheit unterschiedlicher biologischer Individuen bestimmt, sondern wird auch durch Formen der objektivierten Sozialität gerahmt, so dass der Habitus regelmäßig auf außerhalb seiner selbst liegende Strukturen trifft, die mit dem Begriff der objektivierten Sozialität gefasst werden. Denn die Bedingungen für das Entstehen von Praktiken werden eben nicht ausschließlich im Habitus, also in den Dispositionen sozialer Akteure, gesucht. Die Initiation einer Einzelpraktik, die man noch direkt auf einen sozialen Akteur zurückführen kann, hat nur dann Praxiseffekte, wenn an sie wiederum Praktiken angeschlossen werden, die bei ihrem Entstehen auf die vorherige Praktik referieren, so dass sich Praktiken zu Praxisformen verketten.
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Das Beziehungs- und Referenzgeflecht der Einzelpraktiken untereinander ist von Bedingungen abhängig, die mit der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität erfasst werden. Dieses Argument schließt nicht aus, sondern ein, dass alle Praktiken, wenn sie als Ereignisse entstehen sollen, sozialisierte Körper benötigen. Die oben bereits hergeleitete Emergenzthese der Verkettung von Praktiken zu Praxisformen ist nun aber nicht nur mit dem Begriff der inkorporierten, sondern auch wesentlich mit dem Begriff der objektivierten Sozialität verbunden. Dieser Begriff ist sehr weit gefasst. Er umfasst letztlich alles, was in der sozialen Wirklichkeit als feststehende, materialisierte Formen der Sozialität beobachtet werden kann, denn er bezieht sich auf alle Formen der Verdichtung von Sozialität außerhalb sozialer Akteure. Mit ihm werden nicht nur die Relationen zwischen sozialen Positionen in Kräftefeldern oder im sozialen Raum bezeichnet, sondern auch Gebrauchsgegenstände, technische Artefakte, Kunstwerke, Bücher und andere Verdinglichungen der Sozialität. Auch die Regelmäßigkeiten der Sozialität, die sich in Strukturen, Institutionen, Regeln, Normen und ähnlichem ausdrücken, werden unter den Begriff der objektivierten Sozialität subsumiert (vgl. Bourdieu 1987: 72). Diese Liste zeigt bereits, dass ein differenziertes Verständnis der Formen objektivierter Sozialität nötig ist, wenn das sozialtheoretische Potenzial dieses Begriffs der Praxistheorie sich voll entfalten soll. Bourdieus Theorievorgabe führt an dieser Stelle scheinbar nicht sehr weit. Der Begriff der objektivierten Sozialität wird von ihm, wie oben (vgl. 2.2) bereits gezeigt, lediglich in Bezug auf die Feld- und Raumpositionen und ihren Relationen zueinander entfaltet, was alle anderen Aspekte des Begriffs marginalisiert. Möglicherweise liegt diese Zurückhaltung darin begründet, dass die Objektivierungen der Sozialität, die nicht als Relationen zwischen Statuspositionen verstanden werden können, nicht so einfach in eine relationale Begrifflichkeit gefasst werden können, wenn differenzlose Begriffe, die Gegenstände substanziell als Objekte bezeichnen, als Mittel der Theoriebildung mit guten, oben (vgl. 2.1) an der Philosophie Cassirers hergeleiteten Gründen abgelehnt werden. Boike Rehbein (vgl. 2006: 120f.) sieht in seiner Diskussion der Bourdieu’schen Theorie einen weiteren, deutlich schwerer wiegenden Grund für die einseitige Ausarbeitung des Begriffs der objektivierten Sozialität durch Bourdieu: Denn die Beschränkung des Begriffs der objektivierten Sozialität auf die Relationen zwischen Feldpositionen im sozialen Raum ist für Bourdieu deshalb kein Problem, weil er nichts anderes als eine Soziologie sozialer Ungleichheit anstrebt.30 Wird die soziale Ungleichheit als das praxisgenerierende Prinzip verstanden, was ich für eine unzulässige Verkürzung halte, wird eine dezidierte Auseinandersetzung mit den anderen Objektivierungen der Sozialität zur Nebensache der Theoriebildung. Wird jedoch, wie in dieser Arbeit, der berechtigte Anspruch formuliert, die soziologische Praxistheorie zu einer allgemeinen soziologischen Theorie zu systematisieren, kann man sich damit nicht zufrieden geben. Selbstverständlich kann mit Rehbein gefragt werden, ob die Konzentration auf Macht- und Herrschaftsstrukturen ein konstitutives Merkmal der Praxistheorie ist. Wie meine bisherige Argumentation allerdings zeigt, ist der sozialtheoreti30 Was Rehbein ganz im Gegensatz zu meiner hier verfolgten Interpretation der Praxistheorie als konsequente Einschränkung der Theoriebildung begrüßt, ohne dabei jedoch die Probleme zu sehen, die sich eine Theorie auflädt, wenn sie auf die Annahme aufgebaut wird, alle Praxis bilde sich als Kampf um den sozialen Vorteil. Siehe hierzu den Abschnitt 2.2 dieser Arbeit.
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sche Kern der Praxistheorie nicht hier, sondern in der theoretischen Konstruktion der allgemeinen Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität zu finden, die in kultursoziologischer Perspektive zur soziologischen Theoriebildung genutzt werden muss. Dies impliziert eine Ausarbeitung des Begriffs der objektivierten Sozialität, der eben auch andere Aspekte der Objektivierung von Sozialität begrifflich fasst, die nicht als Macht- und Herrschaftsstrukturen bezeichnet werden können. Daraus erwächst jedoch sehr schnell ein zentrales Theorieproblem der Praxistheorie, das letztlich darin besteht, dass alles, was unter dem Begriff der objektivierten Sozialität firmiert, mit kategorialen Begriffen bezeichnet werden muss, wenn es zum Gegenstand der Theorie erhoben werden soll.31 Denn Dinge, Sachen und Strukturen müssen kategorial voneinander unterschieden werden, wenn der Begriff der objektivierten Sozialität mehr sein soll als eine diffuse Metapher für Verdinglichung. Dieses Theorieproblem, wie Bourdieu, dadurch zu umgehen, die dinglichen und sachlichen Objektivierungen der Sozialität lediglich als Bestandteile der objektivierten Sozialität zu bezeichnen, sie jedoch für die Theoriebildung auszusparen, indem die objektivierte Sozialität ausschließlich in Bezug auf die Relationen zwischen Statuspositionen thematisiert wird, ist nun schon deshalb nicht befriedigend, weil es nach meiner Einschätzung evident ist, dass Objektivierungen der Sozialität in Dingen, Sachen und (technischen) Artefakten einen erheblichen Einfluss auf die Entstehung und Reproduktion von Praxis ausüben.32 Diese Evidenz wird deutlich bei einem kurzen Blick auf die vor allem von Bruno Latour konstruierte Akteur-Netzwerk-Theorie, mit der sich zudem die Notwendigkeit einer neuen, nicht von der klassischen Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt ausgehenden Thematisierung der Dinge, Sachen und technischen Artefakte verdeutlichen lässt. Latours Kritik der Sozialwissenschaften – und Bourdieu wird hier zurecht ausdrücklich eingeschlossen – kreist im Wesentlichen darum, dass sie bis heute kein angemessenes Verständnis der dinglichen, materialen „Objekte“ entwickelt habe: „Sozialwissenschaftler werden heißt, sich darüber klar zu werden, dass die inneren Eigenschaften der Objekte nicht zählen, dass letztere bloß Gegenstand für menschliche Kategorien sind.“ (Latour 1995: 72) In der Moderne werden mit anderen Worten die „hybriden Monstren“ (ebd.: 60), womit ganz allgemein Akteur-Netzwerke wie technische Systeme gemeint sind, unsichtbar gemacht. Gerade dadurch, so Latour (ebd.), entsteht aber „die beschleunigte Sozialisierung nichtmenschlicher Wesen, weil wir diesen nie erlauben, als Elemente der ‚wirklichen Gesellschaft‘ in Erscheinung zu treten.“ Der Vorschlag der Akteur-Netzwerk-Theorie zur Überwindung der von ihr hervorgehobenen Sachvergessenheit der Soziologie ist es, materielle Objekte wie technische Artefakte als „Aktanten“ zu beschreiben, die als „nicht-menschliche Wesen“ an der Entstehung von Praktiken und Praxisformen beteiligt sind, indem sie sich
31 Auf dieses Problem hat mich dankenswerter Weise Thomas Malsch aufmerksam gemacht, was zu einer deutlichen Präzisierung der hier verfolgten Argumentation beigetragen hat. 32 Dabei kann nicht vernachlässigt werden, dass der Begriff der objektivierten Sozialität sich auch auf Institutionen und andere Regelmäßigkeiten der Praxis erstreckt. Darauf komme ich gleich zurück. Gerade für die praxistheoretische Thematisierung des Tausches ist eine differenzierte begriffliche Fassung von (Tausch)Gegenständen allerdings von großer Bedeutung, was meine Wahl erklären mag, die Diskussion dieses Aspektes der objektivierten Sozialität hier an den Anfang zu stellen.
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mit den „menschlichen Wesen“, ebenfalls als „Aktanten“ gefasst, durch Assoziation vernetzen. Dies begründet Latour (1996: 64) wie folgt: „Als allgemeine Regel lässt sich festhalten, dass jedes mal, wenn man wissen will, was ein nichtmenschliches Wesen leistet, man sich nur vorzustellen braucht, was andere menschliche oder nicht-menschliche Wesen zu tun hätten, falls es nicht an seinem Platz wäre. Dieses imaginäre Ersetzen grenzt genau die Funktion ein, die es erfüllt.“
Mit diesem Argument lehnt die Akteur-Netzwerk-Theorie eine klare Abgrenzung zwischen Subjekten und Objekten, Zielen und Funktionen, Form und Stoff ab (vgl. Latour 2000: 221f.). „Nicht-menschliche“ Aktanten sind demnach „weder Objekte, die von einem Subjekt erkannt werden, noch sind sie Objekte, die von einem Herrn und Meister manipuliert werden“ (Latour 2000: 226). Sie werden als Teil eines Kollektivs von Aktanten gefasst, das durch seine Assoziation Praktiken und Praxisformen entstehen lässt, die ohne dieses Zusammenwirken nicht möglich wären. Latour (vgl. 1996: 15ff.) macht mit den Beispielen aus seiner kleinen „Soziologie alltäglicher Gegenstände“ – etwa der „Streik“ des technischen Türschließers (vgl. ebd.: 62ff.), der zu nicht zu übersehenden Veränderung im Umgang mit dem Durchschreiten der Tür führt, oder die Folgen des Anbringens von Schlüsselanhängern für die Praxis des Umgangs mit dem Schlüssel (vgl. ebd.: 53ff.) – darauf aufmerksam, dass die materiellen Dinge keine unbedeutenden Bestandteile der Bedingungen für die Formen der Praxis sind. Was sie jedoch nicht hervorbringen können, „ist die Einsicht in und ein Urteil über die praktische Situation, in der sie eingesetzt werden soll[en]“ (Hörning 2001: 165). Materiale Artefakte können nur praxisrelevant werden, wenn sie in Relation zu sozialen Akteuren stehen, die ihnen aufgrund ihrer inkorporierten Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen einen praktischen Sinn abgewinnen können, der in hohem Maße kontingent ist. Dies sieht auch Latour (vgl. 2000: 175f.), der nämlich die berechtigte Frage stellt, wo etwa die Mikroben vor Louis Pasteur waren. Den Dingen muss, anders gesagt, ein praktischer Sinn zugeschrieben werden, damit sie die Wirklichkeit beeinflussen, damit sie also praxisrelevant sein können. Dies geschieht nach Latour (vgl. 2007: 150ff.) vor allem dann, wenn Dinge eine „Quelle der Unbestimmtheit“ sind, wenn sie also noch in die praxisgenerierende Assoziation des Akteur-Netzwerkes eingepasst werden müssen. Genau in diesem Sinne rahmen Materialisierungen der Sozialität die Praxis, weil sie der Produktion von praktischem Sinn die Richtung weisen. Wenn es beispielsweise am Wohnort keine U-Bahn gibt, werden sich die Formen der Praxis zum Ortswechsel deutlich anders ausformen, als wenn der öffentliche Nahverkehr in relativ kurzen Zeitintervallen zur Verfügung steht. Und die Entwicklung des Personal-Computers zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Ausstattung von privaten Haushalten hat nicht unerhebliche Auswirkungen auf die Formen der Praxis. Angesichts solcher Beispiele muss angenommen werden, dass Technik die Sozialität in nicht unerheblichem Maße beeinflusst oder gar prägt. Angesichts dieser Wirkungen von sachlichen und technischen Artefakten auf die Ausformung von Praxis ist es nicht überraschend, dass bereits diverse Klassiker soziologischen Denkens den Dingen eine nicht unbedeutende Rolle zur Entstehung und Reproduktion der Sozialität zugeschrieben haben. So spricht etwa Marcel Mauss (vgl. 1990: 31 und öfter) in seiner Ab-
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handlung über die „Gabe“ nicht selten vom „Geist der Sachen“. Und sein Lehrer Émile Durkheim (vgl. 1991: 115ff.) sieht die Verdinglichung als eine der wichtigsten sozialen Strukturen der Sozialität an, weil die Veränderung materieller, physischer Strukturen und die Herstellung materieller Objekte und technischer Artefakte ohne Zweifel eine elementare und leicht zu verstehende Weise ist, in der soziale Praktiken eine objektive, äußere Realität produzieren (vgl. Peters 1993: 249). Nichts desto trotz fällt der Soziologie insbesondere die angemessene Berücksichtigung technischer Artefakte zur Beobachtung der Sozialität schwer, wie nicht nur Latour bemerkt hat.33 Die Schwierigkeit, technische Artefakte im klassischen Subjekt-Objekt-Paradigma angemessen zu erfassen, ist dabei, dass sie in ihrer durch kulturelle Repräsentationen dokumentierten materialen Existenz zwar Teile der objektivierten Außenwelt des Menschen sind und insofern als Objekte betrachtet werden können, dass sie jedoch gleichzeitig eine Art materialisierter Sozialität darstellen. Technikinstallationen werden in sozialen Prozessen konstruiert und sind mit Eigenschaften ausgestattet, die sie von bloßen Objekten unterscheidet (vgl. Günther 1963: 181). Diese Eigenschaft der Technik, nicht nur Objekt zu sein, sondern zugleich auch aktiv in das soziale Geschehen eingreifen zu können, bereitet der soziologischen Theoriebildung über technische Installationen traditionell Probleme. Dies spiegelt sich in diversen Bezeichnungen der Technikinstallationen wider. So spricht bereits Hegel in Bezug auf Werkzeuge von objektiviertem Geist und Marx bezeichnet die Produktionsmittel als durch Arbeit objektivierte, vergegenständlichte Arbeit. Solche und andere Begriffsverklemmungen zur Bezeichnung technischer Installationen sind Hinweise darauf, dass die Beobachtung objektivierter Sozialität, die sich in technischen Installationen materialisiert, vor erkenntnistheoretische Probleme gestellt ist. Die zwiespältige Verquickung der Objektwelt (tot, geronnen, vergegenständlicht) mit der Subjektwelt (Geist, Arbeit) zur Bezeichnung technischer Artefakte verweist jedenfalls auf die Hilflosigkeit der okzidentalen Denktradition, Sachtechnik angemessen und differenziert zu erfassen, wie bereits Gotthard Günther (1963: 74) erkennt: „Das Verhalten eines bloßen Objekts ist für den aristotelischen zweiwertigen Denker restlos kausal bestimmt, weshalb eine zusätzliche Determinierung durch logische Sinnmotive einer Reflexion nicht in Frage kommen kann.“ Innerhalb der klassisch zweiwertigen Logik beherrscht die lückenlose Kausalität die ganze Funktionsweise des Objekts (vgl. ebd.: 75). Technische Artefakte erscheinen, wenn sie in diesem Sinne als Objekte beschrieben werden, als Positivitäten, die mit Hilfe der Naturgesetze umfassend und lückenlos als kausale Wirkungszusammenhänge beschrieben werden können. Die Beobachtung technischer Installationen versperrt sich jedoch dieser zweiwertigen Logik, weil hier Wirkungszusammenhänge objektiviert werden, die sich nicht immer auf Kausalität reduzieren lassen und die ihren instrumentellen Charakter verlieren können, wenn sie in der Praxis zur Anwendung gebracht werden. Die sozialtheoretische Konstruktion der Praxis generierenden Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität überwindet das Subjekt-Objekt-Schema, das sich als unzureichend zur angemessenen Erfassung der Sachtechnik erweist. Mit ihr kann die 33 Das inzwischen vorherrschende Interesse der Techniksoziologie an der sozialen Genese technischer Installationen ist auf den Umstand zurückzuführen, dass man mit Hilfe der Rekonstruktion des sozialen Prozesses der Technikgenese Aufschlüsse über die Beschaffenheit der Technik gewinnen kann. Vgl. dazu grundlegend und initiierend Pinch und Bijker (1987) und als ein Fallbeispiel unter vielen Bijker (1992).
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praxisrelevante Wirkung technischer Installationen als Produkt des Zusammenwirkens von inkorporierter Sozialität, also hier inkorporierter Verhaltenstechniken, und objektivierter Sozialität, also hier objektivierter Sachtechniken, verstanden werden, wobei die Aktualisierung der Relation durch Praktiken beide Seiten der Relation neu formt. Folglich ist Sachtechnik sowohl Praxis regulierender Orientierungskomplex als auch Praxis generierender Nutzungskomplex (vgl. Beck 1997: 348ff.). Technische Geräte werden in beiden Dimensionen mit Texten versehen, die sich durch Wissensproduktion und kulturelle Zusatzdeutungen auszeichnen. Erst das Zusammenwirken der in Technik eingelassenen Regulierungen mit den um Technik herum konstruierten kulturellen Zusatzdeutungen bewirkt die zur Techniknutzung notwendige Inkorporierung, durch die technische Artefakte in die Praxis verwickelt werden. In die Sachsysteme sind erstens Koordinationspotenziale eingelassen, die vor allem in Interaktionen als Stabilisierungsfaktoren wirken. Gleichsam sind die Sachsysteme zweitens am sozialen und kulturellen Prozess der Konstitution von Alltagspraxis beteiligt, indem sie mit kulturellen Zusatzdeutungen versehen werden. Dadurch formen sie drittens Habitus, leiten also Inkorporierungen von Dispositionen an. Dieser Prozess, durch den technische Artefakte zu einem wichtigen Moment der Praxis werden, geschieht häufig unreflektiert und erscheint dadurch als irreversibel. Die Grenzen der Praxisformen sind durch die objektivierte Geschichte gegeben, die sich unter anderem in den technischen Artefakten materialisiert. Diese begrenzen zwar die Praxis als schöpferische Tätigkeit, jedoch nicht in dem Maße, dass sie nur noch mechanistisch begriffen werden kann. Die Sachtechnik erscheint so nicht als stählernes Gehäuse der Praxis, sondern als eine wichtige Ermöglichungsbedingung von Praxisformen, die selbst wiederum auf die objektivierte Sozialität, also auch auf die technischen Artefakte zurückwirken. So wird der Gebrauch der Sachtechnik mit der Zeit immer routinisierter, während sich die Sachtechnik durch den Gebrauch verformt, was insbesondere bei der Nutzung von Computern, aber nicht nur hier, beobachtet werden kann. Wenn dieser Gedankengang ernst genommen wird, muss er auch für alle anderen Formen der objektivierten Sozialität gelten. Denn alle Verdichtungen und Objektivierungen der Sozialität sind nur dann praxisrelevant, wenn sie in Relation zu inkorporierter Sozialität stehen. Maschinen, Landschaften, Regeln, Bücher, Planeten, Normen, Strukturen und andere Objektivierungen der Sozialität sind mit anderen Worten nur dann wirklich, wenn sie mit Akteuren in Beziehung stehen, die diesen Objektivierungen einen praktischen Sinn abgewinnen können, so dass die Objektivierungen eine Relevanz für die Praxis erlangen. Dies ist im Übrigen auch der tiefere Sinn der Begrifflichkeiten Latours, der die Sachen als „Aktanten“, also als aktive Bestandteile der Bedingungen von Praxis fasst und in Relation zu den menschlichen Aktanten stellt, die eben auch als aktive Bedingungen der Entstehung von Praktiken gefasst werden müssen. Damit drückt Latour aus, dass Objektivierungen der Sozialität nicht weniger wichtig sind als Inkorporierungen der Sozialität. Ihre jeweilige Relevanz ergibt sich jedoch, wie aus praxistheoretischer Perspektive hinzugefügt werden muss, ausschließlich aus der Relationierung beider Formen der Sozialität zueinander. Die praxistheoretische Konstruktion der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität stellt diesen Aspekt in den Mittelpunkt der Analyse objektivierter Formen der Sozialität. Erst wenn dies gesehen wird, verliert der Begriff der objektivierten Sozialität seinen generalisierenden Charakter, den er ohne seine Relationierung zum Begriff der in-
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korporierten Sozialität ohne Zweifel nahe legt. Er droht nur dann zu einem Begriff zu werden, der alles erfassen will, wenn er nicht in eine relationale Begriffsbildung eingefügt wird. Nur dadurch wird nämlich sichtbar, dass es für den Vollzug der Praxis relevante Ausformungen der objektivierten Sozialität gibt, die sich der soziologischen Forschung nur durch die Beobachtung des Vollzugs der Praxis erschließen. Ein wichtiger Grund dafür, den Begriff der objektivierten Sozialität nicht vollständig als Substanzbegriff aufzugeben, liegt nun darin, dass sich Praxis nur dann vollzieht, wenn sich eine spannungsgeladene Relation zwischen inkorporierten und objektivierten Formen der Sozialität einstellt, die aber nur dann wirksam wird, wenn aus ihr Praktiken entstehen, die wiederum beide Seiten der Relation neu formen.34 Die Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität, die hier mit Hilfe der Akteur-Netzwerk-Theorie Latours am Beispiel der Sachtechnik erläutert wurde, zeigt ihr über ein neues Verständnis der Sachtechnik hinausweisendes sozialtheoretisches Potenzial, wenn sie auf für die Soziologie so zentrale Begriffe wie Struktur, Institution, Regel, Norm und Wert angewendet wird, die in Bourdieus Sicht als Objektivierungen der Sozialität, die Durkheim noch als „soziale Tatbestände“ bezeichnet hatte, begriffen werden müssen. Die Sozialwissenschaft kann jedoch, wie Bourdieu (1987: 246) es treffend formuliert, „nur dann im Durkheimschen Sinne ‚soziale Tatbestände wie Dinge behandeln‘, wenn sie alles dahinfahren lässt, was diese der Tatsache verdanken, dass sie genau in der Objektivität ihrer sozialen Existenz Gegenstand der Erkenntnis sind (auch wenn es sich um Verkennung handelt).“
Institutionen und andere Strukturen der Sozialität sind zwar in sofern „soziale Tatbestände“, als sie – ähnlich wie materiale Dinge – die Praxis in nicht unerheblichem Maße prägen. Sie fließen als Objektivierungen der Sozialität wie selbstverständlich in die Praktiken der sozialen Akteure ein. Sie sind jedoch – und auch hierin sind sie den materialen Dingen nicht unähnlich – keine zeitlosen Entitäten, die ahistorisch und differenzlos bestimmt werden können. Bourdieu hat genau deshalb keinen ausgefeilten Begriff der Struktur oder der Institution, er spricht in diesem Zusammenhang von Regelmäßigkeiten der Sozialität, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder ereignen. Ganz im Sinne des oben angeführten Regel-Regress-Arguments Wittgensteins vermeidet es Bourdieu dadurch, Regeln objektiv zu bestimmen. Er betont, dass Regeln nur dann Praxisrelevanz haben, wenn sie angewendet und in ihrer Anwendung jeweils neu geformt werden. Regeln sind, wenn der Begriff nicht vollständig aufgegeben wird, immer praktische Regeln. Diese Sichtweise ist ganz im Sinne der neueren pragmatischen Philosophie, die sich nach Brandom (2000b: 31) darum bemüht, dass „die Praxis und das Praktische so aufgefasst werden können, dass ihnen im Hinblick auf eine Erklärung der Vorrang gebührt“ vor philosophischen oder ethischen Prinzipien wie Wahrheit oder Vernunft. In soziologischer Perspektive ist die praxisbezogene Ausrichtung der Theorie nur dann möglich, wenn Strukturen, Regeln oder Institutionen nicht als ordnende Instanzen der Praxis, sondern als durch Praktiken erzeugte und reproduzierte Regelmäßigkeiten der Praxis verstanden werden. 34 Ich danke Andreas Reckwitz dafür, dass er mich auf dieses Problem des Begriffs der objektivierten Sozialität als „catch all-Terminus“ (Reckwitz) aufmerksam gemacht hat. Dies hat mich dazu geführt, meine Argumentation an dieser Stelle zu präzisieren.
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Am Begriff der Institution, der als Unterbegriff des Strukturbegriffs verstanden werden kann, lässt sich der praxistheoretische Umgang mit Strukturen der Sozialität beispielhaft verdeutlichen. Zuerst muss dazu die Bedeutung des Begriffs Institution für die soziologische Theorie gesehen werden: Selbst die Interaktionsebene der Sozialität kommt nur dann zustande, wenn es auf Dauer gestellte Verhaltensmuster, also Institutionen gibt, die in den Sozialwissenschaften als Regelsysteme mit einem verbindlichen Geltungsanspruch gefasst werden (vgl. hierzu Florian 2006: 84ff.). An diesen so gefassten Institutionen, die überindividuell Geltung beanspruchen, orientieren sich die Akteure in ihren Interaktionen, weil sie sich als sozialisierte Körper nicht voraussetzungslos begegnen können. Sie müssen gegenseitig voraussetzen, dass die Bedeutungen bestimmter Aussagen, was Gestik und Mimik einschließt, beim potenziell unbekannten Interaktionspartner bekannt sind. Wenn ich beispielsweise mit dem Kopf schüttele, muss der Interaktionspartner erkennen können, dass ich mit dieser Geste eine Ablehnung von Sinnzumutungen meine, damit die Interaktion ohne große Irritationen weitergeführt werden kann. Auch der Beginn einer Interaktion ist von Institutionen abhängig. Der Gruß etwa muss von beiden Seiten, Ego und Alterego, als solcher verstanden werden, damit die Interaktion beginnen kann, etc. Die Sprechakttheorie von John R. Searle spricht in diesem Zusammenhang davon, „dass die Struktur menschlicher Institutionen eine Struktur konstitutiver Regeln ist“ (Searle 1997: 137). Diese Regeln wirken in der Regel unbewusst. Denn „selbst in Fällen wie der natürlichen Sprache und des Eigentums, wo Linguisten, Gesetzgeber und Rechtsanwälte viele der Regeln kodifiziert haben, sind sich die meisten von uns dieser Kodifizierung nicht bewusst“ (ebd.). Nach Searle ist es daher für die Akteure, die in Praxis verwickelt sind, wichtig zu sehen, „wie die Regeln zu interpretieren oder anzuwenden sind“ (ebd.). Dieses Argument führt auf einen praxistheoretischen Begriff der Institution und anderer Strukturen der Sozialität. Der Bourdieusche Begriff des praktischen Sinns ist dazu wichtig. Institutionen wirken beispielsweise nach Bourdieu nur dann als auf Dauer gestellte Regelsysteme mit einem verbindlichen Geltungsanspruch, wenn sie von sozialen Akteuren praktisch anerkannt werden, indem sie ihre Praktiken nach ihnen ausrichten. Erst dann lassen sich Regelmäßigkeiten der Praxis erkennen, die Bourdieu als „Schemata“ bezeichnet, um seine Theorie von einem Modellplatonismus abzugrenzen, der so verfährt, als ob die Regeln und Gesetzmäßigkeiten des als konsistent bezeichneten Modells mit den Praxisformen der sozialen Welt zusammenfallen würden (vgl. Bourdieu 1976: 226; 1987: 28). Praktiken verketten sich nicht nach Regeln, sondern vielmehr im Tun, also im Vollzug der Praxis, was es obsolet werden lässt, eine Theorie der Praxis vom Regelbegriff her zu denken. Auch der diesbezügliche Oberbegriff der Struktur wird in dieser Weise relativiert, denn auch Strukturen sind keine Erzeugungsmatrix für Praktiken, sondern nichts anderes als retrospektiv beobachtete Regelmäßigkeiten in der Verkettung von Praktiken zu Praxisformen. Diese Regelmäßigkeiten werden auch von den sozialen Akteuren als solche beobachtet und stellen deshalb nicht selten einen Orientierungskomplex dar, der als objektivierte Sozialität bezeichnet werden kann. Denn die Akteure orientieren sich an den Regelmäßigkeiten und inkorporieren sie dadurch im Vollzug der Praxis. Dennoch sind derartige Schemata, die sich sowohl in objektivierter Sozialität als auch in inkorporierter Sozialität verankern, keine Regeln im klassischen Sinne, so wie sie nicht als zeitlose Strukturen definiert werden können. Sie sind regelmäßig in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität praktizierte Schemata, die dadurch, dass sie als Orien-
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tierungskomplexe, die sich den Akteuren inkorporiert haben, fungieren, Praktiken erzeugen. Die dadurch praktisch werdenden Schemata sind, und darauf weist die Praxistheorie mit Recht hin, nur dann Angelpunkte für soziologische Theoriebildung, wenn sie für die Praxis relevant sind, wenn sie also von Akteuren, die mit inkorporierter Sozialität, also mit einem Habitus ausgestattet sind, als Orientierungskomplex ihrer Praktiken anerkannt werden. Auch wenn Bourdieu immer wieder betont, dass diese Anerkennung in den meisten Fällen unbewusst und bzw. oder routinisiert geschieht, müssen die Akteure den Regelmäßigkeiten der Praxis einen praktischen Sinn zuschreiben, damit sie zu praktischen Schemata werden können, die der Verkettung von Praktiken die Richtung weisen. Praktische Schemata sind deshalb nicht primär Einschränkungen und Restriktionen der Praxis, sondern müssen als wichtige Bedingungen für die Entstehung von Praktiken betrachtet werden.35 Schon deshalb ist Bourdieu zurückhaltend in der unreflektierten Verwendung von Begriffen wie Struktur, Regel, Norm, Institution oder Wert, die in den meisten älteren soziologischen Abhandlungen wie selbstverständlich als Einschränkungen der Möglichkeiten der Entstehung von Sozialität verwendet werden. Der Strukturbegriff wird, worauf William Sewell (vgl. 1992) zu Recht aufmerksam macht, in der soziologischen Forschung häufig unreflektiert als Oberbegriff der Begriffe Norm, Institution, Regel etc. verwendet. Und Sewell zeichnet nach, dass er in allen soziologischen Theorierichtungen häufig unhinterfragt als Schlüsselbegriff zur Erklärung von Transintentionalität verwendet wird, ohne den theoretischen Gehalt und die Konsequenzen des Begriffs hinreichend erkenntnistheoretisch zu berücksichtigen. Mit der Praxistheorie wird ein Begriff wie Struktur, der sich auf die Regelmäßigkeiten der Praxis bezieht, unter dem Begriff der objektivierten Sozialität subsumiert, der jedoch, und dies ist von zentraler Bedeutung für eine am Praxisbegriff orientierte Soziologie, nur in Relation zum Begriff der inkorporierten Sozialität verwendet werden kann. Denn nur durch diese Relationierung des Begriffs der objektivierten Sozialität wird sichtbar, dass alle Regelmäßigkeiten der Praxis nur dann als praktische Schemata bezeichnet werden können, wenn sie eine Entsprechung in den Formen der inkorporierten Sozialität finden, wenn sie also in Relation zu den Dispositionen von sozialen Akteuren einen praktischen Sinn erzeugen, der sich in symbolischen Formen, die von der soziologischen Forschung identifiziert werden können, Ausdruck verschaffen. Das heißt: Erst wenn Akteure regelmäßig in gleicher oder ähnlicher Weise in Praxis verwickelt werden, weil die Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität eine bestimmte Verkettung von Praktiken hervorbringt, kann von einer Regelmäßigkeit der Praxis gesprochen werden, die sich als sozialer Mechanismus rekonstruieren lässt. Dies heißt jedoch nicht, dass sich die Praxis an theoretisch festgelegten Regeln orientiert, sondern genau das Gegenteil: Die theoretische Festlegung von Regelmäßigkeiten der Praxis als praktische Schemata, die Bestandteil der objektivierten Sozialität
35 Anthony Giddens’ Theorem der Dualität von Struktur (vgl. Giddens 1997: 77ff.) ist an dieser Stelle hilfreich zum Verständnis von praktischen Schemata. Wenn Strukturen nach Giddens zugleich als Routinen und Ressourcen der Praxis verstanden werden, kommt das dem Begriff der praktischen Schemata, wie ich ihn hier verstanden wissen will, jedenfalls sehr nahe. Zu den diesbezüglichen Analogien zwischen Bourdieu und Giddens vgl. Sewell (1992). Dabei ist aber hervorzuheben, dass der Bourdieu’sche Begriff des Habitus nicht synonym mit dem Gidden’schen Begriff der Routinen gesetzt werden kann, weil Habitus, wie in dieser Arbeit am Begriff der Poesis von Praktiken plausibilisiert, deutlich mehr meint als die Inkorporierung von Verhaltensmustern, die routiniert zur Erzeugung von Praktiken verwendet werden.
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geworden sind, muss sich an einer dezidierten, kultursoziologischen Beobachtung der Praxis orientieren. Sie muss sich also an dem orientieren, was praktisch geschieht, indem sie die symbolischen Formen mit kultursoziologischen Mitteln identifiziert und interpretiert. Diese symbolischen Formen und kulturellen Schemata sind Formen der Objektivierung von Sinn und werden als Ausdrucksformen des im Vollzug der Praxis entstehenden praktischen Sinns verstanden. Diese praxistheoretische Begriffsbildung hat Einfluss auf alle zentralen Begriffe der Soziologie wie Struktur, Norm, Institution oder Regel, die in neuer, reflexiver Weise gefasst werden müssen. Der Strukturbegriff etwa bezieht sich üblicherweise auf eine Untergliederung der Gesamtheit einer Erscheinung in die verschiedenen Elemente und Teilbereiche, deren relativ dauerhaften wechselseitigen Beziehungen das Ganze konstituieren und in Bewegung halten. Mit ihm werden in der Soziologie die Elemente und Teilaspekte der Sozialität ordnend in Relation zueinander gestellt. Ein praxistheoretischer Begriff der Struktur verbietet diese Begriffsfassung, weil Strukturen als Regelmäßigkeiten der Praxis gefasst werden, die nur dann als praktische Schemata gelten können, wenn sie in der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität Praktiken hervorbringen, die konstitutiv mit praktischem Sinn verbunden sind, der sich in symbolischen Formen Ausdruck verschafft. Dadurch verschwindet, mit Castoriadis (1981: 11) formuliert, „die Illusion suksessiver Annäherungen, die falsche Vorstellung von der Kumulation der Ergebnisse, der schrittweise fortschreitenden und systematischen Eroberung einer fachlichen rationalen Ordnung, die vorab in der Welt schon existiert“. Stattdessen empfiehlt die Praxistheorie eine wissenschaftlich reflektierte Sensibilität für den praktischen Sinn, um Praxisformen identifizieren und analysieren zu können, ohne sie in eine funktionale oder rationale Ordnung einsortieren zu müssen. Die kultursoziologische Ausrichtung der Praxistheorie ist der Schlüssel für dieses Vorhaben, weil sie es erlaubt, eine Theorie der Praxis zu entwickeln, die der Logik der Praxis gerecht zu werden vermag, indem sie erkennt, dass jede theoretische Logik nicht mit dem Vollzug der Praxis gleichgesetzt werden kann. Die theoretische Konstruktion der Praxis generierenden Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität reicht mit anderen Worten nicht aus, um Praktiken und Praxisformen zu bestimmen. Diese Relation muss mit Mitteln der Kultursoziologie auf die Produktion und Reproduktion des praktischen Sinns bezogen werden, der mit jeder Praktik entsteht. Im Vollzug der Praxis objektiviert sich dieser praktische Sinn in kulturellen Schemata und symbolischen Formen. Erst eine kultursoziologische Identifikation und Interpretation dieser Objektivierungen von Sinn erlaubt dem soziologischen Beobachter der Praxis Aufschlüsse über die Beschaffenheiten der inkorporierten und objektivierten Sozialität, so dass eine Kultursoziologie der Praxis möglich wird, die sich nicht als Kulturtheorie versteht, sondern als Soziologie der Praxis. Der folgende Abschnitt will dieses zentrale Argument der Praxistheorie weiter erhellen.
2.3.3
Der Sinn und die symbolischen Formen der Praxis
Die kultursoziologische Fundierung der Praxistheorie ist, wie gesagt, der methodologische Schlüssel zur Identifikation von Praxisformen, weil alle Praxis konstitutiv mit praktischem
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Sinn verbunden ist, der durch kulturelle Verdichtungen zum sichtbaren Ausdruck von Praktiken wird. Mit dem praxistheoretischen Sinnbegriff wird zunächst dem Umstand Rechnung getragen, dass Praktiken nicht zufällig entstehen. Sie sind in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität konstitutiv mit der Entstehung von Sinn verbunden, weil das generative Prinzip der Praxis, der „gesellschaftlich geformte Körper“ (Bourdieu 1976: 270) sozialer Akteure, nicht ohne Sinn denkbar ist. Denn der Habitus besteht nach Bourdieu aus Neigungen und Abneigungen, Bewertungs- und Wahrnehmungsdispositionen oder kurz aus einer Weltsicht. Er formt sich folglich aus „dem Sinn für die Verpflichtung und die Pflicht, dem Orientierungs- und Wirklichkeitssinn, dem Gleichgewichts- und Schönheitssinn, dem Sinn für das Sakrale, dem Sinn für Wirkung, dem politischen Sinn und dem Sinn für die Verantwortung, für Rangfolgen, für Humor und für das Lächerliche, dem praktischen Sinn, dem Sinn für Moral und dem Sinn fürs Geschäft, und so weiter und so fort… .“ (Bourdieu 1976: 270)
Dieser durch die Praxis vorstrukturierte Sinn befindet sich so lange im Zustand der Latenz, bis er durch die Konfrontation mit objektivierten Formen der Sozialität aktiviert wird und Praktiken erzeugt. So ist der im Akteur vorhandene Sinn für Moral erst dann praktisch relevant, wenn er in der Praxis eine Situation vorfindet, die diesen Sinn aktiviert und zur Aktivität Anlass gibt, etwa wenn jemand die Misshandlung eines Kindes beobachtet und dann einschreitet, indem er das Kind vor der Misshandlung schützt. Der so praktisch werdende Sinn ist konstitutiv körperlich verankert, was sich darin zeigt, dass die durch ihn erzeugten Praktiken den ganzen Körper des Akteurs beanspruchen etwa in Form der körperlichen Erregung bei der Wahrnehmung der Misshandlung oder in Form des körperlichen Einschreitens zum Schutz des Kindes. Auch wenn das hier angeführte Beispiel es zunächst zu suggerieren scheint, weil mit ihm ein weitgehend anerkannter, kollektiver Sinn für Moral verbunden ist, kann der praktische Sinn nicht als objektive Wissensordnung, als Konsens von Normen, als kollektiver „Geist“ oder als herrschende Kultur interpretiert werden, sondern muss als praktisches Wissen des Alltags, als das Praxisvermögen der sozialen Akteure oder kurz als praktischer Sinn verstanden werden. Wenn im hier angeführten Beispiel der Sinn für die Moral eines Akteurs anders ausgeprägt ist, weil er die Misshandlung innerhalb seiner Moralvorstellungen als „notwendige Züchtigung“ des Kindes wahrnimmt, bleibt das praktische Einschreiten aus, was wiederum zur Empörung anderer Akteure Anlass geben kann. Der praktische Sinn geht der Praxis nicht zeitlich voraus, sondern ist Bestandteil einer jeden Praktik, der zeitgleich mit dem Entstehen von Praktiken entsteht. Denn erst wenn der latente Sinn des Habitus praktisch wird, können die Sinngehalte der Praxis identifiziert werden. Im genannten Beispiel lässt sich das Eingreifen des sozialen Akteurs als ausgeprägter Sinn für die moralische Regel interpretieren, dass Kinder nicht misshandelt werden dürfen und vor Misshandlung geschützt werden müssen, während die Passivität des zweiten Akteurs zumindest darauf schließen lässt, dass dieser moralische Sinn hier nicht sehr stark ausgeprägt ist. Praktiken erschließen sich dem soziologischen Beobachten deshalb nicht als Bestandteile einer explizierbaren Ausgangskultur, wie es etwa Taylor nahe legt. Denn Praktiken produzieren mit ihrem Entstehen Sinn, der den Akteuren in den meisten Fällen nur
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implizit, also zeitgleich mit dem Entstehen der Praktiken bewusst ist. Sinn kann deshalb nicht als der Praxis enthoben analysiert werden, sondern erschließt sich nur durch die Beobachtung der Konstitution von Praktiken, die Sinn praktisch werden lassen. Wird dies gesehen, können die impliziten Sinngehalte der Praxis, die sich unter Umständen zu Symbolen und kulturellen Artefakten verdichten, explizit gemacht werden, so dass sich eine Theorie über die Praxis formulieren lässt, die die Differenz zwischen der Logik der Theorie und der Logik der Praxis für die Begriffsbildung reflexiv nutzbar macht. Innerhalb der Paradigmen der Praxistheorie kann der soziologische Grundbegriff Sinn, wie hier deutlich werden sollte, nicht als subjektive Intention definiert werden, obwohl diese Begriffsfassung in der europäischen Denkgeschichte eine lange Tradition hat (vgl. Luhmann 1971: 26), aus der sich seit Max Weber auch die wichtigsten Definitionen des Sinnbegriffs in der Soziologie speisen. Der Sinnbegriff der Praxistheorie wird jenseits seiner bewusstseinsphilosophischen Verwendung gefasst, indem er nicht nur an die inkorporierte Sozialität des Habitus sozialer Akteure, sondern auch an die objektivierte Sozialität gebunden wird. Bourdieu unterscheidet hierzu praktischen Sinn von objektiviertem Sinn. Während praktischer Sinn als Produkt der verkörperten Sozialität des Habitus, verstanden als strukturierende Hintergrundstruktur der Praxis, definiert wird, ist objektivierter Sinn als Manifestation von Sinngehalten in den Objekten und Schemata der sozialen Welt zu verstehen. Erst wenn diese beiden Formen von Sinn in Relation zueinander stehen, entstehen Praktiken: „Als ständig von regelhaften Improvisationen überlagerte Erzeugungsgrundlage bewirkt der Habitus als praktischer Sinn das Aufleben des in den Institutionen objektivierten Sinns“ (Bourdieu 1987: 107), denn „erst durch den Habitus findet die Institution ihre volle Erfüllung“ (ebd.). Das heißt: Objektivierter Sinn ist nur dann praxisrelevant, wenn er praktisch wird, wenn also praktischer Sinn, von Bourdieu verstanden als praktische Form des Habitus, erzeugt wird, wenn mit anderen Worten die sozialen Akteure der objektivierten Sozialität einen Sinn geben. Nur dadurch können Objektivierungen der Sozialität in Praktiken also in Prozesse verwandelt werden, was konstitutiv dazu führt, dass Sinn in neuer Form objektiviert wird. Durch diesen Theorievorschlag Bourdieus verliert der Sinnbegriff nicht nur seine bewusstseinsphilosophische Engführung, die letztlich zu der Annahme führt, die Sozialität sei als Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens sozialer Akteure zu verstehen. Auch die Vorstellung, Sinn sei der Ausdruck einer generellen Kultur, die sich objektiv bestimmen lässt, wird mit der Verortung des Sinnbegriffs innerhalb der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität überwunden. Die Dynamik der Praxis als Verkettung von Praktiken entwickelt sich gerade daraus, dass an jede entstehende Praktik praktischer Sinn gebunden ist, der nur erzeugt werden kann, wenn im Körper beteiligter Akteure Dispositionen verankert sind, die in bestimmbaren, durch objektivierte Schemata gerahmten Situationen abgerufen werden können. Das Imaginäre der Praxis, das ihre Dynamik ausmacht, entsteht genau in dieser Aktualisierung von praktischem Sinn und ist deshalb an Komponenten gebunden, die im Körper von biologischen Individuen verankert sind. Dieses zentrale Argument der Praxistheorie verdeutlicht Bourdieu mit Hilfe des Habitus-Begriffs: „Als Spontaneität ohne Willen und Bewusstsein steht der Habitus zur mechanischen Notwendigkeit nicht weniger im Gegensatz als zur Freiheit der Reflexion, zu den geschichtslosen Dingen me-
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2 Praxistheorie chanistischer Theorie nicht weniger als zu den ‚trägheitslosen’ Subjekten rationalistischer Theorien.“ (Bourdieu 1987: 105)
Der Habitusbegriff, der im Übrigen der Praxistheorie Giddens’ fehlt (vgl. hierzu Fuchs 1999: 347), wird an die Stelle rationalistischer oder strukturalistischer Erklärungsmodelle der Genese von Sinn gestellt. Mit ihm wird betont, dass praktischer Sinn mit Bedingungen verbunden ist, die sich in den Formen der inkorporierten Sozialität manifestieren. Die Entstehung des praktischen Sinns ist, anders gesagt, durch den Habitus vorstrukturiert, weil der Habitus als Ergebnis der Inkorporierung von Praxis verstanden wird. Akteure sind räumlich und zeitlich situiert und können nur deshalb aktive Teile der Praxis – oder besser – Praxis aktivierende Bedingungen der sozialen Welt sein, weil sie ganz bestimmte, für die aktuelle Praxis notwendige Denk-, Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsdispositionen inkorporiert haben. Diese Dispositionen, die sich in die Körper der Akteure eingeschrieben haben, erlauben es ihnen, der Praxis einen Sinn zuzuschreiben, so dass sie der aktuellen Praxis buchstäblich Sinn abgewinnen können. Nur wer z.B. intuitiv weiß, welchen Sinn es hat, zu bestimmten Anlässen Geschenke zu machen, wird sich an der Praxis des Geschenktausches aktiv beteiligen. Der Habitus erscheint folglich zunächst als Ermöglichungsbedingung der Entstehung von Praktiken, wie etwa der Gabe eines Geschenkes. Er schränkt die Teilnahmemöglichkeit der Akteure aber zugleich ein, weil die kulturelle Aufladung der Praxis eine differentielle Schematisierung der Sinnmaßstäbe bis hin zur Körperkontrolle voraussetzt, die eben nicht bei allen Akteuren in passender Weise vorhanden ist. Und genau in diesem Argument liegt die zentrale Schwierigkeit der Habitustheorie, die es gilt auszuräumen, um die Praxistheorie zu systematisieren. Sie besteht darin, dass Akteure sich nach Bourdieu nur dann aktiv an Praxis beteiligen können, wenn eine „ontologische Komplizität“ (Bourdieu 1989: 397) zwischen objektivierter und inkorporierter Sozialität angenommen wird, die sich darin ausdrückt, „was als ‚Spiel-Sinn‘ (oder praktischer Sinn) bezeichnet wird: eine intentionslose Intentionalität, die im Sinne eines Prinzips von Strategien ohne strategischen Plan, ohne rationales Kalkül, ohne bewusste Zwecksetzung funktioniert“ (ebd.). Dieses zentrale Argument der Praxistheorie schließt aber, was Bourdieu regelmäßig marginalisiert, die Möglichkeit eines kompetenten Akteurs nicht aus, sondern vielmehr ein, da nur die konjunktive Erfahrung der Akteure den dokumentarischen Sinn des Objektivierten aktivieren kann. Im Anschluss an die interpretative Soziologie, die davon ausgeht, dass die Handlungsbedeutsamkeit von Strukturen nur dann behauptet werden kann, wenn sie sich am jeweiligen Fall rekonstruieren lässt (vgl. Meuser 1999: 131), kann die Praxistheorie die komplexe Wechselwirkung zwischen objektivierter und inkorporierter Sozialität untersuchen, indem die Wirkungen des Objektivierten auf die inkorporierten Strukturen, die als Habitus bezeichnet werden, rekonstruiert werden und vice versa. Der praktische Sinn ist der Schlüssel zur Beobachtung dieser Wechselwirkungen, weil er von den Akteuren in bestimmbaren Situationen erzeugt werden muss, damit soziale Praxisformen zustande kommen können. Der Akteur muss folglich als jemand begriffen werden, „der einerseits nicht nur in der Lage, sondern auch gezwungen ist, seine Welt situationssensibel zu interpretieren, der aber andererseits dies in habituell geformter Weise tut“ (Meuser 1999: 135). Habitualisierungen werden nur durch kulturelle Zusatzdeutungen und Symbolisierungen in Form einer Repräsen-
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tation der Praxis möglich. Die damit verbundene Sinnproduktion erlaubt den interpretativen Zugang zu den mit ihr verbundenen Praktiken, weil die Akteure mit Hilfe des praktischen Sinns, den man im Anschluss an Castoriadis als symbolische Formung des Imaginären der Gesellschaft bezeichnen kann, die soziale Welt bewohnen und ein aktives, schöpferisches Verhältnis zu ihr entwickeln. Im praktischen Sinn findet sich immer etwas, „das funktional nicht zu erklären ist“ (Castoriadis 1984: 220), so dass sich die Sinnproduktion nicht deduktiv, sondern nur induktiv, also durch empirische Beobachtung der Praxis aufdecken lässt. Das ist der Grund dafür, dass die Praxistheorie sich als Kultursoziologie versteht, die die alltägliche kulturelle Produktion zur Analyse der Sozialität beobachtet. Bourdieu betont nun, dass sich die inkorporierten Dispositionen sozialer Akteure, ohne die die Produktion von praktischem Sinn nicht möglich ist, unweigerlich in Auseinandersetzung mit der objektivierten Sozialität bilden, weil die Dispositionen der Akteure nur aus der Sozialität selbst entstehen können. Hiermit wird zu Recht gegen die interpretative Soziologie postuliert, dass sich Akteure nicht voraussetzungslos begegnen, dass sie immer schon eine Sozialität in sich tragen, die sie zur aktiven Teilnahme an Praxis befähigt. Problematisch wird dieser grundsätzlich plausible Theorievorschlag erst dann, wenn eine Seite der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität in das Zentrum der Analyse zur Erklärung von Praktiken gerückt wird. Geschieht dies, wie in Bourdieus Texten, mit der objektivierten Sozialität, wird das sozialtheoretische Potenzial der Praxistheorie vorschnell zugunsten eines ausgefeilten Strukturalismus verschenkt. Zu fragen ist nämlich, was den Unterschied zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität ausmacht, wenn die Formen der inkorporierten Sozialität lediglich als besondere Ausformungen der objektivierten Sozialität angesehen werden. Wie kann die Relationierung dieser beiden Begriffe dann noch als Auslöser der Entstehung von mit praktischem Sinn versehenen Praktiken verstanden werden? Nicht ohne Grund kreist die Diskussion der Praxistheorie nicht selten um derartige Fragen. Bourdieu verfolgt mit seinen Begriffsvorschlägen das primäre Ziel, den methodologischen Individualismus zu überwinden, indem er eine ontische Komplizität zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität betont. Jede Praktik erscheint in dieser Formulierung letztlich als Ergebnis der Objektivierung, weil diese Seite der Relation die inkorporierte Sozialität des Habitus vorrangig aktiviert. Akteure sind, wenn dieses Argument überbetont wird, nichts anderes als Verlängerungen der Struktur, die sie mit ihren Aktivitäten reproduzieren. Bourdieu gibt der dynamischen Verkettung von Praktiken einen sehr engen Spielraum, weil er den Habitus letztlich als Epiphänomen der objektivierten Sozialität begreift, um vor allem erklären zu können, wie sich zunächst als unwahrscheinlich zu beschreibende Praxisformen der Über- und Unterordnung von sozialen Akteuren, also Praktiken der Macht- und Herrschaftsausübung, regelmäßig reproduzieren. Dagegen möchte ich betonen, dass die Definition einer Relation nur dann Sinn macht, wenn beide Seiten der Relation nicht zusammenfallen. Inkorporierte und objektivierte Sozialität sind deshalb per definitionem nicht identisch. Soziologisch zu kurz gedacht ist es zwar, Akteure als voraussetzungslose Subjekte anzusehen, die über die Wahl ihrer Mittel frei und ohne soziale Restriktionen entscheiden können. Ebenso verkürzend ist es jedoch, Akteure lediglich als Apparaturen der objektivierten Sozialität zu begreifen, die durch die Sozialität vollständig determiniert sind. Die Relation zwischen inkorporierter und objekti-
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vierter Sozialität will solche Verkürzungen gerade überwinden. Das Zusammenfallen dieser beiden Seiten der Relation ist, wie Bourdieu (vgl. 1997: 44f.) selbst bemerkt, ein höchst seltener Ausnahme- bzw. Grenzfall. Denn nur wenn der Habitus sich ausschließlich im Kontext eines speziellen Ausschnittes der objektivierten Sozialität bildet, etwa in einem speziellen Feld wie einer Anstalt, kann sich ein sozialer Akteur ausschließlich mit dem Feld identifiziert, weil er seinen gesamten praktischen Sinn aus der Praxis des Feldes gewinnt. So wird er zum Apparatschik, der dem Apparat alles verdankt, und ist folglich nichts weiter als der „Mensch gewordene Apparat“ (ebd.). Diese Einsicht lässt sich etwa zur Analyse der Praxis in totalitären Organisationen wie Konzentrationslagern fruchtbar machen. Bekanntlich identifiziert sich das Personal derartiger Apparaturen, wie man sie mit Bourdieu (vgl. ebd.) nennen könnte, vollständig mit der Struktur der Organisation. Nur so werden die grausamen Praktiken gegen Insassen möglich, die hier mit hoher Wahrscheinlichkeit geschehen. Die wichtige Frage ist aber in praxistheoretischer Perspektive, wie es dazu kommt, dass das Personal eines Apparates nahezu vollständig zu Apparatschiks mutiert und dadurch eine Praxis der Unterdrückung, Folter und Ermordung von Insassen ermöglicht. Um hier eine Erklärung zu finden, kann selbst in solchen Konstellationen das Zusammenfallen von inkorporierter und objektivierter Sozialität kaum angenommen werden, wie Wolfgang Sofsky (vgl. 1993: v. a. 115ff.) eindrucksvoll an den Personalstrukturen der Vernichtungslager des NS-Terrorregimes verdeutlicht. Denn auch in totalitären Feldkonstellationen sind die Dispositionen der Akteure nicht vollständig mit den Formen der objektivierten Sozialität gleich geschaltet, weil Akteure – und dies gilt besonders für die Gegenwartsgesellschaft – nicht ausschließlich in einer Organisation sozialisiert werden und gleichsam gezwungen sind, Situationen – seien sie noch so totalitär gerahmt – praktisch zu bewältigen. Es ist lediglich eine theoretische Illusion, das Zusammenfallen von inkorporierter und objektivierter Sozialität zu behaupten, wie auch Bourdieu überzeugend am Strategiebegriff verdeutlicht: „Dass jedes der Momente einer geordneten oder gerichteten Folge von Handlungen, aus denen objektive Strategien zusammengesetzt sind, durch Vorwegnahme der Zukunft und besonders seiner eigenen Folgen (die erst den Begriff Strategie rechtfertigen) bestimmt scheinen kann, geht darauf zurück, dass die vom Habitus erzeugten und von den früheren Produktionsbedingungen ihrer eigenen Erzeugungsgrundlage beherrschten Praktiken immer dann an die objektivierten Bedingungen vorangepasst sind, wenn die Bedingungen, unter denen der Habitus fungiert, immer noch gleich oder ähnlich den Bedingungen sind, unter denen er gebildet wurde, wobei die vollkommene und sofort erfolgreiche Anpassung an die objektiven Bedingungen die vollständigste Illusion einer Zielgerichtetheit oder, was auf dasselbe hinausläuft, eines selbst geregelten Mechanismus verschafft.“ (Bourdieu 1987: 116)
Die annähernde Deckungsgleichheit zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität ist für Bourdieu ein Sonderfall des Möglichen, „der nur dann gilt, wenn der Habitus unter Bedingungen zur Anwendung gelangt, die identisch oder homothetisch mit denen seiner Erzeugung sind“ (Bourdieu 1987: 117; vgl. Bourdieu 2001: 188f.; 1982: 740; Ebrecht 2004: 232). Das Potenzial dieser Einsicht wird von Bourdieu jedoch regelmäßig verschenkt, wenn er vorrangig die gleich bleibende und regelmäßige Reproduktion der Praxis thematisiert, ohne zu sehen, dass jede Einzelpraktik letztlich eine Neuschöpfung sein muss, die per defi-
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nitionem nicht als Widerholung angesehen werden kann, weil die Bedingungen, unter denen der Habitus angewendet wird, nie identisch mit den Bedingungen sein können, unter denen er entstanden ist. Letztere müssen den gegenwärtigen Bedingungen zeitlich voraus liegen, weil der Habitus inkorporierte Geschichte ist, die sich in der Gegenwart, also im Unterschied zur Vergangenheit, durch die Genese von Praktiken ausdrückt. Der Blick auf diese logische Konsequenz aus seiner eigenen Theorieanlage wird Bourdieu durch seine Zentrierung auf Macht- und Herrschaftsthemen verstellt. So sagt er beispielhaft: „Das Verhältnis zu Möglichkeiten ist ein Verhältnis zu Machtbefugnissen“ (Bourdieu 1987: 120), und betont damit vorrangig die durch den Habitus erzeugte Begrenzung der Möglichkeiten zur Entstehung von Praktiken. Er marginalisiert dadurch das konstitutiv im Habitusbegriff angelegte Argument, dass der Habitus die Praktiken nicht nur begrenzt, sondern zugleich generiert. Werden die Begriffe Macht und Herrschaft in zentraler und ausschließlicher Weise in Beziehung zum Habitusbegriff gesetzt, erscheint der Habitus in erster Linie als „die Grundlage einer selektiven Wahrnehmung von Indizien, die eher zu seiner Bestätigung und Bekräftigung als zu seiner Verwandlung taugen“ (ebd.). Die so postulierte Trägheit des Habitus führt Bourdieu zu der einseitigen Annahme, dass er vorrangig Praktiken hervorbringt, die die Machtund Herrschaftsstrukturen reproduzieren.36 Eine allgemeine Soziologie der Praxis muss den hier sichtbar werdenden, latenten Strukturalismus Bourdieus hinter sich lassen und die Unterscheidung zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität ernst nehmen, indem sie, ohne wenn und aber, als Praktiken generierende Relation verstanden wird. Der Grund dafür ist, dass inkorporierte und objektivierte Sozialität zwei unterschiedliche Operationsmodi der Praxis sind und bleiben, sie können nicht zusammen fallen. Evident ist allerdings, dass es habitualisierte Dispositionen gibt und dass sich Praxisformen häufig wiederholen und dadurch zu erwartungssicheren Regelmäßigkeiten werden können, die in der phänomenologischen Literatur als Routinen bezeichnet werden. Habitualisierte Gewohnheiten konservieren sich aber nur dann, wenn sie, wie es Karl Hörning (2004: 33) im Anschluss an John Dewey ausdrückt, ständig auf „konstante soziale Umwelten“ treffen, also ständig mit der selben objektivierten Sozialität konfrontiert sind. Hörning (vgl. ebd.) betont an dieser Stelle zu Recht, dass selbst der Routine der Wiederholung in Gewohnheiten eine verändernde Kraft inne wohnt, weil Wiederholungen nuanciert – man könnte fast sagen: schleichend – verändern und den Prozess des Wandels dadurch hervorbringen. Mit dem praxistheoretischen Sinnbegriff kann diese Feststellung weiter verdeutlicht werden: Praktiken werden mit Sinn versehen, der die Bedeutung der Praktik ausdrückt. Dieser Sinn muss zunächst, ganz im Sinne Castoriadis’, kontingent gesetzt werden, weil er dem Imaginären der Praxis entstammt. Akteure haben die Fähigkeit zur Imagination, also die soziale Welt, an der sie beteiligt sind und der sie gegenübertreten müssen, zu interpretieren. Sie müssen dies tun, um als sozialisierte Körper lebensfähig zu sein. Gleichsam ist es für die Akteure notwendig, die sie umgebende Sozialität
36 Dies wird in der Diskussion um Bourdieu regelmäßig kritisiert: Vgl. nur Müller (1992: 347); Reckwitz (2000: 345); Hörning (2001: 170f.). Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich leugne nicht die Stabilität von Macht- und Herrschaftsstrukturen. Ich möchte dieses Thema nur nicht zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Soziologie der Praxis machen, weil die Theorie dadurch unnötig eingeengt wird. Dass sich die Praxistheorie, insbesondere das Konzept der symbolischen Gewalt, hervorragend zur Analyse der Praxisform der Herrschaftsausübung eignet, steht dabei auf einem anderen Blatt.
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zu inkorporieren und zu einem Habitus zu formen. Nur so sind sie fähig und gezwungen, die Praxis zu interpretieren und dadurch mit Sinn zu versehen. Die Imagination sozialer Akteure drückt sich in kulturellen Repräsentationen und Symbolen aus. Diese symbolische Verdoppelung der Praxis leitet die Erzeugung von praktischem Sinn an, der mit jeder Praktik und in jeder Praxisform praktisch wird. Praxis ist folglich ein Prozess, der sich auf praktischen Sinn stützt, der im Verlauf der Praxis immer wieder neu geschaffen wird, was eine Variation der Sinngebung sehr wahrscheinlich werden lässt. Sinn ist deshalb, um es an dieser Stelle noch einmal zu wiederholen, nicht als Substanz der Praxis zu verstehen. Sinn ist ein Produkt der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität. Bereits Peter Berger und Thomas Luckmann (vgl. 1980: 116f.) heben in ihrer Wissenssoziologie ganz in diesem Sinne und gegen das Verständigungsargument Habermas’ hervor, dass die Legitimität von „Sinnwelten“, die ich Formen des objektivierten Sinns nenne, in der Regel kein Produkt des besseren Arguments ist, sondern an die Macht derer gebunden ist, die objektivierten Sinn legitimieren wollen. Insbesondere der „Zusammenstoß alternativer symbolischer Sinnwelten“ (Berger und Luckmann 1980: 116f.) affiziert Praktiken der Legitimation, die dann den Sinn verändern. Die Plausibilität dieses Arguments wird dann besonders deutlich, wenn es nicht nur auf die Praxisformen der Legitimation von Praxis, sondern auch auf Routinen und Gewohnheiten angewendet wird, die sich als Regelmäßigkeiten der Praxis eingestellt haben und scheinbar stabil sind. Wenn diese Formen des praktischen Sinns zur Bewältigung der Alltagspraxis nicht mehr ausreichen, etwa weil eine Bedingung für die unhinterfragte Kontinuität der Praxis nicht mehr gegeben ist, kommt es zu Strukturdynamiken der Praxis. Diese Situation stellt sich etwa bei so genannten Statuspassagen oder beim Verlust des Arbeitsplatzes ein. Der praktische Sinn, der die Routinen und Gewohnheiten stützt, muss jetzt hinterfragt und reflektiert werden, damit der Prozess der Praxis nicht ins Stocken gerät. Diese Notwendigkeit zur Reflexion, die George Herbert Mead (vgl. 1983: 162) treffend als „Distanzerfahrung“ bezeichnet, lässt den praktischen Sinn plötzlich als kontingent erscheinen und es wird den Akteuren bewusst, dass sie ihn selbst erzeugt haben und jetzt gezwungen sind, neue Formen des praktischen Sinns zu konstruieren, um die geänderte Alltagspraxis bewältigen zu können. Die Praxisform der Reflexion (vgl. Timm und Hillebrandt 2006), die sich im gewohnheitsmäßigen Verlauf der Praxis nur selten einstellt, rückt in den Vordergrund der Lebenspraxis, was dazu führt, dass die entsprechenden Akteure ihrem Umfeld als träge und lethargisch erscheinen, obwohl sie ständig Praktiken der Deutung ihrer neuen Situation hervorbringen, die allerdings für das Umfeld nicht in dem Maße sichtbar sind wie etwa Arbeitsleistungen (vgl. hierzu Ebrecht 2004). Wie dieses Beispiel zeigt, findet das formal anthropologische Argument, nach dem Akteure die Sozialität inkorporieren und interpretieren müssen, damit Praxis möglich wird, in der Praxistheorie eine reflexive Verwendung, weil es auf die Sinnformen der Praxis bezogen ist. Dies schützt eine praxistheoretische Soziologie davor, Sinn ausschließlich phänomenologisch zu interpretieren oder ausschließlich in regelhaften Strukturen zu rekonstruieren. Der so gewonnene Begriff des praktischen Sinns hebt hervor, dass die Dynamik der Praxis nicht aus toten Strukturen oder aus der leblosen Verkettung von Praktiken abgeleitet werden kann. Sie ist vielmehr in den sozialen Akteuren verankert und drückt sich in der Sinngebung durch die sozialen Akteure aus, die aber nur in Verbindung mit Praktiken sichtbar
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wird. Ebenso wie festgestellt werden muss, dass jede Praktik mit Sinn verbunden ist, muss gleichsam festgestellt werden, dass jeder beobachtbare Sinn mit einer Praktik verbunden ist, denn nur in der Aktion wird der Sinn der Praktik für den Beobachter sichtbar. Was die Akteure denken, wahrnehmen und wie sie die soziale Welt bewerten, ist mit anderen Worten so lange nicht rekonstruierbar, bis es seinen symbolischen Ausdruck in Praktiken gefunden hat. Ebenso ist der objektive Sinn der Objekte, Felder und Schemata, also so etwas wie die Hintergrundbedeutung der Praxis, so lange nicht bestimmbar, bis der objektivierte Sinn in Praktiken, die mit praktischen Sinn versehen sind, aktualisiert und dadurch neu erzeugt wird. In einer praxistheoretischen Soziologie kommt es also vor allem darauf an, den praktischen Sinn, der mit Praktiken verbunden ist, interpretativ zu rekonstruieren und so als Ausgangspunkt für die Bestimmung von Praktiken und ihrer Verkettung zu Praxisformen zu fassen. Dabei wird auch die objektivierte Seite der Praktiken generierenden Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität nur dann sichtbar, wenn sie in Praxis relevant wird, wenn sie also durch praktischen Sinn Bedeutung für die Entstehung von Praktiken und Praxisformen zugeschrieben bekommt.37 Die Entwicklung eines Instrumentariums zur Analyse der Praktiken muss daher kultursoziologisch ansetzen, denn in Kultur manifestiert sich der Sinn der Praxis und wird so zum sichtbaren Ausdruck der Praktiken, der eine Identifikation der Sinngehalte von Praxis ermöglicht. Objektivierte und inkorporierte Schemata der Sozialität werden in der Praxis symbolisch verdoppelt, indem sich kulturelle Praktiken als Zusatzdeutungen objektivierter und inkorporierter Sozialität bilden. Damit wird hervorgehoben, dass jede Praktik expressiv-symbolische Komponenten hat (vgl. Reuter 2004: 239). Kultur kann innerhalb eines derartig formulierten kultursoziologischen Arguments nicht – wie in der marxistischen Soziologie – als Überbau der ökonomischen Basis der Gesellschaft verstanden werden, ebenso wie sie nicht – im Sinne Talcott Parsons’ – als abgehobener Werte- und Normenhimmel gefasst werden kann, der die Gesellschaft ordnet, integriert und zusammenhält. Im Kontext des hier entwickelten Sinnbegriffs können kulturelle und symbolische Formen nicht als außeralltägliche abstrakte Wertideen begriffen werden (vgl. Müller 1994). Kultur kann nicht an natürliche und geographische Orte gebunden, als ein „kollektives Sinnsystem, als ein symbolischer Code oder als ein tragender Wert- und Nomenkomplex“ (Reuter 2004: 239) verstanden werden. Kultur ist vielmehr als alltägliche symbolische Dimension der Praxis definiert und wird als Repertoire der Sozialität verstanden. Sie steht deshalb nicht im Ge37 Deshalb steht auch im Zentrum der Praxistheorie sozialer Ungleichheit, wie sie von Bourdieu (vgl. 1982) formuliert wird, die Analyse der symbolisch-kulturellen Deutungsebene der Praxis. Dieses kultursoziologische Potenzial der Praxistheorie wird von systemtheoretisch orientierten Rezipienten wie André Kieserling (vgl. 2004: 128-151) regelmäßig übersehen, weil sie sich in der Auseinandersetzung mit Bourdieu darauf beschränken, seine Fokussierung auf soziale Ungleichheit als Engführung zu entlarven. Die Ausrichtung auf Macht- und Herrschaftsthemen durch Bourdieu ist aber nicht zuletzt ein Ergebnis der kultursoziologischen Sensibilität für den praktischen Sinn der sozialen Akteure, weil sie aus empirischen Studien der Sozialstruktur Algeriens und Frankreichs abgeleitet wird. Hier entdeckt Bourdieu die Bedeutung der kulturellen Deutungen für die Reproduktion von Ungleichheitsstrukturen. Beispielhaft ist diesbezüglich etwa die folgende Formulierung: „Am wichtigsten ist aber sicher wohl die Tatsache, dass die Problematik dieses Raums [der Relationen; F.H.] in ihm selbst thematisch wird, dass die Akteure ihm, dessen objektiver Charakter schwerlich zu leugnen ist, gegenüber Standpunkte einnehmen“. (Bourdieu 1982: 277; Hervorh. F.H.). Mit dieser Einsicht unterscheidet sich Bourdieu im Übrigen von der Praxistheorie Giddens’, die keine kultursoziologische Fundierung des Praxisbegriffs vorsieht und sich stattdessen eher auf die analytische Sprachphilosophie nach Wittgenstein stützt (vgl. hierzu auch Fuchs 1999: 347f.).
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gensatz zur Gesellschaft, da sie als notwendiger Bestandteil der Strukturierung der die Gesellschaft konstituierenden Praxis verstanden wird. Diese praxistheoretische Neufassung des Kulturbegriffs, die Julia Reuter (2004: 239) als „Praxiswende“ der Kulturtheorien bezeichnet, überwindet, wie man mit Reckwitz (vgl. 2000: 569ff. und öfter) sagen kann, jene Theorien, in denen Kultur textualistisch (Geertz) bzw. diskurstheoretisch (Foucault) oder mentalistisch (Lévi-Strauss) konzipiert wird. Außerdem überwindet die Praxistheorie die bewusstseinsphilosophische Ausrichtung der Kulturtheorien, in der, wie bei Cassirer aber auch noch bei dem an ihn anschließenden Alfred Schütz (vgl. 1971: 332), kulturelle und symbolische Formgebungen vorrangig als Leistungen des Bewusstseins verstanden werden, ohne die praktische, den Akteuren äußerliche Objektivierung von Sinn in kulturellen Schemata und Symbolen hinreichend zu berücksichtigen. Gerade Symbole, von Schütz (vgl. ebd.) als Zeichen verstanden, die durch einen „Deuter erzeugt“ (ebd.) werden und als Ersatz für andere Zeichen fungieren können, sind es nun aber, die sich in der Praxis manifestieren müssen, damit auf sie zur Erzeugung von praktischem Sinn zugegriffen werden kann, damit sie mit anderen Worten als Synonyme fungieren und eine Vorstellung von der Welt erzeugen können. Nur in ihrer objektiven Materialität bzw. Wahrnehmbarkeit etwa in Romanfiguren, roten Fahnen, Kreuzen, Sprichwörtern oder auch Familienfotos und anderen weniger allgemein bedeutsamen Artefakten können Symbole „Vorstellungen von Gegenständen“ tragen, wie Schütz (1971: 334) es bezeichnet. Ganz in der Tradition der bewusstseinsphilosophischen Phänomenologie fügt Schütz (ebd.) hinzu: „Das Symbol ‚bedeutet’ eigentlich die Vorstellung vom Ding und nicht das Ding selbst.“ Wenn sich aber das Symbol nicht objektiviert hat und ausschließlich als Anschauung sozialer Akteure verstanden wird, kann es keinen praktischen Sinn affizieren und zeitigt deshalb auch keine Praxiseffekte. Eine praxistheoretische Soziologie fasst symbolische Formen deshalb als Ausdruck von inkorporierter und objektivierter Sozialität, die eine große Bedeutung zur Entstehung von praktischem Sinn haben, weil sie Sinnelemente bündeln und aufeinander beziehen. Die Erklärung der Entstehung von Praktiken und Praxisformen muss im Anschluss an den so gefassten Kultur- und Symbolbegriff als Rekonstruktion der für den Vollzug von Praktiken notwendigen Sinnelemente verstanden werden, die sich zu komplexen Sinnformen (Symbolen) verketten und diverse Ausprägungen wie spezialisierte Wissenssysteme, Alltagsweisheiten, praktische Kompetenz etc. annehmen können. Dieser Sinn reproduziert sich, wie hier gezeigt, in zwei unterschiedlichen Operationsmodi: einmal in einem körperlich verankerten Dispositionssystem als einem Ensemble von inkorporierten kognitivsymbolischen Schemata und zum anderen in den Regelmäßigkeiten der Praxis (sozialen Schemata) sowie in den Objekten und Artefakten der materialen Ebene von Praxis. Indem die Praxistheorie in dieser Weise die verschiedenen Sinnelemente, die körperlich und material verankert sind, in ihre Erklärungsversuche einbezieht, gelangt sie jenseits von Theorien, in deren Zentrum Kommunikation steht (Habermas, Luhmann), zu einer Neubeschreibung der Sozialität als Praxis. Im Kontext eines so verstandenen Praxisbegriffs kann auch der Wandel von Praxisformen weder als Diskurs noch ausschließlich als (funktionale) Ausdifferenzierung unter semantischen Gesichtspunkten thematisiert werden. Die Dynamik der Praxis ist stattdessen aus der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität und mit den Mitteln einer am Praxisbegriff orientierten Kultursoziologie des praktischen und
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objektivierten Sinns zu analysieren. Dass die Praxistheorie in Folge dieses zentralen Arguments methodologisch eine Ethnographie der eigenen Kultur empfiehlt, um eine Sensibilität für den praktischen Sinn der uns umgebenden Praxis zu erlangen, darf aber nicht dazu führen, sie mit kulturtheoretischen Ansätzen zu verwechseln, die im Anschluss an Clifford Geertz (vgl. 1994) Kultur als Text missverstehen und deshalb nicht danach fragen, wie kulturelle Artefakte und Repräsentationen Praktiken ermöglichen, wie also Praktiken und in Kultur manifestierter Sinn zusammenhängen.38 Eine praxistheoretische Soziologie versteht sich demnach nicht als Kulturtheorie, die symbolische Formen lediglich identifiziert und in ihrer inneren Struktur analysiert. Die von Cassirer (1994: 96) als „Formanalyse“ bezeichnete Methode zur Identifikation und theoretischen Durchdringung von kulturellen Erscheinungsformen wird in einer praxistheoretischen Soziologie kultursoziologisch gewendet, indem die Frage gestellt wird, wie symbolische Formen Praktiken und Praxisformen bedingen und dadurch erst ermöglichen. Zur Erklärung der Entstehung von Praxisformen ist folglich die Thematisierung der Wechselwirkung zwischen sozialer Wirklichkeit, die sich in Praktiken und Praxisformen manifestiert, und ihrer kulturellen Repräsentation notwendig, also die Untersuchung der Relation zwischen den Formen der Praxis und den durch Sinn erzeugten alltäglichen Objektivierungen der Praxis in Symbolen und kulturellen Erscheinungsformen. Denn einer wissenschaftlichen Objektivierung der Praxis ist es nicht möglich, die Dispositionen der Akteure und die Objektivierungen und Regelmäßigkeiten der Sozialität direkt zu beobachten. Dennoch, oder gerade deshalb werden diesbezüglich ahistorisch gefasste Aussagen kategorisch abgelehnt, weil sich der Habitus sozialer Akteure ebenso wenig ahistorisch bestimmen lässt wie die Objektivierungen der Sozialität. „Die Habitus werden aus Tätigkeiten, welche aus ihnen hervorgehen, erkannt“ (Krais und Gebauer 2002: 26). Über eine Beobachtung der praktischen Sinnproduktion, die von Akteuren ausgeht und die sich in symbolischen Formen und kulturellen Schemata verdichtet, können Schlussfolgerungen auf die Dispositionen der Akteure gezogen werden. Auch die objektivierte Sozialität erschließt sich einer soziologischen Beobachtung nicht direkt, weil sie nur dann praxisrelevant wird, wenn sie durch Praktiken aktualisiert wird, wenn sie also durch Praktiken mit praktischem Sinn versehen wird, der sich wiederum Ausdruck in symbolischen Formen und kulturellen Schemata verschafft. Dieses zentrale Argument der soziologischen Praxistheorie veranschaulicht Abbildung 2.
38 Vgl. zur kritischen Diskussion der neueren Ethnographie Amann und Hirschauer (1997) sowie Fuchs und Berg (1993). Eine an empirischen Studien zur Techno- und Haevy Metal-Szene vorgenommene Vermittlung zwischen so genannter Diskurstheorie und der Praxistheorie Bourdieus gelingt Rainer Diaz-Bone (2002).
82 Abbildung 2:
2 Praxistheorie Die symbolische Dimension der Praxis
Die formalen Strukturen der beiden Seiten der Relation, innerhalb derer Praxisformen entstehen, lassen sich folglich nur durch die Beobachtung der praktisch erzeugten Sinnproduktion bestimmen. Diese Bestimmung erlaubt es dann im nächsten Schritt einer zirkulär angelegten Produktion von wissenschaftlichen Aussagen, die beiden Seiten der Relation, also inkorporierte und objektivierte Sozialität, in Beziehung zueinander zu stellen, so dass die Relation die prinzipiell unbegrenzten Praktiken und Praxisformen sichtbar macht, die in ihr möglich werden. Die Fixpunkte der praxistheoretischen Begriffsbildung sind folglich die Definition der Praxis generierenden Relation zwischen inkorporierter Sozialität (Habitus, Hexis, Dispositionen) und objektivierter Sozialität (Feld, Schemata, Technik, Objekte) und eine an diese Relation gekoppelte Definition des Sinnbegriffs, der die Möglichkeit zur Beobachtung von Praktiken eröffnet, die als Ereignisse innerhalb der Relation entstehen und sich zu Praxisformen verketten können. Eine derartige Theorieanlage birgt dann ein hohes sozialtheoretisches Potenzial zur Analyse der Praxis, wenn die relationalen Begriffe der Praxistheorie systematisch aufeinander bezogen und mit kultursoziologischen Mitteln an den Sinnbegriff gekoppelt werden (siehe Abbildung 2). Dieses Potenzial möchte ich im nächsten Abschnitt resümierend verdeutlichen.
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2.4 Resümee: Paradigmen einer soziologischen Theorie der Praxis In zentralen Punkten orientiert sich meine Entwicklung der soziologischen Praxistheorie an Bourdieus Theorievorgabe. An zwei entscheidenden Stellen stelle ich die Weichen jedoch deutlich anders als Bourdieu: Zum einen will ich die einseitige Ausrichtung der Praxistheorie auf Herrschafts- und Machtverhältnisse überwinden, zum anderen will ich die Praxistheorie systematisieren, damit sie als allgemeine soziologische Theorie zur Untersuchung von Praxisformen genutzt werden kann. Es geht im Resümee dieses Kapitels folglich nicht vorrangig um die Dokumentation einer spezifischen Lesart der Praxistheorie Bourdieus, sondern um die Eingrenzung von zentralen Paradigmen, hinter die eine Soziologie der Praxis nach meiner Einschätzung nicht zurückfallen darf, um Praxis angemessen in den theoretischen Blick nehmen zu können. Diese an der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität sowie am Begriff des praktischen Sinns herausgearbeiteten Paradigmen einer Soziologie der Praxis können auf die Praxisform des Tausches angewendet werden, wenn zuvor ihr sozialtheoretisches Potenzial resümierend konturiert wird. Wie gesehen, unterscheidet sich der soziologische Zugang zur Praxis von einem sozialphilosophischen durch den Anspruch, den Gegenstand der Soziologie, die Sozialität, mit dem Praxisbegriff grundlegend bestimmen zu wollen. Dazu wird im Anschluss an den Praxisbegriff aus dem Frühwerk von Marx zunächst gefragt, wie Erkenntnisse über die Praxis erzielt werden können, wenn auch die Produktion von wissenschaftlichen Aussagen als Praxis verstanden werden muss. Nicht nur der Begründungszusammenhang, sondern auch der Entdeckungszusammenhang einer Theorie über die Praxis wird reflektiert, indem die Produktion wissenschaftlicher Aussagen in einem akademischen Feld verortet wird. Dies zwingt dazu, das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis zu bestimmen. Eine Soziologie der Praxis reflektiert in all ihren Begriffsbildungen, dass die Logik der Praxis nicht mit der Logik der Theorie über die Praxis verwechselt werden kann.39 Aus diesem Spannungsverhältnis der Relation zwischen Theorie und Praxis gewinnt eine Soziologie der Praxis ihre Begriffe. Diese reflexive Begriffs- und Theoriebildung, die einen neuen Theoriestil ermöglicht, zielt auf die Bearbeitung von Grundproblemen der soziologischen Theorie, die sich in einer am Praxisbegriff orientierten Soziologie neu stellen und deshalb in neuer Weise gelöst werden können. Der erste Schritt dahin ist die Differenzierung des Praxisbegriffs in Praktiken und Praxisformen. Praktiken sind als Phänomene „doings and sayings“ (Schatzki 1996: 89), also Ereignisse, die als Attraktoren und Effekte gefasst werden, weil sie Praktiken hervorbringen und an bereits gezeitigte Praktiken anschließen. Praxis konstituierende soziale Aktivitäten (Praktiken) werden nicht als Erscheinungsformen objektivierter sozialer Strukturen oder vorab festgelegter Regeln verstanden, sondern als Konstitutionsereignisse sozialer Praxisformen, deren Eigenlogik jenseits vorab theoretisch festgelegter Regelsysteme analysiert werden muss. Praktiken werden mit anderen Worten nicht als abgeleitete Phänomene betrachtet, deren Entstehung Quellen wie Regel- und Normsystemen entspringt, die sich objektiv bestimmen lassen. Sie sind elementare Ereignisse der Sozialität, die sich zu erwartbaren und regelmäßigen Praxisformen verketten können. Praxisformen generieren in ihrer 39
„Überall kann die Logik nur sein, wenn sie in Wahrheit nirgendwo ist.“ (Bourdieu 1976: 253)
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regelmäßigen Entstehung, die kulturell und symbolisch repräsentiert wird, eine soziale Erwartbarkeit von Praktiken. Verknüpfen sich Praktiken zu Praxisformen, entstehen die Praktiken nicht nur im Raum und in der Zeit, sondern binden gleichsam Raum und Zeit (vgl. Giddens 1979: 202f.), weil in der Verkettung von Praktiken zu Praxisformen die Entstehung von Praktiken an einem bestimmten Ort im sozialen Raum auf Dauer gestellt ist und hier relativ sicher erwartet werden kann. So ist beispielsweise der Erwerb von Lebensmitteln, der als Praxisform die dazu benötigte Zeit bindet, also verbraucht, regelmäßig an Orte gebunden, die als Orte der Transaktion von Lebensmitteln erkannt werden können. Die sich in der Verkettung von Praktiken konstituierende Praxis hat folglich eine Geschichte. Weil es keinen ersten Ursprung der Praxis geben kann, ist sie immer mit objektivierten Schemata verbunden (vgl. Hirschauer 2004: 73), die Praxisformen in kulturellen Mustern und Symbolen repräsentieren, also in den Signalen, die im hier angeführten Beispiel die Orte des Lebensmittelerwerbs für soziale Akteure kenntlich machen. Eine am Begriff der Praxis orientierte Soziologie ist folglich keine bunte Vielfaltsforschung. Sie orientiert sich zur Analyse von Praktiken und Praxisformen an den kulturellen Schemata und symbolischen Formen, ohne diese jedoch als ahistorische Gegebenheiten zu verklären. Die Verbindung von induktiven und deduktiven Methoden zur Analyse der Praxis gelingt, indem Praxis als eine Vollzugswirklichkeit gefasst wird, die sich erst in ihrer Entstehung soziologisch analysieren lässt. Für das Beispiel des Lebensmittelerwerbs heißt das, dass etwa der Supermarkt oder auch der Wochenmarkt von sozialen Akteuren regelmäßig zum Kauf von Lebensmitteln, der als eine Praxisform verstanden werden muss, genutzt wird. Geschieht dies nicht, sind die Symbole, die beide Märkte als solche kenntlich machen, für die Praxis strikt genommen nicht vorhanden. Kulturelle Schemata und Symbole sind folglich für eine soziologische Theorie der Praxis nur dann relevant, wenn sie im Vollzug der Praxis regelmäßig durch Praktiken der Inzeption und Rezeption erzeugt (Poesis) und reproduziert (Routine) werden.40 Diese Fokussierung auf die praktische Erzeugung und Aktualisierung von symbolischen Formen und kulturellen Schemata impliziert die Annahme, dass sich durch die Poesis der sozialen Akteure kulturelle Erscheinungsformen der Praxis per definitionem wandeln, weil jede, auch eine routinisierte Bezugnahme auf bereits geformte Symbole mit Variationen der Symbole verbunden ist. Symbole erscheinen dabei nicht als außeralltägliche Sinnwelten, sondern als notwendige Bestandteile der Lebenswirklichkeit sozialer Akteure. Sie sind Ausdrucksformen der Realität, mit denen soziale Akteure praktisch umgehen. Kultur versteht sich in dieser Theoriekonstruktion als Repertoire der Praxis, durch das Symbole geformt werden und Praktiken entstehen. Die Praxistheorie ist deshalb nicht als Kulturtheorie zu verstehen. Sie muss vielmehr als Soziologie der Praktiken und Praxisformen gefasst werden, die auf einem kultursoziologischen Fundament steht. Mit dieser kultursoziologischen Fundierung der Analyse von Praktiken und Praxisformen können symbolische Formen sowohl als Ausdruck als auch als Attraktoren der Praxis analysiert werden, wenn sie auf die Relation zwischen objektivierter Sozialität und der von den Akteuren inkorporierten Sozialität bezogen werden. Denn nur wenn die Akteure aufgrund ihrer Habitualisierungen von Sozialität den symbolischen Formen, die ihnen äußerlich sind,
40 Vgl. Thomas Malsch (2005: 120ff.), der die Praktiken der Inzeption und Rezeption allerdings im Anschluss an den Luhmannschen Begriff der Kommunikation als Bestandteile mehrdimensionaler Kommunikationseinheiten fasst.
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einen praktischen Sinn zuschreiben können, entstehen Praktiken und Praxisformen, die wiederum auf die Formung der Symbole und Habitualisierungen zurückwirken (siehe dazu oben, die Abbildungen 1 und 2). Um also die Einflüsse der Akteure auf die Entstehung von Praktiken möglichst genau zu fassen, strebt die Praxistheorie einen strikt soziologischen Begriff des sozialen Akteurs an. Soziale Aktivitäten, von mir als Poesis bezeichnet, können nicht aus theoretischen Gesetzen und Regeln abgeleitet werden, da die sozialen Akteure in ihren Aktivitäten keine von der Soziologie definierte Theorie anwenden, sondern vielmehr selbst konstruktiv tätig sind, indem sie unter den Bedingungen von objektivierten Schemata der Praxis einen ihnen eigenen Zugang zur Sozialität entwickeln. Die Aktivitäten sozialer Akteure werden in der Praxistheorie nicht durch Rationalität oder Intentionalität angeleitet, sondern durch die Anforderungen der Praxis. Zu diesen Anforderungen entwickeln die sozialen Akteure einen praktischen Sinn, der es ihnen ermöglicht, an Praxisformen zu partizipieren. Die Poesis sozialer Akteure erzeugt im Vollzug der Praxis den praktischen Sinn, der für die Entstehung von Praktiken und für ihre Verkettung zu Praxisformen konstitutiv notwendig ist. Im praktischen Sinn werden abstrakte Symbole in praktisch handhabbare Sinnelemente verwandelt. Praktiken entstehen folglich durch das Zusammenspiel von objektivierten Schemata mit den inkorporierten Dispositionen sozialer Akteure. Damit entwickelt die Praxistheorie die klassische, vor allem durch Schütz, Berger und Luckmann fundierte akteurzentrierte Sozialtheorie weiter. Diese phänomenologisch ausgerichtete Theorietradition versucht zu beschreiben, wie die sozial Handelnden die soziale Welt erleben und konstruieren. Die soziale Welt erscheint dabei jedoch, überspitzt formuliert, als Produkt des individuellen Willens von autonomen sozialen Akteuren, was die Freiheit und Spontaneität des Einzelnen überzeichnet (vgl. Bourdieu 1993b: 86). Die These von der Autonomie des freien und einzigartigen Akteurs übersieht die der Praxis emergenten Objektivierungen und kann daher nicht hinreichend berücksichtigen, dass sich die sozialen Akteure nicht voraussetzungslos begegnen, sondern „ihre Geschichte und Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes stets mit sich herumtragen“ (Fröhlich 1994: 34). Mit dem Habitusbegriff, der diese inkorporierte Sozialität erfasst, verfolgt die Praxistheorie das Ziel, das Akteurkonzept der Soziologie vom Intentionalismus zu befreien, indem Akteure als sozialisierte Körper gefasst werden, die Hervorbringungen der Praxis sind. Wird dieses Körperkonzept mit einem erweiterten Begriff der objektivierten Sozialität, der neben den Objektivierungen der Sozialität in sozialen Regelmäßigkeiten die Materialisierung der Sozialität in dingliche Artefakte erfasst, in Relation gesetzt, lassen sich auch die Tätigkeiten mit Dingen durch eine Soziologie der Praxis erfassen. Denn die Dinge sind, wie ich oben mit Rekurs auf Bruno Latour herausgestellt habe, notwendige Bestandteile von Praktiken, weil sie in nahezu allen Praktiken gehandhabt werden. Und genau diese Handhabung der Dinge macht sie zu wichtigen Bestandteilen der Praxis, sie sind dadurch nicht mehr nur „Objekte der Repräsentation“ (Reckwitz 2008: 151), sondern materiale Bestandteile der Praktiken. Nicht nur sozialisierte Körper sind folglich für das Entstehen von Praktiken erforderlich, auch die materialen Dinge sind konstitutive Bestandteile der Bedingungen für das Entstehen von Praktiken. „Bestimmte Dinge dienen“, wie Reckwitz (2008: 153) es formuliert, „als Ressource, die die Praktik … ermöglicht und beschränkt.“ Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Dinge in spezifischer Weise in Relation zur inkorporierten Sozialität stehen, wenn sie sich
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also, wie es mit Latour ausgedrückt werden kann, mit den sozialisierten Körpern assoziieren. Dabei ist in der Sicht der Praxistheorie hervorzuheben, dass „die Beziehung zwischen menschlichen Akteuren und nicht-menschlichen Dingen, die sich über ein Netzwerk von Praktiken herstellt, ein Verhältnis des praktischen Verstehens“ (Reckwitz 2008: 153f.) ist. Erst wenn die Akteure, also die sozialisierten Körper, den Dingen einen praktischen Sinn zuschreiben, können diese von ihnen gehandhabt werden. Der Gebrauch der Dinge, also die Praktiken des Umgangs mit den Dingen, bringt diesen praktischen Sinn hervor, der sich wiederum in symbolischen Formen verdichten kann, die eine Handhabe der Dinge anleiten. Das mit der Habitustheorie dezidiert ausgestaltet Akteurkonzept impliziert im Zusammenspiel mit einem durch die Artefakttheorie Latours präzisierten Begriff der objektivierten Sozialität, dass Praxis nicht ursächlich auf Funktionen zurückgeführt werden kann. Die struktur-funktionalistische Soziologie ist nach Bourdieu (1993b: 86) aufgrund ihrer deduktiven Vorgehensweise gezwungen, die soziale Welt als „ein Universum objektiver, von den Handelnden unabhängiger Regelmäßigkeiten, die von Standpunkt eines unparteiischen, die beobachtete Welt überfliegenden Beobachtens jenseits des Handelns konstruiert sind“, zu begreifen. Die Gesellschaft erscheint dabei quasi als Subjekt in Großformat, dessen Objekte die Akteure sind, die in funktionalistischer Sichtweise durch ihr „Rollenhandeln“ den Funktionserfordernissen der Gesellschaft gerecht werden oder in rationalistischen Modellen durch bewusste Regelerfüllung einem expliziten Normenzwang folgen. Im Gegensatz dazu vertritt die Praxistheorie die These, dass soziale Strukturen und Funktionalitäten, die als objektivierte Schemata gefasst werden, die kulturell repräsentiert sind, nur dann relevant sind, wenn sie mit der Lebenswirklichkeit der sozialen Akteure etwas zu tun haben, wenn die sozialen Akteure also den objektivierten Schemata einen praktischen Sinn abgewinnen können, der sie als begriffslose „körperliche Erkenntnis“ (Bourdieu 2001: 174) dazu führt, die Schemata durch ihre Praxis konstituierenden Aktivitäten der Rezeption und Inzeption zu reproduzieren (Routine) oder neu zu gestalten (Poesis). Die soziologische Praxistheorie identifiziert und untersucht folglich die „symbolischen Ordnungen und Sinnstrukturen der Kultur … auf der Ebene sozialer Praktiken“ (Reckwitz 2006: 35). Der praktische Sinn, der sich in Praktiken der Inzeption und Rezeption ausdrückt, wird nicht nur als Erzeugungs-, sondern auch als Identifikationsprinzip der kulturellen Schemata und symbolischen Formen verstanden (siehe dazu oben, Abbildung 2). Das Konzept des praktischen Sinns und der mit ihm verbundenen Praktiken befindet sich so in einer doppelten Frontstellung gegenüber einem mechanistischen Materialismus einerseits und einem konstruktivistischen Idealismus andererseits. Praktiken sind als Produkte und Erscheinungsformen des praktischen Sinns weder ausschließlich die mechanische Folge äußerer Ursachen, noch sind sie ausschließlich das Ergebnis einer Kalkulation von Gewinnchancen und Handlungsfolgen. Das Konzept der Praktiken als Letztelemente der Sozialität wendet sich zudem gegen eine „Semantisierung des Sozialen“. Denn durch die Konstruktion der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität werden die Körper der sozialen Akteure und die Sachen, die praktisch gehandhabt werden müssen, als Bedingungen der Entstehung von Praxis gefasst und können so systematisch in die Erklärung der Entstehung sozialer Praktiken und Praxisformen einbezogen werden. Das bedeutet, Körper sowie Sachen werden in einer Theorie der Praxis nicht nur als soziale Konstruktionen der sozialen Akteure relevant, sondern auch und primär als Bestandteile der
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Einzelpraktiken, die sich zu Praxisformen verketten können. Mit dieser theoretischen Weichenstellung widersteht die Praxistheorie der „Neigung, die gesellschaftliche Realität in Kommunikationen über sie aufzulösen“ (Berger 1996: 235). Denn Praktiken sind als „doings and sayings“ nicht nur diskursiv zu verstehen, weil sie immer mit körperlichen und dinglichen Komponenten verbunden werden müssen.41 Eine derartige Begriffsfassung von Praktiken als Letztelemente der Sozialität erlaubt die Identifikation sozialer Wandlungsprozesse. Denn wenn Praktiken als Ereignisse gefasst sind, die sich nur unter ganz bestimmten Bedingungen zu Praxisformen verketten, kann Praxis per definitionem nur als dynamischer Prozess verstanden werden. Dieses zentrale Argument einer allgemeinen Soziologie der Praxis lehnt sich an die Einsichten der dekonstruktivistischen Diskursanalyse Jacques Derridas an, die in ihrem Kern feststellt, dass jede Referenz auf einen durch Sprache und Schrift erzeugten Diskurs bereits eine Veränderung des Diskurses bewirkt, weil sich hier prinzipiell ein „Einfall des Draußen in das Drinnen ereignet“ (Derrida 1974: 61).42 Judith Butler präzisiert dieses Argument, indem sie festhält, „dass beim Sprechakt als institutionellem Ritus der Kontext nie von vornherein vollständig determiniert ist“ (Butler 1998: 228). Praktiken, also in meiner begrifflichen Fassung nicht nur Sprechakte (sayings), sondern eine Kombination aus Sprechakten, körperlichen Bewegungen (doings) und einer durch Assoziation zwischen sozialisierten Körpern und materiellen Artefakten ermöglichten Handhabe der Dinge, können nicht, wie auch Butler (vgl. ebd.) es mit Bezug auf Bourdieu formuliert, mit jedem Kontext brechen, sie sind aber ebenso wenig durch den Kontext vollständig determiniert, weil sie als Ereignisse vorgestellt werden müssen, die niemals eine Wiederholung eines vorher entstandenen Ereignisses sein können. Eine Praktik ist folglich, wie Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (2000: 151) präzise hervorheben, „nicht das innere Moment einer selbstdefinierten Totalität“. Praktiken sind vielmehr „artikulatorisch“ (ebd.) und können deshalb nicht als „Ausdruck von etwas bereits Erworbenem“ (ebd.) verstanden werden. Die „Praxis der Artikulation“ (ebd.) erzeugt vielmehr erst die Verdichtungen von Sinn, die sich durch einen weiteren Vollzug von Praktiken zu Symbolen der Praxis formen, die dann als Ausgangspunkte für die Initiierung weiterer Praktiken dienen können. Geschieht dies, werden die symbolischen Formen zwingend variiert. Denn eine Praktik kann nicht „gänzlich unter das Prinzip der Wiederholung subsumiert werden; vielmehr besteht sie immer aus der Konstruktion neuer Differenzen“ (ebd.). Praktiken sind mit anderen Worten die Quellen gesellschaftlicher Strukturdynamiken, weil sie mit ihrer Entstehung als konstitutive Ereignisse der Sozialität symbolische Formen zugleich 41 „Als Körper und biologisches Individuum bin ich ebenso wie die Dinge an einem Ort situiert: Ich nehme einen Platz im physischen und sozialen Raum ein.“ (Bourdieu 2001: 168) Vor dem Hintergrund dieser Aussage müssen auch alle Formen eines ästhetischen Universalismus obsolet erscheinen, in denen die sozialen Bedingungen der möglichen Erfahrung des Schönen, Wahren und Guten vergessen, verkannt oder verdrängt werden (vgl. Bourdieu 2001: 99). Die bekannte, auf dem Klappentext der deutschen Taschenbuch-Ausgabe von „La Distinction“ (Die feinen Unterschiede) abgedruckte Aussage Bourdieus meint genau das: „Ein umfassendes Verständnis des kulturellen Konsums ist freilich erst dann gewährleistet, wenn ‚Kultur’ im eingeschränkten und normativen Sinn von ‚Bildung’ dem globaleren und ethnologischen Begriff von ‚Kultur’ eingefügt und noch der raffinierteste Geschmack für erlesenste Objekte wieder mit dem elementaren Schmecken der Zunge verknüpft wird.“ (Bourdieu 1982: 17) 42 Ich stimme Andreas Reckwitz zu, wenn er sagt, dass man Derridas dekonstruktivistische Denkweise dazu nutzen sollte, „ein Vokabular dafür zu entwickeln, um sich für diese Unkontrollierbarkeit von Sinn und die permanenten Grenzüberschreitungen zwischen Drinnen und Draußen in der sozial-kulturellen Realität … zu sensibilisieren“ (Reckwitz 2008: 304f.). Dies impliziert, die Dekonstruktion nicht nur auf diskursive Praktiken anzuwenden.
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aktualisieren und variieren. Mit Derrida formuliert: Praktiken rücken mit ihrer Entstehung als Ereignisse etwas den symbolischen Formen Äußeres in den inneren Sinn der symbolischen Formen hinein und verwandeln dadurch ihren Sinngehalt. Praktiken und der mit ihnen entstehende praktische Sinn bleiben somit niemals gänzlich folgenlos, da Praktiken prinzipiell als einzigartige Ereignisse gefasst werden müssen, die jedoch nicht bedingungslos, also, wie Judith Butler sagen würde, ohne jeden Kontext, entstehen können.43 Nimmt man diese Definition des Begriffs der Praktik ernst, impliziert sie ein praxistheoretisches Verständnis der Interaktion als dynamische, wandelbare Praxis. Denn wenn innerhalb der hier konturierten Paradigmen einer Soziologie der Praxis Praktiken als elementare Operationen, also als Ereignisse jeder Sozialität gelten, lassen sich die Paradigmen der Praxistheorie auf alle Aggregationsebenen der Sozialität – also von der Interaktion über die Organisation bis zur Gesellschaft – anwenden. An dieser Stelle schließt sich eine Lücke der Praxistheorie Bourdieus. Obwohl er den Begriff der Gesellschaft zur Bezeichnung der Gesamtheit der Sozialität weitgehend vermeidet, ist seine Theorie vorrangig darauf bezogen, makrosoziale Strukturen zu untersuchen, namentlich Strukturen sozialer Ungleichheit. Bourdieu führt uns mit seinen empirischen Studien zwar in die kabylischen Zelte und in die französischen Wohnküchen. Dennoch enthält seine Praxistheorie ein unterkomplexes Verständnis von Interaktionen. Dieses beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die interaktive Verfestigung von makrosozialen Herrschaftsstrukturen an empirischen Beispielen zu verdeutlichen. Was der Praxistheorie in der Fassung, die Bourdieu vorgelegt hat, fehlt, ist ein fundiertes Verständnis von Interaktionen, die als basale Praxisformen die Aggregation der Praxis zu dauerhaften Schemata und Symbolen wahrscheinlich werden lassen. Werden Praktiken, wie hier vorgeschlagen, als Ereignisse gefasst, die nicht ursächlich aus makrosozialen Strukturen abgeleitet werden können, lassen sich interaktive Praktiken sehr viel grundlegender bestimmen, als dies in Bourdieus Werk geschieht. Interaktive Praktiken müssen dazu von solchen unterschieden werden, die nicht interaktiv und sozial ausgerichtet sind. Wie Andreas Reckwitz (vgl. 2006: 37) hervorhebt, sind Praktiken nicht ausschließlich sozial zu verstehen, weil sie auch selbstbezogen sein können, wodurch sie jedoch, wie oft fälschlicherweise angenommen wird, nicht weniger komplex sind als soziale Praktiken. Beispiele für selbstbezogene Praktiken und Praxisformen sind das Fernsehen, der Filmkonsum, das Musikhören, das Lesen oder auch das Essen. Diese zum Teil komplexen Praxisformen – so muss etwa zum Essen ohne andere Akteure eine Verkettung unterschiedlicher Einzelpraktiken geschehen – müssen nicht zwingend auf andere soziale Mit-Akteure bezogen sein, obwohl es selbstverständlich möglich ist, einen Film gemeinsam zu schauen, mit anderen zu essen oder Texte anderen sozialen Akteuren vorzulesen. Sind Praktiken in ihrer Entstehung auf mindestens zwei Akteure bezogen, liegen soziale Praktiken vor. Die Praktiken des Tausches sind in diesem Zusammenhang paradigmatische Beispiele für soziale Praktiken, weil der Tausch als Praxisform, in der sich unterschiedliche Praktiken verketten (dazu unter 3.1 mehr), nur zwischen mindestens zwei Akteuren stattfinden kann. Ähnliches gilt beispielsweise für die Erwerbsarbeit, in der sich diverse Praktiken verketten müssen, damit sie als Praxisform praktisch werden kann. Da Erwerbsarbeit
43 Aus diesem zentralen Argument formt Judith Butler bekanntlich die Einsicht, dass subversive Veränderungen der Macht- und Herrschaftsverhältnisse zumindest nicht ausgeschlossen werden können (vgl. Butler 1998: 228ff.).
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immer in soziale Kontexte eingebunden ist – es wird beispielsweise für eine bestimmte Firma gegen ein bestimmtes Entgelt gearbeitet oder es werden Aufträge von Kunden bearbeitet – handelt es sich hier um eine soziale Praxisform, die nur möglich wird, wenn sich Praktiken, wie Reckwitz (ebd.) es nennt, zu „ganzen Praxis-Komplexen arrangieren“. Die sachliche Unterscheidung von unterschiedlichen Praxis-Komplexen, die ich hier Praxisformen nennen möchte, gelingt nun dadurch, dass die Einzelpraktiken der Praxisformen sich in unterschiedlicher Weise miteinander verketten und sich auf unterschiedliche sachliche Themen beziehen. In der Praxisform der Arbeit verketten sich etwa diverse Praktiken in anderer Weise als sich die Tauschpraktiken in der Praxisform des Tausches miteinander verketten. Wichtig ist für ein praxistheoretisches Interaktionsverständnis, dass sich soziale Praktiken in der Relation zwischen mindestens zwei Akteuren ereignen und mit ihrer Entstehung weitere Praktiken affizieren, also eine Formung von Praktiken zu Praxisformen nach sich ziehen können. Wenn folglich Praktiken in der Relation zwischen bestimmbaren Akteuren praktisch werden, handelt es sich um Interaktionen, die sich auf unterschiedliche sachliche Themen beziehen können und kulturelle Schemata und Symbole entweder reproduzieren oder hervorbringen, indem sie sie neu formen. Es geht in einer praxistheoretischen Soziologie also nicht mehr nur darum zu untersuchen, wie sich makrosoziale Strukturen durch Interaktionen reproduzieren und stabilisieren. Es geht mit den hier vorgenommenen Präzisierungen der Praxistheorie auch und entscheidend um die Frage, wie sich aus Interaktionen, also aus sozialen Praktiken neue Schemata und Symbole der Praxis bilden können, wie sich also aus elementaren sozialen Praktiken Praxisformen und dauerhafte Praxisfelder entwickeln können, die wiederum die Weichen für die Entstehung neuer Praktiken stellen.44 Der Rest des Strukturalismus, der sich noch in der Bourdieu’schen Praxistheorie findet, muss in einer am Praxisbegriff orientierten Soziologie überwunden werden, indem Praktiken als elementare Ereignisse der Sozialität verstanden werden, die nicht das Produkt makrosozialer Strukturen, sondern der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität sind (siehe nochmals oben, Abbildung 1). Erst dann kann untersucht werden, wie gesellschaftliche Strukturdynamiken sich auf der Interaktionsebene der Sozialität aus sozialen Praktiken ergeben, die nur zwischen mindestens zwei sozialen Akteuren praktisch werden können. Der Tausch ist, so meine begründete Vermutung, eine Praxisform, an der sich diese zentrale These einer praxistheoretisch ansetzenden Soziologie exemplarisch verdeutlichen lässt. Deshalb setzt die Praxistheorie des Tausches, die sich jetzt anschließt, nicht bei makrosozialen Strukturen an, sondern bemüht sich um einen praxistheoretischen Begriff des Tausches, der an den hier angeführten Paradigmen einer praxistheoretischen Soziologie orientiert ist. Es geht also um die theoretische Bestimmung der elementaren Praktiken des Tausches, die sich zu Praxisformen des Tausches verketten und unter bestimmten Bedingungen hochkomplexe Makrophänomene der Sozialität hervorbringen können. Nachdem also die Paradigmen einer praxistheoretischen Soziologie zunächst allgemein bestimmt worden sind, kommt es jetzt darauf an, sie an einem für die gesellschaftliche Praxis relevanten Beispiel weiter zu konturieren und zu plausibilisieren, indem sie auf die Pra-
44 Dieser Theorievorschlag könnte das Problem, „wie ein interaktionistischer Strukturbegriff zu denken und in gesamtgesellschaftlicher Analyse einzusetzen ist“ (Joas 1992a: 264), einer Lösung näher bringen.
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xisform des Tausches angewendet werden. Wenn sich theoretisch zeigen lässt, dass diese Anwendung der praxistheoretischen Soziologie auf den Tausch neue Einsichten in diese Praxisform hervorbringt, kann davon ausgegangen werden, dass eine Soziologie der Praxis die Entstehung von unterschiedlichen Praktiken und Praxisformen systematisch erklären kann und dadurch ein besseres Verständnis gesellschaftlicher Praxis ermöglicht. Gerade eine reflexive Sensibilität für den praktischen Sinn der Praktiken und Praxisformen, die den Theoriestil der Praxistheorie ausmacht, erlaubt es, so meine These, die unterschiedlichen Formen des sich in der Gegenwartsgesellschaft ereignenden Tausches zu bestimmen und dadurch Praxisformen des Tausches nicht nur zu identifizieren, sondern auch in ihren praktischen Logiken zu verstehen. Damit wird eine praxissoziologische Theorie des Tausches möglich, die sich weder als kollektivistische noch als individualistische Tauschtheorie versteht, sondern gerade diese Dichotomisierung der Tauschtheorien mit den Mitteln der Praxistheorie hinter sich lassen will.45
45 So hatte bereits Peter Ekeh (vgl. 1974), wie von mir in der Einleitung zum vorliegenden Buch angesprochen, die sozialwissenschaftlichen Tauschtheorien in kollektivistische und individualistische Ansätze kategorisiert. An dieser Unterscheidung orientieren sich unter anderem Stentzler (1979) und Clausen (1978). Inzwischen ist es in der Soziologie selten geworden, sich mit dem Tausch theoretisch auseinanderzusetzen. Gründe dafür gebe ich im nächsten Teil dieser Arbeit.
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3 Die Wissenschaften „verlangen nach etwas Messbarem. Daran ist sowohl etwas Gutes als auch etwas Schlechtes. Es ist wirklich etwas Gutes, sofern sich feststellen lässt, dass die messbare Quantität im Gegenstandsbereich der betreffenden Wissenschaft eine bedeutende Rolle spielt. Schlecht ist es, wenn der Wissenschaftler bei der Suche nach etwas Messbarem den eigentlichen Belangen seiner Wissenschaft den Rücken kehrt und sich auf einen – sei es noch so gangbaren – Abweg der Trivialitäten ablenken lässt.“ (Quine 1985: 188f.)
Obwohl der Tausch in den letzten Jahrzehnten kaum noch zu einem expliziten Gegenstand soziologischer Abhandlungen gemacht wird, ist er traditionell ein wichtiges Thema der Soziologie. Der Tausch ist, weil er sich nur zwischen mindestens zwei sozialen Akteuren ereignen kann, eine wichtige Form der Sozialität. Deshalb ist es nicht überraschend, dass er in der Geschichte der Soziologie vielfältig thematisiert worden ist. Dabei sehen nicht wenige Sozialtheorien den Tausch als grundlegende Form der Sozialität an. So definiert die behavioristische Theorie George C. Homans’ (vgl. 1958), an die vor allem US-amerikanische Tauschtheorien anschließen (vgl. etwa Blau 1992; Coleman 1991), alles soziale Verhalten, also für Homans alle Sozialität, als Austausch. Und bereits Georg Simmel, ein Klassiker der deutschen Soziologie, misst dem Tausch in seiner Philosophie des Geldes eine zentrale Bedeutung für die Entstehung und Reproduktion sozialer Beziehungen bei, wenn er schreibt: „Man muss sich [...] klar machen, dass die Mehrzahl der Beziehungen von Menschen untereinander als Tausch gelten kann; er ist die zugleich reinste und gesteigertste Wechselwirkung, die ihrerseits das menschliche Leben ausmacht, sobald es einen Stoff und Inhalt gewinnen will.“ (Simmel 1989: 59)
Mit dieser Aussage legt Simmel wie Homans nahe, dass der Tausch ubiquitär, also die Form jeder Sozialität ist. Und auch Bourdieu leistet der Annahme Vorschub, mit dem Begriff Tausch könne jede soziale Praxis erfasst werden, wenn er sagt, dass mit einem „Erzeugungsmodell“ (Bourdieu 1987: 185) des Austausches „eine Unzahl einzelner phänomenologisch so verschiedener Tauschvorgänge wie Gabentausch, Wortwechsel und Herausforderung sehr sparsam erklärt werden können“ (ebd.). Der Verdacht, dass Bourdieu mit einer Theorie des Tausches alle sozialen Praxisformen der Gesellschaft erfassen will, erhärtet sich, wenn gesehen wird, wie er bezüglich des sprachlichen Austausches von einer „Ökonomie der symbolischen Güter“ spricht, die sich auf einem sprachlichen Markt entfaltet (vgl. Bourdieu 2005b: 41ff.), um dann das sprachliche Geschehen mit ökonomischen Begriffen als Markt der sprachlichen Diskurse zu beschreiben (vgl. ebd.: 73ff.). Im Kontext der oben von mir aufgestellten und begründeten Paradigmen einer praxistheoretischen Soziologie möchte ich gegen diese Vorstellungen betonen, dass der Tausch als spezifische, von anderen Praxisformen wie etwa der Herrschaftsausübung oder der sozialen
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Delegation zu unterscheidende Praxisform gefasst werden muss. Dies vermeidet es zum einen, die gesellschaftliche Praxis auf die praktische Logik des Tausches zu reduzieren. Zum anderen erlaubt die begriffliche Spezifikation des Tausches eine qualitative Bestimmung der praktischen Logiken, die im Tausch wirksam werden. Mit einem solchen, am Praxisbegriff orientierten Begriff des Tausches wird eine Theorie möglich, die unterschiedliche Formen des Tausches identifiziert und aufeinander bezieht, um der Vielfalt der modernen Tauschpraxis theoretisch gerecht werden zu können, ohne den Tausch dabei als Form jeder Sozialität zu stark zu generalisieren. Um dies zu leisten, entwickle ich aus den Paradigmen der soziologischen Praxistheorie einen Begriff des Tausches (3.1), der die spezifischen Eigenschaften dieser Praxisform zunächst formal bestimmt. Zur daran anschließenden reflexiven Konstruktion einer Praxistheorie des Tausches ist es notwendig, die in der Soziologie wichtigsten Thematisierungsformen des Tausches einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Hier sehe ich zwei Strömungen, die ich getrennt voneinander untersuchen möchte. Zum einen wird der Tausch als typisch moderner Mechanismus zur Reproduktion der modernen Ökonomie gesehen, der sich als Austausch von Waren im Tauschmedium des Geldes vollzieht und deshalb eine im KostenNutzen-Schema rekonstruierbare Praxisform ist (3.2). Daneben beeinflussen, wie bereits Peter Ekeh (1974: 21-33) darlegt, die frühen Interpretationen des Tausches in tribalistisch geprägten Regionen der Welt etwa durch James George Frazer (vgl. 1900: 128ff.) und Bronislaw Malinowski (vgl. 1979) die Tauschtheorien in nicht unerheblichem Maße. Und auch ich möchte mich zur Entwicklung einer Praxistheorie des Tausches von den Beschreibungsformen der Tauschpraxis in tribalistischen Gesellschaften inspirieren lassen, weil sie den Blick auf bestimmte, vom Warentausch deutlich zu unterscheidende Tauschformen in ganz spezifischer Weise öffnen. Der entscheidende Kristallisationspunkt für die ethnologisch geprägten Untersuchungen von Tauschpraktiken etwa in Polynesein, auf den ich mich in diesem Zusammenhang beziehen möchte, ist der Gabenessay von Marcel Mauss (vgl. 1990) aus dem Jahre 1924, der die bis dahin durchgeführten ethnologischen Studien zum Tausch bündelt und einer genuin soziologischen Deutung unterzieht. Der Gabentausch wird hier als sozialer Mechanismus interpretiert, der sich im preislosen Austausch von Gaben ereignet und mit Symbolen und Ritualen verbunden ist. Diese Studie entfaltet eine breite Wirkung auf die theoretische Fassung von Tauschpraktiken. Eine Aufarbeitung der vielschichtigen Rezeptionsgeschichte des Gabenessays erlaubt eine genauere Reflexion darüber, wie die symbolischen Dimensionen des Tausches angemessen zu einer Analyse der Tauschpraxis berücksichtigt werden können (3.3). Mit der Aufarbeitung dieser beiden Theoriestränge des Tausches soll die These belegt werden, dass die theoretische Konstruktion von Modellen des reinen Gabentausches und des reinen Warentausches und die damit verbundene Gegenüberstellung dieser Tauschformen in einem Ausschließungsverhältnis wenig hilfreich sind zur Untersuchung der Praxis des Tausches. Denn im Tausch wird eine Simultanität von Praktiken des Kaufens, Verkaufens und Schenkens praktisch, die sich mit Modellen des reinen Gabentausches und des reinen Warentausches nicht adäquat erfassen lässt. In Überwindung dieser Dichotomisierung (3.4) entwickle ich eine Typologie verschiedener Tauschformen, mit deren Hilfe die wichtigsten Praxisformen des Tausches bestimmt, aufeinander bezogen und in ihrer Bedeutung für die Strukturierung der Praxis untersucht werden können. Dies verdeutlicht Praxiseffekte und Strukturdynamiken, die durch die vielfältige Tauschpraxis entstehen (3.5). Im
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Resümee der Praxistheorie des Tausches bündele ich die Argumentation, indem ich ihre wichtigsten Ergebnisse abschließend herausstelle (3.6).
3.1 Begriff des Tausches Bezüglich des Tausches könnte man versucht sein zu sagen, dass die kultursoziologische Ausrichtung der Praxistheorie die Beschreibung und Analyse dieser Praxisform unnötig verkompliziert, weil doch gerade der Tausch relativ leicht als grundlegender Mechanismus der kapitalistischen Ökonomie verstanden werden kann. Denn wir alle praktizieren täglich Tauschvorgänge, ohne sie zu reflektieren, indem wir Gebrauchsgegenstände, die so genannten Lebensmittel, mit Geld erwerben. Der Tausch wird als Kauf und Verkauf erlebt und das Geld ist dabei ein selbstverständliches Tauschmittel, weil es für Käufer und Verkäufer einen Tauschwert besitzt, das heißt, es kann auch in anderen Kontexten zum Kauf von Gütern und Dienstleistungen eingesetzt werden. Diese für die Ökonomie grundlegende Praxis des geldvermittelten Warentausches gilt der soziologischen Forschung traditionell als Indiz für die Rationalisierung gesellschaftlicher Praxis, weil Tauschvorgänge mit dem Geld berechenbar werden, indem zu tauschende Güter einen Preis erhalten, der sie in ihrem Tauschwert vergleichbar macht. Die Frage, welcher Gegenstand gegen welchen Gegenstand getauscht wird, lässt sich durch die Frage ersetzen, wie viel ein zu erwerbendes Gut kostet. Eine komplizierte Verhandlung über den Tauschvorgang erübrigt sich dadurch und wird durch einen kalkulierenden Preisvergleich ersetzt. Wird aber ein Gut erworben, das für den Käufer bzw. die Käuferin einen sehr hohen Wert hat, löst sich der Kauf aus seiner Alltäglichkeit, weil die Kaufentscheidung dann typischerweise reflektiert wird. Der Erwerb etwa einer Eigentumswohnung ist keine selbstverständliche Praxisform und ereignet sich im Lebenslauf, wenn überhaupt, nicht sehr häufig. Ähnliches gilt für den Erwerb von Autos oder anderen so genannten Wertgegenständen, deren Wert nicht nur als Gebrauchswert definiert werden kann. Auch und gerade der geldvermittelte Tausch ist folglich keine mechanische Praxisform, die ohne Symbole und kulturelle Sinngebungen auskommt, wie nicht nur eine kultursoziologische Konsumforschung nachweisen kann (vgl. Zelizer 2005). Auch wenn Kauf und Verkauf häufig wie selbstverständlich geschehen, erschließt sich die Logik dieser Praxis nicht schon dadurch, eine theoretische Logik des vermeintlich rationalen Warentausches zu entwickeln, ohne zu prüfen, welcher praktische Sinn Kauf und Verkauf steuert. Eine Situation, in der Kauf und Verkauf nahezu ohne jede symbolische Repräsentation der hier entstehenden Praktiken auskommen, ist letztlich nur als unrealistische Modellsituation vorstellbar. Denn selbst bei Tauschvorgängen in Motels oder Autobahnraststätten, in denen kaufendem und verkaufendem Akteur in gleichem Maße bewusst ist, dass sie sich nach Abschluss des Handels nie wieder begegnen werden und deshalb an Kundenbindung und ähnlichem nicht interessiert sein können, wirken symbolische Formen des Tausches, wenn etwa die Vertrauenswürdigkeit des anbietenden Motels durch eine bestimmte Marke oder durch eine entsprechend ausgewählte Einrichtung symbolisiert wird. Und auch der Erwerb von Brötchen am Wohnort ist bereits damit verbunden, Freundlichkeiten auszutauschen und dadurch eine dauerhafte Kundenbeziehung als symbolische Form herzustellen. Dies ist im Sinne
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einer am Kalkulationsbegriff orientierten Marktlogik nicht notwendig, geschieht aber dennoch regelmäßig. Zur Entwicklung eines allgemeinen Begriffs des Tausches muss zusätzlich berücksichtigt werden, dass die Praxis des Tausches in der Gegenwartsgesellschaft mit der kultursoziologischen Rekonstruktion des Warentausches nicht hinreichend analysiert ist. Denn wir kaufen und verkaufen nicht nur Waren, sondern tauschen auch Güter und Dienstleistungen als Gaben und Geschenke. Der so praktizierte Tausch geschieht nicht im direkten, äquivalenten Austausch von Gütern gegen Geld, sondern ereignet sich in zeitlicher Streckung. Gabe und Gegengabe sind nicht direkt aufeinander bezogen, obwohl sie sich unter bestimmten Bedingungen sinnhaft aufeinander beziehen müssen, damit sie als Tausch beobachtet werden können. Dennoch sind sie nicht als äquivalente Werte definiert, weil dann das praktische Prinzip des Gabentausches, das im weiteren Verlauf der Argumentation genauer untersucht werden muss, nicht zur Wirkung kommen kann. Diese Praxisform des Tausches unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der Praxis des Warentausches und ist ein wichtiges Element gesellschaftlicher Praxis. Nicht warenförmige Formen des Tausches, die im Übrigen, wie unten genauer zu zeigen sein wird, wichtige Bestandteile auch der Praxis des Warentausches sind, ereignen sich nicht nur zu besonderen Anlässen wie Weihnachten oder Geburtstagen, sie sind Elemente der Praxis in allen gesellschaftlichen Feldern (vgl. Adloff und Mau 2005b), womit das Feld der Ökonomie, das als wichtigste Quelle des Warentausches gelten kann, ausdrücklich eingeschlossen ist. Um der hier angerissenen, unten genauer zu fassenden Vielfalt der Tauschpraxis gerecht werden zu können, muss ein soziologischer Begriff des Tausches allgemein ansetzen, ohne dabei den Tausch als das Prinzip jeder Sozialität überzugeneralisieren. In einer klassischen Definition Max Webers, die diesen Minimalanforderungen für einen Begriff des Tausches ansatzweise gerecht wird und deshalb als Ausgangspunkt dienen kann, ist der Tausch „jede auf formal freiwilliger Vereinbarung ruhende Darbietung von aktuellen, kontinuierlichen, gegenwärtigen, künftigen Nutzleistungen von welcher Art immer gegen gleichviel welcher Art von Gegenleistungen“ (Weber 1980: 37). Der Begriff Tausch bezieht sich folglich auf die Gabe von etwas in Erwartung oder Erwiderung einer Gegengabe (vgl. Berger 1999: 313). Beim Tausch geht es nicht ausschließlich um einen Besitzwechsel von Objekten, sondern auch um den Austausch von immateriellen Gaben, die sich nicht als materiale Objekte darstellen lassen und im eigentlichen Sinne nicht besessen, aber dennoch als wertvolle Gaben, also als Tauschobjekte, symbolisiert werden können. Die minimale Voraussetzung für die Praxisform des Tausches ist, dass sich Gabe und Gegengabe wechselseitig entsprechen, also aufeinander bezogen sind. Schon hier wird deutlich, dass der Begriff Tausch nicht synonym mit dem Begriff Warentausch verwendet werden kann, weil er in der hier angeführten allgemeinen Definition auch alle nicht-warenökonomischen Formen der reziproken Transaktion von Gütern und Dienstleistungen umfasst (vgl. Elwert 1991: 165). Formal ausgedrückt geht es beim Tausch zunächst um die Veräußerung eines wie immer bewerteten Gutes materieller sowie immaterieller Art, das man als Gabe bezeichnen kann. Für diese Gabe wird eine wiederum bewertete Gegengabe materieller oder immaterieller Art gegeben, die sich von der ersten Gabe unterscheiden muss, damit von einem Tausch gesprochen werden kann. Erst wenn die Gegengabe geschehen ist, ist der Tauschvorgang abgeschlossen. Der Tausch besteht also nach Webers Definition aus mindestens
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zwei Praktiken: aus Gabe und Gegengabe. Bei genauerer Betrachtung werden aus diesen zwei Praktiken mindestens vier, denn die Gabe (erste Praktik) muss angenommen werden (zweite Praktik). Dazu muss sie als etwas erkannt werden, das einen Wert hat, damit eine Gegengabe überhaupt wahrscheinlich wird. Wird dies erkannt, muss die Gegengabe getätigt werden (dritte Praktik). Diese Gegengabe muss angenommen werden (vierte Praktik). Dazu muss sie in Relation zur Gabe gestellt werden, wodurch auch die zweite Gabe bewertet wird. Wird auf diese Weise formal bestimmt, aus welchen Einzelpraktiken die Praxisform des Tausches besteht, lässt sich sehen, dass diese Tauschpraktiken so lange keine Praxisformen bilden, bis sie sich nicht zum Abschluss von Tauschvorgängen miteinander in spezifischer Weise verkettet haben. Der so gefasste Formalismus einer Verkettung von Einzelpraktiken zu Praxisformen verweist zusätzlich auf einen für die Praxistheorie des Tausches grundlegenden Topos: Jeder Tausch, auch der Warentausch, ist mit Bewertungen verbunden, die sich nur symbolisch ereignen können und gegebenenfalls hoch komplex sind. Denn ohne diese kulturellen Symbolisierungen können sich die Einzelpraktiken nicht zu Tauschformen verketten, weil ohne sie Gegenstände nicht als Tauschobjekte verstanden werden könnten. Es geht im Tausch also immer um Wert und Bewertung von etwas, das als Gegenstand des Tausches erscheint. Im Anschluss etwa an Karl Marx (1983: 100), auf dessen (Aus)Tauschtheorie ich unten ausführlicher zurückkomme, kann gesagt werden, dass der Austausch von Gaben im Gabentausch diese Gaben als symbolische und dadurch unbestimmte Werte aufeinander bezieht. Die Ware hat dagegen im Warentausch für den Gebenden keinen Gebrauchswert, sondern nur einen Tauschwert, während sie für den Nehmenden keinen Tauschwert, sondern einen Gebrauchswert hat. Die Bewertung der Praktik des Gebens und der Praktik des Zurückgebens wird im Warentausch standardisiert, indem die Tauschgegenstände als Waren definiert werden. Dennoch ist auch der Warentausch mit kulturellen Bewertungen verbunden, die mit dem Geldmedium im Preis symbolisiert sind. Dies verdeutlicht des Weiteren: Für das Zustandekommen von Tauschvorgängen müssen diverse Bedingungen erfüllt sein. Die wichtigsten Komponenten der Bedingungen für Tausch sind: Gebende Akteure, nehmende Akteure, die Gabe erwidernde Akteure, Gegengabe nehmende Akteure, zu gebender Tauschgegenstand, zu erwidernder Tauschgegenstand, Situation und Zeit. Diese unvollständige Liste der Bedingungen für Tausch macht bereits deutlich, dass es sich hier um eine hoch komplexe Praxisform handelt, die sich der Theorie nur dann erschließt, wenn die Verkettung der in ihr enthaltenen Einzelpraktiken auf die genannten Bedingungen bezogen wird. Im Kontext dieser vielfältigen Bedingungen für das Zustandekommen der Praxisform des Tausches sind die möglichen Tauschgegenstände mannigfaltig zu konzipieren. Es können materielle Güter, symbolische Güter, Ehre etc. sein, die zwischen unterschiedlichen Akteuren getauscht werden. Und es gibt, wie Maurice Godelier (vgl. 1999: 51ff.) verdeutlicht, Gegenstände, die für die Akteure, die sie besitzen, unveräußerlich sind, die also nicht getauscht, sondern als persönlicher Besitz bewahrt und, wenn überhaupt, nur an die Nachkommen weitergegeben werden, weil sie für die Akteure einen besonderen „Wert“ haben. Deshalb ist schon die Frage interessant, warum bestimmte Gegenstände eben nicht als Besitz bewahrt, sondern veräußert werden, warum also bestimmte Gegenstände in bestimmten Situationen zum Gegenstand des Tausches werden können.
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Die Definition der Situation, in der getauscht wird, erschließt den Rahmen, der den Tausch möglich macht und sehr davon abhängt, wer was wem wann zum Tausch anbietet. Um diese Bedingungen in den theoretischen Blick nehmen zu können, möchte ich die Praxis des Tausches in den von Luhmann definierten drei Dimensionen des Sinngeschehens fassen, in der Sach-, Sozial- und Zeitdimension (vgl. Luhmann 1984: 112). Eine in diesen drei Dimensionen vorgenommene Relationierung der unterschiedlichen Praktiken des Tausches zueinander klärt, welche sozialen Mechanismen hinter den alltäglichen Praxisformen des Tausches stehen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit diese Praxisformen täglich wie selbstverständlich möglich werden. In der Sachdimension ist die Frage wichtig, was getauscht wird. In der Sozialdimension muss gefragt werden, wer wem etwas zum Tausch anbietet und in welcher sozialen Relation die tauschenden Akteure, Kollektive oder Organisationen zueinander stehen. Und in der Zeitdimension ist zu thematisieren, wann Tauschpraktiken bzw. Praktiken der Erwiderung von Gaben entstehen, mit welchen Formen der Temporalisierung die Verkettung von Tauschpraktiken also symbolisiert wird. Die oben (2.4) rekonstruierten Paradigmen der Praxistheorie eignen sich zur theoretischen Ausformulierung dieser begrifflichen Fassung des Tausches als Verkettung von Einzelpraktiken in der Sach-, Sozial- und Zeitdimension, weil mit ihnen kein substanzieller, sondern ein formaler Begriff des Tausches möglich wird, der die Relationen zwischen den im Tausch verketteten Einzelpraktiken als Quellen der Sinnproduktion ansieht. Die Rahmenbedingungen des Tausches lassen sich, wie auch die in ihm enthaltenden Praktiken, nur durch eine Analyse der symbolischen Ebene der Praxis identifizieren. Wichtig ist es dabei, zwischen der Fähigkeit zur Imagination von Akteuren und der Symbolisierung dieser Imagination zu unterscheiden. Das, was Castoriadis als das Imaginäre der Gesellschaft bezeichnet, verschafft sich gegebenenfalls Ausdruck in symbolischen Formen, die sich nur durch eine Beobachtung der Praktiken, die diese Formen produzieren und/oder reproduzieren, identifizieren lassen. Dies sind Praktiken der Rezeption, die auf kulturelle Schemata Bezug nehmen, und Inzeption, die sich durch Neuschaffung kultureller Schemata durch Variation von Sinngehalten auszeichnen. Durch diese Praktiken entstehen und/oder reproduzieren sich symbolische Formen als sichtbare Umformungen des Imaginären, also der Fähigkeit sozialer Akteure zur Imagination. Diese Unterscheidung zwischen Imagination und Symbol, die Castoriadis nicht explizit macht, weil er den gesellschaftlichen Sinn und „das Imaginäre“ mehr oder weniger gleich setzt, ist für eine Praxistheorie des Tausches deshalb wichtig, weil sie verdeutlicht, dass die soziologische Beobachtung von Praxisformen des Tausches die Abbildung des Imaginären des Tausches in den symbolischen Formen sichtbar macht. Dabei ist jede theoretische Festlegung einer symbolischen Form eine theoretische Abstraktion von der durch die Akteure imaginierten Logik der Praxis. Diese Abstraktion muss notwendig reflektiert werden, damit Praktiken nicht in eine abstrakte theoretische Logik eingeordnet werden. Wir stehen an dieser Stelle vor dem erkenntnistheoretischen Problem, das bereits, wie oben gezeigt, Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen dazu geführt hat, die Theorie an formalen Relationen zu orientieren, was die Vielfalt der symbolischen Formen erst sichtbar macht. Auch für die kultursoziologische Analyse des Tausches ist diese Vorgehensweise viel versprechend, wenn sie für die Soziologie von ihrer bewusstseinsphilosophischen Ausrichtung, mit der sie Cassirer noch versehen hatte, befreit wird, indem symbolische Formen
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als soziokulturelle Kristallisationen von praktischem Sinn gefasst werden, also als kulturelle Schemata, die als Ausdruck des praktischen Sinns verstanden werden, der im Vollzug der Tauschpraxis in der Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität entsteht.1 Zur praxistheoretischen Analyse von Tauschpraktiken müssen mit anderen Worten kulturelle Schemata als symbolische Formen der Praxis identifiziert und rekonstruiert werden. Diese Schemata werden als habituell verankerte, von Akteuren inkorporierte Deutungsmuster gefasst, die in den Praktiken, aus denen die Praxisform des Tausches besteht, aktualisiert werden, weil die inkorporierte Sozialität in Relation zur objektivierten Sozialität steht. Dieses zentrale Argument einer Praxistheorie des Tausches lässt sich bei einer Betrachtung von Ritualen, die eng mit Tauschpraktiken verbunden sind, weil, wie wir spätestens seit Erving Goffman (vgl. etwa 1991: 54ff.) wissen, alle Interaktion rituell gerahmt ist, weiter plausibilisieren. Die „Magie“ des Rituals besteht gerade darin, dass die Regeln der Praxis nicht schriftlich niedergelegt sind. Sie entstammen einem sozialen Gedächtnis, einer kulturellen Repräsentation, die sich in der Praxis selbst immer wieder neu reproduzieren muss. Ohne habituelle Verfügung über spezifische Dispositionen ist das Ritual nicht möglich. Gleichsam müssen neben diesen Formen der inkorporierten Sozialität bestimmte Materialisierungen, also Objektivierungen der Sozialität vorhanden sein, die den Rahmen des Rituals bilden. Diese beiden unterschiedlichen Formen der Sozialität beziehen sich in einer Symbolwelt komplementär aufeinander, wenn sie Praxisformen generieren sollen. Sie müssen, da sie konstitutiv nicht deckungsgleich sein können, durch Symbolisierungen aufeinander abgestimmt werden. Das Symbol zeichnet sich im Gegensatz zum Zeichen darin aus, Sinngehalte zu bündeln und dadurch der Praxis zur Verfügung zu stellen. Durch Symbolisierungen der Praxis kann praktischer Sinn entstehen, der Akteure in Praxis verwickelt. Symbole liegen dabei, und das zeichnet sie aus, nicht als Texte vor, die genau analysiert werden können. Sie sind Verdichtungen von Sinn, die sich in unterschiedlicher Weise interpretieren lassen und dennoch thematisch generalisieren. Symbole haben ihre praktische Relevanz dadurch, dass sich in ihnen Bedeutungsgehalte bündeln. Sie ermöglichen durch die Gleichzeitigkeit von Unspezifik und Generalisierung eine ständige Rezeption der in ihnen gebündelten Sinngehalte. „Symbole setzen“, wie Hans-Georg Soeffner (1989: 162) mit Bezug auf Cassirer und Schütz treffend formuliert, „keine Zeichen für etwas – sie sind selbst die Realität oder ein Teil der Realität, der sich in ihnen ausdrückt.“ Ein praxistheoretischer Begriff des Tausches, in dessen Definition diese symbolische Dimension der Praxis einbezogen wird, kann nicht aus einem nomologischen Erklärungsmodell abgeleitet werden, weil die Symbole und der durch die Symbole ausgedrückte praktische Sinn des Tausches nicht ahistorisch festgelegt werden können. Die Praxistheorie lehnt rationalistische und andere differenzlose Begriffsbildungen als unzureichend ab, weil sie davon ausgeht, dass die habitualisierten Strukturen sich mit den variablen Symbolisierungen und Sinngebungen der Praxis wandeln. Die soziologische Beobachtung von kulturellen Bedeutungen, die sich um Tauschprozesse herum ablagern, erlaubt es, die Praxis des Tau-
Andreas Reckwitz (vgl. 2006: 35ff.) spricht in diesem Zusammenhang von kulturellen Codes, was sehr an Luhmanns binäre Codes erinnert. Form ist der zu bevorzugende Begriff, weil mit ihm die multiple und nicht nur duale Bindung von Sinnelementen besser verdeutlicht und verstanden werden kann.
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sches jenseits einer theoretischen Logik, die sich auf ahistorische Annahmen stützt, zu bestimmen. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass mit dem Begriff Tausch eine Interaktion bezeichnet ist, die nur zwischen mindestens zwei Akteuren stattfinden kann. Diese können sich im Tausch nicht voraussetzungslos begegnen. Damit die Praktiken und Praxisformen des Tausches entstehen können, werden Akteure benötigt, die sozial dazu disponiert sind, „sich“, wie Bourdieu (1998a: 168) es formuliert, „ohne Absicht und Berechnung auf das Spiel des Tauschs einzulassen“. Diese sich im Habitus manifestierenden Dispositionen sind wiederum Produkt der Praxis, sie sind keine ahistorischen Dispositionen, sondern sozialisierte Denk-, Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bewertungsschemata, die in Relation zu objektivierten Schemata Praxisformen ermöglichen. Dabei kann die Praxis des Tausches nicht, wie die hier angeführte Aussage Bourdieus es nahe zu legen scheint, mit einem Spiel verwechselt werden, weil im Tausch nicht nur kalkulierende Aspekte eine Rolle spielen. Erving Goffman würde die Praxisform des Spiels, die es zweifelsohne gibt, als strategische Interaktion bezeichnen (vgl. Goffman 1981), wobei er sehr richtig darauf aufmerksam macht, dass diese Form der Interaktion nur eine unter vielen anderen ist. Spieltheoretiker müssen sich für diese spezifische Form der Interaktion interessieren, weil es für sie konstitutiv ist, „vereinfachte, sehr weit hergeholte Modellsituationen zu verwenden“ (Goffman 1981: 80), um Sozialität als Spiel zu untersuchen. Die in Spieltheorien so genannten Restkategorien des Spiels sind nun die entscheidenden Ansatzpunkte für eine Theorie der Praxis. So ist etwa der Spielstil des „Gegenspielers“ nicht vollständig kalkulierbar (vgl. Goffman 1981: 85). Selbst wenn unterstellt wird, das die am Spiel beteiligten Akteure alle davon ausgehen können, dass die Mitspieler die Regeln des Spiels kennen, selbst diese Annahme ist mehr oder weniger unrealistisch, können die Beteiligten dennoch nicht wissen, wie die Mitspieler die Regeln des Spiels auslegen, wie sie mit anderen, an Wittgenstein angelehnten Worten Regeln praktisch werden lassen. Vereinfacht auf den Punkt gebracht, heißt das: Wer die Regeln des Spiels zu kennen glaubt, kennt noch nicht das Spiel. Ein praxistheoretischer Begriff des Tausches vermeidet es deshalb, spieltheoretisch anzusetzen. Er zielt darauf ab, gerade die Differenz zwischen theoretischen Modellen und der praktischen Logik des Tausches reflexiv dazu zu nutzen, Tauschformen jenseits von vereinfachenden Modellkonstruktionen zu bestimmen. Zudem berücksichtigt ein praxistheoretischer Begriff des Tausches im Anschluss an die inzwischen weitgehend vergessenen Einsichten in den Tauschmechanismus durch Peter M. Blau, dass der Tausch als Praxisform emergente Eigenschaften hat. Die Hauptthese von Blaus genereller Soziologie des Tausches, die an die formale Beziehungssoziologie Georg Simmels anschließt, ist: Nicht nur komplexe soziale Strukturen, wie Märkte und Angebotsstrukturen, erzeugen emergente Effekte, bzw. besitzen emergente Eigenschaften (properties), sondern auch „einfache“ Interaktionen zwischen sozialen Akteuren (vgl. Blau 1992: 4). Diese können strukturbildend wirken und sind deshalb Quellen gesellschaftlicher Strukturdynamiken. Diese Strukturierung lässt sich nach Blau nicht allein auf die psychischen Eigenschaften der beteiligten Akteure zurückführen, sie liegt in der Interaktion selbst begründet (vgl. auch Blau 1960). Eine der wichtigsten Formen dieser strukturbildenden Interaktionen ist nach Blau der Tausch, der eine Emergenz von unten (vgl. Kappelhoff 1993: 20f.) erzeugt. Die Verkettung von Praktiken zu Praxisformen ist ganz im Sinne dieses Arguments zu verstehen. Denn der Begriff Tausch bezeichnet keine Struktur, sondern eine Praxisform, die
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nur prozessual definiert werden kann. Dieser Prozess ist nicht auf flüchtige Beziehungsformen zu begrenzen, die sich mit Abschluss des Tauschprozesses wieder auflösen wie etwa beim Kauf von Lebensmitteln in einem Supermarkt, der in der Regel keine dauerhaften sozialen Beziehungen zwischen kaufendem und verkaufendem Akteur hervorbringt. Indem Blau deutlich macht, dass der Tauschbegriff nicht auf ökonomische Prozesse begrenzt werden kann, führt er den Tausch als strukturbildende Praxisform ein. Diese Einsicht gewinnt er im Anschluss an die formale Beziehungssoziologie Simmels, die nicht nur eine Typologisierung des Tausches impliziert, sondern auch seine Bedeutung für die Genese und Reproduktion sozialer Beziehungen hervorhebt (vgl. etwa Simmel 1992: 660ff.). Deshalb verengt Blau den Tauschbegriff nicht auf den ökonomischen „Äquivalententausch“, indem er diesen vom „sozialen Tausch“ wie folgt prägnant unterscheidet: „The most basic difference [between social and strictly economic exchange; F. H.] is that the obligations incurred in social transactions are not clearly specified in advance. [...] In social exchange, by contrast, one party supplies benefits to another, and although there is a general expectation of reciprocation, the exact nature of the return is left unspecified. Indeed, it must remain unspecified, since any attempt to specify it in advance destroys the social meaning of the transaction by transforming it into a merely economic one. Doing a favor has an entirely different social significance from making a bargain.” (Blau 1974: 208f.; vgl. Blau 1992: 94ff.).
Nach Blau gibt es offensichtlich Formen des Austausches, die sich nicht mithilfe kausaler Rationalitätsmodelle erklären lassen, weil sie sich nicht in einem Kosten-Nutzen-Modell auflösen. Blau unterscheidet die Formen des Äquivalententausches von Waren, von ihm mit dem Begriff „strictly economic exchange“ bezeichnet, von den Formen des Tausches, die er mit dem Begriff des sozialen Tausches fasst und die sich nach ihm dadurch auszeichnen, dass sie nicht auf Kalkulation der getauschten Güter beruhen. Dadurch nimmt er die Emergenz des Tausches mehrdimensional in den theoretischen Blick. Denn die Formen des sozialen Tausches sind für ihn die Tauschformen, die häufig auf Dauer gestellt sind und soziale Beziehungsgeflechte der Reziprozität hervorbringen, innerhalb derer wiederum spezifische Formen des Tausches zwischen sozialen und kollektiven Akteuren entstehen. Eine formale Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Tauschformen, wie sie von Blau vorbereitet wird, lässt sich jedenfalls für eine Soziologie des Tausches fruchtbar machen, wenn sie zur Erklärung der Genese spezifischer Formen der sozialen Aggregation, die in der Literatur häufig mit dem Netzwerkbegriff bezeichnet werden, weiterentwickelt wird, indem die unterschiedlichen Formen des Tausches als strukturbildende Praxisformen gefasst und in Verlaufsmodelle überführt werden, die sich zur Erklärung von Strukturbildungen eignen. Um dies zu leisten, müssen die kulturellen Implikationen von Tauschformen deutlich genauer gefasst werden, als dies in Blaus formaler Tauschtheorie geschieht, denn Praxisformen des Tausches lassen sich nur dann in hinreichender Präzision bestimmen, wenn sie in einem Symbolsystem verortet werden, das sich nur kultursoziologisch erschließt. Es geht also um nicht weniger als die Entwicklung einer kultursoziologischen Praxistheorie des Tausches. Eine solche Theorie muss es im Anschluss an die hier vorgenommene praxissoziologische Begriffsbildung ermöglichen, die Praxiseffekte der Tauschformen zu bestimmen, die sich in der Bildung von sozialen Strukturen Ausdruck verschaffen. In diesem Zusammen-
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hang ist die Tauschtheorie im Anschluss an Blaus Unterscheidung zwischen ökonomischem und sozialem Tausch bestrebt, nicht nur von einem Praxisprinzip des Tausches auszugehen, sondern verschiedene Tauschformen mit praktischen Logiken voneinander zu unterscheiden und gleichsam miteinander in Beziehung zu setzen. Dazu ist es wichtig, die weit verbreitete theoretische Unterscheidung zwischen dem Warentausch und anderen, oft als symbolisch bezeichneten Tauschformen (wie etwa den Gabentausch) genau zu konturieren, um sie dann theoretisch zu überwinden. Aus dieser Theoriearbeit können Praxisformen des Tausches entwickelt werden, indem die unterschiedlichen theoretischen Prinzipien des Tausches, die in der soziologischen und ethnologischen Forschung regelmäßig identifiziert und diskutiert werden, einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Dies erlaubt nicht nur die Entwicklung einer Typologie des Tausches, sondern ermöglicht eine neue Thematisierung der Reziprozität, des Verhältnisses von Tausch und Macht sowie des Verhältnisses von Tauschformen zur Entstehung von sozialer Solidarität. Zur dazu notwendigen Aufarbeitung der Theorien des Tausches beginne ich mit der Thematisierung des Warentausches im Anschluss an Karl Marx. Denn der Tausch von Waren im symbolisch generalisierten Tauschmedium Geld gilt in der soziologischen Literatur schließlich als die paradigmatische Tauschform der Moderne.
3.2 Ware, Geld, Markt und Tausch „Niemand kann ja die unerlässliche Arbeit der Übersetzung, und das heißt hier [in den Wirtschaftswissenschaften; F.H.] Reduktion der Verwicklungen von Leuten und Gütern auf dem Rechenblatt, verwechseln mit dem, was sich wirklich in den Köpfen der Leute und durch die Macht dieser Güter abspielt.“ (Latour 2001: 195f.)
Grundlegende Einsichten in den sozialen Mechanismus des im Tauschmedium Geld praktizierten Tausches von Waren verdanken wir Karl Marx, der mit seiner Analyse kapitalistischer Austauschprozesse an die klassische Sicht der Ökonomie etwa durch Adam Smith anschließt, indem er sie einer grundsätzlichen Kritik unterzieht. Marx kommt dabei zu einer wirkmächtigen Beschreibung von durch den Kapitalismus erzeugten Austauschprozessen, durch die traditionale Formen des Gütertausches auf regionalen Märkten immer mehr obsolet werden. Indem Güter in kapitalistischen Produktionsverhältnissen zu Waren werden, die Produkte der Arbeit sind, entstehen neue Formen des Austausches von Waren, die auf Geld basieren und eigenen, ihnen immanenten Gesetzen gehorchen. „Der Warentausch beginnt, wo die Gemeinwesen enden, an den Punkten ihres Kontakts mit fremden Gemeinwesen oder Gliedern fremden Gemeinwesens.“ (Marx 1983: 102) Es kommt im Kapitalismus zu einer bis dahin nicht gekannten Zirkulation von Gütern als Waren. Diese „sprengt die zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken des Produktenaustausches ebendadurch, dass sie die hier vorhandene unmittelbare Identität zwischen dem Austausch des eignen und dem Eintausch des fremden Arbeitsprodukts in den Gegensatz von Verkauf und Kauf spaltet.“ (Ebd.: 127) Marx schreibt dem Geld eine entscheidende Bedeutung zur Entwicklung dieser Art von kapitalistischer Warenzirkulation jenseits traditioneller Gemeinwesen zu. Das Geld ist vor allem im Kapitalismus der „wirkliche Geist aller Dinge“ (Marx 1968: 564),
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weil die Verteilung des Geldes das Leben eines jeden Einzelnen bestimmt. Diese „Magie des Geldes“ (Marx 1983: 107) begründet sich dadurch, dass es in der kapitalistischen Ökonomie mit einem formalen Tauschwert (vgl. ebd.: 104) ausgestattet ist, der neue Gesetzmäßigkeiten von Austauschprozessen erzeugt, die aus der Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse hervorgehen: „Der Prozess ist also einfach der: Das Produkt [der Arbeit; F.H.] wird Ware, d.h. bloßes Moment des Austausches. Die Ware wird in Tauschwert verwandelt. Um sie sich selbst als Tauschwert gleich zu setzen, wird sie mit einem Zeichen vertauscht, das sie als den Tauschwert als solchen repräsentiert. Als solcher symbolisierter Tauschwert kann sie dann wieder in bestimmten Verhältnissen mit jeder anderen Ware ausgetauscht werden. Dadurch, dass das Produkt Ware und die Ware Tauschwert wird, erhält sie erst im Kopfe eine doppelte Existenz. Diese ideelle Verdoppelung geht (und muss dazu fortgehen), dass die Ware im wirklichen Austausch doppelt erscheint: als natürliches Produkt auf der einen Seite, als Tauschwert auf der anderen. Das heißt, ihr Tauschwert erhält eine materiell von ihr getrennte Existenz. […] Der von den Waren selbst losgelöste und selbst als eine Ware neben ihnen existierende Tauschwert ist – Geld.“ (Marx 2005: 79f.; zweite Hervorh. F.H.)
Dieser Prozess der kapitalistischen Ökonomie hat nach Marx weit reichende Folgen für Austauschprozesse, die immer mehr in die Form des Kaufens und Verkaufens gebracht werden, weil der Tauschwert der Waren als die bestimmte Ware und das Geld doppelt existieren und dadurch ein Austausch der Ware gegen Geld (Kauf) und ein Austausch des Geldes gegen Waren (Verkauf) notwendig werden (vgl. ebd.: 82). Es kommt zu einer Verselbständigung des Tauschwertes von Waren in Geld. Dies führt dazu, dass der Handel mit Waren zu einem Selbstzweck wird, zu einer „von den Austauschenden losgerissene[n] Funktion“ (ebd.: 83), die darin besteht, eine Zirkulation der zur Akkumulation von Kapital produzierten Waren sicher zu stellen. Diese Entwicklung ist dem Geld nach Marx immanent, weil es „der allgemeine Nenner der Tauschwerte“ (ebd.: 119) wird, so dass der Tauschwert der Waren in Geld ausgedrückt ist, die Waren also mit einem Preis versehen sind, der den Kauf und Verkauf von Waren steuert. Dadurch werden Dinge und Dienste symbolisch in Waren verwandelt, die gekauft werden können. Diese Symbolisierung ist für Marx eine reale Praxis. Denn wird ein Gegenstand mit einem Preis versehen, ist seine symbolische Umwandlung in eine Ware vollzogen. Und diese Eigenschaften des Geldes sind es, die zu einer Neustrukturierung von gesellschaftlichen Austauschprozessen führen: „Wir sehen also, wie es dem Geld immanent ist, seine Zwecke zu erfüllen, indem es sie zugleich negiert; sich zu Verselbständigen gegen die Waren; aus einem Mittel zum Zweck zu werden; den Tauschwert der Waren zu realisieren, indem es sie von ihm lostrennt; den Austausch zu erleichtern, indem es ihn spaltet; die Schwierigkeiten des unmittelbaren Warentausches zu überwinden, indem es sie verallgemeinert; in demselben Grad, wie die Produzenten vom Austausch abhängig werden, den Austausch von den Produzenten zu verselbständigen.“ (Marx 2005: 85)
Festzuhalten bleibt: Der Austausch ist nach Marx im Kapitalismus durch die symbolische Metamorphose der Dinge in Waren geprägt, die über das Tauschmittel Geld als reale Praxis geschieht. Dadurch wird das Geben und Nehmen in die Praxisformen Kauf und Verkauf
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verwandelt. Der Austausch geschieht dann mit dem Ziel der Steigerung des Gewinns, so dass der Tausch ein versachlichtes gesellschaftliches Verhältnis ist (vgl. Stentzler 1979: 42). Denn die dem geldbasierten Tauschverhältnis immanente Abbildung „heterogener Wirtschaftsobjekte in Geldgrößen […] macht sie vergleichbar als Preisgrößen“ (Ganßmann 1996: 237). Güter werden über das Tauschmittel Geld in der Form von Kauf und Verkauf mit dem Ziel der Steigerung des Gewinns getauscht, so dass die moderne Ökonomie sich nicht erschöpfend als Marktwirtschaft beschreiben lässt, sondern kapitalistische Wirtschaft ist. Das Geld wird im Kapitalismus zu einem Wert an sich. Es wird selbst zu einer Ware und zwingt deshalb zur Bildung von Profit und Kapital. Austauschprozesse geschehen im Kapitalismus also nicht primär zur Befriedigung von Bedürfnissen, sondern zur Steigerung des Mehrwertes und zur Akkumulation von Kapital, so dass die kapitalistische Ökonomie ständig neue Bedürfnisse erzeugen muss, um die Praxisformen des Kaufens und Verkaufens virulent halten zu können (vgl. Deutschmann 2000: 311).2 Der Warentausch wird nach Marx aufgrund der mit dem Geld verbundenen Versachlichung gesellschaftlicher Verhältnisse zum beherrschenden Tauschprinzip der kapitalistischen Ökonomie, die am Kriterium der Effizienz orientiert ist. Der Warentausch zeichnet sich dadurch aus, dass sich die auf die zu tauschenden Güter bezogenen Bemessungsformen ausschließlich auf Vorstellungen vom Tauschwert der betreffenden Güter beziehen und sich dadurch von den Tauschpartnern abtrennen. Im Tauchvorgang müssen die ausgetauschten Waren in ihrem jeweiligen Gebrauchswert von den beteiligten Akteuren als äquivalent gedeutet werden, damit der Tausch möglich wird. Diese Vergleichbarkeit der Gebrauchswerte von Waren erzeugt das Geld als Tauschmittel. Denn indem das Geld den Gebrauchswert in einen Tauschwert verwandelt, kann sich der Tausch in Form von Kauf und Verkauf ereignen. Die Bewertung der Praktik des Gebens und der Praktik des Zurückgebens wird standardisiert, indem die Tauschgegenstände über die Preisgebung symbolisch zu Waren geformt werden. Ganz im Sinne der Kritik der politischen Ökonomie schreibt Georg Simmel einige Jahre nach Marx in seiner Philosophie des Geldes dem Geld eine „entmenschlichende“ Wirkung zu, die es gerade erlaubt, Tauschvorgänge exponentiell zu vermehren, was den Stil der Lebensführung des modernen Menschen wiederum entscheidend verändert: „Die innere Polarität im Wesen des Geldes: das absolute Mittel zu sein und eben dadurch psychologisch für die meisten Menschen zum absoluten Zweck zu werden, macht es in eigentümlicher Weise zum Sinnbild, in dem die großen Regulative des praktischen Lebens gleichsam erstarrt sind.“ (Simmel 1989: 298f.)
Die Umformung von Tauschbeziehungen in warenförmige Verhältnisse, die durch das Geld möglich wird, löst den Einzelnen aus sozialen Verpflichtungen, die er in einer Tauschbezie-
Marx untersucht die sozialen Wirkungsweisen des Geldes also in kritischer Absicht. Seine Kritik des auf Geld basierenden Kapitalismus ist, wie die folgenden Passage aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 deutlich macht, durch sein romantisches Menschenbild geprägt: „Da das Geld als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes aller Dinge verwechselt, vertauscht, so ist es die allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten.“ (Marx 1968: 566) 2
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hung der „Wechselwirkung“ (Simmel 1992: 662) gezwungen ist einzugehen.3 Die Werte „Treue“ und „Dankbarkeit“, die Simmel in seinem auf diese Begriffe bezogenen „Exkurs“ (vgl. Simmel 1992: 652-670) als konstitutive Notwendigkeiten in wechselwirksamen, reziproken Tauschbeziehungen sieht, werden durch das Geld immer mehr verformt. Simmels Verdienst ist es hier, genauer als Marx gezeigt zu haben, dass das Geld den Tausch formt, indem er mit dem Tauschmittel Geld objektiviert und berechenbar wird. Dadurch macht das Geld neue Formen des Tausches, also des Besitzwechsels möglich. Die wichtigste dieser Formen ist der Warentausch, der, typologisch gesprochen, auf den Erwerb ganz bestimmter Objekte zu ganz bestimmten Bedingungen bezogen ist, die mit dem Geld scheinbar eindeutig bestimmt werden können (vgl. Paul 2004: 58). Simmel geht über diese Einsicht hinaus, die sich bereits bei Marx in Andeutungen findet. Im geldvermittelten Tausch von Waren, der „Sachwerdung der Wechselwirkung zwischen Menschen“ (Simmel 1992: 662), bildet sich für Simmel die „Seelenhaftigkeit der Beziehungen“ (ebd.) in den Sachen ab, die getauscht werden. Mit der massenhaften Verbreitung des Geldes als Tauschmedium wird nach Simmel diese „Versachlichung der Beziehungen … so vollkommen, dass in der ausgebildeten Wirtschaft überhaupt jene persönliche Wechselwirkung ganz und gar zurücktritt und die Waren ein Eigenleben gewonnen haben, die Beziehungen zwischen ihnen, die Wertausgleichungen zwischen ihnen automatisch, bloß rechnerisch stattfinden und die Menschen nur noch als die Exekutoren der in den Waren selbst angelegten Tendenzen zur Verschiebung und Ausgleichung auftreten“ (ebd.).
Der Tausch, dem nach Simmel ursprünglich eine dauerhafte Beziehungen stiftende Wirkung inne wohnt (worauf ich unten ausführlich zurückkomme), wird mit der massenhaften Verbreitung des Geldes als Tauschmittel zu einer versachlichten Beziehung verformt, die sich nicht auf Dauer stellt, weil sie sich mit dem Abschluss des Tausches von Waren gegen Geld auflöst. Gerade die mit dem traditionellen Geben verbundene Verpflichtung zur Gegengabe, welche die soziale Beziehung stiftet, ist mit dem versachlichten Tausch obsolet geworden. Die sozialen Beziehungen werden dadurch flüchtig.4 Das Geld ist folglich eine
Am Rande muss hier mit Christian Papilloud (vgl. 2003) und Natàlia Cantó Milà (vgl. 2005) darauf hingewiesen werden, dass Simmel den Begriff des Tausches in seiner Philosophie des Geldes nicht eindeutig verwendet. Einmal lässt er ihn mit dem Begriff der Wechselwirkung zusammenfallen: „Jede Wechselwirkung aber ist als ein Tausch zu betrachten: jede Unterhaltung, jede Liebe (auch wo sie mit andersartigen Gefühlen erwidert wird), jedes Spiel, jedes Sichanblicken.“ (Simmel 1989: 59) In solchen Aussagen erscheint es so, als ob jede Form von Sozialität als Tausch verstanden wird. An anderen Stellen wird ein sehr enger Tauschbegriff verwendet, der offensichtlich für ökonomische Prozesse reserviert ist: „Der Tausch ist ja nichts anderes als der individuelle Versuch, die aus der Knappheit der Güter entspringenden Missstände zu verbessern, d.h. das subjektive Entbehrungsquantum durch die Verteilungsart des gegebenen Vorrats möglichst herabzusetzen.“ (Ebd.: 84) Was Simmels formaler Beziehungssoziologie letztlich fehlt, ist ein klar definierter Begriff des Tausches, der ihm zum einen erlauben würde, unterschiedliche Formen des Tausches voneinander zu unterscheiden und zum anderen Formen des Tausches zu identifizieren, die als Attraktoren der Bildung von sozialen Beziehungen verstanden werden können. 4 Simmel belässt es, wie Klaus Lichtblau (vgl. 1996: 203ff.) fundiert nachzeichnet, nicht bei dieser Kritik, sondern entwickelt eine ästhetische Theorie, die er zur Proklamation eines neuen künstlerischen Zeitalters nutzt, das die versachlichenden Tendenzen der Moderne überwinden soll. Lichtblau (vgl. 1996) zeigt in seinem lesenswerten Buch über die „Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland“, dass ein wichtiger Impuls der Entstehung kultursoziologischer Denkfiguren um die vorletzte Jahrhundertwende gerade aus der weit verbreiteten, nicht nur marxistisch begründeten Kritik an der kapitalistischen Ökonomie abgeleitet werden kann. Dies gilt nicht nur für Simmel, der seine Kulturkritik 3
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Bedingung für die Veränderung der Sozialität schlechthin, weil für Simmel alle Sozialität, also soziale Beziehungen im Wesentlichen durch Tausch entstehen. Wird dieser Tausch mit dem Geld als Tauschmittel in beschriebener Weise versachlicht, so dass sich soziale Beziehungen durch den Tausch nicht mehr auf Dauer stellen, ändert dies die Gesellschaft grundlegend. Sie wandelt sich von einer traditionalen zu einer modernen Gesellschaft, in der zwar deutlich mehr und effektiver getauscht wird, in der jedoch die sozialen Beziehungen zwischen den Einzelnen immer anonymer werden, weil sie sich versachlichen. Über die Analyse des Geldes entwickelt Simmel somit eine theoretische Perspektive, die von der Modernisierung der Gegenwartsgesellschaft ausgeht. Und die massenhafte Verbreitung des geldbasierten Warentausches gilt ihm als der entscheidende Motor dieser Modernisierung, die er in seiner Zeitdiagnose ambivalent deutet. Im Anschluss an die Einsichten Marx’ und Simmels in die formale Funktionsweise der kapitalistischen Austauschprozesse und des Geldes kann dann Max Weber den Markt, von dem sich Simmel im Übrigen noch keinen Begriff gemacht hat, in einer berühmten Formulierung wie folgt als idealtypischen Ort des versachlichten Tausches charakterisieren: „Die Marktgemeinschaft als solche ist die unpersönlichste praktische Lebensbeziehung, in welche Menschen miteinander treten können.“ (Weber 1980: 382) Als Begründung dieser Aussage sagt Weber mit deutlichen Bezügen zur Kritik der politischen Ökonomie durch Marx weiter: „Wo der Markt seiner Eigengesetzlichkeit überlassen ist, kennt er nur Ansehen der Sache, kein Ansehen der Person, keine Brüderlichkeits- und Pietätspflichten, keine der urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenen menschlichen Beziehungen.“ (Weber 1980: 383) Offensichtlich tief beeindruckt von den strukturierenden Wirkungen des geldbasierten Tauschmechanismus’, dessen Funktionsweise Marx und Simmel vor ihm präzise analysiert hatten, bezeichnet Weber (1980: 382) den Markt als „Arche-Typus alles rationalen Gesellschaftshandelns“. In der modernen Gesellschaft werden die formalen Strukturen des Marktes für Weber mehr und mehr zum strukturierenden Prinzip der Ökonomie und strahlen zusätzlich auf alle anderen Bereiche dieser Gesellschaft aus. Der geldbasierte Markt ist der paradigmatische Ort für die versachlichten und objektivierten Tauschprozesse und kann deshalb im Sinne der kulturkritischen Modernisierungstheorie Simmels als das augenscheinlichste Merkmal einer modernen, kapitalistischen Gesellschaft gefasst werden. Hier werden die sozialen Beziehungen in einer Weise versachlicht, die eine Umwertung aller Werte nach sich zieht. Diese für die frühe Soziologie typische Sichtweise – die Aufzählung der wirkmächtigen soziologischen Theoretiker, die diese Position um die vorletzte Jahrhundertwende so oder ähnlich vertreten haben, ließe sich beträchtlich erweitern (vgl. hierzu neben Lichtblau 1996 auch Zelizer 1997: 6ff.) – unterstellt dem auf Geld basierenden Tausch eine formale Struktur, die zu einer emergenten und rationalen Operationsweise des Tausches führt. Im Anschluss daran wird etwa von Weber der Markt zum wichtigsten Ort dieser versachlichten Tauschform erklärt. Demnach erzeugt, wie Polanyi (vgl. 1978: 102ff.) im Einklang mit Weber hervorhebt, die Struktur des Warentausches, die sich auf Berechnung, also auf ein KostenNutzen-Kalkül stützt, ein sich selbst regulierendes Marktsystem, das zu seiner Operations-
vor allem an der Geldwirtschaft festmacht, sondern zeigt sich als Trend, der sich jedoch heterogen manifestiert, für fast alle frühen Soziologien in Deutschland.
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fähigkeit angeblich weitgehend ohne Kontextinformationen auskommt, weil der Austausch von Gütern und Dienstleitungen über den Preismechanismus gesteuert wird. Polanyi schreibt: „Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet. Die entscheidende Bedeutung des wirtschaftlichen Faktors für die Existenz der Gesellschaft schließt jedes andere Ergebnis aus. Sobald das wirtschaftliche System in separate Institutionen gegliedert ist, die auf spezifische Zielsetzungen beruhen und einen besonderen Status verleihen, muss auch die Gesellschaft so gestaltet werden, dass das System im Einklang mit seinen eigenen Gesetzen funktionieren kann. Dies ist die eigentliche Bedeutung der bekannten Behauptung, eine Marktwirtschaft könne nur in einer Marktgesellschaft funktionieren.“ (Polanyi 1978: 88f.; Hervorh. F.H.)
Mit dieser Aussage grenzt Polanyi im Anschluss an die ethnologischen Untersuchungen von Richard Thurnwald (vgl. 1932), mit denen er offensichtlich eng vertraut ist, die moderne Ökonomie von der tribalistischen, von Thurnwald noch als „primitiv“ bezeichneten Ökonomie ab, in der wirtschaftliche Tauschhandlungen im Gegensatz zur modernen Marktökonomie noch in die gemeinschaftlichen bzw. gesellschaftlichen Strukturen eingebettet seien. Ironischer Weise ist die Aussage Polanyis zur typisch modernen Entbettung des modernen Marktsystems, die eine Einbettung sozialer Beziehungen in die Wirtschaft nach sich zieht und somit von einer Verselbständigung der Logik des Wirtschaftssystems ausgeht, in der neueren Wirtschaftssoziologie im Anschluss an Marc Granovetters (vgl. 1985) einflussreicher These von der sozialen Einbettung moderner Märkte geradezu umgekehrt worden (vgl. Barber 1995: 401). Jetzt ist der ursprünglich auf Thurnwald und Polanyi zurückgehende Begriff „Embeddedness“, auf den ich unten genauer zurückkomme, das Synonym für die soziale Bedingtheit von Marktprozessen, die sich demnach nur verstehen lassen, wenn sie mit soziologischen Mitteln analysiert werden. 5 Jedenfalls bündelt Polanyi mit seiner ursprünglichen These von der Entbettung der modernen Wirtschaft die theoretische Ausgangsbasis der Wirtschaftssoziologie nach 1945. Sie hat weit reichende Konsequenzen für das Verständnis moderner Märkte, die sich im soziologischen Zugang zum Thema Tausch niederschlagen. Sie entwickelt sich in der Wirtschaftssoziologie zu der weit verbreiteten modernisierungstheoretischen Annahme, die moderne, auf das Tauschmedium Geld beruhende Wirtschaftspraxis habe den Tausch von symbolischen und kulturellen Bedeutungsinhalten entlastet. Ganz im Sinne dieser Entwicklung unterscheidet bereits Weber in seiner Typologie des Tausches zwischen traditionalem, konventionalem und wirtschaftlich rationalem Tausch (vgl. Weber 1980: 36). Die Hauptthese seiner Wirtschaftssoziologie ist es nun, dass sich die rationalen Formen des Tausches in
Siehe zur Nachzeichnung der „Great Transformation of Embeddedness“ in der wirtschaftssoziologischen Theoriebildung Beckert (2007). Wichtig ist es, zu betonen, dass Polanyi die Entbettung der Wirtschaft als pathologische Entwicklung ansieht, die nach seiner Einschätzung zu den beiden Weltkriegen geführt hat, und deshalb eine neue Einbettung der Wirtschaft etwa durch sozialstaatliche Arrangements fordert. Die neue Soziologie der Wirtschaft geht hingegen davon aus, dass alle Wirtschaft in irgendeiner Form sozial eingebettet ist, dass also die wirtschaftspolitische Forderung Polanyis letztlich nur dann nicht ins Leere läuft, wenn sie als Forderung nach einer Umgestaltung der sozialen Einbettung der Ökonomie reformuliert wird.
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der Moderne immer mehr durchsetzen und die traditionalen und konventionalen Formen des Tausches an Bedeutung verlieren. „Der Tausch kann in seinen Bedingungen traditional und, in Anlehnung daran, konventional, oder aber rational bestimmt sein. Konventionale Tauschakte waren der Geschenkaustausch zwischen Freunden, Helden, Häuptlingen, Fürsten“ (Weber 1980: 37; Hervorh. F.H.).
Bezeichnenderweise wird der „konventionale“ Tausch von Weber offensichtlich als etwas Vergangenes beschrieben. Webers Interesse ist es nämlich, die moderne Form der Wirtschaft mit seiner verstehenden Soziologie zu analysieren. In diesem Sinne setzt er kurzerhand wirtschaftlichen und rationalen Tausch gleich, was ihn dazu führt, wirtschaftliche Handlungstypen vorrangig im Rationalitätsmodell, also als Zweck-Mittel-Konstellationen, zu analysieren. Der davon unterschiedene „traditionale“ bzw. „konventionale“ Tausch, der auf Symbolen und kulturellen Zusatzdeutungen beruht, die jenseits einer modernen Wirtschaftsrationalität angesiedelt werden müssen, gerät dadurch in den Hintergrund seiner wirtschaftssoziologischen Untersuchungen. Diese Sichtweise setzt sich im Laufe der Entwicklung der Wirtschaftssoziologie weitgehend durch.6 Selbst Niklas Luhmann, dem nur schwer eine theoretische Nähe zu Weber unterstellt werden kann, verfolgt in seiner neueren Wirtschaftssoziologie, die sich nicht am von Weber intentional definierten Begriff des sozialen Handelns, sondern am Begriff der Kommunikation zur Definition der Sozialität orientiert, eine ähnliche Marginalisierung der praktischen Logik des Tausches, wenn es um die funktionale Analyse wirtschaftlicher Kommunikation geht. Er schreibt: „Gleichwohl kann man Fragen, ob die gesellschaftliche Bedeutung des Geldes hinreichend gewürdigt werden kann, wenn man vom Tausch ausgeht, reziprokes Handeln im Geben und Nehmen unterstellt und sich dann nur noch für die Anwendungsbreite dieses Systemtyps interessiert.“ (Luhmann 1988: 230)
Luhmann sieht die Funktion des Geldes ganz im Sinne Simmels gerade darin, den Tausch zu erleichtern, indem das Tauschmittel Geld Tauschprozesse von Sinngebungen befreit, deren Bedeutung in Tauschprozessen ohne Geld ausgehandelt werden muss: „In einer Tauschbeziehung müssen ... die Interessen verschieden sein und verschieden bleiben; sie müssen aber trotzdem zur Konvergenz gebracht werden können in der Annahme einer Wertäquivalenz.“ (Ebd.: 258f.) Das symbolisch generalisierte Kommunikations- bzw. Tauschmedium Geld leistet diese Konvertierung, indem es den Tausch generalisiert und die Wertäquivalenz herstellt. Die „unauflösliche Einheit von Symbolik und Diabolik“ (ebd.: 265) strukturiert nach Luhmann bekanntlich die Inklusion von Sinngehalten in die Gesellschaft. Im Falle des Geldes geschieht diese Inklusion über das Wirtschaftssystem, indem das symbolisch generali-
Das Schicksal der von Werner Sombart (vgl. 1922: 133ff.) aufgestellten These, die moderne Ökonomie basiere auf Verschwendung, Luxus, Piraterie und dem Recht auf Sezession ist bekannt: Sie kann sich nicht gegen die zeitgleich formulierte Kapitalismusthese Webers (vgl. 1988a: 204ff.) durchsetzen, nach der der „Geist“ des Kapitalismus bekanntlich auf rationalem Wirtschaften und einer disziplinierten Lebensführung beruht.
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sierte Tauschmedium Geld über die Diabolik von Zahlen und Nicht-Zahlen codiert wird. In anderen Fällen symbolischer Generalisierung von Kommunikation ereignet sich dies analog dazu über andere Funktionssysteme: Macht, Regierung und Opposition: Politik; Wahrheit, wahr und unwahr: Wissenschaft etc. (vgl. für viele Textstellen Luhmann 1997: 743ff.). Das Wirtschaftssystem der Gegenwartsgesellschaft, das nach Luhmann auf Zahlungen basiert, differenziert durch die marktförmige Zweitcodierung der Zahlungen die Bereiche Konkurrenz, Tausch und Kooperation, indem Konkurrenten von Tauschpartnern und Kooperationspartnern unterschieden werden (vgl. Luhmann 1988: 104f.). Diese vereinfachende Kategorisierung der Wirtschaft, die Tauschprozesse für eine funktionalistische Soziologie der Wirtschaft marginalisiert, beruht auf einem grundlegenden Missverständnis der modernen Wirtschaft, das sich bereits in den Grundannahmen der Luhmannschen Wirtschaftssoziologie manifestiert. Luhmann hält zunächst ganz allgemein fest, dass auf Wirtschaft bezogene Kommunikation in allen Gesellschaftsformationen nötig wird, „weil man sich über Zugriff auf knappe Güter verständigen muss“ (Luhmann 1988: 14), um dann die Besonderheit wirtschaftlicher Kommunikation in der Moderne hervorzuheben. Nur die moderne Gesellschaft erreicht die Ausdifferenzierung eines Funktionssystems für Wirtschaft. Dies wird erst durch das Kommunikationsmedium Geld möglich, weil sich mit Geld eine „bestimmte Art kommunikativer Handlungen systematisieren lässt, nämlich Zahlungen“ (ebd.: 14). Daraus schließt Luhmann, dass das Wirtschaftssystem sich über die Kommunikationsart Zahlungen reproduziert. Dies fordert die folgende Grundannahme der Wirtschaftssoziologie Luhmanns geradezu heraus: „Ein Verständnis von Wirtschaft, das bei Zahlungen als den Grundoperationen des Systems ansetzt, kann alles, was sonst als Grundbegriff der Wirtschaftstheorie fungiert, – also etwa Produktion, Tausch, Verteilung, Kapital, Arbeit – als derivativen Sachverhalt behandeln.“ (Luhmann 1988: 54f.; Hervorh. F.H.)
Dann lässt sich Tausch als Form der Transformation von Eigentum in Nicht-Eigentum definieren (vgl. ebd.: 190), um im nächsten Argumentationsschritt die „Freigabe des Tausches“ (ebd.) von moralischen Konnotationen in Verbindung mit der Entstehung von Eigentum als Auslöser für die Ausdifferenzierung eines „symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums speziell für Knappheitssituationen“ (ebd.) zu beschreiben. Dieses Medium ist das Geld. An anderer Stelle heißt es: „Bei geldlosem Tausch können die den Tausch motivierenden Wertvorstellungen nicht ausschließlich auf Knappheit bezogen werden. [...] Außerdem hängen die Wertvorstellungen auch von der Art der Gegenleistung, also von dem jeweiligen Kontext des Tausches ab. Durch diese Bedingtheit bleibt der Tausch in die soziale Ordnung ‚eingebettet’ [...], wirkt multifunktional und ermöglicht es, bei der Gelegenheit der Übergabe von Gegenständen andere Funktionen mitzuerfüllen. [...] Aber genau dies wird anders, wenn der Gütertausch über Geld abgewickelt wird und dabei in der Gegenleistung den symbolischen Bezug auf anderes als Knappheit einbüßt.“ (Luhmann 1988: 200; Hervorh. F.H.)
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Mit dieser Sichtweise reiht sich Luhmann in eine lange Tradition der Tauschtheorien ein, die in unterschiedlichen modernisierungstheoretischen Varianten feststellen, traditionale Formen des Tausches würden durch die moderne, am Rationalitätsprinzip orientierte Wirtschaftspraxis durch den funktionaleren bzw. effektiveren Äquivalententausch immer deutlicher verdrängt, weil die Wirtschaft selbst es so „will“.7 Aktuell geht Kai-Uwe Hellmann (vgl. 2003: 195) in diese funktionalistische Falle der Luhmann’schen Wirtschaftssoziologie, indem er die Tauschformen Polanyis (vgl. 1978: 77f. und 87ff.) – also reziproken, redistributiven und marktförmigen Tausch – den drei Gesellschaftsformen Luhmanns zuordnet, nämlich den reziproken, also den preislosen Gabentausch der „archaischen“, den redistributiven Tausch, womit die zentrale Sammlung und Verteilung von Gütern an eine Gruppe bestimmter Akteure gemeint ist, der „hochkulturellen“ und schließlich den marktförmigen Tausch der „modernen“ Gesellschaft. Mal abgesehen davon, dass die Adjektive „archaisch“ und „hochkulturell“ höchst fraglich sind zur Bezeichnung von historischen Gesellschaftsformen und deshalb von Luhmann in seinen neueren Texten nicht mehr benutzt werden, wird mit dieser evolutionstheoretischen Zuordnung der Tauschformen durch Hellmann fälschlicherweise angenommen, dass der Tausch sich in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft primär marktförmig ereignet und alle anderen Tauschformen, die auf den „niedrigeren“ Stufen der Gesellschaftsentwicklung noch bestimmend sind, durch dieses Prinzip verformt und transformiert werden.8 Demnach herrscht in der modernen Gesellschaft das „Marktprinzip vor, dem zufolge sämtliche Sach- wie Dienstleistungen nur gegen Geld getauscht werden können, während andere Aspekte, die im Falle von Reziprozität und Redistribution ausschlaggebend sind, überhaupt nicht mehr ins Gewicht fallen“ (Hellmann 2003: 194; Hervorh. F.H.). Diese modernisierungstheoretische Sichtweise, die, wie sich im Verlauf dieser Arbeit zeigen wird, eine unzulässige Vereinfachung darstellt und sich durch eine beachtliche Praxisferne auszeichnet, stützt sich auch darauf, dass Marcel Mauss (vgl. 1990: 157f.) in seinem berühmten und einflussreichen Essay über die Gabe in tribalistischen Gesellschaften („Essai sur le don“), auf den ich im nächsten Abschnitt ausführlich zurückkomme, den geldlosen Tausch ohne Preis zu einem Ritual erklärt, das in der Moderne an Bedeutung verliert, weil Tauschprozesse mit den modernen Mechanismen des geldbasierten Tausches angeblich von
Die modernisierungstheoretische Perspektive der Luhmannschen Systemtheorie wird besonders deutlich, wenn er sich zu „Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen“ (Luhmann 1973) äußert. In der für die Systemtheorie üblichen Differenzierung soziokultureller Evolutionsmarken von der tribalistischen (archaischen) über die stratifikatorische (hochkultivierte) bis zur funktionalen (modernen) Differenzierung des Gesellschaftssystems werden die jeweiligen Formen des Helfens, die für die tribalistische Differenzierung unter anderem aus dem Gabenessay Marcel Mauss’ abgeleitet werden (vgl. ebd.: 26), den jeweiligen Differenzierungsformen zugeordnet, was zu einer Marginalisierung aller als vormodern definierten Formen des Helfens und des Austausches führt, weil sie angeblich der modernen Differenzierungsform nicht adäquat sind. Zur allgemeinen, über die hier angeführten Punkte hinausgehenden Kritik an der äquivalenzfunktionalistischen Theorieausrichtung der Luhmannschen Soziologie vgl. Hillebrandt (2004b und 2006a). 8 Dass Hellmann auch heute noch von niedrigeren Stufen der Gesellschaftsentwicklung ausgeht, zeigt sich darin, dass er sich nicht enthalten kann, tribalistische Gesellschaften wiederholt als „primitiv“ (Hellmann 2003: 195 und öfter) zu bezeichnen. Dies ist schon deshalb ärgerlich, weil es im Bewusstsein der Komplexität sozialer Praxisformen in Stammesgesellschaften zumindest in soziologischen und ethnologischen Publikationen inzwischen kaum noch geschieht. Bei Luhmann, der letztlich auch die veraltete Position einer Stufenfolge gesellschaftlicher Entwicklung vertritt, finden sich derartig entlarvende Verfänglichkeiten in der Verwendung der Sprache immerhin nicht. 7
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Ritualisierungen befreit werden. Deshalb wird die Erforschung des „ritualisierten“ Tausches mehr und mehr zum Thema der Ethnologie und der Anthropologie, die in noch weitgehend tribalistisch geprägten Regionen der Welt, in denen der geldbasierte Tausch sich noch nicht in alles bestimmender Weise durchgesetzt hat, nach ritualisierten Tauschformen suchen, um sie im Kontrast zu den Tauschformen zu stellen, die sich in den industrialisierten Regionen der Welt vermeintlich durchgesetzt haben (vgl. beispielhaft dafür Deterts 2002; Kämpf 1995). Festzuhalten ist: Durch die Beschreibung des Gaben- und Geschenktausches als Rudiment der modernen Gesellschaft, das sich nur noch in bestimmten Regionen der Welt in Reinform beobachten lässt, wird die soziologische Forschung zum Tausch in nicht unerheblicher Weise beeinflusst, weil sie dieses Argument der Ethnologie häufig ohne Prüfung und Reflexion übernimmt, wie sich beispielhaft an Luhmanns Wirtschaftssoziologie und an ihren Anschlüssen ablesen lässt. Die Position, der Tausch sei in der Moderne immer deutlicher durch das Geld und die damit verbundene Berechenbarkeit der Tauschvorgänge gesteuert, findet breiten Widerhall auch in der wirtschaftssoziologischen Lehrmeinung. In einem einschlägigen Lehrbuch zu dieser speziellen Soziologie heißt es etwa im Kontext einer Typologisierung des Tausches zu „reziprozitären“ Tauschvorgängen, womit die Formen des preislosen Tausches gemeint sind, lapidar: „Der reziprozitäre Tausch verhindert die Durchsetzung der für die modernen Märkte typischen Individualinteressen.“ (Buß 1996: 79) Ohne eine Analyse der Bedeutung von preislosen Tauschpraktiken für die moderne Wirtschaft werden Beispiele für derartige Tauschvorgänge, insbesondere für die deutsche Wirtschaftssoziologie typisch, nur in Stammesgesellschaften gesucht und gefunden (vgl. ebd.). Ganz ähnlich wird der Tausch in einer weiteren Einführung in die Wirtschaftssoziologie behandelt (vgl. Hillmann 1988: 33ff.), während er in anderen Einführungen gar völlig vernachlässigt wird (vgl. z.B. Kutsch und Wiswede 1986; Türk 1987; Reinhold 1988).9 Der vor allem in der deutschen Wirtschaftssoziologie vorherrschenden Interpretation des Markttausches als mechanische Basis von Wirtschaftsprozessen, die sich in den angeführten Marginalisierungen des Tausches für die Wirtschaftssoziologie ausdrückt, muss in einer praxistheoretischen Soziologie des Tausches, wie ich sie anstrebe, entgegentreten werden, da sich, worauf ich später dezidiert zurückkommen werde, plausibel zeigen lässt, dass auch der so genannte ökonomische Tausch nicht ohne symbolische, kulturelle Dimensionen auskommt, um gelingen zu können. Indem diese Aspekte des Tausches in der Wirtschaftssoziologie jedoch regelmäßig ausgeblendet werden, wird dem modernen Markt als pardigmatischem Ort des geldbasierten Warentausches sehr oft eine Emergenz unterstellt, die quasi „hinter dem Rücken der sozialen Akteure“, wie Marx bezüglich der Wirkungsweise kapitalistischer Produktionsverhältnisse gesagt hatte, wirksam ist. Diese Entwicklung der wirtschaftssoziologischen Forschung ist nicht zuletzt als Folge der Auslagerung des Wirtschaftshandelns aus der soziologischen Theorie durch Talcott Parsons anzusehen (vgl. Beckert et al. 2007a: 23). Denn aus der wirkmächtigen Forderung Parsons’ nach einer Arbeitsteilung zwischen Wirtschaftswissenschaften und Soziologie entwickelt sich die wenig sinnvolle Konstellation, dass die Wirtschaftswissenschaften das vermeintlich rationale Wirtschaftshandeln untersuchen, während die Soziologie alle nicht als rational zu definierende Handlungsformen thematisiert. Die für den Markt 9
Vgl. dagegen die differenzierte Darstellung des Tausches bei Martinelli und Smelser (1990: 32ff.).
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grundlegende Praxisform des Tausches wird mit anderen Worten für die Soziologie der Wirtschaft marginalisiert oder gar invisibilisiert, so dass Tausch etwa in der soziologischen Systemtheorie als kausale Mechanik gefasst werden kann, die sich im Code zahlen/nicht zahlen reproduziert und dadurch die Emergenz (Autopoiesis) des Marktes aufrechterhält. Eine genuine Wirtschaftssoziologie, die an den konstitutiven Praxisformen ökonomischer Praxis ansetzen muss, um ökonomische Prozesse analysieren zu können, kann sich mit einer derartigen Sichtweise des Marktes nicht zufrieden geben. Sie muss die Praxisformen des Marktes in ihrer ganzen Fülle analysieren. Setzt die soziologische Theorie dazu nicht bei den transintentionalen Strukturen des Marktes, sondern bei den Akteurperspektiven an, um die Wirtschaftssoziologie im Anschluss an Max Webers verstehende Perspektive handlungstheoretisch zu fundieren, den Tausch also als soziales Handeln zu fassen, wird nicht selten postuliert, der Tausch ließe sich auch in einer derartigen, von der Luhmann’schen Systemtheorie diametral unterschiedlichen Theorie eindeutig in Kosten-Nutzen-Terminologien rekonstruieren. Diese Theorierichtung, die sich nicht selten selbstbewusst als Basistheorie der Wirtschaftssoziologie versteht, orientiert sich in ihren Begrifflichkeiten an den Wirtschaftswissenschaften, in denen Kosten-Nutzen-Rechnungen im Zweck-Mittel-Kalkül zum Basisrepertoire der Forschung gehören. Vor allem das Zweck-Mittel-Kalkül, das als Ursprungsidee der Wirtschaftswissenschaften gelten kann, hat, wie Axel Paul (2004: 14) sehr richtig hervorhebt, längst auf die Soziologie übergegriffen, weil „Rational Choice Theorie nur ein anderer Name für denselben kalkulatorischen Blick auf die Wirklichkeit“ ist. Beispielhaft für eine derartige Adaption ökonomischer Sichtweisen in die soziologische Theorie ist die Tauschtheorie James S. Colemans, die alle Tauschformen in einem theoretischen Modell der rationalen Entscheidung fassen will: „Eine Eigenschaft des hier entwickelten theoretischen Systems ist seine Sparsamkeit. Akteure sind mit Ressourcen (und somit indirekt miteinander) nur mittels zweier Beziehungen verbunden, nämlich ihrer Kontrolle über Ressourcen und ihr Interesse an Ressourcen. Akteure handeln nach einem einzigen Prinzip, das sie bewegt, so zu handeln, dass die Befriedigung ihrer Interessen maximiert wird. Eine solche Handlung kann einfach im Verbrauchen einer Ressource bestehen; ist dies nicht der Fall, führt das Maximierungsprinzip in fast allen Fällen zu einer einzigen Handlungsart, nämlich dem Austausch von Kontrolle (oder dem Recht auf Kontrolle).“ (Coleman 1991: 46)
Coleman sieht in seiner für die Wirtschaftssoziologie einflussreichen Sozialtheorie, die im Anschluss an Homans den (Aus)Tauschbegriff als basale Form der Sozialität generalisiert, durchaus, dass es unterschiedliche Formen des Tausches gibt (Coleman 1991: 46): Er unterscheidet, sich hier auf Blau beziehend, sozialen Tausch von ökonomischem Tausch, den er als ökonomische Transaktion fasst, vermeidet es aber, die Eigenarten des sozialen Tausches im Kontrast zum ökonomischen Tausch hinreichend zu konturieren, weil er auch den sozialen Tausch im Kosten-Nutzen-Schema rekonstruiert und ihn deshalb nicht als besondere Praxisform modellieren kann. Am Beispiel eines Gabentausches zwischen gleichen Akteuren als eine Form des sozialen Tausches zeigt Coleman z.B. das rationale Kalkül der Gabe und der Gegengabe auf, ohne zu fragen, welche kulturellen Muster in einer solchen Konstellation den Gabentausch erst möglich machen (vgl. ebd.: 400ff.). An die Stelle dieser Frage nach den Symbolen des Tausches tritt die nomologische Konzeption der Akteure als „rationale Inhaber von Rechten und Ressourcen [...], die zur
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Maximierung ihrer Interessen in Tauschbeziehungen zueinander treten, deren undurchsichtige Struktureffekte auf ihre weiteren Handlungschancen zurückwirken“ (Schmid 2004: 66). Der Tausch wird, wie die Interpretation des Gabentausches durch Coleman deutlich zeigt (vgl. hierzu auch Matiaske 1999), zu einfach als rationale Handlung zwischen rationalen Akteuren verallgemeinert. Diese am Modell der rationalen Wahl orientierte Generalisierung des Tausches als basale Praxisform bringt zwangsläufig eine mangelhafte Konturierung sozialer Tauschmechanismen mit sich und wird den diversen Formen des Tausches nicht gerecht. Sie führt letztlich zu einer Engführung der Tauschtheorie auf ein praxisgenerierendes Prinzip, das Coleman im Kosten-Nutzen-Schema ausfindig gemacht haben will. Tauschvorgänge erscheinen in wirtschaftssoziologischer Adaption dieser Theorievorgabe als die operative Basis der Ökonomie, die nicht weiter analysiert werden muss, weil sie als gegeben vorausgesetzt wird. Der Tausch wird als selbstverständliche Praxisform der Ökonomie verstanden, die sich in Gewinn und Verlust aufrechnen lässt und symbolischer Wirkmächtigkeit entbehrt.10 Der paradigmatische Ort des Tausches ist für derartige Theorien der Markt. Das entsprechende Marktmodell sieht Akteure als Gewinn maximierende Anbieter und Nutzen maximierende Nachfrager von Gütern vor und „suggeriert … tendenziell eine harmonische, symmetrische Tauschbeziehung zwischen formal gleichgestellten Marktpartnern, die ihre sachlichen Interessen und Nutzenerwägungen im zweckrationalen Geschäftskontakt zur Geltung bringen und aufeinander abstimmen“ (Kraemer 1997: 97). In dieser modellhaft imaginierten Konstellation kommt es zu sozialen Beziehungen in Form eines Austausches von Gütern, der sich auf modernen Märkten über das Medium des Geldes ereignet. Die radikalste Form dieser Sichtweise ist das Modell des vollkommenen Marktes, auf dem die einzelnen Tauschakte ausschließlich über den Preis koordiniert werden (vgl. Kappelhoff 1993: 108ff.). Diese Modellvorstellung ermöglicht die Annahme, die soziale Ordnung von Märkten bilde sich auf der Grundlage von eigeninteressiertem Handeln der Anbieter und Nachfrager von Tauschgütern, wenn die Chancen zur Veräußerung und zum Erwerb der Güter nicht durch Restriktionen in ein Ungleichgewicht gebracht werden. Mit den verfügbaren Ressourcen und eintauschbaren Gütern werden unter der Bedingung ihrer Knappheit durch Tauschakte die Bedürfnisse der tauschenden Akteure bedient. Das Tauschen und Weitertauschen von Gütern erzeugt einen gesellschaftlich objektiven Wert der Güter, weil im Tausch eine dezentrale Abstimmung des Wertes der Tauschgegenstände geschieht. „Auf der individuellen Ebene existiert, was für die Bedürfnisbefriedigung von Belang ist; auf gesellschaftlicher Ebene existiert, was einen Preis hat.“ (Franck 1998: 22) Die Tauschakte orientieren sich dann ausschließlich an Angebot und Nachfrage, so dass diese beiden Pole durch die Transaktionen des Marktes, die den Preismechanismus erzeugen und steuern, in ein Gleichgewicht gebracht werden, das durch Modellkonstruktionen simuliert wird.11
10 Dass sich die Coleman’sche Theorie des sozialen Tausches mit wenig Aufwand umfassend formal modellieren lässt, zeigt die Studie von Wenzel Matiaske (1999). Dies ist aber nur deshalb so, weil Colemans allgemeine Theorie des Tausches die Bedingungen etwa für den Gabentausch zu einseitig in einem nomologischen Rationalitätskonzept sucht, das anthropologisch verankert wird. Ein daran orientiertes Modell des Austausches, wie es Matiaske formuliert, vermag nur wenig überraschende Einsichten in die Tauschpraxis hervorzubringen. 11 In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass die ökonomische Theorie von Adam Smith, auf die sich derartige Markttheorien regelmäßig beziehen, genau genommen der These von der Selbstregulierung der
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Demnach gilt der geldvermittelte Tausch als der charakteristische ökonomische Mechanismus des Marktes, der sich quasi von selbst ereignet. Markt und Tausch fallen letztlich begrifflich zusammen. Die Praxis des Markttausches wird mit der Preisstruktur berechenbar. Die Menge der auf einem Markt zirkulierenden Güter, die Anzahl der Güter nachfragenden und Güter anbietenden Akteure, die Menge des auf dem Markt zirkulierenden Geldes sowie die Nachfrage- und Angebotsstruktur lassen sich relativ leicht quantitativ messen. Tauschprozesse werden zu berechnenden Prozessen des Kaufens und Verkaufens und die symbolische Dimension dieser Praxis ist auf die symbolische Anerkennung des Geldes als Tauschmedium begrenzt, die sich mit jedem Kauf und Verkauf wie selbstverständlich ereignet. Der Markt erscheint letztlich als voraussetzungslose Tauschmaschine, die sich berechnen lässt. In einer solchen theoretischen Ausgangsposition können Aufschlüsse über den Tausch von einer Soziologie der Wirtschaft, die sich am Rationalitätsmodell orientiert, nicht erwartet werden, obwohl der Tausch, oder Transaktionen, wie es hier häufiger heißt, der Wirtschaft und ihrer Reflexionswissenschaft als konstitutive, die Praxis der Ökonomie reproduzierende Mechanismen gelten. In großen Teilen der Soziologie der Wirtschaft wird jedoch, wie Michel Callon (vgl. 1998a: 3) kritisch herausstellt, postuliert, dass sich der soziale Mechanismus des ökonomischen Tausches relativ leicht bestimmen lässt, weil er auf Kalkulation der beteiligten Akteure beruht und sich deshalb in seinen Einzelaspekten berechnend rekonstruieren lässt. Das Vorbild für diese Art von Wirtschaftssoziologie ist die Wirtschaftswissenschaft, die sich durch berechenbare Modellkonstruktionen innerhalb eines am Rationalitätskonzept orientierten Akteursverständnisses um die wissenschaftliche Berechnung von Marktprozessen bemüht. Wird ein derartiges Wissenschaftsverständnis von der Soziologie als Herausforderung begriffen (vgl. Maurer und Schmid 2002), beginnt sie sich von ihren Grundlagen zu verabschieden, die ja gerade darin bestehen, das Paradigma der Berechnung für das Verständnis der Sozialität als unzureichend abzulehnen. Folgt die Soziologie der Wirtschaft mehr oder weniger dem Marktmodell der Wirtschaftswissenschaft, das sich in seiner berechnenden Logik scheinbar durch eine strenge Wissenschaftlichkeit auszeichnet, verengt sich auch die soziologische Theorie des Tausches nicht nur auf die Analyse des ökonomisch bestimmten Markttausches, sondern marginalisiert paradoxer Weise diese angeblich den Markt bestimmende Praxisform, weil der ökonomische Tausch den Wirtschaftswissenschaften weitgehend als verstanden gilt, so dass er nicht zum Thema der Wirtschafts- und Marktsoziologie erhoben werden muss.12
Märkte widerspricht, was häufig übersehen wird. Denn Smith versteht, wie Luc Boltanski und Laurent Thévenot (vg. 2007: 69ff.) überzeugend herausarbeiten, seine Philosophie als „Beitrag zur Bildung eines Gemeinwesens, der eine menschliche Natur entspricht, die auf bestimmten affektiven Einstellungen gegenüber Mitmenschen und Dingen beruht, nicht aber auf einer Fähigkeit zum rationalen Kalkül” (Boltanski und Thévenot 2007: 80). Smith geht es vor allem darum, die Neigung zum Tausch aus Eigeninteresse als Motor der Entwicklung eines Gemeinwesens zu verstehen, in dem der gesellschaftliche Zusammenhalt durch gegenseitige Tauschprozesse garantiert wird, die eben nicht nur auf der Durchsetzung von Individualinteressen beruhen. 12 Für die Wirtschaftswissenschaft, an die sich diese Teile der Wirtschaftssoziologie sehr eng anlehnen, ist die Marginalisierung der wissenschaftlichen Thematisierung des Tausches noch deutlicher zu beobachten: „Für die Vertreter anderer Disziplinen mag es befremdlich klingen: Tauschprozesse, so wie sie sich in der Wirklichkeit abspielen – als komplexe, wiederholte Interaktionen, mit ihren strategischen Winkelzügen, evolvierenden Regeln und sich wandelnden kulturellen Voraussetzungen – spielen in weiten Teilen der Ökonomie kaum eine Rolle.“ (Ackermann 2005: 157)
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Übersehen wird dabei, dass ökonomische Praxisformen wie der Tausch auf Märkten soziale Phänomene sind, die nur soziologisch erklärt und folglich nicht als Epiphänomene einer ökonomischen Marktlogik, die sich scheinbar durch das Paradigma der Berechnung konstruieren lässt, verstanden werden können. Bereits ein kurzer Blick auf Produktionsmärkte lässt die Grenzen des hier referierten Marktmodells mehr als deutlich werden. So ignoriert das dualistische Modell von Angebot und Nachfrage beispielsweise, wie Harrison White und Frédéric Godart beispielhaft für Produktionsmärkte nachweisen, „dass Märkte Ströme von Produkten und Dienstleistungen koordinieren“ (White und Godard 2007: 199). Folglich kann die Wirtschaft nicht als eine „Kette von Märkten im Gleichgewicht“ (ebd.) verstanden werden. Die Ökonomie der Produktionsmärkte stellt sich vielmehr dar als ein „kontinuierlicher Strom von Vorprodukten, die zu Produkten kombiniert werden“ (ebd.: 199f.), so dass etwa Produzenten als „Kombinierer“ verstanden werden müssen, „die zu Lieferanten und Käufern in historisch gewachsenen Netzwerken Beziehungen unterhalten“ (ebd.: 201). Schon deshalb treten sich die Akteure des Marktes nicht voraussetzungslos gegenüber; und auch die abstrakte Vorstellung des Marktgleichgewichtes lässt sich nicht nur am Beispiel der Produktionsmärkte leicht als praxisfernes Konstrukt widerlegen. Bemerkenswerterweise marginalisiert jedoch auch die „neue“ Wirtschaftssoziologie, die solche und ähnliche Ergebnisse zur Relativierung des neoklassischen Marktmodells hervorbringt, das Thema Tausch. Die wirtschaftssoziologische Forschung etabliert sich im Anschluss an White und Marc Granovetter in den 1980er Jahren von den USA aus um die theoretische Absicht herum, die sozialen Voraussetzungen von Märkten soziologisch zu bestimmen. Der Tausch wird dabei zugunsten einer strukturalistisch angelegten Wirtschaftssoziologie, welche die soziale Bedingtheit von Marktprozessen herausarbeiten will, als weitgehend verstandener Mechanismus der Ökonomie gefasst. Die zu starke Spezifizierung des Tausches als ökonomischen Äquivalententausch, der die Emergenz des Marktes jenseits der in den Markt involvierten Akteure steuert, führt im Zusammenspiel mit einer akteurtheoretischen Übergeneralisierung des Tausches mithilfe eines nomologischen Rationalitätsmodells auch in neueren Ansätzen der Wirtschaftssoziologie dazu, den Tausch nicht als wichtiges Thema einer Soziologie der Wirtschaft zu bestimmen. So schreibt etwa Jens Beckert im Anschluss an Marc Granovetters (vgl. 1985) einflussreicher These von der sozialen Einbettung („embeddedness“) von Märkten zur Ausrichtung einer neuen Marktsoziologie: „Normen, Institutionen, Gewohnheit, soziale Strukturen und Macht können als Formen der sozialen Einbettung in wirtschaftliche Kontexte verstanden werden, die in der Wirtschaftssoziologie als Variablen für die Erklärung ökonomischer Prozesse und Strukturen Verwendung finden. Orthodoxe ökonomische Theoriemodelle reflektieren diese sozialen Mechanismen nicht, sondern konzeptionalisieren Akteure als untersozialisierte, von sozialen Beziehungen losgelöste Nutzenmaximierer.“ (Beckert 1997: 411)
Beckert plädiert zu Recht für eine genuin soziologische Betrachtung des Marktes und damit der modernen Ökonomie, weil eine am rationalen Akteur ausgerichtete Kosten-NutzenTheorie bestimmten Marktprozessen der Wirtschaft schlicht nicht gerecht wird. Neben den Phänomenbereichen „Innovation“ und „Ungewissheit“ stellt er als plausibles Beispiel für die Grenzen einer strikt ökonomischen, am Rationalitätsmodell orientierten Erklärungstheorie den Begriff der Kooperation: „Für wirtschaftliche Kooperation genügt es nicht, dass
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individualisierte und einander gleichgültige Akteure ihre Handlungen über Preise am Markt aufeinander abstimmen.“ (Beckert 1997: 407) Bemerkenswerterweise wird jedoch von Beckert der Tausch an keiner Stelle als Gegenstand einer genuinen Wirtschaftssoziologie genannt, obwohl dieser soziale Mechanismus gerade für die wirtschaftliche Praxis in der Gegenwartsgesellschaft von zentraler Bedeutung ist, denn die Grundlagen wirtschaftlich effizienten Handelns konstituieren sich, wie Beckert (vgl. ebd.) selbst richtig feststellt, in den wirtschaftlichen Handlungsprozessen selbst. Und der Tausch gilt der Wirtschaftswissenschaft schließlich, wie gezeigt, als der charakteristische ökonomische Mechanismus der Marktwirtschaft. Dennoch ist die Thematisierung des Tausches in wirtschaftssoziologischen Studien, selbst oder gerade in solchen, die sich von neoklassischen Denkfiguren der Wirtschaftswissenschaften absetzen wollen, inzwischen entweder fast immer sehr eng an einem ökonomischen Tauschmodell orientiert oder sie wird, wie bei Beckert und in weiten Teilen der neuen Wirtschaftssoziologie, vollständig vernachlässigt, weil der Tausch als verstandener sozialer Mechanismus firmiert. Folglich ist der Tausch für die soziologische Theorie des Marktes in eigentümlicher Weise unsichtbar, weil er, wenn er überhaupt analysiert wird, auf zweckrationale Praxisformen verengt wird. Den Tausch neu zu thematisieren, indem nicht nur die Effizienz und Berechenbarkeit von Tauschprozessen oder, was bereits ein großer Fortschritt ist, seine sozialen Voraussetzungen analysiert werden, sondern auch die den Markt strukturierenden Effekte dieser Praxisform, bedeutet, sich gegen die herrschenden Paradigmen der Wirtschaftswissenschaften zu stellen, die den Tausch ebenso mechanisch fassen wie die soziologische Theorie der rationalen Handlungswahl. Dies ist keine leichte Aufgabe, denn Pierre Bourdieu ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Die Schwierigkeit jedes Versuches, die Grundlagen der Ökonomie ungezwungen neu zu fassen, rührt daher, dass die ökonomische Orthodoxie heute zweifellos zu den gesellschaftlich mächtigsten Diskursen über die soziale Welt gehört, und dies namentlich deswegen, weil die mathematische Formalisierung [von Gleichgewichtszuständen des Marktes; F.H.] ihr den ostentativen Anschein von Strenge und Normalität verleiht.“ (Bourdieu 1998b: 168, FN 5)
Eine soziologische Neufassung der Grundlagen der Ökonomie ist nun aber die genuine Aufgabe einer eigenständigen Soziologie der Wirtschaft. Denn eine Wirtschaftssoziologie, die sich nur mit den Randbereichen der Wirtschaft, wie etwa die soziale Kompetenz der Wirtschaftsakteure, beschäftigt, muss von einer Wirtschaftssoziologie unterschieden werden, die die konstitutiven Praxisformen der Wirtschaft, wie etwa den Tausch, mit soziologischen Mitteln analysiert und sich deshalb von den Wirtschaftswissenschaften grundlegend unterscheidet, also nicht nur als ihr Komplement erscheinen will (vgl. Diaz-Bone 2006: 45; Smelser und Swedberg 2005a: 3; Beckert 1996).13 13 Um auf dem Weg zu einem genuin soziologischen Verständnis des Marktes und der Ökonomie weiter zu kommen, kann auf die neuere Wirtschafts- und Marktsoziologie im angelsächsischen Raum zurückgegriffen werden, die sich im Anschluss an Harrison Whites (vgl. 1981: 518) prominenter These von der Emergenz des Marktes durch das gegenseitige Beobachten der Marktteilnehmer zum Teil für kultursoziologische Fragestellungen offen zeigt, wie Sophie Mützel (2006: 118) bemerkt: „Märkte werden [in der neuen Wirtschaftssoziologie; F.H.] nicht mehr nur als Orte wirtschaftlichen Austauschs verstanden, die strukturell analysiert werden können, sondern Marktakteure benutzen auch kognitive Kategorien, um aus den wirtschaftlichen Aktivitäten Sinn abzuleiten.“ Zu beachten ist jedoch, dass sich diese neue
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Im Sinne dieser Ausrichtung einer neuen, am Praxisbegriff orientierten Soziologie der Wirtschaft lässt sich der Tausch nicht auf zweckrationale Handlungsformen verengen. Dies gilt vor allem dann, wenn sich die Soziologie des Marktes nicht wie noch Max Weber darauf beschränken will, die sozialen Bedingungen für die Effizienz ökonomischer Transaktionen im Prozess des Wirtschaftens zu untersuchen. Will eine Soziologie der Wirtschaft beispielsweise die Kooperation und Vernetzung von unterschiedlichen sozialen Akteuren im wirtschaftlichen Kontext nicht nur, wie Neil Fligstein (vgl. 1996; 2001: 67ff.) und andere, identifizieren und voraussetzen, sondern auch analysieren, indem sie die Frage stellt, wie diese Strukturen der Kooperation und Vernetzung als wichtige Bedingungen für die Praktiken und Praxisformen der Wirtschaft entstehen und sich dynamisch reproduzieren, wird sie nach sozialen Mechanismen suchen müssen, die sich nicht auf die scheinbare Mechanik des geldbasierten Markttausches begrenzen lassen (vgl. hierzu auch Beckert 2002: 27). Es kann einer Soziologie des Marktes mit anderen Worten nicht nur um die Grenzen der Effektivität des Marktes oder um seine strukturellen Voraussetzungen gehen, die sich in seiner institutionellen Einbettung zeigen. In Erweiterung dieses zentralen Paradigmas der neuen, von der US-amerikanischen Forschung ausgehenden Wirtschaftssoziologie muss es einer am Praxisbegriff ausgerichteten Soziologie des Marktes auch und entscheidend um die Strukturbildungen des Marktes gehen, die sich in den Praxisformen des Tausches ereignen, die also nicht strukturalistisch vorausgesetzt werden können, sondern als Strukturdynamiken zu fassen sind. Güter-, Waren-, Dienstleistungs-, Arbeits-, Konsum- und Finanzmärkte mit ihren vielfältigen Segmentierungen strukturieren sich über die sie bestimmende Praxisform, die der Tausch ist. Ganz im Gegensatz zu den herrschenden Paradigmen der Wirtschaftssoziologie ist es deshalb notwendig zu fragen, wie der Tausch theoretisch gehaltvoll als soziale Praxisform mit strukturbildenden Effekten gefasst werden kann. Genau hier muss die Praxistheorie ansetzen, um die Marginalisierung des Tausches durch die Wirtschaftssoziologie zu überwinden. Bourdieus Theorie scheint hierfür einen viel versprechenden Ansatz zu bieten. Wie kaum ein anderer Soziologe wirft er den die Wirtschaftssoziologie momentan bestimmenden Theorierichtungen vor, zur Analyse der Ökonomie den kulturellen Repräsentationen des ökonomischen Feldes zu unreflektiert zu folgen. Diese Kritik ist zwar vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen in der Wirtschaftssoziologie deutlich zu pauschal formuliert.14 Die Bourdieusche Begründung seiner kritischen Anmerkungen zur gegenwärtigen Soziologie der Wirtschaft entbehrt dennoch nicht einer gewissen Plausibilität. So eignet sich für Bourdieu etwa das Kosten-Nutzen-Kalkül, auf dem die Wirtschaftswissenschaften basieren, nicht als Prinzip einer allgemeinen soziologischen Theorie der Wirtschaft, weil es in der Sicht Bourdieus eine historisch gewachsene Illusio des ökonomischen Feldes ist. Sollen die Praxisformen der Ökonomie umfassend analysiert werden, indem die „Ökonomie als sozia-
Wirtschaftssoziolgie häufig sehr stark an der neoklassischen Wirtschaftstheorie orientiert, um dieses Paradigma zu überwinden. Sie läuft daher immer Gefahr, lediglich als Ergänzung der Wirtschaftswissenschaft, also als eine soziologisch aufgeklärte Wirtschaftswissenschaft zu erscheinen. 14 Siehe hierzu nur den knappen aber prägnanten Überblick zu den gegenwärtigen Theorierichtungen der neuen Wirtschaftssoziologie von Herbert Kalthoff (vgl. 2004: 156ff.), der zeigt, dass die Fixierung wirtschaftssoziologischer Forschung auf die neoklassische Wirtschaftstheorie inzwischen als überwunden gelten kann.
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le Praxis“ (Florian 2006) verstanden wird, bedarf es demnach einer Begriffsbildung, die sich von der Illusio des ökonomischen Feldes sehr genau abgrenzt. Nun ist es aber Bourdieu, der, wie oben (2.2) gezeigt, zur Definition des Gegenstandes der Soziologie das Vokabular der Ökonomie generalisiert, um es für andere, nicht ökonomische Felder zu respezifizieren. Deshalb muss er nicht nur umständlich von einer „ökonomischen Ökonomie“ sprechen, um seine Analysen des ökonomischen Feldes in seine allgemeine Theorie der Ökonomie der Praktiken zu verorten, sondern läuft, was für wirtschaftssoziologische Forschung deutlich schwerer wiegt, Gefahr, eine Soziologie der Wirtschaft mit den Mitteln der Wirtschaftswissenschaften zu betreiben, also hinter den bereits erreichten Forschungsstand der neuen Wirtschaftssoziologie zurückzufallen. Sieht man jedoch, wie vehement sich Bourdieu gerade gegen solche, wie er es nennt, ökonomistische Versuche wendet, namentlich gegen Theorien rationaler Handlungswahl (RCT) und Institutionenökonomie, erscheint die von Bourdieu durchgeführte Generalisierung und Respezifikation ökonomischer Begriffe zur Analyse der wirtschaftlichen Praxis zunächst paradox und verfehlt. Viel der erklärenden Kraft gewinnt seine Theorie nichts desto weniger daraus, nicht nur ökonomische Güter, sondern auch symbolische Güter als knappe Ressourcen zu definieren, die in unterschiedlichen Feldern umkämpft sind, weil sie zu sozialem Vorteil verhelfen. Seine mit Vehemenz betriebene Entzauberung der kulturell und symbolisch erzeugten Verschleierungen dieses Kampfes erzeugt vor allem in ihrer Anwendung auf das wissenschaftliche Feld eine gewisse Skandalwirkung, weil diese Analysen die dort regelmäßig praktisch werdenden Machtkämpfe sichtbar machen, die ohne einen Begriff der Ökonomie der symbolischen Güter nicht augenscheinlich werden würden. Die größte Herausforderung stellt sich einer solchen Theorie aber dann, wenn sie auf die Ökonomie selbst angewendet wird. In Anlehnung an eine Definition von Neil Smelser und Richard Swedberg (vgl. 2005a: 3) beansprucht die Soziologie der Wirtschaft zeigen zu können, wie die Produktion und Verteilung, der Austausch und Verbrauch knapper Güter und Dienstleistungen mit Hilfe genuin soziologischer Theorie- und Forschungskonzepte besser verstanden und erklärt werden können, als dies mit wirtschaftswissenschaftlichen Mitteln möglich ist. Im Kontext dieser Bestimmung der Wirtschaftssoziologie gerät Bourdieus mit ökonomischen Begriffen konstruierte Theorie in Anwendung auf die Analyse der Ökonomie schnell in den Verdacht, mit dem Pathos des Aufklärers eine Trivialität nach der anderen vorzutragen (vgl. Kieserling 2004: 148). Denn dass im ökonomischen Feld mit Hilfe einer berechnenden und kalkulierenden Praxis um den sozialen Vorteil gekämpft wird, ist eine Binsenweisheit, zu deren Aufdeckung es keiner soziologischen Theorie bedarf. Das Vokabular des Konkurrenzkampfes um knappe Güter wird schließlich von den Akteuren im ökonomischen Feld als Legitimation der eigenen Praxis eingesetzt. Diese Problematik seiner Theorie der Ökonomie der Praktiken bemerkt auch Bourdieu, wenn er in einem seiner neueren Texte schreibt: „Und wie ich eines Tages zeigen zu können hoffe, deutet alles darauf hin, dass die Theorie des ökonomischen Feldes, weit davon entfernt ein Grundmodell abzugeben, eher einen Sonderfall der allgemeinen Theorie der Felder darstellt, die im Begriff ist, über eine Art empirisch validierte theoretische Induktion nach und nach aufgebaut zu werden und einerseits Fruchtbarkeit und Grenzen von Übertragungen wie der Weberschen einzuschätzen erlaubt, andererseits dazu zwingt, die Voraussetzungen der ökonomischen Theorie namentlich im Lichte der aus der Untersuchung der
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Felder der Kulturproduktion hervorgegangenen Erkenntnisse zu überdenken.“ (Bourdieu 1999: 292f.)
Die theoretische Arbeit zur Anwendung der Praxistheorie auf die moderne Ökonomie steht demnach weitgehend noch aus. Dabei ist die diesbezügliche Stärke des Bourdieuschen Ansatzes nicht die von ihm zur Entzauberung so unterschiedlicher Felder wie Kunst, Wissenschaft, Staat etc. vorgenommene Generalisierung und Respezifikation des ökonomischen Vokabulars mit Fokussierung auf die Sozialdimension der Praxis, also auf den Kampf der Akteure um soziale Positionen, sondern seine kultursoziologische Grundlegung der Praxistheorie (siehe dazu oben Abschnitt 2.3.3). Bei einem genaueren Blick auf Bourdieus Studien zur Wirtschaftssoziologie (vgl. u. a. Bourdieu et al. 2002 und Bourdieu 1998b; 2005a) wird schnell deutlich, welche Bedeutung hier der symbolisch-kulturellen Deutungsebene für die Formen der Praxis im ökonomischen Feld beigemessen wird.15 Diese innovative Kraft der kultursoziologisch fundierten Praxistheorie Bourdieus lässt sich auch für die Analyse des Tausches fruchtbar machen. Denn der warenförmige, auf Geld basierende und scheinbar leicht in ökonomischen Begriffen rekonstruierbare Markttausch ist eher die Ausnahme des Tausches, wie bereits Karl Polanyi (vgl. 1978: 77ff.) gezeigt hat. Er ist eine relativ neue Erscheinung und muss deshalb in seiner Entstehung untersucht werden, die nicht als selbstverständlich vorausgesetzt oder als unweigerliche Konsequenz der soziokulturellen Evolution betrachtet werden kann. Werden nämlich neben dem typisch modernen Markt- bzw. Warentausch zusätzlich andere Praxisformen des Tausches betrachtet und untersucht, zeigt sich, dass der Tauschmechanismus nicht so leicht zu durchschauen ist, wie es ein entscheidungstheoretisches Marktmodell des Tausches suggeriert. In diesem Zusammenhang bietet Bourdieu mit seiner Ökonomie der symbolischen Güter nicht nur die Möglichkeit, vorkapitalistische Ökonomien mit der kapitalistischen Ökonomie zu vergleichen. Die kultursoziologische Fundierung der soziologischen Praxistheorie ermöglicht es darüber hinaus, Tauschformen zu identifizieren, die nicht primär über einen kalkulierbaren Preismechanismus praktisch werden, der im Übrigen, wie noch genauer zu zeigen sein wird, in kultursoziologischer Sicht sehr voraussetzungsreich ist. Mit Hilfe einer in den 1950er Jahren durchgeführten ethnologischen Untersuchung der nicht waren- und geldbasierten Praxisformen des Tausches bei den Kabylen, einem algerischen Bergvolk, stellt Bourdieu fest, dass die vorkapitalistische Ökonomie „ganz und gar auf einer Verneinung dessen [beruht], was wir als Ökonomie betrachten“ (Bourdieu 1998a: 176). Praktiken, die uns als genuin ökonomisch erscheinen, werden in der sozialen Welt der Kabylen regelmäßig zu symbolischen Akten verklärt. Dieser Eindruck darf nicht zu der unter anderen von Polanyi (vgl. 1978: 75) vorgetragenen Fehleinschätzung führen, in tribalistischen Gesellschaften wie der der Kabylen gebe es keinen auf Gewinnkalkulation ausge15 Vgl. hierzu auch Viviana Zelizer (2005: 338), die diesen Impuls für die Analyse des Konsumverhaltens nutzt. Dass Bourdieus Praxistheorie inzwischen als wichtige Referenztheorie der Wirtschafts- und Marktsoziologie gilt, zeigt sich nicht nur darin, dass seine „ökonomische Anthropologie“ (vgl. Bourdieu 2005) inzwischen Bestandteil eines Standardwerkes (Smelser und Swedberg 2005b) der Wirtschaftssoziologie ist, sondern auch an der vielfältigen Adaption insbesondere seines Feldbegriffs zur Analyse von Märkten (vgl. exemplarisch Swedberg 2005: 247ff.). Vgl. zur Diskussion der Adaption der Praxistheorie in der Wirtschaftssoziologie die Beiträge in Florian und Hillebrandt (2006a) und zu den Gründen für die diesbezügliche Zurückhaltung in der deutschen Soziologie der Wirtschaft Florian und Hillebrandt (2006b).
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richteten Tausch, was ebenso zu kurz gedacht ist wie der weit verbreitete Gedanke, die moderne Ökonomie sei vollständig durch den Warentausch bestimmt. Die Ökonomie der Kabylen basiert jedoch auf einem praktischen Prinzip, das sich zunächst von dem der modernen Ökonomie deutlich zu unterscheiden scheint. Denn durch die selbstverständliche Verneinung dessen, was wir als ökonomisch ansehen würden, entsteht, etwa im Gabentausch, eine praktische Logik, die sich eben nicht mit den herrschenden Theorien und Beschreibungsformen der modernen Ökonomie erklären lässt. Die Gabe wird zu einem Symbol, zu einer Botschaft und ist dadurch deutlich mehr als ein materialer Gegenstand oder eine Dienstleistung mit Gebrauchswert. Die durch Gabe und Gegengabe entstehende Zirkulation von Gütern, die ein beträchtliches Ausmaß annimmt, erzeugt eine besondere Art des Kapitals, die Bourdieu das symbolische Kapital nennt, verstanden als ein „nach besonderen Wahrnehmungskategorien konstruiertes Wahrgenommenwerden“ (Bourdieu 1998a: 176). Um wirksam zu werden, setzt symbolisches Kapital „das Vorhandensein von sozialen Akteuren voraus, die in ihrem ganzen Denken so konstruiert sind, dass sie erkennen und anerkennen, was sich ihnen bietet, und ihm Glauben schenken“ (ebd.). Symbolisches Kapital entsteht und reproduziert sich in sozialen Beziehungen. Und die gesamte Ökonomie der Kabylen beruht auf der Zirkulation dieser Form von Kapital. Es entsteht eine Ökonomie der symbolischen Güter, die den sozialen Zusammenhalt der sozialen Welt, also soziales Kapital erzeugt und deshalb für die Genese und Reproduktion sozialer Strukturen von zentraler Bedeutung ist. Diese spezielle Ökonomie kann, wie es Bourdieu unternimmt, als Kontrastfolie der kapitalistischen Ökonomie angesehen werden, um die komplexen sozialen Prozesse zu verdeutlichen, die die Genese des ökonomischen Feldes der modernen Gesellschaft und – mit ihr verbunden – die Genese des kapitalistischen, geldbasierten Warentausches möglich gemacht haben. Entscheidend ist für Bourdieu in diesem Zusammenhang, dass sich nicht nur die objektivierten Schemata der Sozialität ändern müssen, damit die vormoderne Ökonomie in eine kapitalistische Ökonomie transformiert werden kann. Diese Transformation bedarf zusätzlich der Genese von sozialen Akteuren, die das Interesse der modernen Ökonomie, „Geschäft ist Geschäft“, habitualisieren und dadurch praktisch werden lassen. Es muss mit anderen Worten ein ökonomischer Habitus entstehen oder, wie Bourdieu es sagt, gemacht werden (vgl. Bourdieu 2000c). Die Nachzeichnung dieser Genese gibt unter anderem Antworten auf die Frage, warum sich die Sichtweise, der geldbasierte Warentausch bestimme vollständig die moderne Ökonomie, in den Wirtschaftswissenschaften und selbst in Teilen der soziologischen Theorie so nachhaltig und unhinterfragt durchgesetzt hat. Bourdieu argumentiert, dass sich die Genese des ökonomischen Habitus’ nur dann erkennen lässt, wenn die „ahistorische Sicht der ökonomischen Wissenschaft“ (Bourdieu 2002a: 25) überwunden wird. Dann wird sichtbar, dass die „ökonomischen Dispositionen des ökonomischen Agenten“ (ebd.), also die Bedürfnisse, Geschmäcker, die Neigungen und Fähigkeiten etwa „zum Berechnen, zum Sparen oder selbst zum Arbeiten“ (ebd.) sozialhistorisch generierte Dispositionen sind, die nicht als quasi naturwüchsige Eigenschaften des sozialen Akteurs verklärt werden können, sondern als Produkte der Praxis gesehen werden müssen, die sich in Wechselwirkung mit den objektivierten Schemata der sozialen Welt herausgebildet haben. Gleichsam muss die Genese, „also die Geschichte des Differenzierungs- und Verselbständigungsprozesses“ (ebd.) des ökonomischen Feldes nachgezeichnet werden. Durch diese sozialhistorische Re-
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konstruktion der Genese von inkorporierten Dispositionen und objektivierten Schemata, die an den Praxisprinzipien der von Bourdieu so genannten ökonomischen Ökonomie orientiert sind, erscheint das ökonomische Feld „als Kosmos, der seinen eigenen Gesetzen folgt und damit der radikalen Verselbständigung durch die reine Theorie, die den ökonomischen Bereich zum separaten Universum erhebt, eine gewisse (begrenzte) Gültigkeit verleiht“ (ebd.). Dann wird nach Bourdieu erkennbar, dass sich die „Sphäre des Warentausches von den anderen Daseinsbereichen separiert“ (ebd.) und „das Berechnen des individuellen Profits, also das ökonomische Interesse, als dominante, wenn nicht ausschließliche Sichtweise die Oberhand über die kollektiv durchgesetzte und kontrollierte Veränderung der berechnenden Neigungen in der Haushaltsökonomie“ (ebd.: 26) gewinnt. Kalkulation, Gewinnorientierung und andere kulturell erzeugte Werte, die sich in der Illusio des ökonomischen Feldes „Geschäft ist Geschäft“ bündeln, wohnen nach Bourdieu zwar den ökonomischen Praktiken und mithin denen des Tausches inne, sie haben ihren Ursprung jedoch nicht „in ‚Entscheidungen’ des rationalen Willens und Bewusstseins oder in von äußeren Mächten ausgehenden mechanischen Determinationen, sondern in den Dispositionen, die in Lernprozessen bei einer lang währenden Auseinandersetzung mit den Regelmäßigkeiten des [ökonomischen] Feldes erworben wurden“ (ebd.: 29). Gerade weil sie als selbstverständlich verklärt werden, können diese Dispositionen „selbst ohne jedes bewusste Kalkül Verhaltensweisen und sogar Antizipationen erzeugen, die eher vernünftig als rational zu nennen sind, auch wenn ihre Übereinstimmung mit den Einschätzungen des Kalküls dazu verleiten, sie als Produkte der kalkulierenden Vernunft aufzufassen und zu behandeln“ (ebd.). Wichtig ist für Bourdieu, dass die Rationalität, Diszipliniertheit, Berechnung, Kalkulation und andere als typisch für die Ökonomie geltende Eigenschaften und Dispositionen kulturelle Repräsentationen des ökonomischen Feldes sind. Die ökonomische Rationalität ist beispielsweise, mit Castoriadis gesprochen, nicht mehr als eine wirkmächtige, Praxis generierende Imagination, die sich in Symbolen Ausdruck verschafft. Wird dies gesehen, wird deutlich, was Castoriadis wie folgt bündig auf den Punkt bringt: „Die Ökonomie im weitesten Sinne (von der Produktion bis zum Konsum) gilt als Muster für die Rationalität des Kapitalismus und der modernen Gesellschaften. Aber gerade die Ökonomie liefert – eben weil sie sich vollständig rational wähnt – den schlagenden Beweis für die Herrschaft des Imaginären auf allen Ebenen.“ (Castoriadis 1984: 268f.)
Diese, wie Cornelius Castoriadis es nennt, Herrschaft des Imaginären, also der kulturellen Dimension von Praxis, wird in der gegenwärtigen Diskussion über die Strukturen und Formen der modernen Ökonomie nicht nur in den Wirtschaftswissenschaften regelmäßig marginalisiert. Wirtschaftssoziologische Forschung wird sich jedoch mit den kulturellen und symbolischen Formen wirtschaftlicher Praxis auseinander setzen müssen, um eine gehaltvolle, nicht halbierte Analyse der Ökonomie zu ermöglichen. Die kulturellen Schemata der Ökonomie können dabei nicht als ahistorische Eigenschaften des Wirtschaftens definiert werden, die sich in allen Gesellschaftsformationen finden lassen. Kalkulation und andere als konstitutiv für die Ökonomie angenommene Eigenschaften sind, wie Michel Callon (vgl. 1998a: 6ff.) richtig herausstellt, kulturell erzeugte Praxisformen, zu deren Realisierung kulturelle Muster praktisch werden müssen. Es macht deshalb wenig Sinn, in einer falsch be-
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gründeten Kritik der Wirtschaftswissenschaften die soziale Einbettung ökonomischer Praxis in genuin wirtschaftswissenschaftliche Symbole zu leugnen. Zur Identifikation und Analyse dieser kulturellen Muster moderner Ökonomie stellt Callon (vgl. ebd.) im Anschluss an die Theorie der sozialen Einbettung von Märkten die Frage, wie ökonomische, an theoretischer Modellbildung von Gleichgewichtszuständen des Marktes und Kalkulationstheoremen orientierte Theorien Wirkungen in der ökonomischen Praxis hinterlassen. Er stellt fest: „Of course it [the market; F.H.] mobilizes material and metrological investments, property rights and money, but we should not forget the essential contribution of economics in the performing of the economy.” (Ebd.: 22f.)
Mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Wirtschaftstheorie (economics) und ökonomischer Praxis (economy) stellt Callon präziser als Bourdieu oder Castoriadis heraus, dass etwa der Begriff des homo oeconomicus, in dem sich die theoretischen Annahmen der Wirtschaftswissenschaften symbolisch bündeln und der ein wichtiger Angriffspunkt einer Kritik der Wirtschaftswissenschaften ist, alles andere als nur eine Fiktion ist. Nach Callon existiert der an der Kalkulation und Berechenbarkeit orientierte Akteur, also der homo oeconomicus, auch als inkorporierte Entität der ökonomischen Praxis und nicht nur in ihrer Reflexionstheorie. Als Konsequenz dieser Feststellung kann der Begriff homo oeconomicus nicht ontologisch verstanden werden. Er bezeichnet nicht die verborgene Natur des Menschen. Er ist vielmehr das Resultat eines Prozesses der Konfiguration von Sinngehalten (vgl. Callon 1998a: 22). Diese Konstruktion strikt ökonomischer Denkweisen und Symbole ist für Callon eine Praxis, deren Wirkungen auf die alltäglichen Praxisformen der Ökonomie von der Wirtschaftssoziologie entweder überschätzt werden, wenn sie etwa als ahistorische Prinzipien der Praxis verklärt werden. Andererseits werden sie aber auch unterschätzt, weil sie nicht als signifikante Rahmungen der ökonomischen Praxis erkannt werden, die wichtige symbolische Formen der Praxis in allen Bereichen der Ökonomie darstellen. Für eine derartige Argumentation ist es wichtig, die historische Entwicklung von bestimmten ökonomischen Praktiken und Praxisformen nachzuzeichnen. Ein in diesem Zusammenhang besonders prägnantes Beispiel ist die Praxis auf Finanzmärkten. Die hier entstehende Praxis zeichnet sich nicht durch die Produktion und der Verteilung von Gütern aus, sondern ausschließlich durch den Handel von Währungen und anderen Finanzinstrumenten, die nicht für den Konsum bestimmt sind. Auf den Finanzmärkten differenzieren sich spezialisierte Händlerbereiche aus, in denen beispielsweise Geld, Ansprüche in Form von Kaufoptionen, Risiken oder Schulden gehandelt werden (vgl. Knorr Cetina und Bruegger 2002: 911f.). All diese Märkte sind, und das zeichnet sie vor allem aus, reine Händlermärkte, auf denen professionelle Händler untereinander Transaktionen tätigen, so dass der Handel mit Finanzinstrumenten als eigenständige, quasi isolierte Praxisform erscheint, die nur von eigens dazu ausgebildeten, also professionellen Händlern betrieben werden kann, wobei diese Händler situationsbedingt zwischen den Rollen Verkäufer und Käufer wechseln. Finanzmärkte sind wegen des hier agierenden professionellen Personals, das typischerweise an Universitäten ausgebildet wird, eigentümlicherweise mit professionellem, wirtschaftswissenschaftlichem Wissen über die Mechanismen des Marktes durchdrungen.
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Bezüglich der Genese der Praxis auf diesen Finanzmärkten lässt sich als Beispiel für die ökonomische Wirkmächtigkeit symbolischer Formen beobachten, dass die auf Gewinn kalkulierende Spekulation mit Wertpapieren noch in den 1960er Jahren als eine risikoreiche Praxis galt, der sich nur ganz besonders geschulte und risikobereite Akteure hingeben. Mit der Änderung der Reflexionstheorien wirtschaftlicher Praxis, die jetzt immer mehr davon ausgehen, dass sich das Risiko der Spekulation mit neuen Modellen der mathematischen Kalkulation berechnen lässt und dass der Kauf und Verkauf von Wertpapieren, also der Optionshandel ein gutes Geschäft ist (vgl. hierzu Kalthoff 2004: 163ff; MacKenzie und Millo 2003), verändert sich auch die Praxis auf dem Finanzmarkt. Die Börse, an der die Kaufoptionen gehandelt werden, wird zum paradigmatischen Ort der ideologischen Verklärung ökonomischer Kosten-Nutzen-Prinzipien. Inzwischen gelten Akteure, die nicht an der Börse spekulieren, als konservative Traditionalisten, die sich ständig gute Geschäfte entgehen lassen. Verfestigt wird diese Logik der Praxis nach Karin Knorr Cetina und Urs Bruegger (vgl. 2002) durch „globale Mikrostrukturen“ der Praxis auf Finanzmärkten, die sich in einer „face to screen situation“ (ebd.: 911) bilden. Diese wird erst mit der massenhaften Verbreitung von computergestützter Interaktion möglich, so dass die praxisrelevanten Symbole der Praktiken auf Finanzmärkten im Sinne von Schütz als „appresentations“ (ebd.: 909) der Praxis verstanden werden können. Der globale Finanzmarkt erscheint zeitgleich auf den Bildschirmen der Händler in den Finanzmetropolen der Welt und wird dadurch für diese Akteure zu einer imaginierten Realität spontaner Aktivitäten, die immer wieder aufs Neue geschehen und als Kauf und Verkauf von Wertpapieren wahrgenommen werden. Die Praxis des Marktes wird auf diese Weise durch die mikrosoziale „face to screen interaction“ global inszeniert. Kalkulation und Berechnung werden auf den Bildschirmen (screens) abgebildet, so dass die Akteure nahezu immer mit der kulturellen Repräsentation kalkulatorischer Praxis konfrontiert sind. Dies erzeugt entsprechende Habitualisierungen. Eine derartige Entwicklung des Finanzmarktes, die Knorr Cetina und Bruegger empirisch belegen, zeigt im Sinne Callons, dass der homo oeconomicus nicht nur eine Fiktion der ökonomischen Wissenschaft, sondern auch ein Produkt der Praxis ist. Das von der Wirtschaftssoziologie intensiv empirisch untersuchte Beispiel der Genese des Finanzmarktes zeigt mit anderen Worten, dass es durchaus Sinn macht, mit Callon die praxistheoretische Frage zu stellen, wie Begriffe der ökonomischen Theorie, also etwa der Begriff des homo oeconomicus, der als wichtiges Symbol der ökonomischen Wissenschaft verstanden werden kann, Effekte für die ökonomische Praxis nach sich ziehen.16 Nach Callon ist die ökonomische Praxis nicht nur in soziale Strukturen eingebettet, die mit dem kalkulierenden Kosten-Nutzen-Prinzip der ökonomischen Wissenschaft nicht vereinbar sind. Die ökonomische Praxis ist ebenso in die symbolischen Formen der ökonomischen Wissenschaften eingebettet, die sich auch in materialen Artefakten Ausdruck verschaffen. Diese Artefakte, die Callon ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie als Aktanten der Praxis fasst, sind etwa Kalkulationsmittel, beispielsweise mathematische For16 Vgl. zur Soziologie des Finanzmarktes auch die Beiträge in Windolf (2005). Christoph Deutschmann geht hier (vgl. 2005) der interessanten Frage nach, ob und wie die gegenwärtige Form des Kapitalismus als Finanzmarkt-Kapitalismus bezeichnet werden kann, weil der Finanzmarkt das entscheidende Strukturierungsprinzip gegenwärtiger Ökonomie ist.
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meln, und Rechenmaschinen (Computersysteme), aber auch Orte, wie etwa Börsen, an denen eine kalkulatorische Praxis notwendig inszeniert werden muss. Diese symbolischen Formen sind neben bestimmten sozialen Akteuren wie Broker, Börsenmakler und -analysten praxisrelevante Teile in einem Netz der Repräsentationen und Materialisierungen, das die Performanz von Praktiken erzeugt, das also bestimmte Praktiken wahrscheinlich werden lässt. Diese Sichtweise, die in praxistheoretischer Perspektive einen präzisen Begriff der objektivierten Sozialität als wichtige Bedingung für die Performanz von Praktiken und Praxisformen impliziert, verdeutlicht die Wirkmächtigkeit sozio-technischer Systeme für die Entstehung einer kalkulatorischen Praxis in der modernen Ökonomie, wie Herbert Kalthoff (vgl. 2004: 165ff.) im Anschluss an Callons programmatische Überlegungen überzeugend am Beispiel der Kalkulation des Risikos im wirtschaftlichen Kontext verdeutlicht.17 Die wichtigste Konsequenz, die aus den hier referierten Ergebnissen der neuen finanzsoziologischen Forschung gezogen werden muss, ist meines Erachtens, dass die ahistorische Festlegung von Strukturen des Marktes nicht hinreichend ist, um die Dynamik von marktförmigen Tauschprozessen angemessen in den soziologischen Blick zu nehmen. Diese Strukturen und kulturellen Repräsentationen wandeln sich, wie Donald MacKenzie und Yuval Millo (vgl. 2003) überzeugend am Beispiel der Genese des Finanzmarktes deutlich machen. Sie schreiben als Schlussfolgerung ihrer Untersuchung mit Bezug zu Callons Idee der Einbettung ökonomischer Praxis in ökonomische Theoriesymbole: „An open construction of the actor, however, is precisely what is needed as the foundation for an adequate theoretical understanding of the ‚concrete organized markets’ … of high modernity, in all their diversity.” (MacKenzie and Millo 2003: 141) Die beiden Autoren machen mit dieser Aussage auf eine Schwäche des Callon’schen Ansatzes aufmerksam. Callon betrachtet vorrangig die objektivierte Seite der Bedingungen für das Entstehen von Praktiken und Praxisformen im Feld der Wirtschaft. Die inkorporierte Sozialität wird von Theoretikern der AkteurNetzwerk-Theorie, zu denen Callon als einer ihrer wichtigsten Vertreter gezählt werden muss, weitgehend vernachlässigt, wie ich bereits oben (2.3.2) an Latours Technikverständnis deutlich gemacht habe. Dennoch kann als Schlussfolgerung aus den Ergebnissen der neuen finanzsoziologischen Forschung (vgl. Kalthoff 2004: 158) im Anschluss an Callon festgehalten werden: Der homo oeconomicus, das Theorem der Kalkulation und andere theoretische Festlegungen der Wirtschaftswissenschaften sind keine unrealistischen Fiktionen, sondern vielmehr soziale Bedingungen für die Transaktionen auf Märkten. So sind, wie Andreas Langenohl (vgl. 2007: 11) herausstellt, soziale Akteure in primär marktförmigen Umwelten wie etwa dem Finanzmarkt gezwungen, sich in dort praktisch werdenden Tauschprozessen als „homines oeconomici“ (ebd.) zu begegnen, die in der Transaktion jeweils auf den eigenen Vorteil bedacht sind und ihre Praktiken entsprechend als rational inszenieren. Hier geschieht somit nichts anderes, als dass die symbolischen Formen der ökonomischen Wis-
17 Wie schnell sich die kulturellen Repräsentationen des Finanzmarktes ändern können, zeigt sich an der Finanzkrise aus dem Jahre 2008. Nicht nur das Kapital ist wie ein scheues Reh, sondern auch die symbolischen Formen des Finanzmarktes. Denn mit der Krise schwindet das Vertrauen in die Finanzwirtschaft genau so schnell wie es in den Jahren zuvor symbolisch entstanden ist. Was daran deutlich wird, ist die starke Abhängigkeit des Finanzhandels von symbolischen Formen, ohne die Tauschpraktiken offensichtlich nicht nachhaltig und praxiswirksam entstehen können. Die große Finanzkrise, so wie wir sie gegenwärtig erleben, entsteht dann, wenn im Zuge der Veränderung symbolischer Formen die Häufigkeit von Tauschpraktiken auf den Finanzmärkten signifikant abnimmt.
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senschaften in der Praxis relevant werden. Diese symbolischen Formen sind Bestandteile von sozio-technischen Netzwerken, die eine Performanz von Praktiken und Praxisformen ermöglichen. Die in diese Netzwerke eingebundenen Akteure müssen, so kann aus praxissoziologischer Perspektive ergänzt werden, mit Dispositionen ausgestattet sein, die ihnen einen Umgang mit den symbolischen Formen von Märkten ermöglichen, die sie also in die Lage versetzen, sich selbst als homines oeconomici zu inszenieren. Nur so entsteht letztlich die von Callon so eindringlich hervorgehobene Performanz auf professionell organisierten Märkten, die wiederum neue symbolische Formen erzeugt. Wird dies gesehen, lässt sich die der objektivierten Sozialität relational gegenüber stehende inkorporierte Sozialität in die Analyse der Praktiken und Praxisformen des Marktes einbeziehen. Innerhalb der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität entstehen Praktiken, die sich zu Praxisformen verketten können. Eine wichtige dieser Praxisformen ist der Tausch, der sich im Kontext moderner Märkte täglich massenhaft ereignet. Die Bedingungen dafür sind, wie die neue Wirtschaftssoziologie inzwischen dezidiert nachweist, vielfältig. Diese praxistheoretischen Einsichten in die Strukturdynamik von Märkten haben für die soziologische Theoriebildung die entscheidende Konsequenz, Praxisformen der Ökonomie nicht aus nomologischen Grundannahmen ableiten zu können, sondern aus einer Beobachtung des praktischen Sinns zu generieren, der als Ausdruck des Imaginären in unterschiedlichen Situationen und unter variablen Bedingungen Symbole formt. Ganz in diesem Sinne kann dann auch die folgende Aussage Bourdieus verstanden werden: „Wie die Beobachtung zeigt, orientieren sich die Agenten selbst in diesem Universum [des ökonomischen Feldes; F.H.], wo die Mittel und Zwecke der Handlung und ihr Verhältnis zueinander höchst explizit angegeben werden, anhand von Intuitionen und Antizipationen des praktischen Sinns, der recht oft das Wesentliche implizit bleiben lässt und von der Praxis erworbener Erfahrung ausgehend sich in Strategien realisiert, die in doppeltem Sinne ‚praktisch’ sind – als implizit, nicht theoretisch, und als angemessen, den Erfordernissen und Dringlichkeiten des Handelns entsprechend.“ (Bourdieu 2002a: 30)
Dieser eindringliche Hinweis auf den praktischen Sinn des ökonomischen Feldes verdeutlicht die Richtung, die eine praxistheoretische Soziologie der Wirtschaft und des Tausches einschlagen muss: Sie muss die Sinnproduktion und die kulturellen Symbolisierungen des Tausches als historisch generierte Formungen des Imaginären zur Analyse von Praxisformen des Tausches berücksichtigen. Ohne Zweifel ist, wie hier gezeigt, evident, dass Kalkulation, Diszipliniertheit, Rationalität, Gewinnorientierung und Effizienz wichtige symbolische Formen des Feldes der Ökonomie sind. Und der Begriff des Marktes bündelt, wie Bourdieu herausstellt, diese symbolischen Formen und avanciert dadurch selbst zum wichtigsten Symbol der kulturellen Repräsentation des ökonomischen Feldes. Dies ändert aber nichts daran, dass der „so genannte Markt … in letzter Instanz nichts anderes [ist] als eine soziale Konstruktion, eine Struktur spezifischer Beziehungen, zu dem die verschiedenen im Feld tätigen Agenten in unterschiedlichen Geraden dadurch beisteuern, dass sie ihm Modifikationen aufzwingen und dazu diejenigen Befugnisse des Staates ausnutzen, die sie kontrollieren und lenken können.“ (Bourdieu 1998b: 189) Die soziale Konstruktion Markt wird demnach zu einem wirkmächtigen Symbol der ökonomischen Praxis. Und diese symbolische Form eignet sich, was Bourdieu im Kontext
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seiner Kapitalismuskritik besonders hervorhebt, unter anderem zur Ausgestaltung politischer Programme, um bestimmte Interessen durchzusetzen. Für eine Praxistheorie des Tausches bedeutet diese zentrale These Bourdieus jedoch deutlich mehr: Die symbolische Form Markt übt auf die Praxisformen des Tausches eine Wirkung aus. Dies heißt aber nicht, dass die theoretische Logik des Marktes ohne weiteres in eine praktische Logik transformiert wird. Die Ausformungen des Marktsymbols sind, wie Langenohl (vgl. 2007) in seiner qualitativen Analyse der kulturellen Repräsentation des Marktes überzeugend herausarbeitet, vielfältig und müssen in Relation zu anderen symbolischen Formen der Tauschpraxis analysiert werden, die sich nicht primär aus einer Marktlogik speisen. Langenohl befragt in Interviews professionelle Akteure auf Finanzmärkten nach ihrer Bewertung des Marktes und destilliert aus den Antworten, wie der Finanzmarkt von dort aktiven professionellen Händlern sozial konstruiert und dadurch kulturell repräsentiert wird. Nach den Ergebnissen dieser qualitativen empirischen Untersuchung gehorchen insbesondere kurzfristige Praktiken auf Finanzmärkten fast immer einer praktischen Logik, die sich deutlich von der theoretischen Logik des Marktes unterscheidet, die von den durch Langenohl befragten Börsenmaklern, Brokern und Analysten einhellig als langfristig gültiger Mechanismus angesehen wird. Die konkrete Tauschpraxis folgt selbst auf Finanzmärkten, die als paradigmatische Orte der von der ökonomischen Wissenschaft entworfenen Marktlogik gelten können, praktischen Prinzipien, die geradezu als contrafaktisch zu den Praxisprinzipien der Kalkulation und Berechnung angesehen werden müssen. Dieses Ergebnis der Untersuchung Langenohls zeigt, dass zur kapitalistischen Marktlogik nicht nur die Symbole der Berechnung und Kalkulation gehören, sondern konstitutiv damit verbunden auch Symbole wie Wagnis und Innovation. So äußern fast alle von Langenohl befragten Probanden zu ihren Motiven für kurzfristige Kaufentscheidungen, dass sie aus einem Gefühl heraus Wertpapiere gekauft oder verkauft hätten und dass sie diese Kauf- bzw. Verkaufentscheidungen nicht mit den vorgeblich rationalen Gesetzen des Marktes, die für die Befragten in langfristiger Perspektive prinzipiell gelten und von ihnen dogmatisch für richtig gehalten werden, begründen können, so dass sie ihre kurzfristigen Praktiken auf dem Finanzmarkt sehr häufig als irrational bezeichnen (vgl. Langenohl 2007: 52ff.).18 Zwar beeinflussen ökonomische Symbole wie Berechnung, Kalkulation und Effizienz, wie hier an der neuen finanzsoziologischen Forschung nachgezeichnet wurde, die Formen der Praxis des Tausches auf Märkten erheblich. Diese Einsicht kann aber nicht dazu verleiten, bestimmte andere Symbole der Ökonomie wie Wagnis, Innovation und Risiko, die nicht den Praxisprinzipien der Kalkulation und Berechnung gehorchen, zu Restkategorien der Ökonomie zu erklären. Ökonomische Prozesse sind, ganz allgemein gesprochen, mit der Analyse von Mechanismen des geldbasierten, auf Kalkulation beruhenden Tausches auf den unterschiedlichen Märkten nicht hinreichend bestimmbar. Wenn dies allgemein für die ökonomische Praxis gilt, was empirische Studien offensichtlich machen, muss auch im Hinblick auf die Formen des Tausches, die in der Ökonomie praktisch werden, die Frage gestellt werden, ob der ökonomische Tausch sich tatsächlich primär durch Kalkulation und Berech-
18 Dieses Ergebnis der empirischen Studie Langenohls kann nur den oder die überraschen, der oder die eine seit Weber gepflegte Modernisierungs- und Rationalisierungstheorie der Wirtschaft für richtig hält. Ich danke Thomas Malsch für diesen Hinweis.
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nung auszeichnet, ob er also primär oder gar ausschließlich durch derartige symbolische Formen repräsentiert werden kann. In diesem Zusammenhang ist meine These, dass es in der Gegenwartsgesellschaft eine Ausformung der Tauschpraxis gibt, die sich nicht durch die Logik der Kalkulation und Berechnung auszeichnet, sondern einer anderen Logik gehorcht, die etwa im Gabentausch praktisch wird. Und diese praktische Logik des nicht auf Kalkulation beruhenden Tausches ist, so meine im Folgenden zu belegende These, auch für die Strukturdynamik von Märkten von großer Bedeutung. Michel Callon (vgl. 1998a: 13f.) hält die Praxistheorie Bourdieus für den wichtigsten und gegenwärtig einzigen Ausgangspunkt, nicht nur die Emergenz der auf Kalkulation beruhenden Tauschpraxis, sondern auch die Emergenz der nicht auf Kalkulation beruhenden Tauschpraxis angemessen zu erfassen. Die Lösung der zuletzt genannten Aufgabe ist auch für eine Soziologie des Marktes ein viel versprechender Weg, die Strukturdynamik der ökonomischen Praxis gehaltvoll in den Blick zu nehmen.19 Denn die Wirtschaftssoziologie hat sich davon zu verabschieden, die Bedingungen für Märkte essentialistisch in einem Akteurmodell des homo oeconomicus oder strukturalistisch in den zeitlosen Einbettungen des Marktes zu suchen. Mit Bourdieu lässt sich erkennen, dass das soziologische „Privileg, totalisieren zu dürfen“ (Bourdieu 1987: 152), bei der Modellierung der Praxisform des Tausches, die für die Emergenz von Märkten eine zentrale Bedeutung hat, sehr genau analysiert werden muss, damit eine „Sozialmechanik“ (Bourdieu 1987: 181) des Tausches ebenso vermieden wird, wie eine subjektivistische Verklärung etwa der Gabe als großmütige Tat. Um diese Analyse mit dem Ziel zu leisten, eine Praxistheorie des Tausches zu entwickeln, die den Tausch nicht auf den Warentausch verengt und deshalb den Strukturdynamiken nicht nur des Marktes genauer auf die Spur kommt, ist es lohnend, sich mit dem „Essai sur le don“ von Marcel Mauss und mit den daran in höchst heterogener Form anschließenden Beschreibungsformen der Gabe und des Gabentausches auseinander zu setzen. Die Intention dieser Untersuchung ist es, den vermeintlich vormodernen Gabentausch nicht nur, wie es auch Bourdieu suggeriert, als Kontrastfolie des auf Kalkulation und Berechnung beruhenden Tausches zu beschreiben, sondern vielmehr die theoretische Durchdringung des Gabentausches als weiteren Ausgangspunkt für eine Typologisierung des Tausches zu nutzen, um der Vielfältigkeit der modernen Tauschpraxis theoretisch gerecht werden zu können.20
19 Die Untersuchung der Gabentauschpraxis hält auch Andrea Maurer (vgl. 2006) neben der Analyse der Genese des ökonomischen Feldes für den zweiten wichtigen Beitrag, den die Bourdieu’sche Soziologie zur Weiterentwicklung der Wirtschaftssoziologie leisten kann. Während jedoch der erste Themenkomplex inzwischen vielfältig ausgearbeitet worden ist (siehe FN 15), fehlen diesbezügliche Arbeiten zum zweiten Themenkomplex noch gänzlich. 20 Wie bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit angedeutet, wird in der gegenwärtigen Theoriediskussion der deutschen Soziologie mit Bezug auf eine breite französische Debatte das Thema der Gabe, wie es von Mauss formuliert wird, wieder bemerkenswert intensiv diskutiert. Siehe hierzu die Beiträge in Moebius und Papilloud (2006), Moebius (2006), die Beiträge in Adloff und Mau (2005a), Adloff und Mau (2005b) sowie Paul (2004: 54ff; 2005), Hillebrandt (2006b; 2007a) und Adloff und Papilloud (2008).
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3.3 Gabe, Symbol, Reziprozität und Tausch „Wir leben in einer Gesellschaft, die streng unterscheidet … zwischen den dinglichen Rechten und den persönlichen Rechten, zwischen Personen und Sachen. […] Desgleichen unterscheiden unsere Kulturen … streng zwischen der Verpflichtung und der nicht unentgeltlichen Leistung einerseits und dem Geschenk andererseits. Aber sind diese Unterscheidungen nicht relativ jungen Datums in den Rechtssystemen der großen Kulturen? […] Haben sie diese Bräuche des Gabentausches, wo Personen und Sachen miteinander verschmelzen, nicht selbst praktiziert?“ (Mauss 1990: 120f.)
Marcel Mauss’ Essai sur le don (vgl. Mauss 1990; franz. Erstausgabe 1924) ist eines der Bücher des letzten Jahrhunderts, das eine große Wirkung entfaltet. Mauss scheint mit dem Phänomen der Gabe, das er als fait social total, also als totale soziale Tatsache bezeichnet (vgl. Mauss 1990: 176), in dem sich die unterschiedlichsten Bereiche der Sozialität bündeln, ein Thema berührt zu haben, das sozialwissenschaftliches Denken bis heute hochgradig irritiert. Dabei hatte Mauss zunächst nicht mehr beobachtet, als dass in vielen Stammesgesellschaften Austausch und Verträge in Form von Gaben praktisch werden, die „theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen“ (Mauss 1990: 17). Daraus schließt er, dass die praktische Logik der Gabe aus Geben, Nehmen und Erwidern (vgl. Mauss 1990: 91) besteht. Diese These mit großer Reichweite gewinnt Mauss nicht durch eigene Feldforschung, sondern durch die Sekundäranalyse von Berichten über „Stammesökonomien“ (Malinowski 1979: 184) in unterschiedlichen Teilen der Welt. Sein wichtigster Referenzpunkt ist Bronislaw Malinowski (vgl. 1979; vgl. Mauss 1990: 53ff.), der nach Peter Ekeh (vgl. 1974: 25) der erste Sozialwissenschaftler ist, der eine scharfe Unterscheidung einführt zwischen ökonomischem und sozialem Tausch, den er auch zeremoniellen Tausch nennt. Malinowski stellt bei seinen Beobachtungen der Praxis in Stammesgesellschaften zunächst fest, dass „das gesamte Stammesleben von einem ständigen Geben und Nehmen durchdrungen ist, dass jede Zeremonie, jede Rechtshandlung und jeder Brauch von einer Gabe und einer Gegengabe begleitet wird, dass Besitz, im Geben wie im Nehmen, eines der Hauptinstrumente der sozialen Ordnung, der Häuptlingsmacht, der Verwandtschaftsbeziehungen und der Schwagerbeziehungen darstellt“ (Malinowski 1979: 207f.). Die entscheidende Frage ist für ihn, wie diese praktische Tauschkultur, von den beteiligten Akteuren endemisch als Kula bezeichnet, selbst dann möglich wird, wenn keine Knappheit an Nahrungsmitteln herrscht, so dass unter ökonomischen Gesichtspunkten keine Notwendigkeit für Tauschbeziehungen besteht. Zur Lösung dieser sozialwissenschaftlichen Problemstellung wird das Geben, Nehmen und Erwidern in und zwischen polynesischen Stämmen auf den Trobriand-Inseln im westpazifischen Raum von Malinowski als Selbstzweck beschrieben. Er zeigt sich dabei in hohem Maße überrascht und beeindruckt, dass dem Kula keine ökonomischen, sondern magische Prinzipien zugrunde liegen. Das Kula ist ein Zirkel des Gebens, Nehmens und Erwiderns von Gaben, also ein sozialer Tausch, der sich verlässlich einstellt und selbst dann nicht auf die Mehrung des Gewinns ausgerichtet ist, wenn Knappheit an Ressourcen herrscht. Hier kann „niemals von Hand zu Hand getauscht werden, niemals wird die Äquivalenz der beiden Gegenstände diskutiert, es wird nicht um sie gefeilscht, und sie wird nicht errechnet“ (Malinowski 1979: 128). Der Wert und die Bewertung der Tauschgegenstände sind allein innerliche Prozesse des Geben-
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den und des Nehmenden. Die Tauschvorgänge können über mehrere Monate gestreckt sein, weil eine Gegengabe unter Umständen diese Zeitspanne auf sich warten lässt, und die Tauschgegenstände müssen bei nächster Gelegenheit an dritte Tauschpartner weitergegeben werden, so dass ein Ring des Tausches entsteht. Das Kula ist streng reglementiert, obwohl es nach Malinowski von den Beteiligten nicht als Zwang erfahren wird. Es unterliegt einer rätselhaften Magie, die Malinowski als Ethnologe zu durchdringen versucht (vgl. ebd.: 428ff.), indem er sich um eine umfassende Dokumentation der in Polynesien praktizierten Formen des sozialen, zeremoniellen Tausches bemüht. Dabei hält er sich im Vergleich zu seinen späteren, stark funktionalistisch geprägten Arbeiten (vgl. Malinowski 1975) mit soziologischen Interpretationen auffallend zurück. Seine frühe ethnographische Studie der polynesischen Tauschpraxis hat folglich vorrangig einen deskriptiven Charakter und erinnert gelegentlich an einen spannenden Reisebericht oder auch an einen Abenteuerroman, der auch heute noch lesenswert ist. Malinowski sensibilisiert mit diesem Bericht für Tauschformen, die sich nicht in eine Warenökonomie einordnen lassen und nur durch rituelle und magische Rahmungen, die der modernen Warenökonomie fremd sind und von Malinowski sehr genau und detailverliebt beschrieben werden, zustande kommen. Mauss nimmt dieses von Malinowski zusammengetragene Material, das er um weitere Studien zu Tauschpraktiken in tribalistischen Gesellschaften vor allem aus Nordamerika ergänzt, zum Anlass, die hier beschriebene Praxis deutend zu verstehen, indem er eine Soziologie der Gabe entwirft, die sich der Aufgabe stellt, die praktischen Prinzipien des Tausches von Gaben nicht nur empirisch zu identifizieren, sondern auch soziologisch zu untersuchen. Die dabei entwickelten Deutungsversuche, die an vielen Stellen fragmentarisch bleiben und sich nur selten durch eine systematische Argumentation auszeichnen, lassen sich inzwischen nur noch verstehen, wenn sie vor dem Hintergrund der breiten Rezeption des Gabenessays gesehen werden. Deshalb möchte ich meine eigene Diskussion der durch Mauss vorgenommenen Soziologie von preislosen Tauschformen zunächst zurückstellen, um vorher die breiten Wirkungen des Gabenessays auf unterschiedliche Theoretiker des Tausches zu untersuchen. Eine wirkmächtige Weichenstellung für die Interpretation des Gabenessays geschieht durch Claude Lévi-Strauss. Er erklärt den Text über die Gabepraktiken in tribalistischen Gesellschaftsformationen bereits 20 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung wie selbstverständlich zu einer klassischen Theorie des Austausches. In seinem ersten Hauptwerk Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft von 1949 schreibt er: „Die Schlussfolgerungen des berühmten ‚Essai sur le don’ sind bekannt. In dieser klassisch gewordenen Untersuchung hat Marcel Mauss zum einen gezeigt, dass sich der Austausch in primitiven Gesellschaften weniger in Form von Transaktionen als in der von gegenseitigen Gaben darstellt; zum anderen, dass diese gegenseitigen Gaben in diesen Gesellschaften einen sehr viel wichtigeren Platz einnehmen als in der unseren; und schließlich, dass diese primitive Form des Tausches nicht ausschließlich und nicht in erster Linie einen wirtschaftlichen Charakter trägt, sondern uns mit etwas konfrontiert, das er treffend ein fait social total nennt, eine totale gesellschaftliche Tatsache,
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3 Praxistheorie des Tausches d.h. eine Tatsache, die eine sowohl gesellschaftliche wie religiöse, magische wie ökonomische, utilitäre wie sentimentale, juristische wie moralische Bedeutung hat.“ (Lévi-Strauss 1981: 107) 21
Nicht nur, dass Claude Lévi-Strauss den Text von Mauss bereits etwa 20 Jahre nach seinem Erscheinen in selbstverständlicher Weise als berühmt und klassisch bezeichnen kann, ist bemerkenswert, sondern auch die apodiktische Form seiner Formulierung: Was LéviStrauss aussagt, nämlich dass es sich bei Mauss’ Essay um eine generelle Austauschtheorie handelt, obwohl die Untersuchung von Mauss zunächst nicht als solche, sondern als Reflexion der Praktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns angelegt ist, wird von Lévi-Strauss als allgemein bekannt bezeichnet, so dass sich ein Widerspruch kaum mehr formulieren lässt. Lévi-Strauss nutzt den Gabenessay auf diese Weise zur Entwicklung seiner eigenen strukturalen Anthropologie, in der das Prinzip der Gegenseitigkeit (Reziprozität) von Gabe und Gegengabe als allgemeines Prinzip jeder Sozialität theoretisch generalisiert wird. Jede Sozialität ist für Lévi-Strauss im Grunde Austausch, der auf Symbolsystemen, etwa universellen Heiratsregeln, beruht, die durch nicht reflexive mentale Strukturen strukturiert sind (vgl. Godelier 1999: 30). Deshalb bleibt für Lévi-Strauss der Essay über die Gabe fragmentarisch: Mauss hat nach ihm den letzten Schritt nicht zu gehen gewagt, nämlich seine Beobachtungen der Gabentauschpraxis in eine übergeordnete Struktur des Austausches einzuordnen. So schreibt er in seiner Einleitung in das Werk von Marcel Mauss von 1950: „Mauss scheint dort [in seinem Essay über die Gabe; F.H.] – zu Recht – von einer Gewissheit logischer Natur beherrscht, dass nämlich der Austausch der gemeinsame Nenner einer großen Zahl untereinander scheinbar sehr heterogener sozialer Aktivitäten ist. Es gelingt ihm jedoch nicht, diesen Austausch auf der Ebene der Tatsachen wahrzunehmen. Die empirische Beobachtung zeigt ihm nicht den Austausch, sondern lediglich – wie er selbst sagt – ‚drei Verpflichtungen: Geben, Nehmen, Erwidern’. Die ganze Theorie fordert so die Existenz einer Struktur, von der die Erfahrung nichts als die Fragmente, die zerstreuten Glieder oder, besser, die Elemente darbietet.“ (LéviStrauss 1989: 30; erste Hervorhebung F.H.)
Ganz im Sinne dieser Aussage steht Lévi-Strauss’ eigene Suche nach den tribalistischen Riten und Mythen unter strukturtheoretischen Vorzeichen. Er forscht, wie Jacques Derrida (1976: 440) Lévi-Strauss’ Werk treffend kommentiert, nach der „archaischen und natürlichen Unschuld“, also nach einer allgemein gültigen Struktur, die aller Praxis vorausgeht. Hier offenbart sich eine „Heimweh nach dem Ursprung“ (Derrida 1976: 440): Lévi-Strauss will die durch die westliche Zivilisation zerstörten Ursprünge des menschlichen Zusammenlebens in den Praktiken von Stammesgesellschaften ausfindig machen. Dabei gelingt es ihm, wie vor ihm keinem anderen, den eurozentrischen, holistisch gefassten Kulturbegriff zu relativieren, indem er kulturelle Formen und Symbole in außereuropäischen und außernordamerikanischen Sozialformen ausfindig macht und gleichsam als zentrale, alles andere als außeralltägliche Bestandteile der Reproduktion von Sozialität auffasst. Das primäre Ziel seiner Suche nach den kulturellen Symbolen ist aber zunächst – also insbesondere in seinen
21 Für Jacques Derrida (vgl. 1993: 100f.) ist diese Interpretation des Gabenessays durch Lévi-Strauss, die im Übrigen ein wichtiger Ausgangspunkt des französischen Strukturalismus ist, der wichtigste Grund dafür, dass Mauss’ Untersuchung bis heute vorrangig als strukturale Austauschtheorie wahrgenommen wird.
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ersten, wohl bekannten Studien – das Auffinden einer allgemeinen Struktur, durch die die sozialen Kreise und Stämme im Wesentlichen zusammengehalten werden. Er meint sie in Austauschverhältnissen gefunden zu haben, die sich aus dem fundamentalen Symbol der Gegenseitigkeit heraus bilden. Daraus leitet er die Aussage ab, dass alle sozialen Phänomene, also auch die Gabe, auf Austauschverhältnisse zurückgeführt werden müssen, weil, wie er beispielsweise in der „strukturalen Anthropologie“ (Lévi-Strauss 1971) behauptet, die „Gesellschaft … aus Individuen und Gruppen [besteht], die miteinander in Austauschbeziehungen stehen“ (ebd.: 321). Das universal gültige Symbol der Reziprozität ermöglicht dies dadurch, dass es mental verankert ist. Nur durch dieses Symbol, das als ahistorisch gegeben, also als jeder Sozialität vorgängig verstanden wird, unterscheiden wir uns nach Lévi-Strauss von den anderen natürlichen Lebewesen, denen diese mentale Struktur fehlt.22 Dieses anthropologische Axiom gewinnt Lévi-Strauss, wie gesagt, aus den empirischen Daten der ethnologischen Untersuchung einer in Auflösung befindlichen Stammesgesellschaft im Amazonasgebiet, die er, wie er in seinem wunderbaren Buch „Traurige Tropen“ ausführt, relativ spontan und ohne akademische Anleitung durchführt (vgl. Lévi-Strauss 1978). Aus dieser experimentellen Ethnologie, die wegweisend für die ethnologische Wissenschaft wird, leitet er drei Modi des Austausches ab: Austausch von Frauen, Austausch von Gütern und Dienstleistungen, Austausch von Mitteilungen im Medium der Sprache (vgl. Lévi-Strauss 1971: 322). Diese Tauschmodi differenziert er durch die Typisierung dessen, was getauscht wird, und nicht in Bezug auf die symbolische Regel, die den Tauschmodi nach ihm immer zu Grunde liegt. Dies ist das universale Prinzip der Gegenseitigkeit (vgl. Lévi-Strauss 1981: 107ff.), das nicht zuletzt auch aus dem Essay über die Gabe von Mauss abgeleitet und kurzerhand für alle Tauschformen als gleich angenommen wird. So entsteht ein mentalistischer Strukturalismus des Austausches, in dem sich der Gabentausch problemlos als eine Tauschform unter anderen in ein universales Reich der Reziprozität einordnen lässt.23 Interessant ist nun, dass diese strukturalistischen Überlegungen im Anschluss an Mauss keineswegs von allen Interpretationen des Gabenessays geteilt werden. Denn das, was Lévi-Strauss Mauss als Schwäche vorwirft, nämlich sein Beharren darauf, dass die den Gabentausch konstituierenden Praktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns zum Verständnis der Praxisform des Gabentausches jeweils für sich untersucht werden müssen,
22 Siehe zu dieser Interpretation des Gabenessays auch die Anschlüsse an Mauss durch Marshall Sahlins (vgl. 1981: 180f.) und Alvin Gouldner (vgl. 1984: 136ff.), die in die gleiche Richtung weisen, wobei Gouldner die Norm der Reziprozität allerdings um die Norm der Wohltätigkeit erweitert, weil er im Zusammenspiel dieser beiden Normsysteme die wichtigste Bedingung für den Zusammenhalt von Sozialsystemen sieht. Frank Adloff und Steffen Mau (vgl. 2005b) gehen in der Aufarbeitung des Themenkomplexes Gabentausch vom Theorem der Reziprozität aus, um den Tausch von Gaben verständlich zu machen, und kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie ich mit Hilfe der Reflexion des Begriffs der Gabe. 23 Dabei bleibt Lévi-Strauss aber bekanntlich nicht stehen. In seinen späteren Werken, vor allem in der „Ouverture“ zum ersten Band seiner vierbändigen Mythologica (vgl. Lévi-Strauss 1976: 11-53), verschiebt sich seine Methode vom deduktiven Strukturalismus hin zu einer systematischen Zusammenstellung (bricolage) der kulturell erzeugten mythischen Zeichen. Dabei werden die mythischen Zeichen, die Lévi-Strauss in Stammesgesellschaften findet und systematisiert, nicht mehr direkt an die mentalen Strukturen der Mitglieder von Stammesgesellschaften gebunden. So wird, wie Derrida (vgl. 1976: 432f.) herausarbeitet, der Strukturalismus dezentriert und wandelt sich zum Post-Strukturalismus, weil auf die Bezugnahme auf „ein Zentrum, auf ein Subjekt, auf eine privilegierte Referenz, auf einen Ursprung oder auf eine absolute arche“ (ebd.: 432) verzichtet wird. Unter diesem Gesichtspunkt lohnt sich eine Re-Lektüre von Lévi-Strauss, wie sie jetzt beispielsweise Dietmar Wetzel (vgl. 2008) vorschlägt.
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wird von anderen Rezipienten des Gabenessays gerade als dessen besondere Stärke gesehen. Diese Theoretiker der Gabe bewegt nicht so sehr die Frage Lévi-Strauss’, wie ein Austauschsystem von Gaben aus einer übergeordneten Struktur der Reziprozität entsteht, sondern vielmehr die, wie Gaben mit beträchtlichem Wert in verschwenderischer Weise veräußert werden können, obwohl dies im Sinne einer Warenökonomie mit großen Verlusten für den Gebenden verbunden ist. In der vielschichtigen Rezeptionsgeschichte des Essays ist es vor allem George Bataille, der diese Frage in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt und deshalb Mauss’ Soziologie der Gabe nicht als Tauschtheorie begreift, sondern als Ausgangspunkt für einen Begriff der ostentativen Verausgabung. Bataille (vgl. 2001: 92ff.) spricht von einer „Aufhebung der Ökonomie“, wenn er im Anschluss an den Essay von Mauss die Formen der Praxis der Gabe in tribalistischen Gesellschaften interpretiert. Hier interessiert ihn vor allem der von Mauss (vgl. 1990: 91ff.) ausführlich untersuchte Potlatsch, der, so Bataille (2001: 17), „jedes Feilschen“ ausschließt und „in einem beträchtlichen Geschenk von Reichtümern“ (ebd.) besteht. Dieses Geschenk wird „ostentativ“ (ebd.) gemacht und kann den Rivalen, also den Beschenkten, zugleich demütigen, herausfordern und verpflichten. Im Potlatsch veräußert der Häuptling eines Stammes so viele Gegenstände, wie ihm möglich ist. Diese werden nicht nur verschenkt, sondern unter Umständen auch zerstört. Eine derartige Form der Veräußerung drückt die große Macht des Häuptlings dadurch aus, dass er es sich leisten kann, den persönlichen Besitz von sich zu geben. In den extremsten Formen des Potlatsch geht diese mit ekstatischen Rahmungen versehene Entäußerung bis hin zur Selbsttötung des Häuptlings. Bataille ist nun deshalb von dieser Praxisform fasziniert, weil sie sich durch die Überschreitung der ökonomischen Grenzen von Nutzen und Nachteil auszeichnet (vgl. Wetzel 1993: 223), weil sie also den Zyklus, die kreisförmige Bewegung des Tausches der Ökonomie durchbricht und deshalb konstitutiv „anökonomisch“ ist (vgl. Derrida 1993: 17). Folglich bewegt Bataille nicht so sehr die Mauss’sche Frage, wie es zu einer Erwiderung des Potlatsch durch einen erneuten Potlatsch kommt. Er nimmt diese von Mauss untersuchte Praxisform vielmehr zum Anlass, die in der westlichen Gesellschaft und Kultur weitgehend akzeptierte These zu diskutieren, dass die moderne Ökonomie auf die rationale, effektive Investition von Ressourcen zur Mehrung des Wohlstandes aufgebaut ist. Auf der Suche nach Praxisformen, die diese Ökonomie negieren, identifiziert er vor allem leidenschaftliche Liebesbeziehungen als Quellen der ostentativen Verausgabung. Hier entsteht eine Rückhaltlosigkeit des Gebens, die sich nicht durch Großzügigkeit auszeichnet, sondern bedingungslos ist und deshalb nicht in reziproke Verhältnisse des Austausches eingeordnet werden kann. „Die Aufhebung der Ökonomie“, die sich nach Bataille in derartigen Formen der leidenschaftlichen Verausgabung manifestiert, ist für ihn eine von der Theorie am wenigsten beachtete Form moderner Sozialität, die sich jedoch nicht nur in leidenschaftlichen Liebesbeziehungen und erotischen Obsessionen zeigt, sondern auch in einer Verschwendung von Gütern im Luxus, im Genuss oder auch in einer für das berechnende Prinzip der Warenökonomie irritierenden Freigiebigkeit, die sich eben nicht in einer Kosten-NutzenRechnung auflösen lässt. Diese Dekonstruktion des ökonomischen Diskurses ist, wie Jacques Derrida (1976: 416) in seiner Interpretation des Bataille’schen Werkes hervorhebt,
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„keine einfache Neutralisierung in der Art der Ausstreichung. Sie vermehrt die Wörter, sie schleudert sie gegeneinander und reißt sie in den Abgrund einer endlosen und grundlosen Substitution, deren einzige Regel die souveräne Behauptung des dem Sinn enthobenen Spiels ist. Sie ist kein Rückhalt und keine Zurücknahme, nicht das unendliche Raunen einer blanken Rede, die die Spuren des klassischen Diskurses auslöschte, sondern eine Art von Zeichenpotlatsch, der die Wörter in einer fröhlichen Affirmation des Todes verbrennt, aufzehrt und verschwendet: ein Opfer und eine Herausforderung“.
Was sollte ich diesem glänzenden Kommentar der Texte von Bataille noch „sinnvolles“ hinzufügen? Nach Derrida lässt sich eigentlich nur noch empfehlen, den „Zeichenpotlatsch“ Batailles auf sich wirken zu lassen. Jemand, der, wie ich, eine soziologische Theorie der Tauschpraxis anstrebt, kann sich jedoch mit dem Genuss literarisch wertvoller Texte allein nicht zufrieden geben. Betrachtet man deshalb die „anökonomische“ Theorie Batailles nicht, wie Derrida, in literarischer, philosophischer und diskursanalytischer, sondern primär in soziologischer Perspektive, lässt sich erkennen, dass hier mit Begriffen wie Verschwendung, unproduktive Verausgabung und Verlust auf Praxisformen aufmerksam gemacht wird, die sich nicht im ökonomischen Kalkül beschreiben lassen.24 Damit verdeutlicht Bataille die Grenzen einer am Rationalitätsmodell orientierten Theorie. Durch ein so angelegtes Argument stellt er den vermeintlich ökonomischen Praxisprinzipien der Sparsamkeit und Disziplin die der Verschwendung und Verausgabung als Formen der Endgrenzung des Menschen gegenüber und sieht den Potlatsch als die paradigmatische Praxisform des praktischen Prinzips der ostentativen Verausgabung an. Mit Hilfe der Unterscheidung von Ökonomie und Verausgabung stellt Bataille mit anderen Worten die Frage, ob sich ökonomische Praxis tatsächlich in den disziplinierenden Praxisformen des „ökonomischen“ Tausches, Investierens, Produzierens und Handels erschöpft. Sein grundlegender Befund, dass es die praktischen Prinzipien der unproduktiven Verschwendung und ostentativen Verausgabung im demonstrativen Luxus, in der Liebe und im verschwenderischen Genuss gibt, führt ihn zu der Annahme, dass Kultur und Ökonomie nicht vollständig mit berechnenden Begriffen wie Kalkül, Produktivität und Rationalität gefasst werden können. Denn die Praxisformen der Verausgabung und Verschwendung sind Bestandteile der Logik der Praxis in der modernen Ökonomie. Der Begriff der ostentativen, zur Schau gestellten Verausgabung sollte ganz in diesem Sinne verstanden werden: Das klassische Nützlichkeitsprinzip reicht nicht aus, die (ökonomische) Praxis angemessen zu beschreiben. Nicht selten unterscheidet sich die Logik der Praxis diametral von der theoretischen Logik des Marktes und auch in Bezug auf den Tausch ist dies, wie Bataille allerdings nur annäherungsweise erkennt, nicht anders. Der Tausch ist nicht nur eine berechnende Praxis, weil vor allem das Geben häufig praktischen Prinzipien folgt, die sich, wie an Batailles Begriff der ostentativen Verausgabung sehr gut abgelesen werden kann, mit einer theoretischen Logik nur sehr schwer erfassen lassen. Bataille selbst fällt jedoch hinter diese Einsicht zurück. Denn seine Identifikation antiökonomischer Praxisprinzipien geschieht, um nach den Naturgesetzen der Ökonomie zu suchen, die sich nach Bataille nicht auf kausale Kalkulation begrenzen lassen und in der 24 Hierin folge ich der bereits weiter oben angesprochenen Empfehlung Andreas Reckwitz’ (vgl. 2008: 304f.), Derridas Dekonstruktion für die Soziologie fruchtbar zu machen.
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modernen Ökonomie mehr und mehr verdrängt werden. Eine souveräne Ökonomie der Verausgabung, die Bataille im Anschluss an Mauss in Stammesgesellschaften vorzufinden glaubt, wird in der Moderne durch eine berechnende, auf Vergeltung und Pflichtschuldigkeit begründete Ökonomie ersetzt, die sich nicht durch Souveränität, sondern durch das vorsichtige und dadurch alles andere als souveräne Prinzip der Kalkulation reproduziert. Mit dieser Wendung seines zunächst starken Arguments teilt Bataille die Welt logozentrisch in zwei Sphären, die sich mehr oder weniger gegenseitig ausschließen. Dies sind die Sphäre der berechnenden Kalkulation und die Sphäre der verausgabenden Verschwendung, die er als den „verfemten Teil“ (vgl. Bataille 2001: 64f.) der Gegenwartsgesellschaft betrachtet und im Anschluss an seine Überlegungen zu Liebe und Erotik als natürliches Prinzip des Lebens verklärt. Dies ist nach Jean Baudrillard der grundlegende Irrtum Batailles. Er fragt: „Warum sich um die Bürgschaft einer ideal verschwenderischen Natur bemühen, im Unterschied zur Bürgschaft der Ökonomisten, die ideal kalkulatorisch ist? Der Luxus ist nicht natürlicher als die Ökonomie. Das Opfer und die Verausgabung im Opfer gehören nicht zur Ordnung der Dinge.“ (Baudrillard 2005: 247)
Indem Bataille das Praxisprinzip der ostentativen Verschwendung bzw. Verausgabung als natürlich-vitalen Ausdruck einer Aufhebung der Ökonomie begreift, setzt er implizit ökonomisches und rationales Handeln synonym, wie es in der Denkgeschichte Europas und Nordamerikas üblich ist. Dies impliziert eine Dichotomisierung zwischen der Gabe, die als Ausdruck der vitalen Natur des Menschen verstanden wird, und der Ware, die als Ausdruck der entmenschlichenden Ökonomie erscheint. Diese Unterscheidung zwischen Natur und Ökonomie ist für eine Analyse sozialer Praxisformen wenig sinnvoll. Und Baudrillard sieht in seiner Theorie des symbolischen Tausches (also nicht der Gabe) seine theoretische Arbeit im Anschluss an den Irrtum Batailles vor allem darin, nicht die Natur, sondern das Symbolische von der kapitalistischen Ökonomie zu trennen.25 Mit dieser theoretischen Entscheidung schreibt er die Gegenüberstellung von Gabe und moderner Ökonomie jedoch nur in anderer Weise als Bataille fest, so dass er letztlich zu ähnlichen Fehlschlüssen kommt, wie der von ihm kritisierte Vordenker der ostentativen Verausgabung. In der Absicht, den Lesenden zu verstören, entwickelt Baudrillard aus den Untersuchungen zum Gabentausch in tribalistischen Gesellschaften durch Mauss eine radikale Kritik der kapitalistischen Kultur, indem er symbolischen und ökonomischen Tausch voneinander unterscheidet: „Das ist die grundlegende Tatsache, die uns von den Primitiven unterscheidet: der Tausch hört mit dem Leben nicht auf. Der symbolische Tausch hat kein Ende, weder unter den Lebenden noch mit den Toten (noch mit den Steinen oder den Tieren). Es ist ein absolutes Gesetz: Verpflichtung und Reziprozität sind unüberwindlich. Gegen wen oder was es auch gerichtet sein mag, keiner
25 Siehe besonders deutlich Baudrillard 2005: 249 FN 35: „In der ökonomischen Ordnung ist alle Produktion nur Reproduktion, in der symbolischen Ordnung ist alle Reproduktion Produktion.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Man entdeckt, dass das Symbolische gerade die Unmöglichkeit ist, das Ökonomische ausfindig zu machen und zu spezifizieren, und dass die Möglichkeit etwas offen zu manifestieren, das das Unbewusste sein soll, was aber eben dadurch aufhört, es zu sein, eben das Symbolische ist.“ (Baudrillard 2005: 220)
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kann sich dem entziehen, bei Bestrafung mit dem Tode. Der Tod bedeutet dann nichts anderes, als aus dem Kreis des symbolischen Tausches ausgeschlossen zu sein.“ (Baudrillard 2005: 212)
Baudrillard ist nicht der einzige Theoretiker des Tausches, der unterstellt, dass die moderne Kultur, die von ihm als Simulationskultur gefasst wird, das zyklische Wechselspiel zwischen Gabe und Gegengabe marginalisiert. Dieser Kreislauf von Gabe und Gegengabe macht für Mauss die Grundlage der Praxis in tribalistischen Gesellschaften bzw. Kulturen aus. Für Baudrillard (vgl. 2000: 144) stellt diese Form des Gabentausches eine Praxis dar, die das Verschwenderische mit dem Nützlichen geschickt verbindet. Durch die moderne Zurückdrängung dieser Praxisform entsteht, wie Baudrillard im Anschluss an Bataille spekulativ (vgl. Adloff und Mau 2005b: 38) ausführt, ein „verfemter Teil“ der Gesellschaft, in dem das Symbolische jenseits des berechenbaren Warentausches weiterlebt. Und große Teile der sozialen Beziehungen richten sich „in der Sphäre des Geheimen, des Spekulativen ein, in einer Illegalität, die so alltäglich geworden ist, dass sie gar keine mehr ist“ (Baudrillard 2000: 144). Dies hat für Baudrillard nicht nur die Folge, dass etwa Korruption, Bestechung und andere als illegal klassifizierte Praxisformen seltsame Blüten treiben. Es hat auch in Bezug auf den Umgang mit den Toten besondere Konsequenzen. In vormodernen Gesellschaftsformationen wird der Tod gegenwärtig gehalten, indem den Toten in Opferritualen (vgl. Mauss 1990: 40) Güter in verschwenderischer Form dargeboten werden. Dadurch werden Leben und Tod nicht, wie in der modernen Gesellschaft, voneinander getrennt. Die typisch moderne, sich in den warenökonomischen Formen des Tausches manifestierende Trennung von Leben und Tod ist für Baudrillard nun so etwas wie der Sündenfall der modernen, kapitalistischen Kultur: „Keine andere Kultur [als die moderne; F.H.] kennt diese distinktive Opposition zwischen Leben und Tod zugunsten eines Lebens als Positivität: das Leben als Akkumulation, der Tod als Zahltag. Keine andere Kultur kennt diese Sackgasse: seitdem die Ambivalenz von Leben und Tod aufhört, seitdem die symbolische Reversibilität des Todes aufhört, beginnt man mit dem Prozess der Akkumulation des Lebens als Wert – aber gleichzeitig begibt man sich auf das Feld der Produktion, welche dem Tode äquivalent ist. So wird dieses zu Wert geronnene Leben ständig durch den äquivalenten Tod pervertiert.“ (Baudrillard 2005: 232)
Mit dieser Position führt Baudrillard die Kapitalismuskritik durch Marx fort, die sich in zentralen Punkten an der Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die massenhafte Verbreitung des Warentausches als alles beherrschendes Prinzip gesellschaftlicher Praxis orientiert. Wird die Gabe als Gegensatz der Ware gefasst, ist sie leicht als Ausgangspunkt einer derartigen Kritik am kapitalistischen Verwertungsprozess der Natur und des Menschen zu begreifen, die Baudrillard in seiner Theorie des symbolischen Tausches radikalisiert. Die Gabe wird dadurch zur Kontrastfolie der Kultur- und Kapitalismuskritik mit der wenig hilfreichen Konsequenz, die Praxisformen der Gabe als Rudimente der modernen Gesellschaft marginalisieren zu müssen. Dies dramatisiert die Prinzipien der Gabe zu in der Moderne unerreichbaren Symbolen, ohne die praktische Logik des Gabentausches zu verstehen und für eine Soziologie des Tausches nutzbar zu machen. Dagegen muss entschieden argumentiert werden, dass sich auch in der Gegenwart Formen des preislosen Tausches, wie der Gabentausch auch genannt wird, beobachten lassen, die sich eben nicht
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nur in Intimbeziehungen ereignen, sondern in und zwischen allen Bereichen der Gesellschaft. Und gerade die Kulturkritiken durch Baudrillard und Bataille, die auf den Begriff der Gabe, wie er sich im Essay von Mauss findet, rekurrieren, zeigen dadurch, dass sie die Gabe als verfemten Teil bzw. Rudiment der Gegenwartsgesellschaft fassen, die Bedeutung dieser Praxisform auch für diese Gesellschaft an.26 Denn weil sie dieses Praxisprinzip ausformulieren und in einen Gegensatz zu einer modernen Ökonomie der Kalkulation oder Simulation stellen, machen sie implizit deutlich, dass es die Gabe zumindest als Praxisprinzip auch in der modernen Gesellschaft gibt. Die Faszination, die in diesen Theorieansätzen von der Gabe ausgeht, ist, dass die Gabe gerade das ist, was den vermeintlich alles beherrschenden ökonomischen Kalkül sprengt und die Logik des ökonomischen Tausches dadurch negiert. Die Gabe lässt sich dann leicht als moralisch-ethisches Praxisprinzip dem rationalen Kalkül entgegenstellen. Eine so verstandene „Ethik der Gabe ist“, wie Axel Paul (2004: 60) es plakativ aber treffend formuliert, „nur möglich vor dem Hintergrund oder besser inmitten einer bürgerlichen Gesellschaft, deren kaltes Gewinnstreben erst den Raum schafft für warme Gesten“. Die moralischen Konnotationen, die dem Begriff der Gabe in unterschiedlichster Form zuteil werden, verweisen mit anderen Worten darauf, dass es eben vor allem in der Gegenwartsgesellschaft die Gabe „gibt“ (Derrida 1993: 17), obwohl sich dies, wie ich weiter unten an der Dekonstruktion des Begriffs der Gabe durch Jacques Derrida (vgl. 1993) zeigen werde, per se nur schwer denken lässt. Nicht nur die Interpretation der Gabe als Ausgangspunkt für Kulturkritik, sondern auch ihre letztlich eng damit verbundene Interpretation als Ausgangspunkt des Entwurfs einer sozialen Utopie vermeidet es häufig, die Frage zu reflektieren, ob und wie es die Gabe geben kann. Stattdessen wird der nicht nur für Maurice Godelier (vgl. 1999) rätselhafte Begriff der Gabe für vormoderne Gesellschaften dramatisiert und für die Gegenwartsgesellschaft marginalisiert. Ein normativ und utopisch verstandener Begriff der Gabe als „Trägerin der Utopie“ (Godelier 1999: 292) appelliert an ihre moralischen Implikationen, indem normativ postuliert wird, dass das freiwillige Geben und die Wohlfälligkeit in der modernen Gesellschaft, in der die Warenökonomie die sozialen Beziehungen beherrscht, neu entdeckt werden müssen, damit das Zusammenleben erträglicher wird und die Solidarität unter den Menschen steigt. In der modernen Gesellschaft verkümmert in dieser Sicht, die bereits Mauss (vgl. 1990: 157f.) im letzten Teil seines Essays über die Gabe unmissverständlich formuliert, das normative Prinzip der Gabe immer mehr und erscheint dadurch wiederum, wie bei Bataille und Baudrillard, als Rudiment der kapitalistischen Gesellschaft. Der Begriff Gabe wird dazu sehr häufig in engem Zusammenhang mit dem Begriff der Solidarität gestellt. So sieht etwa Godelier, dass das „Geben … anscheinend zu gleicher Zeit eine doppelte Beziehung zwischen dem, der gibt, und dem, der annimmt, her[stellt]. Eine Beziehung der Solidarität, da derjenige, welcher gibt, das, was er hat, ja sogar das, was er ist, mit demjenigen teilt, welchem er gibt, und eine Beziehung der Superiorität, da derjenige, welcher die Gabe empfängt und sie annimmt, sich gegenüber demjenigen, der ihm etwas gegeben hat, in eine Schuld begibt.“ (Godelier 1999: 22; erste Hervorh.: F.H.)
26 Näheres zu den Analogien in der Betrachtung der Gabe durch Mauss, Bataille und Baudrillard, auf die ich hier nicht ausführlicher eingehen kann, weil sie nicht im Zentrum meiner Überlegungen zum Tausch stehen, findet sich unter anderem bei Achim Giesenhanslüke (2005).
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Gaben erzeugen oder steigern demnach unter bestimmten Bedingungen die Solidarität, während sie unter anderen Bedingungen genau das Gegenteil, nämlich Abhängigkeitsverhältnisse hervorbringen. Die Gabe wird also nicht nur als Ausdruck einer wünschenswerten Solidarität unter den Menschen verstanden, sondern kann zum genauen Gegenteil dessen führen, nämlich zu einer Beziehung des gegenseitigen Misstrauens, die sich in der perfiden Praxisform der nur scheinbar guten Gabe manifestiert. Gaben können, wie wir alle wissen, vergiftet sein, weil sie eine Bringschuld beim nehmenden Akteur erzeugen können, die weitaus schlimmer sein kann als eine offene Kampfansage, zu der man sich immerhin mit einer offenen Gegenwehr verhalten kann. Das Gift der Gabe (englisch: gift) kann unter bestimmten Umständen tödlich sein, wenn sich die „Zuwendungen“ in offenen Akten der Gewalt ereignen und ein Kreislauf der „Blutrache“ entsteht, der unter anderem von René Girard (vgl. 1994: 27ff.) im Anschluss an den Begriff des Opfers beschrieben wird. Die entehrende Tat des Gegners muss, wenn sich ein „Teufelskreis der Rache“ (Girard) durch gegenseitige Entehrungen eingestellt hat, durch eine erneute entehrende Tat erwidert werden, so dass am Ende nicht mehr gesehen werden kann, welche Tat am Anfang des Rachekreislaufes gestanden hat. Und Axel Paul (vgl. 2005) verdeutlicht in überzeugender Weise, dass der Rache das Praxisprinzip der Gabe zugrunde liegt, weil es auch in der Rache um die quasi zwangsläufige Verkettung von Geben, Nehmen und Erwidern geht. Angesichts dieser Formen des agonistischen Gabentausches, die sich nicht nur in offener „Blutrache“, sondern auch in perfideren Formen der „Übervorteilung“ ereignen können, begreifen es Teile der gegenwärtigen Moralphilosophie als eine ihrer Aufgaben, die „gute“ Gabe zu identifizieren und normativ einzufordern. Durch eine so verstandene „Ethik der Gabe“ (Wetzel und Rabaté 1993) wird nicht zuletzt die Bedeutung der Gabe für die Gegenwartsgesellschaft implizit festgeschrieben, weil sie als (wünschenswertes) Praxisprinzip gedacht wird. Paul Ricœur (vgl. 2006: 273) sieht ganz in diesem Sinne im Phänomen der Gabe, das er aus dem Essay von Mauss ableitet, eine „Alternative zur Idee des Kampfes“ angelegt, weil sie ein praktischer Ausdruck von „befriedeten Erfahrungen wechselseitiger Anerkennung“ (ebd.) sein kann. Diese Form der Anerkennung beruht auf „symbolische Vermittlung“ (ebd.) und ist „sowohl der Rechtssphäre als auch derjenigen des Warentausches entzogen“ (ebd.). Sie wird nur sichtbar, wenn die erste Gabe, mit der der Prozess des Gabentausches beginnt, als Modell der zweiten Gabe vorgestellt wird und vice versa (vgl. ebd.: 301). Denn in der zeremoniellen, gegenseitigen Gabe ist nach Ricœur „die reale Erfahrung wechselseitiger Anerkennung im Modus des Symbolischen gegeben“ (ebd.). Hier, in dieser Form des Gebens von Gaben, geht es nicht um Gerechtigkeit oder die Verteilung von Gütern oder gar um die Erzeugung von Pflichtschuldigkeit beim Empfangenden, sondern um die praktische Anerkennung des Anderen, die sich in der symbolischen Geste des Gebens ausdrückt. Diese symbolische Anerkennung ist nicht gegenseitig, sondern wechselseitig, wenn auf die erste Gabe eine, wie es paradox ausgedrückt werden muss, „zweite erste Gabe“ (ebd.) folgt, die sich nicht aus einer von der ersten Gabe abgeleiteten Schuld ergibt, sondern wiederum als erste Gabe der symbolischen Anerkennung verstanden werden muss. Das Phänomen der Reziprozität, das regelmäßig in Verbindung mit dem Gabentausch erörtert wird, stellt sich für Ricœur also als Praxis der wechselseitigen Anerkennung dar, die sich etwa in Freundschaftsbeziehungen manifestiert. Die friedfertige, nicht am Kampf orientierte Gabe
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unterscheidet sich genau dadurch von der agonistischen Gabe, die etwa im Phänomen der „Blutrache“ praktisch wird. Die „reine“ gute Gabe ist für Ricœur zwar nicht denkbar, weil sie sich selbst annulliert. Was jedoch denkbar ist, ist die Praxis der wechselseitigen Anerkennung, die sich nicht im Kampf manifestiert, sondern in einem Friedenszustand, den Ricœur „Agape“ nennt. Dieser zunächst nur abstrakt zu verstehende Friedenszustand entsteht und reproduziert sich nach Ricœur durch die Praxis der Gabe und wird deshalb im Gabentausch sichtbar, also aus der theoretischen Abstraktion in die Praxis verschoben. Mit dieser sozialphilosophischen Erörterung des Phänomens der Gabe gelingen Ricœur im Anschluss an Mauss einige gewinnbringende Einsichten in den Gabentausch: Das Tauschen von Gaben ist etwa nur unter Berücksichtigung der symbolischen Anerkennung verstehbar, die sich die Tauschpartner in den jeweiligen Gaben gegenseitig zuerkennen. Beruht diese Anerkennung nicht auf Gegenseitigkeit, wie etwa bei einer pflichtschuldigen Rückgabe einer Gabe, oder gar, wie in der „Blutrache“, auf agonale Herausforderung, sondern auf anerkennende Wechselseitigkeit, kann von einer Erzeugung und Reproduktion friedlicher Beziehungen zwischen den Tauschpartnern ausgegangen werden. Die wechselseitige Gabe erscheint somit als praktische Ethik. Sie ist nach Ricœur der entscheidende Garant dafür, dass Menschen friedlich zusammenleben und sich wechselseitig anerkennen. Wichtiger als diese ethischen Konnotationen, die Ricœur dem Phänomen der Gabe gibt, sind aber seine zentralen Einsichten in die praktischen Prinzipien der Gabe und des Gabentausches, die er an den symbolischen Dimensionen des Gebens von Gaben festmacht. Denn nur wenn Gaben als anerkennende Zuwendungen symbolisiert werden, können sie die Praxiseffekte der Erzeugung und Reproduktion von freundschaftlichen oder kooperativen sozialen Beziehungen nach sich ziehen. Gaben sind nach Ricœur also nicht nur als materiale Geschenke zu verstehen, sondern auch als gegenseitige oder wechselseitige Gesten der symbolischen Anerkennung und des Respekts, die sich in Formen der persönlichen Zuwendung und Hilfe Ausdruck verschaffen können. Geschenke sind oft sehr abstrakt und werden dennoch als symbolische Formen erkannt. So sind etwa die unentgeltliche Hilfe bei einem Umzug oder die unentgeltliche Beratung in einer Notsituation oder auch die täglichen Gesten des gegenseitigen Respekts, die sich etwa in der Bereitschaft ausdrücken, unbekannten Akteuren die Tür aufzuhalten oder behinderten Menschen beim Überqueren der Straße zu helfen, als Gaben zu verstehen. Mit Gaben sind nach Ricœur, allgemein gesprochen, alle Formen der schenkenden Zuwendung an Mit-Akteure gemeint, die sich nicht auf die Übergabe eines materialen Geschenks begrenzen lassen. Und nur mit Hilfe eines in dieser Weise allgemein gefassten Begriffs der Gabe können die strukturierenden Wirkungen des Gabentausches und die mit ihm verbundenen symbolischen Formen vielschichtig gefasst werden, wie sich hier weiter unten (3.5) im Kontext der Bestimmung unterschiedlicher Praxisformen des Tausches zeigen wird. Eine Soziologie der Gabe und des Gabentausches kann von diesen zentralen Einsichten in die Praxis des Gabentausches durch Ricœur profitieren, wie sich unter anderem an den Ausführungen von Alain Caillé zeigt, der die Eckpunkte für eine genuin soziologische Interpretation des Mauss’schen Essays aufstellt. Anders als die sozialphilosophischen Anschlüsse an den Essay über die Gabe bemüht sich Caillé (vgl. 2005; 2006; 2008) nicht, wie Ricœur, primär darum, die Gabe als wünschenswerte Praxis der wechselseitigen Anerkennung zu etablieren. Im Mittelpunkt seiner theoretischen Bemühungen steht der Versuch,
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dem Praxisprinzip der Gabe auf die Spur zu kommen, indem er die Praxis der Gabe und der Gegengabe begrifflich fasst und daran anschließend die Gabe als Ausgangspunkt einer paradigmatischen Neubestimmung der Soziologie begreift. Caillé schließt zu diesem Zweck an den Mauss’schen Begriff des fait social total an. Dieser Begriff verweist darauf, dass die sozialen Tatsachen nicht mehr im Durkheim’schen Sinne als Dinge behandelt werden können. Sie gewinnen ihre Totalität, als Steigerung des Durkheim’schen Begriffs soziale Tatsache verstanden, dadurch, dass sie Symbole sind. „Die sozialen Tatsachen sollen wie Symbole behandelt werden, weil wir wissen, dass dies tatsächlich ihre eigentliche Natur ist.“ (Caillé 2006: 169) In einer totalen sozialen Tatsache, wie es die Gabe nach Mauss ist, vereinigen sich das Soziologische und Psychologische, das Soziale und die Individualität, der Eigennutz und die Uneigennützigkeit, das Profane und das Sakrale oder kurz alles, was zur Praxis der Gabe notwendig ist. Diese Bündelung von Sinngehalten macht die Gabe zu einem Symbol, das zum praktischen Vollzug der Gabe inkorporierte und objektivierte Sozialität koppelt, indem die Gabe als Symbol inkorporierte Dispositionen und objektivierte, beispielsweise in den gegebenen Gegenstand sich manifestierende Sozialität so miteinander in Beziehung setzt, dass Praktiken daraus entstehen können. Ohne äußeren Zwang verpflichtet die Gabe zu einer Gegengabe und ist deshalb zugleich Ausdruck von individueller Freiheit und kollektiver Verpflichtung. Und genau diese Eigenschaft der Gabe erhebt sie für Caillé und seine M.A.U.S.S.-Gruppe27 zu einem neuen Paradigma der Soziologie, das den methodologischen Individualismus ebenso hinter sich lässt wie den methodologischen Holismus (vgl. Caillé 2006: 178ff.). Der Ausgangspunkt dieser grundlegenden Überlegungen ist die doppelte Einsicht, dass die Gabe zum einen nicht aus dem egoistischen Interesse abgeleitet werden kann (vgl. Caillé 2005: 158ff.) sowie sie sich zum anderen nicht in ihrer altruistischen Reinheit denken lässt (vgl. ebd.: 165ff.). Das Phänomen der Gabe ist deshalb für Caillé der Prüfstein der soziologischen Theorie. Und eine Theorie, die der Gabe gerecht zu werden vermag, muss nach ihm erst noch formuliert werden, weil sich alle soziologische Theorie entweder auf Prinzipien des Holismus oder auf die des Individualismus verengt, die sich beide zur Untersuchung der Gabe, diesem fait social total, nicht eignen. Denn die Gabe ist weder als Altruismus zu verstehen, der zum Zusammenhalt der Gesamtheit der Sozialität funktional notwendig ist, noch lässt sie sich als berechnende Handlung verstehen, die den Nutzen des sozialen Akteurs mehrt. Sie ist für Caillé immer zugleich beides. Und die Bahn brechende Leistung des Mauss’schen Essays über die Gabe besteht nach ihm gerade darin, diese Vielschichtigkeit der Gabe sichtbar gemacht zu haben. Dadurch, so Caillé, wird es virulent, die herrschenden Paradigmen der Soziologie einer grundlegenden Prüfung zu unterziehen. Die Gabe wird also nicht nur als rätselhaftes Phänomen gesehen, das die Soziologie herausfordert. Sie wird schlussendlich als neues Paradigma der Soziologie bestimmt. Dieses Postulat ist sehr eng an die Definition der Gabe als Symbol gebunden, mit der ausgedrückt wird, dass sich die Gabe in ihrer Vielschichtigkeit nicht mit einfachen Mitteln, etwa mit der Fest27 Mouvement Anti-Utilitariste en Science Sociales. Diese anti-utilitaristische Bewegung in den Sozialwissenschaften Frankreichs unterhält seit 1981 eine eigene Zeitschrift (Le Bulletin du MAUSS; seit 1988: La Revue du MAUSS) (vgl. Moebius 2006: 356) und bezieht sich zur soziologischen Theoriebildung explizit auf Marcel Mauss, der im genannten Kreis als weitgehend unterschätzter Klassiker der Soziologie gesehen wird. Vgl. zur M.A.U.S.S.-Gruppe die Beiträge in Moebius und Papilloud (2006), Moebius (2006) und Adloff und Papilloud (2008).
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legung von nicht hinterfragbaren Eigeninteressen der sozialen Akteure oder mit dem Postulat einer allgemeinen symbolischen Struktur bzw. Norm der Reziprozität, entschlüsseln lässt. Bevor ich hierauf ausführlich zurückkomme, möchte ich zunächst vorläufig festhalten, dass Caillé die Gabe zu einem symbolischen Paradigma der Soziologie erklärt, ohne jedoch die Entschlüsselung der Sinngehalte, die in der konkreten Gabe symbolisiert sind, an Beispielen vorzunehmen. Jedenfalls lässt die herausgehobene Stellung, die Caillé dem Phänomen der Gabe gibt, indem er sie zu nicht weniger als einem neuen Paradigma der soziologischen Theoriebildung erklärt (vgl. Caillé 2008: 56ff.), die Frage erneut hervortreten, was Mauss in seinem Essay beschrieben hat, das eine derartig starke Wirkung nicht nur bei Caillé hinterlässt. Werden auch die anderen von mir herangezogenen Interpretationen des Essays von Mauss unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, stellt sich diese Frage umso dringlicher. Denn selten ist ein Buch so unterschiedlich rezipiert worden: Die Gabe wird, wie gezeigt, als „Trägerin von Utopie“ (Godelier 1999: 292), als „Alternative zur Idee des Kampfes“ (Ricœur 2006: 273), als Ausgangspunkt für radikale Kulturkritik (Baudrillard), als Ausdruck für die menschliche Endgrenzung in der ostentativen Verausgabung und damit als Prinzip der Verneinung der Ökonomie (Bataille) gesehen. Sie wird als rätselhaft (vgl. Godelier 1999) und unbegreiflich (vgl. Caillé 2005) beschrieben und dennoch oder gerade deswegen zu einem neuen Paradigma der Soziologie erklärt (vgl. Caillé 2006; 2008: 56ff.; Moebius 2006). Für eine Praxistheorie des Tausches, die ihre Grundlagen reflexiv gewinnt, können die hier vorgestellten Ansätze, die alle an den Essay von Mauss anschließen und dennoch sehr unterschiedliche Denkrichtungen vertreten, nur dann nutzbar gemacht werden, wenn zunächst die Frage beantwortet wird, was der Grund für die heterogene Rezeptionsgeschichte ist, die Mauss mit seinem Essay ausgelöst hat. Nur so werden missverständliche und widersprüchliche Verwendungen des für eine Theorie des Tausches zentralen Begriffs der Gabe vermieden. Dazu muss zunächst die Frage beantwortet werden, was Mauss herausgefunden hatte, das eine so heterogene Wirkung seiner Untersuchung hervorbringt. Was erscheint so irritierend rätselhaft und faszinierend an der Gabe, dieser „fait social total“? Oder anders gefragt: Wovon handelt der Essay eigentlich: von der Gabe oder von Austauschprozessen, wie Claude Lévi-Strauss bereits gut 20 Jahre nach dem Erscheinen des Essays festgestellt hatte? Ein Grund für die Irritation, die bis heute von der Gabe ausgeht, ist, dass diese Frage sich nicht eindeutig beantworten lässt. Jacques Derrida behauptet schließlich, dass mit dem Begriff Gabe von Mauss etwas bezeichnet wird, was nach seiner Dekonstruktion logisch unmöglich ist. Er schreibt: „Damit es Gabe gibt, ist es nötig, dass der Gabenempfänger nicht zurück gibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuldverhältnis eintritt.“ (Derrida 1993: 24) Und, so Derrida (ebd.: 25) weiter, bereits die „bloße Identifikation der Gabe scheint sie zu zerstören.“ Mit dem Bezeichnen der Gabe wird sie letztlich bereits destruiert. Damit sie möglich ist, muss eine quasi unmögliche Bedingung erfüllt sein: „Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabenempfänger noch dem Geber.“ (Derrida 1993: 25) Denn nur dann bleibt sie das, was sie vorgibt zu sein: eine Gabe, die eben nichts anderes sein kann als eine Gabe. Dass dies letztlich unmöglich ist, heißt allerdings in soziologischer Perspektive nicht, dass bestimmte Aktivitäten nicht als Gaben und Geschenke symbolisiert werden. Dies geschieht in den unterschied-
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lichsten kulturellen Formen. Nur diese kulturellen Sinngebungen der Gabe machen sie zu dem, was sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, zu einem Geschenk bzw. einer Zuwendung, mit dem bzw. mit der praktisch umgegangen werden muss. So erscheint die Gabe als Gabe, was für Derrida letztlich den Anfang der praktischen Einordnung von Gaben in eine Tausch-Ökonomie bedeutet. „Sobald die Gabe als Gabe erschiene, als solche, das heißt als das, was sie ihrem Phänomen, ihrem Sinn oder ihrem Wesen nach ist, wäre sie auch schon eingebunden in eine symbolische Struktur des Opfers oder der Ökonomie, die die Gabe im rituellen Zirkel der Schuld annullieren würde.“ (Derrida 1993: 36)
Folgerichtig stellt Derrida heraus, dass der Essay von Mauss eigentlich nicht über die Gabe handelt, weil er sie eben bezeichnet: „Man könnte so weit gehen zu sagen, dass selbst ein so monumentales Buch wie der Essai sur le don von Marcel Mauss von allem möglichen spricht, nur nicht von der Gabe: der Essai handelt von der Ökonomie, dem Tausch und dem Vertrag (do, ut des), vom Überbieten, vom Opfer, der Gabe und der Gegengabe, kurz von allem, was aus der Sache heraus zur Gabe drängt und zugleich dazu, die Gabe zu annullieren.“ (Derrida 1993: 37)
Das Annullieren der Gabe durch ihre symbolische Verdoppelung macht sie erst zu einer Praktik, die weitere Praktiken affiziert und dadurch die Praxisform des Gabentausches erzeugt, die marktlogisch betrachtet nicht möglich sein kann, weil Gaben eben gerade dadurch ausgezeichnet sind, dass sie nicht getauscht werden können. Sie werden als Geschenke praktisch, für die keine Gegenleistung verlangt werden kann. Die Paradoxie des Gabentausches besteht genau darin, dass er letztlich, wie neben Derrida auch Ricœur (vgl. 2006: 282ff.) erkennt, nur als das maß- und zeitlose Geben von Geschenken denkbar ist. Denn die Geschenke können sich nicht explizit auf vorherige Geschenke beziehen, was aus dem Gabentausch wiederum einen durch Berechnung gekennzeichneten Warentausch machen würde. Diese Argumentation ist aber nur möglich, wenn man von der reinen Gabe und der reinen Ware ausgeht und diese beiden Prinzipien als theoretische Logiken gegenüberstellt. Dann erscheint der Tausch von Waren als interessegeleitetes Erwerbsmittel, während der Tausch von Gaben eben genau das nicht ist und deshalb als interesseloser Altruismus verklärt wird. Vor einer derartigen Dichotomie warnt, was auch Derrida (vgl. 1993: 77) hervorhebt, bereits Mauss selbst, der am Ende seines Gabenessays bemerkt, dass der uns vertraute Begriff Gabe zur Beschreibung der Praktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns in tribalistischen Gesellschaften nicht genau passt. Zur Überraschung seiner Leser regt er am Ende seiner Analyse der Gabe eine neue Fassung des Begriffs an, die Gabe und Ware nicht in ein Ausschließungsverhältnis stellt: „Wir können jedoch noch weiter gehen und die wesentlichen Begriffe, deren wir uns bedient haben, anders betrachten. Unsere Ausdrücke ‚Geschenk’ und ‚Gabe’ sind nicht ganz exakt, aber wir haben keine anderen. Es wäre gut, … die Rechts- und Wirtschaftsbegriffe, die wir gerne einander gegenüberstellen – Freiheit und Verpflichtung; Freigiebigkeit, Großzügigkeit, Verschwendung einerseits und Ersparnis, Interesse, Nützlichkeit andererseits –[,] wieder einmal einer Prüfung zu unterziehen.“ (Mauss 1990: 167f.)
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Der hier von Mauss angedeutete Zweifel an seinen eigenen Begrifflichkeiten kann als Anregung für eine Praxistheorie des (Gaben)Tausches genutzt werden. Dazu muss zunächst jeder Tauschpraxis unterstellt werden, dass sie beide Seiten der Gegenüberstellung von Ware und Gabe beinhalten kann und dass alle Praxis des Tausches sich nicht auf natürliche, anthropologische oder ahistorische Prinzipien, sondern nur auf symbolische Formen zurückführen lässt. Die Gabe ist nicht als Ausdruck anthropologischer Grundkonstanten zu verstehen, die in der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft immer mehr verdrängt werden. So kann das Geschenk durchaus dem berechnenden Prinzip der Kalkulation auf Gewinn folgen, wenn mit ihm sehr genau definierte Ziele verbunden werden. Jon Elster (vgl. 1989: 113) gibt uns ein entsprechendes Beispiel: Wenn ich davon ausgehe, dass Akteure, die im Vergleich zu mir wohlhabender sind, sehr viel großzügigere Geschenke machen als ich selbst, und ich gleichzeitig voraussetzen kann, dass Geschenken der Zwang inne wohnt, erwidert zu werden, ist es in Reflexion dieser Rahmungen des Gebens von Geschenken eine rationale Entscheidung, einem im Vergleich zu mir wohlhabenden Freund ein Geschenk zu geben, denn ich kann die Rückgabe eines deutlich wertvolleren Geschenks erwarten. Diese Konstellation ist aber nur unter sehr genau zu bestimmenden Bedingungen möglich und wird sich sogleich verändern, wenn auch der von mir Beschenkte die genannten Rahmenbedingungen zu reflektieren beginnt. Im Gegensatz dazu kann eine zunächst harmlos berechnend wirkende Transaktion von Geldmitteln zur Entlohnung der Dienstleistungen eines Handwerkers weit mehr sein als ein Warentausch, wenn etwa der Handwerker in besonderer Weise entlohnt wird, weil seine Leistungen und seine Person sehr hoch geschätzt werden und deshalb eine soziale Beziehung mit dem Handwerker angestrebt wird, die sich mit einer offen als verlässlich dokumentierten Zahlungsmoral für die vom Handwerker erbrachten Dienstleistungen auf Dauer stellen lässt. Um solche und andere Praxisformen des Tausches als Verkettungen von Praktiken zu verstehen, kann nicht ausschließlich von theoretischen, an sich ausschließenden Tauschprinzipien orientierten Modellen ausgegangen werden. Sie erschließen sich in ihrer praktischen Logik nur dann, wenn die mannigfaltigen Symbolisierungen erkannt werden, die mit den Praktiken des Tausches entstehen und neue Praktiken des Tausches hervorbringen. Die so zu verstehende Aufhebung der ausschließenden Gegenüberstellung der theoretischen Prinzipien des Gaben- und Warentausch lässt jedenfalls die von Mauss formulierte Grundfrage in einem anderen Licht als dem der Dekonstruktion erscheinen: „Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, dass in den rückständigen und archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk zwangsläufig erwidert wird? Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, dass der Empfänger sie erwidert?“ (Mauss 1990: 18; Hervorh. weggelassen)
In Mauss’ Antwort erscheinen Geister und Magien, die den Sachen, die gegeben und genommen werden, inne wohnen. Die Lösung seiner Grundfrage liegt für ihn genau hier. Dadurch, dass die gegebenen Gegenstände beseelt sind, einen Geist besitzen und eine Kraft ausüben (vgl. ebd.: 103), verpflichten sie zur Erwiderung der Gabe. Das Gegebene ist, wenn es erwidert wird, mehr als nur die Sache, es hat einen symbolischen Wert, der sich nicht im
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Gebrauchswert messen lässt und beispielsweise von den beteiligten Akteuren in Neuseeland, also von den Maori, mit dem Begriff hau bezeichnet wird (vgl. Mauss 1990: 31ff.). Eine an Marktmechanismen des Warentausches orientierte Theorie ist letztlich ungeeignet, die hier wirksamen Antriebe und Verhaltensweisen der Akteure beim Austausch von Gütern und Dienstleistungen angemessen zu analysieren (vgl. Davis 2002: 187f.). Und sie eignet sich deshalb nicht, ein Bild zu entwerfen, wie sich die Sozialität in Stammesökonomien – und nicht nur dort – durch den Tausch selbst reguliert und strukturiert. Genau hier liegt meines Erachtens der Grund für die Irritationen, die Mauss mit seinem Essay ausgelöst hat: Die herrschenden Beschreibungs- und Erklärungsformen der Soziologie eignen sich nicht zur Analyse der Gabe, weil sie nicht klären können, wie eine Gabe praktisch wird, wie sie praktisch angenommen, erwidert und dadurch zum Gegenstand eines Tausches wird, wenn sie sich doch eigentlich per definitionem nicht tauschen lässt. Sie ist, wie Caillé hervorhebt, weder reiner Altruismus noch reiner Zweck und bleibt deshalb für die soziologische Theorie häufig unverständlich. Ist eine Theorie der Gabe, wie sie Mauss vorschwebt, am Ende unmöglich? Lässt sich die Gabe lediglich als Phänomen beschreiben, oder kann sie zum Gegenstand einer soziologischen Theorie des Tausches gemacht werden? Auffällig ist, wie ich hier zunächst zeigen wollte, dass die Gabe trotz oder gerade wegen dieser Problematik zum Ausgangspunkt vielschichtiger theoretischer Überlegungen gemacht wird, die zum einen darin münden, die Gabe als Ausgangspunkt für eine praktikable Ethik zu betrachten, und zum anderen darin, sie als neues Paradigma der Soziologie zu sehen. Das theoretische Problem, das sich in diesen Theorievorschlägen stellt, ist die Frage, wie etwas, das als Gabe verstanden werden muss, weil es nicht in der Kalkulation auf eine Gegengabe gegeben wird, dennoch erwidert wird, so dass sich ein Tausch von Gaben ereignet, der eigentlich nicht möglich ist. Mit dieser Frage stehen wir vor nicht weniger als einem soziologischen Grundproblem, das sich in der Frage bündeln lässt, wie Praxisformen verstanden werden können, die offensichtlich nicht im Paradigma der Rationalität kausal analysiert werden können, sich aber dennoch regelmäßig ereignen und nicht selten Praxiseffekte nach sich ziehen. Die Lösung dieses theoretischen Problems, wie Mauss, in den „Geistern“ und „Kräften“ zu suchen, die den gegebenen Dingen inne wohnen, wirkt zunächst hilflos. So wundert es nicht, dass Lévi-Strauss dieses zentrale Argument Mauss’, das sich auf die von den Akteuren der Gabe erzeugten und reproduzierten Sinnelemente der Gabe bezieht, mit der folgenden Frage versieht: „Stehen wir hier nicht vor einem der (nicht so seltenen) Fälle, wo der Ethnologe sich vom Eingeborenen narren lässt?“ (Lévi-Strauss 1989: 31) Lévi-Strauss wirft Mauss mit dieser Suggestivfrage letztlich vor, nicht mehr als eine Phänomenologie der Gabe verfasst zu haben, die sich auf die Erfahrungen der „Eingeborenen“ stützt, ohne diese Erfahrungen mit wissenschaftlichen Mitteln theoretisch zu brechen, um eine systematische Theorie des Austausches zu entwickeln. Die deshalb von Lévi-Strauss aus dem Gabenessay abgeleitete Austauschtheorie löst das Problem von Mauss allerdings nur scheinbar. Denn Lévi-Strauss entwickelt, wie oben gezeigt, aus dem Gabenessay ein theoretisches, als objektiv postuliertes Modell des Austausches, das als immanentes Gesetz der Praxis kurzerhand in die Mentalität, also in das Bewusstsein der sozialen Akteure hineininterpretiert wird. Auf diese Weise wird der Zyklus des Gebens, Nehmens und Erwiderns, der im Gabentausch wirksam wird, aus den Strukturen eines der Praxis übergeordneten Symbolsystems
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der Reziprozität, das den beteiligten Akteuren unbewusst ist, deduktiv abgeleitet. Derrida (1993: 101) bringt den theoretischen Trick, den Lévi-Strauss hier anwendet, sehr genau wie folgt auf den Punkt: „An die Stelle einer Logik der Sache, wie sie die substanzielle Macht, die intrinsische Kraft der Gabe und die Aufforderung der Gegen-Gabe umfasste, setzt LéviStrauss eine Logik der Beziehung und des Tausches, die alle Schwierigkeit und selbst zwar bis auf den Wert der Gabe zum Verschwinden bringt.“ Durch das apodiktische Postulat einer basalen Reziprozität als den Akteuren undurchsichtige symbolische Regel aller Praxis, die für Lévi-Strauss ausschließlich ein Prozess des Austausches ist, reduziert die strukturale Anthropologie die der Gabe immanenten Sinngehalte und Symbole, deren Mannigfaltigkeit Mauss noch in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt hatte, auf das umfassende Symbol der Reziprozität, das schlicht vorausgesetzt wird. Dadurch werden die in die Praxis des Gabentausches involvierten Akteure, wie Bourdieu (1987: 180f.) es treffend formuliert, „auf den Status von Automaten oder trägen Körpern [degradiert], die von obskuren Mechanismen auf Ziele hinbewegt werden, von denen sie selbst nichts wissen“. Lévi-Strauss entwickelt nach Bourdieu eine „Sozialmechanik“ (Bourdieu 1987: 181) des Austausches. Und sieht man retrospektiv und vor dem Hintergrund der inzwischen erfolgten Theorieentwicklung die strukturdeterministische Grundstruktur seines Werkes, trifft der Vorwurf der Naivität eher auf ihn als auf Mauss zu, der den „spirit of the gift“ (Sahlins 1981: 149) sehr viel deutlicher gesehen hat als sein prominenter Kritiker.28 Eine struktural angelegte Austauschtheorie muss jedenfalls übersehen, dass dem Geben ein Unruhe- und Innovationspotenzial inne wohnt (vgl. Davis 2002: 189), nicht nur weil mit dieser Praktik praktisch umgegangen werden muss – das Gegebene kann beispielsweise angenommen oder abgelehnt werden –, sondern auch, weil das Geben vom gebenden Akteur als Herausforderung des nehmenden Akteurs begriffen werden kann. Die praktische Logik des Gabentausches ist abhängig von der jeweiligen sozialen Situation, also dem Kontext, in dem die mit dem Gegebenen verbundenen Symbole und Zeichen von den sozialen Akteuren erzeugt (Inzeption) und/oder angewendet (Rezeption) werden müssen (vgl. Müller 2005: 26). Darüber hinaus erzeugen Gaben durch ihre relative Unbestimmtheit Unsicherheit, die es in der soziologischen Analyse des Gabentausches zu berücksichtigen gilt, indem die kreativen Leistungen der Akteure des Gabentausches nicht zugunsten eines logozentrischen Strukturalismus marginalisiert werden. Eine „Sozialmechanik“ des Gabentausches à la Lévi-Strauss wird der Praxis der Gabe also ebenso wenig gerecht, wie die Definition der Gabe als altruistische Tat, die der menschlichen Natur entspringt. Diese humanistische Variante einer Theorie über die Gabe muss nicht zuletzt nach der Dekonstruktion des GabeBegriffs durch Derrida als wenig plausible Verklärung der Gabe angesehen werden. Um jenseits dieser beiden Extrempositionen auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Gabe und des Gabentausches weiter zu kommen, ist es im Anschluss an die heterogenen Interpretationen des Mauss’schen Gabenessays hilfreich, die einzelnen Praktiken des Gabentausches jeweils für sich zu untersuchen. Denn die von mir oben (3.1.) vorgeschlagene 28 Wie jedoch oben (vgl. FN 23) dargelegt, gilt dieser von mir im Anschluss an Bourdieu formulierte Vorwurf an LéviStrauss nur für seine frühen Studien einer strukturalen Anthropologie, von denen er sich in seinen späteren Werken selbst entfernt, indem er in letzter Konsequenz seiner suchenden Ethnologie die Relevanz der Mannigfaltigkeit der symbolischen Formen vor die Relevanz eines strukturalen Prinzips stellt, so dass sich sein Strukturalismus in einen Post-Strukturalismus verwandelt.
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Unterscheidung der einzelnen Tauschpraktiken macht es möglich, die Praxisform des Gabentausches umfassend als „Logik in actu“ (vgl. Bourdieu 1998a: 182ff.) zu rekonstruieren. Als erstes kann mit diesem Begriffsvorschlag gefragt werden, unter welchen Bedingungen eine Gabe praktisch wird. Hier wird bereits deutlich, was bereits Mauss geahnt hatte, nämlich dass die Praktik der Gabe nur in Verbindung mit Praktiken der Symbolisierung des Gegebenen als Gabe möglich wird. Erst diese Symbole generierenden Praktiken machen das Gegebene beispielsweise als Geschenk kenntlich, so dass die Praktik des Bewertens der Gabe, die hier als Anerkennung des Gegebenen als Geschenk verstanden werden muss, möglich wird (vgl. hierzu auch Berking 1996 passim, v. a. 63ff.). Symbole und Zeichen machen unter genauer zu untersuchenden Umständen aus dem gegebenen Gut ein Geschenk und aus dem Geben ein Schenken, was erhebliche Auswirkungen auf die Verkettung der Praktiken des Tausches hat. Das Phänomen des Schenkens kann an dieser Stelle als besonders plausibles Beispiel dafür verstanden werden, wie die praktische Logik des Gabentausches, also die Formen des preislosen Tausches mit wirkmächtigen Symbolen verbunden sind, die in der Praxis erzeugt und reproduziert werden müssen, damit der Tausch von Geschenken und Zuwendungen als symbolische Formung der Gabe möglich wird.29 Um dies genauer zu sehen, ist es hilfreich, den bereits oben (2.3.3 und 3.1) diskutierten Symbolbegriff der soziologischen Phänomenologie in die praxistheoretische Untersuchung des Gabentausches einzubeziehen. Alfred Schütz und Thomas Luckmann (vgl. 2003: 653) hatten Symbole als außeralltägliche Brückenschläge zwischen verschiedenen Wirklichkeitsbereichen gefasst, die „als unmittelbar Gegebenes auf etwas Abwesendes“ (ebd.) verweisen. Symbole sind als „Bedeutungsträger“ Bestandteile der „Alltagswirklichkeit“ (ebd.: 654) sozialer Akteure. „Sie markieren“, wie Hans-Georg Soeffner (2000: 196f.) es im Anschluss an Schütz und Luckmann formuliert, „lebensweltliche ‚Transzendenzen’, Grenzüberschreitungen von einem Individuum zu einem anderen, von einem Erfahrungsstil zu einem anderen […], von einer Statuspassage zu einer anderen.“ Damit sie jedoch nicht nur als Bewusstseinszustände der Akteure erscheinen, müssen sie sich Ausdruck in symbolhafter Repräsentation und Notation verschaffen. Sie müssen mit anderen Worten als Zeichensysteme repräsentiert sein, auf die soziale Akteure unmittelbar zugreifen können, um der Praxis einen Sinn zuschreiben zu können. Auch wenn diese symbolischen Zeichensysteme sich häufig Ausdruck in abstrakten Bildern und „arbiträr“ (ebd.: 197) gestalteten Zeichen verschaffen, ist es für Symbole charakteristisch, dass sie Praxis auslösen, weil sie im Modus der Unmittelbarkeit wirksam werden. So ist die von Ego vorgenommene symbolische Konstruktion einer Gabe als Geschenk, das Alter-Ego gegeben wird, ein unmittelbarer Auslöser von Praktiken, wenn diese symbolische Repräsentation des Gegebenen als Geschenk von Alter-Ego als solche verstanden wird. Das Symbol, hier das Geschenk, verweist auf etwas nicht Sicht-
29 Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Schenken, wie wir es kennen, nicht mit der Praxis des Gebens in tribalistischen Gesellschaften synonym gesetzt werden kann (vgl. Paul 2004: 60). Darauf komme ich unten (3.4) ausführlich zurück. Das Schenken ist Thema diverser soziologischer Untersuchungen, auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Siehe für einen Überblick der klassischen Theorien des Schenkens Rost (1994) und für neuere Versuche Schmied (1996) und Berking (1996). In einer Praxistheorie des Tausches, wie ich sie verfolge, liegt der Fokus jedoch auf dem Geschenktausch, der als exemplarische Praxisform der praktischen Logik des Gabentausches sehr viel komplizierter ist als das isolierte Schenken, das sich meines Erachtens nur dann ereignet, wenn es in eine symbolische Schenkkultur eingebettet ist. Isoliertes Schenken ist deshalb nur schwer vorstellbar.
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bares (also im strengen Sinne auf etwas Abwesendes), nämlich auf die mit dem Geschenk verbundene Disposition des schenkenden Akteurs, dem beschenkten Akteur mehr zu geben, als den materiellen Wert des gegebenen Gutes. Dies überbrückt nicht nur die Unsicherheit der Praxis zwischen Ego und Alter-Ego, sondern erzeugt eine neue, dem Schenken typische Unsicherheit, weil Alter-Ego gezwungen ist, den als Geschenk symbolisierten Gegenstand zu parieren. Was an dieser Stelle der Argumentation deutlich wird, ist nicht nur die strukturierende Funktion der Symbole, die Praktiken wahrscheinlich werden lassen, die ohne sie nicht möglich wären. Gleichsam zeigt sich, dass Symbole keinen präskriptiven Sinn ausdrücken, der die Praxis strukturiert, sondern Sinn im Vollzug der durch sie möglich werdenden Praxis erzeugen. Der Sinn der Praxis, der sich in Symbolen bündelt und objektiviert, kann nämlich nicht ausschließlich holistisch im Sinne Émile Durkheims gefasst werden, indem Symbole als Produkte der sozialen Ordnung begriffen werden. Sie sind darüber hinaus auch als Erzeugnisse aktueller Praktiken zu interpretieren. Während Durkheim die Objektivität des Symbols betont, die eine soziale Ordnung ermöglicht, hebt die soziologische Phänomenologie gerade die strukturierenden Aspekte der symbolischen Repräsentation hervor, indem Symbole nicht nur auf ihre Funktionalität zur Reproduktion der gegebenen sozialen Ordnung hin geprüft, sondern auch als Attraktoren zur Produktion von praktischem Sinn verstanden werden.30 Diese Generierung von praktischem Sinn geschieht auf beiden Seiten der Relation von objektivierter und inkorporierter Sozialität. Bezüglich der inkorporierten Sozialität ist in diesem Zusammenhang die Einsicht von George Herbert Mead (1980: 123) wichtig, dass das, „was wir sehen, hören, fühlen, schmecken und riechen, von dem ab[hängt], was wir tun, und nicht umgekehrt“. Der Widererkennungswert der Symbole, ihr Signalcharakter – das, was Mead als den „so genannten äußeren Reiz“ (ebd.) bezeichnet – sind Gelegenheiten für bestimmte Empfindungen, nicht aber ihre Ursachen. Habitualisierte Empfindungen und Dispositionen werden mit anderen Worten erst im Tun aktiviert, sie sind der Praxis nicht äußerlich, sondern entstehen mit den Praktiken (vgl. Hirschauer 2004). Erst das Geben eines Geschenks, das durch die damit verbundenen Symbolisierungen des Gegebenen als Geschenk als ein Schenken erscheint, macht eine weitere Symbolisierung der Situation auch durch den Beschenkten notwendig, indem etwa die Dankbarkeit bekundet und nicht etwa, was die Situation kritisch werden ließe, nach dem Preis des Geschenks gefragt wird. Diese
30 Aufschlussreich für den Charakter und die Grundstruktur eines holistischen Symbolbegriffs, auf den auch LéviStrauss zur Analyse von Austauschprozessen zurückgreift, ist die Diskussion von religiösen Symbolen durch Émile Durkheim in seinem späten Werk Die Elementaren Formen des religiösen Lebens (Durkheim 1984). Hier schreibt er zur Interpretation religiöser Symbole beispielhaft: „So ist das soziale Leben unter allen seinen Aspekten und zu allen Augenblicken seiner Geschichte nur dank eines umfangreichen Symbolismus möglich.“ (Ebd.: 317) Ernst Cassirer (1973/II: 232) nimmt solche und ähnliche Aussagen Durkheims zum Anlass, seine eigene Philosophie der symbolischen Formen gegen Durkheims „nominalistische Theorie“ (ebd.) als Kulturwissenschaft zu konturieren. In Bezug auf den Mythos schreibt er: „Zugegeben, dass der Mythos und die Religion überall solcher Bilder, solcher sinnlichgegenwärtiger Zeichen [als Beispiel dient hier das Totem; F.H.] bedürfen, so bleibt doch immer die Besonderheit der einzelnen mythisch-religiösen Symbole eine Frage, die durch den Hinweis auf die allgemeine Funktion der Zeichengebung nicht gelöst werden kann.“ (Ebd.) Cassirers Hervorhebung der Besonderheit praktisch werdender Symbole ist genau der Ansatzpunkt dafür, den Symbolbegriff in hier von mir vorgeschlagener Weise weiter zu entwickeln.
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Symbol gebenden Praktiken hängen sehr davon ab, wer wen zu welchem Anlass mit was beschenkt. Gleichsam wird die Praxis des Geschenktausches davon beeinflusst, wie und ob die Übergabe von Geschenken ritualisiert ist. Wie Viktor Turner (vgl. 2005: 95ff.) am Beispiel von Übergangsriten nachzeichnet, sind wirkmächtige Ritualisierungen der Praxis vor allem dann zu beobachten, wenn sich die Situation durch Unbestimmtheit in der Erwartung von Anschlusspraktiken auszeichnet, die durch die Ritualisierungen absorbiert wird. So bestehen etwa Initiationsriten, die eine mit Unsicherheit verbundene Übergangssituation symbolisieren, aus einer „Vielzahl von Schwellensymbolen“ (ebd.: 95), die die Unsicherheit der Praxis sichtbar machen und gleichzeitig auf ritualisierte Praxisformen hindeuten, die eine Bewältigung der Situation praktisch ermöglichen. Auch die Praxis der Geschenkübergabe ist nicht selten, etwa bei der Verleihung von Preisen, mit wirkmächtigen Ritualen versehen (vgl. Schmied 140ff.). Der Zeitpunkt der Übergabe des Preises ist festgelegt, die Redeanteile der beteiligten Akteure, Preis verleihender und annehmender Akteur, sind reglementiert, wobei dem geehrten Akteur eine längere Redezeit zugebilligt wird. Sie wird ihm in der Regel nicht zeitlich vorgeschrieben, obwohl die Erwartung im Raum steht, dass auch er nicht zu lange redet. Und auch die Auswahl des Ortes der Geschenkübergabe wird nicht dem Zufall überlassen. Dies ist nicht anders, wenn in der Familie Geschenke zu Feiertagen ausgetauscht werden. Auch diese Situation entsteht in der Regel nicht spontan, sondern wird von den beteiligten Akteuren in unterschiedlicher Weise vorbereitet und ist nicht selten sehr stark ritualisiert, weil die Geschenkübergabe, also die Bescherung, jedes Jahr in annährend gleicher Weise geschieht, also als Ritual ästhetisch inszeniert wird.31 Rituale sind „sichtbare Verknüpfungs- und Orientierungselemente einer einheitlichen symbolischen Wirklichkeitsdeutung“ (Soeffner 1989: 179), die aber nur dann Praxiseffekte nach sich ziehen, wenn sie von sozialen Akteuren mit praktischem Sinn versehen werden. Eine angemessene Situationsbewältigung gerade von sehr stark ritualisierten Übergabesituationen, die für das offizielle Schenken geradezu typisch sind, ist demnach abhängig von den habitualisierten Dispositionen der Akteure. Denn die „rituelle Praxis vollzieht“, wie es Bourdieu (1976: 251) ausdrückt, „eine unsichtbare Abstraktion, die durch unterschiedliche Aspekte ein und das selbe Symbol in verschiedene Beziehungen oder die verschiedenen Aspekte desselben Referenten in ein und das selbe Gegensatzverhältnis treten lässt“. Deshalb müssen die Symbole der Ritualisierung von Praxis durch die beteiligten Akteure habituell erkannt werden, damit sie die Situation angemessen bewältigen können. Durch dieses Zusammenspiel von inkorporierter und objektivierter Sozialität schützt die Ritualisierung der Übergabe des Geschenks vor bösen Überraschungen. Würde etwa das 31 Vgl. für einen Überblick über die wichtigsten Ritualtheorien der Sozialwissenschaften die Beiträge in Belliger und Krieger (2003). Ein am Praxisbegriff orientiertes Verständnis von Ritualen formuliert Bourdieu (1976: 253) wie folgt: „Kommt den rituellen Praktiken und Vorstellungen objektiv eine partielle und approximative Systematik zu, so deshalb, weil sie das Produkt einer kleinen Anzahl generativer Schemata sind, die durch Beziehungen praktischer Substituierbarkeit verbunden sind und damit fähig, unter dem Gesichtspunkt ‚logischer’ Erfordernisse gleichwertige Ergebnisse hervorzubringen. Eignet ihnen stets nur eine partielle und approximative Systematik, so deshalb, weil die Schemata, deren Produkt sie sind, die ihnen gegebene Fähigkeit zu einer gleichsam universellen Anwendung nur verwirklichen können, insofern sie praktisch funktionieren, d.h. jenseits des Explizitmachens und folglich außerhalb logischer Kontrolle und in Bezug auf praktische Zwecke, die ihnen einen zwangsläufigen Charakter aufprägen und zuschreiben, der keiner der Logik ist.“
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Geschenk nicht als Geschenk erkannt, weil es nicht hinreichend als Geschenk symbolisiert worden ist oder weil den beteiligten Akteuren die Disposition zur Wahrnehmung des Geschenkrituals fehlt, würde sich die Praxis nach dem Geben deutlich anders entwickeln, als wenn das Geschenk auch als solches erkannt wird. Eine ritualisierte Übergabe des Geschenks schützt einerseits vor Missverständnissen. Und andererseits ist das falsche Wort oder die falsche Geste des Dankes gerade in solchen Situationen oft mit gravierenden Praxiseffekten verbunden, was die symbolische Aufladung der Übergabesituation und die damit verbundenen praktischen Anforderungen an die beteiligten Akteure augenscheinlich werden lässt. Der beste Zeitpunkt für eine gezielte Provokation ist denn auch die ritualisierte Geschenkzeremonie, die in hohem Maße symbolisch aufgeladen ist. Soll etwa ein Akteur beleidigt werden, ist die Übergabe eines vergifteten, böse Anspielungen enthaltenden Geschenks der sicherste Weg. Mit dem Geben, Nehmen und Erwidern ist also eine ständige Arbeit der beteiligten Akteure an den Symbolen des Tausches verbunden. „Die symbolische Arbeit besteht“, mit einer Formulierung von Bourdieu (1998a: 168), „darin, Form zu geben und zugleich die Formen zu wahren.“ So ist die Praktik der Annahme des als Geschenk symbolisierten Gegebenen, die ebenso wie das Schenken ein hohes Unsicherheitspotenzial birgt, nur innerhalb einer „symbolischen Alchimie“ (Bourdieu 1998a: 169) in Bezug auf das gegebene Gut möglich. In Symbolen objektivierter Sinn, also im Geschenk objektivierte Sozialität, wird nun ebenso wie die inkorporierte Sozialität des Habitus nur in den Praktiken aktiviert, die die Sinngehalte der Symbole praktisch werden lassen und dadurch für die Praxis aktuell halten. Denn erst wenn die objektivierten Schemata und Symbole des Tausches durch symbolgenerierende bzw. -reproduzierende Praktiken, etwa durch die Verkennung der Gabe als gutmütiges Geschenk, das zur Dankbarkeit verpflichtet, in anerkannte kulturelle Schemata, also in ein bekanntes Symbol verwandelt worden sind, wird in einer neuen Übergabesituation eine Gegengabe wahrscheinlich und der Prozess beginnt erneut, indem eine „zweite erste Gabe“, wie Ricœur es genannt hat, praktisch wird. Das Ablehnen einer Gabe, die als Geschenk symbolisiert worden ist – das selbstverständlich ebenso möglich ist, wie die Verweigerung der „zweiten ersten Gabe“ – bedeutet jetzt eine symbolische Ablehnung der persönlichen Reputation des Schenkenden, was Folgen hat für die soziale Beziehung zwischen Gebendem und potenziell Nehmendem. Diese Folgen sind etwa durch die bis dahin erstmalige Ablehnung des Literatur-Nobelpreises durch Jean-Paul Sartre im Jahr 1964 sichtbar geworden. Eine stärkere Infragestellung der Reputation des Nobelpreiskomitees ist kaum vorstellbar. Die Organisation und ihre Mitglieder müssen sich beleidigt fühlen und sind jetzt gezwungen, ihre Reputation zu verteidigen, indem das Ablehnen des von ihnen zugebilligten Preises selbst symbolisch aber dezent in Frage gestellt wird, um auf diese Weise das Renommee des Nobelpreiskomitees wieder herzustellen. Offensichtlich sind mit der Gabe des Preises auch die Reputation und Ehre aller einzelnen Mitglieder des Komitees an den Preisträger weitergegeben und deshalb durch die Ablehnung des Preises vom Beschenkten (Sartre) zurückgewiesen worden. Das Geben von Geschenken ist, wie dieses Beispiel zeigt, mit dem symbolischen Geben von Teilen der eigenen Person des gebenden Akteurs verbunden, wie auch Godelier herausgestellt hatte. Dies ist, wie Marshall Sahlins (vgl. 1994: 302f.) deutlich macht, ein zentraler Unterscheid zwischen dem Schenken von Geschenken und dem Kauf und Verkauf von Waren. Im
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Letzteren wird die reziproke Bindung zwischen den tauschenden Akteuren symbolisch in eine Beziehung zwischen den getauschten Sachen (Ware gegen Geld und Geld gegen Ware) verwandelt, die auch die Beziehung zwischen den tauschenden Akteuren versachlicht. Im Geschenktausch sind die mit den geschenkten Dingen verbundenen Symbole vor allem auf die imaginierten inneren Eigenschaften der beteiligten Akteure bezogen.32 Die Beziehung zwischen schenkendem und beschenktem Akteur wird nicht, wie im Warentausch, symbolisch versachlicht, sondern ganz im Gegenteil symbolisch emotionalisiert, wie wir wahrscheinlich alle aus unserer Alltagspraxis bestätigen können. So ist es im Freundeskreis durchaus relevant, was zum Geburtstag geschenkt wird, weil die Art des Geschenks anzeigen soll, welche Gefühle und Gedanken der Schenkende über den Beschenkten hat. Das Innere des Schenkenden wird im Schenken teilweise entäußert, was als ein wichtiger Grund für das hohe Unsicherheitspotenzial des Schenkens angesehen werden muss. All diese Aspekte verweisen auf die Bedeutung symbolischer Formen für die Entstehung der Praktiken des Tauschens und müssen deshalb für eine Typologie von Tauschformen, die ich unten (3.5) vornehmen werde, zentral berücksichtigt werden. Das Schenken ist jedoch nicht ausschließlich ein Ergebnis bereits vorhandener symbolischer Formen, sondern bringt sie auch praktisch hervor. Um dies zu sehen, ist es an dieser Stelle wichtig, eine mit dem Schenken eng zusammenhängende Eigenschaft genauer zu betrachten, nämlich die mit dieser Praktik verbundene „Überraschung“, die sich vor allem in der Sach- oder/und in der Zeitdimension des Sinngeschehens ausdrückt. Wird etwas als Geschenk symbolisiert, wird die Übergabe des Geschenks regelmäßig zu einem Ereignis, das nicht in routinisierte Erwartungsstrukturen eingepasst werden kann. Das Schenken geschieht zu einem nicht erwarteten Zeitpunkt und wird dadurch erst als Praktik des Schenkens symbolisiert. Und in eng ritualisierten Praxisformen des Geschenkaustausches, in denen die Gesten des gegenseitigen Beschenkens zu einem bestimmten Zeitpunkt relativ sicher erwartet werden können, ist es ein gut gehütetes Geheimnis, was etwa dem Freund, der Freundin oder dem Familienmitglied geschenkt werden wird. Damit der Überraschungseffekt des Schenkens auch in solchen Situationen erhalten bleibt, wird er auf der Sachdimension symbolisch erzeugt, indem die Art des Geschenks bis zur Geschenkübergabe geheim gehalten wird. Das Geschenk wird üblicherweise in Geschenkpapier eingepackt und dadurch als Sache verhüllt. Wird in stark ritualisierten Geschenkübergabesituationen im Übrigen die Geste des Geschenks verweigert, was sich auch darin ausdrücken kann, schon vorher die Art des Geschenks mitzuteilen, wird diese Verweigerung sehr wahrscheinlich zu einem Ereignis werden, über das noch lange geredet wird, das also gravierende, für den Geschenkverweigerer in der Regel negative Praxiseffekte nach sich zieht. Aber auch ein besonders „ausgefallenes“, von den Beteiligten des Rituals nicht erwartetes Geschenk kann zu einem Ereignis mit nachhaltigen Praxiseffekten werden. Und das Ziel des Schenkens ist auch in den eng ritualisierten Situationen des Geschenkaustausches genau das, nämlich sein eigenes Geschenk zu einem als positiv wahrgenommenen Ereignis zu machen, das von allen Beteiligten positiv empfundene Praxiseffekte nach sich zieht. Wie schwer dies praktisch zu
32 Mauss sieht diesen Punkt sehr deutlich, wenn er bezogen auf den Potlatsch schreibt: „Aber außerdem gibt man beim Geben sich selbst, und zwar darum, weil man sich selbst – sich und seine Besitztümer – den anderen ‚schuldet’.“ (Mauss 1990: 118)
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realisieren ist, kennen wir alle aus unseren eigenen Erfahrungen. Wer hatte nicht schon das „Gefühl“, ein unangemessenes Geschenk gemacht zu haben, weil der oder die Beschenkte von dem Geschenk eher peinlich berührt, also negativ und nicht positiv überrascht war? Und wer kennt nicht die Situation, in der Dankbarkeit für ein missglücktes Geschenk vorgetäuscht werden musste, um die Situation des ritualisierten Geschenkaustausches nicht zu überspannen? Und auch die Frage, wann einem bestimmten sozialen Akteur ein Geschenk gemacht werden kann, ist außerhalb der üblichen Geschenkrituale nicht selten nur schwer zu beantworten, weil der Zeitpunkt des Geschenks so gewählt werden muss, dass der Beschenkte von ihm positiv überrascht ist und nicht etwa äußert, dass die Geschenke aufgrund ihrer Häufigkeit zu einer Zumutung werden oder dass er dieses bestimmte Geschenk schon lange erwartet habe. Es ist, wie diese Beispiele zeigen sollen, also eine praktische Herausforderung, Geschenke zu überraschenden Ereignissen zu machen, denn Geschenke, die nicht überraschen, sind eigentlich nicht als Geschenke zu verstehen. Das Geschenk hat, allgemein formuliert, den konstitutiven Charakter des überraschenden Ereignisses. Es wirkt erst dann als Geschenk, wenn es überraschend geschieht, wenn also entweder das Geschenk in der Sachdimension überrascht, oder die Geste des Schenkens in der Zeitdimension gegen die Erwartungen des beschenkten Akteurs oder anderer, externer Beobachter des Schenkens praktisch wird. In der Sozialdimension kann dieser Überraschungseffekt des Geschenkereignisses dadurch noch gesteigert werden, wenn es etwa besonders irritiert, von jemandem Bestimmten, beispielsweise von einem ungeliebten Kollegen, ein Geschenk zu erhalten. In diesem Sinne ist die Praktik des Schenkens immer ein Ereignis, das kulturelle Objektivierungen, die sich in Symbolen und Erwartungen manifestieren, zumindest vorübergehend irritiert. Und genau dies macht das hohe Unsicherheitspotenzial des Schenkens aus, das es obsolet werden lässt, die Praktiken des Schenkens allein aus einer allgemein gültigen Symbolstruktur abzuleiten. Das Schenken ist zwar auf Symbole bezogen, weil es nur durch Symbolisierungen möglich wird. Es irritiert aber zugleich die objektivierten Symbolisierungen, weil mit dem Schenken konstitutiv unvorhergesehene Ereignisse erzeugt werden, die fast immer Anlass für neue Praktiken etwa der Dankbarkeit und des erneuten Geschenks sind, die ohne das erste Schenken nicht möglich geworden wären. Geschenke werden folglich regelmäßig mit Geschenken erwidert, so dass ein Geschenktausch geschieht. Um nicht nur das Geben, also die erste Gabe, sondern auch den aus der Praktik des Schenkens entstehenden Austausch von Geschenken, also die zweite erste Gabe, genauer verstehen zu können, muss die zeitliche Streckung gesehen werden, die zwischen Gabe und Gegengabe, die jeweils als Geschenke symbolisiert sind, entsteht. Das gegebene Gut erscheint durch seine Symbolisierung als Geschenk dem Beschenkten als positive, negative oder selbstverständliche Herausforderung, die von ihm, der durch die Annahme des Geschenks zum Nehmenden wird, pariert werden muss. Dazu sind habitualisierte Dispositionen notwendig, die den im Geschenk objektivierten Sinn in praktischen Sinn verwandeln und so eine Gegengabe wahrscheinlich werden lassen. Im Geben ohne expliziten Preis und in der Annahme derartiger Gaben wirkt deshalb eine Herausforderung, weil sich im Geschenk eine Verpflichtung manifestiert, das Gegebene zu gegebener Zeit mit einem erneuten Geben ohne expliziten Preis, also mit einer zweiten ersten Gabe zu beantworten. Wenn dies praktisch geschieht, wird die Herausforderung umgekehrt. Sie liegt jetzt nicht mehr beim Nehmenden
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der ersten Gabe, sondern beim Nehmenden der zweiten ersten Gabe. In einer wechselseitigen Praxis des Gebens, Nehmens und Erwiderns von Gaben, die als Geschenke symbolisiert sind, wechseln folglich die gegenseitigen Verpflichtungen und Erwartungen, je nach dem, wer sich verpflichtet fühlt, eine Gabe zu erwidern bzw. wer das Gefühl hat, eine Gabe erwarten zu können. Die praktische Aufgabe der beteiligten Akteure ist es in dieser komplexen Konstellation der Praxis, die Balance zwischen Herausforderung und Annahme der Herausforderung durch eigene Praktiken zu erzeugen. Dabei kann das jeweilige Erwidern einer Gabe, die vom Gebenden als Geschenk symbolisiert ist und als solches beim Nehmenden verstanden wird, nicht als sofortiges Erwidern praktisch werden, weil dies einer Ablehnung der Gabe gleichkommen würde. Eine direkte Rückgabe des Geschenks, gar in Form einer Bezahlung seines Preises, was aus dem Geschenk eine Ware machen würde, lehnt mit anderen Worten die Herausforderung durch den Schenkenden ab und affiziert deshalb andere Praktiken als die fraglose Annahme des Geschenks und die damit verbundene Bekundung von Dankbarkeit. Wenn der soziale Mechanismus des Gabentausches zum Abschluss kommen soll, muss folglich eine Zeitphase entstehen, in der Gebender und Nehmender in einer spezifischen Beziehung der Wechsel- oder Gegenseitigkeit zueinander stehen. Gerade diese konstitutive Eigenschaft des Gabentausches, die bereits Mauss gesehen hatte, lässt es als sinnvoll erscheinen, den Tausch nicht nur als grundlegende Praxisform der modernen Warenökonomie zu betrachten, sondern auch als strukturbildenden sozialen Mechanismus zu rekonstruieren, der soziale Bindungen hervorbringt, was, wie gezeigt, Caillé dermaßen fasziniert, dass er die Gabe zu einem neuen Paradigma der Soziologie erklärt. Im preislosen Tausch strukturiert sich die Praxis, weil hier verschiedene Formen sozialer Beziehungen entstehen können. Diese Eigenschaft der Praxisform des Gabentausches ist deshalb ein Produkt der Zeit, die zwischen erster und zweiter erster Gabe verstreichen muss, weil in dieser Zeitspanne eine symbolische Verpflichtungs- und Erwartungsstruktur zwischen Gebendem und Nehmendem entsteht. Denn nur wenn dies geschieht, gelingt der Tausch von Geschenken. Bourdieu (2001: 254) beschreibt diesen zentralen Aspekt des preislosen Tausches wie folgt: „Die Gabe spricht die Sprache der Bindung: eine Verbindlichkeit, die bindet ..., schafft Verbindungen und Bündnisse; sie stiftet legitime Herrschaft. Dies unter anderem, weil sie aus der Zeitspanne, die Gabe und Gegengabe voneinander trennt ..., eine Zeit kollektiver Erwartungen der Gegengabe oder der Dankbarkeit macht oder, deutlicher gesagt, eine Zeit anerkannter, legitimer Beherrschung, hingenommener und geliebter Unterordnung.“
Ganz im Sinne seiner oben (vgl. Abschnitt 2.2) nachgezeichneten Ausrichtung der Praxistheorie auf Herrschafts- und Machtverhältnisse sieht Bourdieu den Gabentausch primär als sozialen Mechanismus, der Herrschaftsbeziehungen erzeugt und reproduziert. Die Praxisform des Gabentausches ist für ihn in erster Linie eine spezifische und perfide Ausformung des Herrschaftsmechanismus und erscheint im Kontext des ökonomischen Feldes vor allem als Mittel der symbolischen Machtausübung bzw. als eine Form symbolischer Gewalt. Diese Sichtweise wird von Bourdieu an – zugegeben – plausiblen Beispielen aus der Praxis festgemacht. Der freigiebige und nonchalante Firmenchef etwa gründet seine Macht auf symbolische Gewalt, indem er durch die Praxis der systematischen, dauerhaften aber maßvollen
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Verteilung von Geschenken symbolisches Kapital akkumuliert und gleichzeitig symbolische Verpflichtungen bei „seinen“ Mitarbeitern erzeugt. Werden derartige, uns allen vertraute Beispiele von Praxisformen des Geschenktausches zu einer Theorie der Strukturreproduktion generalisiert, wie es von Bourdieu betrieben wird, verkürzt dies jedoch das Verständnis der praktischen Logik des Tausches. Denn dann werden alle Formen des Gaben- und Geschenktausches, für die nicht primär der Praxiseffekt einer Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen konstatiert werden kann, kurzerhand in ein Reich der Intimität verbannt, obwohl doch auch in anderen Feldern, wie etwa dem ökonomischen Feld, derartige Tauschformen mit strukturbildenden Praxiseffekten beobachtet werden können. Unter bestimmten Bedingungen, die durch eine Analyse der Symbolisierungen der Praktiken des Tauschens sichtbar werden, muss der Gabentausch nicht nur als Herrschafts-, sondern auch, ganz im Sinne Godeliers, als Solidaritätsmechanismus gesehen werden: „Der Gabentausch kann“, wie auch Bourdieu (1998a: 170) an anderer Stelle sagt, „zwischen Gleichen stattfinden und durch die Kommunikation dazu beitragen, die ‚Kommunion’ zu stärken, die Solidarität, die den sozialen Zusammenhalt schafft.“ Die Definition der symbolischen Voraussetzungen für den Gabentausch erlaubt es gerade, ihn als Ausgangspunkt für unterschiedliche Formen der sozialen Strukturbildung zu verstehen.33 Um hier Missverständnisse und Verkürzungen zu vermeiden, müssen die Praxiseffekte des Gabentausches von der praktischen Logik des Gabentauschmechanismus unterschieden werden. Das Geben und das Annehmen von Gaben erzeugen symbolische Macht- und/oder Solidaritätsbeziehungen. Die Praxis, die dies ermöglicht, zeichnet sich jedoch durch ein symbolisches Verkennen oder Verschleiern dieses Effekts von Gabentausch aus, weil er nicht in Kalkulation auf symbolischen und sozialen Gewinn praktisch wird. So wird im hier angeführten Beispiel das Schenken des Firmenchefs von den Mitarbeitern möglicherweise als menschliche Geste und nicht als Form der symbolischen Machtausübung verstanden. Die Geschenke werden gerne angenommen, und die Folgen dieser Annahme, die im Übrigen nur schwer verweigert werden kann, werden den Mitarbeitern häufig nicht bewusst, obwohl sie nach der Annahme der Geschenke nicht selten eine diffuse Verpflichtung gegenüber „ihrem“ Chef und „ihrer“ Firma spüren. Die vom gebenden und nehmenden Akteur gleichermaßen erkannte Symbolisierung des Gegebenen als Geschenk repräsentiert das Geschenk als objektivierte Sozialität und aktiviert zugleich inkorporierte Dispositionen zum Umgang mit Geschenken. Dadurch erzeugt die Relation zwischen inkorporierter und objektivierter Sozialität Praktiken, die sich zur Praxisform des Geschenktausches verketten. Signifikante Praxisformen des Tausches entspringen folglich nicht dem rationalen Nutzenkalkül, sondern anderen symbolischen Formen der Praxis, die sich der soziologischen Beobachtung nur dann erschließen, wenn sie im hier behandelten Fall weder der symbolischen Verkennung der Gabe als Einsatz in der „ökonomischen Ökonomie“ (Bourdieu) noch ihrer Verkennung als gutmütige Tat unreflektiert folgt.
33 Richard Sennett (2002: 266) kommentiert dieses Argument von Bourdieu sehr richtig: „Wie Bourdieu bemerkt, vermögen Rituale eine Bindung zwischen Menschen herzustellen, weil sie materielle Tatsachen in Ausdruckshandlungen ‚umwandeln‘, die von den Menschen geteilt und aufrechterhalten werden können. Ein ökonomischer Tausch ist eine kurze Transaktion, und die neuen institutionellen Formen des Kapitalismus sind besonders kurzfristig ausgerichtet. Ein ritueller Tausch, vor allem ein asymmetrischer, schafft dagegen eine dauerhaftere Beziehung. Die wechselseitigen Sprechakte werden gleichsam zu einem Gewebe verwoben.“
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Die theoretische Bestimmung der Praxisform des Gabentausches als Verkettung von Tauschpraktiken, die sich nur durch Symbolisierungen der in ihr enthaltenden Einzelpraktiken ereignen kann, impliziert eine Neufassung des Begriffs der Reziprozität, der traditionell für eine Typologie von Tauschformen eine wichtige Rolle spielt (vgl. etwa Sahlins 1999 und aktuell Stegbauer 2002; Hollstein 2005). Ausgehend von Richard Thurnwalds Ethnologie (vgl. etwa 1921: 131f.), in welcher der Begriff erstmals verwendet wird, bezieht er sich auf soziale Beziehungen, in denen wechselseitige Verpflichtungen und Anrechte zwischen den an der Beziehung beteiligten Akteuren bestehen (vgl. Elwert 1991: 169; Streck 1995: 1). Thurnwald hatte den Begriff noch für die sozialen Strukturen in Stammesgesellschaften reserviert, für deren Bezeichnung er auch heute noch breite Verwendung findet, obwohl er, wie Georg Elwert (vgl. 1991: 169) feststellt, in keiner der beschriebenen Gesellschaften einschließlich der unseren als endemischer Begriff vorkommt. Lévi-Strauss generalisiert den Begriff der Reziprozität, wie hier bereits mehrfach dokumentiert, zu einem allgemeinen Symbol der Sozialität. In den Tauschtheorien, die daran anschließen, wird der Begriff Reziprozität sehr oft als Ausgangspunkt insbesondere für Prozesse des Gabentausches gefasst, die ohne das Symbol der Reziprozität als unmöglich erscheinen. Reziprozität steht hier für die Gegenseitigkeit in der Tauschbeziehung und erscheint etwa in der Begriffsfassung durch Alvin Gouldner (vgl. 1984: 97ff.), auf die sich viele Tauschtheorien beziehen, als generelle Norm jeder Sozialität, durch die Tauschprozesse möglich werden, die sich nicht durch eine Äquivalenz der von den Tauschbeteiligten in den Tausch eingebrachten Leistungen auszeichnen, sondern durch wechselseitige Verpflichtungen und Anrechte, die normativ erzeugt werden müssen.34 Die Bedingungen für die Entstehung reziproker Praxisformen des Tausches müssen dann nicht weiter untersucht werden, weil die Reziprozität als strukturelles Prinzip jeder Praxis in sozialen Beziehungen theoretisch vorausgesetzt wird. Dadurch, dass der Begriff Reziprozität in dieser Weise normativ und strukturalistisch verwendet wird, ist er für eine praxistheoretische Soziologie des Tausches, die eine strukturalistische Fassung des Tauschbegriffes überwinden will, nicht per se obsolet geworden. Die Praxisform des Tausches ist zwar mehr als nur eine Erscheinungsform des theoretischen Prinzips der Reziprozität, also mehr als ein dem Prinzip der reziproken Beziehungsform untergeordnetes Phänomen. Dennoch müssen sich die elementaren Tauschpraktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns in reziproker Form verketten, damit sie von der soziologischen Theorie als Tauschformen beobachtet werden können. Jeder Tausch lässt eine reziproke Beziehung zwischen gebendem, nehmendem und die Gabe erwidernden Akteur zumindest zeitweise entstehen, weil jeder Tausch, wenn er zum Abschluss kommt, eine Gegenseitigkeitsbeziehung der beteiligten Akteure erzeugt. So geschehen Formen des Tausches ohne Preis wie beispielsweise der Geschenk- oder Gabentausch reziprok. Sie zeichnen sich, wie bereits Blau gesehen hat, dadurch aus, dass sich die Austauschprozesse in zeitlicher Streckung ereignen und deshalb mit gegenseitigen (reziproken) Erwartungen und Erwartungserwartungen verbunden sind, die sich jedoch nur mit Hilfe kultureller Deutungen und Sinnzuschreibungen erzeugen und reproduzieren lassen. Reziprozität versteht sich im Kontext der von mir entwickelten Kultursoziologie des Tausches
34 So formuliert etwa Alvin Gouldner (1984: 97) beispielhaft: „Entgegen der Ansicht kultureller Relativisten kann unterstellt werden, dass die Reziprozitätsnorm allgemeingültig ist.“
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folglich nicht als das unabänderbare theoretische Prinzip des Tausches. Der Begriff der Reziprozität ist für eine Soziologie des Tausches, die unterschiedliche Formen des Tausches voneinander unterscheiden will, folglich nur dann nützlich, wenn mit ihm die im Tausch symbolisch erzeugten Erwartungen und Erwartungserwartungen sichtbar gemacht werden, die eine Verkettung von Tauschpraktiken zur Praxisform des Tausches wahrscheinlich werden lassen. Reziprozität bezieht sich als Begriff auf nicht mehr, als dass Praxisformen des Tausches erst dann zum Abschluss kommen, wenn die Praktiken des Gebens, Nehmens und des Widergebens durch Symbol gebende Praktiken, also vor allem durch die Bewertung der Tauschgegenstände und der am Tausch beteiligten Akteure, aufeinander abgestimmt sind, sich deshalb zur Praxisform des Tausches verketten und dadurch Formen reziproker Beziehungen zwischen Akteuren hervorbringen oder reproduzieren. Der Begriff der Reziprozität wird hier also nicht, wie es in großen Teilen der sozialwissenschaftlichen Tradition im Anschluss an die dafür richtungweisenden Überlegungen von Marshall Sahlins (vgl. 1999) und Alvin Gouldner (vgl. 1984: 97ff.) regelmäßig geschieht, für die preislosen Formen des Tausches zwischen zwei klar benennbaren Akteuren reserviert. Denn auch die Formen des über Preise gesteuerten Warentausches, also die Verkettung von Tauschpraktiken zu den Praxisformen des Kaufens und Verkaufens, können wie auch die abstrakten, über die Dyade von Tauschakteuren hinausweisenden Tauschformen nur reziprok geschehen. Christian Stegbauer (vgl. 2002: 31) unterscheidet hier zwischen direkten und generalisierten Formen der Reziprozität. Damit verdeutlicht er, was auch ich hervorheben möchte: Wird ein Tausch praktisch, ist er in der theoretischen Außenbetrachtung immer reziprok. Das heißt nicht, dass eine Norm der Reziprozität in den mentalen Strukturen der beteiligten Akteure verankert sein muss. Die entscheidende Frage ist vielmehr, wie Formen der Reziprozität regelmäßig in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität wahrscheinlich werden, wie also Formen des Tausches praktisch entstehen und dadurch verschiedene Formen sozialer Beziehungen entstehen lassen. Ein strukturalistischer bzw. funktionalistischer Begriff der Reziprozität wird dadurch überwunden. Denn Tauschformen werden nicht aus dem theoretischen Prinzip der Reziprozität deduktiv abgeleitet, indem Reziprozität als generelle Norm jeder Praxis konstruiert wird. Stattdessen fragt die Praxistheorie des Tausches danach, wie die Verkettung von Tauschpraktiken zu reziproken Praxisformen des Tausches möglich wird. Zur Erläuterung dieses Arguments ist Paul Ricœurs (vgl. 2006: 290ff.) Differenzierung des Begriffs der Reziprozität in Wechselseitigkeit und Gegenseitigkeit nützlich. Gegenseitigkeit ist als Form sozialer Beziehungen in jeder Tauschform formal gegeben, in der sich Tauschpraktiken zur Praxisform des Tausches verkettet haben, weil der Tausch, wenn er praktisch gelingen soll, reziprok zwischen mindestens zwei Akteuren – auch Kollektive und andere soziale Gebilde sollen hier vorläufig als Akteure bezeichnet werden – praktisch werden muss. Wechselseitigkeit ist dagegen nach Ricœur sehr viel voraussetzungsreicher, also mit einer völlig anderen Symbolisierung des Tausches verbunden, die sich auf die wechselseitige Anerkennung der Tauschpartner bezieht. Wird mit dem Gegebenen eine Anerkennung der Person des Beschenkten verbunden, indem das Gegebene in entsprechender Weise symbolisiert wird, entsteht eine Form von Reziprozität, die sich von den Formen der Reziprozität deutlich unterscheidet, in denen es vor allem um den reziproken Tausch von Sachen des Gebrauchs geht, der sich gegenwärtig sehr häufig als Kauf und Verkauf im
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Tauschmedium Geld ereignet. Hier wirkt nicht primär eine auf Personen bezogene Wechselseitigkeit, sondern eine sachbezogene Gegenseitigkeit, die durch die Bezahlung eines Tauschgegenstandes etwa mit dem Tauschmedium Geld praktisch wird. Denkbar sind auch andere Tauschmedien als das Geld. Das Prinzip der auf Sachen bezogenen Gegenseitigkeit wird durch die „Wahl“ des Tauschmediums nicht wesentlich verändert, wobei darauf hingewiesen werden muss, dass Tauschmedien in der Regel praktisch nicht gewählt werden können. Wenn ich etwas kaufen will, muss ich über das dazu nötige Geld verfügen, ich kann keinen anderen Gegenstand als Tauschmedium einsetzen, obwohl ich Wertgegenstände selbstverständlich als Sicherheiten für Geldkredite verwenden kann. Auch in der sachbezogenen Reziprozität spielen die Personen der gebenden und nehmenden Akteure zwar eine gewisse Rolle, weil insbesondere beim Erwerb von Wertgegenständen auf dem Verhandlungsweg geklärt werden muss, ob der einen Tauschgegenstand empfangene Akteur tatsächlich etwas adäquates, also in der Regel entsprechende Geldmittel, zurückgeben kann, oder ob der gebende Akteur tatsächlich etwas zum Tausch anbietet, was den Preis wert ist, den er dem Gut gegeben hat. Dennoch ist der gegenseitige Tausch primär durch Sachbezogenheit geprägt, weil es um die sachliche Aushandlung einer Tauschform geht, in der der sachliche Wert des Tauschgegenstandes im Mittelpunkt der Praxis steht, was nicht selten durch einen Kaufvertrag rechtlich verbürgt ist. Die gegenseitige Beziehung zwischen den am Tausch beteiligten Akteuren ist deshalb in auf die Sachdimension bezogenen Tauschformen typischer Weise okkasionell und flüchtig (vgl. Stegbauer 2002: 36ff.). Ist der Kaufvertrag abgeschlossen, kann die Beziehung zwischen den am Kaufvertrag beteiligten Akteuren zumindest prinzipiell enden, was aber nur dann gilt, wenn die im Kaufvertrag vereinbarten Bedingungen des Tausches von beiden Seiten eingehalten werden. Die Reziprozität, die sich im sachbezogenen Tausch für die Dauer der Verkettung von Tauschpraktiken eingestellt hat, muss dann nicht weiter gepflegt werden. Der sachbezogene Tausch von Waren gegen Geld kommt folglich „erst als Äquivalententausch auf seinen Begriff“ (Paul 2004: 59). Wenn von den am Tausch beteiligten Akteuren die sachliche Äquivalenz zwischen den beiden Objekten, die Gegenstand des Tausches sind, gegenseitig eindeutig festgestellt wird, ist die Tauschbeziehung praktisch abgeschlossen und gibt prinzipiell keinen Anlass zur Verstetigung der reziproken Beziehung. „Die Äquivalenz taugt, ja sie ist die ‚Entschuld(ig)ung’, sich der ehedem endlosen Verpflichtung zu entziehen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern.“ (Ebd.)35 An die Stelle der Verstetigung von persönlichen, reziproken Beziehungen tritt die Verstetigung von abstrakten Marktbeziehungen, die prinzipiell ohne Ansehen der Person auf die Äquivalenz der Tauschgegenstände bezogen ist. Gerade im Geschenktausch, der sich in zeitlicher Streckung ereignet, wird dagegen sehr häufig eine durch Symbole verstärkte Wechselseitigkeit praktisch, die sich als besondere Form der Reziprozität beschreiben lässt, weil sie sich nicht primär auf die sachliche Äquivalenz der getauschten Güter, sondern auf die mit dem Tauschgut verbundene Ebene der Anerkennung einer Person bezieht. Diese wird mit Symbol gebenden Praktiken erzeugt und bezieht sich nicht primär auf die Sachdimension, sondern primär auf die Sozialdimension der Praxis des Tausches. Eine theoretische Durchdringung des Gaben- und Geschenktau-
35 Auf diesen zentralen Aspekt des (geldvermittelten) Äquivalententausches komme ich unten (3.5) bei der Entwicklung einer Typologie von Praxisformen des Tausches ausführlich zurück.
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sches verdeutlicht also, dass Reziprozität, die sich im Tausch per se formal einstellt, sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, die es gilt, in einer differenzierten Typologie des Tausches angemessen zu formulieren (siehe dazu unten: Abschnitt 3.5). Denn im Gabentausch entsteht eine besondere Form der Reziprozität insofern, als sich die Formen des Tausches von Gaben zwischen zwei, von beiden am Tausch beteiligten Akteuren klar identifizierten Tauschpartnern immer wieder erneut ereignen, so dass eine dauerhafte Beziehung der Reziprozität zwischen diesen Akteuren entsteht. Dieser Praxiseffekt des Gabentausches, der ihn in seiner praktischen Logik von Formen des Warentausches deutlich unterscheidet, lässt sich formal wie folgt beschreiben:
Von einem Akteur (Ego) wird eine Gabe als Geschenk an einen zweiten Akteur (AlterEgo) offeriert. Die Gabe ist als Geschenk symbolisiert, deren Wert nicht als Preis quantifizierbar ist, weil sie als Gabe nur dann wirksam wird, wenn sie nicht ökonomisch bewertet wird. Dabei können auch immaterielle Zuwendungen als Geschenke symbolisiert sein. Das Schenken bezieht sich folglich sowohl auf materielle als auch auf immaterielle Zuwendungen von Ego an Alter-Ego. Ego erwartet von Alter keine explizite und äquivalente Gegenleistung, obwohl das Geschenk für Ego eine Aufwendung von Ressourcen (Arbeitskraft, Lebenszeit, Geld, Besitztümer etc.) bedeutet, was Alter erkennt. Alter-Ego wird durch die Gabe von Ego nicht nur als der Gabe würdiger Mit-Akteur anerkannt, sondern auch herausgefordert. Alter kann die Gabe annehmen oder ablehnen, was bedeutet, dass Alter-Ego die Herausforderung, die mit der Gabe verbunden ist, annehmen oder ablehnen kann. Wird die Gabe, also die Herausforderung durch Ego, von Alter-Ego angenommen, beginnt die Wirkung der Zeit, weil die Gabe nicht sofort zurückgegeben werden kann, was einer Ablehnung der Gabe durch Alter gleichkommen würde: Ego kann bei Annahme der Gabe durch Alter-Ego nicht sicher sein, von Alter-Ego eine Gegengabe zu bekommen, wodurch der möglicherweise mit dem Geschenk implizierte Test der Bindungs- und Beziehungsfähigkeit von Alter-Ego Erfolg hätte. Alter-Ego muss entscheiden, ob und wann welche Gegengabe an Ego gegeben wird. In dieser Zeit entfaltet sich das, was man mit Bourdieu die praktische Logik des Gabentausches nennen kann. Von den Akteuren werden Entscheidungen verlangt, die bestimmte Praktiken entstehen lassen. Steht am Ende dieses Prozesses die Gegengabe, also die zweite erste Gabe durch Alter-Ego an Ego kommt es zum sechsten, den Gabentausch abschließenden Schritt. Geschieht die zweite erste Gabe durch Alter-Ego an Ego zu einem späteren Zeitpunkt, entsteht eine soziale Bindung zwischen Alter-Ego und Ego nur dann, wenn die Gegengabe durch Ego angenommen und als angemessen empfunden wird. Die zweite erste Gabe darf nicht denselben Wert haben wie die erste Gabe, weil sich dann ein Tausch ereignet, der ökonomischen Gesichtspunkten gehorcht. Die Gegengabe erscheint im Gabentausch vielmehr als ein Geschenk, nämlich als zweite erste Gabe, die sich nicht auf die erste Gabe eines Anderen bezieht. Diese sechs Phasen des Gabentausches sind die notwendigen Schritte des hier zu behandelnden sozialen Mechanismus. Für diese Praxisform müssen die beteiligten Ak-
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teure konstitutiv über die Disposition verfügen, Gaben als Geschenke offerieren und erkennen zu können, ohne damit ökonomische Interessen zu verfolgen, wie es etwa bei der Gewährung eines Geschenks als Rabatt auf den Preis für eine bestimmte Leistung der Fall wäre. Der gebende Akteur muss in der Ungewissheit von Gegengaben Gaben offerieren und gleichzeitig Gaben annehmen. Diese Kontakte zwischen den unterschiedlichen Akteuren führen unter Umständen zu sozialen Bindungen, die aber in der Praxis der Gabe nicht kalkulativ intendiert werden. Diese formale Beschreibung der praktischen Logik des Gabentauschmechanismus’ kann für eine Soziologie des Tausches sinnvoll verwertet werden, wenn sie nicht modellplatonisch als reine Praxisform des Tauschens missverstanden, sondern als Idealtypus zur Identifikation und Beschreibung von unterschiedlichen Tauschformen genutzt wird. Die Frage, wie mit der theoretischen Durchdringung des Gabentauschmechanismus’ eine bessere Fundierung der soziologischen Tauschtheorie erreicht werden kann, lässt sich jetzt so beantworten, dass die reflexive Aufarbeitung der wichtigsten Theorien der Gabe die konstitutiven Praktiken des Gabentauschmechanismus’ verdeutlicht und zugleich die Form der Verkettung dieser Praktiken zu einer Praxisform mit strukturbildenden Praxiseffekten sichtbar macht. Dabei kristallisiert sich die kultursoziologische Notwendigkeit heraus, die Einzelpraktiken des Tausches sowohl als Ausdruck als auch als Quelle signifikanter symbolischer Formen begrifflich neu zu bestimmen. Dies ist die wichtigste theoretische Konsequenz der kultursoziologischen Rekonstruktion der Thematisierung des Gabentausches. Denn am Gabentauschmechanismus wird sichtbar, dass sich die praktisch wirksamen Prinzipien der Praxis des Tausches soziologisch nur dann begreifen lassen, wenn die soziologische Theorie die symbolische Dimension der Praxis als konstitutives Moment der Entstehung von Praktiken fasst, die sich zu Praxisformen verketten. Dies vermeidet es nicht nur, Praxisformen des Tausches, wie es Lévi-Strauss betreibt, aus einem normativen Prinzip der Reziprozität deduktiv abzuleiten, sondern erlaubt darüber hinaus eine Rekonstruktion von Praktiken und Praxisformen des Tausches aus den durch Praxis erzeugten und reproduzierten symbolischen Formen und Schemata, die der Praxis als objektivierte Sozialität zur Verfügung stehen. An der Praxisform des Gabentausches lässt sich somit paradigmatisch illustrieren, wie Formen des Tausches mit Hilfe der Praxistheorie als soziale Mechanismen gefasst werden können, die nur möglich werden, wenn sie im Vollzug der Praxis mit Symbolisierungen verbunden sind. Die praktische Logik des Gabentausches drückt sich genau in diesen symbolischen Formen aus, die den praktischen Sinn dieser Praxisform nicht nur veranschaulichen, sondern auch hervorbringen.36 Um dieses zentrale Ergebnis der theoretischen Rekonstruktion des Gabentausches für eine Typologie unterschiedlicher Tauschformen zu nutzen, muss zuvor die Frage beantwortet werden, wie die praktische Logik des Gabentausches mit der ihr scheinbar gänzlich ent-
36 Werden diese Symbolisierungen vernachlässigt, wie etwa in der Theorie der rationalen Handlungswahl, lässt sich vereinfachend behaupten, im Gabentausch werde letztlich nicht anders getauscht als im Warentausch, weil es hier wie dort ausschließlich darum ginge, über die Entäußerung von Wertgegenständen in den Besitz von Wertgegenständen zu kommen. Siehe zu dieser Fehlinterpretation der Gabe Esser (2000: 363), Coleman (1991: 400ff.) und Elster (1989: 113). Dass Gaben aus rationalem Kalkül, also aus strategischen Gründen gemacht werden können, wird dabei von mir, wie bereits mehrfach gesagt, nicht bestritten.
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gegen gesetzten praktischen Logik des Warentausches theoretisch in Beziehung gesetzt werden kann. Bevor ich also die von mir rekonstruierten Studien zum Waren- und Gabentausch verwerte, indem ich sie im übernächsten Abschnitt (3.5) zur Entwicklung einer Typologie des Tausches nutze, muss herausgearbeitet werden, ob und wie die hier rekonstruierte praktische Logik des Gabentausches als wichtiges Element der modernen Tauschpraxis gefasst werden kann. Hinter dieser Absicht steht die These, dass diese praktische Logik kein Rudiment, sondern ein konstitutiver Bestandteil der gegenwärtigen Tauschpraxis ist.
3.4 Die praktische Simultanität von Tauschlogiken Die Gabe ist keine Botschaft aus einer anderen, inzwischen untergegangenen Welt, die mit den Praxisformen der Gegenwartsgesellschaft nicht vereinbar ist (vgl. Elwert 1991; Adloff und Mau 2005b: 9ff.; Healy 2006: 17). Sie ist vielmehr ein Produkt gerade dieser Gesellschaft. Diese These widerspricht der weit verbreiteten, nicht zuletzt durch die Sozialphilosophien Batailles und Baudrillards suggerierten Position, nach der die Prinzipien des Gabentauschmechanismus’ in der modernen Gesellschaft immer mehr an Bedeutung verlieren, weil der Gabentausch, wie es auch in der Ethnologie seit Malinowski (vgl. beispielhaft Kämpf 1995: 125-165; Deterts 2002) und im Zentrum der gegenwärtigen Wirtschafts- und Marktsoziologie gesehen wird (siehe Abschnitt 3.2), durch die Formen des Warentausches verdrängt wird.37 Eine theoretische Durchdringung des Gabentausches, wie ich sie hier (siehe Abschnitt 3.3) vorgenommen habe, hätte dann nur begrenzte Evidenz und würde wie Nostalgie erscheinen. Denn allgemein anerkannt ist die Auffassung, die Logik der Praxis des Gabentausches reproduziere sich in der Moderne, wenn überhaupt, nur noch durch so genannte Primärbeziehungen in Familien, Freundschaften, Freundeskreisen oder Nachbarschaften.38 Dagegen muss deutlich gesagt werden, dass die praktische Logik des Gabentausches ein wichtiges Element der modernen Tauschpraxis ist, das sich in allen Bereichen der modernen Gesellschaft in unterschiedlicher Ausformung finden lässt. Die im Anschluss an Mauss’ ethnologisch gefärbter Studie zur Gabe formulierte Steigerungsformel Marshall Sahlins (vgl. 1981: 199) und Alvin Gouldners (vgl. 1984: 108f.), nach der sich die modernen Formen des Tausches aus den tribalistischen Formen des Gabentausches entwickelt haben, so dass der Gabentausch lediglich als Rudiment der modernen, unpersönlichen und auf Kalkulation basierenden Gesellschaft angesehen werden kann, ist nicht haltbar. Mit dieser Sicht wird suggeriert, die Logik der Praxis des Gabentausches verliere mit zunehmender „Modernisierung“ der Ökonomie vor allem für die Reproduktion moderner Märkte immer
37 An anderer Stelle (vgl. Hillebrandt 2006b: 161ff.) habe ich verdeutlicht, dass auch Bourdieu diese Auffassung mehr oder weniger teilt, indem er eine durch Kapitalismuskritik getarnte Modernisierungstheorie der Wirtschaft vertritt, deren zentrale These es ist, dass sich die Logik der Berechnung und Kalkulation im Feld der Wirtschaft durch „Intrusionsdynamiken“ (Volkmann und Schimank 2006: 232) mehr und mehr durchsetzt und dadurch die Ökonomie der symbolischen Güter verdrängt. Zur Kritik der Kapitalismuskritik Bourdieus vgl. auch Jürgen Mackert (2006), der zeigt, dass vor dem Hintergrund der „Varieties of Capitalism“-Forschung sowie des Konzepts der „State-Society Relations“ weder die Bourdieu’sche Homogenitätsthese einer globalen Durchsetzung des amerikanischen Staats-Modells noch seine Vorstellung vom „Abdanken des Staates“ zur Steuerung ökonomischer Prozesse haltbar sind. 38 Vgl. nur Caplow (1984); Cheal (1987); Camerer (1988); G. Clausen (1991); Berking (1996).
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mehr an Bedeutung. Missverständlich ist auch die Ansicht, dass in der Moderne bezüglich des preislosen Tausches, wie Erving Goffman (1982: 98) behauptet, lediglich „kurze, von einem Individuum gegenüber einem anderen vollzogene Rituale [übrig geblieben sind], die Höflichkeit und wohlmeinende Absicht auf Seiten des Ausführenden und die Existenz eines kleinen geheiligten Patrimonismus auf Seiten des Empfängers bezeugen“. Diese Formulierung verortet die „interpersonellen Rituale“ (ebd.) des Tausches, auch wenn Goffman von ihrer „Allgegenwart“ (ebd.) fasziniert ist, in Bereiche außerhalb etwa von Ökonomie und Politik, weil sie in diesen auf Kalkulation und Berechnung beruhenden Feldern nichts zu suchen haben. Ich vertrete dagegen die Ansicht, dass diese Rituale nicht nur, wie Goffman (ebd.) sagt, „eine armselige Variante dessen [sind], wonach Anthropologen in ihrem Reich suchen“. Sie sind konstitutive Bestandteile auch der gegenwärtigen ökonomischen Praxis. Denn die Gabe und der Gabentausch können nicht als Restkategorien moderner Märkte in der gegenwärtigen Ökonomie angesehen werden. Gabentausch und geldbasierter Warentausch, also die Praktiken des Kaufens, Verkaufens und Schenkens entstehen vielmehr simultan.39 Auf Kalkulation basierende Geldwirtschaft und Formen des Gebens von Gaben, die beispielsweise als Geschenke symbolisiert sind, entwickeln sich in Verflechtung miteinander (vgl. Callon 1998a: 13; Elwert 1991: 161). Mit dem Anwachsen der Geldwirtschaft intensiviert sich der Austausch von Gaben, da jetzt Gaben überhaupt von Waren unterschieden werden können, indem sie in spezifischer Form symbolisiert werden. Gibt es den geldbasierten Warentausch, wird es umso wichtiger, jene Gegenstände und Leistungen auszuweisen, die nicht als Waren symbolisiert werden können, weil sie nicht mit einem Preis versehen werden. Dann gibt es Dinge, die sich für Geld nicht kaufen lassen, die also nur dann Gegenstände des Tausches werden können, wenn sie verschenkt werden (vgl. Walzer 1998: 153f.). Dadurch wird es immer mehr zu einer moralischen Frage, ob bestimmte Dinge mit Geld erworben werden können oder nicht. Wir alle kennen diese Diskussion, wenn es etwa darum geht, dass politische Entscheidungen mit Geld erkauft worden sind. Wie dieses Beispiel verdeutlicht, sind die moralischen Konnotationen, die auch Mauss (vgl. 1990: 157f. und öfter) dem Wort Gabe gegeben hat, nur dann möglich, wenn die Gabe im Kontrast zu etwas anderem, der Gabe entgegen gesetztem gesehen wird, in dem Kalkulation die sozialen Beziehungen steuert. Dies lässt im Übrigen die Nützlichkeit der Dekonstruktion hervortreten, die Derrida auf den Mauss’schen Begriff der Gabe anwendet. Derrida ist zuzustimmen, wenn er die „moralischen Schlussfolgerungen“ (Mauss 1990: 157f.), mit denen Mauss seinen Gabenessay abschließt, wie folgt kommentiert: „Zunächst sollte man diese ‚Moralischen Schlussfolgerungen’ […] nicht übereilt als einen moralischen Epilog betrachten, der der Arbeit äußerlich wäre, als eine Parteinahme, die man ohne Schaden anzurichten von der Arbeit, die zuvor geleistet wurde, trennen könnte. Diese Werteskala war für sämtliche früheren Analysen [Mauss’] prägend. Sie hat das begriffliche Material, die Analyseinstrumente und den theoretischen Rahmen des Diskurses geliefert.“ (Derrida 1993: 87)
Mauss betrachtet die Praxis in tribalistischen Gesellschaften mit Begriffen, die in der kapitalistischen Gesellschaft entstanden sind. Und der Begriff Gabe, der von Mauss explizit mora39 Den Begriff der Simultanität der Tauschpraktiken des Kaufens, Verkaufens und Schenkens verdanke ich einem Hinweis von Heiner Ganßmann. Vgl. hierzu auch Hillebrandt (2007a).
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lisch aufgeladen wird und in den untersuchten geldlosen Stammesgesellschaften nicht bekannt ist, kann als ein besonders eindringliches Beispiel dafür angesehen werden, weil er nur möglich ist, wenn es Dinge gibt, die eben nicht als Gabe begriffen werden können und dennoch getauscht werden. Dies sind durch Geld und Preise als Waren symbolisierte Gegenstände und Leistungen, die nicht als Geschenke zu haben sind, sondern gekauft bzw. verkauft werden müssen, was in den von Mauss untersuchten Stammesgesellschaften definitiv nicht vorgekommen sein wird. Mauss beschreibt die dortigen Praxisformen mit Hilfe von Kategorien, die nur für seine Herkunftsgesellschaft schlüssig sind. Die Praxisformen in tribalistischen Gesellschaften sind jedenfalls nicht hinreichend mit dem Begriff der Gabe verständlich zu machen, weil sie sich nicht im Kontrast zu einer warenförmigen Tauschkultur gebildet haben. Deshalb kann der Gabentausch, wie er von Mauss beschrieben wird, nicht als Urform des Tausches, als der „Felsen“ (Mauss 1990: 163) der modernen Gesellschaft gefasst werden, dessen „Spaltungsprodukte“, wie Axel Paul (vgl. 2004: 60) annimmt, das moderne Schenken und der Warentausch sind. Explizit preislose Formen des Tausches sind genuine und endemische Hervorbringungen der kapitalistischen Gesellschaft, weil sie nur im Kontrast zu den warenförmigen Tauschformen entstehen können und in ihrer Entstehung nicht auf die Praxisformen in tribalistischen Gesellschaften bezogen sind. Stammesgesellschaften dienen nicht als Vorbild für moderne Schenkpraktiken. Marcel Mauss nimmt das moderne Schenken vielmehr als Vorbild für die Beschreibung der Praxis in Stammesgesellschaften.40 Ganz im Sinne dieses Arguments weist Nathalie Davis (vgl. 2002) in ihrer kulturanthropologisch-historischen Studie nach, dass sich beispielsweise in den kulturellen Erzeugnissen (Texten) im Frankreich des 16. Jahrhunderts, also zur Zeit der sich dort intensivierenden Geldwirtschaft, die neue Sorge ausfindig machen lässt, wie zwischen dem Geben von Geschenken und dem (Ver-) Kauf von Waren unterschieden werden kann, so dass Begriffe wie geben oder schenken überhaupt praktische Bedeutung erlangen.41 Im religiösen Kontext des Mittelalters sind hingegen vor allem Zuwendungen an Bettler eben nicht als Geschenke, sondern als Almosen, also als tägliche kleine Opfer symbolisiert, die durch eine transzendentale Macht nicht im Diesseits, sondern im Jenseits vergolten werden (vgl. Jussen 2003). Diese Praxisform wird in der frühen Neuzeit ergänzt, weil jetzt das geldlose Geben von Zuwendungen auch außerhalb religiöser Motive möglich wird und als Schenken symbolisiert ist. Das Schenken wird zu einer typisch modernen Tradition, die sich in allen Bereichen der Gesellschaft etabliert. Ganz in diesem Sinne zeichnet Helmuth Berking (vgl. 1996) in seiner kultursoziologischen Studie zum Phänomen des Schenkens in der Gegenwartsge-
40 Dieses Argument lässt sich auch damit belegen, dass die Ethnologen des frühen 20ten Jahrhunderts, auf die sich Mauss, der keine eigene Feldforschung durchgeführt hat, bezieht, in die Welt ziehen, um in den Stammesgesellschaften, die in Europa nicht mehr beobachtet werden können, den Ursprung und die Entstehungsgeschichte der Institutionen und Strukturen ihrer Herkunftsgesellschaft ausfindig zu machen. Siehe hierzu etwa Thunwald (1921) und für eine aktuelle Variante dieser Sichtweise Streck (1995). Dass dies die Beobachtungsmittel sowie die Ergebnisse der ethnologischen Forschung prädisponiert, können wir nach mehr als einhundert Jahren ethnologischer Forschung heute sehr genau erkennen, während es die Zeitgenossen der frühen Ethnologen, also etwa Mauss, nicht hinreichend als Manko der Untersuchungen reflektiert haben. Dass diese Einsicht gravierende Konsequenzen für die Wirtschaftsanthropologie hat, kann hier nur am Rande bemerkt werden. Siehe dazu Elwert (1991). 41 Ähnliche Ergebnisse erzielt Groebner (vgl. 2003) für die Entwicklung in der Schweiz und Rost (vgl. 1994: 22ff.) für die Entwicklung der Bedeutungsgehalte des Worts Schenken im germanischen Sprachraum nach 1600.
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sellschaft die Bedeutung dieser Praxisform zur Anbahnung und Pflege insbesondere von intimen Beziehungen zwischen Verwandten und Freunden nach, die sich eben gerade nicht mit Geld erkaufen lassen, obwohl das Geld selbst durchaus als Geschenk symbolisiert und dann verschenkt werden kann (vgl. hierzu Zelizer 1997: 71ff.). Zu besonderen Anlässen, etwa Geburtstage oder ausgewählte Feiertage, entwickelt sich eine rege Ökonomie des Schenkens, an der wir uns fast alle beteiligen, obwohl sie scheinbar jenseits jeder Notwendigkeit geschieht. Damit ist die Bedeutung der Praxisformen des Schenkens und des Geschenktausches aber noch nicht hinreichend erfasst. Denn Davis (2002: 189) hat Recht, wenn sie herausstellt, dass „eine Konsequenz der Vernachlässigung des ‚Schenkmodus’“ darin besteht, „nicht zu sehen, wie häufig er in der Welt um uns herum auftaucht, über die anerkannten, doch begrenzten Kategorien philanthropischer Beiträge und von Geschenken zum Geburtstag oder Feiertag hinaus“. Dazu muss an dieser Stelle nochmals betont werden, dass das Schenken selbstredend nicht auf das Geben von materiellen Geschenken begrenzt bleibt. Der Geschenk- und Gabentausch ereignet sich, wie ich oben (3.3) an Ricœurs Phänomenologie der Gabe verdeutlicht habe, regelmäßig als ein immaterielles Gewähren von Unterstützung und Hilfe, das auf Gegen- oder Wechselseitigkeit beruht. Folglich geht es bei der praxistheoretischen Berücksichtigung des Gabentausches als einer praktischen Logik mit weit reichender Bedeutung für die Gegenwartsgesellschaft nicht nur darum, Geschenke eindeutig von Waren zu unterscheiden, verbürgt durch die übliche Praxis, Preisschilder von Geschenken zu entfernen. Geschenke sind in unterschiedlichster Form symbolisiert und werden in allen Bereichen der Gesellschaft mit großen Praxiseffekten gegeben. In einer Praxistheorie des Tausches, die diese Praxiseffekte nicht ignorieren kann, geht es mit anderen Worten auch und entscheidend um die Überwindung der theoretischen Gegenüberstellung von gesellschaftlichen Bereichen, in denen Gaben als Geschenke getauscht werden, und der Ökonomie, in der der Tausch von Waren über die Praxisformen Kauf und Verkauf geschieht. Dies erlaubt es nicht nur, die Praxisform der Korruption und Vorteilsnahme durch Bestechung oder die in der philanthropischen Tradition stehende Praxisform der Stiftung von Geldern durch vermögende Privatpersonen und Konzerne (vgl. Sigmund 2000) genauer in den Blick zu nehmen. Sehr viel grundlegender erlaubt die Überwindung der weit verbreiteten Vorstellung, der Tausch sei in der modernen Ökonomie berechenbar, weil er als Kauf und Verkauf allein durch den Preismechanismus und das Verhältnis von Angebot und Nachfrage gesteuert ist, die Praxisform der gegenseitigen Gewährung von Vorteilen, die sich eben auch in der modernen Ökonomie durch eine praktische Logik des Gabentausches ereignet, angemessen als Strukturierungen der Praxis zu analysieren. Die praktische Simultanität der Gaben- und Warentauschlogik ist in allen Bereichen und Feldern der Gegenwartsgesellschaft wirksam. Dies lässt sich im Anschluss an Überlegungen von Georg Elwert (vgl. 1991: 162ff.) exemplarisch am Arbeitsvertrag illustrieren. Lohnarbeit ist zunächst augenscheinlich eine Praxisform, die im Kontext der Warentauschlogik praktisch wird. Die Arbeitskraft wird, wie wir seit Karl Marx wissen, auf dem Arbeitsmarkt zu einer Ware, die für Geld gekauft wird. Die Höhe des Lohnes, also der Preis, der für die Arbeitskraft gezahlt wird, ist eine Verhandlungssache, in der von keiner Seite Geschenke gemacht werden. Ist der Arbeitskontrakt abgeschlossen, wird jedoch simultan zur Warentauschlogik so gut wie immer eine andere, am Prinzip der Gabe und Gegengabe
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orientierte Tauschlogik praktisch. Denn für die Aufrechterhaltung von Arbeitsabläufen ist es nahezu in allen Arbeitszusammenhängen notwendig, dass Mitarbeiter sich gegenseitig mit Informationen versorgen, sich in bestimmten Situationen gegenseitig helfen und auch gelegentlich Arbeiten eines überforderten oder momentan überlasteten Kollegen übernehmen, obwohl sie dazu nicht verpflichtet sind. Hierbei handelt es sich streng genommen um unbezahlte Arbeitsleistungen, die regelmäßig praktisch werden und die deshalb vom Arbeitgeber relativ sicher erwartet werden können. Und auch der Arbeitgeber wird einen Mitarbeiter zumindest auf Zeit auch dann entlohnen, wenn seine Arbeitsleistungen unzureichend oder fehlerhaft sind. Insbesondere Formen der projektorientierten Arbeitorganisation, die sich in Unternehmen und Behörden immer mehr durchsetzen (vgl. nur Boltanski und Chiapello 2003: 176ff.), sind auf diese Simultanität von unterschiedlichen Tauschlogiken angewiesen, weil hier die Praxis der gegenseitigen Gewährung von Vorteilen programmatisch eng mit der Praxis des gewinnorientierten Geschäfts gekoppelt ist. Die Arbeitsteams können nur dann gemeinsam an einem Projekt arbeiten, also ein gutes Geschäft machen, wenn sie sich im Arbeitsverlauf gegenseitig unterstützen und sich nicht ausschließlich als Konkurrenten um höhere Positionen beobachten. Unternehmen nutzen die kulturelle Tradition der gegenseitigen Unterstützungsbereitschaft folglich dazu, die Arbeitsabläufe auch auf der Basis einer Gabentauschlogik neu zu organisieren, ohne dabei die berechnende Logik des Geschäfts zu negieren. Denn die am Prinzip der gegenseitigen Unterstützung orientierte Arbeitsorganisation steigert häufig die Effizienz der Arbeitsleistungen und ermöglicht deshalb höhere Gewinne. Die Simultanität unterschiedlicher Tauschlogiken wird, wie dieses Beispiel weiter zeigt, durch die Produktion und Reproduktion symbolischer Formen praktisch. Erst durch diese Symbolisierungen der Tauschpraktiken etwa in Konzepten der „corporate Identity“ und durch die damit verbundene Habitualisierung von Dispositionen der dem Unternehmen angehörigen Mitarbeiter ist die Bereitschaft der arbeitenden Akteure eines Unternehmens möglich, Praktiken innerhalb der praktischen Logik des Gabentausches auch am Arbeitsplatz zu initiieren, sich also, einfacher ausgedrückt, gegenseitig zu helfen. Dies geschieht nicht als reiner Altruismus, sondern wird nur dadurch zur üblichen Praxis, die relativ sicher erwartet werden kann, weil sich in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität Symbole des preislosen Gebens verdichtet haben, auf die die Akteure auch im vermeintlich rational organisierten Bereich der Erwerbsarbeit zurückgreifen, obwohl die praktische Logik des Arbeitsvertrages auf die symbolischen Formen der Kalkulation und Berechnung beruht. Diese Simultanität von Tauchlogiken wird nicht nur innerhalb von Unternehmen wirksam, sondern auch zwischen Unternehmen, die in bestimmten Situationen nicht nur konkurrieren, sondern kooperieren, um bessere Geschäfte und höhere Gewinne machen zu können. Wenn die aktuellen Beschreibungen der Entwicklung der Ökonomie zutreffen, nach denen sich, wie unter anderem die breit angelegte Zeitdiagnose Manuel Castells (vgl. 2001) hervorhebt, die dortigen Praxisformen immer mehr vernetzen, was sich in einem „neuen Geist des Kapitalismus“ (Boltanski und Chiapello 2003) ausdrückt, kann das Theorem der praktischen Simultanität von unterschiedlichen, zunächst gegensätzlich erscheinenden Tauschlogiken zu Erklärungen beitragen, wie sich diese Vernetzungen bilden und reproduzieren. Die möglichen Kontrahenten auf dem Markt gewährten Vorteile, die als Gaben oder Geschenke ver-
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standen werden können, generieren soziale Beziehungen (soziales Kapital). Obwohl sie im Widerspruch zur angeblichen Marktlogik stehen, sind sie keine seltenen Ausnahmen der wirtschaftlichen Praxis, sondern ereignen sich regelmäßig in enger Verbindung mit den Praxisformen des Kaufs und Verkaufs. Hiermit meine ich nicht nur die alltäglichen Rituale der, wie man im Anschluss an die praxissoziologische Analyse des Gabentausches sagen könnte, „symbolökonomischen“ Auskleidung warenökonomischer Beziehungen. Diese Rituale, etwa die gegenseitige Bewirtung bei der Besiegelung von Kaufverträgen oder Geschäftskooperationen, sind den Beteiligten so selbstverständlich, dass sie ihnen erst dann sichtbar werden, wenn sie ausbleiben, was unter Bedingungen, die dann genauer zu untersuchen wären, zu einer nachhaltigen Transformation der Geschäftsbeziehung führen kann. Gemeint sind auch die Geschenke und Vorteilgaben zur Anbahnung von dauerhaften Beziehungen auf Märkten, die unter bestimmten Bedingungen beträchtliche Ausmaße annehmen können und den Akteuren oft nicht als das bewusst werden, was sie in der Sicht der soziologischen Theorie sind: Praxisformen zur Akkumulation stabiler sozialer Beziehungen, die unter bestimmten Bedingungen als soziales Kapital eingesetzt werden können.42 Empirische Untersuchungen der sozialen Strukturbildungen in der Transportwirtschaft zeigen beispielsweise den Trend, dass sich Kooperationen, also spezifische Formen sozialer Netzwerke, in der Regel aus bereits vorhandenen Vertrauensbeziehungen zwischen Unternehmen bilden, die sich über soziale Tauschbeziehungen dauerhaft eingestellt haben. Leitfadengestützte Experteninterviews mit Geschäftsführern von Speditionskooperationen unterschiedlicher Größe und Intensität, die im Projekt „Modellierung sozialer Organisationsformen in Soziologie und VKI“43 im Rahmen einer empirischen Studie durchgeführt wurden, geben Aufschluss darüber, wie diese Beziehungen entstehen, aufrechterhalten und zu Kooperationsbeziehungen ausgebaut werden. Hier wird der Tausch von Geschenken regelmäßig als Anbahnungs-, Reproduktions- und Ausbaumechanismus reziproker sozialer Beziehungen mit anderen Unternehmen genannt. Ein Geschäftsführer einer mittelgroßen Spedition äußert auf die Frage nach den Gründen der Kooperationsbildung beispielhaft: „Meine Aufgabe ist, mein eigenes Unternehmen, das seit 1989 besteht, dahin zu führen, dass wir unsere Schwächen durch Kooperation egalisieren. Das ist der einzige Grund für mich, eine Kooperation einzugehen. Gleichzeitig muss das aber aus, wie ich immer so schön sage, Geben und Nehmen bestehen. Sie können also in einer Kooperation nicht immer der Partner sein, der die Vorzüge genießt, aber nicht bereit ist, etwas hinein zu geben. Das Container-KooperationsSegment führt eindeutig dazu, dass alle etwas hinein geben und alle etwas zurückbekommen. Allerdings, und das ist das eigentliche Problem, das hat besonders mit der Konstruktion der Firma zu tun, können Sie den genauen Gradmesser nicht feststellen.“
Diese und ähnliche Aussagen aus den insgesamt elf durchgeführten Interviews führen mich in Kombination mit den Ergebnissen der theoretischen Durchdringung des Gabentausch42 Vgl. zum praxissoziologischen Begriff des sozialen Kapitals Bourdieu (1992; 2005c) und zur Anwendung des Begriffs in praxistheoretischer Ausrichtung Albrecht (2004) und Dederichs (1999). Wichtig ist es, zwischen sozialen Beziehungen und sozialem Kapital zu unterscheiden, weil nicht jede soziale Beziehung im Kampf um den sozialen Vorteil als soziales Kapital eingesetzt wird. 43 Vgl. Dederichs et al. (2000); Dederichs und Moock (2001); Dederichs und Florian (2004); Hillebrandt et al. (2004: 208ff.)
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mechanismus’ auf die These, dass Formen des Tausches als soziale Mechanismen der Netzwerkbildung angesehen werden können. Den überwiegenden Teil der gegenwärtigen Wirtschaftssoziologie muss dies überraschen, denn hier wird der Tausch in der Regel nicht als strukturbildender Mechanismus thematisiert, sondern als die problemlos in Kosten-NutzenSchemata rekonstruierbare Basis-Handlung des ökonomischen Marktes, die für die „geräuschlose“ Reproduktion des Wirtschaftssystems sorgt. Dagegen zeigt meine Argumentation: Die Simultanität der Tauschlogiken des Waren- und Gabentausches ist eine wichtige Bedingung für die Entstehung geldvermittelter Tauschformen.44 Diese Formen des Tausches auf Märkten sind, entgegen der Vorstellung neoklassischer Wirtschafts- und Markttheorien, eng an die praktische Konstitution und Reproduktion dauerhafter Sozialbeziehungen gekoppelt, die sich nicht unter eine Logik der Kalkulation subsumieren lassen. Die praktische Logik des Gabentausches ist mit anderen Worten eine notwendige Voraussetzung der Stabilisierung von geldgesteuerten Tauschbeziehungen: Durch die preislose Tauschpraxis des Gebens, Nehmens und Erwiderns von Geschenken werden die für die Praxis des Marktes notwendigen sozialen Beziehungen geschaffen, durch die soziale Marktbeziehungen auf Dauer gestellt werden. Der gegenwärtige Markt und die in ihm wirksam werdenden Tauschformen können folglich ohne die praktische Logik des Gabentausches nicht dauerhaft bestehen, weil jede Gabe als praktisches Ereignis Erwartungen auf eine Gegengabe konstituiert und dadurch soziale Bindungen erzeugt oder verstärkt. Deshalb wird in nahezu jeder Markttransaktion nicht nur eine auf Kalkulation basierende Logik, sondern simultan dazu auch eine die Kalkulation transzendierende Logik des Gabentausches praktisch. Erst die praxistheoretische Rekonstruktion der modernen Tauschpraxis als eine Simultanität der Praktiken des Kaufens, Verkaufens und Schenkens, die eine ausschließende Gegenüberstellung von Gaben- und Warentausch überwindet, macht es möglich, die gegenwärtig regelmäßig praktisch werdenden Formen des Tausches zu bestimmen, die die Praxis auf Märkten strukturieren. Am Gabentausch wird also nicht nur die Notwendigkeit sichtbar, Praktiken kultursoziologisch zu bestimmen, weil beispielsweise bereits das Schenken – der Ausgangspunkt des Gabentausches – nur mit der gleichzeitigen Produktion von praxisrelevanten Symbolen praktisch werden kann. Die reflexive theoretische Konstruktion einer kultursoziologischen Tauschtheorie im Anschluss an Bourdieu kann zudem dazu beitragen, die Verengung der Markt- und Wirtschaftssoziologie auf die Paradigmen der Berechnung und Kalkulation, die in einer Praxistheorie als kulturell erzeugte symbolische Formen der Praxis verstanden werden können, zu überwinden, indem Praxisformen des Tausches als soziale Mechanismen zur Strukturierung der Marktpraxis im Feld der Wirtschaft modelliert werden. Dazu muss gesehen werden, dass jeder Tausch aus mehreren Tauschpraktiken besteht, die mit kulturell erzeugten symbolischen Formen versehen sind, weil sie sich nur so zur Praxisform des Tausches verketten können. Deshalb setzt der hier entwickelte soziologische Begriff des Tausches kultursoziologisch an, um die Vielfalt der Praxisformen des Tausches angemessen in den Blick nehmen zu können. Eine an diese Begriffsbildung anschließende Praxistheorie des Tausches zeichnet sich dadurch aus, rationalistische, strukturalistische sowie funktiona-
44 Die folgende Präzisierung meines Arguments der Simultanität von Tauschlogiken verdanke ich einem Hinweis von Jens Beckert.
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listische Erklärungsansätze – etwa die Theorie der rationalen Handlungswahl eines Coleman, einen deterministischen Strukturalismus im Stile von Lévi-Strauss oder einen ausgefeilten Äquivalenzfunktionalismus à la Luhmann – als unzureichend abzulehnen und mit den Mitteln einer Kultursoziologie symbolischer Formen der Reziprozität zu überwinden. Eine so verstandene Praxistheorie des Tausches erfasst, dass sich in der Gegenwartsgesellschaft über symbolische Formgebungen eine praktische Logik des Gabentausches reproduziert, die simultan zur praktischen Logik des Warentausches ein wichtiges Element gesellschaftlicher Strukturdynamiken ist. Um diesen Strukturdynamiken auf die Spur zu kommen, ist es wenig hilfreich, eine theoretische Konstruktion von Modellen des reinen Gabentausches und des reinen Warentausches zu entwickeln und diese Tauschformen in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber zu stellen. Wird diese klassische Sichtweise überwunden, lässt sich erkennen, dass das Kaufen, Verkaufen und Schenken simultan entstehende Praktiken sind, die sich zu unterschiedlichen Praxisformen des Tausches verketten. Und diese Simultanität von Praktiken ist für eine Eingrenzung unterschiedlicher Tauschformen von zentraler Bedeutung, da mit der Praxistheorie davon ausgegangen werden muss, dass es den reinen Gabentausch ebenso wenig gibt, wie den reinen Warentausch. Die theoretischen Konsequenzen der Ergebnisse der Diskussion der vielfältigen Thematisierung des Waren- und Gabentausches können mit anderen Worten in ihrer Reichweite für eine praxissoziologische Theorie des Tausches genauer bestimmt werden, wenn sie zur Entwicklung einer Typologie von Tauschformen genutzt werden. Ging es also bis zu dieser Stelle vorrangig darum, eine reflexive Basis zur Bestimmung von Tauschformen zu gewinnen, indem die breite Theoriediskussion unterschiedlicher Tauschlogiken kritisch rekonstruiert und ausgewertet wurde, kommt es nun darauf an, aus den daraus erzielten Ergebnissen eine Typologie der Praxisformen des Tausches zu entwickeln, die den im ersten Teil dieser Arbeit entwickelten Paradigmen einer soziologischen Theorie der Praxis gerecht wird. Dies ist Thema des nächsten Abschnitts.
3.5 Praxisformen des Tausches Der Tausch ist eine vielfältige Praxis, in der sich Tauschpraktiken in sehr unterschiedlicher Weise zu Tauschformen verketten. Deshalb reicht eine ausschließende Gegenüberstellung von zwei Tauschprinzipien zur Identifikation der vielfältigen Praxisformen des Tausches nicht aus. Sie ist nicht komplex genug, um die praktische Simultanität von Tauschlogiken angemessen zu erfassen. Das, was etwa Blau (vgl. 1992: 91f.) mit strikt ökonomischem Tausch bezeichnet, ist, wie bereits angedeutet, in den meisten Fällen simultan mit Komponenten verbunden, die sich im Gabentauschmechanismus finden lassen. Und ein reiner Gabentausch ist ebenfalls nur schwer vorstellbar, weil es, wie meine Diskussion preisloser Tauschformen verdeutlicht, eine Entäußerung von Gaben als reinen Altruismus praktisch nicht geben kann. Deshalb muss in einer Typologie von Tauschformen die praktische Simultanität unterschiedlicher Tauschlogiken abgebildet werden. Diesbezüglich zeigt die kultursoziologische Erweiterung der Tauschtheorie zu einer Praxistheorie des Tausches, dass hierzu die symbolische Ebene der Tauschpraktiken sehr genau zu berücksichtigen ist, weil sich auf ihr die Simultanität unterschiedlicher Logiken des Tausches praktisch bündelt.
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Diese Formung von Sinn in Symbolen macht die reziproke Verkettung der einzelnen Tauschpraktiken zu Praxisformen des Tausches wahrscheinlich. Die mit dem Tausch verbundene symbolische Formgebung ist folglich der zentrale Ausgangspunkt für eine Typologie des Tausches. Denn erst durch die mit dem Tausch verbundenen Symbolisierungen wird sichtbar, dass das Geben, Nehmen und Erwidern eine hoch komplexe Praxis ist, die sich der soziologischen Theorie nur dann erschließt, wenn sie eindimensionale Beschreibungsformen des Tausches hinter sich lässt.45 Modelltheoretisch (vgl. Ziegler 1972; Müller-Benedict 2003) formuliert, müssen Tauschmodelle folglich multidimensional konstruiert werden, um Praxisformen des Tausches im Spannungsfeld zwischen „Reduktion und Adäquanz“ (Schimank 2002: 151) so praxisnah wie möglich theoretisch fassen zu können. Es geht bei der folgenden Bestimmung von Tauschformen also nicht darum, diese durch Reduktion als einfache, „saubere“ (Schimank 2005: 15) Mechanismen zu bestimmen, die sich zwar kausal rekonstruieren lassen, der Tauschpraxis aber nicht adäquat sind. Denn in der soziologischen Forschung wird allgemein anerkannt, „dass es in der Welt des Sozialen kaum universelle, deterministische Zusammenhänge zwischen zwei in ihren möglichen Ausprägungen konstant bleibenden Variablen gibt“ (Mayntz 2002: 21), die sich als kausale Mechanismen beschreiben ließen. Weil dies nach meiner Überzeugung, die ich aus den bisherigen Ergebnissen dieser Arbeit gewinne, auch für den Tausch gilt, strebe ich im Folgenden die Konstruktion von „’dirty’ Models“ (Schimank 2005: 15) des Tausches an, durch die ein adäquater Umriss der Tauschpraxis möglich gemacht wird. Der Zweck dieser Bestimmung ist es, ein soziologisches Verständnis für ausgewählte Tauschformen zu entwickeln, um auf diese Weise die Tauschpraxis jenseits der zu einfachen Dichotomisierung von Waren- und Gabentausch als soziologisches Forschungsfeld neu zu vermessen. Werden zu einer so verstandenen Bestimmung von Tauschformen die bisher herausgearbeiteten Kernaspekte einer Praxistheorie des Tausches rekapituliert, zeigt sich schell, dass die Entwicklung einer angemessenen Typologie des Tausches keine leichte Aufgabe ist. Innerhalb der Praxis generierenden Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität formt sich der praktische Sinn des Tausches auf mehreren Dimensionen des Sinngeschehens zu symbolischen Formen. Diese Sinnformen sind aufeinander bezogen. Sie werden nur in ihrer Verflechtung praxisrelevant. Um diese Verflechtung sichtbar zu machen, habe ich oben (3.1) einen Begriff des Tausches vorgeschlagen, der nicht nur die Verkettung einzelner Tauschpraktiken zur Praxisform des Tausches deutlich macht, sondern diese Verkettung zudem mit den unter anderem von Luhmann (vgl. 1984: 112) eingeführten drei Dimensionen des Sinngeschehens kombiniert. Diese sind die Sach-, Sozial- und Zeitdimension. Werden die bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit auf diese drei Sinndimensionen bezogen, entsteht ein adäquates Bild der Praxisformen des Tausches.
45 Meine Überlegungen weisen an dieser Stelle große Überschneidungen mit dem sich von Frankreich aus immer mehr verbreitenden Ansatz einer Ökonomie der Konventionen auf. Wenn Luc Boltanski und Laurent Thévenot (vgl. 2007) Rechtfertigungsordnungen skizzieren, die als Konventionen die Praxis auf Märkten steuern, ist diese Vorgehensweise der hier verfolgten sehr ähnlich, die sich auf die Eingrenzung symbolischer Formen des Tausches konzentriert. Siehe für eine aufschlussreiche Einführung in die „Ökonomie der Konventionen“ die knappe Darstellung des Ansatzes durch Robert Salais (2007).
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Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die theoretische Unterscheidung zwischen Sach-, Sozial- und Zeitdimension allein aus heuristischen Gründen geschieht, um symbolische Formen des Tausches exakt bestimmen und analysieren zu können. Die Praxis des Tausches, also der praktische Vollzug von Tauschformen, ereignet sich durch die Kombination der symbolischen Formen, die sich auf den genannten drei Dimensionen des Sinngeschehens verdichten. Um aber genau dies sichtbar zu machen, beginne ich mit der Bestimmung der sachlichen Symbole des Tausches (3.5.1), die ich im zweiten Schritt mit den symbolischen Formen des Tausches, die sich auf der Sozialdimension der Tauschpraxis bilden, theoretisch verbinde (3.5.2). Im dritten Schritt komplettiere ich dieses theoretische Modell, indem ich die Zeitdimension der Tauschpraxis zur Analyse der Prozessformen bestimmter Tauschformen untersuche (3.5.3). Diese iterative Vorgehensweise erlaubt es, komplexe Praxisformen des Tausches zu bestimmen, die sich aus der spezifischen Form der Verflechtung von sachlichen, sozialen und zeitlichen Symbolen des Tausches ereignen. Dabei werde ich mich in der Auswahl der Beispiele, die meine Argumentation stützen sollen, vor allem auf Praxisformen des Tausches konzentrieren, die nach meiner Einschätzung für die Praxis der Gegenwartsgesellschaft in besonderer Weise relevant sind, weil sie sich mit großer Regelmäßigkeit ereignen. Zur Typisierung von Tauschformen vermeide ich also nicht nur eine Dichotomisierung von Gaben- und Warentausch. Ich gehe ebenso wenig von seltenen Extremformen des Tausches aus, sondern wähle einen anderen, vom Begriff der Praxis (siehe dazu oben, Abschnitt 2.3) angeregten Weg, mit dem modellplatonische Untersuchungen des Tausches gerade überwunden werden sollen.46 In dem Abschnitt, der die Analyse der Tauschformen abschließt (3.5.4), überführe ich die Ergebnisse der Argumentation in ein Schema zur soziologischen Bestimmung von Tauschformen, das ich abschließend an den Themenkomplexen Korruption und Netzwerkbildung erprobe.
3.5.1
Die Sachdimension der Tauschpraxis
Auf der Sachdimension des Tausches formt sich der praktische Sinn vor allem in Bezug auf die zu tauschenden Dinge und Leistungen. Entsprechend der sachlichen Dimension von Praxis, die traditionell durch die Kategorienlehre repräsentiert wird (vgl. Luhmann 1997: 1136), werden Gegenstände der Praxis konstruiert, indem sie als bestimmte Gegenstände in Differenz zu allen anderen potenziellen Gegenständen bezeichnet und praktisch gehandhabt werden. Es geht hier also nicht um die substanzielle Bestimmung von Dingen (siehe dazu oben, Abschnitt 2.3.2), sondern um die Sinnelemente, die etwas Bestimmtes zum Gegenstand der Praxis formen. Diese Formen des Sinns beziehen sich im Kontext der Tausch-
46 Diese Vorgehensweise entspricht einer zentralen Einsicht Simmels in den Tausch: „Wie aber dem höheren Menschen neben und über den subjektivistischen Antrieben von Egoismus und Altruismus – in deren Alternative die Ethik leider noch die menschlichen Motivierungen einzusperren pflegt – objektive Interessen erwachsen, ein Hingegebensein oder Verpflichtetsein, das gar nicht mit Verhältnissen von Subjekten, sondern mit sachlichen Angemessenheiten und Idealen zu tun hat: so entwickelt sich, jenseits der egoistischen Impulsivität des Raubes und der nicht geringeren altruistischen des Geschenks, der Besitzwechsel nach der Norm objektiver Richtigkeit und Gerechtigkeit, der Tausch.“ (Simmel 1989: 600f.) Wichtig ist mir allerdings, dass der Tausch, wie Simmel es mit dieser Aussage missverständlich suggeriert, nicht auf die Formen des „Besitzwechsels“ begrenzt werden sollte. Siehe dazu oben, Abschnitt 3.1.
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praxis zum einen auf das, was im Tausch gegeben wird, und zum anderen darauf, was als Erwiderung des Gegebenen zurückgegeben wird. Für die Praxisform des Tausches ist es charakteristisch, dass sich Gabe und Gegengabe sachlich voneinander unterscheiden, dass sie also nicht identisch sind. Denn im Tausch wird eine Gabe nicht durch die selbe Gabe erwidert, weil ein Zurückgeben der zuvor erhaltenen Gabe nicht als Tausch, sondern als offensichtliches Scheitern des Tauschvorgangs verstanden werden muss. Obwohl sich vorstellen lässt, dass fast alles gegen alles getauscht werden kann, muss im Kontext der Sachdimension des Tauschgeschehens gesehen werden, dass der größte Anteil aller verfügbaren Dinge und Leistungen nicht getauscht oder entäußert, sondern als Besitz bewahrt wird. Ihre Entäußerung im Tausch ist nur dann möglich, wenn sie auf der Sachdimension des Sinngeschehens als Tauschgegenstände symbolisiert sind und diese Symbolisierung für Tauschakteure einen praktischen Sinn ergibt. Die Vielfältigkeit der in diesem Zusammenhang praxisrelevanten symbolischen Formen reicht von der mit einem Preis versehenen Sachleistung, die gegen Geldsummen, also gegen Tauschmöglichkeiten getauscht wird, bis hin zur Gewährung und Erwiderung von Aufmerksamkeit und Anerkennung. Die Sachdimension der Tauschpraxis ist folglich nicht nur auf sachliche, materielle Dinge bezogen, die getauscht werden, sondern bezieht sich auf alles, was zum Gegenstand des Tausches werden kann, was also als Tauschgegenstand symbolisiert wird. So können bestimmte Dienstleistungen, wie psychiatrische Therapie oder Rechtsbeistand, gegen Geld zum Tausch angeboten werden, während andere immaterielle Tauschgegenstände nicht verkauft, sondern nur verschenkt werden können, wie etwa ein freundschaftlicher und nicht professioneller Rat oder Formen der gegenseitigen Unterstützung in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz oder in der Familie. Wie bereits an diesen Beispielen deutlich wird, ist die Form, wie etwas als Gegenstand des Tausches symbolisiert wird, nicht unerheblich dafür, wie sich Tauschpraktiken zur Praxisform des Tausches verketten. So ist evident, dass Gegenstände, die mit einem Preis versehen sind, als Tauschgegenstände erkannt werden, während die symbolischen Formen zur kulturellen Repräsentation eines Gegenstandes als Geschenk deutlich komplexer konstruiert sind und sich häufig erst in der konkreten Übergabe des Geschenkes erzeugen lassen. Wenn also davon gesprochen wird, dass etwas als Tauschgegenstand symbolisiert wird, ist zunächst nichts anderes gemeint, als dass Gegenstände und Leistungen nur dann getauscht werden können, wenn sie durch symbolische Formen als Tauschgegenstände sichtbar werden und dadurch zu Praktiken des Tausches Anlass geben. Der hier verwendetet Symbolbegriff fasst, dies sei hier zur Klärung der Argumentation noch einmal herausgestellt, Symbole nicht als außeralltägliche Verdichtungen von Sinn, sondern als alltägliche Bestandteile der Lebenswirklichkeit von sozialen Akteuren. Symbolische Formen sind also nur dann für die Kultursoziologie des Tausches relevant, wenn sie ein Ausdruck des praktischen Sinns sind, der im Vollzug der Tauschpraxis entsteht. Symbole sind also nicht als Verschleierungen der Praxis zu verstehen, sondern vielmehr als ihre realen Ausdrucksformen. Auf der Sachdimension der Tauschpraxis geht es in diesem Zusammenhang nicht nur darum, wie etwas als praxisrelevanter, also realer Tauschgegenstand symbolisiert wird, sondern auch um den Wert, der den getauschten Gegenständen durch symbolische Formen zugeschrieben wird. Es geht also mit anderen Worten um die Symbole der Bewertung von Dingen und Leistungen, die Gegenstände des Tausches sind. Steht in diesem Zusammen-
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hang die Wertäquivalenz von Gabe und Gegengabe im Vordergrund der Praxis, kann von sachbezogenem Tausch gesprochen werden, weil die Bewertungsmaßstäbe für die einzelnen Tauschpraktiken sich primär auf der Sachdimension der Tauschpraxis bilden und nicht primär daran orientiert sind, wer mit wem etwas tauscht. Wertäquivalenz meint, dass die zu tauschenden Dinge oder Leistungen – dies können Sachgegenstände, sachbezogene Dienstleistungen wie Müllabfuhr, Reparaturen und Gebäudereinigungsdienste sowie personenbezogene Dienstleistungen wie medizinische Versorgung und Psychotherapie und andere Arbeitsleistungen sein – in ihrem sachlichen Wert miteinander verglichen werden. Im Praxisprinzip eines primär sachbezogenen Tausches kommt es dann zum Austausch der beiden Tauschgegenstände, wenn von den beteiligten Akteuren eine Äquivalenz ihrer Werte festgestellt und symbolisch im Preis und in der Anerkennung des Preises ausgedrückt wird. Das Tauschmittel Geld erzeugt die Berechenbarkeit der sachlichen Wertäquivalenz, die sich darin ausdrückt, dass die Tauschgegenstände für die anbietenden Akteure einen in Geldgrößen quantifizierbaren Tauschwert und für die nachfragenden Akteure einen in Geldgrößen quantifizierbaren Gebrauchswert haben. Geld ist also im primär sachbezogenen Tausch nicht nur Tauschmittel, sondern auch „Äquivalenzmaßstab“ (Walzer 1998: 162). Mit dieser Eigenschaft des Geldes verwandeln sich die Dinge und Leistungen dann in marktfähige Tauschgegenstände, wenn ihr Wert symbolisch in Geld ausgedrückt wird, wenn sie also einen Preis erhalten. Dadurch werden sie als marktfähige Güter und Dienstleistungen symbolisiert, die gekauft und verkauft werden können. „Der Markt ist der Ort, an dem das Geld seine Arbeit verrichtet“ (ebd.: 163). Wie Kieran Healy (vgl. 2006; 2000) in seinen Studien über den Markt für menschliche Organe und menschliches Blut verdeutlicht, ist die sachliche Frage nach der so genannten Marktfähigkeit bestimmter Güter und Produkte nicht so leicht zu beantworten, wie es zunächst scheint. Menschen, Freundschaft, Liebe oder auch gegenseitiger Respekt und wechselseitige Anerkennung sind wie politische Macht, Rechtssprechung, Rede-, Presse-, Religions- und Versammlungsfreiheit in unserer Kultur als Güter, oder besser als Werte symbolisiert, die sich nicht als Waren auf dem Markt verkaufen und kaufen lassen, deren Wert also nicht einfach in Geldgrößen ausgedrückt werden kann (vgl. Healy 2006: 6; Walzer 1998: 157ff.). Obwohl auf Geld basierende „Marktbeziehungen“, wie Walzer (1998: 183) sagt, „expansiv“ sind, weil die praktische Logik des Marktes prinzipiell „jedes soziale Gut … in eine Ware verwandelt“ (ebd.), wird der Markt, wie auch Neil Fligstein (vgl. 1996) deutlich macht, durch praktische Normen und Institutionen begrenzt. „Die zahlreichen blockierten Tauschaktivitäten haben Schrankenwirkung, sind Kontrollen, die nicht allein von Staatsfunktionären praktiziert werden, sondern auch von einfachen Bürgern, die ihre Interessen verfechten und ihre Rechte geltend machen.“ (Walzer 1998: 183) Selbstredend ist es zwar möglich, Anerkennung durch besondere Freigiebigkeit oder politische Macht durch geschickt platzierte Geschenke zu erwerben, als Markttransaktionen erscheinen diese Praktiken jedoch praktisch nicht. Sie sind als Formen der Stiftung oder der Korruption symbolisiert. Sighard Neckel (1995) bringt diesen Gedanken in seinem Essay über die Korruption als eine Form des „unmoralischen Tausches“ wie folgt auf den Punkt: „Wo der Kauf regiert, wird Käuflichkeit zur schäbigen Eigenschaft, weil sie die Grenzen dessen bedroht, was eine Kultur sich selbst zum unveräußerlichen Wert erklärt. Liebe gegen Liebe, Ver-
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3 Praxistheorie des Tausches trauen gegen Vertrauen, Ware gegen Geld – darüber regt sich niemand auf, noch muten derartige Transaktionen der modernen Gesellschaft anhaltend sonderbar an. Doch Wählen gegen Rechnung, Richtersprüche nach dem höchsten Angebot, Mitgefühl auf Barscheck, Lebensrettung nach Bezahlung, Rechte nur für Reiche – das wird allemal als illegitimer Akt des sozialen Tausches empfunden, weil es gegen die moderne Interpretation des modernen Äquivalenzprinzips verstößt, dass Höher- für Minderwertiges, Wertvolles für Geringschätziges keinesfalls fort gegeben werden darf.“ (Neckel 1995: 11)
Obwohl, wie ich unten (3.5.4) noch genauer zeigen werde, Formen des „unmoralischen“ Tausches allgegenwärtig sind, werden sie als Korruption negativ symbolisiert und erscheinen nicht als Tauschformen im Praxisprinzip des Marktes. Für Korruption gibt es mit anderen Worten keinen öffentlichen Markt, weil sie konstitutiv im Verborgenen praktisch werden muss. Ebenso geschieht der Handel mit Menschen zwar regelmäßig. Er ist jedoch eine Straftat und deshalb gibt es auch für ihn keinen offiziellen Markt. Menschen sind in unserer Kultur inzwischen unveräußerlich und können deshalb nicht zu einer Ware geformt werden. Und was immer für Geld in der westlichen Kultur gekauft werden kann, es wird nie Liebe oder Freundschaft sein, sondern höchstens Sex oder Pflichtschuldigkeit. Soll es zu einer Liebes- oder Freundschaftsbeziehung kommen, werden andere als die primär marktförmigen Tauschpraktiken notwendig, auf die noch zurückzukommen sein wird. Dennoch lässt sich sagen: Die auf der Sachdimension der Tauschpraxis virulente Frage nach der Marktfähigkeit von Gütern, Dienst- und Arbeitsleistungen ist eine wichtige Quelle zur Formung von Symbolen, die für die Tauschpraxis von großer Bedeutung sind. Diese Symbolisierungen führen unter anderem zu einer sachlichen Differenzierung des Marktes, indem auf der Sachdimension der Tauschpraxis die Gegenstände des primär sachbezogenen Tausches symbolisch voneinander unterschieden werden, was sich bereits darin ausdrückt, dass es spezialisierte Anbieter von Waren gibt, die eben zum Beispiel entweder Autos oder Lebensmittel verkaufen. Es entstehen Märkte für spezielle Güter und Dienstleistungen, also etwa der Kunstmarkt, der Konsummarkt, der Immobilienmarkt, der Automarkt, der Lebensmittelmarkt, der Rohstoffmarkt, der Finanzmarkt, der Markt für menschliche Organe oder der Arbeitsmarkt, der sich wiederum in diverse Bereiche differenziert und auf den ich unten noch genauer zurückkommen werde. Diese zweifellos wirksame Expansion der Marktlogik auf diverse Sachen und Dienstleistungen sollte eine soziologische Theorie des Tausches allerdings nicht dazu verleiten anzunehmen, alles werde zum Bestandteil einer expansiven Marktlogik. Denn nicht alles kann gekauft und verkauft werden. Obwohl es Sachen gibt, die sich scheinbar relativ leicht als Gegenstände des primär sachbezogenen Tausches symbolisieren lassen, und die Alltagsmeinung vorherrscht, alles sei käuflich, ist es in vielen Fällen sehr kompliziert, die so genannte Marktfähigkeit bestimmter Güter und Leistungen symbolisch zu formen. Die Marktfähigkeit von menschlichen Organen oder menschlichem Blut stellt in diesem Zusammenhang, wie Kieran Healy (vgl. 2006) mit Bezug auf Richard Titmuss’ (vgl. 1973) grundlegende Überlegungen zu den Formen der Gewinnung von und des Handels mit menschlichem Blut nachzeichnet, einen interessanten Grenzfall dar. War es noch in den 1970er Jahren moralisch verwerflich, menschliche Organe als Waren zu handeln, ändert sich diese Form der Symbolisierung mit der Expansion der medizinischen Möglichkeiten von Organtransplantationen. Menschliche Organe werden zwar in erster Linie von Organspen-
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dern nach deren Hirntod als „last best gifts“ (Healy) gespendet, sie werden danach jedoch zu besonders wertvollen Waren symbolisiert, die auf einem internationalen Markt für Transplantationsorgane gehandelt werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass menschliches Blut, das lebenden Personen entnommen werden muss, als ein Gut symbolisiert ist, das nicht nur verkauft, sondern auch gespendet wird (vgl. Healy 2000). In Regionen, in denen die Praxis des Blutspendens eine lange Tradition hat, also etwa in Deutschland, ist das Gewinnen von Blutkonserven sehr viel effektiver als in Regionen wie in Großbritannien, in denen es Tradition ist, sein Blut nicht zu spenden, sondern gegen Geld zu verkaufen. Das heißt: Wenn menschliches Blut als Ware symbolisiert ist, bedeutet dies nicht zwangsläufig eine quantitative und qualitative Verbesserung der Produktion von Blutkonserven. Menschliches Blut ist also offensichtlich ein Tauschgegenstand, der sich nicht so leicht als Ware symbolisieren lässt wie etwa Autos oder Lebensmittel. Gelingt dies jedoch etwa mit Konsumgütern und anderen typischen Waren, steht die sachliche Aushandlung der Wertäquivalenz von Tauschgegenständen im Mittelpunkt des Tausches. Die am Tausch beteiligten Akteure werden symbolisch zu den Sachverhalten Angebot und Nachfrage generalisiert. Denn im Kontext einer Wertäquivalenz ist zunächst ausschließlich relevant, was Akteure zu welchem Preis zum Tausch anbieten und welche Gegenstände und Leistungen sie nachfragen und bezahlen können. Kommt es nur dadurch zu einem Äquivalententausch, indem die Wertäquivalenz der zu tauschenden Dinge oder Leistungen im Vollzug der Tauschpraxis zwischen anbietendem und nachfragendem Akteur symbolisch hergestellt wird, kann sich die für den Tausch konstitutive Reziprozität auf den einzelnen Tauschvorgang beschränken, weil die beteiligten Akteure keine darüber hinaus gehenden Verpflichtungen eingehen müssen. Im primär sachbezogenen Tausch entsteht folglich eine okkasionelle Reziprozität, die sich mit dem Abschluss des Tauschvorgangs prinzipiell auflösen kann. Die von Walzer so genannten Marktbeziehungen sind folglich idealtypisch gesehen nicht auf Dauer gestellt, was meint, dass der primär sachbezogene Tausch seinem Praxisprinzip nach ohne eine dauerhafte Reziprozität zwischen bestimmten Tauschpartnern auskommt. Denn ein striktes Modell des sachbezogenen Tausches im symbolisch erzeugten Prinzip der Wertäquivalenz wird dadurch praktisch relevant, indem das auf der Sachdimension der Tauschpraxis geformte Symbol der sachlichen Wertäquivalenz in einen Äquivalententausch verwandelt wird. Symbolisch zu Anbietern von Waren geformte soziale Akteure bieten bestimmte Tauschgegenstände zum Verkauf an. Und andere soziale Akteure, die symbolisch zu Nachfragern von Waren geformt sind, erwerben diese Tauschgegenstände, ohne über den konkreten Tausch hinaus weisende soziale Kontakte und Bindungen eingehen zu müssen.47 Das ebenfalls auf der Sachdimension des Tauschgeschehens symbolisch generalisierte Tauschmittel Geld ermöglicht diese praktische Relevanz des Tauschprinzips der Wertäquivalenz. Denn mit dem Geld als Tauschmittel und Äquivalenzmaßstab entstehen nicht nur potenzielle Tauschmöglichkeiten, sondern auch Vergleichspunkte zur Bestimmung des Wertes von Tauschgegenständen im Praxisprinzip der Kalkulation. Diese durch das Geld 47 Mit einem derartigen Tausch gehen die beteiligten Akteure aber sehr wohl eine rechtliche Verpflichtung ein, die auch zu einem späteren Zeitpunkt wirksam werden kann, wenn etwa der gekaufte Gegenstand fehlerhaft ist oder das Begleichen der Rechnung durch den Käufer ausbleibt. In diesem Sinne ist der primär sachbezogene Tausch also alles andere als unverbindlich.
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erzeugten Tauschmöglichkeiten im Symbol der kalkulier- und berechenbaren Wertäquivalenz müssen von sozialen Akteuren genutzt werden, damit der primär sachbezogene Tausch sich als Praxisform massenhaft ereignen kann. In praxistheoretischer Perspektive ist diesbezüglich zu berücksichtigen, dass die Äquivalenz im Wert der getauschten Gegenstände symbolisch erzeugt wird. Vollständige Äquivalenz der Tauschgegenstände, die nur als Modellkonstruktion oder Gedankenexperiment vorgestellt werden kann, ist objektiv nur dann gegeben, wenn ein gegebener Tauschgegenstand direkt, nachdem er genommen wurde, an den gebenden Akteur zurückgegeben wird, wenn sich der Tausch also selbst ad absurdum führt. Denn die direkte Rückgabe der zuvor erhaltenen Gabe negiert den Tausch, weil durch die Rückgabe des Gegebenen der Tausch abgelehnt wird, so dass der Tausch als Praxisform nicht zum Abschluss kommt. Die durch das direkte Zurückgeben der Gabe ausgedrückte Verweigerung des Tausches kann somit nicht als Äquivalententausch, sondern muss als offene Ablehnung der mit Gaben häufig verbundenen Verpflichtungen interpretiert werden, auf die unten noch genauer zurückzukommen sein wird. Die soziale Konstruktion des äquivalenten Wertes von Tauschgegenständen, die sich, wenn von Tausch gesprochen werden kann, konstitutiv voneinander unterscheiden müssen, ist folglich nicht so einfach, wie es uns im Kontext der Geldwirtschaft zunächst erscheint. In Geld ausgedrückte Preise für Waren sind nämlich in der Regel nicht äquivalent zum Wert des Gegenstandes, der als Ware symbolisiert wird. Denn im primär sachbezogenen Tausch von Waren gegen Geld geschieht der Tausch zur Mehrung des Gewinns. Die Aufgabe der Anbieter von Waren, also von Händlern, ist es nun, die Wertäquivalenz zwischen der Ware und dem Geldpreis für diese Ware symbolisch zu erzeugen, damit der Tausch dieser bestimmten Ware gegen Geld als Kauf und Verkauf wahrscheinlich werden kann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass es auf der Sozialdimension der Tauschpraxis, wie ich oben (3.2) am Beispiel des Finanzmarktes verdeutlicht habe, einen großen Unterschied macht, ob professionelle Händler untereinander Waren gegen Geld tauschen, oder ob dieser Tausch zwischen Händlern und Verbrauchern geschieht. Professionelle Händler reflektieren die symbolische Dimension der Wertäquivalenz, so dass es zwischen den Händlern regelmäßig zu längeren Verhandlungen über den Kauf und Verkauf von Waren kommt, während auf Konsummärkten, auf denen sich professionelle Verkäufer und Konsumenten im Tausch begegnen, Verkauf und Kauf typischerweise ohne längere Verhandlungen über den Preis und somit über die symbolisch erzeugte Wertäquivalenz der Ware praktisch werden. In diesem Zusammenhang ist selbstredend nicht nur das Geld ein wirkmächtiges Symbol zur Formung von Gegenständen als Waren, die zu wertäquivalenten Preisen zum Kauf angeboten werden. In seiner „Soziologie der Marke“ verdeutlicht Kai-Uwe Hellmann (2003: 227), „dass es dem Geld nicht gelingt, allein über den Preismechanismus zum Kaufen zu motivieren, weil die Preisinformation in ihrer Funktion als Qualitätsindikator nur in wenigen Fällen zuverlässig funktioniert. Stattdessen geben Marken in vielen Fällen den entscheidenden Ausschlag zum Kauf.“ In systemtheoretischer Ausrichtung versteht Hellmann Marken als „symbolisch generalisiertes Komplementärmedium“ (ebd.: 229) zum Geld. Marken werden symbolisch auf der Sachdimension der Tauschpraxis geformt und durch Werbung bekannt gemacht. Das Ziel dieser symbolischen Formen ist es, beim Käufer eine „Markentreue“ zu erzeugen, die seine Kaufbereitschaft bestimmt. Und wir alle wissen, dass dies in vielen Fällen, die Hellmann detailliert rekonstruiert, sehr erfolgreich geschieht. Eine kultur-
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soziologische Konsumforschung wird diesen Aspekt deshalb sehr genau analysieren müssen, um den primär sachbezogenen Tausch nicht nur im Kontext des Preismechanismus, sondern auch in Bezug auf die vielfältigen symbolischen Formungen von Tauschgegenständen als Markenartikel verstehen zu können. Dann wird unter anderem sichtbar, dass es einen großen Unterschied für die Praxis macht, ob Güter für den täglichen Bedarf eingekauft werden, oder ob sich der Kauf als Erwerb von Luxusgegenständen ereignet und als Shopping symbolisiert wird.48 Der Einkauf von Gebrauchsgegenständen und Lebensmitteln ist in der Regel als „lästige Besorgung des Notwendigen“ (Hellmann 2005: 7) symbolisiert, während das Shopping geradezu als Lust- und Spaßpraxis symbolisch inszeniert wird und dadurch selbst als Luxusbeschäftigung erscheint. Shopping ist, mit Werner Sombarts (1922: 71) Definition des Luxus formuliert, ein „Aufwand, der über das Notwendige hinausgeht“. Die paradigmatischen Orte dieser Praxisform sind große Shopping-Center oder Shoppingmalls, die als „inszenierte Konsumwelten“ (Rieper 2005) angelegt sind und entsprechende architektonische Strukturen aufweisen. Diese beeinflussen, wie etwa Harald Funken (vgl. 1997) am Einkaufszentrum „Centro“ in Oberhausen veranschaulicht, die Praktiken des Kaufens und Verkaufens, die als erlebnisorientierte Freizeitpraktiken symbolisiert und durch Konzerte und andere Veranstaltungen flankiert werden. Marken und Werbung spielen sowohl für die Praxisform des Einkaufens als auch für die des Shoppings eine wichtige Rolle, wobei die intensive Inszenierung des Shoppings als attraktive Freizeitbeschäftigung mit hohem Erlebniswert sehr viel nachdrücklicher mit Marken- und Werbungssymbolen ausgestattet wird als etwa der Lebensmittelmarkt. Das Wechselspiel des Konsums zwischen der Produktion von Waren und der Rezeption von Bedeutungen, Bildern und Botschaften, die mit dem Angebot der Waren auf dem Konsummarkt verbunden ist, wirkt hier besonders nachhaltig als fortwährender Austausch von Sinngehalten, „die sich alle auf die Sphäre des Konsums beziehen und denen ihrer Zirkularität wegen mit herkömmlichen Kausalannahmen kaum beizukommen ist“ (Hellmann 2005: 9). Die Beobachtung des Konsummarktes durch die Anbieter von Konsumgütern wirkt sich auf das Angebot aus, wodurch die Kaufpraxis der Konsumenten auf das Angebot zurückwirkt. Die Frage, was gekauft wird, und ihre Ausgestaltung mit vielfältigen symbolischen Formen bedingt also in hohem Maße die Verkettung von Tauschpraktiken zu primär sachbezogenen Tauschformen. Dabei ist jedoch in praxistheoretischer Perspektive zu berücksichtigen, dass diese symbolischen Formen nur dann wirksam sind, wenn sie nicht nur in habitualisierte Kaufbereitschaft, sondern auch in Kaufpraktiken transformiert werden. Dies ist nur dann möglich, wenn als Marken symbolisierte Waren im Praxisprinzip der Wertäquivalenz tatsächlich gekauft werden, wenn es also zu einem primär sachbezogenen Tausch kommt. Diese Praxisform ist nicht ausschließlich durch abstrakte Strukturen wie Geld, Marke und Werbung bestimmt, die sich „wechselseitig in die Hände“ (Hellmann 2003: 229) spielen und allein dadurch die Kauf- und Verkaufspraxis steuern. Um die Umformung des durch Geld, Marken und Werbung symbolisch erzeugten Tauschprinzips der Wertäquivalenz, das ich hier idealtypisch beschrieben habe, in Praktiken und Praxisformen angemessen erfassen zu kön-
48 Diese Unterscheidung zwischen Einkauf und Shopping findet sich bei Hellmann (2005: 7). Zur „Soziologie des Shopping“ vgl. ferner die Beiträge in Hellmann und Schrage (2005)
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nen, müssen die Sozial- und Zeitdimension der Tauschpraxis auch für die Analyse des primär sachbezogenen Tausches berücksichtigt werden. Dann entsteht, wie ich weiter unten zeigen werde, ein differenziertes Bild dieser für die gegenwärtige Tauschpraxis wichtigen Tauschform, die hier zunächst nur eindimensional, nämlich in ihrer sachlichen Ausformung bestimmt worden ist. Das primär sachbezogene Tauschprinzip, das Polanyi (1978: 88) als „Prinzip des Tauschhandels“ bezeichnet, das als „Marktform“ die „Institution“ Markt hervorbringt, ist eine symbolische Form, die in der Gegenwartsgesellschaft auch in Bezug auf die Organisation und praktische Umsetzung von Arbeit eine besondere Bedeutung hat. Denn Arbeit ist in unserer Kultur anders als Liebe oder Freundschaft typischerweise der Gegenstand eines primär sachbezogenen Tausches.49 Diese symbolische Form der Praxis ist das Produkt einer historischen Genese der Arbeitsorganisation. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist die industrie-kapitalistische Wirtschaftsform die dominante gesellschaftliche Organisationsform von Arbeit. Sie ist seitdem industriell organisiert (Fabrikproduktion, fortgeschrittene Produktionstechniken, Massenproduktion), findet unter kapitalistischen Strukturen statt (Privateigentum an Produktionsmitteln, Lohnarbeit, Unternehmertum) und ist in demokratischpatriarchalische Muster eingebunden (formale Gleichheit und Freiheit aller, demokratische Entscheidungsverfahren, männliche Vorherrschaft). Im Zusammenhang mit diesem historischen Wandel der Produktionsweise während der Industrialisierung wird Arbeit im Kontext einer symbolisch erzeugten Wertäquivalenz gegen Geld getauscht, so dass ein Arbeitsmarkt entsteht. Die Frage nach dem in Geldgrößen ausgedrückten Lohn der Arbeit ist deshalb eine für die Gegenwartsgesellschaft wichtige Konfliktlinie, die in Tarifverhandlungen oder auch in der Diskussion um Mindestlöhne praktisch wirksam wird. Diese Konflikte entzünden sich am Kauf und Verkauf von Arbeit, der quantitativ eine der wichtigsten Tauschformen der Gegenwartsgesellschaft ist.50 Um die Praxisformen sichtbar zu machen, die diese, genau betrachtet, unwahrscheinliche Tauschkonstellation (vgl. Bourdieu 2001: 259f.) ermöglichen, ist eine den Marx’schen Begriff der Arbeit präzisierende Unterscheidung von Sabine Pfeiffer (vgl. 2004: 166ff.) hilfreich, laut der die Arbeit in kapitalistischen Produktionsverhältnissen als Arbeitskraft einen 49 Mit Marx, für den es sich hierbei um ein durch die kapitalistische Produktionsweise hervorgebrachtes gesellschaftliches Verhältnis des Antagonismus zwischen Kapital und Lohnarbeit handelt, formuliert: „Der Austausch zwischen Kapital und Arbeit stellt sich der Wahrnehmung zunächst ganz in derselben Art dar wie der Kauf und Verkauf aller anderen Waren. […] Das Rechtsbewusstsein erkennt hier höchstens einen stofflichen Unterschied, der sich ausdrückt in den rechtlich äquivalenten Formeln: Do ut des, do ut facias, facio ut des, und facio ut facias [Ich gebe damit du gibst; ich gebe, damit du tust; ich tue, damit du gibst, und ich tue damit du tust].“ (Marx 1983a: 563) Und weiter: „Dass dieselbe Arbeit nach einer andren Seite hin allgemeines wertbildendes Element ist, eine Eigenschaft, wodurch sie sich von allen anderen Waren unterscheidet, fällt außerhalb des Bereichs des gewöhnlichen Bewusstseins.“ (Ebd.) 50 Im Folgenden geht es demnach um die Erwerbsarbeit und nicht um Formen der Arbeit, die nicht gegen Arbeitslohn oder Honorar getauscht werden und die in der Gegenwartsgesellschaft immer mehr zum Thema der öffentlichen Diskussion avancieren, weil die Frage gestellt wird, wie etwa Familienarbeit (Kinderversorgung und -erziehung, Pflege von Angehörigen) oder ehrenamtliche Arbeit angemessen bewertet werden können, wenn sie nicht auf einem Arbeitmarkt gegen einen quantitativ messbaren Tauschwert angeboten werden. Der gesellschaftliche „Wert“ dieser Form von Arbeit steht in den Sozialwissenschaften außer Zweifel, was ihr fehlt, ist jedoch die gesellschaftliche Anerkennung, die sich nur über einen breiten öffentlichen Diskurs über die Bewertung unterschiedlicher Formen der Arbeit einstellen kann. Forderungen nach einem Grundeinkommen könnten diese Diskussion befördern, weil dann thematisiert werden muss, dass alle Bürger eines Staates nicht mit Lohn vergoltene Arbeiten verrichten, die für das gesellschaftliche Zusammenleben unentbehrlich sind.
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symbolisch objektivierten Tauschwert, der sich quantitativ bestimmen lässt, und als Arbeitsvermögen einen dynamisch-prozessualen, letztlich nicht objektivierbaren Gebrauchswert hat, der sich als qualitativer Aspekt der Arbeit durch Praxis immer wieder neu formt. Dabei kann diese Unterscheidung allein analytisch verstanden werden. Denn Arbeitsvermögen und Arbeitskraft sind nach Pfeiffer „sich geschichtlich bedingt jeweils verändernde und sich in einem je dialektischen Verhältnis zueinander bewegende Aspekte, die lediglich analytisch klar in ihre quantitativen und qualitativen Anteile [an der Arbeit; F.H.] zu trennen sind“ (ebd.: 167). Im Kontext der Sachdimension der Tauschpraxis ist innerhalb dieser analytischen Unterscheidung zwischen Arbeitskraft und Arbeitsvermögen zunächst zu betonen, dass sich der quantitativ messbare Tauschwert der Arbeitskraft für ihre Anbieter bzw. Anbieterinnen symbolisch im Arbeitslohn ausdrückt, der auf der Sachdimension der Tauschpraxis geformt wird. Hier geht es darum, dass bestimmte, als messbar symbolisierte Eigenschaften des Anbieters von Arbeitskraft, also etwa formale Qualifikationen, in Zeiträumen bestimmbare Berufserfahrung, Zeugnisse, Auszeichnungen, Alter des Anbieters der Arbeitskraft etc., in Geldgrößen ausgedrücken und dadurch im Arbeitslohn, der sich in Tarifgruppen gliedert, objektiviert werden. Als Arbeitskraft ist Arbeit folglich eine Ware, die auf dem Arbeitsmarkt gegen einen Arbeitslohn zum „Kauf“ angeboten wird. Oskar Negt und Alexander Kluge (1993: 86) machen nun berechtigterweise darauf aufmerksam, dass sich die „Besitzer der Ware Arbeitskraft“, diese ihre Arbeitskraft „permanent neu erarbeiten“ müssen, weil Arbeit genau genommen nicht als Besitz, sondern nur als prozessuale Praxis vorgestellt werden kann. Dieser Umstand formt die qualitative Seite der Arbeit, die mit dem Begriff des Arbeitsvermögens bezeichnet ist. In der Tauschform, die Arbeitskraft gegen Geld erwirbt, macht das Arbeitsvermögen, das sich nur prozessual einstellen kann, den Gebrauchswert der Arbeit aus. Und in genau dieser Sachlage lässt sich eine hoch interessante Vermischung unterschiedlicher Tauschlogiken innerhalb der Entäußerung von Arbeit auf einem Arbeitsmarkt erkennen. Denn das Arbeitsvermögen muss sich der arbeitende Akteur im Prozess der Arbeit selbst aneignen, indem er es habitualisiert. Dies führt zur Inkorporierung von Dispositionen, welche die Erwerbsarbeit affektiv besetzen, so dass die arbeitenden Akteure „in der Arbeit einen inneren, auf den bloßen Geldgewinn nicht reduzierbaren Gewinn finden“ (Bourdieu 2001: 259). Arbeit wird mit anderen Worten nicht mehr nur als Leistung empfunden, die gegen Geld getauscht wird, sondern sie ist mit einer ihr „immanenten Befriedigung“ (ebd.: 260) verbunden, die sich nicht gegen den Arbeitslohn eintauschen lässt. Dass dabei die Arbeitskraft vom Arbeitgeber „ausgebeutet“ (ebd.: 259) wird, indem er das Arbeitsvermögen des arbeitenden Akteurs in Gewinn verwandelt, wird von den arbeitenden Akteuren deshalb verkannt, weil sie ein eigenes, „subjektives Interesse“ an „ihrer“ Arbeit entwickeln. Bourdieu (ebd.) verdeutlicht dieses Argument, indem er sagt, dass „Arbeit zwischen zwei Extremsituationen erlebt [wird]: der Zwangsarbeit, die nur durch äußeren Druck bestimmt ist, und der scholastischen Arbeit, deren Grenzfall die quasi spielerische Tätigkeit des Künstlers oder Schriftstellers ist“. Je weiter sich nun die Form der Arbeit von der Zwangsarbeit entfernt, desto mehr wird sie von den arbeitenden Akteuren mit Dispositionen verbunden, die das auf einen dauerhaften Tausch der Arbeitskraft gegen einen Arbeitslohn beruhende Arbeitsverhältnis verkennen, das im Arbeitsvertrag objektiviert ist. Die vom arbeitenden Akteur in relativer Selbstbestimmung vorgenommene Aneignung des Arbeitsvermögens ist eng mit den vom Arbeitge-
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ber gewährten Freiheiten in der Gestaltung der Arbeit sowie mit den symbolischen Gewinnen, die durch die Arbeit innerhalb der belegschaftsinternen Konkurrenz zwischen den Kollegen gemacht werden können, verbunden. In solchen objektivierten Merkmalen der Arbeit findet sie als prozessuale Praxis die Bedingungen für ihre Aktualisierung, weil sich mit ihnen ein System von Dispositionen entwickelt, das die Mitarbeiter inkorporieren und sie dazu befähigt und zwingt, sich am Arbeitsplatz Freiheitszonen einzurichten und in ihre Arbeit „ebenjenen im Arbeitsvertrag nicht vorgesehenen Überschuss einzubringen, den der ‚Dienst nach Vorschrift’ verweigern oder entziehen will“ (ebd.). Diese praxistheoretische Beschreibung der symbolischen Ausformungen des Tausches von Arbeit gegen Arbeitslohn zeigt, dass in der kapitalistischen Produktionsweise nicht alle Bestandteile der Arbeit zu einer marktfähigen Ware geformt werden können. Die Konstruktion und Reproduktion vielfältiger symbolischer Formen, durch die Arbeit auf der Sachdimension der Tauschpraxis zu einer Leistung geformt wird, mit der arbeitende Akteure nicht nur materiellen, sondern auch emotionalen, sozialen und symbolischen Gewinn erzielen können, führt dazu, dass sich im Arbeitsprozess die praktische Logik eines primär sachbezogenen Tausches der Arbeitskraft gegen einen Arbeitslohn mit anderen Praxisformen vermischt, die sich beispielsweise im besonderen Engagement, in der Teamfähigkeit oder in der Mehrarbeit von Mitarbeitern ausdrücken. Arbeitsleistungen zum Erwerb der Lebenssicherung werden in ihrem praktischen Vollzug folglich nicht ausschließlich mit Geld verrechnet. Sie formen sich zu einer Praxis, in der die praktische Logik des Gabentausches deshalb wirksam wird, weil Leistungen, die über die mit dem Arbeitsvertrag eingegangenen Verpflichtungen hinausgehen, wie selbstverständlich erbracht werden. Denn diese Mehrleistungen erzeugen den hier verdeutlichten symbolischen, emotionalen und sozialen Gewinn, der außerhalb jeder praktischen Logik des Arbeitsvertrages wirksam wird. Diese Konstellation, die sich in der Dialektik zwischen Arbeitskraft und Arbeitsvermögen einstellt, ist inzwischen wichtiger Bestandteil der Organisation von Arbeit. An vielen Arbeitsplätzen wird den Arbeitern ein hoher Freiheitsspielraum in der Gestaltung ihrer Arbeit gewährt, indem „ein Moment an Unschärfe“ (Bourdieu 2001: 261) in die Aufgabendefinition einfließt, das einen gewissen Spielraum in der Gestaltung der Arbeit und in der Aneignung des Arbeitsvermögens lässt. Mit dieser Unschärfe in der Aufgabendefinition des Arbeitsvertrages „entsteht zwar das Risiko, dass nicht gearbeitet, ja sabotiert, Material verschwendet wird usw.“ (ebd.). Dagegen eröffnet sie nach Bourdieu aber „die Möglichkeit der affektiven Besetzung der Arbeit und der Selbstausbeutung“ (ebd.), die das Risiko der Unsicherheit mehr als aufwiegt. Denn durch diese „Selbstausbeutung“, die in den Dienst der Verwertungslogik von Arbeit gestellt wird, steigert sich die Produktivität der Arbeit, weil das Arbeitsvermögen im Kontext von hohen Freiheitsgraden der Arbeit nicht nur als antrainiertes Verhaltensmuster inkorporiert wird, das nach der Arbeit gleich wieder vergessen werden kann, sondern als fester Bestandteil der inkorporierten Sozialität, die einen beträchtlichen Teil der individuell konstruierten Identität ausmacht. Die Arbeit wird deshalb nicht mehr nur als Erfüllung eines Arbeitsvertrages, sondern als wichtiger Bestandteil des eigenen Lebens erlebt. Diese Struktur der inkorporierten Sozialität wird immer mehr zum wichtigen Bestandteil der Verwertungslogik des Arbeitsmarktes, was, wie Bourdieu ausführt, gravierende Folgen für die Arbeitsorganisation hat:
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„Die sich manchmal einstellende Illusion …, dass die Utopie von der vollständigen Verfügung des Arbeiters über seine Arbeit wenigstens an einigen Orten Wirklichkeit geworden wäre, darf die versteckten Voraussetzungen der von dem neuen Management ausgeübten symbolischen Gewalt nicht in Vergessenheit bringen. Obwohl diese sanfte Gewalt den Rückgriff auf die brutaleren und sichtbareren alten Herrschaftsmethoden ausschließt, so stützt sie sich doch weiterhin auf ein Kräfteverhältnis, das in der Entlassungsdrohung und in der mehr oder weniger gezielt genährten Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes wieder zum Vorschein kommt.“ (Bourdieu 2001: 263)
Der Einzelne muss, wie dieser Gedanke mit Johano Strasser (2002: 19) ergänzt werden kann, „flexibel auf wechselnde Anforderungen reagieren, sich immer wieder neu justieren, sich umqualifizieren, um durch permanente Selbstveränderung und unbeschränkte Mobilität seine profitable Verwendbarkeit, seine Employabilität zu gewährleisten“. Arbeitskraft und Arbeitvermögen stehen somit in einem spannungsgeladenen Wechselverhältnis zueinander, das zu einem wichtigen Bestandteil der Arbeitsorganisation wird, indem auf der Sachdimension der Praxis im Kontext von so genannten partizipativen Führungsstilen immer mehr symbolisch an das Arbeitsvermögen appelliert wird, das sich insbesondere im Kontext von hoher Arbeitslosigkeit variabel den Anforderungen des Arbeitsmarktes anzupassen hat, damit es zum Abschluss von Arbeitsverträgen, also zu einem auf Dauer gestellten, primär sachbezogenen Tausch von Arbeit gegen Arbeitslohn kommt. Dadurch vermischen sich im Kontext des Arbeitsmarktes sachliche und soziale Komponenten des Sinngeschehens in spezifischer Weise miteinander, damit der Tausch von Arbeit gegen Geld möglich wird. Denn die soziale Konstruktion der personalen Eigenschaften von arbeitenden Akteuren, die sich als „ganze“ Personen in den Arbeitsprozess einbringen müssen, ist für die praktische Reproduktion von Arbeit nicht selten genauso wichtig wie die soziale Konstruktion der Arbeitskraft und des Arbeitsvermögens, die auf der Sachdimension der Tauschpraxis symbolisch als Tausch- und Gebrauchswert der Arbeit konstruiert werden, damit der Tausch von Arbeit gegen Arbeitslohn wie selbstverständlich praktisch werden kann. Diese Praxis formt sich, wie noch ergänzt werden muss, in unterschiedlicher Weise aus. Denn es macht beispielsweise einen Unterschied für die Tauschpraxis, ob die abstrakt auf der Sachdimension der Tauschpraxis symbolisierte Arbeitskraft durch einen Arbeitsvertrag auf Dauer gegen Geld getauscht wird, oder ob dies personengebundene Dienstleistungen sind, die nur unter ganz bestimmten Bedingungen und in spezifischen Situationen von Kunden als Arbeitsvermögen in Anspruch genommen werden. Auch hier lassen sich Arbeitsleistungen typischerweise nicht ausschließlich im Prinzip der sachlichen Wertäquivalenz symbolisieren, weil der Tausch von personengebundenen Dienstleistungen, wie Psychotherapie oder ärztliche Krankheitsbehandlung, gegen ein geldförmiges Honorar sehr eng an die Person des Anbieters dieser Dienstleistungen gebunden ist, also auf der Sozialdimension der Tauschpraxis symbolisiert werden muss. Im Tausch von personengebundenen Dienstleistungen gegen Geld, die über das Haare schneiden oder die Maniküre hinausgehen, kann der Tausch nicht ausschließlich über den Preis oder durch andere auf der Sachdimension geformte Symbole praktisch werden. Diese Tauschform bedarf spezieller symbolischer Formen wie Zertifikate und Titel, welche die Vertrauenswürdigkeit etwa des Therapeuten oder des Arztes auf der Sozialdimension der Tauschpraxis symbolisieren. Dies gilt letztlich ganz allgemein für das Arbeitsvermögen, dessen Wert sich nicht vollständig in
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Geldgrößen messen lässt, sondern immer auch an die Person des Anbieters der Arbeit gebunden ist. Das Beispiel des Tausches von Arbeit gegen Geld zeigt eindringlich: Mit der Beschreibung der symbolischen Ausformungen des Praxisprinzips der Wertäquivalenz auf unterschiedlichen Märkten sind die symbolischen Formen, die sich auf der Sachdimension der Tauschpraxis bilden, nicht hinreichend erfasst. Auf ihr werden simultan zur Formung von wertäquivalenten Tauschgegenständen Dinge und Leistungen symbolisch erzeugt, die konstitutiv nicht Bestandteile eines Äquivalententausches werden können und gerade deshalb für die Tauschpraxis eine besondere Bedeutung haben. Neben dem Arbeitsvermögen sind hier im Anschluss an die Diskussion der praktischen Logik des Gabentausches (siehe 3.3) Dinge und Leistungen gemeint, die auf der Sachdimension des Tausches als Gaben symbolisiert werden. Derartige Tauschgegenstände lassen sich nicht mit Geld verrechnen und bedürfen deshalb einer spezifischen symbolischen Formgebung, um als Tauschgegenstände Bestandteile der Praxisform des Tausches werden zu können. Am Beispiel des Geschenks habe ich oben die Formung dieser sachbezogenen Symbole verdeutlicht. Das Geschenk muss symbolisch erzeugt werden, indem es mit symbolischen Formen versehen wird, die sich etwa in der Verpackung des zu schenkenden Gegenstandes oder in der Inszenierung seiner Übergabe Ausdruck verschaffen. Mit dieser Symbolisierung wird es zu einem wichtigen Unterschied, ob Gebrauchsgegenstände oder Geschenke getauscht werden. Ist der Gebrauchswert eines Geschenks zu offensichtlich und steht dadurch im Vordergrund der Tauschpraxis, wird das „Geschenk“ schnell zu einer Beleidigung des Beschenkten. Dies impliziert, dass mit dem Geschenk deutlich mehr gegeben wird, als der sachliche Wert des gegebenen Gegenstandes oder der gegebenen Leistung. Praktisch gegebene Geschenke beziehen sich auf die Person des Beschenkten, indem mit dem Geschenk eine Wertschätzung der beschenkten Person offeriert wird. Wird diese Geste verstanden, verpflichtet sie, wie bereits oben (3.2) gezeigt, zu einer zweiten ersten Gabe, die sich nicht explizit auf die erste Gabe bezieht und gerade dadurch eine reziproke Beziehung erzeugt, die sich nicht auf die sachliche Dimension der getauschten Gegenstände, sondern auf die soziale Dimension der Bindung zwischen den am Tausch beteiligten Akteuren bezieht. Die zunächst sachbezogene Symbolisierung von Gegenständen als Geschenke ist folglich eng mit symbolischen Formen auf der Sozialdimension verbunden. Denn die sachbezogene Symbolisierung des Tauschgegenstandes als Geschenk steht nicht im Kontext einer Wertäquivalenz, sondern erscheint als Mittel zur Symbolisierung des Tausches im Kontext einer Anbahnung bzw. Pflege dauerhafter Beziehungen der Reziprozität. Im Kontext des Geschenktausches geschehen mit anderen Worten die Praktiken der symbolischen Verdoppelung von Tauschgegenständen auf der Sachdimension der Tauschpraxis zur Anbahnung oder Pflege sozialer Beziehungen zwischen den am Tausch beteiligten Akteuren. Ein ausschließlich sachbezogener Tausch, in dem die Reziprozität als einmaliges Ereignis praktisch wird, ist zwischen abstrakten und anonymen Akteuren zwar nicht sehr wahrscheinlich aber möglich, während dies für den Geschenktausch dann ausgeschlossen werden kann, wenn die erste Gabe durch eine zweite erste Gabe erwidert wird, was eine Verstetigung der sozialen Beziehung zwischen den Tauschakteuren mit sich bringt. Vorstellbart ist im Kontext des Schenkens zwar, dass Geschenke an fremde oder generalisierte Akteure gegeben werden. Soll sich die dadurch unter Umständen angebahnte
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Reziprozität jedoch auf Dauer stellen, ist eine Erwiderung des Geschenkes, also ein Abschluss des Tauschprozesses, eine notwendige Bedingung. Dies ist etwa bei der Gabe von Almosen an den Bettler nicht zu erwarten. Die Reziprozität ist hier vollständig generalisiert, weil sie als abstrakte Form der Dankbarkeit praktisch wird, die keine konkrete soziale Beziehung zwischen gebendem und nehmendem Akteur erzeugt. Opfer, Almosen, Trinkgeld und andere auf der Sachdimension des Tausches geformten Symbole des generalisierten Schenkens sind deshalb Grenzformen des Tausches, weil die Gegengabe, also die zweite erste Gabe, so sehr symbolisch generalisiert ist, dass sie sich kaum noch als Tauschpraktik identifizieren lässt. Die Gegen- oder gar Wechselseitigkeit im Geschenktausch kann folglich nicht für alle Formen des Schenkens beobachtet werden. Denn auf der Sachdimension der Tauschpraxis entstehen generalisierte Formen des Schenkens an symbolisch generalisierte Akteure, in denen typischerweise keine klar identifizierbare Gegengabe praktisch wird. Bei derartig generalisierten Formen des Schenkens an Fremde verbinden sich sachliche, soziale und zeitliche Formen der Tauschpraxis in eigenartiger Weise miteinander. Diese Formen des Gebens sind auf der Sachdimension der Tauschpraxis als Spenden symbolisiert, die, wie in Bezug auf Blutspenden bereits Richard Titmuss (vgl. 1973: 86-102) in seiner „typology of donors“ verdeutlicht, sehr unterschiedliche Formen annehmen können. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die spezifische Praxisform der großzügigen Spende, die sich durch das Einrichten von Stiftungen auf Dauer stellt. Sie beruht auf einer symbolischen Generalisierung der an der Spendenpraxis beteiligten Akteure, wobei insbesondere die Adressaten der Spenden auf der Sozialdimension der Tauschpraxis in generalisierender Form als bedürftig konstruiert werden. Bei Spenden und Stiftungen handelt es sich um spezifische Formen der Gabe, für die eine Gegengabe, die über das Bekunden von Dankbarkeit hinausgeht, von den mit Spenden bedachten Akteuren typischerweise nicht erwartet werden kann, weil von ihnen aufgrund ihrer Bedürftigkeit eine Gegenleistung nicht verlangt wird. Innerhalb der institutionalisierten Spendenpraxis wird eine hoch abstrakte Gegenleistung von symbolisch generalisierten Dritten praktisch, die sich nur aus der spezifischen Formung der Praxis des großzügigen Spendens erklären lässt. Denn ist diese Praxisform institutionalisiert, wird sie also nicht nur als spontane Spende für einen als gut angesehenen Zweck wirksam – wie etwa die spontane Gabe von Almosen an einen Bettler oder die gelegentliche Spende an eine gemeinnützige Organisation –, ereignet sie sich typischerweise in öffentlicher Form. Die Gabe wird als ein Ereignis inszeniert. Das Geschenk, das auf der Sachdimension der Tauschpraxis als Spende symbolisiert ist, erscheint als große Geste. Auf diese Weise kann die abstrakte Gegenleistung für die Spende, die ebenfalls auf der Sachdimension der Praxis geformt wird, wirksam werden. Denn die spendenden Akteure werden durch die Spenden als Personen mit bestimmten, als gut bewerteten Eigenschaften öffentlich sichtbar. Sie sind im Vollzug der Praxisform des öffentlichen Spendens und Stiftens auf der Sozialdimension der Praxis sehr konkret als einzigartige Individuen symbolisiert, deren öffentliches Ansehen sich mit jeder Spende steigert.51 Genau diese Steigerung des individuellen Ansehens, das sich durch dritte, nicht direkt an der
51 In dieser symbolisch erzeugten Struktur ist sicher der wichtigste Grund dafür zu finden, dass, wie Frank Adloff und Steffen Sigmund (vgl. 2005: 221) zeigen, über 80 Prozent des amerikanischen Spendenaufkommens von Privatpersonen und nicht von Unternehmen stammen.
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Spendenpraxis beteiligte Akteure ereignet, ist die abstrakte Gegenleistung für die konkret sichtbar gemachte, praktische Spende an zuvor als bedürftig definierte Mit-Akteure, die typischerweise durch bestimmte Organisationen symbolisch repräsentiert werden. In der Spenden- und Stiftungspraxis wirkt nicht nur eine rechtliche Verpflichtung zum Geben, sondern auch und vor allem eine „Verpflichtung, freiwillig zu sein“ (Caillé 2005: 178), die sich vielfach aus der privilegierten Position des Spenders im sozialen Raum ergibt. Diese Verpflichtung zur Freiwilligkeit des Gebens wird regelmäßig philanthropisch aus einer noblen Motivlage des Spenders oder der Spenderin begründet, wie Steffen Sigmund (vgl. 2000: 333) am Beispiel der um 1890 herum verfassten Stellungnahmen des amerikanischen Stahlmagnaten Andrew Carnegie zu seinen persönlichen Motiven für philanthropisches Geben illustriert. Sigmund (ebd.) zitiert Carnegie mit den Worten: „Wer reich stirbt, stirbt entehrt“, und bringt damit die kulturellen Hintergründe des großzügigen Spendens und Stiftens sehr gut zum Ausdruck. Denn es geht bei der Philanthropie vor allem um die symbolisch erzeugte „Ehre“ des Spenders, die sich eben trotz eines hohen materiellen Reichtums nicht wie von selbst einstellt, sondern durch gezielte Praktiken erzeugt werden muss. Dies gelingt durch die Spenden- und Stiftungspraxis, weil hier ökonomisches Kapital in symbolisches Kapital transformiert wird, das traditionell mit dem Begriff „Ehre“ versehen ist. Die Mechanismen, die in dieser Transformation wirksam werden, sind sehr viel komplizierter als etwa die in den Praxisformen des Erwerbs von materiellen Kulturgütern wie Kunstwerken oder wertvollen Antiquitäten. Dieses objektivierte kulturelle Kapital erzeugt eine Form von Ansehen und Anerkennung, wenn etwa die Kunstwerke in der privaten Wohnung von ausgewählten Gästen bewundert werden und dabei der Geschmack des Besitzers gelobt wird. Stiftungen und Spenden, die öffentlich praktiziert werden, zielen nun nicht nur auf die Demonstration eines guten Geschmacks, sondern sehr viel weiter gehend auf die Transparenz der vorgeblich guten Absichten des Spenders für das Gemeinwohl der Gesellschaft, in der er materiellen Reichtum angesammelt hat. Das Spenden dokumentiert nicht weniger als den „Gemeinsinn“ des Spenders (vgl. Frey 2001), der sich in unterschiedlicher Weise ausformen kann. So sind Stiftungen im Gegensatz zu Spenden typischerweise auf antizipierte Leistungen des Begünstigten bezogen, indem sie mit einer konkreten Weisung verbunden sind, wofür die bereitgestellten Mittel verwendet werden sollen. Diese Weisung, die so etwas wie eine abstrakte, nicht direkt auf den Stifter bezogene Gegenleistung für die Spende darstellt, wird nicht selten mit symbolischen Formen versehen, die sich auf das besondere Talent des Begünstigten (Sozialdimension) oder auf die besondere Bedeutung der unterstützten Leistung, etwa die Sammlung und Ausstellung von Kunstwerken, für das Gemeinwesen beziehen. Aus praxistheoretischer Perspektive macht es wenig Sinn, das Spenden und Stiften, das in der Gegenwartsgesellschaft vor allem in den USA quantitativ ein beträchtliches Ausmaß annimmt, als altruistische Praxis der Großzügigkeit und Uneigennützigkeit zu verklären oder, was einer Umkehrung gleichkäme, als spezifische Form des Eigennutzes zu relativieren (vgl. Adloff und Sigmund 2005: 214ff.). Bourdieu drückt diesen Punkt so aus: „Die rein spekulative, typisch scholastische Frage, ob Großzügigkeit und Uneigennützigkeit überhaupt möglich sind, muss durch die politische Frage nach den Mitteln ersetzt werden, mit deren Hilfe Welten geschaffen werden können, in denen – wie in der Ökonomie der Gabe – Akteure und
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Gruppen Interesse an Uneigennützigkeit und Großzügigkeit aufbringen oder, besser: in denen sie eine dauerhafte Disposition zur Achtung vor diesen universell geachteten Formen der Achtung des Universellen erwerben können.“ (Bourdieu 2001: 259)
Wird diese Frage, die Bourdieu politisch nennt, sozialtheoretisch gewendet, stellt sie sich in der Weise, dass die symbolischen Formen, die Uneigennützigkeit und Großzügigkeit zu einer spezifischen Praxis des Tausches formen, aufgespürt und untersucht werden müssen. Wie die theoretische Durchdringung des Gabentauschmechanismus (siehe oben, 3.3) bereits deutlich gemacht hat, wirken in den Praktiken des Schenkens symbolische Formen, die nicht als ahistorische Akteureigenschaften wie Altruismus und Eigennutz interpretiert werden können. Denn dies würde die Definition der Ursachen für Formen der Uneigennützigkeit und Großzügigkeit in unzulässiger Weise verkürzen. Das philanthropische Spenden an Fremde ist eine Praxisform, an der dieses zentrale Argument einer Praxistheorie des Tausches besonders anschaulich wird. Dieser Praxis liegen symbolische Formen zugrunde, die sich aus dem Reichtum und der gehobenen sozialen Stellung der spendenden Akteure ergeben. Das Spenden und Stiften kann geradezu als eine sichtbare Ausformung des materiellen Reichtums und des hohen Status’ in der Sozialstruktur verstanden werden. Deshalb können sich in unserer Kultur wohlhabende Akteure nur schwer der Spenden- und Stiftungspraxis entziehen. Ein verschwenderischer, dem Luxus zugewandter Lebensstil, der eine praktische Folge materiellen Reichtums ist, lässt sich nur schwer rechtfertigen, wenn nicht gleichzeitig mit der ostentativen Verschwendung für das eigene Wohlbefinden großzügige Spenden für wohltätige Zwecke praktiziert werden. Dies ist sicher ein wichtiger Grund dafür, dass auf elitären Partys der Oberschicht fast immer ein karitativer Zweck symbolisch erzeugt wird, zu dessen Gunsten die verschwenderische Zusammenkunft der Reichen einer Region stattfindet. In derartigen Kontexten wird das feudale Praxisprinzips, dass Adel verpflichtet (Noblesse oblige), dahingehend umgeformt, dass reiche und wohlhabende Akteure für das Gemeinwesen verpflichtet werden, indem sie von den Initiatoren der Zusammenkunft zu Spenden aufgefordert werden. Dadurch formt sich, wie empirische Untersuchungen in USamerikanischen Großstädten deutlich machen (vgl. Schervish and Havens 2002), die Philanthropie zu einer distinkten und elitären Kultur, die zur praktischen Integration der Eliten beiträgt (vgl. Adloff und Sigmund 2005: 221f.) und dadurch die Spenden- und Stiftungspraxis dauerhaft ermöglicht. In der Gabe, die auf der Sachdimension der Tauschpraxis als großzügige Spende bzw. Stiftung symbolisch erzeugt wird, mischen sich moralische, rechtliche, ästhetische, eigennützige und distinktive Motive, die nur im Kontext eines hochkomplexen Symbolsystems praktisch relevant werden können. Die ostentative Verausgabung, die George Bataille, wie oben (3.3) gezeigt, als Aufhebung der Ökonomie analysiert und letztlich bewundert, wird in praxistheoretischer Perspektive als eine Praxisform sichtbar, die sich nur deshalb ereignet, weil sie in ein komplexes System symbolischer Formen eingebettet ist, das die Spendenpraxis für bestimmte Akteure zu einer Verpflichtung werden lässt, der sie sich nicht entziehen können. Die abstrakte Gegenleistung für die ostentative Freigiebigkeit, durch die das Spenden und Stiften als eine Tauschform analysierbar wird, ist die soziale Anerkennung, die das ökonomische Kapital der zumeist wohlhabenden Spender und Spenderinnen in symbolisches Kapital verwandelt, so dass sie mit ihrer Freigiebigkeit
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3 Praxistheorie des Tausches
ihre gehobene Stellung in der Sozialstruktur des sozialen Raums wenn nicht verbessern so doch zumindest stabilisieren. Die Beispiele des sachbezogenen Äquivalententausches, des Tausches von Arbeit gegen Lohn, des expliziten Geschenktausches und des generalisierten Spendens veranschaulichen, wie unterschiedlich Dinge und Leistungen auf der Sachdimension des Sinngeschehens zu Tauschgegenständen geformt werden. Diese Symbolisierungen sind zum einen wichtige Bedingungen für die Entstehung von Praxisformen des Tausches überhaupt, weil sich ohne sie Tauschgegenstände praktisch nicht von den Dingen unterscheiden lassen, die nicht zum Gegenstand des Tausches werden können. Zum anderen sind die ungleichen Formen, wie Dinge und Leistungen auf der Sachdimension der Tauschpraxis zu Tauschgegenständen symbolisiert werden, wichtige Voraussetzungen dafür, dass sich Tauschpraktiken in vielfacher Weise zu Tauschformen verketten. Diese Verkettung geschieht etwa beim Tausch eines Gegenstandes, dessen Wert sehr hoch eingeschätzt wird, gegen einen hohen Geldbetrag in deutlich anderer Form als etwa beim Kauf von Lebensmitteln in einem Supermarkt. Während im zuletzt genannten Fall der Tausch mehr oder weniger mechanisch geschieht, wird im zuerst genannten Fall, also beispielsweise beim Kauf eines Autos, der Tausch rituell inszeniert. Und auch bezüglich des Geschenktausches ist die Art der Gabe Auslöser für unterschiedliche Formen der Verkettung von Tauschpraktiken zu Praxisformen des Tausches. Besonders wertvolle Geschenke werden anders erwidert als weniger wertvolle. Darüber hinaus können Geschenke einen symbolischen Wert von exklusiver Bedeutung haben, der sich nicht im Gebrauchs- oder Tauschwert verrechnen lässt, den am Tausch beteiligten Akteuren aber sehr wohl bewusst ist, so dass sich aus einem derartigen Geschenk eine eigenartige Folge von Praktiken ergibt, die etwa nach einem eher routinierten Geschenk zu Weihnachten nicht zu erwarten ist. Und nicht nur dieses Bespiel, sondern auch die Praxis des Gebens von Geschenken als großzügige Spenden lässt bereits erahnen, welche Bedeutung die Sozialdimension des Sinngeschehens für die Tauschpraxis hat. Eine exklusive Bedeutung von Geschenken kann sich als Symbol nämlich nur zwischen sozialen Akteuren einstellen, die sich in spezifischer Weise kennen und deshalb Geschenke dieser Art miteinander tauschen können. Und eine großzügige Spende ist nur dann möglich, wenn Spender und Spenderinnen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis durch spezifische symbolische Formen repräsentiert sind, die sie als der Spende würdige Akteure symbolisieren. Daher lassen sich die Ausformungen der Tauschpraxis genauer bestimmen, wenn neben den sachbezogenen Symbolisierungen auch die auf der Sozialdimension der Tauschpraxis berücksichtigt werden, wenn also, sehr einfach ausgedrückt, nicht nur die Frage gestellt wird, was gegen was getauscht wird, sondern auch die danach, wer mit wem tauscht.
3.5.2
Die Sozialdimension der Tauschpraxis
Zur Bestimmung der symbolischen Formen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis muss zunächst verdeutlicht werden, dass soziale Akteure ebenso wie Dinge in der Praxis durch Symbole repräsentiert sind. Sie sind mit praktischem Sinn versehen und werden dadurch zu Bedingungen für die Entstehung von Praktiken und Praxisformen. Die theoretische Annahme der symbolischen Verdoppelung der körperlichen Existenz sozialer Akteure muss
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von der Habitustheorie unterschieden werden, in der es um die Inkorporierung von Sozialität geht. Damit soziale Praxisformen möglich werden, müssen nicht nur Formen der Habitualisierung von Sozialität abrufbar sein, die an Praxis beteiligten Akteure müssen zudem die anderen Akteure beobachten und diese mit praktischen Sinnformen ausstatten, damit sie zu Bezugspunkten der Praxis werden können. George Herbert Mead (vgl. 1991: 196) hatte in diesem Zusammenhang vom verallgemeinerten Anderen (generalized other) gesprochen. Dieser Begriff steht in der Sozialpsychologie Meads für die zentrale Bedeutung der Anderen zur Bildung der individuellen und sozialen Identität.52 Wird diese grundlegende Annahme Meads praxissoziologisch gewendet, kann davon ausgegangen werden, dass die sozialen Akteure von den Mit-Akteuren mit praktischem Sinn versehen, also symbolisch erzeugt werden. Die praxistheoretische Analyse der Sozialdimension der Tauschpraxis geht also nicht von substanziellen Begrifflichkeiten aus, mit denen die zeitlosen Eigenschaften sozialer Akteure gefasst werden, sondern untersucht die symbolischen Formen, durch die Akteure sozial konstruiert werden.53 Der dabei entstehende praktische Sinn wird in der Praxis zur Identifikation und Bewertung der Anderen benötigt, was für die Entstehung von sozialen Praxisformen wie den Tausch von besonderer Bedeutung ist. Denn Tauschvorgänge können nur zwischen mindestens zwei sozialen Akteuren stattfinden, die als Bezugspunkte der Tauschpraxis symbolisch erzeugt werden müssen. Nach dieser theoretischen Klärung, dass die körperliche Existenz sozialer Akteure eine wichtige Quelle der Sinnproduktion ist, was im Übrigen aus den Akteuren mehr macht, als ihre Körper sind, wird es möglich, die Sozialdimension der Tauschpraxis für eine Bestimmung von Tauschformen zu berücksichtigen. Im primär sachbezogenen Äquivalententausch sind die symbolischen Formen der Sozialdimension zunächst stark generalisiert. Den tauschenden Akteuren werden die Fähigkeiten zum Angebot und zur Nachfrage von Tauschgegenständen symbolisch zugeschrieben. Anbieter von Gütern und Leistungen müssen ihr Angebot symbolisch erzeugen, indem sie Güter und Leistungen als Waren auszeichnen und entsprechend als Gegenstände für den Kauf präsentieren. Die Nachfrage der Waren wird symbolisch generalisiert, indem alle Akteure als Kunden kulturell repräsentiert werden, die potenziell auf das Angebot der Waren eingehen, weil sie generell mit Kaufkraft ausgestattet sind. Die tauschenden Akteure werden mit anderen Worten einerseits symbolisch zu Anbietern von Waren und andererseits symbolisch zu Kunden geformt. In Preisen, die den Markt kulturell repräsentieren, symbolisiert sich dieses Verhältnis von Angebot und Nachfrage. In der alltäglichen Kaufpraxis wird dieses Verhältnis jedoch nur insofern reflexiv, als es von nachfragenden Akteuren, also den Kunden, zu einem Preisvergleich genutzt wird, um die preiswerteste Ware kaufen zu können. Die Rekursivität des Preises, die sich 52 „In der Form des verallgemeinerten Anderen beeinflusst der gesellschaftliche Prozess das Verhalten der ihn abwickelnden Individuen, das heißt, die Gemeinschaft übt die Kontrolle über das Verhalten ihrer einzelnen Mitglieder aus, denn in dieser Form tritt der gesellschaftliche Prozess oder die Gemeinschaft als bestimmender Faktor in das Denken des Einzelnen ein.“ (Mead 1991: 198) Eine weitere als klassisch zu bezeichnende Begrifflichkeit zur Thematisierung der Sozialdimension der Sozialität ist die Unterscheidung zwischen Ego und Alter, die sich darauf fokussiert, die sozialen Erwartungen, die mit der Konstruktion des Anderen wirksam werden, als wichtige Formen der Strukturierung von Sozialität zu analysieren. “Die Sozialdimension betrifft das, was man jeweils als seinesgleichen, als ‚alter Ego’ annimmt, und artikuliert die Relevanz dieser Annahme für jede Welterfahrung und Sinnfixierung.“ (Luhmann 1984: 119) 53 Für Näheres zu der grundlegenden Frage, wie „der Mensch“ in der soziologischen Theoriebildung thematisiert werden kann, siehe Hillebrandt (1999) und mit Bezug auf den Begriff des Subjekts Reckwitz (2006).
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durch die kulturell repräsentierte Vorstellung ergibt, dass der Preis die primär sachbezogene Tauschpraxis als Verkauf und Kauf hervorbringt und dass diese Tauschpraxis auf den Preis zurückwirkt, indem sie einen neuen Preis formt, bleibt in der alltäglichen Tauschpraxis zumeist unreflektiert. Der professionelle Handel zeichnet sich nun gerade dadurch aus, diese Rekursivität des Marktes, die in Preisen symbolisch geformt wird, bei den Verkaufsund Kaufentscheidungen zu reflektieren. Hier entwickeln die Akteure ein Bewusstsein darüber, „dass Preise, die sie für relevant halten, durch Erwartungen Anderer gebildet werden“ (Langenohl 2007: 15). In der professionellen Kauf- und Verkaufsentscheidung wird somit mit dem Anderen gerechnet, der ebenfalls auf dem Markt agiert und seine Kauf- und Verkaufsentscheidungen wiederum daran orientiert, welche Kauf- und Verkaufsentscheidungen die anderen Akteure auf dem Markt treffen. Und genau diese Vorstellung, die sich in Preisen symbolisch formt, lässt den Markt als symbolische Form der Tauschpraxis entstehen. Dies führt dazu, dass sich die Tauschpraxis auf professionalisierten Märkten, auf denen sich professionelle Käufer und Verkäufer im Tausch begegnen, sehr eng an einer Marktlogik orientiert. Die symbolischen Formen auf der Sozialdimension sind in dieser praktischen Ausformung des preisgebundenen Tausches augenscheinlich sehr eng mit den symbolischen Formen auf der Sachdimension des Tausches verflochten, was sich in der kulturellen Repräsentation des Marktes in seinen Preisen ausdrückt. Denn im Preis wirkt nicht nur die symbolische Formung des Wertes einer Ware auf der Sachdimension, sondern synchron dazu die symbolische Generalisierung der anbietenden und nachfragenden Akteure auf der Sozialdimension, die aber, was bereits oben (siehe 3.2) in der Diskussion des Finanzmarktes deutlich wird, vor allem durch professionelle Händler reflektiert, inkorporiert und dadurch letztlich praxisrelevant wird. Schon deshalb lässt sich in praxistheoretischer Perspektive das Argument zurückweisen, die symbolischen Formen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis seien im primär sachbezogenen Äquivalententausch ausschließlich durch die symbolischen Formen auf der Sachdimension der Tauschpraxis bedingt. Denn bei genauerer Betrachtung dieser Tauschform wird deutlich, dass sie in sehr unterschiedlicher Weise praktisch wird. Und dies hängt nicht nur damit zusammen, wie Güter und Leistungen durch Preise als Waren kulturell repräsentiert sind. Wie bereits gesagt, werden Gegenstände des sachbezogenen Äquivalententausches sehr unterschiedlich symbolisiert, indem ihnen ein unterschiedlicher Wert zugeschrieben wird. Dies ist im Kontext des sachbezogenen Äquivalententausches zwar prinzipiell eine wichtige Bedingung für die Form der Verkettung von Tauschpraktiken. Für den praktischen Vollzug dieser Tauschform ist es jedoch nicht weniger wichtig, die variablen Formungen der am Tausch beteiligten sozialen Akteure, die sich auf der Sozialdimension der Tauschpraxis ereignen, differenziert zu bestimmen. Dies erlaubt eine Identifikation der vielfältigen Ausformungen des Kaufens und Verkaufens von Waren, denn für die Formen der Verkettung von Tauschpraktiken ist es auch im primär sachbezogenen Tausch alles andere als unerheblich, wer wem etwas abkauft. In diesem Zusammenhang wirken Sach- und Sozialdimension explizit zusammen. So ist beispielsweise beim sachbezogenen Tausch von Gütern, denen ein sehr hoher Wert beigemessen wird, die Sozialdimension zur Entstehung einer Tauschbeziehung praktisch relevant. Der Kunde prüft etwa das soziale Umfeld des Anbieters, um zu wissen, mit wem er das Risiko eines Tausches eingeht. Der Anbieter ist an der Kreditwürdigkeit des Kunden
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interessiert, um das Risiko einer Tauschbeziehung seinerseits gering zu halten. Diese Formen sozialbezogener Sinnproduktion werden von symbolischen Schemata flankiert. Ein Juwelier, der sehr hohe Preise für seine Waren verlangt, wird sein Ladenlokal entsprechend mit Mobiliar und anderen Accessoires ausstatten. Das Verkaufspersonal ist sehr gut geschult und tritt in professioneller Weise auf, indem die Verkäufer und Verkäuferinnen sich als Experten bzw. Expertinnen bezüglich der angebotenen Waren präsentieren. Dem Kauf von Wertgegenständen geht regelmäßig ein ausführliches Verkaufsgespräch voran, das dazu genutzt wird, dem Kunden kleine aber exklusive Geschenke anzubieten, die er auch dann behalten kann, wenn es nicht zu einer Verkaufsbeziehung kommt. Kunden eines derartigen Juweliers werden ihrerseits zum Verkaufsgespräch mit entsprechender Kleidung erscheinen, um Kreditwürdigkeit zu demonstrieren. Auch die Art, wie Geld symbolisiert wird, spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Verschiedene Formen von Kreditkarten etwa lassen sich spontan mit Geraden der Kreditwürdigkeit verbinden, sie sind entsprechende Distinktionsmerkmale, die beim Kauf von als wertvoll symbolisierten Gütern und Dienstleistungen bewusst und unbewusst eingesetzt werden.54 Kauf und Verkauf sind also in vielen Fällen simultan mit Praktiken verbunden, die sich nicht auf die sachbezogenen Symbole des Tausches von Waren gegen Geld beziehen, sondern auf die personalen Eigenschaften der beteiligten Akteure, die durch die Praktiken der Inzeption und Rezeption kultureller Schemata geformt werden. Kleine Geschenke während des Verkaufsgesprächs, der Austausch von netten Worten zwischen Verkäufer und Käufer, intensive Beratung durch das Verkaufspersonal, das dadurch zu Experten geformt wird, die Bekundung der Kreditwürdigkeit des Kunden durch symbolische Kleidung, durch spezielle Ausformungen des vom Kunden verfügbaren Geldes oder durch das glaubhafte Erzählen der erfolgreichen Lebensgeschichte und andere Begleitpraktiken des Kaufens und Verkaufens zielen auf eine Kundenbindung, die sich als spezifische Form der Reziprozität auf Dauer stellen und sowohl vom Kunden als auch vom Verkäufer zur Reduktion der Komplexität einer Verkaufssituation genutzt werden kann. Diese Reduktion von sozialer Komplexität bezieht sich in primär sachbezogenen Tauschformen vor allem auf die Minderung der Unsicherheit, die im Prozess des Tausches während der einzelnen Tauschpraktiken als ein Risiko der Vorleistung erscheint. So wird etwa die ausführliche Beratung gewährt, ohne sicher sein zu können, dass der Kauf tatsächlich zustande kommt. Auf Seiten des Kunden werden die angebotenen Leistungen ohne ausreichende Prüfung, die in der Kaufsituation schwer möglich ist, als wertäquivalent zum festgelegten Preis interpretiert, ohne wissen zu können, ob dies tatsächlich gerechtfertigt ist. Das zu kaufende Schmuckstück, um im Beispiel zu bleiben, kann theoretisch und praktisch ein Imitat sein, also nicht den Wert haben, der ihm vom Verkäufer zugeschrieben wird. Diese Unsicherheit wird durch den Kauf des Schmuckstückes vom Kunden in Kauf genommen. In der soziologischen Literatur wird in diesem Zu-
54 Wie Geld in höchst unterschiedlicher Weise als Distinktions- und Ausdrucksmittel kreiert wird, zeigt die lesenswerte Studie von Viviana Zelizer (1997). Geld ist danach nicht ausschließlich eine objektive Messgröße für den Wert von Tauschgegenständen, wie es noch in der soziologischen Klassik gesehen wird. Es hat nach Zelizer unterschiedliche Erscheinungsformen und deshalb auch unterschiedliche soziale Bedeutungen (siehe hierzu auch Zelizer 2000).
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sammenhang häufig der Begriff Vertrauen verwendet, um diese und ähnliche Konstellationen zu bezeichnen.55 Wichtig ist hier, dass Vertrauen im und durch den Tausch in spezifischer Weise praktisch wird. Um dies zu sehen, kann der Begriff der auf Dauer gestellten Reziprozität, der sich auf die gegenseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen bezieht, mit dem Begriff des Vertrauens zusammen gedacht werden, weil innerhalb dauerhafter Reziprozität die Beziehungssymbole praktisch gepflegt werden, welche die Erwartungen und Erwartungserwartungen immer wieder neu erzeugen und dadurch Unsicherheit absorbieren. Luhmann bringt diesen Gedanken in seinem klassischen Buch über das Vertrauen als „Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität“ (Luhmann 2000) so auf den Punkt: „Eine persönliche Beziehung auf der Basis wechselseitiger Wohltätigkeiten wird typisch mit klein dosierten Leistungen eröffnet. Es werden Nettigkeiten, Hilfeleistungen, kleine Gaben, die nichts kosten, offeriert in einer Form, die für taktvolle Zurückweisung Raum lässt. Erst wenn die Freundlichkeiten erwidert werden, dankbare Anerkennung aufleuchtet und die Beziehung sich im Hin und Her bewährt hat, kann das Verhältnis vertieft werden. Sie trägt dann auch größere Gaben und ein langfristiges Ungleichgewicht, weil jeder dem Anderen vertraut.“ (Luhmann 2000: 56; vgl. im ähnlichen Wortlaut auch Bourdieu 1987: 181f.)
Diese von Luhmann prägnant beschriebenen Praktiken der wechselseitigen Beziehungspflege, die als Praktiken der Vertrauensbildung verstanden werden können, sind dann im Kontext von primär sachbezogenen Praxisformen des Tausches wirksam, wenn sich mit dieser Tauschform dauerhafte Kundenbindung einstellt, wenn also simultan zu den Praktiken des Kaufens und Verkaufens Praktiken des Austausches von „Wohltätigkeiten“, wie Luhmann es nennt, entstehen. Die dadurch erzeugte und verfestigte Kundenbindung reproduziert sich als persönliche Beziehung, indem die beteiligten Akteure auf der Sozialdimension der Tauschpraxis symbolisch als Stammkunden und bevorzugte Händler repräsentiert werden. Dies zeigt sich praktisch unter anderem darin, dass die Kunden beim Eintritt in das Geschäft vom Verkäufer persönlich mit ihrem Namen begrüßt und angesprochen werden und im Kontext der Kauf- und Verkaufspraxis regelmäßig persönliche Gespräche zwischen dem Kunden und dem Verkäufer praktisch werden. Ganz allgemein entstehen dauerhafte soziale Beziehungen gerade aus den eher unverbindlichen sozialen Austauschkontakten, die sich als „bestätigende Rituale“, wie Goffman (1982: 106) sie nennt, regelmäßig zwischen Akteuren ereignen, die in keiner dauerhaften sozialen Beziehung zueinander stehen, die sich also zunächst nicht kennen. Dies beginnt für Goffman bereits beim gegenseitigen Gruß zur Eröffnung einer Interaktion und zeigt sich vor
55 Siehe hierzu grundlegend Luhmann (2000 [1968]) und hier vor allem die Ausführungen zum „persönlichen Vertrauen“ (ebd.: 47ff.), die für den hier verfolgten Zusammenhang besonders hilfreich sind. Dieser Text steht im Übrigen in einem eigentümlichen Gegensatz zu Luhmanns späterer Wirtschaftssoziologie (vgl. Luhmann 1988), in der die Bedeutung der Vertrauenspraktiken zur Anbahnung und Verfestigung von (Aus)Tauschprozessen, wie oben (3.2) gezeigt, zugunsten einer funktionalistischen Theorie des Wirtschaftssystems marginalisiert wird. Eine Zusammenschau möglicher Vertrauensbegriffe im Anschluss an RCT, Institutionalismus, Phänomenologie, Luhmann und Giddens, aus der ein eigener Vorschlag für ein Vertrauenskonzept entwickelt wird, findet sich bei Guido Möllering (2005), dessen zentrales Argument es ist, dass Vertrauen immer dann gewagt werden muss, wenn die Unsicherheit in der Sozialität als hoch eingeschätzt wird.
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allem in alltäglichen Formen der Höflichkeit und des Takts, durch welche die Anwesenheit der generalisierten Anderen respektiert und anerkannt wird. Solche Austauschprozesse sind in unserer Kultur, wie auch Blau (vgl. 2005: 127) im Anschluss an Simmels formale Beziehungssoziologie bemerkt, allgegenwärtig. Hier wirken symbolische Formen des gegenseitigen Respekts, die sich etwa durch das zunächst unverbindliche Bekunden des Interesses an einem bis dahin unbekannten Mit-Akteur praktischen Ausdruck verschaffen (vgl. Goffman 1982: 101). Diese Formen der „bestätigenden Rituale“, die beispielsweise Reinhold Schmitt (vgl. 1992) im Kontext der Praxis in einem Kiosk sehr genau als Attraktoren der Genese von dauerhaften sozialen Beziehungen zwischen Kioskbesuchern ethnographisch beobachtet und sprachtheoretisch analysiert hat, können sich nur in solchen Situationen ereignen, die einen Rahmen für den Kontakt unter sich gegenseitig unbekannten Akteuren bieten, die also durch spezifische Symbole gerahmt sind. In solchen Situationen, wie etwa in einem Kiosk oder noch typischer auf einer Party, auf der sich bis dahin unbekannte Akteure ohne große soziale Barrieren begegnen können, wird es zur praktischen Norm, Gesprächsangebote von unbekannten Partygästen nicht schroff abzulehnen und zumindest unverfängliche Aspekte der eigenen Person preis zu geben. Und es bedarf bestimmter Fähigkeiten und inkorporierter Dispositionen der sozialen Akteure, derartige Situationen zu bewältigen, um nicht plötzlich zu bemerken, dass man mit seinen Vorleistungen zu weit gegangen ist oder eine gute Gelegenheit für den Beginn einer dauerhaften und interessanten Beziehung verpasst hat, weil man der oder dem Anderen zu wenig zum Austausch angeboten hat. Der Austausch von Freundlichkeiten unter sich gegenseitig bis dahin unbekannten Akteuren, der sich etwa auch während der Verkaufssituationen in einem Ladenlokal und anderen, ähnlich gerahmten Situationen regelmäßig ereignet, kann folgenlos, also unverbindlich bleiben. Er kann aber, wie bereits Simmel (vgl. 1992: 663) am Phänomen der Bekundung von Dankbarkeit deutlich macht, auch in eine andere Beziehungsform führen, in der die Verbindlichkeit der Gaben für die Beteiligten deutlich stärker zu spüren ist. Diese Formen des gegenseitigen Austausches von unscheinbaren Gaben, die zunächst unverbindlich erscheinen, sind mit anderen Worten wichtige Ausgangspunkte für die Entstehung und Reproduktion dauerhafter sozialer Beziehungen, also für gegenseitige Verbindlichkeiten, wie die Genese von Verkaufs- und Geschäftsbeziehungen exemplarisch deutlich macht. Die Tauschpraktiken bleiben auch hier regelmäßig nicht auf die sachliche Dimension der Tauschpraxis begrenzt, sondern beziehen sich häufig auf die Sozialdimension des Tausches, was zur Bildung und Reproduktion von dauerhaften sozialen Beziehungen führen kann. Die primäre Symbolisierung der hier beschriebenen Tauschformen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis ist sicher ein Grund dafür, dass Peter Blau (vgl. 1992: 88ff.) sie mit dem Begriff „social exchange“ bezeichnet und mit explizitem Bezug auf den Gabenessay von Mauss wie folgt charakterisiert: „Only social exchange tends to engender feelings of personal obligations, gratitude, and trust; purely economic exchange as such does not.“ (Ebd.: 94) Die von mir verfolgte Praxistheorie des Tausches unterscheidet sich von Blaus formaler Tauschtheorie nun vor allem dadurch, dass sie die Dichotomisierung von sozialem und ökonomischem Tausch nicht so strikt fasst wie Blau, sondern stattdessen versucht, Mischformen des Tausches zu bestimmen, weil die Praktiken des von Blau so genannten sozialen Tausches simultan mit denen des von Blau so genannten ökonomischen Tausches entstehen. Dies erzeugt, wie bereits bis hierhin deutlich geworden sein sollte, vielfältige
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Tauschformen, die weder als strikt „ökonomisch“ noch als strikt „sozial“ bezeichnet werden können. Gerade die Simultanität von praktischen Logiken des Tausches ist es, die zur Genese von sozialen Beziehungen und Strukturen führt, weil beispielsweise der primär sachbezogene Tausch den Anlass bietet für den Austausch von bestätigenden Ritualen, die sich zu dauerhaften Formen der Reziprozität verfestigen können. Bezüglich der strukturierenden Wirkung von zunächst unscheinbar wirkenden Tauschformen in alltäglichen Begegnungen zwischen sich bis dahin unbekannten Akteuren geht Georg Simmel in seinem „Exkurs über Treue und Dankbarkeit“ (Simmel 1992: 652ff.) so weit zu behaupten, die alltäglichen kleinen Gaben, die Blau als sozialen Tausch und Goffman als bestätigende Rituale fasst, seien der einzige Garant für den Zusammenhalt der Gesellschaft: „Das Geben überhaupt ist eine der stärksten soziologischen Funktionen. Ohne dass in einer Gesellschaft dauernd gegeben und genommen wird – auch außerhalb des Tausches [gemeint ist hier offensichtlich der Warentausch; F.H.] –[,] würde überhaupt keine Gesellschaft zustande kommen. Denn das Geben ist keineswegs nur eine einfache Wirkung des Einen auf den Anderen, sondern ist eben das, was von der soziologischen Funktion gefordert wird: es ist Wechselwirkung. Indem der Andere entweder annimmt oder zurückweist, übt er eine ganz bestimmte Rückwirkung auf den ersteren. Die Art, wie er annimmt, dankbar oder undankbar, so, dass er schon erwartet hat oder dass er überrascht wird, so, dass er von der Gabe befriedigt oder unbefriedigt bleibt, so, dass er sich durch die Gabe erhoben oder gedemütigt fühlt – alles dies übt eine sehr entschiedene, wenn auch natürlich nicht in bestimmten Begriffen und Maßen ausdrückbare Rückwirkung auf den Gebenden, und so ist jedes Geben eine Wechselwirkung zwischen dem Gebenden und dem Empfangenen.“ (Ebd.: 663 FN)
Die formale Beziehungssoziologie Simmels, auf die sich auch Blau immer wieder positiv bezieht, sieht mit anderen Worten im Geben die Funktion, die das Geflecht der Beziehungen, aus dem die Gesellschaft nach Simmel besteht, erst hervorbringt. Wie bereits an anderer Stelle bemerkt (siehe oben, FN 3), birgt diese Sicht die Gefahr, alle soziale Praxis als Geben, Nehmen und Erwidern, also als wechselwirksamen Tausch zu interpretieren. Indem Simmel Wechselwirkung und Tausch zuweilen synonym verwendet, weitet er den Tauschbegriff so sehr aus, dass er letztlich mit dem Begriff der Sozialität zusammenfällt (vgl. Papilloud 2003). Simmels Argument, dass sich in wechselseitigen Tauschformen soziale Beziehungen bilden, ist dann haltbar und stark, wenn spezifische Formen des Tausches als wichtige Praxisformen zur Bildung und Reproduktion sozialer Beziehungen verstanden werden. Tauschformen und soziale Beziehungen fallen nämlich dann theoretisch nicht zusammen, wenn soziale Beziehungen entweder als Folgen oder als Bedingungen des Tausches beschrieben werden. Dieses zentrale Argument einer Praxistheorie des Tausches möchte ich anhand der sozialen Dimension von primär sachbezogenen Tauschformen plausibilisieren: Die Genese von Kundenbindung kann als Beispiel für die strukturierende, also Beziehung stiftende Wirkung der Tauschformen, die Goffman als „bestätigende Rituale“ bezeichnet, angesehen werden. Und dieses Beispiel hat für die Praxisformen des primär sachbezogenen Tausches eine besondere Bedeutung, weil hier die Simultanität unterschiedlicher Tauschpraktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns in besonders anschaulicher Weise wirksam wird. Denn ist
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eine dauerhafte Kundenbindung durch den Austausch von relativ unverbindlichen Gaben zwischen Verkäufer und Käufer entstanden, ist es in der Regel nicht mehr nur das Zusammenspiel von Preis, Werbung und Marke, das die Kaufpraktiken steuert. Im Mittelpunkt des Kaufes steht jetzt die soziale Beziehung zwischen Verkäufer und Kunden, die sich als Vertrauensbeziehung eingestellt hat und dadurch die Praktiken des Kaufens und Verkaufens immer wieder neu hervorbringt. Dies ist im Übrigen nicht nur für den geldvermittelten Austausch von so genannten Wertgegenständen zu beobachten. Da diese Tauschprozesse mit bestimmten Tauschakteuren relativ selten sind, kommt es in diesem Zusammenhang, also etwa beim Kauf eines Autos, typischerweise zu mehreren Zusammenkünften, Verkaufsgesprächen und Kontakten zwischen Anbieter und Käufer, bevor der Tausch vollzogen wird. Auf diese Weise kann eine längerfristige soziale Beziehung hergestellt werden, die den Kauf für den Anbieter und den Käufer etwa des Autos erleichtert. Ist dieser außeralltägliche Tauschprozess abgeschlossen, wird die soziale Bindung der Reziprozität etwa dadurch auf Dauer gestellt, dass das gekaufte Auto regelmäßig zur Inspektion oder Reparatur in die Werkstatt des Autoverkäufers gebracht wird. Auch der alltägliche Kauf und Verkauf von Lebensmitteln am Wohnort folgt oft der praktischen Logik einer dauerhaften Reziprozität, die sich nicht bewusst ereignet aber dennoch die Praktiken des Kaufens in hohem Maße bestimmt. So ist beispielsweise häufig zu beobachten, dass die Frühstücksbrötchen immer im selben Bäckereigeschäft erworben werden, weil hier eine vertraute Situation vorgefunden wird, in die der Kauf von Waren sozial eingebettet ist. Der Preis der Brötchen ist jetzt nur noch eine unter vielen Bedingungen für das Zustandekommen eines geldvermittelten Tausches. Diese soziale Einbettung von primär sachbezogenen Tauschformen in Symbole und Sinnstrukturen, die auf der Sozialdimension der Tauschpraxis erzeugt und reproduziert werden, kann nicht als Ausnahme verstanden werden. Eher selten ist vielmehr eine reine Sachbezogenheit von Tauschpraktiken, die, wie bereits angedeutet, lediglich auf unrealistischen Modellmärkten vorstellbar ist. Große Warenhausketten und Discounter, die zunächst einem strikt sachbezogenen Tausch Vorschub leisten, indem sie ihr Angebot von Waren stark durch den Preis symbolisieren, ersetzen ihre mangelnden Möglichkeiten, dauerhafte Kundenbindung durch die Genese persönlicher Beziehungen zwischen Käufer und Verkäufer herzustellen, mit einer aggressiven Werbung und dem Symbolisieren ihrer Verkaufsgegenstände als besondere Marken, die trotz ihrer Qualität besonders preiswert sind. Dadurch sind die Tauschpraktiken, die im Kontext derartiger Verkaufsstellen praktisch werden, in andere symbolische Formen eingebettet als die Tauschpraktiken im Kontext von Verkaufsstellen, die ihre Waren als qualitativ hochwertig symbolisieren und ihre Verkaufspraktiken als kulturelle Rituale inszenieren. Die Formen des sachbezogenen Tausches für den Konsum von Waren sind folglich vielfältig. Die Sozialdimension der Tauschpraxis ist für diese Praxisform häufig nicht weniger wichtig als die Sachdimension. Dies machen auch neuere Ergebnisse der kultursoziologischen Konsumforschung deutlich, die Formen der Politisierung des Konsums entdecken.56 Diese verschaffen sich unter anderem dadurch Ausdruck, dass eine immer größer werdende
56 Vgl. hierzu den Überblick von Jörn Lamla (2006) sowie die Beiträge in Lamla und Neckel (2006) sowie in Hellmann und Schrage (2005).
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Gruppe von Konsumenten sehr genau prüft, von wem Waren erworben werden. Die Kaufkriterien werden hier häufig explizit politisch und moralisch symbolisiert, indem etwa geprüft wird, ob die zum Kauf angebotenen Waren von den Anbietern fair auf dem Weltmarkt gehandelt worden sind, oder ob die Anbieter von Waren darauf achten, dass in den Herstellerbetrieben bei der Warenproduktion bestimmte Sozialstandards wie Menschenrechte, faire Löhne und sozialverträgliche Produktionsbedingungen eingehalten werden (vgl. Lamla 2006: 12f.). Diese „Politik mit dem Einkaufswagen“ (vgl. Lorenz 2006), wie dieses Konsumverhalten in der öffentlichen Diskussion häufig bezeichnet wird, ist nicht nur mit politischen, sondern auch mit sozialstrukturell erzeugten Dispositionen der Akteure verbunden. So belegen qualitative empirische Studien, dass es sich bei diesem Konsumverhalten um eine typische Praxisform der Mittelschicht handelt (vgl. Lamla 2006: 13). Dennoch wird an ihr exemplarisch deutlich, dass selbst im alltäglichen Kauf von Konsumgütern die symbolischen Formen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis auf die Verkettung der Kauf- und Verkaufspraktiken wirken. Auch die Anbieter von Waren bedienen die politisierten Dispositionen der Konsumenten, also deren „Konsum-Kompetenz“ (Hitzler und Pfadenhauer 2006), mit einer Erweiterung des Warenangebotes oder mit einer veränderten Werbung für die angebotenen Produkte, die sich, wie Rudi Maier (vgl. 2006) rekonstruiert, immer häufiger der Symbole von politischen Protestbewegungen bedient, um die angebotenen Waren für bestimmte Zielgruppen, die auf der Sozialdimension der Tauschpraxis als Käufergruppen mit spezifischen Eigenschaften und Dispositionen konstruiert werden, als attraktiv zu symbolisieren. Dies zeigt: Jeder Tausch, auch der Kauf und Verkauf von Konsumgütern, ist sozial in eine Symbolstruktur eingebettet, weil es den ersten Tausch zwischen Akteuren, die sich voraussetzungslos auf Märkten begegnen, selbstverständlich nicht geben kann. Wichtig ist nur zu sehen, dass die Formen der symbolischen Repräsentation von Tauschpraktiken auf der Sozialdimension sich nicht darauf begrenzen lassen, lediglich bereits vorhandene Sinnformen zu reproduzieren, um innerhalb dieses symbolischen Rahmens durch aggressive Werbung ständig neue Bedürfnisse bei den potenziellen Kunden zu erzeugen, wie es etwa noch in der bewusstseinsphilosophisch angelegten Kritik der Kulturindustrie durch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (vgl. 1984: 108ff.) gesehen wird. Eine plötzliche Veränderung des praktischen Konsumverhaltens wird etwa durch Marktforschung erkannt und wirkt sich auf das Warenangebot aus. Die Praktiken des Kaufens und Verkaufens sind also nicht per se durch bereits vorhandene Konsum- und Markensymbole determiniert. Die symbolischen Formen des Konsummarktes können sich mit anderen Worten durch die Praxis des Kaufens verändern. Sie werden gar unter bestimmten Bedingungen, die hier am Beispiel der Entstehung dauerhafter Kundenbindung durch die praktische Simultanität der Praktiken des Kaufens, Verkaufens und Schenkens verdeutlicht wurden, erst durch die Tauschpraktiken hervorgebracht, so dass bestimmte Formen der sozialen Einbettung des Tausches erst in der Tauschpraxis entstehen. Das Argument der sozialen Einbettung von primär sachbezogenen Tauschformen in symbolische Formen der Sozialdimension der Tauschpraxis führt mich dazu, einen weiteren Aspekt der Sozialdimension, nämlich die Form der sozialen Beziehungen, in deren Kontext Tauschprozesse praktisch werden, zu untersuchen. Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Tausch zwischen sozialen Akteuren praktisch werden kann, die sich gegenseitig im
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Tausch zum ersten Mal begegnen, die sich also nicht kennen. Hier, also beispielsweise auf anonymisierten Konsummärkten, wirkt zunächst, wie bereits gezeigt, die symbolische Generalisierung der Tauschakteure zu Anbietern und Nachfragern von Tauschgegenständen. Sehr häufig sind Tauschpraktiken jedoch in soziale Beziehungen eingebettet, die sich, dies war mein Beispiel, als dauerhafte Geschäftsbeziehungen aus primär sachbezogenen Tauschprozessen heraus bilden, die jedoch selbstredend bereits vor dem Tauschprozess in anderen Zusammenhängen entstanden sein können. Bei zuletzt genannten handelt es sich beispielsweise um Freundschafts-, Liebes-, Familien- und andere Formen von Verwandtschaftsbeziehungen, die besondere Formen der Reziprozität hervorbringen, innerhalb derer spezifische Formen des Tausches möglich sind, die sich nicht zwischen Akteuren ereignen, die sich gegenseitig kaum oder gar nicht kennen. Für derartige Tauschprozesse innerhalb von Freundschafts-, Liebes- oder Familienbeziehungen ist besonders evident, „dass allein aus dem Vergleich der ausgetauschten Güter nicht abzuleiten ist, woran der Austausch orientiert ist“ (Hollstein 2005: 190). Zwar ist es auch in diesen Zusammenhängen möglich, dass sich die Akteure der sozialen Beziehung gegenseitig Güter und Leistungen abkaufen. Typischerweise ereignen sich Tauschprozesse hier jedoch nicht in primär sachbezogener Form. Innerhalb der Beziehung etwa zwischen Freunden wirken gegenseitige Konstruktionen des jeweiligen Anderen als Freund oder Freundin, die sich auf der Sozialdimension der Praxis ereignen und die Praxisformen innerhalb der sozialen Beziehung bestimmen. Dazu kann, wie im Beispiel der Freundschaft, auf eine breite kulturelle Tradition zurückgegriffen werden, wie Andreas Reckwitz (2006: 364) veranschaulicht: „Bürgerliche Freundschaften sind Interaktionssysteme von zwei Personen, die einander als individualisiert wahrnehmen, aber in ihrer spezifischen Individualisierung den Anderen als ‚seelenverwandt’, als charakterlich ähnlich erkennen, Ähnlichkeit ist hier eine unwahrscheinliche Größe und die Freundschaft jener Ort der gefundenen Affinität zweier Individuen, die von emotionaler Empfindsamkeit geprägt ist.“
Innerhalb derartiger sozialer Beziehungen der Wahlverwandtschaft ereignen sich Tauschprozesse, wie leicht nachvollzogen werden kann, in eigentümlicher Weise. Hier ist der paradigmatische Ort für das, was im Anschluss an Paul Ricœur (vgl. 2006: 290ff.) als praktische Wechselseitigkeit durch den (Aus)Tausch von Anerkennung bezeichnet werden kann.57 Diese Tauschform vollzieht sich in der Regel als ein wechselseitiges Geben von Wohltätigkeiten, ohne damit eine über die Freundschaft hinausweisende Verpflichtung zu erzeugen. Obwohl sie nicht explizit aufeinander bezogen sind, ereignen sich die Gaben wechselseitig, um die Freundschaft praktisch zu reproduzieren und die wechselseitige Anerkennung immer wieder neu zu demonstrieren. Die zeitliche Streckung zwischen Gabe und Gegengabe ist unbestimmt, weil Gabe und Gegengabe nicht explizit, sondern symbolisch aufeinander bezogen sind. Das heißt: Eine Gegengabe kann nicht explizit eingefordert werden, obwohl sie innerhalb einer Freundschaftsbeziehung typischerweise erwartet werden kann. Sie ist ein unbestimm57 Im Abschnitt 3.3 dieser Arbeit habe ich im Kontext der theoretischen Durchdringung des Gabentauschmechanismus’ den Ricœur’schen Begriff der Wechselseitigkeit ausführlich diskutiert, vom Begriff der Gegenseitigkeit unterschieden und auf den Begriff der Reziprozität bezogen.
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tes und nicht artikulierbares Versprechen der Freundschaftsbeziehung. So wird Freunden deutlich mehr vergeben als lediglich bekannten, unbekannten oder gar fremden Akteuren. Auf die Probe werden Freundschaften hingegen dann gestellt, wenn plötzlich die Gegengabe zum Thema wird. Die auf der Sozialdimension des Tausches eingespielte Wechselseitigkeit steht durch primär sachbezogene Praktiken zur Disposition: Wird innerhalb einer Freundschaftsbeziehung etwa ein Geschenk direkt zurückgegeben oder gar mit Geld bezahlt, bedarf dies einer ausführlichen Begründung, in deren Mittelpunkt dann nicht selten der Fortbestand der Freundschaftsbeziehung steht. Dies verdeutlicht: Die Tauschformen innerhalb von Freundschaftsbeziehungen, die in Anlehnung an den Begriff “exclusive restricted exchange” von Peter Ekeh (1974: 50) als exklusive Formen des Tausches bezeichnet werden können, haben ihren primären Bezug auf der Sozialdimension der Tauschpraxis, weil die Verkettung von Tauschpraktiken zu Tauschformen hier vor allem dadurch gesteuert wird, dass sie sich zwischen exklusiven, in besonderer Weise als Freunde bzw. Freundinnen symbolisierten Akteuren ereignet.58 Die Ausformungen des exklusiven Tausches sind innerhalb der bisher beschriebenen Bedingungen vielfältig. Im Kontext intimer Liebesbeziehungen, die wie Freundschaftsbeziehungen mit einer wirkmächtigen kulturellen Tradition zur sozialen Konstruktion von exklusiven Mit-Akteuren symbolisiert sind (siehe hierzu nur Luhmann 1982), ereignen sich Tauschprozesse insofern anders als in Freundschaftsbeziehungen, weil hier das Spektrum der getauschten Zuwendungen zum einen vielfältiger und zum anderen spezifischer ist. Die bereits oben im Kontext der Diskussion von Batailles Kulturtheorie der Gabe angesprochenen Liebesgaben, Formen der ostentativen Verausgabung und Entäußerung, der Austausch spezieller Geheimnisse, die nur für den Geliebten oder die Geliebte vorgesehen sind, und ähnliche Formen von ganzheitlichen Gaben, die symbolisch mit der ganzen Person der beteiligten Akteure verbunden sind und als Austausch von Intimitäten verstanden werden können, sind typischerweise exklusive Praktiken innerhalb der Liebesbeziehung. Die Gaben sind soziale Gaben, weil sie die Verausgabung der Person an die zweite Person der Liebesbeziehung symbolisch zum Ausdruck bringen, also primär auf der Sozialdimension der Tauschpraxis geformt werden. Der Austausch wird hier von den Beteiligten regelmäßig nicht als Austausch wahrgenommen, sondern als ein wechselseitiges Aufeinanderbezogensein, das sich jeder Berechnung und Kalkulation und letztlich jeder Form von Austausch entzieht. Die Praxisformen in Liebesbeziehungen können folglich nur schwer mit einer Theorie des Tausches erfasst werden, weil sie sich nur bedingt als Formen des exklusiven Tausches interpretieren lassen. In Intimbeziehungen werden mit anderen Worten Grenzformen des Tausches praktisch, die als exklusive Hingaben im Prinzip der Wechselseitigkeit gefasst werden können. Erst wenn es in der Liebesbeziehung zu einer Krise kommt, werden die Beziehungsformen möglicherweise als Austauschbeziehungen symbolisiert, was nicht selten
58 Werden die „Tauschpartner“ exklusiv als Feinde symbolisiert, können Formen der negativen Reziprozität entstehen, die sich als Praxisformen häufig im Kontext organisierter Kriminalität zwischen konkurrierenden Organisationen einstellen. Bei negativer Reziprozität geht es nach Gouldner (1984: 100) um „Vergeltungshandlungen, wo die Betonung nicht auf der Erwiderung einer Gunst, sondern auf die Beantwortung einer Kränkung …liegt“. Diese Praxisform ist als Verkettung von Tauschpraktiken zu begreifen, weil hier als negativ symbolisierte Gaben durch erneut negativ symbolisierte Gegengaben erwidert werden, was eine dauerhafte soziale Beziehung erzeugen kann, in der regelmäßig Sanktionen ausgetauscht werden.
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dazu führt, dass die Intimität im Praxisprinzip der wechselseitigen Anerkennung durch das Praxisprinzip der Gegenseitigkeit ersetzt wird, was dann gravierende Auswirkungen auf die Intimbeziehung hat. Denn wird der Nutzen einer intimen Beziehung der wechselseitigen Anerkennung thematisiert, transformiert sich die Beziehung schnell in eine der Gegenseitigkeit, in der es um gerechten Austausch und gegenseitige Pflichtschuldigkeit geht. Geschieht dies, erscheint die Beziehung den Beteiligten häufig nicht mehr als Liebesbeziehung, weil sie ihren besonderen Charakter dadurch verloren hat, dass die gegenseitigen Hingaben nicht mehr in selbstverständlicher Form praktisch werden. Auch in Familienbeziehungen, die aus Liebesbeziehungen entstehen können, ereignen sich Formen exklusiven Tausches, die als Grenzformen des Tausches interpretiert werden müssen. So geht es vor allem in den ersten Jahren der Eltern-Kind-Beziehung nicht um gegenseitige Pflichtschuldigkeit, sondern um die Unerstützung und Versorgung der Kinder durch die Eltern, zu der sie im Übrigen gesetzlich verpflichtet sind. Die Kinder können diese Zuwendungen zunächst nicht ablehnen und deshalb wird eine Form von Dankbarkeit von Säuglingen und Kleinkindern typischerweise nicht verlangt. Die Existenz des Kindes, durch symbolische Formen kulturell auf der Sozialdimension des Sinngeschehens repräsentiert, gilt als hinreichender Grund für die Zuwendungen, ohne die Säuglinge und Kleinkinder nicht fähig sind zu überleben (vgl. Hollstein 2005: 192). Diese Eltern-Kind-Beziehung, oder genauer, eine verlässliche Versorgungsbeziehung in der ersten Lebensphase des Kindes erzeugt, wie Anthony Giddens mit Bezug auf Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie feststellt, eine „ontologische Sicherheit“, die als ein „Zutrauen der meisten Menschen zur Kontinuität ihrer Selbstidentität und zur Konstanz der sie umgebenden sozialen und materialen Handlungsumwelt“ (Giddens 1996: 118) verstanden werden kann. Auf dieses Zutrauen, das ein Gefühl für die Zuverlässigkeit der Mit-Akteure einschließt, kann im weiteren Verlauf des Lebens nur schwer verzichtet werden. Sozialpsychologisch gesehen sind die frühe Elter-Kind-Beziehung und die hier praktisch werdenden Formen der Zuwendung an das Kind von großer Bedeutung für die Entwicklung der Identität des Kindes. Diese Notwendigkeit der permanenten Zuwendung an das neu geborene Kind wird in wirkmächtiger Weise kulturell symbolisiert. Die Gegenleistung für diese Hingabe ist unbestimmt, die Sorge um das Kind gilt als Pflicht, die nicht abgegolten werden kann. Deshalb entsteht hier eine enge Bindung zwischen Eltern und ihren Kindern, die sich typischerweise in einer lebenslangen Beziehung der Reziprozität Ausdruck verschafft. Dies zeigt, dass wir uns auch hier an den Grenzen des Tauschbegriffs befinden, weil der exklusive Tausch in Familien häufig vollständig generalisierte und zeitlich unbestimmte Gegengaben möglich macht, die nicht explizit auf eine erste Gabe bezogen werden können. Dies macht es sinnvoll, die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Eltern und Kindern als eine starke, auf Dauer gestellte Form der Reziprozität zu betrachten, die Grenzformen des exklusiven Tausches hervorbringt.59 Formen des exklusiven Tausches, die ich hier an den Beispielen von Tauschformen zwischen Freunden, Liebenden und Familienmitgliedern erörtert habe, sind augenscheinlich 59 Dass es einen Unterschied gibt zwischen dem exklusiven Tausch zwischen Eltern und Kindern und dem exklusiven Tausch zwischen Geschwistern oder anderen Verwandten, liegt auf der Hand, soll aber an dieser Stelle nicht ausführlich erörtert werden, weil es mir im hier verfolgten Zusammenhang vor allem und die wichtigsten Praxisformen des Tausches geht, die schon aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht vollständig in all ihren Nuancierungen beschrieben werden können.
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die Tauschformen, in denen die praktische Logik des Gabentausches in besonders wirkmächtiger Form relevant ist. Relativ unbestimmte Gaben und Gegengaben sind nicht explizit aufeinander bezogen und können dennoch relativ sicher erwartet werden. Der Zeitpunkt, zu dem Gaben erwidert werden, ist unbestimmt. Sehr genau bestimmt ist hingegen, wer mit wem in exklusiver Form in einer Tauschbeziehung steht, die sich nicht primär auf gegenseitige Pflichtschuldigkeit stützt, sondern auf wechselseitige Anerkennung der am Tausch beteiligten als das, was sie für den anderen sind, nämlich Freunde, Geliebte oder enge Verwandte. Während also im exklusiven Tausch die Sozialdimension des Tausches sehr strikt und exklusiv bestimmt ist, sind die Zeit- und Sachdimension des Tausches relativ unbestimmt. Diese Eigenschaften des exklusiven Tausches verdeutlichen, dass es sich hierbei, wie bereits Ekeh (vgl. 1974: 50) erkennt, um eine Grenzform des Tausches handelt.60 An dieser Stelle schließt sich ein Gedanke für die Tauschtheorie an, der durch die Thematisierung der Sozialdimension der Tauschpraxis sichtbar wird: Wenn es im Kontext von Freundschafts-, Liebes und Verwandtschaftsbeziehungen Formen des exklusiven Tausches gibt, die sich als Grenzformen des Tausches primär im Modus der Wechselseitigkeit reproduzieren, müssen diese von Formen des Tausches unterschieden werden, die primär im Modus der Gegenseitigkeit praktisch werden. Hier findet der Tausch zwischen Akteuren statt, die sich bekannt sind, ohne in einer Freundschafts-, Liebes- oder Verwandtschaftsbeziehung miteinander zu stehen. Zu denken ist etwa an Nachbarn, Kollegen, lockere Bekanntenkreise, Freizeitbekanntschaften, Vereinsmitglieder und andere Gruppen von Akteuren, die in relativ unverbindlicher Weise zueinander in Beziehung stehen und gelegentlich in geselliger Form zusammenkommen. Das gegenseitige Geben, Nehmen und Erwidern geschieht hier als gegenseitige Unterstützung in bestimmten Situationen, die typischerweise als relativ leicht zu bewältigende Alltäglichkeiten symbolisiert werden. Gemeint ist etwa der Austausch von Lebensmitteln zwischen Nachbarn, wenn beispielsweise das Mehl für den Kuchen oder die Milch für das Frühstück ausgegangen sind. In diesen Zusammenhängen erscheint das Geben als Leihgabe, die, wenn es die Situation verlangt, zu einem relativ unbestimmten Zeitpunkt zurückgegeben wird. Ein anderes Beispiel für diese auf dem Praxisprinzip der Gegenseitigkeit beruhende Tauschform ist die gegenseitige Unterstützung zwischen den Mitgliedern eines Bekanntenkreises, die sich etwa in geselliger Runde gegenseitig mit neuen Informationen und kleinen Gefälligkeiten versorgen. Leicht ersichtlich ist in diesem Zusammenhang, dass sich diese Form des gegenseitigen Austausches unter bestimmten Bedingungen in einen exklusiven Tausch zwischen zwei Akteuren transformieren kann, so dass es zu einer Liebes- oder Freundschaftsbeziehung kommt. Denn die Übergänge zwischen gegenseitigem und wechselseitigem Gabentausch sind oft fließend.
60 Lars Clausen (vgl. 1978: 125), der bezüglich der Typologisierung von Tauschformen zuweilen sehr eigenartige Begriffe verwendet, wodurch seine Tauschtheorie nur schwer an die soziologische Diskussion des Tausches angeschlossen werden kann, bezeichnet den exklusiven Tausch als „Robinson-Freitag-Tausch“ (ebd.), um deutlich zu machen, dass in einem derartigen Modell zwei bestimmte Tauschpartner ganz bestimmte Tauschgüter dauerhaft und exklusiv miteinander tauschen. Die Metapher „Robinson-Freitag-Tausch“ soll auf die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Tauschform aufmerksam machen. Ekeh (vgl. 1974: 50) weist darauf hin, dass individualistische Tauschtheorien, er nennt Homans und Blau als wichtigste Beispiele, gerade diese unwahrscheinliche Tauschform als Ausgangspunkt für den Tauschbegriff verwenden, was zu verkürzten Konzeptionen des Tausches führt.
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Darüber hinaus muss im Kontext der Analyse der Sozialdimension der Tauschpraxis gesehen werden: Wechselseitige und vor allem gegenseitige Gaben werden, wie das Beispiel der Nachbarschaftshilfe schon erahnen lässt, nicht nur als Formen des exklusiven Tausches zwischen zwei eindeutig symbolisierten Tauschpartnern praktisch. Häufig sind die Tauschakteure auch in Formen des geldlosen Tausches nicht so eindeutig bestimmbar, weil auch hier symbolische Generalisierungen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis wirksam werden. Um dies für eine Tauschtheorie zu berücksichtigen, kann man mit Peter Ekeh (1974: 50) Formen des exklusiven Tausches von Formen des generalisierten Tausches unterscheiden. Mit dieser Unterscheidung wird deutlich, dass der exklusive, restriktiv symbolisierte Tausch von bestimmten Tauschgegenständen zwischen zwei nicht auswechselbaren Akteuren nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme des Tausches ist, die aber, was Ekeh nicht deutlich genug herausstellt, dennoch regelmäßig entsteht. Nichts desto trotz muss gesehen werden, dass Praxisformen des Tausches häufig in generalisierter Form wirksam werden: Die Tauschakteure sind nicht immer eindeutig bestimmbar und werden deshalb nicht nur auf dem Markt für Massenkonsumgüter als abstrakte Bedingungen des Tausches symbolisiert, indem, wie bereits gesehen, eine symbolische Generalisierung der Akteure zu Anbietern und Nachfragern von Waren praktisch wird, die sich wiederum in unterschiedliche Ausformungen differenziert, wenn etwa bestimmte Marktsegmente beobachtet werden oder wenn bestimmte Bedürfnisse geweckt oder bedient werden sollen. Der praktische Tausch ereignet sich zwar auch in diesen Zusammenhängen in der Interaktion zwischen zwei Akteuren, in einen derartigen Tausch sind dennoch symbolisch potenziell alle Akteure eingeschlossen, indem diese zu abstrakten Adressen und Ausgangspunkten des Tausches generalisiert sind. Nicht nur hier sind symbolische Generalisierungen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis für die Verkettung von Tauschpraktiken relevant. Bereits in Formen des exklusiven Kettentausches ist eine Generalisierung der am Tausch beteiligten Akteure durch die symbolische Form der Mitgliedschaft wirksam. Denn diese Formen des Tausches ereignen sich exklusiv zwischen den Mitgliedern einer genau definierten Gruppe, also etwa in Vereinen, in Selbsthilfegruppen, in Arbeitsteams oder in eigens dafür gegründeten Tauschringen, die es inzwischen fast in jeder größeren Stadt als Vereine für das programmatische Praktizieren geldloser Tauschformen gibt. Die Gaben werden in Formen des Kettentausches, ähnlich dem vom Malinowski beschriebenen Kula in und zwischen polynesischen Stämmen, in generalisierter Form an die Mitglieder einer Gruppe gegeben, wobei die Gegengabe an den gebenden Akteur nicht explizit von dem Akteur ausgehen muss, der die Gabe erhalten hat. Sie kann und wird im Kettentausch typischerweise von einem anderen Mitglied der Gruppe als Gabe praktisch, so dass ein Austauschsystem zwischen den Gruppenmitgliedern auf der Basis der symbolischen Generalisierung der Tauschakteure als Mitglieder einer exklusiven Gruppe von Tauschpartnern entsteht. Im Kontext der Generalisierung des Tausches auf der Sozialdimension der Tauschpraxis formen sich des Weiteren Praktiken der zentralen Sammlung und Wiederverteilung von Gütern und Leistungen, die Sahlins (vgl. 1999: 150) mit dem Begriffspaar „Pooling und
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Redistribution“ bezeichnet.61 Diese Formen der Redistribution sind Formen des Tausches, die etwa im Kontext von Mitgliedsbeiträgen praktisch werden. Jedes Mitglied der Gruppe ist durch die Mitgliedschaft verpflichtet, einen Beitrag für die Gruppe zu geben, der zentral gesammelt, in eine Leistung transformiert und so als abstrakte Gegengabe wieder an die Mitglieder der Gruppe verteilt wird. Diese Redistribution generalisiert die Gegenseitigkeit in der Tauschpraxis auf eine abstrakte Gruppe von Tausch-Akteuren, die sich unter Umständen nie begegnen und dennoch in abstrakter Form in einer Tauschbeziehung zueinander stehen. So zahlen Mitglieder einer politischen Partei regelmäßig Mitgliedsbeiträge, die für die politischen Ziele der Partei eingesetzt und dadurch an die Mitglieder der Partei in abstrakter Form zurückgegeben werden. In solchen Formen der Redistribution, die stark generalisiert sind, können die Austauschprozesse nicht immer eindeutig sozialen Akteuren zugerechnet werden, obwohl hier vor allem die Gabe auf der Sachdimension typischerweise sehr strikt reguliert ist. In generalisierter Redistribution erhalten unbestimmte Tauschpartner abstrakte und unbestimmte Gegengaben für sehr konkret bestimmte Gaben. Diese Praxisform ist die Grundlage für die Steuersysteme von Staaten, in denen Lohn-, Einkommens-, Mehrwert-, Luxus-, Vermögens-, Gewerbe- und andere Formen von Steuern gesetzlich erzwungen von den Bewohnern des Staatsgebietes eingezogen werden. Diese staatlich verordnete Verpflichtung der Staatsbürger, Steuern zu geben, kann dann als eine Tauschform beschrieben werden, wenn sich mit ihr symbolische Formen verbinden, die den Steuerzahlern den Eindruck vermitteln, dass sie für ihre konkreten Steuergaben abstrakte Gegenleistungen wie sozialen Frieden, soziale Sicherheit, staatlich finanzierte Schwimmbäder, Bibliotheken, ein staatlich finanziertes und organisiertes Schul- und Bildungssystem, allgemeine Krankenversorgung, Rechtsstaatlichkeit, Militär, die Finanzierung und Aufrechterhaltung des staatlichen Gewaltmonopols, staatliche Subventionen für bestimmte, in der Krise befindliche Wirtschaftsbranchen und andere staatlich garantierte Leistungen bekommen. Das staatliche System der zentralen Sammlung und Verwaltung von Steuern und ihrer Redistribution für die Wohlfahrt der Staatsbevölkerung ist eine hoch generalisierte Form des Tausches, die von der Steuern zahlenden Bevölkerung typischerweise nicht bewusst als Tausch interpretiert wird, weil die Gegenleistungen für die konkreten Steuern auf der Zeit- und Sachdimension der Tauschpraxis so sehr generalisiert sind, dass sie nur noch schwer als Gegengaben, die in Beziehung zu den gegebenen Steuern stehen, symbolisiert werden können. Eine der quantitativ umfangreichsten Formen des Besitzwechsels von Geldmitteln im Steuersystem der Gegenwart erscheint einer großen Mehrheit der Steuern zahlenden Akteure nicht als Tausch, sondern wird als eine rechtliche Verpflichtung interpretiert. Im Mittelpunkt der Steuerpraxis steht auf Seiten der Steuern zahlenden Bevölkerung häufig der Versuch, möglichst wenig Steuern zu zahlen, obwohl die zentrale Samm-
61 Er bezeichnet mit diesen Begriffen die zentrale Sammlung und Widerverteilung von Gütern durch Häuptlinge an die Mitglieder seines Stammes in tribalistischen Gesellschaften. Polanyi (vgl. 1978: 77f.) sieht die Redistribution zusätzlich als eine typische Tauschform von Gesellschaften an, deren Tauschformen nicht mehr nur auf einen Stamm begrenzt bleiben, die jedoch noch kein globales Marktsystem ausgebildet haben. Er nennt hier feudale Königreiche oder Fürstentümer (vgl. ebd.: 82). Ich möchte dagegen betonen, dass Redistribution als Tauschform gerade auch in unserer Gesellschaft wirksam ist. Sie formt sich, wie gleich deutlich werden wird, in unterschiedlichen Symbolen vor allem auf der Sozialdimension der Tauschpraxis.
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lung, Verwaltung und Redistribution von Steuermitteln durch den Staat eine der wichtigsten strukturellen Grundlagen der gegenwärtigen Gesellschaft ist. Eine allgemeine Praxistheorie des Tausches ist nicht der Ort, an dem diese Form des redistributiven Tausches ausführlich diskutiert und problematisiert werden kann. Dies muss nachfolgenden Untersuchungen überlassen werden. Wichtig ist nur zu sehen, dass es sich hier um eine Form des Tausches handelt, die nur dadurch praktisch wird, dass die am Tausch beteiligten Akteure auf der Sozialdimension der Tauschpraxis symbolisch generalisiert sind. Ein abstrakter Staat kann auf der Sozialdimension der Praxis als Akteur symbolisiert werden, der durch eine oft undurchsichtige Gesetzgebung die Bevölkerung rechtlich verpflichtet, diverse Beiträge für das Funktionieren des staatlichen Gemeinwesens zu leisten, wobei die Gegenleistung dafür eben das staatliche Versprechen ist, dass das staatliche Gemeinwesen zum Wohle aller Bevölkerungsmitglieder funktioniert. Politische Entscheidungen sind nun genau auf diese Konstellation bezogen, wenn etwa die Frage beantwortet werden muss, wer wie viel Steuern zu zahlen hat und wofür das Steueraufkommen des Staates verwendet wird, wie es also an die Bevölkerung wieder verteilt werden kann. Häufig wird hier ein abstraktes Solidaritätsprinzip praktisch, indem mit dem Begriff der Gerechtigkeit symbolisiert wird, dass diejenigen, die vergleichsweise viel besitzen, möglichst hohe Steuern aufbringen müssen, damit diejenigen, die vergleichsweise wenig besitzen, vom relativen Reichtum der anderen profitieren können. Durch die staatliche Redistribution des Steueraufkommens steht die Bevölkerung folglich in einem abstrakten Austauschverhältnis zueinander, das durch Symbolisierungen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis möglich wird. Diese „Sozialbeziehungen sind … unpersönlich, bürokratisiert und verrechtlicht“ (Lessenich und Mau 2005: 258). Und derartige Formen der abstrakt symbolisierten Redistribution werden nicht nur im Steuersystem, sondern auch in den Praxisformen des Sozialstaats wirksam, die sich nicht nur auf steuerfinanzierte Sozialleistungen wie etwa die deutsche Sozialhilfe, sondern auch auf ein Sozialversicherungssystem stützen.62 Nach Marcel Mauss, ein Zeitgenosse der Entstehung des französischen Sozialstaates, zielt die Gesellschaft mit ihren sozialstaatlichen Arrangements „auf das Individuum, umsorg es in einer merkwürdigen Geisteshaltung, in der sich das Gefühl für seine Rechte mit anderen, reineren Gefühlen vermischt: Wohltätigkeit, ‚soziale Dienste’ und Solidarität“ (Mauss 1990: 161). Mauss sieht, ganz in Sinne seines Begriffs der Gabe als einer totalen sozialen Tatsache, die Vermischung rechtlicher, wohltätiger und solidarischer Motive bei der Einführung sozialstaatlicher Absicherungen und Zuwendungen. Dennoch verklärt er die Gabe an dieser Stelle zu einer vergessenen Praxisform, die für seine Gegenwartsgesellschaft reaktiviert werden muss, um die mit der Industrialisierung wachsenden sozialen Probleme einer Lösung näher zu bringen. Denn er fügt hinzu: „Das Thema der Gabe, der Freiwillig-
62 Es gibt eine breite Forschung zur Genese des Sozialstaates, die hier nicht im Einzelnen angeführt werden kann. Vgl. exemplarisch neben François Ewalds (1993) umfassend angelegter Studie für die Entwicklung in Frankreich auch die ausführliche Rekonstruktion der Entwicklung von Sozialstaaten in den wichtigsten Ländern Europas und den USA durch Abraham de Swan (1993: passim und vor allem Kapitel 5). Darüber hinaus möchte ich hier anmerken, dass die praktische Umsetzung des Sozialstaatsprinzips durch die Praxisform der professionellen sozialen Hilfe geschieht, die als Sozialarbeit und Sozialpädagogik bezeichnet wird und sich in vielschichtiger Form spezialisiert. Aus Gründen der Übersichtlichkeit werde ich hier nicht ausführlich auf diese Praxisformen eingehen. Näheres hierzu findet sich in Hillebrandt (1999: 156ff. und 277ff.).
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keit und des Zwangs der Gabe, der Großzügigkeit und des Interesses, taucht in unserer Gesellschaft wieder auf wie ein beherrschendes, doch lange vergessenes Motiv.“ (Ebd.) Mit dieser Aussage übersieht Mauss, dass den Austauschbeziehungen, die durch die Praktiken des Sozialstaates zwischen den Mitgliedern der Bevölkerung erzeugt werden, die „eigentümliche Kombination aus Freiwilligkeit und normativer Erwartung“ (Lessenich und Mau 2005: 258) fehlt, die als charakteristisch für den Gabentausch angenommen werden kann. Denn das zentrale Strukturmerkmal des Sozialstaates ist es, dass er die „Angewiesenheit auf zwischenmenschliche Solidarität“ (Göbel und Pankoke 1998: 471) zur Absicherung des Lebens durch rechtlich garantierte Sozialleistungen ersetzt. Gegen die sozialmoralische Reflexion des Sozialstaates durch Mauss muss deshalb zunächst hervorgehoben werden, dass im Kontext des Sozialstaatsprinzips primär einklagbare soziale Rechte und Versicherungsarrangements wirksam werden, die eben nicht auf den Prinzipien der Gabe, also auf Freiwilligkeit, Dankbarkeit und Pflichtschuldigkeit, sondern auf den Prinzipien einer zentralen Zusammenlegung und Redistribution von Mitteln beruhen, also auf ein vom Staat erzwungenes, weitgehend unpersönliches Tauschprinzip. Große Teile der Sozialphilosophie des 19. Jahrhunderts sind im Zusammenhang mit gesellschaftlich hervorgebrachter Armut und sozialer Not bereits sehr viel deutlicher als Mauss davon überzeugt, dass die Praxisformen der gegenseitigen Unterstützung zwar vorhanden sind, jedoch zur Bewältigung von Armut und sozialer Not nicht ausreichen, so dass als Ergänzung zu den sozialmoralisch erzeugten Verpflichtungen zur Hilfe etwa in Verwandtschaftsbeziehungen andere, rechtlich garantierte Leistungen des Staates gefordert werden. Bereits Georg Wilhelm Friedrich Hegel schreibt 1821, also einhundert Jahre vor Mauss, unter § 242 seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts exemplarisch: „Das Subjektive der Armut und überhaupt der Not aller Art, der schon in seinem Naturkreise jedes Individuum ausgesetzt ist, erfordert auch eine subjektive Hilfe ebenso in Rücksicht der besonderen Umstände als des Gemüts und der Liebe. Hier ist der Ort, wo bei aller allgemeinen Veranstaltung die Moralität genug zu tun findet. Weil aber diese Hilfe für sich und in ihren Wirkungen von der Zufälligkeit abhängt, so geht das Streben der Gesellschaft dahin, in der Notdurft und ihrer Abhilfe das Allgemeine herauszufinden und zu veranstalten und jene Hilfe entbehrlicher zu machen.“ (Hegel 1989: 388)
Diese Aussage verdeutlicht, dass die Gegenseitigkeit im Geben, von Hegel als subjektive Hilfe bezeichnet, eine Praxisform ist, die nach Auffassung vieler einflussreicher Philosophen des 19. Jahrhunderts nicht mehr ausreicht, um die Armut und Not der Bevölkerung zu lindern. Deshalb muss sie durch staatliche, rechtlich garantierte Hilfen und Zuwendungen ergänzt werden. „Das Zufällige des Almosens, der Stiftungen, wie des Lampenbrennens bei Heiligenbildern usf., wird ergänzt durch öffentliche Armenanstalten, Krankenhäuser, Straßenbeleuchtung usw.“ (Ebd.; Hervorh. F. H.) Das praktische Tauschprinzip der zentralen Zusammenlegung und Redistribution von Mitteln durch den Staat wird immer mehr als notwendige Praxisform zur Bewältigung sozialer Probleme sozial konstruiert, so dass der Staat auf der Sozialdimension der Tauschpraxis als wichtiger Akteur symbolisiert wird, der als „sorgender Staat“ (de Swan 1993) zur Sicherung des Lebensunterhalts der Staatsbevölkerung, typischerweise als Existenzminimum symbolisiert, Austauschprozesse in abstrakter Form organisiert. Dabei geht es, wie Franz-Xaver Kaufmann (1997: 34) es formuliert, „um
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die Generalisierung des Anspruchs auf Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten einer Gesellschaft“. Durch redistributive Tauschformen des Staates werden mit anderen Worten soziale Teilhaberechte praktisch umgesetzt, die sich als Ergänzung zu liberalen Freiheitsrechten und politischen Teilhaberechten als dritte Ausformung der unveräußerlichen Menschenrechte im Kontext der Industrialisierung im Sozialstaatsprinzip manifestieren (vgl. Honneth 1994: 186; Ganßmann 1993; Habermas 1992: 103ff.). Die soziale Gleichheit rückt dadurch in den Mittelpunkt der Legitimation von sozialstaatlichen Transferleistungen. Appelle an eine auf soziale Nähe basierende Solidarität werden immer deutlicher durch Gerechtigkeitsargumente ersetzt. „Sozialstaatliche Leistungen werden nicht mehr als Hilfeleistungen begriffen, sondern als Kompensation für Schädigungen oder verletzte Rechte.“ (Bayertz 1998: 39) Sie erscheinen jetzt immer deutlicher als rechtlich verbürgte Garantien zur Sicherung des Lebenslaufs. Entstanden sind die Praktiken der sozialstaatlichen Redistribution von Leistungen, die zuvor durch Steuern und Abgaben vom Staat gesammelt werden, nicht nur aus den wirkmächtigen Forderungen nach staatlicher Armenpflege, die sich im 19. Jahrhundert angesichts zunehmender Verarmung breiter Bevölkerungsschichten im Kontext radikaler Wandlungsprozesse in der industriellen Produktion immer mehr zu Symbolen der Praxis des Staates entwickeln und in Deutschland in den 1880er Jahren in der Bismarckschen Sozialgesetzgebung münden, die als Ausgangspunkt der Entwicklung des deutschen Sozialstaates gilt (vgl. de Swan 1993: 207ff.; Lessenich 2003: 118). Der Sozialstaat beruht zudem auf einem Versicherungssystem zur Absicherung der Arbeitskraft von Arbeitern in Industriebetrieben. Wie François Ewald (vgl. 1993) für die Genese des französischen Sozialstaates sehr genau an diversen Quellen nachweist, ist dieses Versicherungssystem eine Forderung der liberalen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Diese wirkmächtige, die kapitalistische Produktionsweise legitimierende Denkrichtung objektiviert während der Industrialisierung die Arbeiter, indem sie „durch ihre Sorglosigkeit charakterisiert“ (Ewald 1993: 115) werden, die den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter entspricht. Es wird postuliert, dass die Arbeiter dieser Sorglosigkeit, die ihre Armut auslöst, „nicht mit eigenen Mitteln entrinnen können“ (ebd.), weil dies ihre Lebenslage und ihre Einbindung in den Produktionsprozess nicht zulassen. Diese Symbolisierungen auf der Sozialdimension der Praxis sind das Ergebnis der auch von Marx reflektierten Erfahrung, dass kapitalistische Gesellschaften „in der Regel Schaden verursachende Gesellschaften sind, in denen Schäden aus ihrem regelmäßigen Funktionieren und nicht aus einer momentanen Funktionsstörung entstehen“ (Ewald 1993: 109). Diese Schäden werden von der liberalen Philosophie als Schicksalsschläge und Unfälle interpretiert, die durch die kapitalistische Produktionsweise unabwendbar auftreten. Innerhalb dieser Variante liberaler Gesellschaftsbeschreibungen müssen die Arbeiter vor sich selbst geschützt werden. Ewald (ebd.: 115) fasst diese für die Genese des Sozialstaates wirkmächtige symbolische Form so zusammen: „Den Arbeiter seiner Freiheit zu überlassen hieße, ihn jenem ökonomischen und sozialen Determinismus auszuliefern, der quasi notwendig in die Schrecken des Pauperismus führt. Die Freiheit des Arbeiters bedurfte unter den Bedingungen der neuen industriellen Ordnung einer Bevormundung, eines Patronats, das sie absichert und vor sich selbst in Schutz nimmt.“
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Die liberale Philosophie geht dazu über, den Arbeitern mildernde Umstände zuzugestehen, um sie zu zwingen, ihr Berufsrisiko zu versichern. Die Arbeiter, deren Wohlbefinden eine notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung der industriellen Produktion ist, werden nicht mehr ihrem Schicksal überlassen, sondern gezwungen, sich um ihr Wohl vorsorgend zu bemühen. Die daraus entstehende Zwangsversicherung des Berufsrisikos (vgl. ebd.: 280ff.) stellt nun die Basis des Sozialversicherungssystems dar. Im Verlauf des späten 19. Jahrhunderts werden die Risiken, die durch Versicherungsarrangements abgesichert werden können, immer mehr erweitert, so dass schlussendlich das soziale Risiko, das mit symbolischen Formen wie Alter, Arbeitslosigkeit und Krankheit bestimmt wird, im Mittelpunkt des Sozialversicherungssystems steht (vgl. ebd. 414ff.). Die Sozialversicherung sozialer Risiken avanciert neben den steuerfinanzierten Sozialleistungen zur zweiten wichtigen Säule der Finanzierung des Sozialstaates. Der Sozialstaat ist nun, wie meine bisherige Argumentation deutlich macht, nicht ausschließlich als Leistungszusammenhang zu verstehen. Denn er kann „seine Leistungskraft nur aus den Beiträgen der Bürger gewinnen, sei es in Form von Steuern, Sozialbeiträgen oder Gebühren“ (Lessenich und Mau 2005: 262). Der Staat ist in diesem Sinne als ein „Sozialtransferstaat“ (ebd.) zu betrachten, der sich zur Aufrechterhaltung der Staatsraison nicht nur als Verteiler von Leistungen, sondern auch als Eintreiber von Mitteln betätigt. Er ist letztlich die Agentur eines abstrakten Tauschprozesses, der sich auf der Makro-Ebene der Sozialität zur praktischen Durchsetzung sozialer Teilhaberechte der Staatsbevölkerung ereignet. Für eine allgemeine Praxistheorie des Tausches ist besonders relevant, wie diese mit dem Begriff des Sozialstaates symbolisierte Tauschform, die in hohem Maße generalisiert ist, legitimiert wird. Steffen Mau (vgl. 2002) zeichnet in diesem Zusammenhang nach, dass die symbolische Legitimierung des Sozialstaates eine Kombination von funktionalistischen und moralischen Motiven darstellt. Die kollektive Daseinsnachsorge durch den Sozialstaat wird zum einen als vorteilhaft für die gesellschaftliche Reproduktion beschrieben. Die Bevölkerung fühlt sich deshalb dem kollektiven System sozialer Sicherung verpflichtet, weil sich dadurch eine relative Sicherheit in den Einkommens- und Lebensverhältnissen einstellt, auf die in der modernen Gesellschaft nicht verzichtet werden kann. Die Praxis des Sozialstaates wird als „kollektive Strategie zur Minimierung von Risiken“ (Mau 2002: 346) interpretiert, die zum Nutzen eines jeden Einzelnen wirksam wird, weil sie den Bereich der privaten Lebensformen stabilisiert (vgl. Kaufmann 1997: 46). Der Sozialstaat wirkt in dieser funktionalistischen Legitimation pazifizierend, indem er Klassengegensätze mindert und Interessengegensätze in produktive Konfliktaustragungsformen transformiert (vgl. ebd.). Und in ökonomischer Hinsicht fördert der Sozialstaat die Arbeitsbereitschaft und „trägt damit zur Steigerung der Arbeitsproduktivität bei“ (ebd.). Simultan zu diesen Formen der funktionalistischen Legitimation des Sozialstaates werden moralökonomische Motive wirksam. „Moralökonomie kann als normativer Konsens über legitime Praktiken des sozialen Austausches und der Verteilung kollektiver Güter verstanden werden.“ (Mau 2002: 349). Sozialstaatlichkeit stiftet in dieser Form ihrer Legitimation eine symbolisch generalisierte Reziprozität zwischen den Mitgliedern der Bevölkerung, die auf dem Prinzip der gerechten Verteilung von Gütern beruht. Durch sozialstaatliche Arrangements wird die symbolische Form der Gerechtigkeit praktisch wirksam, indem die zentrale Sammlung von Gütern und ihre anschließende Verteilung als gerechte Praxis-
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formen symbolisiert werden. Folglich trägt der Sozialstaat in kultureller Hinsicht, mit Kaufmann (1997: 46) idealtypisch formuliert, „zur Gewährleitung einer als gerecht angesehenen Sozialordnung bei und erhöht dadurch die Legitimität des jeweiligen Zusammenhangs von Staat und Gesellschaft“. Diese kulturelle Symbolisierung sozialstaatlicher Praxis muss, wie François Ewald (1993: 477) betont, „die Gestalt eines Vertrages annehmen“, der zwischen den Mitgliedern der Bevölkerung in abstrakter Form wirksam wird. Dies begründet Ewald mit der prinzipiellen Unsicherheit darüber, welche Praxis als gerecht gelten kann: „Da niemand sagen kann, was gerecht ist, da es kein objektives Prinzip gibt, das die Tauschbeziehungen regiert und eine Entscheidung darüber erlaubt, ob jeder auch das erhält, was ihm zusteht, kann die Gerechtigkeit nur in einem Ausdruck wechselseitiger Einwilligung liegen.“ (Ebd.: 477f.) Diese wechselseitige Einwilligung verschafft sich symbolischen Ausdruck in einem abstrakten Sozialvertrag, mit dem die Sozialtransferleitungen des Staates, also die hoch generalisierten Tauschformen des Sozialstaates, nicht nur moralisch, sondern auch rechtlich legitimiert werden. Die sozialstaatliche Konstitution des gesellschaftlichen Zusammenlebens kann folglich als „Reziprozitätsarrangement“ (Mau 2002), oder besser als abstraktes Tauscharrangement gefasst werden, dessen moralische und rechtliche Legitimation Gegenstand öffentlicher Debatten wird, die gegenwärtig sehr intensiv geführt werden und sich etwa auf die Berechtigung für bestimmte Sozialleistungen oder auf die Neugestaltung sozialstaatlicher Transferpraktiken beziehen. Augenscheinlich wird in diesen Debatten: Das durch den Sozialstaat symbolisierte Gerechtigkeitsprinzip ist inzwischen an vielen Stellen brüchig, indem es in der Öffentlichkeit grundsätzlich mit marktlogischen Argumenten hinterfragt wird. Dagegen muss betont werden, dass der Rückzug des Staates aus dem sozialstaatlichen Tauscharrangement letztlich nur denen zugute kommt, die sich die rechtsstaatlich garantierten (Sozial)Leistungen, die durch Steuern, Abgaben und Gebühren finanziert werden müssen, dauerhaft durch privaten Erwerb leisten können. Unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen werden durch den schleichenden Abbau sozialstaatlicher Transferpraktiken immer stärker von sozialer Teilhabe ausgeschlossen, weil sie sich die „zivilisatorischen Standards“ (Brock 1994: 70) immer weniger leisten können, die für eine soziale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben schlicht notwendig sind (vgl. Hillebrandt 1999: 260ff.).63 Die moralische Alltagskultur ist, anders gesagt, in hohem Maße davon abhängig, wie durch sozialstaatliche Transferleistungen die Partizipation möglichst vieler Bevölkerungsmitglieder an den gesellschaftlichen Diskursen gesichert ist, in welchem Maße also auf die Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerungsmitglieder eingegangen wird. Im Mittelpunkt der Debatte um die Legitimität sozialstaatlicher Interventionen steht folglich nicht weniger als die Frage, „welches Maß an ökonomischer Ungleichheit mit dem demokratischen Charakter der Gesellschaft noch vereinbar ist“ (Preuß 1990: 129). Ohne utopische Vision und
63 Bourdieu weist in einer drastischen aber treffenden Formulierung auf die Folgen eines Rückzugs des Staates aus dem abstrakten Tauscharrangement der Redistribution von zuvor zentral gesammelten Geldern und anderen Leistungen hin: „Der Staat, der alle Mechanismen und Strukturen (Clans, Familien u.a.), die die Gewalt in Schranken zu halten vermögen, zerstört hat, hinterlässt nach seinem Zusammenbruch, wie im ehemaligen Jugoslawien, die Gewalt im Rohzustand, den Krieg aller gegen alle, der bislang nur in der Phantasie von Hobbes existiert hat. Besser als alle theoretische Kritik gemahnt der Anblick der verwüsteten Zentren der amerikanischen Großstädte an die Grenzen eines Kapitalismus ohne Grenzen.“ (Bourdieu 1997: 156f.)
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moralisch-rechtliche Legitimation ist der Sozialstaat folglich nicht zu haben (vgl. Habermas 1985b: 161). Denn der Sozialtransferstaat lässt sich nicht ausschließlich funktionalistisch erklären, sondern ist konstitutiv mit normativen, moralischen und rechtlichen Symbolen verbunden, die ihn letztlich begründen (vgl. Leisering 2004). Jürgen Habermas (1992: 504f.) bringt diesen Gedanken so auf den Punkt: „Mit der Idee einer gerechten Gesellschaft verbindet sich das Versprechen von Emanzipation und Menschenwürde. Der destributive Aspekt der rechtlichen Gleichstellung und Gleichbehandlung – die gerechte Verteilung sozialer Entschädigungen – ergibt sich erst aus dem universalistischen Sinn eines Rechts, das die Freiheit und Integrität eines jeden gewährleisten soll.“
Für den hier verfolgten Zusammenhang einer Praxistheorie des Tausches heißt das: In abstrakter Form wirkt im durch Rechtsnormen garantierten Sozialstaat der „Geist der Gabe“ (Lessenich und Mau 2005: 260), weil der Sozialstaat auf einem generalisierten Tauschprinzip beruht, das im öffentlichen Diskurs regelmäßig als gerechte Praxis legitimiert werden muss. Denn nur dadurch können sozialstaatliche Transferleistungen als symbolisch generalisierte Tauschformen dauerhaft, weil rechtlich verbürgt praktisch werden. Im Tauscharrangement des Sozialstaates werden, anders gesagt, symbolische Generalisierungen vor allem auf der Sozialdimension der Tauschpraxis wirksam, weil definiert werden muss, wer in einer gerechten Transferpraxis Leistungen erbringen und wer Leistungen erhalten kann. Diese Legitimation des Sozialstaates, die sich in unterschiedlichen Regionen auf sehr unterschiedliche Weise formt, muss immer wieder aufs Neue symbolisch erzeugt werden, damit die hoch generalisierten Tauschformen des Sozialstaates regelmäßig praktisch werden können. Es würde für eine Praxistheorie des Tausches zu weit führen, die höchst unterschiedlichen Ausformungen der symbolischen Legitimation des Sozialstaatsprinzips, die sich vor allem um den Begriff der Gerechtigkeit bilden, detailliert zu bestimmen.64 Im Kontext der Tauschtheorie ist vor allem wichtig zu sehen, dass der Sozialstaat auf einem abstrakten Tauscharrangement beruht, das sehr vielfältig symbolisiert werden kann. Eine nähere Untersuchung dieser symbolischen Formen ist eine lohnende Aufgabe für zukünftige Forschungen, die ich an dieser Stelle aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht durchführen, sondern nur anregen kann. Am abstrakten Tauscharrangement des Sozialtransferstaates wird für den hier verfolgten Zusammenhang einer Praxistheorie des Tausches die Vielfältigkeit der symbolischen Formen sichtbar, die sich auf der Sozialdimension der Tauschpraxis bilden: Das Spektrum reicht hier, wie bisher nachgezeichnet, von der strikten Konstruktion exklusiver Tauschpartner in den Formen des exklusiven Tausches zwischen Freunden, Liebenden und Verwandten über die Generalisierung bestimmter Personenmerkmale – etwa die Mitgliedschaft oder der Bekanntheitsgrad – in den Formen des exklusiven Kettentausches und in den Formen des gegenseitigen Austausches in Bekanntenkreisen bis hin zur symbolischen Generalisierung der am Tausch beteiligten Akteure zu abstrakten Tauschpartnern im Kontext von Angebot und Nachfrage in den Formen des primär sachbezogenen Tausches auf unterschiedlichen Märkten, im Kontext von unverbindlichen sozialen Austauschprozessen zwischen sich gegensei-
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Vgl. hierzu etwa Lessenich (2003: 63-96); Leisering (2004) und die anderen Beiträge in Liebig et al. (2004).
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tig nicht bekannten Akteuren und in den Tauschformen der generalisierten Redistribution, die vor allem durch den Sozialstaat koordiniert und arrangiert werden. Damit sind die symbolischen Formen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis jedoch noch nicht vollständig analysiert. Auf dieser Dimension des Sinngeschehens wird zudem sichtbar, dass es einen Unterschied für die praktische Formung des Tausches macht, welche Positionen die am Tausch beteiligten Akteure zueinander einnehmen, wie sie also im sozialen Raum in Relation zueinander stehen. Dieser Punkt führt mich wieder näher an die Bourdieu’sche Version der Praxistheorie heran, deren primäre Ausrichtung, wie oben (2.2) nachgezeichnet, die Untersuchung sozialer Ungleichheit ist. Ganz allgemein gesagt, analysiert die soziologische Ungleichheitsforschung, wie aus sozialer Ungleichartigkeit oder Heterogenität über einen gesellschaftlichen Bewertungsprozess soziale Ungleichwertigkeit oder kurz: Ungleichheit entsteht. Ihre Aufmerksamkeit gilt somit nicht den Verschiedenartigkeiten der Menschen untereinander, sondern den typischen, ungleichen Lebensbedingungen von Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Sie untersucht, kurz gesagt, die gesellschaftlich hervorgebrachten positiv oder negativ privilegierten Lebensbedingungen von Menschen, die in ihrer Gesamtheit die Lebens- und Handlungschancen des Einzelnen in der Gesellschaft bestimmen. Bourdieu geht es nun bekanntlich nicht nur darum, die Struktur sozialer Ungleichheit an objektivierbaren Messdaten zu identifizieren, sondern auch um die Frage, wie diese Struktur durch symbolische Formen kulturell reproduziert und als Folge daraus durch Praxisformen der Macht- und Herrschaftsausübung praktisch erzeugt wird. Genau in diesem Sinne kann eine Praxistheorie des Tausches für die Soziologie sozialer Ungleichheit nutzbar gemacht werden. Denn der Tausch ist, wie bereits bis hierhin deutlich geworden sein dürfte, eine Praxisform, die unter bestimmten Bedingungen eng mit Formen der Macht- und Herrschaftsausübung verbunden ist und dadurch soziale Ungleichheit praktisch hervorbringt und/oder verfestigt. Diese Bedingungen formen sich vor allem auf der Sozialdimension der Tauschpraxis. Hier werden Symbole praxisrelevant, durch die Akteure bewertet und klassifiziert werden. Diese symbolischen Formen, die sich im Kontext der Tauschpraxis vor allem darauf beziehen, wie Akteure als Tauschpartner sozial konstruiert werden, sind bereits bezüglich der unverbindlichen sozialen Austauschprozesse zwischen sich gegenseitig nicht bekannten Akteuren von hoher Praxisrelevanz. Bourdieu (vgl. 1982: 279ff.) arbeitet in diesem Zusammenhang mittels einer Analyse der moralischen Gefühle der Alltagskultur heraus, dass diese Formen des Tausches, die Goffman als bestätigende Rituale bezeichnet, sehr viel häufiger zwischen Akteuren praktisch werden, die sich im Habitus als ähnlich erkennen, als zwischen solchen, die sich in ihrem Lebensstil, der den Habitus auf der Sozialdimension der Praxis kulturell repräsentiert und den spezifischen Geschmack sozialer Akteure zum Ausdruck bringt, deutlich voneinander unterscheiden. Akteure mit ähnlichen Lebensstilen begegnen sich im Alltag häufig, etwa in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in speziellen Vereinen oder auch in lebensstilspezifischen Freizeiteinrichtungen, und sind sich deshalb, obwohl sie sich zunächst gegenseitig unbekannt sind, in ihren Verhaltensweisen gegenseitig vertraut, weil die habitualisierten Praktiken der Akteure sich ähneln und infolgedessen leicht aufeinander bezogen werden können. Eine Verkettung der habituell ähnlichen Prakti-
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ken zu Praxisformen ist somit wahrscheinlicher als eine Verkettung von Praktiken, die aus sehr unterschiedlichen Habitusformen entstehen.65 Regelmäßige Begegnungen, die bedingt durch die Sozialstruktur zwischen Akteuren mit ähnlichem Lebensstil wahrscheinlicher sind, als zwischen Akteuren mit sich voneinander abgrenzenden Lebensstilen, schaffen die Voraussetzungen für gegenseitige Austauschpraktiken, die sich zu dauerhaften sozialen Beziehungen verfestigen können, wenn die Praktiken innerhalb der Begegnungen so aufeinander bezogen werden, dass sie sich zu dauerhaften Praxisformen verdichten und dadurch Formen der Reziprozität hervorbringen. Dies ist in hohem Maße davon abhängig, welche habitualisierten Dispositionen die Praktiken formen, welche Lebensstile und Geschmacksdispositionen sich also in der Interaktion begegnen. Die Wahlverwandtschaft zwischen bestimmten Akteuren ist mit anderen Worten sozialstrukturell bedingt. Sie entsteht nicht immer bewusst, sondern ist typischerweise, wie Andrea Dederichs (vgl. 1999: 125ff.) hervorhebt, das Ergebnis einer emotionalen Praxis, die sich nicht durch Reflexion einstellt, sondern durch emotionale Nähe im sozialen Raum. Denn die Bewertungen der anderen sind eng mit emotionalen Dospositionen verbunden, die eine unbewusste Klassifikation der Mit-Akteure als ähnlich und vertrauenswürdig ermöglichen. Durch diese Klassifikationen werden soziale Austauschkontakte zwischen bestimmten Akteuren wahrscheinlich. Die durch alltägliche Austauschprozesse entstehenden sozialen Beziehungen zwischen sozialen Akteuren, aus denen sich in speziellen Fällen Freundschaften und Familienbeziehungen formen können, entwickeln sich folglich mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb bestimmter Klassenfraktionen des sozialen Raums, so dass sich die soziale Ungleichheit beständig generationenübergreifend reproduziert, weil der gegen- und wechselseitige Austausch zwischen Akteuren unterschiedlicher Klassenfraktionen, die sich durch spezifische Lebensstile und Geschmacksurteile voneinander abgrenzen, weitgehend ausbleibt. Nicht nur die physische Nähe an einem Wohnort, die oft durch die sozialstrukturellen Positionen der Akteure bedingt ist, sondern auch die soziale Nähe im sozialen Raum erzeugt folglich Wahrscheinlichkeiten für wechselseitige Austauschprozesse zwischen sozialen Akteuren, die sich vorher nicht bekannt sind. Oben (3.5.1) habe ich bezüglich meiner Analyse der Sachdimension der Tauschpraxis verdeutlicht, dass die Praxisformen des Spendens und Stiftens Ausnahmen von dieser Regelmäßigkeit der Praxis darstellen, weil hier von wohlhabenden sozialen Akteuren Gaben an als bedürftig klassifizierte soziale Akteure gegeben werden, ohne dass hierfür allerdings eine Gegengabe verlangt wird. Ein konkreter Austausch findet hier folglich nicht statt, weil die Gegengabe für eine großzügige Spende die symbolische Anerkennung des Spenders durch Dritte ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung von Frank Adloff und Steffen Sigmund (2005: 223), „dass Spenden und andere Unterstützungsleistun-
65 „Der Geschmack vereint: Er fügt Farben zusammen so gut wie Personen, die ein ‚harmonisches Paar’ bilden, und das nicht zuletzt im Hinblick auf ihre Geschmacksrichtungen. Jedes Kooptieren, aus dem sich Primärgruppen ergeben, stellt einen Erkenntnisakt dar, bei dem die Betroffenen selbst wieder als Erkenntnissubjekte impliziert sind, oder, weniger intellektualistisch gesagt, einen Prozess gegenseitigen Abtastens und Taxierens (besonders deutlich bei ersten Begegnungen), mit dessen Hilfe ein Habitus sich seiner Verwandtschaft mit anderen versichert.“ (Bourdieu 1982: 375) In seiner lesenswerten Studie über „Status und Scham“ präzisiert Sighard Neckel (vgl. 1991) bekanntlich diesen Gedanken Bourdieus, indem er ihn auf das Schamgefühl bezieht, dass eng mit der sozialstrukturell erzeugten Erfahrung der Unterlegenheit verbunden ist.
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gen eher zu den sozialen Kreisen fließen, die emotional, kulturell und normativ gesehen weniger weit von den Spendern entfernt sind als andere Gruppen.“ Diese Beobachtung stützt das hier von mir vorgetragene Argument, dass sich soziale Austauschkontakte eher zwischen solchen Akteursgruppen entwickeln, die sich gegenseitig habituell vertraut sind. Dies hat in Bezug auf die Spendenpraxis den Praxiseffekt, dass diejenigen Akteursgruppen von der Spendenpraxis ausgeschlossen bleiben, „die weniger integriert und vertraut, unkonventioneller, kulturell entfernter, anonymer und weniger respektabel erscheinen“ (ebd.). Dass dies in den USA, wo das Tauscharrangement des Sozialstaates im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten sehr stark auf organisierter Philanthropie basiert, gravierende Folgen für die Abminderung sozialer Notlagen hat, kann hier nur am Rande bemerkt werden. Aber nicht nur in der sozialstrukturell bedingten Vermeidung der Tauschpraxis zwischen bestimmten Akteuren, die mit unterschiedlichen Lebensstilen ausgestattet sind und im sozialen Raum weit voneinander entfernte Statuspositionen einnehmen, weil sie unterschiedlichen sozialen Klassen angehören, sondern auch in der Initiierung spezifischer Praxisformen des Tausches kann sich Macht und Herrschaft praktisch manifestieren und reproduzieren. Zu denken ist in diesem Zusammenhang nicht nur an den bereits oben verdeutlichten Tausch von Arbeit gegen Lohn, der als ein gesellschaftliches Machtverhältnis verstanden werden kann, weil diese Tauschform regelmäßig und massenhaft geschieht und die große Mehrheit der Bevölkerung in ein Abhängigkeitsverhältnis stellt. Auch am Arbeitsplatz selbst werden Tauschformen wirksam, die eine Über- und Unterordnung der Akteure erzeugen oder verfestigen. Dies ist dann besonders praxisrelevant, wenn die auf Gegen- und Wechselseitigkeit beruhenden Formen des exklusiven Tausches ohne Preis in solchen Akteursgruppen praktisch werden, die am Arbeitsplatz zu einem bestimmten Zweck regelmäßig physisch zusammenkommen müssen. In unterschiedlichster Form werden hier, am Arbeitsplatz, Praxisformen des Tausches wirksam, welche die Hierarchie, in der die Akteure zueinander stehen, erzeugen und reproduzieren. Eine dieser Praxisformen ist die des Patronats, die sich zwischen dem Chef und seinen Mitarbeitern als Praxis der Unter- und Überordnung einstellt, indem der in der Hierarchie höher gestellte Akteur, also der Chef, seine Mitarbeiter regelmäßig mit materiellen und immateriellen Wohltätigkeiten beschenkt, was eine Loyalität der Mitarbeiter dem Chef gegenüber praktisch erzeugt. François Ewald beschreibt diese Praxisform sehr treffend so: „Die Praktiken des Patronats bedürfen der Herstellung jener körperlichen und seelischen Nähe zwischen dem patron und seinen Arbeitern, die die Bedingung ihres Nahverhältnisses, ihres gegenseitigen Verständnisses und folglich ihrer Übereinstimmung ist. Die Bedingungen der Individualisierung, Personalisierung und Nähe müssen erfüllt sein, damit die Maßnahmen des Patronats, die durchweg als ‚Opfer’, ‚Anerkennung’ oder ‚freiwillige Zuwendung’ dargestellt werden, in den Augen derer, denen sie zugute kommen, nicht als administrative Maßnahmen erscheinen, die den Regeln einer unpersönlichen Geschäftsführung folgen, sondern als Beweise einer jeweils individuellen Aufmerksamkeit und des Interesses, das der patron dem körperlichen und seelischen Wohlbefinden jedes seiner Arbeiter entgegenbringt. Erst dann können die väterlichen, familienähnlichen Beziehungen geknüpft werden, die den Unternehmer mit seinen Arbeitern verbinden.“ (Ewald 1993: 155)
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Abstrakte Macht- und Herrschaftsbeziehungen, die durch eine formale Hierarchie der Statuspositionen etwa innerhalb von Arbeitsorganisationen festgestellt sind, müssen durch Praxis erzeugt werden, damit sie wirksam werden können. Sie müssen aus der Abstraktion, in der sie sich formal darstellen, in ein soziales Nahverhältnis transformiert werden. Und die Praxisformen des (Gaben)Tausches eignen sich zu dieser praktischen Ausformung von Hierarchien, weil sie praktisch wirksame Verbindlichkeiten und Abhängigkeiten erzeugen, auf die zur Aufrechterhaltung von Hierarchien nicht verzichtet werden kann. Tauschformen sind folglich oft „verborgene Mechanismen der Macht“ (Bourdieu), die sich vor allem dann als Ausformungen symbolischer Gewalt erweisen, wenn sich etwa am Arbeitsplatz unterschiedliche Formen des Tausches miteinander verkoppeln. Während nämlich die Lohnarbeit, wie bereits gesehen, zunächst auf einem primär sachbezogenen Tausch beruht, weil die Arbeitskraft gegen Lohn getauscht wird, können sich durch die Initiierung von exklusiven Tauschformen zwischen vorgeblich speziell ausgewählten Mitarbeitern und dem Chef konkrete Abhängigkeitsverhältnisse institutionalisieren. Die exklusiven Tauschformen, die als paradigmatische Praxis in Intim- und Familienbeziehungen angesehen werden können, werden nicht selten von ranghöheren Firmenangehörigen (beispielsweise Abteilungsleiter) zur Sicherung ihres Einflusses auf die ihnen zugeordneten Mitarbeiter genutzt, indem einigen von ihnen, die dazu in besonderer Weise disponiert scheinen, durch spezifische, als exklusiv symbolisierte Tauschpraktiken suggeriert wird, sie seien besondere Mitarbeiter, denen spezielle Geheimnisse und Informationen exklusiv anvertraut werden können. Die Gegenleistung für diese bestätigenden Gaben stellt sich dann in Form von Loyalität ein, die sich etwa darin zeigen kann, dass die vorgeblich von der Abteilungsleitung begünstigten Mitarbeiter ihrerseits Informationen über die inneren Gefühlslagen des Arbeitsteams, die ansonsten für die Abteilungsleitung nur schwer zu bekommen wären, an die Leitung der Abteilung weitergeben. Solche und ähnliche Praktiken des gegenseitigen Tausches zwischen bestimmten Akteuren, die zuvor auf der Sozialdimension der Tauschpraxis mit spezifischen Symbolen als exklusive Tauschpartner sozial konstruiert werden, sind wichtige Bestandteile der Praxis in Unternehmen und anderen Arbeitsorganisationen, durch die sich die hier wirksam werdende Praxis strukturiert. Koalitionen in der Belegschaft, exklusive Zusammenkünfte von ausgewählten Kolleginnen und Kollegen, immer wieder ähnliche Akteurkonstellationen in der Mittagspause und andere informelle Praxisformen innerhalb der Arbeitsorganisation, welche die ihr interne Sozialstruktur in erheblichem Umfang strukturieren, werden fast immer durch Praktiken des Tausches angebahnt und verfestigt. Diese sozialen Strukturierungen werden durch das Geben, Nehmen und Erwidern, also durch den Tausch, praktisch, weil mit den Einzelpraktiken, aus denen der Tausch besteht, Verpflichtungen und Bindungen entstehen, die vor allem in der zeitlichen Streckung zwischen den einzelnen Praktiken des Tausches von hoher Relevanz für die Reproduktion der Praxis sind. Diese Strukturierungen verfestigen sich zu sozialen Strukturen, die von den beteiligten Akteuren als soziale Beziehungen empfunden werden. Diese entstehen durch die auf Dauer gestellten Verpflichtungen und Bindungen, die mit regelmäßigen Tauschpraktiken zwischen bestimmten sozialen Akteuren unweigerlich verbunden sind. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Praxis innerhalb von Arbeitsorganisationen, sondern auch für die Praxis zwischen Organisationen, die sich auf der Meso-Ebene der Sozialität nur mit der Initiierung von Praktiken durch be-
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stimmte Akteure ereignen kann, die etwa als Repräsentanten einer Organisation mit Repräsentanten anderer Organisationen zusammenkommen. In bestimmten Interessenverbänden beispielsweise der Wirtschaft wird diese Praxis in hohem Maße institutionalisiert. Sie ist dennoch nur durch regelmäßige Praktiken des Tausches zwischen einzelnen sozialen Akteuren dauerhaft erwartbar, weil sich in den Tauschpraktiken die Verbindlichkeiten und die unterschiedlichen Formen der Reziprozität praktisch vollziehen. Diese können zum einen auf Gleichberechtigung beruhen, sie können aber auch in asymmetrischen Akteurkonstellationen wirksam werden. So können bestimmte Repräsentanten von Organisationen zu Gefälligkeiten etwa bei Abstimmungen dadurch gezwungen werden, dass ihnen mit dem Entzug von Gefälligkeiten gedroht wird, die sie folglich bei Nicht-Erfüllung ihrer Gefälligkeiten in einer antizipierten Zukunft nicht mehr erwarten können, obwohl sie darauf in hohem Maße angewiesen sind. Diese Verkettung von zunächst unverbindlich erscheinenden Tauschpraktiken bildet nicht selten die Basis zur Formung von Macht- und Herrschaftsstrukturen, die dann ein dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis zwischen bestimmten Akteuren oder Akteursgruppen nach sich zieht, obwohl diese Akteure auf der Sozialdimension der Tauschpraxis als Partner oder Geschäftsfreunde symbolisiert werden. Die Stabilität dieser Abhängigkeitsverhältnisse beruht nun gerade darauf, dass sie als Freundschaftsverhältnisse symbolisiert werden, in denen der exklusive Austausch von Gefälligkeiten als selbstverständlich erscheint. Freundschaften können sich also, wenn sie asymmetrisiert werden, zu Formen der symbolischen Gewalt entwickeln. Der Tauschakteur, der sich dem Tauschpartner als unterlegen wahrnimmt, wird in einer derartigen Struktur ständig zu Tauschpraktiken gezwungen, die ausschließlich zum Vorteil des überlegenen Tauschpartners sind. Ein Abbruch dieser Reziprozität erscheint dem unterlegenen Teil der Beziehung oft deswegen als unmöglich, weil auf die (Gegen)Gaben des überlegenen und mächtigen Tauschpartners aus der Sicht des weniger mächtigen Tauschpartners nicht verzichtet werden kann. Folglich wirkt der Tausch in formalen und informellen Koalitionen, die auf asymmetrischen Akteurkonstellationen beruhen, als soziale Ungleichheit strukturierende Praxisform. Diese Wirkung erzielt der Tausch vor allem dadurch, dass mit dieser Praxisform Macht- und Herrschaftsbeziehungen typischerweise nicht in einer offenen Konfrontation der negativen Reziprozität, sondern in Ausformungen symbolischer Gewalt strukturiert und verfestigt werden, die von den beteiligten Akteuren oft nicht so leicht zu durchschauen sind, weil sie nicht als Herrschaftsmechanismen erkannt werden.66 Damit möchte ich die Analyse der symbolischen Formen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis abschließen. Mit ihr ist in Ergänzung zur Analyse der symbolischen Formen auf der Sachdimension der Tauschpraxis deutlich geworden, in welcher Weise die kulturelle Formung von Tauschakteuren die Verkettung von Tauschpraktiken auf der Mikro-, Meso66 Der Tausch kann sich zweifellos auch als Mittel der offenen Konfrontation zwischen Konkurrenten und Widersachern manifestieren, die auf der Sozialdimension der Tauschpraxis auch als solche symbolisiert sind. Dann ereignen sich Tauschpraktiken als antagonistische Praktiken zur Erlangung von Vorteilen, die als Ausdruck einer Machtposition im sozialen Raum verstanden werden können. Zu beachten ist aber, dass der Versuch, etwas zum eigenen Vorteil umsonst und ungestraft von jemand anderen zu bekommen, ohne eine Gegenleistung zu erbringen, als eine Grenzform des Tausches angesehen werden muss, weil sich hier nur selten Formen der Verkettung von Tauschpraktiken, also Praxisformen negativer Reziprozität ereignen, die den Tausch zum Anschluss bringen, sondern Praxisformen wie Diebstahl, Raub, Betrug oder Täuschung. Diese Ausformungen der Praxis sind mit einem praxistheoretischen Begriff des Tausches nicht hinreichend erfasst, weil hier keine Erwiderung einer „Zuwendung“ beobachtet werden kann.
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und Makro-Ebene der Aggregation von Sozialität zu Praxisformen des Tausches bestimmt. Um das Bild der verschiedenen Tauschformen weiter zu präzisieren, schließt sich an die sachliche und soziale Thematisierung der Tauschpraxis die Untersuchung der auf der Zeitdimension geformten Symbole des Tausches an. Diese zeitliche Thematisierung der Tauschpraxis eröffnet den Blick auf weitere ihrer Ausformungen, weil mit ihr die Praxis strukturierende Wirkung des Tausches präzise bestimmt werden kann. Die von mir bereits untersuchten Tauschformen – also beispielsweise der primär sachbezogene Tausch im Praxisprinzip der Wertäquivalenz, der exklusive Tausch, das abstrakte Tauscharrangement des Sozialstaates oder auch die Tauschformen zur Strukturierung sozialer Ungleichheit – werden auf diese Weise präziser gefasst, als dies durch eine ausschließlich sachliche und soziale Thematisierung dieser Praxisformen möglich ist. Es geht in der folgenden Analyse der Zeitdimension der Tauschpraxis also nicht primär darum, weitere Tauschformen zu bestimmen. Das Ziel der nachfolgenden Überlegungen ist es vielmehr, über die Beobachtung der Zeitdimension der Tauschpraxis die Prozessmerkmale von Tauschformen zu untersuchen.
3.5.3
Die Zeitdimension der Tauschpraxis
Geben, Nehmen und Erwidern müssen nach meiner Begriffsfassung des Tausches (vgl. 3.1) als Einzelpraktiken verstanden werden, die nur dann einen Tausch ergeben, wenn sie sich in spezifischer Weise miteinender verketten. Die Zeitdimension der Tauschpraxis bezieht sich auf diese Verkettung, die sich nur als Prozess, der Zeit verbraucht, denken lässt. Denn in zeitlicher Hinsicht geht es beim Tausch – wie ich zunächst theoretisch anspruchslos formulieren möchte – darum, in welchen zeitlichen Intervallen sich die einzelnen Tauschpraktiken zu Praxisformen des Tausches verbinden. Diese Bestimmung von Zeitintervallen zwischen den Tauschpraktiken ist alles andere als einfach, weil sie sich nicht nur daran orientieren kann, den Prozess der Verkettung von Tauschpraktiken chronologisch zu messen. Würde die Analyse der Zeitdimension auf diesen chronometrischen Aspekt begrenzt, könnte lediglich festgestellt werden, wie viel Zeit der Vollzug einzelner Praxisformen des Tausches bindet. Zeit ist deutlich mehr als eine Messeinheit. Sie wirkt im operativen Vollzug der Praxis, weil sie in soziologischer Perspektive nicht primär eine durch die Uhr als Weltzeit symbolisierte Messgröße ist, sondern vor allem als Symbol verstanden werden muss, das sich als Temporalisierung der Praxis sehr unterschiedlich ausformt. Um dies zu sehen, muss zunächst ein soziologisches Verständnis der Zeit entwickelt werden. Dazu orientiere ich mich an den grundlegenden Konzepten, die Luhmann in diesem Zusammenhang vorgeschlagen hat.67
67 Zeit ist ein zentrales Thema der Denkgeschichte – einen Überblick hierzu gibt Nassehi (vgl. 1993: 13-62) – und auch fast alle soziologischen Theorieansätze thematisieren Zeit, in der Regel aber ohne eine genuine Zeitsoziologie zu enthalten. Die Auswahl des Luhmannschen Zeitbegriffs aus dieser Fülle an Angeboten geschieht aus der Überzeugung heraus, dass er die soziologische Diskussion des Zeitbegriffs in einer Weise bündelt, die für den hier verfolgten Zusammenhang des Entwurfs einer Praxistheorie des Tausches hilfreich ist, weil Luhmann keinen ontologischen, sondern einen konstruktivistischen Zeitbegriff vorschlägt, der, wie sich zeigen wird, für die relational ansetzende Praxistheorie hilfreiche Einsichten in die Formen der Verkettung von Tauschpraktiken bereit hält. Einen Überblick darüber, wie Zeit in der jüngeren Geschichte der Soziologie regelmäßig thematisiert wird, gibt Hartmut Rosa (vgl. 2005: 19ff.),
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Luhmann geht zur Entwicklung eines soziologischen Zeitbegriffs von der sehr abstrakten und zunächst trivial anmutenden Annahme aus, „dass alles, was geschieht, gleichzeitig geschieht“ (Luhmann 1990: 98; Hervorh. weggelassen). Praktiken können folglich nicht vorher oder nachher geschehen, sie sind als Ereignisse immer an die Gegenwart gebunden, weil „Gleichzeitigkeit … eine aller Zeitlichkeit vorgegebene Elementartatsache“ (ebd.) ist. Praxisformen, wie der Tausch, lassen sich folglich nur in der Gegenwart als historische Prozesse thematisieren, indem die vergangene Verkettung von Tauschpraktiken rekonstruiert oder ihre zukünftige Verkettung antizipiert wird. Was also möglich ist, ist die Thematisierung der Vergangenheit sowie der Zukunft. Diese soziale Konstruktion kann sich jedoch aufgrund der elementaren Gleichzeitigkeit von sozialen Ereignissen nur in der Gegenwart ereignen: „Deshalb können Vergangenheit und Zukunft als komplementäre Zeithorizonte nur gleichzeitig gegeben sein. Es handelt sich immer um Horizonte der Gegenwart, um eine gegenwärtige Vergangenheit und um eine gegenwärtige Zukunft, wobei Gegenwart nichts anderes ist als die Trennlinie, die Grenze, die die Differenz von Vergangenheit und Zukunft konstituiert.“ (Luhmann 1990: 101)
Das heißt: Zeithorizonte werden im Vollzug der Praxis, der nur in der Gegenwart möglich ist, symbolisch erzeugt, sie werden zum Bestandteil des praktischen Sinns, der in jeder Praktik enthalten ist. Diese „Formen der Sinngebung“ (ebd.: 105) tragen dazu bei, die elementare Gleichzeitigkeit von Praktiken zu verdecken, damit eine prozessuale Reproduktion der Praxis möglich wird. Denn wenn sich die Praxis als Prozess reproduziert, müssen Praktiken als gegenwärtige Ereignisse konstitutiv auf Praktiken bezogen sein, die als vergangene oder zukünftige Ereignisse symbolisiert sind. Jede noch so alltägliche Symbolisierung der Zeit im gegenwärtigen Vollzug der Praxis kommt folglich nicht ohne die Unterscheidung vorher/nachher aus (vgl. Nassehi 1993: 186), weil nur so eine Verkettung von Praktiken in einer sozial symbolisierten Zeit möglich wird. Denn nur mit der Differenz vorher/nachher lassen sich elementare Praktiken aufeinander beziehen, indem sie zu einem Prozess geformt werden, der sich nur in der Zeitdimension des Vorher und Nachher denken lässt. Alle Praktiken sind für jeden Einzelnen Ereignisse, die, wie bereits Alfred Schütz (vgl. 1974: 100) bemerkt, im Bewusstsein zu Erlebnissen geformt werden, die in eine Zeitstruktur der Dauer (im Sinne Bergsons als durée verstanden) eingeordnet werden, damit sie in der Differenz von vorher/nachher als Erlebnisse, die einen Sinn ergeben, interpretiert werden können. Dies ist die Bedingung dafür, dass Zeit als Verlauf erlebt wird.68 Sie kann also nicht ontologisch bestimmt werden, sondern ist als soziale Zeit zu begreifen, die durch symbolische Formen sozial konstruiert ist und nur deshalb praktischen Sinn im Vollzug der Praxis generiert.
der sich bei seiner Theorie der Beschleunigung wesentlich auf den Zeitbegriff Luhmanns bezieht, indem er ihn, was im Gegensatz zu meinen Überlegungen steht, gesellschaftstheoretisch und vor allem zeitdiagnostisch ausarbeitet. 68 Auf diesen Zusammenhang weist Mead bereits vor Schütz hin: „Zeit ist … die Erfahrung inhibierten Handelns, in der das Ziel als erreichtes Ziel dadurch gegenwärtig ist, dass das Individuum die Einstellung der Kontakt-Reaktion einnimmt und so die zwischen Anfang und Ende der Handlung vorkommenden Ereignisse nur in ihrer abstrakten Eigenschaft als ‚passierende’ Ereignisse gegenwärtig sein lässt.“ (Mead 1969: 167) Siehe für einen Begriff der sozialen Zeit im Anschluss an Mead auch Nassehi (1993: 128ff.), der im weiteren Verlauf seiner Argumentation Meads Theorievorgabe auf den Luhmannschen Zeitbegriff bezieht und dabei beachtliche Parallelen herausstellen kann.
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Zeit ist der Praxis also nicht ontologisch vorangestellt, sie ist vielmehr ein Produkt der Praxis, das durch die Genese von praktischem Sinn im Vollzug der Praxis entsteht. Dieser praktische Zeit-Sinn orientiert sich, wie bereits gesagt, an der Differenz vorher/nachher und findet seine Ausformung in kulturellen Erzeugnissen, die die Vergangenheit und die Zukunft der Praxis symbolisieren, die also das Vorher und das Nachher auf die Horizonte der Vergangenheit und der Zukunft beziehen (vgl. Luhmann 1884: 116). Gegenwärtig, also „zu unserer Zeit“, ist nach Luhmann eine Intensivierung der Symbolisierung von Vergangenheit und Zukunft zu beobachten, die geradezu als typisch angesehen werden muss für die Gegenwartsgesellschaft, in der sich, wie Hartmut Rosa (2005) ausführlich nachzeichnet, die sozialen Prozesse und Praxisformen intensiv beschleunigen. In den Worten Luhmanns: „Die Zeit wird in einem neuartigen Sinne zur Differenzerfahrung: zur Erfahrung der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, in der die Gegenwart, in der allein diese Erfahrung gemacht werden kann, gar nicht mehr vorkommt.“ (Luhmann 1990: 124; vgl. auch Luhmann 1997: 1016)
Mit der intensivierten Symbolisierung von Vergangenheit und Zukunft, die nur gegenwärtig geschehen kann, „schrumpft“ die Gegenwart, die gewissermaßen nur noch als Trennlinie, wie Luhmann es nennt, zwischen Vergangenheit und Zukunft erlebt wird und nicht mehr als zur Verfügung stehende Zeit der Dauer und Stabilität (vgl. Rosa 2005: 131ff.). Zeit ist also knapp. Sie wird dadurch zu einem wertvollen Gut. Und angesichts dessen ist es nicht überraschend, dass die Zeit auf der Sachdimension des Sinngeschehens zu einem Tauschgegenstand geformt wird (vgl. Dederichs 1999: 143ff.), wenn etwa die Arbeitszeit gegen Arbeitslohn getauscht wird („Zeit ist Geld“), oder wenn einem Freund einfach nur Zeit geschenkt wird, während der er sich der Aufmerksamkeit und Anteilnahme des Zeit schenkenden Freundes sicher sein kann, während der er also „gegenwärtig“ sein kann. Eine eigenständige Sinndimension, die von der Sachdimension zu unterscheiden ist, gewinnt die Zeit dadurch, dass mit ihrer sozialen Konstruktion die Praxis als temporalisierte Praxis erfahrbar gemacht wird, indem Praktiken in zeitlicher Hinsicht aufeinander bezogen, also temporalisiert werden. Gerade weil in diesem Zusammenhang die Symbole wirksam sind, die in der gegenwärtigen Praxis Vergangenheit und Zukunft formen, die also zeitliche Gesichtspunkte der Praxis symbolisch zum Ausdruck bringen, löst sich die Zeit von der „Bindung an das unmittelbar Erfahrbare“ (Luhmann 1984: 116). Sie wird zu einer eigenständigen Sinndimension, auf der Vergangenheit und Zukunft symbolisch erzeugt werden. Diese von vielen Autoren69 einhellig als typisch „moderne“ Struktur analysierte Symbolisierung des Zeitlichen mit Hilfe der Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft hinterlässt praktische Wirkungen, weil sie nicht ohne Folgen bleibt für die Entstehung und Reproduktion von Praxisformen. Denn die Zeit wird im Vollzug der Praxis symbolisch geformt. Mit diesen symbolischen Formen entstehen die zeitlichen Rhythmen, die zeitlichen Gerichtetheiten, die zeitlichen Unumkehrbarkeiten und andere soziale Konstruktionen, die auf die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft bezogen sind und im Vollzug der Tauschpraxis eine hohe praktische Relevanz entfalten. Und genau hier, an dieser sozial
69 Siehe hierzu neben den hier herangezogenen Arbeiten von Luhmann, Nassehi und Rosa mit gleicher Ausrichtung Giddens (1996: 28ff. und öfter). Weitere Hinweise dazu finden sich vor allem bei Rosa (vgl. 2005: 161ff.).
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konstruierten „Wirkung der Zeit“ (Bourdieu 1987: 180), ist nun der Ansatzpunkt für die zeitliche Analyse von Tauschpraktiken zu finden, die sich im „Verlauf der Zeit“ zu Praxisformen des Tausches verketten. Auffällig ist in diesem Zusammenhang zunächst: Im primär sachbezogenen Tausch, der strikt als Äquivalententausch symbolisiert ist, geschehen die konstitutiven Tauschpraktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns nahezu synchron, während sie in vielen anderen Tauschformen wie dem exklusiven Tausch asynchron, also in zeitlicher Versetzung praktisch werden. Dabei ist in praxistheoretischer Sicht zu berücksichtigen, dass eine Äquivalenz im Geben, Nehmen und Erwidern, wie bereits nachgezeichnet, zwar objektiv nicht wahrscheinlich ist, dass sie aber auf der Sachdimension des Sinngeschehens symbolisch erzeugt wird, wenn etwa durch Symbole suggeriert wird, das gekaufte Gut habe exakt den Gebrauchswert, der mit dem Tauschmittel Geld im Preis als Tauschwert symbolisiert ist. Diese Symbolisierungen des Tausches zu einem Äquivalententausch sind wichtige Bedingungen dafür, die Tauschpraktiken des Nehmens einer Ware und des Gebens von Geld für diese Ware zu synchronisieren, so dass sie in den Tauschformen des Kaufens und Verkaufens nahezu gleichzeitig, also mit einer nur geringen zeitlichen Versetzung praktisch werden können. Im praktischen Vollzug der Tauschform, die als strikter Äquivalententausch symbolisiert ist, wird die Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft auf den Moment des praktischen Vollzugs der Tauschpraktiken begrenzt. Das heißt: Die Zeit wird nicht als Vergangenheit und Zukunft symbolisiert, weil der sofortige, nahezu synchrone Abschluss des Tausches im Mittelpunkt der Praxis steht. Bereits Georg Simmel sieht diese Ausformung der Praxis als Ausdruck der „Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens“.70 Mit der massenhaften Verbreitung des Geldes als Tauschmittel und Äquivalenzmaßstab beschleunigt sich die Tauschpraxis. Simmel (1989: 706f.) schreibt: „Die Tendenz des Geldes, zusammenzufließen und sich, wenn auch nicht in der Hand eines Einzelnen, so doch in lokal eng begrenzten Zentren zu akkumulieren, die Interessen der Individuen und damit sie selbst an solchen zusammenzuführen, sie auf einem gemeinsamen Boden in Berührung zu bringen, und so – wie es auch in der von ihm dargestellten Wertform liegt – das Mannigfaltigste in dem kleinsten Umfang zu konzentrieren – diese Tendenz und Fähigkeit des Geldes hat den psychischen Erfolg, die Buntheit und Fülle des Lebens, das heißt also sein Tempo zu steigern.“
Nun darf man sich von solchen Aussagen nicht in die falsche Richtung leiten lassen, indem man sie, wie Hartmut Rosa (vgl. 2005: 99f.) es tut, ausschließlich als Indiz dafür wertet, dass die moderne Gesellschaft insgesamt von einer Beschleunigung der in ihr entstehenden Praxis erfasst wird. Denn das paradigmatische Gebiet für die Steigerung des sozialen Lebenstempos durch das Geld ist für Simmel die Börse (vgl. Simmel 1989: 707). Hier synchronisieren sich die Tauschpraktiken im durch das Geld ermöglichten Praxisprinzip der Äquivalenz, so dass speziell an diesem „Ort“ die Anzahl der abgeschlossenen Tauschvorgänge inflationär zunimmt, was zu einer Akkumulation von Kapital führt. Simmel antizipiert an 70 So der Titel eines von ihm 1896 gehaltenen Vortrages (vgl. Simmel 1992a), dessen Inhalt fast wortgleich in die „Philosophie des Geldes“ (vgl. Simmel 1989: 696ff.) eingeflossen ist.
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dieser Stelle auf beeindruckende Weise die zukünftige Entwicklung des prosperierenden Finanzmarktkapitalismus. Denn auf Finanzmärkten geht es, wie obige (siehe 3.2) Diskussion der neuen finanzmarktsoziologischen Forschung deutlich macht, um eine globale Synchronisation der Tauschpraxis zur Steigerung ihrer Effizienz, die sich nicht nur in der Menge der zum Abschluss gebrachten lukrativen Transaktionen ausdrückt, sondern auch in der Verringerung der zum Tausch notwendigen Zeit. „Das Kaufen an der Börse muss in Minutenschnelle vollzogen werden, wenn Riesenbeträge minimale Differenzen und momentane Chancen nutzen wollen“ (Luhmann 1990: 124). Die „Tiefe der Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft“ (ebd.: 125) schrumpft auf Finanzmärkten im Vollzug der konkreten Tauschpraxis, weil die Praktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns nahezu vollständig synchronisiert sind. Im Vollzug dieser Tauschform sind die zeitlichen Intervalle zwischen den Tauschpraktiken als sehr kurz symbolisiert, weil – idealtypisch gesprochen – die zukünftige Bezahlung für eine Ware relativ sicher und kurzfristig erwartet werden kann.71 Die symbolisch geformte Äquivalenz im Geben, Nehmen und Erwidern, die eine weitgehende Synchronisation der Tauschpraktiken des primär sachbezogenen Tausches nach sich zieht, ist nun aber nicht das einzige auf die Zeit bezogene Strukturmerkmal der Tauschpraxis.72 Die Simultanität von Tauschpraktiken des Kaufens, Verkaufens und Schenkens (siehe oben 3.4), die ich bereits bezüglich der Analyse der Sach- und Sozialdimension (siehe 3.5.1 und 3.5.2) als ein Charakteristikum des primär sachbezogenen Tausches mit Bindungseffekten bestimmt habe, impliziert eine speziell im Vollzug der Tauschpraxis wirksam werdende Symbolisierung der Tauschpraktiken auf den Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft. Diese symbolisch geformte Temporalisierung der Tauschpraxis bedingt, wie ich im Folgenden zeigen möchte, in hohem Maße die Genese und Reproduktion sozialer Beziehungen durch bestimmte Tauschformen. Eines meiner bisherigen Beispiele war in diesem Zusammenhang die durch Tauschpraktiken erzeugte oder reproduzierte Kundenbindung. Während auch in diesem Beispiel die sachliche Äquivalenz im Kontext des Kaufens und Verkaufens dazu führt, die diesbezüglich entstehenden Tauschpraktiken zu synchronisieren, so dass ihre symbolische Temporalisierung auf den Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft weitgehend ausbleibt, sind die simultan mit der Verkaufspraxis entstehenden Praktiken des Schenkens, die sehr häufig soziale Bindungseffekte nach sich ziehen, konstitutiv mit derartigen Symbolisierungen verbunden. In der Praktik des Gebens, hier also des Schenkens, ereignet sich, in Anlehnung an Luhmann (vgl. 1980: 242f.) formuliert, nicht nur das Schenken selbst. Wenn das gegenwärtige Ereignis des Schenkens eine praktische Relevanz
71 Siehe speziell hierzu erneut Knorr Cetina und Bruegger (2002), die, wie oben (3.2) bereits diskutiert, die technisch vermittelte globale Vernetzung der Finanzmärkte in ihrer Auswirkung auf die hier vollzogene Tauschpraxis untersuchen. Um an dieser Stelle Missverständnisse zu vermeiden, muss angemerkt werden, dass auf Finanzmärkten, wie Andreas Langenohl (vgl. 2007: 77ff.) nachweist, vor dem Vollzug der Tauschpraxis typischerweise sehr wohl Zeitsymbole wirksam werden, die auf die Antizipation einer Zukunft und auf die Auslegung einer Vergangenheit bezogen sind, weil die Wirkung von Kauf und Verkauf auf die zukünftige Entwicklung der Parameter des Finanzmarktes projiziert wird, indem zukünftige Kursentwicklungen aus der Wirkung vergangener Kauf- und Verkaufspraktiken abgeleitet und berechnet werden, um aus dieser Abwägung die Entscheidung für gegenwärtige Kauf- und Verkaufspraktiken zu gewinnen (vgl. hierzu auch Kalthoff 2004). Langenohl (vgl. 2007: 77ff.) weist nun nach, dass diesen Kaufentscheidungen sowohl kurzfristige als auch langfristige Kalkulationen zugrunde liegen. 72 Auf das sich aber die soziologischen Klassiker sowie die meisten Spielarten der gegenwärtigen (Wirtschafts)Soziologie fast ausschließlich beziehen, wenn sie den Zusammenhang von Zeit und Tausch überhaupt thematisieren.
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hat, konstituiert es, wie jedes praktisch relevante Ereignis, die Zeithorizonte der Vergangenheit und der Zukunft, die nicht zwangsläufig, wie im Kontext des symbolisch erzeugten Tauschprinzips der Äquivalenz, in hohem Maße synchronisiert und dadurch sehr genau bestimmt sind. Dieses Argument wird anschaulicher, wenn der wechselseitige bzw. gegenseitige Geschenktausch mit dem Geben von Almosen kontrastiert wird. Die zuletzt genannte Praxisform beruht konstitutiv nicht auf Gegenseitigkeit oder gar auf Wechselseitigkeit. Hier entsteht im Vollzug der Praxis keine Unsicherheit, weil für Almosen vom Beschenkten keine Erwiderung in Form eines erneuten Geschenks, sondern nur eine fast synchron zum Geben des Almosens praktizierte Bekundung von Dankbarkeit erwartet wird. Dadurch ist diese Form des Schenkens abgeschlossen. Sie birgt, ähnlich dem Geben von Trinkgeld im Restaurant, kein großes Unsicherheitspotenzial, weil das Almosen mit der Bekundung von Dankbarkeit endgültig vergolten ist. Die Reziprozität ist okkasionell und flüchtig. Eine symbolische Temporalisierung der Tauschpraktiken bleibt aus. Im gegenseitigen oder wechselseitigen Tausch von Geschenken wirkt dagegen eine Ungewissheit, die symbolisch auf der Zeitdimension der Tauschpraxis geformt und deshalb von den beteiligten Akteuren als Unsicherheit erlebt wird, weil die Praktiken des Geschenktausches typischerweise nicht synchronisiert sind. Sie sind auf der Zeitdimension der Tauschpraxis symbolisch temporalisiert, weil sie in zeitlicher Versetzung aufeinander bezogen sind. In letzter Konsequenz werden sie nur dadurch als Einzelpraktiken praxisrelevant, denn sie werden nur deshalb als Ereignisse symbolisch temporalisiert, weil sie nicht als synchrone Praktiken erscheinen. Eine sehr weitgehende Synchronisation von Einzelpraktiken macht diese quasi unsichtbar, wie leicht am Beispiel des Äquivalententausches sichtbar wird: Hier sind die Praktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns zu der Praxisform des Kaufens bzw. des Verkaufens verschmolzen. Sie werden im Vollzug der Praxis nicht temporalisiert und verlieren dadurch als Einzelpraktiken ihre Relevanz für die Praxis. Ganz ähnlich verhält es sich beim Spenden von Almosen an einen Bettler oder beim Geben von Trinkgeld an den Kellner. Werden die Tauschpraktiken hingegen symbolisch temporalisiert, entstehen im gegenwärtigen Vollzug der Tauschpraxis Zeitintervalle zwischen Geben, Nehmen und Erwidern. Diese Zeitintervalle affizieren als symbolische Formen Unsicherheit darüber, ob sich zukünftige Einzelpraktiken des Tausches überhaupt ereignen oder in welcher Form sie als Gesten praktisch werden. Werden Tauschpraktiken auf den Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft symbolisch temporalisiert, verlieren sie ihre eindeutige Bestimmbarkeit. Es entsteht eine prinzipielle Unsicherheit über die zukünftige Gegengabe oder die Wirkung der vergangenen Gabe, also über ihre zeitliche, sachliche oder soziale Angemessenheit. Durch ihre symbolische Temporalisierung verbindet sich mit den einzelnen Tauschpraktiken ein Überraschungspotenzial, mit dem praktisch umgegangen werden muss, so dass die symbolische Temporalisierung der Tauschpraktiken Tauschformen strukturierende Praxiseffekte nach sich zieht. Diese Praxiseffekte können mit Hilfe eines soziologischen Zeitbegriffs, der Zeit nicht ontologisch, sondern als Produkt der im Vollzug der Praxis entstehenden Symbolisierungen fasst, sichtbar gemacht werden. Ganz im Gegensatz zum Kaufen und Verkaufen geschieht das gegenseitige Schenken also typischerweise in der ungewissen Erwartung eines zukünftigen Gegengeschenkes, das den Geschenktausch zu einem vorläufigen Abschluss bringen würde. Und das zweite Ge-
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schenk ist auf den Zeithorizont der Vergangenheit bezogen, auf dem das erste Geschenk symbolisch als Referenzpunkt des zweiten Geschenks verortet wird. Anders gesagt: Im Vollzug der Tauschpraxis werden insbesondere Geschenkpraktiken typischerweise durch die Projektion eines ungewissen Gegengeschenkes auf dem Zeithorizont der Zukunft temporalisiert, während das Gegengeschenk typischerweise dadurch temporalisiert wird, dass es auf ein vergangenes Geschenk bezogen wird. Geschenkpraktiken sind also paradoxerweise immer dann konstitutiv mit den Zeitsymbolen der Ungewissheit und Unsicherheit verbunden, wenn sich retrospektiv beobachten lässt, dass diese Praktiken sich in der Zeit zur Praxisform des Geschenktausches verketten, was jedoch im gegenwärtigen Ereignis des Schenkens von den beteiligten Akteuren gerade nicht sicher gewusst werden kann. Denn es herrscht so lange als Unsicherheit erlebte Ungewissheit über den Ausgang des Geschenktausches, bis die Verkettung der sich hier ereignenden Tauschpraktiken zur Praxisform des Geschenktausches abgeschlossen ist (vgl. Bourdieu 1987: 181). Ein solcher Abschluss kann aber im Vollzug der Praxis des Schenkens nur hypothetisch angenommen werden. Denn Geschenken wohnt gerade deshalb ein Unsicherheits- und Überraschungspotenzial inne, weil sie durch ein Gegengeschenk nicht abschließend vergolten werden können. Deshalb können Geschenke innerhalb eines Geschenktausches, der auf Gegen- oder Wechselseitigkeit beruht, immer nur als zweite erste Gaben, wie es Paul Ricœur (vgl. 2006: 301) ausdrückt, gefasst werden, die schon als Gesten, wie er (vgl. ebd.) im Anschluss an Mauss sehr richtig betont, konstitutiv Unsicherheit erzeugen. Ricœur (ebd.: 302) schreibt: „Die Faszination, die das Rätsel der Gegengabe ausübt, führt … zur Vernachlässigung bemerkenswerter Bewegungen in der konkreten Praxis der Gabe, die eher beiläufig erwähnt werden: anbieten, riskieren/wagen, annehmen, und schließlich, dass man im Geben eines bloßen Dinges auch etwas von sich selber gibt.“
Angesichts der von Ricœur umrissenen Bedeutungen, die der Geste, also dem Ereignis der Gabe auf der Sach- und Sozialdimension der Tauschpraxis symbolisch zugeschrieben werden müssen, reicht die Bekundung von Dankbarkeit als Erwiderung einer Gabe, die als Geschenk symbolisiert ist, häufig nicht aus. Sie affiziert Gegengaben, die sich nicht synchron zur Gabe, sondern temporalisiert ereignen. Diese Gegengaben erscheinen im Vollzug der Praxis als erneute Gesten des Schenkens, die wiederum erneute Gesten des Schenkens affizieren, so dass der Prozess der Tauschpraxis nicht zum Abschluss kommt. Es ereignet sich eine dauerhafte Verkettung der Tauschpraktiken, die auf den im Vollzug der Praxis symbolisch geformten Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft symbolisch temporalisiert wird. Die Tauschpraxis generiert auf diese Weise soziale Beziehungen, weil eine Reziprozität im Geben und Erwidern durch ihre symbolische Temporalisierung auf der Zeitdimension auf Dauer gestellt wird.73 73 Besonders augenscheinlich wird diese Temporalisierung der Tauschpraxis im Kontext von verwandtschaftlichen Generationenbeziehungen der Reziprozität. Hier wirkt häufig eine Symbolisierung der Tiefe von Vergangenheit und Zukunft, denn das Zeitintervall zwischen Gabe und Gegengabe kann unter umständen sehr groß sein. Und gerade diese Form der Symbolisierung von Zeit erzeugt häufig sehr wirksame Verpflichtungen, wenn etwa die elterliche Versorgung im Kindesalter viele Jahre später durch eine Pflege der Eltern „vergolten“ wird. Siehe hierzu, mit empirischen Belegen zur Motivation für das Eingehen bzw. die Fortführung derartiger Formen der Reziprozität, Hollstein (2005: 191ff.).
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Diese Argumentation präzisiert das, was Bourdieu (1987: 180) mit Bezug auf den Gabentausch die „Wirkung der Zeit“ nennt. Möglich wird diese Präzisierung dadurch, dass Tauschpraktiken als Ereignisse gefasst werden, die im Vollzug der Praxis auf den Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft symbolisch temporalisiert werden. Durch diese Temporalisierung, die sich nur mit Hilfe eines sozialen Zeitbegriffs hinreichend genau fassen lässt, werden Tauschpraktiken mit Erwartungen und Erwartungserwartungen verbunden, die als soziale Verpflichtungen gefasst werden können. Dies ist aber nur möglich, wenn der praktische Zeit-Sinn mit dem praktischen Sach-Sinn und dem praktischen Sozial-Sinn der Tauschpraxis zusammenwirkt. Denn wird beispielsweise ein Ereignis in sachlicher Hinsicht als eine Geste des Schenkens durch einen bestimmten Akteur (Sozialdimension) erkannt, ereignet sich in der Regel eine Temporalisierung dieses Ereignisses. Es wird, anders gesagt, als Geschenk erinnert und affiziert deswegen zukünftige Ereignisse, sprich Geschenke oder Zurückweisungen. Das „Rätsel der Gabe“ (Godelier 1999) löst sich folglich durch die kultursoziologischen Untersuchungen der symbolischen Formen auf der Sach-, Sozial- und Zeitdimension der Tauschpraxis immer mehr auf, weil diese Analysen verdeutlichen, warum sich Gaben überhaupt ereignen und Praxiseffekte nach sich ziehen. Indem die Analyse der Zeitdimension der Tauschpraxis den prozessualen Charakter von Tauschformen sichtbar macht, ermöglich sie es folglich nicht nur, die bereits von Mauss gestellte Frage zu klären, wie und warum preislose Gaben im Verlauf der Zeit regelmäßig erwidert werden. Darüber hinaus ist das hier entwickelte Verständnis der Zeitdimension der Tauschpraxis der wichtigste Ausgangspunkt dafür, die Strukturdynamiken einzugrenzen, die durch den Tausch entstehen. Denn die zeitliche Form der Verkettung von Tauschpraktiken hat entscheidende Auswirkungen darauf, wie Tauschformen soziale Beziehungen zwischen individuellen und kollektiven Akteuren, also soziale Strukturen hervorbringen und verfestigen. Dieses Potenzial des hier dargelegten Zeitbegriffs lässt sich aber nur freilegen, wenn zuvor das komplexe Zusammenspiel der Sach-, Sozial- und Zeitdimension der Tauschpraxis theoretisch gefasst wird. Bevor ich darauf im nächsten Abschnitt zurückkomme, muss zur Komplettierung der Analyse der Zeitdimension der Tauschpraxis noch kurz darauf eingegangen werden, dass die Symbolisierung der Zeit auch zur Stabilisierung von dauerhaften Tauschbeziehungen führen kann. Denn auf der Zeitdimension der Tauschpraxis entstehen als signifikante symbolische Formen nicht nur die Synchronisation und Temporalisierung der Tauschpraktiken. Bestimmte Tauschformen sind nur dann praktikabel, wenn sie mit einer symbolischen Generalisierung der Zeit versehen sind. So wird etwa der redistributive Tausch nur möglich, wenn im Vollzug dieser Tauschform die Zeit symbolisch generalisiert ist. Denn im Kontext eines abstrakten, sozialstaatlich organisierten Tauscharrangements wird der Tausch beispielsweise dadurch abgeschlossen, dass die zu einem sehr genau bestimmten Zeitpunkt zwangsweise eingezogenen Sozialabgaben, Steuern und Gebühren in zeitlich unbestimmter Form durch abstrakt symbolisierte Werte wie etwa „sozialer Frieden“ oder „soziale Sicherheit“ erwidert werden. Der Zeitpunkt der Erwiderung ist folglich zeitlich unbestimmt, während der Zeitpunkt des Gebens von Steuern, Sozialabgaben und Gebühren sehr genau bestimmt ist. Mit anderen Worten: Die Zeitintervalle zwischen Geben, Nehmen und Erwidern werden, wie im Übrigen auch im Kontext der organisierten Spendenpraxis, symbolisch generalisiert, so dass sie nicht eindeutig auf den Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft ausgewiesen sind.
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Sozialer Frieden, soziale Sicherheit oder auch soziale Anerkennung können nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erwidert werden. Sie sind als abstrakte Werte zeitunabhängig. Obwohl sie im Verlauf der Zeit durchaus erfahren werden können, lässt sich ein konkreter Bezug dieser Erfahrung auf ein vergangenes Ereignis des Gebens nicht herstellen. Dennoch wird wegen der zeitlichen Generalisierung, die im redistributiven Tausch wirksam ist, der Zusammenhang etwa zwischen dem vergangenen Geben einer Spende und der sich mit der Zeit einstellenden sozialen Anerkennung häufig als evident erlebt, ohne dies jedoch an einem konkreten Ereignis festmachen zu können. Die in zeitlicher Hinsicht symbolisch generalisierten Formeln, an denen sich die redistributiven Tauschformen orientieren, lauten dann: Eine permanente Spendenpraxis erzeugt eine dauerhafte soziale Anerkennung. Und eine permanente Entrichtung von Steuern, Sozialabgaben und Gebühren führt zu dauerhaftem sozialem Frieden und erzeugt gleichsam eine auf Dauer gestellte soziale Sicherheit. Die auf diese Weise wirksam werdende symbolische Generalisierung der Zeit ermöglicht eine dauerhafte Reproduktion der Praxisformen des redistributiven Tausches. Diese Wirkung ist, wie auch die strukturdynamische Wirkung der Zeit, jedoch nur möglich, wenn die symbolischen Formen auf der Zeitdimension der Tauschpraxis mit denen auf der Sach- und Sozialdimension in spezifischer Weise zusammenwirken. Der Frage, wie dieses Zusammenspiel von sachlichen, sozialen und zeitlichen Symbolen des Tausches erfasst werden kann, wende ich mich im nächsten Abschnitt zu.
3.5.4
Die Vielfalt der Tauschpraxis
Die hier vorgenommene Unterscheidung zwischen Sach-, Sozial- und Zeitdimension zur Bestimmung von Tauschformen ist als eine Heuristik zu verstehen, die es ermöglicht, die Vielfalt der Tauschpraxis zu verdeutlichen, indem die sach-, sozial- und zeitspezifischen Symbole der Tauschpraxis zunächst getrennt voneinander bestimmt werden. Wie meine bisherigen Beispiele veranschaulichen, wirken diese symbolischen Formen, die sich den drei Sinndimensionen zuordnen lassen, im Vollzug der Tauschpraxis zusammen. „Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension können nicht isoliert auftreten. Sie stehen unter Kombinationszwang.“ (Luhmann 1984: 127) Die Form der Kombination dieser Sinndimensionen veranschaulicht letztlich verschiedene Praxisformen des Tausches, was eine Vielfalt der Tauschpraxis sichtbar werden lässt. Dies soll das folgende Schema deutlich machen:
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Schematische Darstellung der Vielfalt der Tauschpraxis (ausgewählte Beispiele) exemplarische Tauschformen
praxisrelevanter Bestimmtheitsgrad Sachdimension
primär sachbezogener hoch, Ware gegen Geld Tausch im Praxisprin- (Preis, Marke, Werbung), symbolisch erzeugte zip der Äquivalenz Äquivalenz (Kauf und Verkauf)
Sozialdimension
Zeitdimension
niedrig, fast vollständig generalisiert durch Angebot und Nachfrage
hoch, nahezu synchrone Erwiderung wird erwartet
primär sachbezogener Tausch mit Bindungseffekten
mittelmäßig hoch, weil nicht nur Waren verkauft, sondern simultan dazu „kleine Gaben“ verschenkt und erwidert werden
mittelmäßig hoch (Stammkunden, Geschäftspartner)
im Verkauf hoch (Synchronisation), in Bezug auf die „kleinen Gaben“ mittelmäßig hoch, weil mittelmäßig stark symbolisch temporalisiert
Tausch von Arbeit gegen Geld
Tauschwert der Arbeitskraft genau bestimmt (tariflicher Arbeitslohn), Gebrauchswert des Arbeitsvermögens relativ unbestimmt
mittel bis hoch, weil bestimmte Arbeit i. d. R. an Qualifikationen gebunden ist und Arbeitsplätze nur von bestimmten Akteuren angeboten werden können
in Bezug auf die Arbeitskraft genau bestimmt, in Bezug auf das Arbeitsvermögen stark symbolisch temporalisiert und unbestimmt
in der Bekundung von gering, situativ bedingt Dankbarkeit sehr hoch („zufällige“ Begegnun(synchrone Erwiderung), gen, Gelegenheitshoch, weil die „bestätiin der darüber hinausgegenseitiger Tausch bekanntschaften, genegenden Rituale“ nur als weisenden Erwiderung unter Unbekannten, „kleine Gesten“ möglich ralisierte Arbeitskollegen sehr gering, weil voll„bestätigende und Nachbarn), allersind (Gruß, Höflichkeiten ständig symbolisch geneRituale“ dings in der Regel sozialetc.) ralisiert, eine Gegengabe strukturell vorstruktuist u. U. nicht zu erwarriert ten mittelmäßig bis hoch mittelmäßig bis hoch mittelmäßig hoch, die bestimmt, weil Bekannte, symbolisch temporaligegenseitiger Tausch Gegenstände des Tausiert, obwohl der Bezug direkte Nachbarn und im Bekanntenkreis, in sches sind vielfältig aber spezielle Arbeitskollegen von Gaben und Gegender Nachbarschaft, am auf bestimmte sachliche nicht beliebig bestimmt, gaben nicht auf unbeArbeitsplatz Aspekte begrenzt stimmte Dauer zeitlich allerdings i. d. R. leicht gestreckt sein kann auswechselbar sind gering, die möglichen gering, weil in hohem Gaben und Gegengaben sehr hoch, weil exklusiv Maße symbolisch temposind höchst vielfältig, bestimmte Tauchpartner ralisiert, der Bezug von exklusiver, wechselseiÄquivalenz im Geben und Gabe und Gegengabe (Freunde, Liebende, enge tiger Tausch Erwidern ist weitgehend kann auf unbestimmte Verwandte) ausgeschlossen (GeZeit gestreckt sein schenke)
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exemplarische Tauschformen
praxisrelevanter Bestimmtheitsgrad Sachdimension
Sozialdimension
Zeitdimension
exklusiver Kettentausch
mittelmäßig bis hoch, weil die Beiträge und ihre Gegenleistungen klar bestimmt, aber gegebenenfalls, etwa in Selbsthilfegruppen, situativ variieren können
hoch, bestimmt durch Mitgliedschaft
mittelmäßig hoch, weil eine Gegenleistung für bestimmte Beiträge erwartet wird, diese Gegenleistung zeitlich nicht exakt bestimmt und deshalb symbolisch generalisiert ist
Tauscharrangement des Sozialstaates, redistributiver Tausch
im Geben sehr hoch (Steuern, Abgaben), im Erwidern hoch abstrakt („sozialer Frieden“ etc.)
symbolisch generalisiert (Staatsbürger und bedürftige Staatsbürger)
nahezu vollständig unbestimmt, symbolisch generalisiert
organisierte Spendenund Stiftungspraxis
im Geben sehr hoch (eindeutig symbolisierte Spenden), im Erwidern hoch abstrakt („soziale Anerkennung“, symbolisches Kapital)
hoch: Spender sind symbolisch ästhetisch inszenierte Akteure, nahezu vollständig unbeEmpfangene sind als stimmt, symbolisch bedürftig sozial kongeneralisiert struiert, die Erwidernden sind unbestimmt, weil symbolisch generalisiert
Die schematische Darstellung der Vielfalt der Tauschpraxis an ausgewählten Beispielen weist nicht nur darauf hin, wie Praxisformen des Tausches aus der Verflechtung und dem Zusammenwirken sachlicher, sozialer und zeitlicher Symbole entstehen, sondern zeigt zudem, dass die Bestimmtheitsgerade auf den einzelnen Sinndimensionen zwischen den Extremwerten sehr genau bestimmt und nahezu vollständig unbestimmt variieren. Das Bestimmtheitsniveau der symbolischen Formen auf den drei Sinndimensionen lässt sich folglich auf einer Skala zwischen bestimmt und unbestimmt verorten. Es ist in unterschiedlichen Ausformungen der Tauschformen, die im hier vorgelegten Schema als Bespiele aufgeführt sind, unterschiedlich ausgeprägt. Wenn etwa im Beispiel des primär sachbezogenen Tausches mit Bindungseffekten eine reziproke Kundenbindung bereits seit mehreren Jahrzehnten besteht, steigert sich auch das Bestimmtheitsniveau auf der Sozialdimension dieser Tauschform, weil sich die am Tausch beteiligten Akteure sehr gut zu kennen glauben, indem sie sich gegenseitig mit Symbolen versehen, die einen hohen Bestimmtheitsgrad auf der Sozialdimension des Sinngeschehens entstehen lassen. Es ist jetzt nicht mehr nur der Name, sondern es sind weitere Symbolisierungen auf der Sozialdimension wie etwa persönliche Vorlieben bei Gesprächsthemen, die persönlichen Lebensgeschichten oder die Familiensituationen, die die praktisch relevanten Erwartungen und Erwartungserwartungen steuern. Mit diesen Voraussetzungen ereignet sich die Praxisform des sachbezogenen Tausches mit sehr langer Kundenbindung in anderer Form, als wenn die Kundenbindung erst seit kurzer Zeit besteht. Ein weiteres Beispiel zur Plausibilisierung meines Vorschlages, die drei Sinndimensionen als Skalen zwischen bestimmt und unbestimmt zu fassen, ist der
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gegenseitige Tausch unter Unbekannten. Steigt im Kontext dieser Tauschform der Bestimmtheitsgrad der Symbole auf der Sozialdimension, wandelt sich diese Tauschform schnell in einen gegenseitigen Tausch unter sich gegenseitig bekannten Akteuren. Und nimmt auch in diesem Zusammenhang wiederum der Bestimmtheitsgrad auf der Sozialdimension zu, kann sich aus dieser Tauschform ein exklusiver Tausch zwischen Freunden entwickeln. Diese Genese der Tauschformen ist von Bedingungen abhängig, die sich wiederum auf den beiden anderen Dimensionen der Tauschpraxis formen. Die Bestimmtheitsgrade auf den drei Sinndimensionen müssen demnach dynamisch verstanden werden, weil sie in den angeführten Beispielen als Punkte auf Skalen zwischen den Werten bestimmt und unbestimmt gefasst sind. Löst man sich folglich von den beispielhaft untersuchten Tauschformen des von mir entwickelten Schemas, lässt sich der hier vorgestellte Theorievorschlag zur Identifikation vielfältiger Praxisformen des Tausches auf ein höheres Abstraktionsniveau überführen, das in folgendem Schaubild deutlich wird. Abbildung 3:
Bestimmtheitsgrade der Tauschpraktiken74
74 Ich danke Uwe Schimank dafür, dass er mich ermutigt hat, das abstrahierende Schaubild an dieser Stelle einzufügen. In der Perspektive einer Soziologie der Praxis sind hohe Abstraktionsniveaus zwar mit großer Vorsicht zu handhaben, wenn sie jedoch zur Klärung eines Sachverhaltes beitragen, können sie nützliche Bestandteile auch von praxistheoretischen Untersuchungen sein. Dies gilt aber nur dann, wenn sie nicht in modellplatonischer Weise fehl interpretiert werden. Zur Erläuterung der Abbildung ist zu sagen, dass sich praxisrelevante Tauschformen nur innerhalb des gestrichelt dargestellten Würfels identifizieren lassen. Lässt sich nämlich der Grad der Bestimmtheit auf den drei Sinndimensionen der Tauschpraxis kaum noch ausmachen, können Tauschpraktiken sich nicht zu Praxisformen des Tausches verketten.
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Mit dem hier verfolgten Theorievorschlag zur Identifikation und Analyse von Tauschformen wird es außerdem möglich, Mischformen des Tausches zu bestimmen, denn die von mir bestimmten Praxisformen des Tausches sind Idealtypen, die zur Analyse der Tauschpraxis gegebenenfalls kombiniert werden müssen. Diese Kombination macht weitere Struktureffekte des Tausches sichtbar. Dies wird ansatzweise bereits bezüglich des primär sachbezogenen Tausches mit Bindungseffekten deutlich, der auch als eine Kombination der Strukturmerkmale des primär sachbezogenen Tausches mit denen des gegenseitigen Tausches unter Unbekannten verstanden werden kann. An diesem Beispiel wird bereits erkennbar, dass gerade die Mischung verschiedener Praxisprinzipien des Tausches, also die praktische Simultanität unterschiedlicher Tauschlogiken, zu komplexen Beziehungsgeflechten führt, die sich durch die Verkettung von Tauschpraktiken zu Tauschformen bilden. Besonders augenscheinlich wird dieses Argument an den Beispielen der Korruption und der Netzwerkbildung. Zum Abschluss einer Bestimmung von Praxisformen des Tausches möchte ich diese beiden Aspekte der Praxis mit dem hier entwickelten Instrumentarium einer soziologischen Praxistheorie des Tausches diskutieren, um auf diese Weise die Vielfalt der Tauschpraxis weiter zu verdeutlichen, die sich in der Korruptionspraxis sowie in der Praxis zur Bildung und Pflege von Netzwerken exemplarisch ausformt. Korruption wird in der auf diesen Themenkomplex bezogenen Fachliteratur regelmäßig als moralischer Begriff verstanden. Mit ihm wird etwas moralisch Inakzeptables bezeichnet. Er stammt vom lateinischen Begriff „corrumpere“ ab, der so viel meint wie Bestechlichkeit, Verderbtheit und Sittenverfall (vgl. Bannenberg und Schaupensteiner 2004: 24). Diese konstitutive Verquickung des Begriffs mit moralischen Aspekten ist deshalb bemerkenswert, weil im Kontext von Korruption regelmäßig davon ausgegangen wird, dass die mit diesem Begriff bezeichnete Praxis sich nicht etwa selten, sondern regelmäßig ereignet. Korruption verstößt zwar gegen Sitten, Regeln und Moralvorstellungen, sie wird beispielsweise als „sittenwidrige Käuflichkeit“ (Wieland 2005: 43) oder als „unmoralischer Tausch“ (Neckel 1995) verstanden, ist aber im Gegensatz zu anderen Praxisformen, die wie Raub, Mord und Vergewaltigung in unserer Kultur ganz allgemein moralisch und rechtlich verurteilt werden, nicht selten, sondern eine regelmäßige Praxis, die sich in allen Bereichen der Gesellschaft ereignet. Diese Konstellation bedingt eine Schwierigkeit der soziologischen Erforschung der Korruptionspraxis: Korruption wird in der Öffentlichkeit zugleich tabuisiert, medialisiert und moralisiert (vgl. Jansen 2005: 14ff). Mit der Tabuisierung und moralischen Ablehnung der Korruption steigt zugleich ihr Nachrichtenwert, weil die Aufdeckung von Korruptionsskandalen die öffentliche Aufmerksamkeit bindet und ihre Enthüllung nicht zuletzt deshalb als Kernaufgabe des investigativen Journalismus gilt. In dieser Konstellation werden auch soziologische Studien zur Korruptionspraxis häufig als Aufdeckungsstudien einzelner Korruptionsfälle verstanden oder sie konzentrieren sich darauf, das quantitative Ausmaß der Korruption herauszuarbeiten, um auf diese Weise das Phänomen mit Zahlen weiter zu skandalisieren. Die theoretische Frage, wie sich die Praxis der Korruption mit soziologischen Begriffen fassen lässt, wird dabei häufig nur marginal diskutiert. Und dies ist sicher der wichtigste Grund dafür, dass es einen soziologischen Begriff der Korruption bis heute nicht gibt. Als Folge daraus ist Korruption inzwischen ein sehr weit gefasstes Phänomen, das nicht nur die strafrechtlich relevante Bestechung zum privaten Vorteil, sondern auch langfristig angelegte Systeme der Patronage in Netzwerken umfasst (vgl. Priddat 2005:
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85). Der gemeinsame Nenner, unter den alle Formen der Korruption versammelt werden, ist der Begriff des „Missbrauchs“ einer Machtposition. Und dieser „Missbrauch“ kann dann wiederum nur normativ festgeschrieben werden, indem mit dem Begriff der Korruption alle Praxisformen bezeichnet werden, „bei denen sich Personen mit öffentlichen und privaten Aufgaben auf Kosten der Allgemeinheit als unangemessen bewertete Vorteile verschaffen“ (Bannenberg und Schaupensteiner 2004: 25).75 Eine derartig ethisch-moralische Fassung des Begriffs der Korruption reicht jedoch zur Analyse der Korruptionspraxis nicht aus, weil ein soziologischer Begriff der Korruption nicht das primäre Ziel verfolgen kann, die Korruptionspraxis moralisch zu verurteilen. Er muss sich vielmehr vorrangig auf die Ausformungen der mit dem Begriff der Korruption bezeichneten Praxis beziehen. Und gerade eine soziologische Theorie des Tausches ermöglicht in diesem Zusammenhang begriffliche Klärungen, die einer praxisnahen Analyse der Korruptionspraxis die Richtung weisen können. Denn im Kontext einer soziologischen Praxistheorie des Tausches kann Korruption als eine komplexe Praxis begriffen werden, in der sich Tauschpraktiken in vielfältiger Form miteinander verketten. Die Vielfalt der sich in der Korruptionspraxis ereignenden Tauschformen wird im alltäglichen Diskurs durch Begriffe wie „Vetternwirtschaft“ oder „Klüngel“ symbolisch zum Ausdruck gebracht. Diese und ähnliche Begriffe sollen die Undurchsichtigkeit der hier praktisch werdenden Tauschformen deutlich machen. Denn diese Undurchsichtigkeit der Verkettung von (Tausch)Praktiken ist ein konstitutives Merkmal der Korruptionspraxis, die sich typischerweise im Verborgenen ereignen muss, weil sie, wie bereits gesagt, im gesellschaftlichen Bewertungsprozess moralisch und rechtlich verurteilt wird. Und der der Alltagssprache entnommene Begriff „Vetternwirtschaft“ drückt in diesem Zusammenhang relativ genau aus, worum es in der Korruptionspraxis regelmäßig geht, nämlich um die praktische Simultanität von verschiedenartigen Tauschlogiken. Die damit verbundene Verflechtung der Tauschpraktiken des Kaufens, Verkaufens und Schenkens entfaltet in so genannten Grauzonen der Praxis, die Birger Priddat (2005) „schwarze Löcher der Verantwortung“ nennt, eine praktische Wirkmächtigkeit, durch die eine vielfältige Korruptionspraxis möglich wird. Welche Form die Simultanität von ungleichen Tauschlogiken in der Praxis der Korruption annimmt, wird deutlich, wenn Korruption in der Sach-, Sozial- und Zeitdimension als Tauschform beschrieben wird. Auf der Sachdimension der Korruptionspraxis geht es um Tauschgegenstände, die nicht auf regulärem, und das heißt hier auf legalem Wege, käuflich erworben werden können, die folglich, wie bereits oben (3.5.1) angesprochen, nicht als marktfähig, also nicht als käuflich symbolisiert sind. Die Tauschgegenstände der Korruption
75 Eine weitere beispielhafte Definition des Korruptionsbegriffs gibt Hans Herbert von Arnim, der in Deutschland als einer der populärsten Sozialwissenschaftler angesehen werden muss, weil er sich regelmäßig medienwirksam mit dem Phänomen der Korruption beschäftigt. Er schreibt: „Politik- und Sozialwissenschaftler fassen den Begriff der ‚Korruption’ in der Regel weiter [als Strafrechtler; F.H.] und verstehen darunter ganz allgemein den Missbrauch von anvertrauter Macht zu privatem Vorteil, unabhängig davon, ob die Handlung unter Strafe steht oder nicht. Darunter fallen dann zum Beispiel auch Untreue, Ämterpatronage und überzogene Selbstversorgung von (in eigener Sache entscheidenden) Amtsträgern.“ (Arnim 2003: 18; vgl. auch Priddat 2005: 85) Darin, dass der Korruptionsbegriff in häufig populärwissenschaftlich angelegten Publikationen wie der Arnims regelmäßig normativ definiert wird, könnte ein Grund dafür liegen, dass in den soziologischen Großtheorien, also weder bei Luhmann noch bei Bourdieu oder bei Habermas, kein Begriff der Korruption entwickelt wird, was angesichts der praktischen Relevanz, die diesem Begriff in der gegenwärtigen Praxis zukommt, als Defizit der soziologischen Theoriebildung angesehen werden muss.
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können aber auch nicht als übliche Geschenke symbolisiert werden, weil sie mit als adäquat symbolisierten Gegenleistungen verbunden werden, die sie als Geschenke disqualifizieren. Denn Geschenke sind, wie erinnerlich, als Symbole einer spezifischen Tauschpraxis nur dann möglich, wenn sie als Gesten der Freundschaft oder Zuneigung eben gerade nicht im Hinblick auf äquivalente oder adäquate Gegengeschenke gemacht werden. Auf der Sachdimension der Tauschpraxis ereignet sich im Kontext von Korruption also eine sehr eigentümliche, oft hoch komplexe Symbolisierung der Tauschgegenstände, die unter den beteiligten Tauschpartnern geheim gehalten werden muss. Die Tauschgegenstände der Korruption sind häufig als Gegenstände symbolisiert, die schwer zu bekommen sind und für den Empfänger anderweitig, außerhalb der als exklusiv symbolisierten korrupten Reziprozität nicht zu erlangende Vorteile bringen. Beispiele hierfür sind Baugenehmigungen, politische Entscheidungen, Marktlizenzen, lukrative Aufträge aus öffentlichen Mitteln, Zugang zu exklusiven Kreisen oder auch Aufenthaltsgenehmigungen. Solche und ähnliche Leistungen sind für Akteure, die diese Leistungen nachfragen, auf legalem Wege häufig gar nicht oder nur gegen einen viel höheren Aufwand zu bekommen und deshalb können sie von den Akteuren, die über diese Leistungen aufgrund ihrer sozialen Position verfügen, in exklusiver Form zum Tausch angeboten werden. Dieses Tauschangebot kann aber typischerweise nur geschehen, wenn es zuvor durch einen längerfristig angelegten Austausch von kleinen Gefälligkeiten, die keinen exklusiven und illegalen Charakter haben, vorbereitet wird. Unter der praktischen Formel: „Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft“, ereignet sich zur Vorbereitung der eigentlichen Korruptionspraxis ein gegenseitiger Austausch unter sich gegenseitig bekannten Akteuren, der zunächst relativ unverbindlich bleibt aber bereits auf das eigentliche Ziel der Tauschpraxis ausgerichtet ist, einen im Prinzip nicht käuflichen Tauschgegenstand dennoch gegen einen bestimmten Tauschgegenstand zu tauschen. Der regelmäßige Austausch von Gefälligkeiten formt die Symbole auf der Sozialdimension der Tauschpraxis, weil sich die Tauschakteure durch diese Praktiken aufeinander einstellen, indem sie sich gegenseitig mit Symbolen versehen, die ein Vertrauen zwischen den Tauschakteuren herstellen. Jeder neue Austausch von Gefälligkeiten erzeugt, wenn er gelingt, eine immer exklusiver werdende Bestimmung der Tauschakteure auf der Sozialdimension der Tauschpraxis. Werden im Verlauf dieser auf Dauer gestellten Tauschpraxis die gegenseitigen Geschenke immer verbindlicher, transformiert sich der gegenseitige, zunächst noch relativ unverbindliche Tausch von Gefälligkeiten unter sich gegenseitig nur flüchtig bekannten zu einem exklusiven Tausch zwischen sehr genau bestimmten Tauschakteuren. Die so entstehende Reziprozität wird nun immer mehr als exklusive Reziprozität zwischen zwei nicht auswechselbaren Tauschakteuren symbolisiert, die auch den Austausch von Tauschgegenständen ermöglicht, die nicht mehr als legale Gefälligkeiten symbolisiert sind, sondern als exklusive Tauschgegenstände, die sich als anderweitig nicht zu erwerbende Leistungen nur in der als exklusiv symbolisierten Tauschbeziehung zwischen zwei sehr genau bestimmten Akteuren austauschen lassen, so dass die eigentliche Korruptionspraxis möglich wird. Dieses Argument sollte jedoch nicht verdecken, dass Praxisformen der Korruption häufig als Ausformungen von Macht- und Herrschaftsbeziehungen verstanden werden müssen. Diese Formen der Korruption machen Beziehungen anbahnende Tauschpraktiken obsolet, weil die strukturelle Machtposition, die ein am korrupten Tausch beteiligter Akteur durch die potenzielle Verfügung über einen bestimmten Tauschgegenstand gegenüber dem Ande-
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ren einnimmt, die Tauschpraxis mehr oder weniger steuert. Wenn beispielsweise Aufenthaltsgenehmigungen für Einwanderer von dem damit betrauten Beamten an die Aufenthaltswilligen verkauft werden, ist dies eine durch Macht entstehende korrupte Praxis, die nur einer geringen Flankierung durch einen beziehungsbildenden Austausch von zunächst unverbindlichen Gefälligkeiten bedarf. Die Tauschbeziehung kann in diesem Fall auf den korruptern Akt des Austausches der Aufenthaltsgenehmigung gegen Geld begrenzt bleiben und ist dadurch zwischen den beteiligten Akteuren nicht auf Dauer gestellt, nicht nur weil die Aufenthaltgenehmigung nur einmal verkauft werden kann, sondern auch weil die Asymmetrie innerhalb der korrupten Reziprozität eine Denunziation der entsprechenden Praxis durch den Empfänger der Aufenthaltsgenehmigung unmöglich macht. Sie hätte letztlich nicht nur den Effekt, dass der korrupte Beamte seine Tätigkeit nicht weiter ausüben kann, sondern auch den, dass die Aufenthaltsgenehmigung zurück genommen wird. Der korrupte Machtmissbrauch schützt sich also vor der Aufdeckung, indem einem Akteur eine Leistung gegen Geld verkauft wird, die ihm wichtiger ist, als die Aufdeckung einer als unmoralisch symbolisierten Tauschpraxis. Dies erlaubt es dem korrupten Beamten, weitere Aufenthaltsgenehmigungen an andere Akteure zu verkaufen, die ihm durch ihre Antragsstellung einen Bedarf für die Aufenthaltsgenehmigung signalisieren.76 Im Folgenden möchte ich mich jedoch exemplarisch auf Formen der zwischen zwei oder mehreren, nicht auswechselbaren Akteuren auf Dauer gestellten Korruptionspraxis konzentrieren, weil hier die Vielfalt der in Korruption zusammenwirkenden Tauschformen besonders anschaulich wird. Denn die praktische Wirkmächtigkeit einer auf Dauer zwischen exklusiv symbolisierten Akteuren gestellten Korruptionspraxis ist das Produkt der Vermischung unterschiedlicher Tauschlogiken, die durch den zunächst unverbindlichen Austausch von Gefälligkeiten angebahnt wird. Zum einen wird die Logik des primär sachbezogenen Tausches im Praxisprinzip der Äquivalenz praktisch relevant, weil auch in korrupter Käuflichkeit die Äquivalenz der Tauschgegenstände ausgehandelt wird, indem sie typischerweise im Geldmedium symbolisiert ist. Denn es geht auch in der Korruptionspraxis letztlich darum, welcher Preis als Äquivalent für einen als exklusiv symbolisierten Tauschgegenstand gezahlt wird. Diese Logik des primär sachbezogenen Tausches wird allerdings, und das macht die Korruption aus, außerhalb einer offiziellen Marktlogik von Angebot und Nachfrage wirksam, weil die getauschten Gegenstände nicht als marktfähig symbolisiert werden können. Und genau diese Konstellation ist nun der praktische Effekt der Vermischung der sachbezogenen Tauschlogik mit den Tauschprinzipien des exklusiven Tausches zwischen Freunden, Verwandten und Liebenden. Die Käuflichkeit, nach deren praktischem Prinzip primär okkasionelle Formen der Reziprozität entstehen, verbindet sich
76 Pierre Bourdieu (vgl. 2006) verdeutlicht in einer Studie über die Praxis zur Genehmigung von Bauvorhaben, wie im bürokratischen Alltag die Praxisformen innerhalb von Baubehörden von den objektiven, rechtlich codierten und in Vorschriften festgelegten Regeln der Praxis regelmäßig abweichen, indem sie je nach Fall unterschiedlich ausgelegt und umgangen werden. Eine weiche Anwendung der Vorschriften oder gar ihre Umgehung durch den Baubehördenbeamten kann sich dabei durch kleine Gefälligkeiten erkauft werden. Wenn der Korruptionsbegriff weit ausgelegt wird, bezieht er sich nicht nur, wie im hier angeführten Beispiel des „unmoralischen“ Verkaufs von Aufenthaltsgenehmigungen, auf offensichtlichen Machtmissbrauch, sondern auch auf die allgemeinen Mechanismen behördlicher Arbeit, die sehr oft unentwirrbar mit Formen der korrupten Reziprozität verbunden sind.
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mit einer Form der Reziprozität, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie unter den beteiligten Tauschakteuren als dauerhaft und einzigartig symbolisiert wird. Jetzt können als exklusiv symbolisierte Tauschgegenstände, die sich nicht auf legalem Wege erwerben lassen, zwischen Akteuren getauscht werden, die innerhalb der Tauschbeziehung als exklusive Tauschpartner symbolisiert sind. Die anbietenden Akteure können aufgrund ihrer Position über Tauschgegenstände exklusiv verfügen. Die nachfragenden Akteure versprechen sich vom Austausch dieser Tauschgegenstände gegen Geld oder andere Annehmlichkeiten exklusive Vorteile, die sie nur über die korrupte Reziprozität erlangen können. Diese symbolischen Formen, die auf der Sach- und Sozialdimension der Tauschpraxis entstehen, können nun aber nur innerhalb der korrupten Reziprozität als praxisgenerierende Tauschprinzipien wirksam werden. Sie müssen mit anderen Worten geheim gehalten werden, was wiederum eine hohe Stabilität der Reziprozität erzeugt, so dass sich die korrupte Tauschpraxis auf Dauer stellen kann. Denn die gegenseitigen Verpflichtungen zwischen den Tauschpartnern sind jetzt nicht mehr nur auf den Zyklus des Gebens, Nehmens und Erwiderns begrenzt, sondern beziehen sich auch darauf, dass die beteiligten Akteure exklusiv in der Lage sind, illegale Praktiken des jeweiligen Anderen zu denunzieren, die ja zur Aufrechterhaltung der Korruptionspraxis als Geheimnisse zwischen den beteiligten Tauschakteuren bewahrt werden. In einer solchen Konstellation stellt sich häufig eine habituell verankerte Kameraderie ein, die einen Ausstieg aus der auf Dauer gestellten Korruptionspraxis nur noch schwer möglich macht. Genau deshalb ist auch ein Unrechtsbewusstsein bei den in eine Korruptionspraxis involvierten Akteuren nur selten zu beobachten. Denn sie halten die habituell verankerten Praktiken der Korruption für legitime Vorgänge, die sich wie zwangsläufig ereignen. Formen korrupter Reziprozität sind deshalb typischerweise sehr stabile Beziehungen, die sich häufig nur schwer aufdecken lassen. Der Begriff der korrupten Reziprozität kann dabei nicht in der Weise missverstanden werden, dass Korruption typischerweise nur auf Dyaden von Akteuren begrenzt bleibt. Formen der Korruption weiten sich vielmehr nicht selten auf ganze Akteursgruppen aus. Auch in solchen, oft nur schwer zu durchschauenden Korruptionsnetzwerken, die in der Alltagssprache treffend mit dem Begriff „Filz“ bezeichnet werden, wirkt jedoch im konkreten Vollzug der Korruptionspraxis das Prinzip der exklusiven Reziprozität, weil sich der praktische Tauschakt, der als korrupt symbolisiert ist, zwischen zwei klar benennbaren und füreinander eindeutig als exklusive Tauschpartner symbolisierten Akteuren ereignet. Diese Tauschstruktur bleibt mit anderen Worten von der Verflechtung der Korruptionspraxis zwischen den Mitgliedern einer eingeschworenen Gruppe von Akteuren unberührt. Die Ausweitung der korrupten Tauschpraxis auf eine Gruppe von Akteuren ist vielmehr ein weiteres Mittel, eine Undurchsichtigkeit die Korruptionspraxis zu erzeugen, wobei allerdings das Risiko der Denunziation der Korruptionspraxis mit der Menge der Mitwisser zwangsläufig steigt. Je größer also das korrupte Beziehungsgeflecht ist, desto stärker müssen die einzelnen Akteure auf die Korruptionspraxis symbolisch eingeschworen werden, damit sich die Praxis innerhalb des Korruptionsnetzwerkes dauerhaft reproduzieren kann. Für diese dauerhafte Aufrechterhaltung der Korruptionspraxis sind die symbolischen Formen auf der Zeitdimension der Tauschpraxis in zweierlei Hinsicht relevant. Zum einen wird die eigentliche Tauschpraxis symbolisch temporalisiert, indem bestimmte, als exklusiv symbolisierte Leistungen für eine gegenwärtige Zukunft als lukrative Tauschgegenstände in
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Aussicht gestellt werden. Die in dieser Weise antizipierten Gaben von Gütern und Leistungen werden ausschließlich und exklusiv innerhalb der entstandenen Tauschbeziehung angeboten. Dies formt sie zu erstrebenswerten Tauschgegenständen, die nur noch schwer abgelehnt werden können, weil sie sich nicht auf einem anderen, und das heißt hier: auf legalem Weg erwerben lassen. Zum anderen ist in korrupten Tauschbeziehungen die gegenwärtige Zukunft konstitutiv als unsicher symbolisiert, weil die korrupte Reziprozität jederzeit von einem der Tauschpartner publik gemacht werden kann, so dass eine starke Bindung zwischen den an korrupter Reziprozität beteiligten Akteuren entsteht. Denn mit der in der Korruptionspraxis offen gelegten Bestechlichkeit berauben sie sich gegenseitig ihrer Würde, weil Korruption in unserer Kultur als Käuflichkeit der ganzen Person und nicht nur der dargebotenen Leistung gilt. „Mit der Schmach, die der Käufliche mit seiner Entdeckung gewöhnlich erfährt, verteidigt eine Gesellschaft ihre notwendige Fiktion von der allgemeinen Gültigkeit der obersten Prinzipien.“ (Neckel 1995: 11) Gerade deshalb sind die an korrupter Reziprozität beteiligten Akteure in eigentümlicher Weise aufeinander angewiesen: Sie müssen sich gegenseitig vertrauen, dass sie sich nicht gegenseitig denunzieren, nicht nur damit die korrupte Reziprozität sich reproduzieren kann, sondern auch damit die vergangene Korruptionspraxis nicht entdeckt wird, was nicht nur zur Folge hätte, dass die korrupte Reziprozität beendet werden muss, sondern auch dass die beteiligten Akteure in einer als unsicher symbolisierten Zukunft wegen der vergangenen Korruptionspraxis mit den Mitteln des Rechtsstaates strafrechtlich und mit den Mitteln der moralischen Verachtung und Schmähung gesellschaftlich verfolgt werden. Diese Antizipation der Zukunft, die auf der Zeitdimension der Praxis symbolisch geformt wird, gestaltet die korrupte Reziprozität zu einer eigentümlichen Form des exklusiven Tausches, die sich in einer Mischung unterschiedlicher Tauschformen stabil und dauerhaft reproduziert. Diese tauschtheoretische Argumentation zeigt: Das Zusammenwirken unterschiedlicher Tauschprinzipien auf der Sach-, Sozial- und Zeitdimension der Praxis macht das Aufdecken korrupter Reziprozität sehr schwierig, weil eine Verflechtung von exklusiven Tauschformen mit primär sachbezogenen Tauschformen die dabei entstehende Reziprozität so stark verkompliziert, dass sie für einen außerhalb ihrer stehenden Beobachter nur noch schwer durchschaut werden kann. Und gerade dies ermöglicht eine auf Dauer gestellte Korruptionspraxis, die sich allerdings, dies kann hier nur am Rande bemerkt werden, in unterschiedlichen Regionen der Welt sehr unterschiedlich ausformt, weil die Rahmenbedingungen für Korruption sehr variieren. Dennoch gilt für alle Formen der Korruption: Korrupte Reziprozität erzeugt nur dadurch eine stabile und dauerhafte Tauschpraxis, weil in ihr nicht nur ein Tauschprinzip wirksam wird, sondern eine vielfältige Vermischung unterschiedlicher Tauschlogiken, die für die an der Korruption beteiligten Akteure auf der Sozial-, Sach- und Zeitdimension symbolisiert wird. Nur dadurch wird die Korruptionspraxis so schwer durchschaubar, dass sie sich im Verborgenen reproduzieren kann. Korruption ist folglich ein verborgener Mechanismus der Praxis, der durch die vielfältige Kombination von Tauschformen Praktiken und Praxisformen erzeugt, die auf die gesellschaftliche Praxis nicht selten strukturierend wirken. Ein zusätzliches Beispiel für die wirkungsvolle Kombination von unterschiedlichen Tauschformen, an dem die Vielfalt der gegenwärtigen Tauschpraxis weiter verdeutlicht werden kann, ist die Bildung von Netzwerken. Der Begriff Netzwerk wird in der momentanen Soziologie nicht nur sehr häufig benutzt, sondern auch mit sehr unterschiedlichen Begriffs-
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bedeutungen versehen (vgl. Bommes und Tacke 2006: 37ff.), die zur Klärung des Netzwerkbegriffs zunächst kurz diskutiert werden müssen, bevor die Genese von Netzwerken aus Praxisformen des Tausches beschrieben werden kann. Als erstes fällt in diesem Zusammenhang auf: Viele Zeitdiagnosen der Gegenwart, allen voran Manuel Castells‘ (vgl. 2001) breit angelegte Diagnose der Gegenwartsgesellschaft als Netzwerkgesellschaft, machen einen grundlegenden Wandel gesellschaftlicher Praxis aus, der mit dem Begriff Netzwerk und anderen, aus ihm abgeleiteten Begriffen wie Projektorientierung und Innovationsdynamik umschrieben wird. Hinter diesen Zeitdiagnosen steht die Annahme, dass eine Gesellschaft, in der sich die Sozialstruktur immer deutlicher durch eine globale Vernetzung der sozialen Kontakte auszeichnet, einen neuen, flexiblen Kapitalismus (vgl. exemplarisch Sennett 2005) hervorbringt, der eine Flexibilisierung der Lebensführung sozialer Akteure erzwingt, was wiederum zu einer Erosion traditioneller sozialer Beziehungsgeflechte und Milieustrukturen führt, die eine Neujustierung sozialer Beziehungen und Strukturen erzwingt (vgl. Bertram und Hollstein 2003: 147). Die damit implizierte Diagnose eines sozialen Wandels der Form sozialer Beziehungen wird in der einschlägigen Literatur zum Netzwerkbegriff häufig damit begründet, dass soziale Kontakte, die Netzwerke hervorbringen können, regionale Begrenzungen überwinden und sich beispielsweise und besonders typisch in der Ökonomie immer häufiger transnational ereignen (vgl. Mense-Petermann 2006: 401ff.). Durch die damit verbundene globale Vernetzung von Praxis, so lautet die gängige Argumentation etwa bei Castells, wandelt sich die traditionelle Industriegesellschaft immer mehr in eine Netzwerkgesellschaft. Dies hat gravierende Folgen für die Art der Entstehung und Reproduktion von Praxisformen etwa der Produktion (Arbeit), des Wirtschaftens (Tausch) und des Regierens (Macht). Der Begriff des Netzwerkes soll unter anderem diese Veränderung der Sozialstruktur zeitdiagnostisch erfassen. Gleichseitig zu diesen am Netzwerkbegriff orientierten Zeitdiagnosen der Transformation sozialer Strukturen werden in den Sozialwissenschaften Phänomene der sozialen Beziehung zwischen unterschiedlichen sozialen Akteuren oder auch Phänomene der sozialen Aggregation immer häufiger als soziale Netzwerke bezeichnet. „Abstraction of relations as ties in a network is a commonplace. Always this has been true in reckoning kinship. And today sociometry of acquaintanceship has penetrated general consciousness. Network is a verb, and we tell stories in network terms.” (White 1992: 66)77 Dem entsprechend reicht das Spektrum sozialer Beziehungen, die als Netzwerke bezeichnet werden, von den Beziehungsgefügen zwischen Verwandten, Nachbarn, Jugendgruppen und Kindern über die Beziehungen zwischen Berufsgruppen und Belegschaften in und zwischen unterschiedlich großen Unternehmen und Betrieben bis hin zu transnationalen Beziehungen zwischen Organisationen und Staaten (vgl. Hollstein 2006: 24).
77 „Die völlig neuartige Beschreibungsform [mit Netzwerkbegriffen; F.H.], die durch diese neue Sprache möglich wurde, hat in den 80er Jahren über die von B. Latour und M. Callon entwickelte neue Wissenschaftssoziologie in die Soziologie Eingang gefunden und zu deren Erneuerung beigetragen. In dieser Forschungsrichtung dienten die vernetzten Darstellungsformen dazu, die in der Wissenschaftssoziologie bis dahin vorherrschende Trennung aufzuheben zwischen dem, was Teil der eigentlichen, als ‚objektiv’ erachteten ‚Wissenschaft’ sei, und dem, was vordergründig der ‚gesellschaftlichen Ingebrauchnahme’ zuzuschreiben sei, bei der Interessen mit hineinspielten, die diese vorgebliche ‚Objektivität’ unterlaufen würden.“ (Boltanski und Chiapello 2003: 197)
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Diese seit den 1980er Jahren zu beobachtende Neuausrichtung von großen Teilen der soziologischen Theorie auf den populären Schlüsselbegriff Netzwerk verweist auf einen für die Soziologie grundlegenden Zusammenhang, nämlich auf die Bildung neuer und gleichsam dauerhafter Strukturen, die die gesellschaftliche Reproduktion in nicht unerheblichem Maße bestimmen und prägen. Hinter der massenhaften Verwendung des Netzwerkbegriffs in der Soziologie verbirgt sich nämlich die „sozialwissenschaftliche Suche … nach Konzepten zur Beschreibung von schwach bzw. nicht hierarchisierten, flexiblen Strukturen, die nicht durch von vornherein gezogene Grenzen limitiert sind“ (Boltanski und Chiapello 2003: 148). So werden Netzwerke beispielsweise im Anschluss an dafür richtungweisende Überlegungen von Walter W. Powell (vgl. 1990) als Sozialformen vorgestellt, die eine „Handlungskoordination“ ermöglichen, „die sich von den Tauschakten des Marktes und den durch Macht durchgesetzten Handlungen der Hierarchie unterscheidet“ (Braun-Thürmann 2005: 67). Und genau diese Identifikation von Netzwerken als zwischen Markt und Hierarchie angesiedelte Koordinationsmechanismen macht sie nicht zuletzt auch für die neuere Wirtschaftssoziologie interessant: Durch die Analyse von Netzwerken kann die soziale Einbettung von Märkten theoretisch neu bestimmt werden, indem etwa Netzwerkstrukturen als konstitutive Bedingungen für die Bildung von Vertrauen zwischen am Markt agierenden Akteuren gefasst werden, ohne die ein Markttausch zwischen ihnen letztlich nicht möglich wäre (vgl. Granovetter 1985; Beckert 2007a: 11).78 Mit Harrison White (vgl. 1981) kann im Kontext einer derartig strukturalistischen Denkfigur letztlich nicht ohne eine gewisse Plausibilität gesagt werden, dass Märkte aus Netzwerkstrukturen entstehen, dass sie also ohne die Vernetzung der hier agierenden Akteure nicht emergieren würden. Zumindest hat die globale Vernetzung von Wirtschaftsunternehmen, wie White (2002: 144) in einem seiner neueren Texte bemerkt, gravierende Auswirkungen auf die praktische Konstitution vor allem von Produktionsmärkten: „Most markets today regulate production flows, of goods or services, rather than exchanges of existing stocks, as in traditional sorts of markets.“ Marktprozesse orientieren sich folglich immer mehr an der weltweiten Vernetzung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, so dass die transnationale Vernetzung von Unternehmen und Firmen die Ökonomie in erheblichem Maße neu strukturiert. Das bekannteste Beispiel für derartige Prozesse ist die Auslagerung der Produktion in Länder, in denen die Lohnkosten relativ gering sind. Die Produktion von Gütern wird folglich an den Parametern des weltweiten Arbeitsmarktes orientiert und die dadurch entstehenden Mehrkosten für Transport und Distribution der produzierten Güter werden mit den Ersparnissen für die Lohnkosten verrechnet. Das Ergebnis ist, wie
78 Oben (siehe 3.2) hatte ich die neuere Wirtschaftssoziologie und das für sie grundlegende Konzept der sozialen Einbettung von Märkten bereits ausführlich in praxistheoretischer Perspektive diskutiert. Auf eine Auflistung der Arbeiten, die im Anschluss an Mark Granovetters (vgl. 1985) und Harrison Whites (vgl. 1981) initiierenden Überlegungen zur Form der sozialen Einbettung von Märkten durch Netzwerkstrukturen fast schon inflationär entstanden sind, möchte ich hier verzichten. Ein mit weiteren Literaturhinweisen ausgestatteter, wirtschaftssoziologischer Vergleich zwischen neo-institutionalistisch geprägten Netzwerkansätzen und der Praxistheorie Bourdieus findet sich bei Michael Florian (vgl. 2006). Außerdem kann hier darauf hingewiesen werden, dass sich leicht Analogien zwischen dem Netzwerkbegriff und dem Feldbegriff herstellen lassen. Denn Netzwerke sind Kräftefelder, die sich in den Relationen zu Praxisfeldern entfalten, in denen die Positionen des Netzwerkes zueinender stehen. Dies ist sicher ein wichtiger Grund dafür, dass wirtschaftssoziologisch argumentierende Theoretiker der sozialen Einbettung häufig des Feldkonzept Bourdieus für ihre Argumentation nutzbar machen (siehe hierzu nur Smelser und Swedberg 2005a).
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wir alle beispielsweise beim Kauf von Kleidung feststellen können, dass viele in Frankfurt, Hamburg oder München zum Kauf angebotene Produkte in räumlich weit entfernten Ländern produziert werden, wobei die Produktionsfirma nicht selten ihren Firmenhauptsitz in Frankfurt, Hamburg oder München hat. Bei der Identifikation und Beschreibung von Netzwerken als Strukturen der sozialen Einbettung von Marktaktivitäten geraten nun aber die klassischen Grundlagen der soziologischen Erforschung sozialer Beziehungen, die unter anderem bereits Georg Simmel formuliert hat und die sich auf eine Erklärung des Zustandekommens und der Reproduktion von dauerhaften sozialen Beziehungen beziehen, häufig aus dem Blick. Eine Soziologie der sozialen Assoziation zwischen sozialen Akteuren (Individuen, Gruppen, Organisationen) wird nicht selten durch eine Netzwerk-Metaphorik ersetzt, die lediglich die unterschiedlichen Vernetzungen in den unterschiedlichsten Bereichen der modernen Gesellschaft zeitdiagnostisch oder strukturtheoretisch beschreibt, ohne Erklärungen für die Entstehung des Prozesses der Vernetzung zwischen sozialen Akteuren und zwischen anderen sozialen Entitäten anbieten zu wollen bzw. zu können. Gleichzeitig wird „Networking“, so die in diesem Zusammenhang populäre Wortneuschöpfung, als Wert an sich verstanden, dessen Umsetzung von den Akteuren in bestimmten Wirtschaftsunternehmen und Betrieben normativ gefordert wird, ohne diese Begriffsverwendung soziologisch zu reflektieren (vgl. dazu Krücken und Meier 2003: 72). Dies zeigt im Übrigen einen deutlichen Wandel in der Begriffsbedeutung an: Noch in den 1970er Jahren wird der Begriff Netzwerk in erster Linie in Verbindung mit Korruption, „Seilschaften“, „Filz“ oder organisierter Kriminalität verwendet, während er heute für Innovation, Fortschritt und kulturellen Austausch steht. Das Netzwerkkonzept wird dadurch immer deutlicher zu einem Bestandteil der gegenwärtigen kulturellen Repräsentationen von Praxis, wie sich vor allem am Beispiel der ökonomischen Praxis zeigt.79 Die „projektbasierte Polis“, wie sie von Luc Botanski und Ève Chiapello (vgl. 2003) als kulturelle Repräsentation des „neuen“ Kapitalismus in ihrer Entstehung und im Kontrast zu anderen klassischen Selbstbeschreibungen des Kapitalismus anhand empirischer Studien nachgezeichnet wird (vgl. ebd.: 152ff. und 176ff.), ist in vielen Teilen direkt mit einer in den Sozialwissenschaften diagnostizierten Netzwerkbildung verbunden. Boltanski und Chiapello zeigen in ihrer Untersuchung, dass die Netzwerkterminologie nicht selten als verklärende Sprache zur Ausgestaltung der Praxis im Feld der Wirtschaft und in den hier angesiedelten Organisationen (Unternehmen) eingesetzt wird. Dies geschieht, so die Autoren, um die moderne Ökonomie mit einer neuen Ideologie, einem neuen „Geist“ zu versorgen, der eine effektivere und gewinnbringendere Nutzung der Arbeitskraft des mittleren Führungspersonals wahrscheinlicher macht (vgl. ebd.: 296ff.). Der „neue Geist des Kapitalismus“ (Boltanski und Chiapello) erscheint in kultursoziologischer Perspektive als kulturelle Repräsentation eines sozialen Wandels in der Ökonomie, der sich mit dem Netzwerkbegriff nur dann
79 Dieser Bedeutungswandel ereignet sich möglicherweise auch unter dem Einfluss der sich zeitgleich mit ihm ereignenden massenhaften Verbreitung des Internets (vgl. Boltanski du Chiapello 2003: 148), das eine zunehmende, weltweite Vernetzung sozialer Kontakte inzwischen für einen großen Teil der Bevölkerung täglich erfahrbar macht. Vor dem Hintergrund des weltweit vernetzten Terrorismus zeichnet sich inzwischen ein erneuter Wandel in der Bedeutung des Netzwerkbegriffs an, denn er wird jetzt wieder verstärkt negativ symbolisiert, so dass sich die positive Konnotation nur noch einstellt, wenn der Begriff Netzwerk mit dem Begriff Innovation zum Begriff Innovationsnetzwerk kombiniert wird (vgl. hierzu aktuell Aderhold 2007).
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gehaltvoll analysieren lässt, wenn dieser Begriff gegen seine ideologische Verwendung als analytischer Begriff konturiert wird. Die von Boltanski und Chiapello (vgl. ebd.: 191ff.) vorgenommene Entzauberung des Netzwerkbegriffs entbehrt demnach nicht einer gewissen Notwendigkeit, weil sie zeigt, dass er und mit ihm korrespondierende Begriffe in der Selbstbeschreibung der Ökonomie nicht selten dazu genutzt werden, Kritik an Praxisformen der Ökonomie zu entwaffnen, indem beispielsweise die interne Arbeitsorganisation von Unternehmen transformiert wird (vgl. ebd.: 262f.). 80 Wird mit dem Begriff Netzwerk kein ideologisches, sondern ein analytisches Interesse verbunden, bezieht sich dieses oft auf quantitative Aspekte der Thematik (vgl. dagegen Albrecht 2004). Große Teile der Netzwerksoziologie (vgl. grundlegend Jansen 1999) analysieren quantitativ die Beziehungen zwischen sozialen Akteuren. Der Begriff Netzwerk wird dem entsprechend soziometrisch „als eine abgegrenzte Menge von Knoten oder Elementen und der Menge der zwischen ihnen verlaufenden so genannten Kanten“ (Jansen 1999: 52; Hervorh. weggelassen) definiert. Im Anschluss daran misst die Netzwerkforschung vor allem, ob und nicht wie Netzwerke zustande gekommen sind und ob und nicht wie sie sich reproduzieren.81 Die Soziologie kann aber den Fragen nicht ausweichen, wie soziale Netzwerke als Formen der Reziprozität entstehen und in welcher Weise sie sich wandeln. Die Diagnose des Wandels sozialer Beziehungen und seine Bezeichnung mit dem Netzwerkbegriff reichen mit anderen Worten allein nicht aus (vgl. Hollstein 2003: 154f.). Es geht auch und entscheidend um die Frage, welche Formen der Praxis im mit dem Netzwerkbegriff diagnostizierten Wandlungsprozess wirksam werden. Es geht also ganz allgemein gesprochen um die Identifikation von Praxisformen, mit denen die Entstehung von Strukturdynamiken erklärt werden können. Und die qualitative Analyse der Bildung von Netzwerken kann hierzu als anschauliches Beispiel dienen. Für derartige Analysen von Netzwerken stellt eine Praxistheorie des Tausches, wie sie hier verfolgt wird, ein breites Spektrum von theoretischen Instrumenten bereit. Denn wird die Praxisform des Tausches in ihrer Vielfalt gesehen und gleichsam berücksichtigt, dass der Tausch in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität als Verkettung von Tauschpraktiken entsteht, lässt sich mit einer Praxistheorie des Tausches klären, wie soziale
80 André Kieserling (vgl. 2005: 75ff.) teilt aus systemtheoretischer Sicht diese Diagnose. In Bezug auf die Transformation der „kulturellen Semantik“ (vgl. ebd.: 75) der Selbstbeschreibung der Organisation schreibt er bezüglich der Semantik einer horizontalen Vernetzung von Führungsstrukturen in Unternehmen treffend: „Die Führung wird den Geführten als bloße Moderation schmackhaft gemacht, und an der gefälligen Literatur über Führungsstile gewinnt man den Eindruck, die Organisation habe sich schon seit langem auf die Durchführung herrschaftsfreier Diskurse spezialisiert. Der Vorgesetze wird auf die Suche nach guten Gründen geschickt, während es doch nach Schleiermacher sehr viel höflicher sein könnte, ohne Gründe abzulehnen, weil dies dem Untergebenen die Illusion lässt, er könne recht gehabt haben.“ (Ebd.: 76) 81 Vgl. dagegen aus systemtheoretischer Perspektive Michael Bommes und Veronika Tacke (2006: 43ff.), die ihren Deutungsversuch der Bildung von Netzwerken allerdings wegen ihrer strikten Verwendung systemtheoretischer Begriffe mit einem viel zu hohen Abstraktionsniveau bezahlen. So ist es außerhalb des systemtheoretischen Vokabulars beispielsweise nicht einsehbar, warum vernetzte Akteure auf „Adressen“ (vgl. ebd. 43f.) reduziert werden und „Adressbücher“ zur Metapher für Vernetzung mutieren (vgl. ebd. 45f.). Wenn alle Phänomenbereiche der Sozialität nur mit den Begriffen der soziologischen Systemtheorie noch einmal neu beschrieben werden, ohne dabei außer der Übersetzung in eine andere Theoriesprache nichts weiter zur Klärung einer Thematik beizutragen, ist dies das Paradebeispiel für eine logozentrische Theoriebildung, die nach Bourdieu die Logik der Theorie vor die Logik der Praxis stellt.
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Netzwerke entstehen und sich dauerhaft reproduzieren. Um dies exemplarisch zu verdeutlichen, beziehe ich mich im Folgenden auf die Vernetzung ökonomischer Praxis, also auf die Vernetzung unterschiedlicher Unternehmen und Unternehmenseinheiten, die im Feld der Wirtschaft zur Genese von so genannten Synergieeffekten geschieht, indem standortübergreifend und häufig transnational „produktive Kooperations- und Kommunikationszusammenhänge aufgebaut werden“ (Mense-Petermann 2006: 393), die zwischen verschiedenen Sach- und Tätigkeitsbereichen von Unternehmen, also etwa zwischen der Forschungsabteilung und der Produktion oder zwischen der Organisationsberatung und der Leitungsabteilung, so genannte Innovationsdynamiken hervorbringen sollen. Diese Vernetzungsstrategie setzt häufig transnational an, weil die einzelnen Unternehmensteile, die als mehr oder weniger selbständige Organisationseinheiten miteinander vernetzt werden, in unterschiedlichen Regionen der Welt angesiedelt sein können. Ursula Mense-Petermann (vgl. 2006: 403) stellt nun in ihrer praxistheoretisch inspirierten Untersuchung der transnationalen Vernetzung von Wirtschaftsorganisationen heraus, dass sich die organisationsinternen Praktiken sowie die Praktiken zwischen den Organisationseinheiten im Zuge einer – so ihre Definition des Begriffs der Transnationalisierung – „globalen Integration weltweit verstreuter Unternehmensaktivitäten“ (ebd.: 393) wandeln. Dieser Wandel ist dadurch gerahmt, „dass die einzelnen Standortunternehmen nicht mehr – wie noch im Rahmen einer multinationalen Organisationsstrategie – weitgehend autonom und durch klare Organisationsgrenzen von der Konzernzentrale und den anderen Standortunternehmen abgegrenzt“, sondern „in netzwerkförmige Konzernstrukturen eingebunden“ (ebd. 403; Hervorh. F.H.) sind. Und diese Veränderung der Unternehmensstruktur bringt deshalb neue Praxisformen hervor, weil sich mit ihr „eine Vielzahl von Interaktionen und Abhängigkeiten innerhalb dieses Netzwerks“ (ebd.: 403; Hervorh. F.H.) entwickelt. Eine wichtige dieser Interaktionen, die ich als soziale Praxisformen bezeichnen möchte, ist der Tausch, der sich in (transnationalen) Netzwerken unterschiedlich ausformt und dadurch Abhängigkeiten im Netzwerk erzeugt. Einer Analyse von Unternehmensnetzwerken kann es aber nicht nur darum gehen, die Praxisformen zu untersuchen, die durch das Netzwerk entstehen. Ihr muss es auch und entscheidend darum gehen, Praxisformen zu identifizieren, mit denen Netzwerke angebahnt, mit denen also Standortunternehmen in netzwerkförmige Strukturen eingebunden werden. Und gerade für den zuletzt genannten Themenkomplex bietet eine praxistheoretische Soziologie des Tausches vielfältige Analysemöglichkeiten. Denn auch bei der Analyse der Entstehung von Netzwerken ist, ähnlich wie in der Untersuchung von Formen der korrupten Reziprozität, die Simultanität unterschiedlicher Tauschlogiken ein viel versprechender Ansatzpunkt. Die Basis für diese Simultanität ist vor allem im ökonomischen Feld häufig der primär sachbezogene Tausch im Praxisprinzip der Äquivalenz. Generiert diese Tauschform Bindungseffekte, wird simultan mit ihr der gegenseitige Tausch unter Unbekannten wirksam. Diese Tauschform, die ich oben (3.5.1, 3.5.2 und 3.5.3) als primär sachbezogenen Tausch mit Bindungseffekten vor allem im Hinblick auf das Beispiel der Kundenbindung diskutiert hatte, wird nun auch bei der Genese von dauerhaften Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen und anderen Organisationen wirksam, die sich zu Netzwerken verfestigen können. Denn komplexe, häufig transnationale Vernetzungen zwischen sozialen Akteuren, Gruppen und Organisationen entstehen als besondere Formen der Reziprozität gerade in der Ökonomie dadurch, dass primär sachbezogene Tauschformen zwischen Ge-
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schäftspartnern im Verlauf der Zeit durch die Praxisformen des gegenseitigen Tausches unter sich gegenseitig bekannten Akteuren und – in weiterer Genese der Reziprozität – durch die Praxisformen des exklusiven Tausches ergänzt und dadurch in neue, verbindliche Tauschformen transformiert werden. Um auf diese tauschtheoretische Weise den Prozess der Netzwerkbildung in der Ökonomie als spezifische Form der Verkettung von Tauschpraktiken untersuchen zu können, müssen die symbolischen Formen dieser Praxis in ihren praktischen Wirkungen auf die Genese von Netzwerken kultursoziologisch bestimmt werden. In diesem Zusammenhang spielt auf der Sachdimension der Praxis der Netzwerkbildung der Begriff der Innovation, der häufig in enger Verbindung mit dem Begriff Netzwerk verwendet wird, eine wichtige Rolle. „Zu Beginn des 21. Jahrhunderts avanciert“, wie Georg Krücken und Frank Meier (2003: 71) feststellen, „Innovation zu dem gesellschaftlichen Mega-Thema schlechthin.“ Der Begriff Innovation, der sich auf die Neuheit von etwas bezieht (vgl. hierzu Luhmann 1997: 1000ff.), meint im ökonomischen Kontext in erster Linie die Neuschöpfung von marktfähigen Produkten und die Neuerschließung von Märkten. Innovationen sind deshalb paradoxerweise auf strukturelle Bedingungen angewiesen, „die zum Zeitpunkt der Innovation eben deshalb nicht erfüllt sein können, weil es sich um die Hervorbringung von Neuem handelt – Bedingungen, die … im Zuge der Innovation selbst erst entdeckt, hergestellt und erprobt werden müssen“ (Sauer 1999: 14; Hervorh. weggelassen). Die Entfaltung dieser „Innovationsparadoxie“ (Sauer) geschieht durch die Initiierung eines organisierten Austausches von Wissen und Erfahrungen zwischen sachlich unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Und zu diesem Zweck entstehen so genannte Innovationsnetzwerke, weil die Erschaffung von etwas Neuem, das sich scheinbar nicht aus dem Alten ableiten lässt, letztlich aber nichts anderes als eine Neukombination von tradierten Elementen sein kann, im Umfeld des programmatischen Begriffs der Innovation nur dann als möglich erscheint, wenn Bereiche, die sich in ihrer sachlichen Ausrichtung deutlich voneinander unterscheiden und die deshalb bisher nicht im kulturellen Austausch stehen, miteinander in Beziehung gebracht werden, um die Praxis in neuer, innovativer Weise zu koordinieren. Auf diese Weise entwickelt sich der Begriff Innovation zu einer Programmformel, durch welche die Anbahnungen von Netzwerken im Vollzug der dazu notwendigen Praxis wirkmächtig angeleitetet werden.82 Die kooperative Produktion von neuartigen Produkten und Dienstleistungen wird zu einem wichtigen Symbol der durch den Begriff Innovation programmierten Praxis zur Bildung von Netzwerken. Das Ziel von typischerweise strategisch geplanten Kooperationsnetzwerken ist es, die zur Entwicklung und Produktion neuartiger Produkte und Dienstleistun82 Siehe zum hier verwendeten Begriff des Programms Luhmann (1984: 432f.; 1997: 377f.). In einer praxistheoretischen Soziologie muss der Luhmann’sche Begriff des Programms allerdings von seiner engen, logozentrischen Bindung an die von Luhmann so genannten binären Codes der Funktionssysteme gelöst werden, denn Programme sind ganz allgemein Formen der Symbolisierung von Sinn, die auf die praktische Umsetzung von Sinngehalten bezogen sind. Sie können deshalb nicht ausschließlich als Produkte von abstrakten Codes missverstanden werden. Das paradigmatische Beispiel für die praktische Wirkmächtigkeit der hier zu diskutierenden Programmformel Innovation ist die Technikentwicklung, in deren Kontext der Begriff des Innovationsnetzwerkes wegweisend für andere gesellschaftliche Bereiche zu einem Schlüsselbegriff avanciert, mit der Folge, dass sich im Bereich der Technikentwicklung schon sehr früh eine programmatische Vernetzung von Wissenschaftseinrichtungen mit Wirtschaftsunternehmen beobachten lässt (siehe hierzu u. a. Bender 2006 mit weiterführenden Literaturhinweisen).
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gen notwendigen Ressourcen zwischen den beteiligten Organisationen und Unternehmen möglichst reibungslos und in symmetrischer Form auszutauschen (vgl. Hasse 2003: 90), wobei Wissen und professionelle Kompetenzen häufig die wichtigsten, auf der Sachdimension der Austauschpraxis symbolisierten Ressourcen sind. Für diesen Austausch werden – häufig nur für einen ganz bestimmten Sachbereich – Kooperationen eingegangen, in denen ein gegenseitiger, primär sachbezogener Tausch von Kompetenzen zwischen formal gleichgestellten Tauschpartnern praktisch wird, während die beteiligten Unternehmen sich in anderen, außerhalb der Kooperation liegenden Tätigkeitsbereichen häufig weiterhin als Konkurrenten und nicht als Kooperationspartner beobachten. Derartige, für bestimmte Projekte strategisch eingegangene Kooperationsnetzwerke müssen nun zum besseren Verständnis ihrer Genese mit Raimund Hasse (vgl. ebd.) von Referenznetzwerken unterschieden werden. Denn Kooperationen bilden sich nicht ausschließlich, wie es Robert Axelrod (vgl. 1987) in seiner einflussreichen Studie zur „Evolution der Kooperation“ suggeriert, aus einer beiderseitigen Anwendung der im Kosten-Nutzen-Prinzip verfolgten Strategie eines positiv symbolisierten „Wie du mir, so ich dir“ („Tit for Tat“). Die Anbahnung von Kooperationsnetzwerken ist vielmehr eng verbunden mit dem Vorhandensein von Referenznetzwerken, in denen nicht „die arbeitsteilige Kooperation spezialisierter Akteure im Vordergrund [steht], sondern vielmehr die Beziehungen zwischen gleichartigen Akteuren, durch die Informationen, Erfahrungen und Einschätzungen vermittelt werden“ (Hasse 2003: 91). In Referenznetzwerken werden soziale Beziehungen zwischen Akteuren geknüpft, die ähnliche professionelle Positionen im sozialen Raum einnehmen und die deshalb etwa auf Fachkongressen oder Messen Informationen und Erfahrungen über die Strukturen und Eigenschaften des Feldes austauschen, in dem sie professionell tätig sind. Dieser professionelle Austausch stiftet, wie im Anschluss an Harrison White (vgl. 1992: 312ff.) gesagt werden kann, eine professionelle Identität und erzeugt zugleich eine Kontrollstruktur, weil die Akteure sich gegenseitig beobachten und deshalb durch das Referenznetzwerk dazu befähigt werden, die Praktiken potenzieller Konkurrenten partiell zu kontrollieren und für die eigenen Strategien nutzbar zu machen. Und eine multiple Vernetzung einzelner sozialer Akteure, also ihre Einbindung in mehrere Referenznetzwerke, schützt die Akteure davor, dass ihre professionelle Identität, durch die sie eine Position in ihrem Unternehmen einnehmen und verteidigen können, exklusiv von einem Referenznetzwerk vereinnahmt und dadurch bedroht wird. In der Praxis wirken Kooperations- und Referenznetzwerke nicht nur in vielfältiger Form zusammen (vgl. Hasse 2003: 93ff.), Kooperationsnetzwerke emergieren zudem typischerweise auf der Basis von Referenznetzwerken, die ihrerseits durch die Kombination verschiedener Praxisformen des Tausches entstehen. Am Ausgangspunkt der Entstehung von Referenznetzwerken steht, insbesondere im Kontext der Ökonomie, der primär sachbezogene Tausch, der im Feld der Wirtschaft als marktförmiger Tausch symbolisiert ist und in den kulturellen Repräsentationen der Marktpraxis nach den Prinzipien Angebot und Nachfrage und im Prinzip des Wettbewerbs geschieht (siehe dazu oben, 3.2). Akteure begegnen sich im Feld der Wirtschaft zunächst vorrangig durch diese Tauschform. Nun handelt es sich bei diesen Kauf- und Verkaufkontakten, die ihrem praktischen Prinzip nach okkasionelle, flüchtige Formen der Reziprozität entstehen lassen, aus der Perspektive der Akteure um eine, wie Andreas Langenohl (2007: 12) es formuliert,
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„extrem aufwändige Form der Kooperation: Da Vertrauen als generalisierte, d.h. auch auf andere Beziehungen übertragbare Ressource in [marktförmigen; F.H.] Tauschbeziehungen selbst nicht entstehen kann, beginnt das Eingehen jedes Tausches grundsätzlich mit einer Analyse des bisherigen Verhaltens des Kooperationspartners bzw. mit einer mühsamen Suche nach einem geeigneten Tauschpartner.“
Mit anderen, aus der Praxistheorie des Tausches abgeleiteten Worten: Der primär sachbezogene Tausch zwischen Geschäftspartnern, die für den einzelnen Tauschvertrag kurzfristig miteinander kooperieren müssen, ist immer mit einer gegenseitigen Beobachtung der beteiligten Akteure verbunden, die symbolische Formen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis erzeugt, so dass der praxisrelevante Bestimmtheitsgrad auf der Sozialdimension der Tauschpraxis zunimmt. Und Referenznetzwerke schaffen hierfür den geeigneten Rahmen. Deshalb werden auch im Tausch zwischen Geschäftspartnern, die sich zugleich als Konkurrenten und Kooperationspartner beobachten, regelmäßig simultan zum primär sachbezogenen Tausch Formen des gegenseitigen Tausches wirksam, die eine längerfristige Reziprozität zwischen den Akteuren herstellen, was zur Bildung bzw. zum Ausbau von Referenznetzwerken beiträgt. Die Geschäftskontakte werden dabei nicht nur mit bestätigenden Ritualen flankiert – also mit Bewirtungen, Freundlichkeiten, Small Talk etc. –, sondern auch mit Gaben, die den jeweiligen Anderen Vorteile für seine Geschäftspraktiken verschaffen. Diese kleinen, wohl dosierten, aber durchaus wirkungsvollen Gaben können Informationen über interne Geschäftspraktiken (Erfahrungen, die jedoch nicht geheim sind), exklusives Wissen über das Feld oder die Vermittlung von Kontakten zu anderen, dritten Geschäftspartnern sein. Solche und ähnliche, auf Gegenseitigkeit beruhende Tauschpraktiken, die von den beteiligten Akteuren nicht zwangsläufig reflektiert, also rationalisiert werden, erzeugen, wenn sie vertrauenswürdig sind, was typischerweise bereits im Vollzug der Praxis jeweils geprüft wird, Geschäftsbeziehungen, die auf Dauer gestellt sind und genau dadurch das gegenseitige Beobachten der Geschäftspartner erheblich erleichtern.83 Um diese Tauschpraxis, die Vernetzungen zwischen Akteuren und mithin zwischen den Organisationen hervorbringen, in denen die Akteure Positionen einnehmen, als Vollzugswirklichkeit zu fassen, muss ihre sozialstrukturelle Bedingtheit gesehen werden. Im Anschluss an primär sachbezogene Tauschkontakte zwischen Geschäftspartnern kommt es zu dauerhaften Geschäftsbeziehungen nämlich vor allem dann, wenn beiderseitig habituelle Ähnlichkeiten zwischen den Geschäftspartnern festgestellt werden. So wie auch der gegenseitige Tausch unter Unbekannten typischerweise nur dann gegenseitige Verbindlichkeiten zwischen den sozialen Akteuren hervorbringt, wenn sie sich im Lebensstil, der den Habitus symbolisch ausdrückt, gegenseitig vertraut sind, entwickeln sich auch aus flüchtigen Geschäftskontakten typischerweise dann dauerhafte Geschäftsbeziehungen und Referenznetzwerke, wenn sich die beteiligten Akteure gegenseitig als ähnlich und vertrauenswürdig wahrnehmen, wenn sich also die professionellen Geschäftsstile nicht grundsätzlich vonein-
Bereits Georg Simmel (vgl. 1989: 396ff. und öfter) macht in seiner Philosophie des Geldes darauf aufmerksam, dass die massenhafte Verbreitung des geldvermittelten Tausches eine inflationäre Zunahme sozialer Kontakte nach sich zieht. Diese Kontakte werden zwar einerseits immer flüchtiger, sie schaffen aber andererseits eine breite Basis für das Entstehen von dauerhaften Beziehungen, weil die hohe Zahl der Erstkontakte, aus denen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit vereinzelte, auf Dauer gestellte Beziehungen ergeben, ohne den geldvermittelten Tausch nicht möglich wäre.
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ander unterscheiden und ähnliche Präferenzen in der Gestaltung der Geschäftspraxis verfolgt werden (vgl. Hasse 2003: 116ff.). Denn Symbole der Vernetzung und Bindung zwischen Geschäftspartnern bilden sich in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität, indem habituelle Dispositionen, die sich in den Praktiken expressiv ausdrücken, mit den Formen der objektivierten Sozialität, die von den Akteuren als relevant wahrgenommen und beobachtet werden, in Beziehung gesetzt werden, so dass sich neue symbolische Formen als Bestandteile der objektivierten Sozialität bilden können. Die „guten Erfahrungen“, die mit Geschäftspartnern gemacht werden und die eine dauerhafte Geschäftsbeziehung wahrscheinlich werden lassen, beziehen sich nämlich nicht nur darauf, dass das im Geschäftskontakt praktisch werdende Preis-Leistungs-Verhältnis als fair und angemessen beobachtet wird. Denn Erfahrungen verankern sich in den sozialisierten Körpern nicht nur kognitiv, sondern auch emotional, so dass die simultan zum primär sachbezogenen Tausch wirksam werdenden Tauschpraktiken des gegenseitigen Gebens von kleinen Gaben den Erfahrungsraum wesentlich mitbestimmen. Diese Begleitpraktiken erzeugen dabei nur dann Bindungseffekte, wenn ihre ästhetische Inszenierung und ihre quantitative sowie qualitative Dosierung mit den inkorporierten Dispositionen der beteiligten Akteure in Einklang stehen. Werden diese Gaben etwa als Zumutungen empfunden, werden sie, wenn sie nicht abgelehnt werden, zwar aus Höflichkeit mit Dankesbekundungen erwidert, ohne damit jedoch eine dauerhafte Geschäftsbeziehung anbahnen zu wollen. Die Bildung von Referenznetzwerken, in deren Folge dauerhafte Kooperationen entstehen können, ist also mitunter von den sozialstrukturell prädisponierten Fähigkeiten und Kompetenzen der sozialen Akteure abhängig, die sich in Geschäftskontakten begegnen. Dieses Argument betont, dass der gegenseitige Tausch zur Anbahnung von Referenznetzwerken praktisch vollzogen werden muss, dass es also mit anderen Worten Akteure geben muss, die in sozialen Austausch miteinander treten, um die Vernetzung der Praxis zu ermöglichen. Dabei begegnen sie sich bereits im primär sachbezogenen Tausch, in dem die Reziprozität prinzipiell auf den einzelnen Geschäftskontakt begrenzt bleiben kann, nicht voraussetzungslos, sie sind typischerweise Mitglieder eines Wirtschafsunternehmens, die ihre Arbeitskraft einem Unternehmen für ein entsprechendes Entgelt zur Verfügung stellen. Und diese Struktur formt wichtige Bedingungen für die Bildung von Referenznetzwerken. Denn wenn Begriffe wie Netzwerk und Innovation innerhalb von Wirtschaftsunternehmen eine hohe Wirkmächtigkeit entfalten, indem die Bildung von Innovationsnetzwerken auf der Sachdimension der Praxis symbolisch zu einer wichtigen, weil langfristig höhere Gewinne garantierenden Aufgabe des Unternehmens geformt wird, entstehen innerhalb des Unternehmens simultan dazu typischerweise entsprechende symbolische Formen auf der Sozialdimension der Praxis, indem die Kompetenz zur Bildung von Referenznetzwerken zu einem wichtigen Bestandteil des Arbeitsvermögens der Mitarbeiter erklärt wird. Wird diese symbolische Formgebung in der Selbstbeschreibung der Organisation in Praxisformen transformiert, indem etwa die interne Arbeitsorganisation an den Prinzipien der Vernetzung von Praxis ausgerichtet wird, so dass eine projektorientierte, mit flachen Hierarchien versehene Organisation der Arbeit entsteht, formt dies wiederum die Dispositionen der Mitarbeiter einer Organisation, die Präferenzen und Kompetenzen für die Vernetzung der Praxis mit anderen Organisationen entwickeln. Die symbolischen Formen Innovation und Netzwerk, die inzwischen selbstverständliche Bestandteile der Selbstbeschreibung vieler
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Unternehmen sind (vgl. hierzu etwa Kieserling 2005), erweisen sich demnach als wichtige Ausgangspunkte einer neuen Symbolisierung des, wie oben (3.5.1) ausgeführt, nur schwer bestimmbaren Arbeitsvermögens, indem die Kompetenz zur Bildung von Referenznetzwerken zu einem wichtigen Bestandteil von Mitarbeiterprofilen avanciert, wobei dies, wie Boltanski und Chiapello (vgl. 2003: 152ff. und öfter) sehr genau nachweisen, insbesondere für die Mitglieder der mittleren Führungsebene von Unternehmen gilt. Auf diese Weise sind die Tauschformen, die zur Bildung von Referenznetzwerken praktisch werden, eng mit der spezifischen Ausformung der Praxis des Tausches von Arbeit gegen Geld verknüpft. Gelingt mit der hier dargelegten Verknüpfung von unterschiedlichen Tauschformen die Bildung sozialer Beziehungen, die sich nur durch eine auf Dauer gestellte Pflege der Beziehungen durch regelmäßige Austauschpraktiken zu Referenznetzwerken entwickeln, können die Vernetzungen in unterschiedlichen Referenznetzwerken von den an ihnen beteiligten sozialen Akteuren als soziales Kapital etwa zur Bildung von Kooperationen zwischen unterschiedlichen Organisationen genutzt werden. Auch in diesem Zusammenhang werden Tauschformen zwischen sozialen Akteuren, die von der Organisation zur Bildung einer Kooperation delegiert werden, wirksam, indem etwa dem potenziellen Kooperationspartner eine bestimmte, als exklusiv symbolisierte Kompetenz zum Tausch gegen eine andere Kompetenz angeboten wird. Entsteht die Kooperation nach Verhandlungen ihrer Bedingungen, in denen es dann typischerweise nichts zu verschenken gibt, wandeln sich die zuvor auf Gegenseitigkeit beruhenden Tauschformen zwischen potenziellen Kooperationspartnern sehr häufig in vertraglich geregelte Tauschformen zwischen tatsächlichen Kooperationspartnern, in denen die symbolischen Formen auf der Sach-, Sozial- und Zeitdimension der Praxis relativ genau bestimmt sind. Das praktische Zusammenspiel verschiedener Formen des Tausches kann, wie das hier ausgeführte Beispiel der Genese von so genannten Innovationsnetzwerken veranschaulicht, soziale „Strukturdynamiken“ (Schimank 2002)84 erzeugen: Unter bestimmten Bedingungen, die sich auf der Sach-, Sozial- und Zeitdimension der kulturellen Repräsentation der Praxis Ausdruck in symbolischen Formen verschaffen, ist das praktische Zusammenspiel vielfältiger Tauschformen der Ausgangspunkt für die Genese neuer Objektivierungen oder den sozialen Wandel bereits bestehender Strukturen der Praxis, die sich in der objektivierten Sozialität als Regelmäßigkeiten manifestiert hatten. Die praxistheoretische Untersuchung der Korruption und der Netzwerkbildung auf der Grundlage einer Typologie von Praxisformen des Tausches verdeutlicht demnach nicht nur, wie vielfältige Formen des Tausches in der Praxis zusammenwirken. Sie zeigt zudem, wie im Anschluss an eine vom Praxisbegriff ausgehende Bestimmung von Tauschformen praktische Veränderungen und Neubildungen von sozialen Strukturen untersucht werden können. Dies bringt die Argumentation zur Erforschung verschiedener Praxisformen des Tausches zu einem vorläufigen Abschluss,
84 Ich verstehe den von Uwe Schimank eingeführten Begriff der „Strukturdynamiken” so, dass eine Dynamik der Praxis, durch die sich neue Regelmäßigkeiten objektivieren, nur auf der Basis bereits vorhandener Regelmäßigkeiten (Strukturen) möglich ist. Werden dagegen beispielsweise spieltheoretische Modelle konstruiert, in denen sich die Akteure voraussetzungslos begegnen, können die Dynamiken der auf diese Weise simulierten Praxis zwar sehr genau, weil kausal rekonstruiert werden. Dies wird jedoch mit einem sehr hohen Generalisierungsniveau der Grundannahmen des Modells bezahlt (vgl. Schimank 2002: 159) und führt deshalb in einen Modellplatonismus, der die kausale Stimmigkeit des Modells vor seine Adäquanz stellt.
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indem die Möglichkeiten zum Erkenntnisgewinn einer am Praxisbegriff orientierten Typologie des Tausches, die nicht modellplatonisch ansetzt, beispielhaft an einer tauschtheoretischen Analyse der Korruption und der Bildung von Innovationsnetzwerken erprobt worden sind. Was einer soziologischen Praxistheorie des Tausches jetzt noch fehlt, ist ein Gesamtresümee, das die wichtigsten Erträge der im Kapitel drei verfolgten Argumentation abschließend bündelt. Dies ist Thema des folgenden Abschnitts.
3.6 Resümee: Begriff, Theorie und Praxis des Tausches Innerhalb der Paradigmen einer praxistheoretischen Soziologie (vgl. 2.4) muss der Tausch als spezifische, von anderen Praxisformen unterscheidbare Vollzugswirklichkeit verstanden werden. Dies ist mit einem praxistheoretischen Begriff des Tausches möglich, der die Einzelpraktiken des Tausches, also das Geben, Nehmen und Erwidern, als Tauschpraktiken bestimmt, die sich zu Praxisformen des Tausches verketten. Denn nur wenn die genannten Tauschpraktiken im Vollzug der Praxis aufeinander bezogen sind, kann davon ausgegangen werden, dass sich ein Tausch ereignet hat (3.1). Ein derartiger, aus der soziologischen Praxistheorie abgeleiteter Begriff des Tausches verdeutlicht nicht nur, dass sich die Tauschpraxis als emergente Verkettung von Tauschpraktiken ereignet. Mit ihm kann zudem erfasst werden, dass jeder Tausch mit kulturellen Bewertungen verbunden ist, die auf der Sach-, Sozial- und Zeitdimension als symbolische Formen der Reziprozität objektiviert sind. Der Tausch ereignet sich als Verkettung von Tauschpraktiken in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität. In dieser Relation werden die symbolischen Formen der Reziprozität durch Praktiken der Inzeption und Rezeption praktisch aktualisiert und neu geformt, so dass sich Praxisformen des Tausches als Verkettung von Tauschpraktiken ereignen können. Auf der Grundlage dieses Tauschbegriffs lässt sich eine Praxistheorie des Tausches entwickeln, welche die Differenz zwischen der Logik der Theorie und der praktischen Logik des Tausches in konstitutiver Weise reflektiert. Innerhalb der erkenntnistheoretischen Grundannahmen einer soziologischen Praxistheorie bedarf es zu dieser Theoriebildung zunächst einer reflexiven Rekonstruktion der wichtigsten, in der soziologischen Forschung vorgenommenen Thematisierungsformen des Tausches. Diesbezüglich konnten zwei zentrale Thematisierungsstränge identifiziert werden: eine an die Begriffe Ware, Geld und Markt (3.2) und eine an die Begriffe Gabe, Symbol und Reziprozität (3.3) angelehnte Thematisierung des Tausches. Durch die Aufarbeitung dieser beiden Theoriestränge wurde eine breite Basis zur praxistheoretischen Analyse der symbolischen Formen der Reziprozität gewonnen, die den Tausch als Verkettung von Tauschpraktiken zum einen überhaupt erst ermöglichen und zum anderen unterschiedliche Praxisformen des Tausches für die soziologische Praxistheorie identifizierbar machen. Denn symbolische Formen sind Ausdruck von Praxisformen, die sich in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität bilden. Die symbolischen Formen der Reziprozität, die als kultureller Ausdruck vielfältiger Praxisformen des Tausches verstanden werden müssen, erschließen sich der soziologischen Theorie durch eine kultursoziologische Analyse ihrer Genese und praktischen Reproduktion. Diese Analyse kann nur auf der Grundlage einer Auseinandersetzung mit den verschiedenen Themati-
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sierungsformen des Tausches in soziologischen Theorieansätzen durchgeführt werden, weil eine solche Theoriediskussion die theoretische Basis für eine praxistheoretische Identifikation von Tauschformen schafft. Um diese theoretische Basis zu umreißen, fasse ich die zentralen Ergebnisse der rekonstruktiven Theoriediskussion aus den Abschnitten 3.2 und 3.3 in den folgenden neun Punkten zusammen:
Eine unter anderen von Marx, Simmel, Weber und Polanyi ausgehende modernisierungstheoretische (Wirtschafts)Soziologie betont die strukturellen Veränderungen des Tausches, die durch die massenhafte Verbreitung des Geldes als Tauschmedium und Äquivalenzmaßstab wirksam werden. Demnach wird der Tausch durch das Geld versachlicht und objektiviert. Dies bringt als ein wichtiges Charakteristikum moderner Gesellschaften ein Wirtschaftssystem hervor, in dem ausschließlich die versachlichte Form des Tausches, also der Kauf und Verkauf von mit Preisen versehenen Waren, gefordert ist. Dieses Wirtschaftssystem mit einem überregionalen Markt koppelt sich in modernisierungstheoretischer Sicht immer mehr von der übrigen Gesellschaft ab. In dieser Perspektive werden Tausch und Markt mehr oder weniger gleichgesetzt. Der Markt erscheint in der Folge, etwa noch bei Luhmann, als ein der übrigen Sozialität entbetteter Mechanismus zur Reproduktion des Wirtschaftssystems. Die neue Wirtschaftssoziologie im Anschluss an White, Granovetter und anderen kehrt diese für die Modernisierungstheorie zentrale, von Polanyi ausgehende These der Entbettung des Marktes geradezu um, indem sie von der sozialen Einbettung von Marktmechanismen etwa in Netzwerkstrukturen ausgeht, um so die soziale Bedingtheit des Markttausches strukturtheoretisch zu untersuchen, ohne jedoch den Prozess der Verkettung von Tauschpraktiken in neuer Weise zu thematisieren. Dadurch wird der Tausch marginalisiert, weil er weiterhin mit dem Begriff Markt gleichgesetzt wird und so nicht als genuines Thema der neuen Wirtschaftssoziologie erscheint. Gleichzeitig und weitgehend parallel zu dieser strukturalistisch ansetzenden Soziologie des Marktes wird der Tausch in akteurtheoretischer Perspektive als soziale Handlung begriffen, die sich im Praxisprinzip der rationalen Wahl ereignet. Diese am Kosten-Nutzen-Prinzip orientierte Tauschtheorie, die im Anschluss an Homans und Blau etwa von Coleman und Esser formuliert wird und die ein wichtiger Ausgangspunkt von Teilen der gegenwärtigen Wirtschaftssoziologie ist, orientiert sich bei der Analyse des Tausches an den von den Wirtschaftswissenschaften konturierten Praxisprinzipien des Marktes, also beispielsweise an den Prinzipien von Angebot und Nachfrage, am Praxisprinzip der Äquivalenz von Tauschgegenständen, am in Geld quantitativ ausgedrückten Preismechanismus und am Prinzip des Wettbewerbs, um auf diese Weise den Tausch als den konstitutiven Mechanismus aller Sozialität zu generalisieren, ohne dabei die Praxisform des Tausches von anderen Praxisformen sachlich zu unterscheiden. Als zentrale Gemeinsamkeit dieser auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Formen der soziologischen Theoretisierung des Marktes und der Wirtschaft konnte herausgestellt werden, dass sie den Tausch jeweils auf ihre Weise für die soziologische Theoriebildung marginalisieren: Während die modernisierungstheoretische Variante der Wirtschaftssoziologie den Tausch auf das Kaufen und Verkaufen von Waren reduziert, das sich zur Reproduktion des Wirtschaftssystems wie selbstverständlich ereignet, thema-
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3 Praxistheorie des Tausches tisiert die neue Wirtschaftssoziologie mit ihrer These von der sozialen Einbettung des Marktes die strukturelle Bedingtheit des Marktes, ohne den Tausch als Praxisform zu bestimmen. Die Theorie der rationalen Handlungswahl generalisiert den Tausch zu einem konstitutiven Mechanismus der Sozialität, der aus der individuellen Abwägung von Kosten und Nutzen entsteht. Das an der Kalkulation von Kosten und Nutzen ausgerichtete Praxisprinzip des Marktes wird speziell in dieser Theorierichtung zum generellen Prinzip aller Sozialität erhoben, was den Tausch als spezifische Praxisform mit besonderen Eigenschaften marginalisiert. Mit Bourdieu und Callon konnte im Anschluss an diese Diagnose einer generellen Marginalisierung des Tauschthemas durch die wirtschaftssoziologische Theorie gezeigt werden, dass insbesondere die Theorie der rationalen Handlungswahl keine soziologisch gehaltvolle Tauschtheorie verfolgt, sondern stattdessen den Markt symbolisch repräsentiert, was für eine Soziologie des Tausches nicht weit genug greift. Bourdieu hebt hervor, dass die moderne Ökonomie das Ergebnis einer historischen Genese ist und dass sich deshalb parallel zur Entstehung der ökonomischen, an Kalkulation orientierten Praxis symbolische Formen zur Verdoppelung des Marktes bilden, die den Markt als Mechanismus definieren, in dem Angebot und Nachfrage durch den Preismechanismus in ein berechenbares Gleichgewicht gebracht werden. Callon präzisiert dieses kultursoziologische Argument, indem er die soziale Einbettung des Markttausches in die ökonomische Wissenschaft betont und dabei davon ausgeht, dass die symbolischen Formen, die diese Wissenschaft hervorbringt – also etwa die Praxisprinzipien der Äquivalenz, der Kalkulation und der Rationalität –, die Tauschpraxis auf Märkten, und hier insbesondere auf Finanzmärkten, in hohem Maße anleiten. Die zentralen Schlussfolgerung aus der Diskussion von markt- und wirtschaftssoziologischen Forschungsperspektiven auf den Tausch sind, dass eine praxissoziologische Tauschtheorie kultursoziologisch ansetzen muss, um die symbolischen Formen des Tausches nicht nur kulturtheoretisch zu identifizieren, sondern auch als Katalysatoren der Praxis des Tausches zu bestimmen. Dabei darf sie sich nicht auf die Analyse der Symbolisierungen des Marktes begrenzen, idem sie den Marktbegriff selbst als symbolische Form fasst. Sie muss zur praxistheoretischen Identifikation und Untersuchung von Tauschformen auch den Gabentausch kultursoziologisch durchdringen, der als preisloser Tausch praktisch wird und deshalb nach herrschender Lehrmeinung der Wirtschaftssoziologie prinzipiell im Gegensatz zum marktförmigen Tausch steht. In der theoretischen Durchdringung des Gabentauschmechanismus im Anschluss an die heterogenen Interpretationen des Gabenessays von Mauss durch Theoretiker wie Lévi-Strauss, Bataille, Baudrillard, Caillé, Godelier, Bourdieu und Ricœur wird die Einsicht in die Notwendigkeit einer kultursoziologischen Fundierung der Tauschtheorie weiter gefestigt. Denn das Geben, Nehmen und Erwidern von Gaben ist, wie ich beispielhaft am Geschenktausch verdeutlicht habe, nur im Kontext einer umfangreichen Symbolisierung der Praxis auf der Sach-, Sozial- und Zeitdimension des Sinngeschehens möglich. Diese Erkenntnis ist nicht zuletzt eine Konsequenz aus der Dekonstruktion des Begriffs der Gabe durch Derrida, die deutlich macht, dass es „die reine Gabe“ als Ausdruck eines der Gattung Mensch anthropologisch zugeschriebenen Altruismus’
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nicht geben kann, sondern dass Gaben nur durch Symbole zu Gaben geformt werden können, was im Übrigen bereits Mauss gesehen hat. Die praktische Logik des Gabentausches unterscheidet sich von der praktischen Logik des Warentausches vor allem dadurch, dass sich die Einzelpraktiken des Tausches im Gabentausch in zeitlicher Streckung ereignen und dass die Symbole des Gabentausches primär auf der Sozialdimension des Sinngeschehens geformt werden, während sie im Warentausch primär auf die getauschten Sachen bezogen sind. Wenn es für den reinen Warentausch, der nur als idealtypisches Modell konstruiert werden kann, charakteristisch ist, dass er okkasionelle, flüchtige Formen der Reziprozität hervorbringt, ist es für den reinen, ebenfalls nur idealtypisch konstruierbaren Gabentausch charakteristisch, dass er Austauschbeziehungen auf Dauer stellt und dauerhafte Formen der Reziprozität hervorbringt, weil mit dem zeitlich versetzten Geben, Nehmen und Erwidern von Gaben Verpflichtungen eingegangen werden, die immer wieder aufs Neue eine praktische Wirkmächtigkeit erzeugen, indem sie erneute Gaben affizieren. Ein weiteres Ergebnis der theoretischen Durchdringung des Gabentauschmechanismus’, das ich besonders hervorheben möchte, ist, dass die im Gabentausch wirksam werdenden Tauschpraktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns nicht nur auf der Basis von bereits objektivierten symbolischen Formen der Reziprozität praktisch werden, sondern dass sie aufgrund ihrer symbolischen Temporalisierung konstitutiv Unsicherheit erzeugen, die neue symbolische Formen der Reziprozität hervorbringt. Gaben sind als Praktiken Ereignisse, die – selbst in stark ritualisierten Kontexten – symbolische Formen irritieren und dadurch neu formen. Denn die Praktik der Gabe zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie als Ereignis nicht explizit auf ein ihr zeitlich voraus liegendes Ereignis der Gabe bezogen werden kann. Dies zwingt zur Formung von Symbolen, die im Vollzug der Gabentauschpraxis Verpflichtungen und Erwartungen als Formen der inkorporierten Sozialität erzeugen, um eine Verkettung der Praktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns zu ermöglichen. Auf der Grundlage der theoretischen Durchdringung des Gabentausches und im Anschluss an Ricœurs phänomenologische Theorie der Anerkennung konnte schließlich ein praxistheoretischer Begriff der Reziprozität gewonnen werden, der seine strukturalistische Fassung überwindet, die ihm etwa durch Lévi-Strauss, Gouldner und Sahlins gegeben wird. Nach meiner praxissoziologischen Definition ist Reziprozität nicht als zeitloses Symbol oder als generelle Norm der Austauschpraxis zu verstehen, sondern als eine formale Beziehung, die sich immer dann zwischen Tauschpartnern einstellt, wenn sich Tauschpraktiken zu Tauschformen verketten. Reziprozität formt sich folglich in unterschiedlicher Weise aus und ist deshalb mit mannigfaltigen symbolischen Formen verbunden, die im Vollzug der Tauschpraxis durch die Praktiken der Inzeption und Rezeption entweder erzeugt oder reproduziert werden. Für eine praxistheoretische Soziologie des Tausches ist es folglich entscheidend, die symbolischen Formen der Reziprozität kultursoziologisch als Katalysatoren der Verkettung von Tauschpraktiken zu Praxisformen des Tausches zu untersuchen.
Diese Ergebnisse der reflexiven Theoriediskussion bergen zwei, für die Entwicklung einer soziologischen Praxistheorie des Tausches zentrale Schlussfolgerungen, die sich inhaltlich
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gegenseitig bedingen. Zum einen kann der Gabentausch nicht, wie es in großen Teilen der soziologischen und ethnologischen Forschung geschieht, als Rudiment der Gegenwartsgesellschaft angesehen werden. Diese Gesellschaft bringt ihn vielmehr erst hervor. Der Nachweis der Schlüssigkeit dieses Arguments konnte im Abschnitt 3.4 unter anderem an der Dekonstruktion des Gabenessays von Mauss durch Derrida und anhand historischer Studien zur neuzeitlichen Entwicklung der Geldwirtschaft geführt werden. Zum anderen macht es auf der Grundlage der reflexiven Theoriediskussion und im Kontext der Einsicht in die Aktualität des Gabentausches für die gegenwärtige Praxis wenig Sinn, Gaben- und Warentausch als sich gegenseitig ausschließende Tauschlogiken zu beschreiben. In praxistheoretischer Sicht geschieht vielmehr eine praktische Simultanität von Tauschlogiken, indem sich im Vollzug der Tauschpraxis Praktiken des Kaufens, Verkaufens und Schenkens simultan ereignen und dadurch unterschiedliche Mischformen des Tausches entstehen. Dieses Argument – mit weit reichenden Konsequenzen für eine Typologie von Tauschformen – konnte im Abschnitt 3.4 aus den Ergebnissen der reflexiven Theoriediskussion hergeleitet und in einer ersten Annährung anhand verschiedener Beispiele plausibilisiert werden. Um die Tauschpraxis als Vollzugswirklichkeit zu verstehen, reicht es folglich nicht, theoretisch konsistente Modelle des reinen Warentausches und des reinen Gabentausches zu konstruieren und diese beiden Tauschformen in einem Ausschließungsverhältnis gegenüber zu stellen. Wird der Tausch als Verkettung von Tauschpraktiken verstanden, die in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität entsteht, können vielfältige Tauschformen identifiziert und untersucht werden, indem auf der Basis der Ergebnisse aus der reflexiven Theoriediskussion symbolische Formen der Reziprozität kultursoziologisch als Katalysatoren der Verkettung von Tauschpraktiken zu Tauschformen bestimmt werden. Dazu wurde hier im Abschnitt 3.5 ein theoretischer Weg gewählt, der die Dichotomisierung von Waren- und Gabentausch hinter sich lässt und dadurch eine Typologie von Tauschformen ermöglicht, die der praktischen Simultanität von Tauschlogiken gerecht zu werden vermag. Denn indem die Symbole das Tausches, die sich im Vollzug der Tauschpraxis auf der Sach-, Sozial- und Zeitdimension des Sinngeschehens formen, bestimmt und in iterativer Weise aufeinander bezogen werden, entsteht eine komplexe Typologie von Praxisformen des Tausches, mit der die praktische Simultanität von Tauschlogiken erfasst werden kann. Die Analyse der Symbole, die sich auf der sachlichen Dimension der Tauschpraxis formen, ermöglicht zunächst die Identifikation und Beschreibung des primär sachbezogenen Tausches im symbolisch erzeugten Praxisprinzip der Äquivalenz, wobei deutlich wurde, dass diese Tauschform sich erst dann hinreichend komplex modellieren lässt, wenn sie von der Tauschtheorie auch in sozialer und zeitlicher Hinsicht thematisiert wird. In sachlicher Hinsicht ist bezüglich des primär sachbezogenen Tausches von besonderem Interesse, wie etwas symbolisch zu einer Ware geformt wird, die sich auf einem Markt zum Tausch gegen Geld (Kauf und Verkauf) anbieten lässt. Die Untersuchung der symbolischen Formung von Arbeit als Gegenstand des Tausches gegen Geld verdeutlicht, dass sich die Simultanität von Tauschlogiken für diese spezifische Tauschform allein durch die Analyse der sachlichen Symbole des Tausches identifizieren und beschreiben lässt. Dies habe ich an der sachlichen Unterscheidung von Arbeitskraft als Tauschwert und Arbeitsvermögen als Gebrauchswert der Arbeit veranschaulicht, indem ich die Arbeitskraft als Gegenstand eines primär sachbe-
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zogenen Tausches und das Arbeitsvermögen als den Teil der Arbeit bestimmt habe, der nicht ohne Weiteres mit Geld verrechnet und deshalb in anderer, an der praktischen Logik des Gabentausches orientierter Form in die Praxis des Tausches von Arbeit gegen Arbeitslohn einbezogen wird. Darüber hinaus zeigt die Analyse der sachlichen Symbole des Tausches, dass es für die Form der Verkettung von Tauschpraktiken zu Tauschformen einen bedeutenden praktischen Unterschied macht, ob etwa eine Ware gegen Geld, ob Arbeit gegen Lohn, ob ein Geschenk gegen ein erneutes Geschenk oder ob – wie in der organisierten Spendenpraxis – ein Geschenk gegen gesellschaftliche Anerkennung getauscht wird. Diese Unterschiede in der Form der Verkettung von Tauschpraktiken lassen sich jedoch, wie als ein wichtiges Ergebnis der Analyse der Sachdimension der Tauschpraxis festgehalten werden kann, in den meisten Fällen nur dann genau konturieren, wenn die Symbole in die Analyse einbezogen werden, die sich auf der Sozialdimension der Tauschpraxis formen. Diese symbolischen Formen der Reziprozität, die darauf bezogen sind, wer mit wem etwas tauscht, sind für den Vollzug der Tauschpraxis von zentraler Bedeutung, wie ich zunächst für die Analyse des primär sachbezogenen Tausches zeigen konnte. Denn auch in dieser Tauschform werden die am Tausch beteiligten Akteure nicht nur durch die Unterscheidung von Angebot und Nachfrage symbolisch generalisiert, indem sie als abstrakte Verkäufer und Kunden symbolisiert werden. Im Vollzug der Tauschpraxis entstehen auch im primär sachbezogenen Tausch symbolische Formen, welche die am Tausch beteiligten Akteure konkret bestimmen. Diese Symbolisierungen sind eng verbunden mit dem Austausch von kleinen Gaben, der sich simultan zum Kauf und Verkauf ereignet und die für den Warentausch typisch okkasionelle Reziprozität in eine dauerhafte soziale Beziehung der Kundenbindung transformieren kann. Auf diese Weise entsteht der primär sachbezogene Tausch mit Bindungseffekten, der für die Strukturierung der Tauschpraxis eine wichtige Bedeutung hat, weil er beispielsweise den Kauf und Verkauf von Waren jenseits der Unterscheidung von Angebot und Nachfrage strukturiert. Der gegenseitige Tausch unter Unbekannten, der im Vollzug der Tauschpraxis nicht selten simultan zum primär sachbezogenen Tausch wirksam wird, konnte im Weiteren als die Tauschform identifiziert werden, die typischerweise den Ausgangspunkt zur praxisrelevanten Formung von Symbolen auf der Sozialdimension der Tauschpraxis bildet. Während im gegenseitigen Tausch unter Unbekannten die beteiligten Akteure symbolisch als zu respektierende Mit-Akteure generalisiert sind, weil sich der Tausch von unverbindlichen Gesten der gegenseitigen Anerkennung typischerweise in zufälligen Begegnungen ereignet, ist der gegenseitige Tausch etwa im Bekanntenkreis, der aus dem gegenseitigen Tausch unter Unbekannten entstehen kann, mit symbolischen Formen verbunden, welche die am Tausch beteiligten Akteure als Bekannte konstruieren, mit denen deutlich mehr ausgetauscht werden kann, als lediglich kleine Gesten. Werden die Tauschpartner im Verlauf dieser Tauschpraxis immer exklusiver symbolisiert, indem sie etwa als Freunde oder Liebende konstruiert werden, ändert dies die Form der Verkettung von Tauschpraktiken, so dass die Praxisform des exklusiven, wechselseitigen Tausches entsteht, die sich durch besondere Merkmale – die beteiligten Akteure werden als exklusive Tauschpartner symbolisiert, für Gaben können keine Gegengaben explizit eingefordert werden, die Tauschbeziehung beruht nicht auf Gegenseitigkeit, sondern auf Wechselseitigkeit etc. – von der Praxisform des gegenseitigen Tausches im Bekanntenkreis unterscheidet. Der exklusive Tausch generiert folglich symbolische Formen der Reziprozität auf
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der Sozialdimension der Tauschpraxis, die praktisch auch in Verwandtschaftsbeziehungen wirksam werden. Mit der Analyse der Sozialdimension der Tauschpraxis konnten darüber hinaus Tauschformen identifiziert und beschrieben werden, die dadurch charakterisiert sind, dass die an ihnen beteiligten Akteure im Vollzug der Tauschpraxis symbolisch generalisiert werden. Während sich diese symbolische Generalisierung im exklusiven Kettentausch auf der Meso-Ebene der Sozialität ereignet, indem beispielsweise Mitglieder einer bestimmten Organisation oder eines bestimmten Vereins verpflichtet werden, Beiträge für die Organisation oder den Verein zu leisten, die mit abstrakten Gegenleistungen vergolten werden, ereignet sich die symbolische Generalisierung im redistributiven Tausch typischerweise auf der Makro-Ebene der Sozialität. Als wichtigstes Beispiel für diese Tauschform wurde der Sozialstaat als abstraktes Tauscharrangement analysiert. Denn der Sozialstaat betätigt sich nicht nur als Leistungsgeber, sondern auch als Eintreiber von Leistungen, die er dann an bestimmte Angehörige des Staates oder bestimmte Bewohner des Staatsgebietes verteilt. Hier werden Verpflichtungen und Ansprüche wirksam, die durch die symbolische Generalisierung der Akteure als Staatsbürger und potenzielle Empfänger von Transferzahlungen zu einer hoch abstrakten Verkettung von Tauschpraktiken führt, die vom Staat arrangiert wird. Schließlich konnte die Analyse der Sozialdimension der Tauschpraxis am Beispiel der sozialstrukturellen Bedingtheit des gegenseitigen Tausches unter Unbekannten nicht nur den Einfluss von Strukturen sozialer Ungleichheit auf die Verkettung von Tauschpraktiken zu Tauschformen sichtbar machen, sondern zusätzlich klären, wie Tauschformen soziale Ungleichheit hervorbringen und dauerhaft verfestigen. Ist der Tausch ein Herrschaftsmittel, vermischen sich, was als ein wichtiges Ergebnis der Analyse der Sozialdimension der Tauschpraxis festgehalten werden kann, typischerweise verschiedene Tauschformen, so dass sich der Tausch als Ausdruck symbolischer Gewalt analysieren lässt. So ist etwa die Praxisform der Patronage im Kontext von Arbeitsorganisationen nur möglich, wenn simultan zum Tausch von Arbeit gegen Geld die Praxisform des exklusiven Tausches wirksam wird, mit dem Mitarbeiter in perfider Weise zur Loyalität gezwungen werden können. Die Analyse der Sozialdimension der Tauschpraxis macht also in Verbindung mit der Analyse der Sachdimension der Tauschpraxis vielfältige Tauschformen sichtbar. So konnte etwa der Tausch von Arbeit gegen Geld als Tauschform bestimmt werden, in der sich die praktische Logik des Warentausches in spezifischer Weise mit der praktischen Logik des Gabentausches verbindet. Auch die Formen des primär sachbezogenen Tausches von Waren gegen Geld ließen sich mit Formen des gegenseitigen Tausches zwischen Unbekannten zusammenbringen, um auf diese Weise die Entstehung von dauerhaften Kundenbindungen durch eine Analyse der Verkettung von Tauschpraktiken zu erklären. Und Formen des exklusiven Tausches zwischen Freunden, Verwandten und Liebenden konnten ebenso durch eine kultursoziologische Analyse der symbolischen Formen der Reziprozität bestimmt und in neuer Form untersucht werden, wie Formen des gegenseitigen Tausches im Bekanntenkreis, in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz, sowie Formen des exklusiven Kettentausches, das abstrakte Tauscharrangement des Sozialstaates und die organisierte Spendenpraxis. Das Bild der verschiedenen Tauschformen konnte durch die Analyse der Zeitdimension der Tauschpraxis insofern präzisiert werden, als die zeitliche Thematisierung von Praxisformen des Tausches deren Prozessmerkmale veranschaulicht. Denn werden Tausch-
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formen als Vollzugswirklichkeiten bestimmt, in denen sich Tauschpraktiken zu Praxisformen des Tausches verketten, können sie nur als Prozesse verstanden werden, die Zeit in unterschiedlicher Weise binden. Diese zeitliche Dimension der Tauschpraxis verschafft sich Ausdruck in symbolischen Formen, durch die Praxisformen des Tausches in unterschiedlicher Weise temporalisiert werden. Während in einem strikt sachbezogenen Tausch im Praxisprinzip der Wertäquivalenz der zu tauschenden Gegenstände, also im Kauf und Verkauf von Waren, die Tauschpraktiken synchronisiert werden, werden etwa im Vollzug des gegenseitigen oder wechselseitigen Tausches von Geschenken die Praktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns auf den Zeithorizonten Vergangenheit und Zukunft als Einzelereignisse symbolisiert. Hier wirkt eine Ungewissheit, weil das Schenken typischerweise in der ungewissen Erwartung eines zukünftigen Gegengeschenkes geschieht, das den Geschenktausch zu einem vorläufigen Abschluss bringen würde. Diese symbolische Temporalisierung von Tauschpraktiken, die sich als Ereignisse auf einem symbolisch erzeugten Zeithorizont verketten, konnte als wichtiger Ausgangspunkt für die Bildung sozialer Beziehungen durch Tauschformen bestimmt werden. Wenn Zeit also nicht ontologisch, sondern als Produkt der im Vollzug der Tauschpraxis entstehenden Symbolisierungen verstanden wird, lassen sich nicht nur die unterschiedlichen Ausformungen von Zeitsymbolen für die verschiedenen Tauschformen bestimmen, sondern auch unterschiedliche Bindungseffekte, die von diesen Tauschformen ausgehen. Dies komplettiert die praxistheoretische Typologie von Tauschformen, die jeweils nur durch eine spezifische Verflechtung von sachlichen, sozialen und zeitlichen Symbolen entstehen. Diese Symbole müssen im Vollzug der Praxis von den beteiligten Akteuren mit praktischem Sinn versehen werden, damit die von mir theoretisch konstruierten Praxisformen des Tausches sich regelmäßig als spezifische Formen der Verkettung von Tauschpraktiken ereignen können. Jede Tauschform erscheint so als echter Sonderfall der Praxis, der mit den Mitteln der soziologischen Theoriebildung nur dann angemessen beschrieben werden kann, wenn die Differenz zwischen der Logik der Theorie und der praktischen Logik des jeweiligen Tausches reflektiert wird. Diese reflexive Theoriebildung kann, wie in dieser Arbeit deutlich werden sollte, gelingen, indem zum einen das vielschichtige Zusammenwirken sachlicher, sozialer und zeitlicher Symbole des Tausches als Ausgangspunkt der Entstehung von Tauschformen begriffen wird und indem zum anderen die hier theoretisch entworfenen Tauschformen nicht ausschließlich isoliert betrachtet, sondern miteinander kombiniert werden, um bestimmte Ausformungen der Tauschpraxis in ihrer Entstehung und in ihren Praxiseffekten angemessen analysieren zu können, ohne dabei jedoch die Differenz zwischen der Logik der Tauschtheorie und der praktischen Logik des sich tatsächlich ereignenden Tausches überwinden zu können. Denn die soziologische Theorie sollte sich, wie Bourdieu es mit Bezug auf Wittgenstein treffend formuliert, „nicht zum Ziel setzen …, die praktische Logik zu übernehmen, sondern diese Logik theoretisch zu rekonstruieren, wobei sie die Kluft zwischen praktischer und theoretischer Logik … in die Theorie selbst zu integrieren hat“ (Bourdieu 2001: 67f.). Und dies kann nach Bourdieu (ebd.: 68) nur durch „eine stete Bemühung um Reflexivität“ geschehen. Die praxistheoretischen Untersuchungen unterschiedlicher Tauschformen in sachlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht, welche die Relation zwischen theoretischer und praktischer Logik ganz im Sinne Bourdieus in konstitutiver Weise reflektieren, verdeutlichen jedenfalls, dass der Tausch eine Praxisform ist, die sich auf allen Ebenen, also auf der Mikro-, Meso- und
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Makroebene der Sozialität ereignet, indem Akteure, die mit inkorporierter Sozialität ausgestattet sind, den sachlichen, sozialen und zeitlichen Symbolen der Reziprozität praktischen Sinn zuschreiben und dadurch beispielsweise auch makrosoziale Formen des redistributiven Tausches, die etwa als abstrakte Tauscharrangements des Sozialstaates symbolisiert sind, zu einer praktischen Vollzugswirklichkeit des Tausches formen. Die praxistheoretische Typologie des Tausches, deren Ergebnisse ich im Abschnitt 3.5.4 in einer schematischen Darstellung der Vielfalt der Tauschpraxis zusammengeführt habe, zeichnet somit ein vielschichtiges und – durch die Skalierung der Bestimmtheitsgerade auf den drei Dimensionen des Sinngeschehens – variables Bild des Tausches, dessen Erklärungskraft ich abschließend exemplarisch an den Themenkomplexen Korruption und Netzwerkbildung erprobt habe, indem ich das von mir entwickelte Schema der Tauschformen als Werkzeug zur Erklärung der Genese und Reproduktion von Korruption und zur Analyse der Entstehung von Innovationsnetzwerken verwendet habe. Diese Untersuchungen zeigen: Die hier entwickelte Typologie von Tauschformen verdeutlicht nicht nur die Vielfalt der Tauschpraxis, sie ist auch als Heuristik zu verstehen, mit der das in den letzten Jahrzehnten von der soziologischen Theorie sträflich vernachlässigte Thema Tausch als soziologisches Forschungsfeld neu vermessen werden kann.
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Schluss: Die Dynamik der Praxis und der Tausch
4 Schluss: Die Dynamik der Praxis und der Tausch
4 Am Ausgangspunkt der hier entwickelten Soziologie des Tausches steht die These, die soziologische Praxistheorie, wie sie von Bourdieu entwickelt wird, eigne sich dann in besonderer Weise als Grundlage für den Entwurf einer soziologischen Tauschtheorie, wenn sie zuvor zu einer allgemeinen soziologischen Theorie systematisiert wird. Bourdieu selbst würde einer solchen Systematisierung zur Anwendung seiner Theorie, wie mit Hans-Peter Müller (vgl. 2005: 39) vermutet werden kann, wohl mit großer Skepsis begegnen. Sie birgt das Risiko, in die Fallen der scholastischen Theoriebildung zu laufen, die Bourdieu immer wieder aufs Schärfste kritisiert hat (vgl. Mauger 2005: 208). Im Mittelpunkt dieser „Kritik der scholastischen Vernunft“ (Bourdieu 2001: 18) steht die Ablehnung des sich hier manifestierenden Prinzips zur Theoriebildung, theoretische Konsistenzen und Logiken wichtiger zu nehmen, als das angemessene Erfassen der praktischen Logiken, die sich im Vollzug der Praxis empirisch ereignen. Mit dieser Kritik entwirft Bourdieu sich nicht nur selbst als „Theoretiker wider Willen“ (Kieserling 2004: 130), was als persönlicher Stil hinzunehmen ist, sondern stilisiert auch, was schwerer wiegt und nicht ohne weiteres akzeptiert werden kann, seine eigene Theorie als unvergleichlich.1 Nach meiner Einschätzung ist es dagegen eine wichtige Aufgabe der Soziologie, das Werk Bourdieus nicht nur als bedeutenden, unvergleichlichen Beitrag zur soziologischen Forschung zu würdigen – dies ist, wie ich an anderer Stelle rekonstruiert habe (vgl. Hillebrandt 2008b), bereits vielfach geschehen –, sondern auch für die soziologische Theoriebildung auszuwerten. Wird diese Auffassung geteilt, müssen Bourdieus Theorievorgaben im Vergleich mit anderen Theorievorgaben weiterentwickelt und in dieser elaborierten Form auf verschiedene Themen der Soziologie angewendet werden. Zur systematischen Weiterentwicklung der Bourdieu’schen Praxistheorie sehe ich zwei entscheidende Ansatzpunkte, die ich im ersten Teil dieser Arbeit herausgearbeitet habe: Zum einen muss ihre offensichtliche Engführung auf die Analyse von Macht- und Herrschaftsstrukturen überwunden werden. Zum anderen kann die Praxistheorie nur dann zu einer allgemeinen soziologischen Theorie konturiert werden, die sich auf alle Formen der Sozialität anwenden lässt, wenn begrifflich und definitorisch geklärt wird, wie mit ihr die Letztelemente der Sozialität bestimmt werden können. Im Anschluss an Bourdieu war mein diesbezüglicher Vorschlag, die elementaren Einheiten der Sozialität als Praktiken zu bestimmen, die sich in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität als Ereignisse bilden und sich zu Praxisformen verketten können.2 Auf diese Weise lässt sich Praxis als dynamische Vollzugswirklichkeit begreifen,
Angesichts der grundsätzlichen Skepsis, die Bourdieu immer wieder systematischen Theorieentwürfen gegenüber äußert, könnte man versucht sein, ganz unpolemisch zu fragen, was denn Bücher mit Titeln wie: „Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft“ (Bourdieu 1976: Hervorh. F.H.), oder: „Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft“ (Bourdieu 1987), anderes sein können, als Theorieentwürfe, die mit anderen Theorieentwürfen verglichen werden müssen. 2 Siehe zur Veranschaulichung der Dynamik der Praxis die Abbildung 1 dieser Arbeit. 1
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4 Schluss: Die Dynamik der Praxis und der Tausch
die sich dadurch ereignet, dass bereits durch Praxis inkorporierte Dispositionen (Habitus) in Relation zu bereits durch Praxis objektivierten Regelmäßigkeiten stehen. Dabei ist als zentrales Argument der Praxistheorie zu berücksichtigen, dass die Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität nur dann aktuelle Praktiken und Praxisformen generiert, wenn beide Seiten der Relation im Vollzug der Praxis von den an Praxis beteiligten Akteuren mit praktischem Sinn versehen werden. Genau dieses Argument macht es notwendig, die hier noch einmal kurz rekapitulierte Gegenstandsbestimmung einer Soziologie der Praxis kultursoziologisch zu fundieren. Denn der praktische Sinn drückt sich in kulturellen Symbolen aus. Symbole erscheinen dabei nicht als außeralltägliche Sinnwelten, sondern als notwendige Bestandteile der Lebenswirklichkeit sozialer Akteure. Sie sind Ausdrucksformen der Realität, mit denen soziale Akteure praktisch umgehen. Dies impliziert die Annahme, dass sich durch die Aktivitäten der sozialen Akteure kulturelle Erscheinungsformen der Praxis bilden und per definitionem wandeln, weil jede, auch eine routinisierte Bezugnahme auf bereits geformte Symbole mit ihrer Variation verbunden ist. Kultur versteht sich in dieser Theoriekonstruktion als Repertoire der Praxis, durch das Symbole geformt werden und Praktiken entstehen.3 Die vor diesem Theoriehintergrund als Soziologie symbolischer Formen der Reziprozität entwickelte Praxistheorie des Tausches erprobt die von mir systematisierte Form der soziologischen Praxistheorie exemplarisch am Themenkomplex des Tausches, indem sie die symbolischen Formen untersucht, welche vielfältige Tauschformen hervorbringen. Die in Abschnitt 3.6 resümierend zusammengestellten Ergebnisse dieser Theoriearbeit belegen, dass eine derartig am Begriff der Praxis ausgerichtete Form der soziologischen Theoriebildung mit Gewinn für die soziologische Forschung durchgeführt werden kann. Dies zeigt sich schon darin, dass mit einer systematisierten Praxistheorie der Tausch als soziale Praxisform bestimmt werden kann, die sich durch die Verkettung von Tauschpraktiken zwischen mindestens zwei sozialen Akteuren bildet. Der Tausch lässt sich dadurch nicht nur in sachlicher Hinsicht von anderen Praxisformen wie Herrschaftsausübung, soziale Delegation oder Arbeit unterscheiden, er wird mit dem hier vorgeschlagenen Tauschbegriff auch als emergente Praxis verstehbar. Denn Tauschformen sind als vielfältige Formen der Verkettung der Tauschpraktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns nicht nur Ausdruck sozialer Strukturen, in die sie eingebettet sind. Sie sind unter bestimmten Bedingungen, die sich in symbolischen Formen Ausdruck verschaffen, Attraktoren der Bildung von Strukturen, sie erzeugen mit anderen Worten eine Dynamik der Praxis. Diese Dynamik ereignet sich nicht voraussetzungslos. Sie ist nur denk- und beschreibbar, wenn sie vor dem Hintergrund bereits geformter Symbole der Reziprzität als Ergebnis der Rezeption und Inzeption objektivierter Sinngehalte verstanden wird. Denn die Tauschpraxis ereignet sich nur dann als dynamische Praxis, wenn die in den Körpern der sozialen Akteure objektivierten Dispositionen mit den in Symbolen objektivierten Formen der Sozialität in eine produktive Wechselbeziehung zueinander stehen, so dass im Vollzug der Praxis praktischer Sach-, Sozial- und Zeitsinn entsteht, der Tauschpraktiken hervorbringt, die sich zu vielfältigen Praxisformen des Tausches verketten. Die kulturellen Voraussetzungen einer dynamischen Tauschpraxis müssen mit anderen Worten komplex modelliert werden. Nur 3
Siehe zur Veranschaulichung der symbolischen Dimension der Praxis die Abbildung 2 dieser Arbeit.
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so lässt sich der Tausch angemessen als Praxis verstehen, die sich vielfältig ausformt. Zur Entwicklung einer soziologischen Praxistheorie des Tausches reicht es demnach nicht, den Markttausch und den Gabentausch als zwei unterschiedliche Tauschlogiken zu identifizieren und in einem Ausschließungsverhältnis gegenüberzustellen. Dagegen veranschaulichen die in dieser Arbeit vorgenommenen Analysen der symbolischen Formen der Reziprozität die praktische Simultanität von Tauschlogiken, die, wie im Abschnitt 3.5 ausführlich herausgearbeitet werden konnte, eine Vielfalt von Praxisformen des Tausches hervorbringt.4 Die Kultursoziologie der symbolischen Formen der Reziprozität entfaltet am Beispiel der vielfältigen Tauschpraxis das für die soziologische Praxistheorie entscheidende Argument, dass Praktiken und Praxisformen nicht als Epiphänomene von Sozialstrukturen beschrieben und analysiert werden können. Die Entstehung von Praktiken sowie ihre Verkettung zu Praxisformen sind konstitutiv mit praktischem Sinn verbunden, der nur durch die Poesis sozialer Akteure entstehen kann. Jede durch die Praktiken der Inzeption und/oder Rezeption geschehende Umformung symbolischer Formen in praktischen Sinn formt den in Symbolen objektivierten Sinn in neuer Weise. Dieses Argument erlaubt es, den Tausch als Vollzugswirklichkeit zu fassen. Die Praxis des Tausches ist folglich nicht ohne die Poesis sozialer Akteure möglich. Dabei ist diese Poesis kein Ausdruck einer ursprünglichen, außerhalb der Praxis liegenden Schöpfungskraft. Sie ist vielmehr selbst ein Produkt der Praxis, das sich als Handlungsdisposition in die inkorporierte Sozialität sozialer Akteure eingeschrieben hat. Während die Praxistheorie in der Version Bourdieus auf der Basis von makrosozialen Strukturen sozialer Ungleichheit entwickelt wird, basiert sie in ihrer systematisierten Form, die hier auf das Thema Tausch angewendet wurde, folglich auf der begründeten Annahme, dass soziale Makrostrukturen aus der Verkettung von Praktiken zu Praxisformen entstehen. Dies kehrt, was ich als eine wichtige Konsequenz einer am Praxisbegriff orientierten Tauschtheorie hervorheben möchte, die gesellschaftstheoretische Beweislast der soziologischen Praxistheorie geradezu um. Praxisformen, wie die des Tausches, entstehen demnach nicht nur als mikrosoziale Ausformungen von makrosozialen Ungleichheitsstrukturen. Sie müssen auch als mikrosoziale Attraktoren für Strukturdynamiken gefasst werden, die auf der Basis von objektivierten und inkorporierten Formen der Sozialität neue Regelmäßigkeiten der Praxis hervorbringen können. Die Bedingungen für diese durch Tauschformen entstehenden Strukturdynamiken können nun, wie die Analyse der Tauschpraxis in der vorliegenden Untersuchung zeigt, nur durch eine kultursoziologische Untersuchung der symbolischen Formen der Reziprozität identifiziert werden. Orientiert sich eine soziologische Praxistheorie des Tausches dabei nicht nur an der Sozialdimension, sondern auch an der Sachund Zeitdimension des Sinngeschehens, können Tauschpraktiken als Ereignisse gefasst werden, die sich im Verlauf der Zeit in sachlich unterschiedlicher Weise zu Praxisformen verketten und dadurch neue Regelmäßigkeiten der Praxis hervorbringen. Diese Regelmäßigkeiten, also die im Abschnitt 3.5 herausgearbeiteten, vielfältigen Praxisformen des Tausches, erscheinen der soziologischen Theorie als neue Formen der objektivierten Sozialität, die sich im Vollzug der Praxis wiederum wandeln können. Die Tauschpraxis erzeugt demnach eine Emergenz von unten und bewirkt dadurch praktische Effekte auf allen Ebenen der Sozialität, also auf der Mikro-, Meso- und Makroebene der sozialen Aggregation. Diesen 4
Siehe hierzu die schematische Darstellung der Vielfalt der Tauschpraxis im Abschnitt 3.5.4 dieser Arbeit.
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Zusammenhang kann eine soziologische Praxistheorie des Tausches erhellen, indem sie die Tauschpraxis als Vollzugswirklichkeit fasst, die sich in der Relation von inkorporierter und objektivierter Sozialität ereignet. Die Ergebnisse einer so ansetzenden Soziologie des Tausches, die ich im Abschnitt 3.6 resümierend zusammengetragen habe, eröffnen einige über das hier Gesagte hinausweisende Perspektiven für die soziologische Erforschung des Tausches und für die Weiterentwicklung der soziologischen Praxistheorie. Zum Abschluss der hier durchgeführten Theoriearbeit möchte ich es nicht versäumen, die meines Erachtens wichtigsten dieser Perspektiven noch kurz anzudeuten: Mit der hier entwickelten Soziologie des Tausches steht der Marktund Wirtschaftssoziologie ein grundlagentheoretisches Instrumentarium zur Verfügung, mit dem nicht nur „Märkte als soziale Strukturen“5 begriffen werden können. Die soziologische Praxistheorie des Tausches ermöglicht es der Markt- und Wirtschaftssoziologie darüber hinaus, die für die Reproduktion des Marktes wichtige Praxisform des Tausches in neuer, kultursoziologischer Weise zu thematisieren. Denn wird der Tausch als Praxis verstanden, in der sich Tauschpraktiken in vielfältiger Weise zu Tauschformen verketten, können die Prozesse des Marktes durch eine Soziologie der symbolischen Formen der Reziprozität jenseits starrer Modelle des Markttausches als Praxisformen untersucht werden, die nicht nur in die sozialen Strukturen des Marktes eingebettet sind, sondern den Markt im Vollzug der Tauschpraxis strukturieren. Dazu muss die Marktsoziologie eine kultursoziologische Sensibilität für den praktischen Sinn entwickeln, der in der modernen Ökonomie praktisch wirksam wird und nicht selten eine praktische Simultanität von Tauschlogiken erzeugt, durch die sich der Tausch jenseits einer auf Kalkulation beruhenden Marktlogik ereignet.6 Dies ist methodisch letztlich nur durch qualitative empirische Forschung möglich, die sich in ihrem Forschungsdesign an den grundlagentheoretischen Vorgaben der hier entwickelten Tauschtheorie orientieren kann.7 Die soziologische Praxistheorie des Tausches eröffnet zudem über das hier dazu Ausgeführte hinausweisende Perspektiven für die Weiterentwicklung der soziologischen Praxistheorie. Denn wenn der Tausch mit Gewinn für die soziologische Tauschtheorie als Praxisform bestimmt werden kann, die sich durch die Verkettung von Tauschpraktiken bildet, können auch andere, sich sachlich vom Tausch unterscheidende Formen der Sozialität – also etwa Machtausübung, Arbeit, Verhandlung, Forschung, Erziehung, soziale Hilfe aber auch Terrorismus und organisierte Kriminalität – in dieser Weise als soziale Praxisformen verstanden werden, in denen sich Praktiken in spezifischer Weise verketten, was dann die
So der Titel eines aktuellen, von Jens Beckert, Rainer Diaz-Bone und Heiner Ganßmann (vgl. 2007) herausgegebenen Bandes, der die wichtigsten Ansätze der gegenwärtigen Marktsoziologie versammelt. 6 Erste Ansätze dazu finden sich, wie hier bereits im Abschnitt 3.2 herausgestellt wurde, etwa bei Callon (1998a und b); Bourdieu et al. (2002); Knorr Cetina und Bruegger (2002); Kalthoff (2004) und Langenohl (2007). Diese Arbeiten sehen zwar die kulturelle Bedingtheit des Markttausches, schließen aber im Anschluss an Callon (vgl. 1998a) zu schnell von den durch die Wirtschaftswissenschaften erzeugten und wirkmächtig reproduzierten Symbolen des Marktes auf die praktische Ausformung des Tausches, ohne dabei die praktische Simultanität von Tauschlogiken, die auch im Kontext des Marktes wirksam wird, hinreichend genau zu thematisieren. 7 Dies gilt selbstredend auch für Forschungen zum Sozialstaat als Tauscharrangement, für die Erforschung von Formen der Reziprozität in Familien-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen, für die Erforschung der organisierten Spendenpraxis oder anderer Ausformungen der Sozialität, in denen der Tausch als Praxisform eine konstitutive Bedeutung zur Strukturierung der Praxis hat. 5
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Möglichkeit eröffnet, diese Praxisformen kultursoziologisch zu untersuchen.8 Jede dieser Untersuchungen von Praxisformen verbreitert die Basis der soziologischen Praxistheorie, so dass sie sich immer mehr zu einer allgemeinen soziologischen Theorie konturieren lässt, mit der nicht nur die Reproduktion sozialer Ungleichheit thematisiert werden kann. Eine derartige Theoriearbeit würde letztlich eine am Begriff der Praxis orientierte Gesellschaftstheorie ermöglichen, die sich zur theoretischen Eingrenzung der Gesellschaftsstruktur an dem orientiert, was praktisch geschieht. Das Ergebnis einer derartigen Praxistheorie der Gesellschaft kann hier nur schwer antizipiert werden. Sicher scheint mir nach der praxistheoretischen Soziologie des Tausches nur zu sein, dass eine derartige Gesellschaftstheorie sowohl das äquivalenzfunktionalistische Gesellschaftskonzept der funktionalen Differenzierung à la Luhmann als auch das sozialstrukturelle Gesellschaftskonzept von hierarchisch zueinander in Beziehung stehenden Klassen und Klassenfraktionen à la Bourdieu relativieren würde. Beide Konzepte der sozialen Differenzierung der Gesellschaft setzten deutlich zu viel voraus, um dem gerecht werden zu können, was die gesellschaftliche Wirklichkeit der sozialen Akteure ausmacht. Dies ist der praktische Sinn, den die Akteure im Vollzug der Praxis den Objektivierungen der Sozialität zuschreiben und der sich in symbolischen Formen Ausdruck verschafft. Dass dieser praktische Sinn sich im Kontext von Tauschformen anders ausformt als etwa im Kontext der Praxis der Macht- und Herrschaftsausübung, muss nicht weiter betont werden. Dass sich aber im Vollzug der Praxis sachlich voneinander unterscheidbare Praxisformen, also etwa die Tauschpraxis und die Praxis der Macht- und Herrschaftsausübung, miteinander vermischen können, verdeutlicht bereits die soziologische Praxistheorie des Tausches, die zur Identifikation und Analyse von vielfältigen Praxisformen des Tausches nicht gesellschaftstheoretisch ansetzt, sondern stattdessen die symbolischen Formen der Reziprozität kultursoziologisch als Katalysatoren der Verkettung von Tauschpraktiken zu Praxisformen des Tausches untersucht.
Diese Untersuchungen können auch auf Praxisformen ausgedehnt werden, die sich nicht konstitutiv zwischen mindestens zwei sozialen Akteuren ereignen müssen und die deshalb nicht als soziale Praxisformen gefasst werden können. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die Selbstpraktiken, die Michel Foucault (vgl. etwa 2004) in den Mittelpunkt seines Spätwerkes stellt. In soziologischer Perspektive ist dabei allerdings zu berücksichtigen, dass die Praxisformen des Selbstentwurfs und der Selbstinszenierung sehr wohl an andere soziale Akteure gerichtet sind, weil sie eben konstitutiv nicht im Verborgenen geschehen und schon insofern als soziale Praxisformen begriffen werden müssen.
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Personenregister
Adloff, Frank 94, 133, 156, 178, 179, 202 Adorno, Theodor W. 188 Arendt, Hannah 32, 60 Axelrod, Robert 230 Bataille, George 130, 131, 132, 133, 134, 138, 156, 179, 190, 236 Baudrillard, Jean 132, 133, 134, 138, 156, 236 Beckert, Jens 109, 113, 114, 115, 225 Berger, Peter L. 78, 85, 87, 94 Berking, Helmuth 143, 158 Blau, Peter M. 9, 91, 98, 99, 100, 110, 151, 163, 185, 186, 192, 235 Bohn, Cornelia 47, 48 Boltanski, Luc 160, 224, 225, 226, 233 Bourdieu, Pierre 12, 13, 14, 16, 19, 20, 30, 34, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 53, 55, 60, 61, 63, 64, 68, 69, 70, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 83, 85, 86, 87, 88, 89, 91, 98, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 120, 123, 125, 142, 143, 145, 146, 149, 150, 154, 156, 162, 172, 173, 174, 175, 178, 179, 184, 199, 201, 204, 209, 212, 213, 236, 241, 243, 245, 246, 247 Brandom, Robert K. 29, 30, 31, 37, 68 Butler, Judith 58, 87, 88 Caillé, Alain 10, 136, 137, 138, 141, 149, 178, 236 Callon, Michel 112, 119, 120, 121, 122, 123, 125, 157, 224, 236, 246 Cassirer, Ernst 13, 32, 33, 34, 35, 37, 39, 63, 80, 81, 96, 97 Castoriadis, Cornelius 20, 22, 23, 24, 25, 31, 32, 35, 36, 55, 71, 75, 77, 96, 119, 120 Chiapello, Ève 160, 224, 225, 226, 227, 233 Clausen, Lars 9, 90, 192 Coleman, James S. 11, 91, 110, 111, 155, 163, 235 Davis, Natalie Zemon 141, 142, 158, 159 Dederichs, Andrea Maria 17, 161, 202, 208 Derrida, Jacques 87, 88, 128, 130, 131, 134, 138, 139, 142, 157, 236, 238 Deutschmann, Christoph 102, 121 Diaz-Bone, Rainer 81, 114, 246
Durkheim, Èmile 55, 66, 68, 137, 144 Ebrecht, Jörg 17, 76, 78 Ekeh, Peter P. 9, 11, 90, 92, 126, 190, 192, 193 Elster, Jon 51, 140, 155 Elwert, Georg 94, 151, 156, 157, 158, 159 Esser, Hartmut 11, 51, 155, 235 Ewald, François 195, 197, 199, 203 Fligstein, Neil 115, 167 Florian, Michael 16, 17, 57, 69, 116, 117, 161, 225 Foucault, Michel 20, 27, 28, 29, 36, 58, 80, 247 Frazer, James George 92 Fuchs, Martin 74, 79, 81 Füssel, Marian 40, 41 Ganßmann, Heiner 102, 157, 197, 246 Gebauer, Gunter 32, 81 Geertz, Clifford 80, 81 Giddens, Anthony 38, 39, 50, 52, 57, 70, 74, 79, 84, 184, 191, 208 Girard, René 135 Godelier, Maurice 95, 128, 134, 138, 146, 150, 213, 236 Goffman, Erving 20, 58, 97, 98, 157, 184, 185, 186, 201 Gouldner, Alvin W. 11, 129, 151, 152, 156, 190, 237 Granovetter, Marc 105, 113, 225, 235 Günther, Gotthard 66 Habermas, Jürgen 21, 25, 78, 80, 197, 200, 219 Hasse, Raimund 230, 232 Healy, Kieran 156, 167, 168, 169 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 66, 196 Hellmann, Kai-Uwe 108, 108, 170, 171, 187 Hirschauer, Stefan 58, 59, 81, 84, 144 Hitzler, Ronald 51, 188 Hollstein, Bettina 151, 189, 191, 212, 224, 227 Homans, George C. 11, 91, 110, 192, 235 Honneth, Axel 24, 53, 197 Horkheimer, Max 188 Hörning, Karl H. 13, 20, 60, 65, 77
270 Joas, Hans 23, 38, 89 Kalthoff, Herbert 115, 121, 122, 210, 246 Kaufmann, Franz-Xaver 196, 198, 199 Kieserling, André 47, 48, 79, 116, 227, 233, 243 Kluge, Alexander 173 Knorr Cetina, Karin 120, 121, 210, 246 Krais, Beate 81 Krücken, Georg 226, 229 Laclau, Ernesto 22, 87 Langenohl, Andreas 122, 124, 182, 210, 230, 246 Latour, Bruno 64, 65, 66, 67, 68, 85, 86, 100, 122, 224 Lefebvre, Henri 20, 21 Lessenich, Stephan 195, 196, 197, 198, 200 Lévi-Strauss, Claude 9, 10, 11, 80, 127, 128, 129, 138, 141, 142, 144, 151, 155, 163, 236, 237 Luckmann, Thomas 78, 85, 143 Luhmann, Niklas 53, 54, 55, 56, 73, 80, 84, 96, 97, 106, 107, 108, 109, 110, 163, 164, 165, 184, 190, 206, 207, 208, 210, 214, 229, 235, 247 Malinowski, Bronislaw 92, 126, 127, 156, 193 Malsch, Thomas 15, 16, 17, 64, 84, 124 Marx, Karl 21, 22, 28, 32, 38, 39, 45, 55, 66, 83, 95, 100, 101, 102, 103, 104, 109, 133, 159, 172, 197, 235 Mau, Steffen 9, 94, 125, 129, 133, 156, 195, 196, 198, 199, 200 Mauss, Marcel 9, 14, 58, 65, 92, 108, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 147, 149, 156, 157, 158, 185, 195, 196, 212, 213, 236, 237, 238 Mayntz, Renate 164 Mead, George Herbert 30, 61, 78, 144, 181, 207 Mouffe, Chantal 22, 87 Müller, Hans-Peter 47, 53, 77, 79, 142, 243 Nassehi, Armin 47, 206, 207, 208 Neckel, Sighard 47, 167, 168, 187, 202, 218, 223 Negt, Oskar 173 Papilloud, Christian 9, 14, 103, 125, 137, 186 Parsons, Talcott 79, 109 Paul, Axel T. 103, 110, 125, 134, 135, 143, 153, 158 Pfeiffer, Sabine 52, 172, 173 Polanyi, Karl 104, 105, 108, 117, 172, 194, 235
Personenregister Reckwitz, Andreas 12, 17, 20, 25, 31, 32, 53, 54, 58, 68, 77, 80, 85, 86, 87, 88, 89, 97, 131, 181, 189 Rehbein, Boike 63 Reuter, Julia 13, 20, 58, 79, 80 Ricœur, Paul 135, 136, 138, 139, 146, 152, 159, 189, 212, 236, 237 Rosa, Hartmut 206, 208, 209 Sahlins, Marshall 129, 142, 146, 151, 152, 156, 193, 237 Schatzki, Theodore R. 13, 19, 20, 32, 58, 83 Schimank Schimank, Uwe 16, 17, 51, 52, 54, 156, 164, 217, 233 Schultheis, Franz 43, 47 Schütz, Alfred 20, 33, 34, 80, 85, 97, 121, 143, 207 Searle, John R. 69 Sennett, Richard 150, 224 Sewell, William H. 70 Sigmund, Steffen 159, 177, 178, 179, 202 Simmel, Georg 9, 91, 98, 99, 102, 103, 104, 106, 165, 185, 186, 209, 226, 231, 235 Smelser, Neil J. 109, 114, 116, 117, 225 Soeffner, Hans-Georg 97, 143, 145 Sofsky, Wolfgang 76 Sombart, Werner 106, 171 Stentzler, Friedrich 9, 90, 102 Swedberg, Richard 114, 116, 117, 225 Taylor, Charles 20, 25, 26, 27, 28, 29, 31, 32, 36, 55, 72 Thévenot, Laurent 112, 164 Thurnwald, Richard 105, 151 Titmuss, Richard M. 168, 177 Turner, Victor 145 Wahl, Klaus 51, 58, 59 Walzer, Michael 157, 167, 169 Weber, Max 12, 19, 33, 37, 73, 94, 104, 105, 106, 110, 115, 124, 235 White, Harrison 113, 114, 224, 225, 230, 235 Wittgenstein, Ludwig 29, 30, 31, 32, 37, 38, 56, 68, 79, 98, 241 Zelizer, Viviana 93, 104, 117, 159, 183
WIRTSCHAFT + GESELLSCHAFT herausgegeben von Andrea Maurer und Uwe Schimank
Bisher erschienene Titel: Andrea Maurer (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie Christoph Deutschmann, Kapitalistische Dynamik Andrea Maurer / Uwe Schimank (Hrsg.), Die Gesellschaft der Unternehmen – Die Unternehmen der Gesellschaft Richard Swedberg, Grundlagen der Wirtschaftssoziologie Johannes Berger, Der diskrete Charme des Marktes